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ifllFR^DHAfNERi
N yA\' YORK
c.
GESAMMELTE WEEKE
VON
HEINRICH HERTZ.
BAND ni
DIE PKINZIPIEN DER MECHANIK.
LEIPZIG, 1894
JOHANN AMBEOSIUS BARTH
(ABTHUB MEINEB)
ENGINEERING UBRARt
DIE
PRINZIPIEN DER MECHANIK
IN NEUEM ZUSAMMENHANGE DARGESTELLT
VOK
HEINRICH HERTZ.
MIT EINEM VORWORTE
von
H. VON HELMHOLTZ.
LEIPZIG, 1894
JOHANN AMBROSIUS BARTH
(JLRTHUB MEINEB)
übersetzungsrecht vorbehalten.
Druck Ton Metzgor & Wittig in Ldpsig.
Hiermit wird Heineich Hebtz' letztes Werk der Öflfent-
lichkeit übergeben. Es bringt die Früchte der Arbeit seiner
drei letzten Lebensjahre. Nach etwa einjähriger Arbeit war
das Werk in seinen grofsen Zügen niedergeschrieben; die an-
deren beiden Jahre waren dem Ausbaue im Einzelnen gewidmet
Am Ende dieser Zeit betrachtete der Verfasser die erste Hälfte
des Werkes als vöUig abgeschlossen, die zweite Hälfte als der
Hauptsache nach vollendet. Diese zweite Hälfte noch einmal
durchzuarbeiten, war sein Plan. Schon aber waren die Pläne
zu Wünschen geworden, und für die Wünsche gab es nur
mehr Entsagung. Die Sonne, welche uns so heU noch einmal
aus diesen Blättern leuchtet, neigte sich zum Untergange. —
Kurz vor seinem Tode übergab der Verfasser selbst den
, gröfseren Teil des Manuskriptes der Verlagsbuchhandlung. Zu-
= gleich berief er den Unterzeichneten zu sich und wies ihn an,
die Herausgabe zu besorgen, wenn er selbst dies nicht mehr
würde thun können.
Indem ich die Drucklegung vom ersten Bogen an über-
wachte, achtete ich mit gröfster Sorgfalt auf getreue Wieder-
gabe des Originales, und zwar vor Allem des Sinnes desselben.
Nicht minder war ich bestrebt, auch die Form zu wahren;
aber dieselbe in allen Punkten festzuhalten, ohne Rücksicht
auf Inhalt und Zusammenhang, wäre nicht im Sinne des Ver-
fassers gewesen. Ich habe solche geringe Änderungen der
Form eintreten lassen, von welchen ich nach sorgfältigem Stu-
dium des Werkes nicht zweifeln konnte, dafs sie der Verfasser
Ti Vorhemerkfimg des Herausgebers.
selbst würde angebracht haben. Von der Angabe dieser
Änderungen im Einzelnen glaubte ich absehen zu dürfen, eben
weil keine derselben den Sinn berührt. Um dies letztere ver-
bürgen zu können, habe ich auch sämtliche Concepte und
früheren Ausarbeitungen des Werkes gewissenhaft studiert.
Solcher früherer Ausarbeitungen sind mehrere in sorgfältiger
Niederschrift vorhanden, und sie sind zum Teil ausführlicher,
als das letzte, für den Druck bestimmte Manuskript.
Die letzten Verbesserungen, welche der Verfasser noch
nach Absendung des Manuskriptes in einem zweiten Exem-
plare desselben vermerkt hatte, sind aUe vor dem Drucke
nachgetragen worden. Die Hinweise auf frühere SteUen des
Werkes, welche im zweiten Teile desselben spärlicher wurden
und im letzten Abschnitte nur angedeutet waren, habe ich er-
gänzt, den geplanten Nachweis der Definitionen und Bezeich-
nungen zusammengestellt.
Besondere Aufmerksamkeit widmete ich auch der äufseren
Gestaltung des Druckes, wie es des Verfassers Wunsch war.
Ich hoiSfe, man wird. Dank der anerkennenswerten Mitwirkung
der Verlagsbuchhandlung, die Ausstattung als des Werkes
würdig befinden.
Bonn, Juni 1894.
Ph. Lenard.
Vorwort von H. v. Helmlioltz.
Am 1. Januar 1894 starb Hetnbich Hertz. Für alle, die
den Fortschritt der Menschheit in der möglichst breiten Ent-
wickelung ihrer geistigen Fähigkeiten und in der Herrschaft
des Geistes über die natürlichen Leidenschaften wie über die
widerstrebenden Natu|*kräfte zu sehen gewohnt sind, war die
Nachricht vom Tode dieses bevorzugten Lieblings des Genius
eine tief erschütternde. Durch seltenste Gaben des Geistes
und Charakters begünstigt, hat er in seinem leider so kurzen
Leben eine Fülle fast unverhoffter Früchte geemtet, um deren
Gewinnung sich während des vorausgehenden Jahrhunderts
viele von den begabtesten seiner Fachgenossen vergebens be-
müht haben. — Li alter, klassischer Zeit würde man gesagt
haben, er sei dem Neide der Götter zum Opfer gefallen. Hier
schienen Natur und Schicksal in ganz ungewöhnlicher Weise
die Entwickelung eines Menschengeistes begünstigt zu haben,
der alle zur Lösung der schwierigsten Probleme der Wissen-
schaft erforderlichen Anlagen in sich vereinigte. Es war ein
Geist, der ebenso der höchsten Schärfe und Klarheit des
vin Vorwort von H. v. HdmhoUx,
logischen Denkens fähig war, wie der gröfsten Aufmerksamkeit
in der Beobachtung unscheinbarer Phänomene. Der unein-
geweihte Beobachter geht an solchen leicht vorüber, ohne auf
sie zu achten; dem schärferen Blicke aber zeigen sie den Weg
an, durch den er in neue unbekannte Tiefen der Natur ein-
zudringen vermag.
Heinsich Hebtz schien prädestiniert zu sein, der Mensch-
heit solche neue Einsicht in viele bisher verborgene Tiefen der
Natur zu erschliefsen, aber alle diese Hoffiiungen scheiterten
an der tückischen Krankheit, die, langsam und unaufhaltsam
vorwärts schleichend, dieses der Menschheit so kostbare Leben
vernichtete und alle darauf gesetzten Hoffiiungen grausam
zerstörte.
Ich selbst habe diesen Schmerz tief empfunden, denn unter
allen Schülern, die ich gehabt habe, durfte ich Hebtz immer
als denjenigen betrachten, der sich am tiefsten in meinen
eigenen Kreis von wissenschaftlichen Gedanken eingelebt hatte,
und auf den ich die sichersten Hoffiiungen für ihre weitere
Entwickelung und Bereicherung glaubte setzen zu dürfen.
Heineich Rudolf Hebtz ward am 22. Februar 1857 in
Hamburg als ältester Sohn des damaligen Rechtsanwalts,
späteren Senators Dr. Hebtz geboren. Nachdem er bis zu
seiner Konfirmation den Unterricht in einer der städtischen
Bürgerschulen erhalten hatte, trat er nach einem Jahre häus-
licher Vorbereitung für höher reichende Studien in die Ge-
lehrtenschule seiner Vaterstadt, das Johanneum, ein und ver-
lieüs dieselbe 1875 mit dem Zeugnis der Reife. Er gewann
schon als Knabe die Anerkennung seiner Eltern und Lehrer
wegen seines ungewöhnlich regen Pflichtgeflihls. Die Art
seiner Begabung zeigte sich schon fiiih dadurch, dafs er aus
eigenem Antriebe neben seinen Schulfachem mechanische Ar-
beiten an der Hobel- und Drehbank betrieb, daneben Sonntags
die Gewerbeschule besuchte, um sich im geometrischen Zeichnen
zu üben, und sich mit den einfachsten Hilfsmitteln brauch-
bare Instrumente optischer und mechanischer Art zu erbauen
bestrebte.
Als er nach Beendigung seines Schulkursus sich zu der
Vorwort von H, v. HelmhoUx, ix
Wahl eines Berufe entschliefeen mufete, wählte er den des
Ingenieurs. Es scheint, dafe die auch in späteren Jahren
als ein charakteristischer G-rundzug seines Wesens herror-
tretende Bescheidenheit ihn an seiner Begabung für theore-
tische Wissenschaft zweifeln liefe, und dafs er sich bei der
Beschäftigung mit seinen geliebten mechanischen Arbeiten des
Erfolges sicherer fühlte, weil er deren Tragweite schon damals
ausreichend verstand. Vielleicht hat ihn auch die in seiner
Vaterstadt herrschende, mehr dem Praktischen zugeneigte
Sinnesweise beeinflufet Übrigens beobachtet man nicht selten
diese Art zaghafter Bescheidenheit gerade bei jungen Leuten
von hervorragenden Anlagen. Sie haben wohl eine deutliche
Vorstellung von den Schwierigkeiten, die vor der Erreichung
des ihnen vorschwebenden hohen Zieles zu überwinden sind,
und müssen ihre Kräfte erst praktisch erprobt haben, ehe
sie das zu ihrem schweren Werke nötige Selbstvertrauen ge-
winnen. Aber auch in ihrer späteren Entwickelung pflegen
reich veranlagte Naturen um so unzufriedener mit ihren
eigenen Werken zu sein je höher ihre Fähigkeiten imd ihre
Ideale reichen. Die Begabtesten erreichen offenbar nur des-
halb das Höchste, weil sie am empfindlichsten gegen jede Un-
vollkommenheit sind, und am unermüdlichsten an deren
Beseitigung arbeiten.
VoUe zwei Jahre dauerte bei Hjsinbigh Hebtz dieses
Stadium des Zweifels. Dann entschlofs er sich im Herbst 1877
zur akademischen Laufbahn, da er bei reifenden Kenntnissen
sich innerlich überzeugte, dafs er nur in wissenschaftlicher Ar-
beit dauernde Befriedigung finden würde. Der Herbst 1878
führte ihn nach Berlin, wo ich ihn zuerst als Praktikanten in
dem von mir geleiteten physikalischen Laboratorium der Uni-
versität kennen lernte. Schon während er die elementaren
Übungsarbeiten durchführte, sah ich, dafs ich es hier mit einem
Schüler von ganz ungewöhnlicher Begabung zu thun hatte,
und da mir am Ende des Sommersemesters die Aufgabe zu-
fiel, das Thema zu einer physikalischen Preisarbeit für die
Studierenden vorzuschlagen, wählte ich eine Frage aus der
Elektrodynamik, in der sicheren, nachher auch bestätigten
X Vorwort von H, v, HelmhoUx.
Voraussetzung, dafs Heetz sich dafür interessieren und sie mit
Erfolg angreifen werde.
Die Gesetze der Elektrodynamik wurden damals in Deutsch-
land noch von der Mehrzahl der Physiker aus der Hypothese
von W. Weber hergeleitet, welche die elektrischen und mag-
netischen Erscheinungen auf eine Modifikation der Newton'-
schen Annahme von unmittelbar und geradlinig in die Feme
wirkenden Kräfte zurückzufuhren suchte. Die Abnahme der
betreffenden Eiäfte in der Feme sollte demselben Gesetze
wie die von Newton angenommene Gravitationskraft und die
von CouiiOMB zwischen je zwei elektrisierten Massenpunkten
gemessene scheinbare Femkraft folgen, es sollte nämlich die
Intensität der Kraft dem Quadrate des Abstandes der auf
einander wirkenden elektrischen Quanta umgekehrt, dem Pro-
dukte der beiden Quanta aber direkt proportional sein, und
zwar mit abstofsender Wirkung zwischen gleichnamigen, an-
ziehender zwischen ungleichnamigen Mengen. Übrigens
wurde in Webbe's Hypothese die Ausbreitung dieser Kraft
durch den unendlichen Baum als augenblicklich und mit un-
endlicher Geschwindigkeit erfolgend vorausgesetzt Der ein-
zige Unterschied zwischen W. Webee's Annahme und der von
Coulomb bestand darin, dafs Weber voraussetzte, auch die
Geschwindigkeit, mit der sich die beiden elektrischen Quanta
einander näherten oder von einander entfemten, und auch
die Beschleunigungen dieser Geschwindigkeiten könnten einen
Einflufs auf die Gröfse der Kraft zwischen den beiden elek-
trischen Mengen haben. Neben dieser WEBEß'schen Hypo-
these bestanden noch eine Beihe ähnlicher anderer, die alle
das Gemeinsame hatten, dafs sie die Gröfse der CouLOMB'schen
Kraft noch durch den Einflufs irgend einer Komponente der
Geschwindigkeit der bewegten elektrischen Quanta modifiziert
ansahen. Solche Hypothesen waren von F.E. Neumann, von dessen
Sohne C. Neumann, von Biemann, Gbossmann, später von
Clausius aufgestellt worden. Magnetisierte Molekeln galten
als Achsen elektrischer Kreisströme, nach einer schon von Am-
pMe aufgefundenen Analogie ihrer nach aufsen gerichteten
Wirkungen.
Vorwort von H. v, Helmkoltx. xi
Diese bunte Blumenlese von Annahmen war in ihren Folger-
ungen sehr wenig übersichtlich und erforderte zu ihrer Ab-
leitung verwickelte Rechnungen, Zerlegungen der Einzelkräfte
in ihre verschieden gerichteten Komponenten u. s. w. So war '
das Gebiet der Elektrodynamik um jene Zeit zu einer un-i
wegsamen Wüste geworden. Beobachtete Thatsachen und ;
Folgerungen aus höchst zweifelhaften Theorien liefen ohne
sichere Grenze durcheinander. In dem Streben, dieses Wirrsal
übersehen zu lernen, hatte ich es übernommen, das Gebiet
der Elektrodynamik, so weit ich sah, zu klären, und die
unterscheidenden Folgerungen der verschiedenen Theorien auf-
zusuchen, um wo möglich durch passend angestellte Versuche
zwischen ihnen zu entscheiden.
Es ergab sich daraus folgendes allgemeine Resultat:
Alle Erscheinungen, die vollkommen geschlossene Ströme
bei ihrer Zirkulation durch in sich zurücklaufende metallische
Leitungskreise hervorrufen und die die gemeinsame Eigentüm-
lichkeit haben, dafs es, während sie fliefsen, zu keiner erheb-
lichen Veränderung der in einzelnen Teilen des Leiters
angesammelten elektrischen Ladungen kommt, liefsen sich aus
allen den genannten Hypothesen gleich gut ableiten. Ihre
Folgerungen stimmten sowohl mit AMPtiRF/s Gesetzen der
elektromagnetischen Wirkungen, wie mit den von Faba-
DAT und Lenz entdeckten und von F. E. Neumann verallge-
meinerten Gesetzen der induzierten elektrischen Ströme wohl
überein. In unvollständig geschlossenen leitenden Kreisen
dagegen führten die verschiedenen oben genannten Hypothesen
zu wesentlich verschiedenen Folgerungen. Die erwähnte gute
Übereinstimmung aller der verschiedenen damaligen Theorien
mit den an vollständig geschlossenen Strömungen beobachteten
Thatsachen erklärt sich leicht daraus, dafs man geschlossene
Ströme beliebig lange Zeit und in beliebiger Stärke unterhalten
kann, jedenfalls lange genug, dafs die von ihnen ausgeübten
Kräfte volle Zeit haben, ihre Wirkungen sichtbar zu entfalten,
dafs deshalb die thatsächlichen Wirkungen solcher Ströme und
ihre Gesetze wohlbekannt und genau ermittelt waren. Daher
würde jede Abweichung einer neu aufgestellten Theorie von
xn YofrwQfrt von H, v. Helmholtx.
irgend einer der bekannten Thatsachen dieses wohl durch-
gearbeiteten G-ebietes schnell aufgefallen und zur Widerlegung
der Theorie benutzt worden sein.
Dagegen sammeln sich an den offenen Enden ungeschlossener
Leiter, wo sich isolierende Massen zwischen diese Enden ein-
schieben, durch jede elektrische Bewegung längs der Länge des
Leiters sogleich elektrische Ladungen an, herrührend von der
gegen das Ende des Leiters hindrängenden Elektricität, die
ihren Weg durch den Isolator nicht fortsetzen kann. Eine aufser-
ordentlich kurze Dauer der Strömung genügt in einem solchen
Falle, um die abstofsende Kraft der am Ende angehäuften
Elektricität gegen die gleichnamige nachdrängende so hoch zu
steigern, dafs diese in ihrer Bewegung voUständig gehemmt
wird, wonach zunächst das weitere Zuströmen aufhört und
nach momentaner Euhe dann ein schnelles Zurückdrängen der
angesammelten Elektricität folgt.
Es war für jeden Kenner der thatsächlichen Verhältnisse
zu jener Zeit klar, dafs sich das vollkommene Verständnis der
Theorie der elektromagnetischen Erscheinungen nur durch die
genaue Untersuchung der Vorgänge bei diesen sehr schnell
vorübergehenden ungeschlossenen Strömen werde gewinnen
lassen. W. Weber hatte versucht, gewisse Schwierigkeiten
seiner elektrodynamischen Hypothese zu beseitigen oder zu
vermindern dadurch, dafs er sich auf die Möglichkeit berufen,
die Elektricität könne einen gewissen Grad von Beharrungs-
vermögen haben, wie es den schweren Körpern zukomme.
Scheinbar zeigen bei Schliefsung und Unterbrechung jedes
Stromes sich Wirkungen, die den Anschein eines Beharrungs-
vermögens der Elektricität vortäuschen. Diese rühren aber
von der sogenannten elektrodynamischen Induktion d. h. von
einer gegenseitigen Einwirkung nahe gelegener Stromleiter auf
einander her und sind in ihren Gesetzen seit Fabadat wohl-
bekannt. Wahres Beharrungsvermögen müfste nur der Masse
der bewegten Elektricität proportional sein, ohne von der Lage
des Leiters abzuhängen. Wenn etwas derart existierte, müDste
es sich durch eine Verlangsamung der osciUierenden Bewegungen
der Elektricität zu erkennen geben, wie sie nach jähen Unter-
Vorwort von K v, HümhoUx. xttt
brechungen elektrischer Ströme in gut leitenden Drähten sich
zeigen. Auf diesem Wege liefs sich die Bestimmung einer
oberen Grenze für den Wert dieses Beharrungsvermögens er-
warten, und deshalb stellte ich die Aufgabe, über die Gröise
von Extraströmen Versuche auszuführen. Aus diesen sollte
wenigstens eine obere Grenze für die bewegte Masse fest-
gestellt werden. Es waren schon in der Aufgabe, als zu diesen
Versuchen besonders geeignet erscheinend, Extraströme aus
doppeltdrähtigen Spiralen vorgeschlagen, deren Zweige in ent-
gegengesetzter Eichtung durchflössen wären. In der Lösung
dieser Aufgabe bestand die erste gröfsere Arbeit von Hetnbich
Hebtz. Er giebt darin eine präcise Antwort auf die gestellte
Frage und zeigt, dafs höchstens Y30 ^^^ ^/so ^®® Extrastromes
aus einer doppeltdrähtigen Spirale der Wirkung einer Trägheit
der Elektricität zuzuschreiben sei. Diese Arbeit wurde mit
dem Preise gekrönt
Aber Hebtz beschränkte sich nicht auf die vorgeschlagenen
Versuche. Er erkannte nämlich, dafs bei geradlinig aus-
gespannten Drähten die Induktionswirkungen, trotz ihrer sehr
viel geringeren Stärke, viel genauer zu berechnen waren, als
bei Spiralen mit vielen Windungen, weil er hier die Lagerungs-
verhältnisse nicht genau abmessen konnte. Daher benützte er
zu weiteren Versuchen eine Leitung aus zwei Rechtecken
von geraden Drähten und fand hier, dafs der von dem Be-
harrungsvermögen herrührende Extrastrom höchstens ^/gg^ von
dem Werte des Induktionsstromes betrage.
Untersuchungen über den Einflufs der Centrifagalkrafl in
einer schnell rotierenden Platte auf die Bewegung eines sie
durchflieisenden elektrischen Stromes führten ihn zu einer
noch viel tiefer liegenden oberen Grenze des Beharrungs-
vermögens der Elektricität.
Diese Versuche haben ihm offenbar die ungeheure Be-
weglichkeit der Elektricität eindringlich zur Anschauung ge-
bracht und ihm gehoKen, die Wege zu finden, um seine
wichtigsten Entdeckungen zu machen.
In England waren durch Faraday ganz andere Vor-
stellungen über das Wesen der Elektricität verbreitet Seine
xrv Vorwort von H. v, Heknholtx.
in schwerverständlicher abstrakter Sprache vorgetragenen Ideen
brachen sich nur langsam Bahn, bis sie in Clask Maxwell
einen berufenen Interpreten fanden. Fabaday's Hauptbestreben
bei der Erklärung der elektrischen Erscheinungen ging dahin,
alle Voraussetzungen, bestehend in Annahmen von nicht direkt
wahrnehmbaren Vorgängen oder Substanzen, auszuschliefsen.
Vor aUem wies er, wie es einst zu Anfang seiner Laufbahn
schon Newton gethan, die Hypothese von der Existenz der
Femkräfte zurück. Es schien ihm undenkbar, wie die älteren
Theorien annahmen, dafs direkte und unmittelbare Wirkungen
zwischen zwei räumlich getrennten Körpern bestehen sollten,
ohne dafs in den zwischenliegenden Medien irgend eine Ver-
änderung vor sich gehe. Daher suchte er zunächst nach
Spuren von Veränderungen in Medien, welche zwischen elektri-
sierten oder zwischen magnetischen Körpern lagen. Es gelang
ihm der Nachweis von Magnetismus oder Diamagnetismus bei
fast allen bisher für unmagnetisch geltenden Körpern. Ebenso
wies er nach, dafs unter der Einwirkung elektrischer Kräfte
gut isolierende Körper eine Veränderung erlitten; diese be-
zeichnete er als „dielektrische Polarisation der Iso-
latoren".
Es liefs sich nicht verkennen, dafs die Anziehung zwischen
zwei mit Elektricität beladenen Leitern oder zwischen zwei
entgegengesetzten Magnetpolen in Richtung ihrer Kraftlinien
sich wesentlich verstärken mufste, wenn man dielektrisch oder
magnetisch polarisierte Medien zwischen sie einschaltete. Quer
gegen die Kraftlinien mufste dagegen eine Abstofsung ent-
stehen. Nach diesen Entdeckungen konnte nicht mehr ge-
leugnet werden, dafs ein Teil der magnetischen und elektrischen
Femwirkung durch Vermittelung der zwischenKegenden polari-
sierten Medien zu stände käme, ein anderer konnte freilich
immerhin noch übrig bleiben, der einer direkten Femkraft
angehörte,
Fabadat und Maxwell neigten sich der einfacheren An-
nahme zu, dafs überhaupt Femkräfte nicht existierten, und Max-
well entwickelte die mathematische Fassung dieser Hypothese,
welche allerdings eine vollständige Umkehr der bisherigen An-
Vorwort von H, v, Helmholtx. xv
schauungen verlangte. Danach mufste der Sitz der Veränder-
ungen, welche die elektrischen Erscheinungen hervorbringen,
nur noch in den Isolatoren gesucht werden, Entstehen und
Vergehen der Polarisationen in den Isolatoren mufste der
Grund der scheinbar in den Leitern stattfindenden elektrischen
Bewegungen sein. Ungeschlossene Ströme gab es nicht mehr,
denn die Anhäufung elektrischer Ladungen an den Enden
der Leitung^ und die dabei in den sie trennenden Isolatoren
auftretende dielektrische Polarisation stellte eine äquivalente
elektrische Bewegung in den zwischenliegenden Isolatoren dar,
die die Lücke des Stromes zu ergänzen geeignet schien.
Schon Paeaday hatte mit seiner sehr sicheren und tief-
gehenden inneren Anschauung geometrischer und mechanischer
Fragen erkannt, dafs die Verteilung der elektrischen Fem-
wirkungen im Baume nach diesen Annahmen genau mit der
durch die alte Theorie gefundenen stimmen mufste.
Maxwell bestätigte und erweiterte dies mit den Hilfs-
mitteln der mathematischen Analysis zu einer vollständigen
Theorie der Elektrodynamik. Ich selbst erkannte sehr wohl
das Zwingende in den von Fabaday gefundenen Thatsachen
und untersuchte zunächst die Frage, ob Femwirkungen über-
haupt existierten uud in Betracht gezogen werden müssten.
Der Zweifel schien mir zunächst in einem so verwickelten Ge-
biete der wissenschaftlichen Vorsicht gemäfs zu sein und konnte
zu entscheidenden Versuchen hinleiten.
Das war der Stand der Frage, als Hetnbich Hertz
nach Beendigung seiner vorgenannten Preisarbeit in die Unter-
suchung eintrat.
Nach Maxwell's Auffassung war es wesentlich entscheidend
für seine Theorie, ob das Entstehen und Vergehen dielektrischer
Polarisation in einem Isolator dieselben elektrodynamischen
Wirkungen in der Umgebung hervorbringt, wie ein galvanischer
Strom in einem Leiter. Diesen Nachweis zu erbringen erschien
mir als eine ausfillirbare und hinreichend wichtige Arbeit, um
sie zum Gegenstand einer der grofsen Preisaufgaben der Ber-
liner Akademie zu machen.
XVI
Vorwort von H, v. Hdmholtx,
Wie sich, an diese von den Zeitgenossen vorbereiteten
Keime anknüpfend, die Entdeckungen von Hebtz weiter ent-
wickelten, hat er selbst in der Einleitung seines interessante^
Buches: Untersuchungen über die Ausbreitung der
^ elektrischen Kraft so anschaulich und interessant entwickelt,
dafs kein Anderer dazu etwas wesentliches oder gar besseres
hinzufügen könnte. Dieser Bericht ist als eine höchst auf-
richtige und eingehende Darstellung einer der wichtigsten
und folgenreichsten Entdeckungen von hervorragendem Werte.
Leider besitzen wir nicht viel ähnliche Akten über die innere
psychologische Geschichte der Wissenschaft, und wir sind dem
Verfasser auch dafür den gröfsten Dank schuldig, dafs er uns
so tief in das Innere seiner Gedankenwerkstatt und selbst in
die Geschichte seiner zeitweiligen Irrtümer hat schauen lassen.
Nur üb^r die Folgen dieser neuen Entdeckungen wäre
noch einiges hinzuzufügen.
Die Ansichten, deren Eichtigkeit Hebtz später bestätigt
hat, waren allerdings, wie oben bemerkt, vor ihm durch
Faraday und Maxwell als möglich oder selbst als höchst
wahrscheinlich schon aufgestellt, aber die thatsächlichen Be-
weise ihrer Eichtigkeit fehlten noch. Hebtz hat nun in der
That diese Beweise geliefert. Nur einem ungewöhnlich auf-
merksamen Beobachter, der die Tragweite jeder unvermuteten
und bis dahin unbeachteten Erscheinung sogleich durchschaut,
konnten die höchst unscheinbaren Phänomene auffallen, die ihn
auf den richtigen Weg geleitet haben. Es wäre eine hoffnungs-
lose Aufgabe gewesen, schnell wechselnde Ströme mit einer
Dauer von Zehntausendteilen oder gar nur Millionteilen einer
Sekunde am Galvanometer oder mittels irgend einer anderen
damals geübten experimentellen Methode sichtbar zu machen.
Denn alle endlichen Kräfte brauchen eine gewisse Zeit zur
Hervorbringung endlicher Geschwindigkeiten und zur Ver-
schiebung von Körpern von irgend welchem Gewicht, auch
so geringem, wie es die Magnetnadeln unserer Galvanometer
zu haben pflegen. Aber elektrische Funken können zwischen
den Enden einer Leitung sichtbar werden, wenn auch nur
für ein Milliontel Sekunde die elektrische Spannung an den
Vorwort von ff. v. HelmhoUx. xvn
Enden einer solchen Leitung hoch genug gesteigert wird,
dafs der Funke eine winzige Luftschicht durchbrechen kann.
TTektz war durch seine früheren Untersuchungen schon wohl-
bekannt mit der ßegelmäfsigkeit und enormen Geschwindigkeit
dieser sehr schnellen Oscillationen der Elektricität, und seine
Versuche, auf diesem Wege die flüchtigsten elektrischen Be-
wegungen zu entdecken und sichtbar zu machen, gelangen
ihm yerhältnismäfsig schnell. Er fand sehr bald die Bedingungen,
unter denen er die Oscillationen ungeschlossener Leitungen
in solcher ßegelmäfsigkeit erzielen konnte, dafs er ihre Ab-
hängigkeit von den verschiedensten Nebenumständen ermitteln
und dadurch die Gesetze ihres Auftretens und sogar den Wert
ihrer Wellenlänge in der Luft und ihre Fortpflanzungs-
geschwindigkeit ermitteln konnte. Bei dieser ganzen Unter-
suchung mufs man immer wieder den Scharfsinn seiner Über-
legungen und sein experimentelles Geschick bewundem, die
sich in der glücklichsten Weise ergänzten*
Hebtz hat durch diese Arbeiten der Physik neue Anschau-
ungen natürlicher Vorgänge von dem gröfsten Interesse gegeben.
Es kann nicht mehr zweifelhaft sein, dafs die Lichtschwingungen
elektrische Schwingungen in dem den Weltraum füllenden >
Äther sind, dafs dieser selbst die Eigenschaften eines Isolators
und eines magnetisierbaren Medium hat. Die elektrischen
Oscillationen im Äther bilden eine Zwischenstufe zwischen
den verhältnismäfsig langsamen Bewegungen, welche etwa
durch elastisch tönende Schwingungen magnetisierter Stimm-
gabeln dargestellt werden, und den ungeheuer schnellen
Schwingungen des Lichts andererseits; aber es läfst sich nach-
weisen, dafs ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit, ihre Natur
als Transversalschwingungen, die damit zusammenhängende
Möglichkeit der Polarisationserscheinungen, der Brechung und
Keflexion vollständig denselben Verhältnissen entsprechen wie
bei dem Lichte und bei den Wärmestrahlen. Nur fehlt den
elektrischen WeUen die Fähigkeit das Auge zu affizieren,
wie diese auch den dunklen Wärmestrahlen fehlt, deren
Schwingungszahl dazu nicht grofs genug ist.
Es ist gewifs eine grofse Errungenschaft, die vollständigen
i
xvm Vorwart van H. v. HüvnhoUx.
Beweise dafür geliefert zu haben, daJB das Licht, eine so ein-
flufsreiche und so geheimnifsvolle Naturkraft, einer zweiten
ebenso geheimnisvollen, und vielleicht noch beziehungsreicheren
Kraft, der Elektricität, auf das engste verwandt ist. Für die
theoretische Wissenschaft ist es vielleicht noch wichtiger, ver-
stehen zu können, wie anscheinende Femkräfte durch Über-
tragung der Wirkung von einer Schicht des zwischenliegenden
Medium zur nächsten fortgeleitet werden. Freilich bleibt noch
das Rätsel der Gravitation stehen, die wir noch nicht folge-
richtig anders, denn als eine reine Femkraft zu erklären
wissen.
Heinbich Hertz hat sich durch seine Entdeckungen einen
I bleibenden Buhm in der Wissenschaft gesichert. Sein Andenken
, wird aber nicht nur durch seine Arbeiten fortleben, auch seine
: liebenswürdigen Charaktereigenschaften, seine sich immer gleich-
bleibende Bescheidenheit, die freudige Anerkennung fremden
Verdienstes, die treue Dankbarkeit, die er seinen Lehrern be-
i wahrte, wird Allen, die ihn kannten, unvergefslich sein. Ihm
selbst war es nur um die Wahrheit zu thun, die er mit äufser-
stem Ernst und mit aller Anstrengung verfolgte; nie machte
sich die geringste Spur von Ruhmsucht oder persönlichem
Interesse bei ihm geltend. Auch da, wo er einiges Recht ge-
habt hätte, Entdeckungen für sich in Anspruch zu nehmen,
war er eher geneigt stillschweigend zurückzutreten. Im ganzen
still und schweigsam, konnte er doch heiter an fröhlichem
, Freundeskreise teilnehmen und die Unterhaltung durch manches
treffende Wort beleben. Er hat wohl nie einen persönlichen
Gegner gehabt, obgleich er gelegentlich über nachlässig ge-
j machte oder renomistisch auftretende Bestrebungen, die sich
für Wissenschaft ausgaben, ein scharfes Urteil fällen konnte.
Sein äufserer Lebensgang verlief folgendermafsen: Im Jahre
\\ 1880 trat er als Assistent im Physikalischen Laboratorium der
//Berliner Universität ein; 1883 veranlafste ihn das preufsische
Kultusministerium, sich in Eiel mit Aussicht auf baldige Be-
förderung zu habilitieren. Zu Ostern 1885 wurde er als ordent-
^ lieber Professor der Physik an die technische Hochschule zu
' Karlsruhe berufen. Hier machte er seine hauptsächlichsten
Vorwort von H, v. HelmhoUx. XTX
Entdeckungen, und hier verheiratete er sich mit Fräulein
Elisabeth Doli, der Tochter eines Kollegen. Schon nach zwei
Jahren erhielt er einen Ruf als Ordinarius der Physik an die
Universität Bonn, dem er zu Ostern 1889 folgte.
In den nun folgenden leider so kurzen Jahren seines
Lebens brachten ihm seine Zeitgenossen alle äufseren Zeichen
der Ehre und Anerkennung entgegen. Im Jahre 1888 wurde/
ihm die Matteucci- Medaille von der italienischen Gesellschaft
der Wissenschaften, 1889 von der Academie des Sciences in
Paris der Preis La Gaze und von der K. K. Akademie zu Wien
der Baumgartner- Preis, 1890 die Rumford -MedaiUe von der
Royal Society in London, 1891 der Bressa-Preis von der König-;
liehen Akademie in Turin verliehen.
Die Akademien von Berlin, München, Wien, Gröttingen,
Rom, Turin und Bologna, sowie viele andere gelehrte Gresell-
schaften wählten ihn zum korrespondierenden MitgUed, und
die preufsische Regierung verlieh ihm den Kronenorden.
Er sollte sich seines steigenden Ruhmes nicht lange er-
freuen. Eine qualvolle Ejiochenkrankheit fing an sich zu ent-
wickeln; im November 1892 schon trat das Übel drohend auf.
Eine damals ausgeführte Operation schien das Leiden für kurze
Zeit zurückzudrängen. Hebtz konnte seine Vorlesungen, wenn |
auch mit grofser Anstrengung, bis zum 7. Dezember 1893 fort- !
setzen; am 1. Januar 1894 erlöste ihn der Tod von seinen /
Leiden.
Wie sehr das Nachsinnen von Hebtz auf die allgemeinsten
Gesichtspunkte der Wissenschaft gerichtet war, zeigt auch
wieder das letzte Denkmal seiner irdischen Thätigkeit, das
vorliegende Buch über die Prinzipien der Mechanik.
Er hat versucht, darin eine konsequent durchgeführte Dar-
stellung eines vollständig in sich zusammenhängenden Systems
der Mechanik zu geben und alle einzelnen besonderen Gesetze
dieser Wissenschaft aus einem einzigen Grundgesetz abzu-
leiten, welches logisch genommen natürlich nur als eine plau-
sible Annahme betrachtet werden kann. Er ist dabei zu den
ältesten theoretischen Anschauimgen zurückgekehrt, die man
eben deshalb auch wohl als die einfachsten und natürUchsten
XX Vorwort von H, v, Helmholtx,
ansehen darf, und stellt die Frage, ob diese nicht ausreichen
würden, alle die neuerdings abgeleiteten aUgemeinen Prinzipien
der Mechanik konsequent und in strengen Beweisen herleiten
zu können, auch wo sie bisher nur als induktive Verallge-
meinerungen aufgetreten sind.
Die erste Entwickelung der wissenschaftlichen Mechanik
knüpfte sich an die Untersuchungen des Gleichgewichts und
der Bewegung fester Körper, die mit einander in unmittelbarem
Berührung stehen, wofür die einfachen Maschinen, Hebel, EoUen,
schiefe Ebenen, Flaschenzüge die erläuternden Beispiele gaben.
Das Gesetz von den virtuellen Geschwindigkeiten ist die ur-
sprünglichste, allgemeine Lösung aller dahin gehörigen Auf-
gaben. Später entwickelte Galilei die Kenntnis der Träg-
heit und der Bewegungskraft als einer beschleunigenden Kraft,
die freilich von ihm noch dargestellt wird als eine Reihe von
Stöfsen. Erst Newton kam zum BegriflF der Femkraft und
ihrer näheren Bestimmung durch das Prinzip der gleichen
Aktion und Reaktion. Es ist bekannt, wie sehr anfangs ihm
selbst und seinen Zeitgenossen der Begriff unvermittelter Fem-
wirkimg widerstrebte.
Von da ab entwickelte sich die Mechanik weiter unter
Benutzung von Newton's Begriff und Definition der Kraft, und
man lernte allmählich auch die Probleme behandeln, in denen
sich konservative Femkräfte mit dem Einflufs fester Verbin-
dungen kombinieren, deren allgemeinste Lösung in d'Alembert's
Prinzip gegeben ist Die aUgemeinen prinzipieUen Sätze der
Mechanik (Gesetz von der Bewegung des Schwerpunkts, der
Flächensatz für rotierende Systeme, das Prinzip von der Er-
haltung der lebendigen Kräfte, das Prinzip der kleinsten Aktion)
haben sich alle entwickelt unter der Voraussetzung von New-
ton's Attributen der konstanten, also auch konservativen An-
ziehungskräfte zwischen materiellen Punkten und der Existenz
fester Verbindungen zwischen denselben« Sie sind ursprüng-
lich nur unter der Annahme solcher gefunden und bewiesen
worden. Man hat dann später durch Beobachtung gefunden,
dafs die so hergeleiteten Sätze eine viel allgemeinere Geltung
in der Natur in Anspruch nehmen durften, als aus ihrem Be-
Vorwort von H, v. HelmhoUz, yyt
weise folgte, und hat demnächst gefolgert, dafs gewisse all-
gemeinere Charaktere der NBwroN'schön konservativen An-
ziehungskräfte allen Naturkräften zukommen, vermochte aber
diese Verallgemeinerung aus einer gemeinsamen Grundlage
nicht abzuleiten. Hebtz hat sich nun bestrebt, fiir die Me-
chanik eine solche Grundanschauung zu finden, welche fähig
wäj*e, eine vollkommene folgerichtige Ableitung aller bisher als
allgemeingtiltig anerkannten Gesetze der mechanischen Vor-
gänge zu geben, und er hat das mit grofsem Scharüsinn und
unter einer sehr bewundernswürdigen Bildung eigentümlich
verallgemeinerter kinematischer Begrifife durchgeführt. Als
einzigen Ausgangspunkt hat er die Anschauung der ältesten
mechanischen Theorien gewählt, nämlich die Vorstellung, dafs
alle mechanischen Prozesse so vor sich gehen, als ob alle Ver-
bindungen zwischen den auf einander wirkenden Teilen feste
wären. Freilich mufs er die Hypothese hinzunehmen, dafs es
eine grofse Anzahl unwahmehmbarer Massen und unsichtbarer
Bewegungen derselben gebe, um dadurch die Existenz der
Kräfte zwischen den nicht in unmittelbarer Berührung mit ein-
ander befindKchen Körpern zu erklären. Einzelne Beispiele, die
erläutern könnten, wie er sich solche hypothetischen Zwischen-
glieder dachte, hat er aber leider nicht mehr gegeben, und es
wird offenbar noch ein grofses Aufgebot wissenschaftlicher Ein-
bildungskraft dazu gehören, um auch nur die einfachsten FäUe
physikalischer Kräfte danach zu erklären. Er scheint hierbei
hauptsächlich auf die Zwischenschaltung cyklischer Systeme
mit unsichtbaren Bewegungen Hoffiiung gesetzt zu haben.
Englische Physiker, wie Lord Kelvin in seiner Theorie
der Wirbelatome, und Maxwell in seiner Annahme eines
Systems von Zellen mit rotierendem Inhalt, die er seinem
Versuch einer mechanischen Erklärung der elektromagnetischen
Vorgänge zu Grunde gelegt hat, haben sich offenbar durch
ähnliche Erklärungen besser befriedigt gefühlt, als durch die
blofse allgemeinste Darstellung der Thatsachen und ihrer Ge-
setze, wie sie durch die Systeme der Differentialgleichungen
der Physik gegeben wird. Ich mufs gestehen, dafs ich selbst
bisher an dieser letzteren Art der Darstellung festgehalten.
TXTT Vorwort von H, v, Edmholix.
ubd mich dadurch am besten gesichert fühlte; doch möchte
ich gegen den Weg, den so hervorragende Physiker, wie die
drei genannten, eingeschlagen haben, keine prinzipiellen Ein-
wendungen erheben.
Freilich werden noch grofse Schwierigkeiten zu überwinden
sein bei dem Bestreben, aus den von Hebtz entwickelten
Grundlagen Erklärungen für die einzelnen Abschnitte der
Physik zu geben. Im ganzen Zusammenhange aber ist die
Darstellung der Grundgesetze der Mechanik von Hertz ein
Buch, welches im höchsten Grade jeden Leser interessieren
mufs, der an einem folgerichtigen System der Dynamik, dar-
gelegt in höchst vollendeter und geistreicher mathematischer
Fassung, Freude hat. Möglicherweise wird dieses Buch in der
Zukunft noch von hohem heuristischen Wert sein als Leit-
faden zur Entdeckung neuer allgemeiner Charaktere der Natur-
kräfte.
Vorwort des Verfassers.
Alle Physiker sind einstiinmig darin, dafs es die Auf-
gabe der Physik sei, die Erscheinungen der Natur auf die
einfachen Gesetze der Mechanik zurückzuführen. Welches aber
diese einfachen Gesetze sind, darüber herrscht nicht mehr die
gleiche Einstimmigkeit. Die Meisten verstehen unter jener
Bezeichnung wohl schlechthin die NBwroN'schen Gesetze der
Bewegung. In Wahrheit aber erhalten diese letzteren Gesetze
ihren inneren Sinn und ihre physikalische Bedeutung erst
durch den stillen Nebengedanken, dafs die Kräfte, yon welchen
sie reden, einfacher Natur sind und einfache Eigenschafben
haben. Was nun aber hier noch einfach und noch zulässig
sei, und was schon nicht mehr, das steht nicht fest; eben
hier ist der Punkt, wo die Berufung auf allgemeine Einstim-
migkeit aufhört. Daher sehen wir auch wirklich Meinungs-
verschiedenheiten entstehen, ob diese oder jene Annahme noch
der gewöhnlichen Mechanik entspreche, oder ob nicht mehr.
Dafs hier offene Fragen liegen, tritt freilich nur bei neuen
Aufgaben hervor, hier aber als erstes Hindernis der Unter-
suchung. So ist z. B. der Versuch verfrüht, die Bewegungs-
XXTY Vorwort des Verfassers,
gleichungen des Äthers auf die Gesetze der Mechanik zurück-
führen zu wollen, solange man sich nicht eindeutig darüber
verständigt hat, was man mit diesem Namen bezeichnet
haben will.
Die Aufgabe, deren Lösung die folgende Untersuchung
anstrebt, ist diese, die hier vorhandene Lücke auszufüllen und
eine vollkommen bestimmte Zusammenstellung der Gesetze
der Mechanik anzugeben, welche mit dem Stande unserer
heutigen Kenntnis verträglich ist, welche nämlich in Beziehung
auf den Umfang dieser Kenntnis weder zu eng ist, noch zu
weit. Die Zusammenstellung soll nicht zu eng sein, das heifst,
es soll keine natürliche Bewegung geben, welche ihren Forder-
ungen nicht gehorcht. Die Zusammenstellung aber soll auch
nicht zu weit sein, das heifst, sie soll auch keine Bewegung
zulassen, deren Vorkommen in der Natur schon nach dem
Stande unserer heutigen Erfahrung ausgeschlossen ist. Ob
die Zusammenstellung, welche ich als Lösung dieser Aufgabe
im Folgenden gebe, die einzig mögliche ist, oder ob es andere,
vielleicht bessere mögliche giebt, bleibt dahingestellt. Dafs
aber die gegebene Zusammenstellung in jeder Hinsicht eine
mögliche ist, beweise ich dadurch, dafs ich ihre Folgen ent-
wickele, und zeige, dafs bei voller Entfaltung sie den Inhalt
der gewöhnlichen Mechanik aufzunehmen vermag, sofern sich
der letztere auf die wirklichen Kräfte und Zusammenhänge
der Natur beschränkt und sich nicht als Spielplatz maihe-
matischer Übungsarbeit betrachtet.
Durch diese Entwickelung ist freihch aus einer theore-
tischen Abhandlung ein Buch geworden, welches eine voll-
ständige Übersicht aller wichtigeren allgemeinen Sätze der
Dynamik enthält und welches sogar als ein systematisches
Lehrbuch dieser Wissenschaft gelten kann. Zu einer ersten
Einführung ist dasselbe freilich aus verschiedenen Gründen
nicht wohl geeignet; mit umsomehr Überzeugung aber bietet
es sich Demjenigen als Führer an, welcher den Inhalt der
Mechanik aus der gewöhnlichen Darstellung schon einiger-
mafsen kennt. Einem Solchen hofft es einen Standpunkt
zeigen zu können, von welchem aus die physikalische Bedeu-
Vorwort des Verfassers, xxv
tung, die innere Verwandtschaft und die Tragweite der mecha-
nischen Prinzipien in durchsichtiger Klarheit vor Augen liegt;
von welchem aus auch der Begriff der Eraffc wie die übrigen
mechanischen Grundbegriffe des letzten Bestes von Dunkelheit
entkleidet erscheinen.
Die Aufgabe, welche sich die yorliegende Untersuchung
stellt, ist in verdeckter Weise bereits behandelt und mit einer
möglichen Lösung beantwortet durch von Helmholtz in seiner
Arbeit über das Prinzip der kleinsten Wirkung und in der
damit zusammenhängenden Arbeit über cyklische Systeme^).
In der ersteren wird die These aufgestellt und yertreten, dafs
die Mechanik auch dann noch die sämtlichen Vorgänge der
Natur zu umfassen vermag, wenn man nicht nur die New-
TOK'schen Grundlagen als allgemeingültig betrachtet, sondern
auch die besonderen Voraussetzungen, welche neben jenen
dem HAMiLTON'schen Prinzip zu Grunde liegen. In der zweit-
genannten Arbeit wird zum ersten Male in allgemeiner Weise
Sinn und Bedeutung der verborgenen Bewegungen behandelt.
Von jenen Arbeiten ist meine eigene Untersuchung im Ganzen
und in ihren Teilen wesentlich beeinflufst und abhängig; der
Abschnitt über cyklische Systeme ist ihnen fast unmittelbar
entnommen. Von der Form abgesehen, bestehen die Ab-
weichungen meiner eigenen Lösung hauptsächlich in zwei
Punkten: Einmal suche ich dasjenige von vornherein von den
Elementen der Mechanik fem zu halten, was von Hjilmholtz
durch nachträgliche Einschränkung aus der schon entwickelten
Mechanik wieder entfernt. Zweitens entferne ich aus der
Mechanik in gewissem Sinne weniger, indem ich mich nicht
auf das HAMiLTON'sche Prinzip, noch auf ein anderes Integral-
prinzip stütze. Die Gründe hierfür und die Polgen hiervon
werden aus der Arbeit selbst erhellen.
Ähnliche Gedankenreihen, wie in den von HELMHOLTz'schen
Arbeiten sind angesponnen in der bedeutenden Abhandlung
^) H. VON Helmholtz, Über die physikalische Bedeutung des Prin-
zips der kleinsten Wirkung, Journal für die reine und angewandte Mathe-
matik, 100, p. 137—166, 213—222, 1887; Prinzipien der Statik mono-
cyklischer Systeme, ebenda, 97, p. 111—140, 317—336, 1884.
x]^vi Vorwort des Verfassers,
von J, J. Thomson über die physikalischen Anwendnngen der
Dynamik ^). Ebenfalls entwickelt hier der Verfasser die Folgen
einer Dynamik, welche neben den NEWTON'schen Gesetzen der
Bewegung noch weitere, besondere, nicht ausdrücklich aus-
gesprochene Voraussetzungen zur Grundlage hat. Auch an
diese Abhandlung also hätte ich mich anlehnen können; that-
sächlich war meine eigene Untersuchung schon ziemlich fort-
geschritten, als ich jene genauer kennen lernte. Das gleiche
darf ich von den in mathematischer Hinsicht verwandten, aber
weit älteren Arbeiten von Beltbami*) und Lipschitz^) sagen;
doch konnte ich noch reiche Anregung aus denselben schöpfen,
ebenso aus der neueren Darstellung, welche Dabboux*) von
jenen Arbeiten mit eigenen Zusätzen gegeben hat. Manche
mathematische Abhandlungen, welche ich hätte berücksichtigen
können und sollen, mögen mir entgangen sein. In allgemeiner
Hinsicht verdanke ich sehr viel dem schönen Buche über die
Entwickelung der Mechanik von Mach*). Es ist selbstver-
ständlich, dafs ich die bekannteren Lehrbücher der allgemeinen
Mechanik zu Bäte zog, nicht am wenigsten die umfassende
Darstellung der Dynamik in dem Lehrbuche von Thomson
und Tait^. Wertvoll war mir auch das Heft einer Vorlesung
über analytische Dynamik von Bobchabdt, welches ich im
Winter 1878/79 nachschrieb. Hiermit habe ich die von mir
^) J. J. Thomson, on some Applications of Dynamical Principles
to Physical Phenomena, Philosophical Transactions 176, II, p. 307 — 342,
1885.
^) Beltrami, Sulla teoria generale dei parametri differenziali; Me-
morie delia Reale Accademia di Bologna, 25. Febbrajo 1869.
') ß. LiPscHiTz, Untersuchung eines Problems der Variationsrech-
nung, in welchem das Problem der Mechanik enthalten ist Journal für
die reine und angewandte Mathematik, 74, p. 116 — 149, 1872. Bemer-
kungen zu dem Plrinzip des kleinsten Zwanges. Ebenda, 82, p. 316 — 342,
1877.
*) G. Darboux, Le9ons sur la th^orie g^n^rale des surfaces, Livre V,
Chapitres 6, 7, 8. Paris 1889.
^) E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch
dargestellt Leipzig 1883.
•) W. Thomson und P. G. Tait, Handbuch der theoretischen Phy-
sik, deutsche Ausgabe von Helmholtz und We&theim, Braunschweig 1871.
Vorwort des Verfassers, xxvn
benutzten Quellen genannt; im Texte werde ich nur soviel
citieren, als die Sache selbst es verlangt. Im einzelnen habe
ich ja auch nichts vorzutragen, das neu wäre und nicht aus
vielen Büchern genommen werden könnte. Was, wie ich hoffe,
neu ist, und worauf ich einzig Wert lege, ist die Anordnung
und Zusammenstellung des Ganzen, also die logische, oder,
wenn man will, die philosophische Seite des Gegenstandes.
Meine Arbeit hat ihr Ziel erreicht oder verfehlt, jenachdem
in dieser Bichtung etwas gewonnen ist oder nicht.
Inhalt
Nammer Seite
Vorbemerkung des Herausgebers V
Vorwort von H. v. Helmboltz . Vn
Vorwort des Verfassers XAill
Inhalt XXVm
Einleitung 1
ErsteB Buch. Zur Geometrie und Kinematik
der materiellen Systeme.
Vorbemerkung 1 53
Abschnitt 1. Zeit, Baum, Masse 2 5B
Abschnitt 2. Lagen und Verrückungen der Punkte
und Systeme 9 55
Lage; Konfiguration und absolute Lage; End-
liche Verrückungen a) der Punkte, b) der
Systeme ; Zusammensetzung der Verrückungen.
Abschnitt 3. Unendlich kleine Verrückungen und
Bahnen der Systeme materieller Punkte . 53 69
Unendlich kleine Verrückungen; Verrückungen
in Bichtung der Koordinaten; Benutzung par-
tieller Differentialquotienten; Bahnen der
Systeme.
Abschnitt 4. Mögliche und unmögliche Verrückun-
gen. Materielle Systeme 109 88
Zusammenhang; Analytische Darstellung des
Zusammenhanges ; Bewegungsfreiheit ; Ver-
rückungen senkrecht zu den möglichen Ver-
rüekungen.
Abschnitt 5. Von den ausgezeichneten Bahnen der
materiellen Systeme 151 100
1^ Geradeste Bahnen; 2. Kürzeste und geodä-
tische Bahnen ; 3. Beziehungen zwischen gerade-
sten und geodätischen Bahnen.
Abschnitt 6. Von der geradesten Entfernung in ho-
lonomen Systemen 197 119
1. Flächen von Lagen; 2.Greradeste Entfernung.
Abschnitt 7. Kinematische Begriffe 237 137
1. Vektorgröfsen in Bezug auf ein System;
2. Bewegung der Systeme, Geschwindigkeit,
Moment, Beschleunigung, Energie, Benutzung
partieller Differentialquotienten.
Schlufsbemerkung zum ersten Buch 295 '153
Inhalt. XXIX
Zweites Bncli. Mechanik der materiellen Systeme.
Numx&er Seite
Vorbemerkung 296 157
Abschnitt 1. Zeit, Raum, Masse 297 157
Abschnitt 2. Das Grundgesetz 308 162
Das Gresetz; Berechtigung desselben, Ein-
schränkung desselben, Zerlegung desselben,
Methode seiner Anwendung, Angenäherte An-
wendung.
Abschnitt 3. Bewegung der freien Systeme .... 331 170
Allgemeine Eigenschaften der Bewegung: I.Be-
stimmtheit der Bewegung, 2. Erhaltung der
Energie, 3. Kleinste Beschleunigung, 4. Kürzeste
Bahn, 5. Kürzeste Zeit, 6. Kleinstes Zeitintegral
der Energie. Analytische Darstellung: Diffe-
rentialgleichungen der Bewegung. Innerer
Zwang der Systeme. Holonome Systeme. Dyna-
mische Modelle.
Abschnitt 4. Bewegung der unfreien Systeme . . . 429 199
I. Geleitetes unfreies System. IT. Systeme
durch Ejräffce beeinflufst: Einführung der Ejraft,
Wirkung und Gegenwirkung, Zusammensetzung
der Kräfte, Bewegung unter dem Einflufs von
Earäften, Innerer Zwang, Energie imd Arbeit,
Gleichgewicht und Statik, Maschinen xmd innere
Kräfte, Messung der Kräfte.
Abschnitt 5. Systeme mit verborgenen Massen . . 546 235
I. Cyklische Bewegung: Cyklische Systeme,
Kräfte und Kräftefunktion, Beciproke Eigen-
tümlichkeiten, Energie und Arbeit, Zeitintegral
der Energie. 11. Verborgene cyklische Be-
wegung: Konservative Systeme, Differential-
gleichungen der Bewegung, Integralsätze für
holonome Systeme, Endliche Bewegungs-
gleichungen für holonome Systeme; Nicht-
konservative Systeme.
Abschnitt 6. Von den Unstetigkeiten der Bewegung 668 286
StoDskraft; oder Stofs; Zusammensetzung der
Stösse; Bewegung unter dem Einflufs von
Stössen; Innerer Zwang beim Stosse; Energie
und Arbeit; Zusammenstofs zweier Systeme.
Schlafsbemerkung zum zweiten Buch 734 306
Nachweis der Definitionen und Bezeichnungen 309
Berichtigung 312
Einleitung.
Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Auf-
gabe unserer bewufsten Naturerkenntnis, dafs sie uns befähige,
zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Vor-
aussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können.
Als Grundlage für die Lösung jener Aufgabe der Erkenntnis
benutzen wir unter allen Umständen vorangegangene Erfah-
rungen, gewonnen durch zufällige Beobachtungen oder durch
absichtlichen Versuch. Das Verfahren aber, dessen wir uns
zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen und
damit zur Erlangung der erstrebten Voraussicht stets bedienen,
ist dieses: Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole
der äufseren Gegenstände, und zwar machen wir sie von
solcher Art, dafs die denknotwendigen Folgen der Bilder stets
wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Polgen der
abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt
erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden
sein zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung
lehrt uns, dafs die Forderung erfüllbar ist und dafs also solche
Übereinstimmungen in der That bestehen. Ist es uns einmal
geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder
von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir
Hertz, Mechanik. 1
2 Eirdeitang.
an ihnen, wie an Modellen, in kurzer Zeit die Folgen ent-
wickeln, welche in der äofseren Welt erst in längerer Zeit
oder als Folgen unseres eigenen Eingreifens auftreten werden;
wir vermögen so den Thatsachen vorauszueilen und können
nach der gewonnenen Einsicht unsere gegenwärtigen Entschlüsse
richten. — Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere
Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die
eine wesentliche XJbereinstimmung, welche in der Erfüllung
der genannten Forderung liegt, aber es ist flir ihren Zweck
nicht nötig, dafs sie irgend eine weitere XJbereinstimmung mit
den Dingen haben. In der That wissen wir auch nicht, und
haben auch kein Mittel zu erfahren, ob unsere Vorstellungen
von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem überein-
stimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Be-
ziehung.
Eindeutig sind die Bilder, welche wir uns von den Dingen
machen wollen, noch nicht bestimmt durch die Forderung,
dafs die Folgen der Bilder wieder die Bilder der Folgen
seien. Verschiedene Bilder derselben Gegenstände sind mög-
lich und diese Bilder können sich nach verschiedenen Bich-
tungen unterscheiden. Als unzulässig sollten wir von vorn-
herein solche Bilder bezeichnen, welche schon einen Wider-
spruch gegen die Gesetze unseres Denkens in sich tragen und
wir fordern also zunächst, dafs alle unsere Bilder logisch zu-
lässige oder kurz zulässige seien. Unrichtig nennen wir zu-
lässige Bilder dann, wenn ihre wesentlichen Beziehungen den
Beziehungen der äufseren Dinge widersprechen, das heifst
wenn sie jener ersten Grundforderung nicht genügen. Wir
verlangen demnach zweitens, dafs unsere Bilder richtig seien.
Aber zwei zulässige und richtige Bilder derselben äufseren
Gegenstände können sich noch unterscheiden nach der Zweck-
mäfsigkeit. Von zwei Bildern desselben Gegenstandes wird
dasjenige das zweckmäfsigere sein, welches mehr wesentliche
Beziehungen des Gegenstandes wiederspiegelt als das andere;
welches, wie wir sagen wollen, das deutlichere ist. Bei gleicher
Deutlichkeit wird von zwei Bildern dasjenige zweckmäfsiger
sein, welches neben den wesentlichen Zügen die geringere Zahl
überflüssiger oder leerer Beziehungen enthält, welches also
Einleitung, 3
das einfachere ist. Ganz werden sich leere Beziehungen nicht
vermeiden lassen, denn sie kommen den Bildern schon deshalb
zu, weil es eben nur Bilder und zwar Bilder unseres beson-
deren Geistes sind und also von den Eigenschaften seiner
Abbildungsweise mitbestimmt sein müssen.
Wir haben bisher die Anforderungen aufgezählt, welche
wir an die Bilder selbst stellen; etwas ganz anderes sind die
Anforderungen, welche wir an eine wissenschaftliche Darlegung
solcher Bilder stellen. Wir verlangen von der letzteren, dafs
sie uns klar zum Bewufstsein ftlhre, welche Eigenschaften den
Bildern zugelegt seien um der Zulässigkeit willen, welche um
der Eichtigkeit willen, welche um der Zweckmäfsigkeit willen.
Nur so gewinnen wir die Möglichkeit an unsern Bildern zu
ändern, zu bessern. Was den Bildern beigelegt wurde um
der Zweckmäfsigkeit willen, ist enthalten in den Bezeichnungen,
Definitionen, Abkürzungen, kurzum in dem, was wir nach
Willkür hinzuthun oder wegnehmen können. Was den Bildern
zukommt um ihrer Richtigkeit willen, ist enthalten in den Er-
fahrungsthatsachen, welche beim Aufbau der Bilder gedient
haben. Was den Bildern zukommt, damit sie zulässig seien,
ist gegeben durch die Eigenschaften unseres Geistes. Ob ein
Bild zulässig ist oder nicht, können wir eindeutig mit ja und
nein entscheiden und zwar mit Gültigkeit unserer Entscheidung
für alle Zeiten. Ob ein Bild richtig ist oder nicht, kann eben-
falls eindeutig mit ja und nein entschieden werden, aber
nur nach dem Stande unserer gegenwärtigen Erfahrung und
unter Zulassung der Berufung an spätere reifere Erfahrung.
Ob ein Bild zweckmäfsig sei oder nicht, dafür giebt es
überhaupt keine eindeutige Entscheidung, sondern es können
Meinungsverschiedenheiten bestehen. Das eine Bild kann
nach der einen, das andere nach der andern Richtung Vor-
teile bieten, und nur durch allmähliches Prüfen vieler Bilder
werden im Laufe der Zeit schliefslieh die zweckmäfsigsten
gewonnen.
Dies sind die Gesichtspunkte, nach welchen man, wie mir
scheint, den Wert physikalischer Theorieen und den Wert der
Darstellung physikalischer Theorieen zu beurteilen hat. Jeden-
4 Einleitung.
falls sind es die GesichtspuDkte, von welchen aus wir jetzt
die Darstellungen betrachten wollen, welche man von den Prin-
zipien der Mechanik gegeben hat. Dabei ist es freilich zu-
nächst nötig, bestimmt zu erklären, was wir mit diesem Namen
bezeichnen.
In strengem Sinne verstand man ursprünglich in der
Mechanik unter einem Prinzip jede Aussage, welche man nicht
wieder auf andere Sätze der Mechanik selbst zurückführte,
sondern welche man als unmittelbares Ergebnis anderer
Quellen der Erkenntnis angesehen wissen wollte. Es konnte
infolge der geschichtlichen Entwickelung nicht ausbleiben, dafs
Sätze, welche unter besonderen Voraussetzungen einmal mit
Recht als Prinzipien bezeichnet wurden, später diesen Namen,
wiewohl mit Unrecht, beibehielten. Seit Lageange ist die Be-
merkung häufig wiederholt worden, dafs die Prinzipien des
Schwerpunktes und der Flächen im Grunde nur Lehrsätze
allgemeinen Inhalts seien. Man kann aber mit gleichem Rechte
bemerken, dafs auch die übrigen sogenannten Prinzipien nicht
unabhängig von einander diesen Namen führen können, sondern
dafs jedes von ihnen auf den Rang einer Folgerung oder eines
Lehrsatzes herabsteigen mufs, so bald die Darstellung der
Mechanik auf eines oder mehrere der übrigen gegründet wird.
'Der Begriff des mechanischen Prinzipes ist demnach kein
scharf festgehaltener. Wir wollen deshalb zwar jenen Sätzen
in Einzelaussagen ihre herkömmliche Benennung belassen;
wenn wir aber schlechthin und allgemein von den Prinzipien
der Mechanik reden, so wollen wir darunter nicht jene einzelnen
konkreten Sätze verstanden wissen, sondern jede übrigens be-
liebige Auswahl unter ihnen und unter ähnlichen Sätzen, welche
der Bedingung genügt, dafs sich aus ihr ohne weitere Be-
rufung auf die Erfahrung die gesamte Mechanik rein deduktiv
entwickeln läfst. Bei dieser Bezeichnungsweise stellen die
Grundbegriffe der Mechanik zusammen mit den sie verkettenden
Prinzipien das einfachste Bild dar, welches die Physik von den
Dingen der sinnlichen Welt und den Vorgängen in ihr her-
zustellen vermag. Und da wir von den Prinzipien der Mechanik
durch verschiedene Auswahl der Sätze, welche wir zu Grunde
legen, verschiedene Darstellungen geben können, so erhalten
Einleitung, 5
wir verschiedene solche Bilder der Dinge, welche Bilder wir
prüfen und mit einander vergleichen können in Bezug auf ihre
Zulässigkeit, ihre Bichtigkeit und ihre Zweckmäfsigkeit.
1.
Ein erstes Bild liefert uns die gewöhnliche Darstellung
der Mechanik. Wir verstehen hierunter die in den Einzel-
heiten abweichende, in der Hauptsache übereinstimmende Dar-
stellung fast aller Lehrbücher, welche das Ganze der Mechanik
behandeln, fast aller Vorlesungen, welche sich über den ge-
samten Inhalt dieser Wissenschaft verbreiten. Diese Dar-
stellung bildet den königlichen Weg und die grofse Heerstrafse,
auf welcher die Schar der Schüler in das Innere der Mechanik
eingeführt wird; sie folgt genau dem Gang der historischen
Entwickelung und der Reihenfolge der Entdeckungen; ihre Haupt-
stationen sind gekennzeichnet durch die Namen eines Abchi-
MEDES, Galilei, Newton, Lageange. Als gegebene Vorstellungen
legt diese Darstellung zu Grunde die Begriffe des Raumes,
der Zeit, der Kraft und der Masse. Die Kraft ist dabei ein-
geführt als die vor der Bewegung und unabhängig von der
Bewegung bestehende Ursache der Bewegung. Zuerst treten
auf nur Raum und Kraft für sich, und ihre Beziehungen werden
in der Statik behandelt. Die reine Bewegungslehre oder
Kinematik begnügt sich, die beiden Begriffe Raum und Zeit in
Verbindung zu setzen. Die GALiLEi'sche Vorstellung von der
Trägheit liefert einen Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und
Masse allein. In den NEWTON^schen Gesetzen der Bewegung
treten zuerst alle vier Grundbegriffe neben einander in Ver-
knüpfung auf. Diese Gesetze bilden die eigentliche Wurzel
der weiteren Entwickelung, aber sie geben noch keinen all-
gemeinen Ausdruck für den Einflufs starrer räumlicher Ver-
bindungen; hier erweitert das D'ALEMBEBT'sche Prinzip das
6 Einleitung.
allgemeüie Ergebnis der Statik auf den Fall der Bewegung
und schliefst als letztes den Beigen der nicht aas einander
ableitbaren, unabhängigen Grandaussagen. Alles weitere da-
gegen ist deduktive Ableitung. In der That sind die auf-
gezählten Begriffe und Gesetze nicht nur notwendig, sondern
auch hinreichend, um den gesamten Inhalt der Mechanik aus
ihnen mit Denknotwendigkeit zu entwickeln und alle übrigen
sogenannten Prinzipien als Lehrsätze und Folgerungen aus
besonderen Voraussetzungen erscheinen zu lassen. Jene auf-
gezählten Begriffe und Gesetze geben uns also ein erstes
System der Prinzipien der Mechanik in unserer Ausdrucks-
weise; damit zugleich also auch das erste allgemeine Bild von
den natürlichen Bewegungen der Eörperwelt.
Es erscheint nun von Tomherein sehr femliegend, da&
man an der logischen Zulässigkeit dieses Bildes auch nur
zweifeln könne. Es erscheint fsist unmöglich, dafs man daran
denke, logische Unvollkommenheiten aufzufinden in einem
Systeme, welches Ton unzähligen und von den besten Köpfen
immer imd immer wieder durchdacht worden ist. Aber ehe
ma^ hierauf hin die Untersuchung abbricht, wird man fragen
müssen, ob auch alle und ob die besten Köpfe immer von
dem Systeme befriedigt gewesen sind. In jedem Falle mufs es
billig gleich im Anfang Wunder nehmen, wie leicht es ist,
Betrachtungen an die Grundgesetze anzuknüpfen, welche sich
ganz in der üblichen Bedeweise der Mechanik bewegen und
welche doch das klare Denken unzweifelhaft in Verlegenheit
setzen. Versuchen wir dies zunächst an einem Beispiele zu
zeigen. Wir schwingen einen Stein an einer Schnur im Kreise
herum; wir übän dabei bewufstermafsen eine Kraft auf den Stein
aus; diese Kraft lenkt den Stein beständig Ton der geraden
Bahn ab, und wenn wir diese Kraft, die Mafse des Steines
und die Länge der Schnur verändern, so finden wir, dals die
Bewegung des Steines in der That stets in Übereinstimmung
mit dem zweiten NEWTON'schen Gesetze erfolgt. Nun aber ver-
langt das dritte Gesetz eine Gegenkraft zu der Kraft, welche
von unserer Hand auf den Stein ausgeübt wird. Auf die
Frage nach dieser Gegenkraft lautet die jedem geläufige Ant-
wort: es wirke der Stein auf die Hand zurück infolge der
Einleitung, 7
Schwungkraft, und diese Schwungkraft sei der von uns aus-
geübten Eraft in der That genau entgegengesetzt gleich. Ist
nun diese Ausdrucksweise zulässig? Ist das was wir jetzt
Schwungkraft oder Centrifagalkraft nennen, etwas anderes als
die Trägheit des Steines? Dürfen wir, ohne die Klarheit
unserer Vorstellungen zu zerstören, die Wirkung der Trägheit
doppelt in Bechnung stellen, nämlich einmal als Mafse, zweitens
als Eraft? In unseren Bewegungsgesetzen war die Eraft die
vor der Bewegung vorhandene Ursache der Bewegung. Dürfen
wir, ohne unsere Begriffe zu verwirren, jetzt auf einmal von
Ejräften reden, welche erst durch die Bewegung entstehen,
welche eine Folge der Bewegung sind? Dürfen wir uns den
Anschein geben, als hätten wir über diese neue Art von
Ejräften in unseren Gesetzen schon etwas ausgesagt, als könnten
wir ihnen mit dem Namen „Erafb^^ auch die Eigenschaften
der Eräfte verleihen? Alle diese Fragen sind offenbar zu
verneinen, es bleibt uns nichts übrig als zu erläutern: die Be-
zeichnung der Schwungkraft als einer Eraft sei eine uneigent-
liche, ihr Name sei wie der Name der lebendigen Eraft als
eine historische Überlieferung hinzunehmen und die Bei-
behaltung dieses Namens sei aus Nützlichkeitsgründen mehr
zu entschuldigen als zu rechtfertigen. Aber wo bleiben als-
dann die Ansprüche des dritten Gesetzes, welches eine Eraft
fordert, die der tote Stein auf die Hand ausübt und welches
durch eine wirkliche Eraft, nicht durch einen blofsen Namen
befriedigt sein wül?
Ich glaube nicht, dafs diese Schwierigkeiten künstlich
oder mutwillig heraufbeschworen sind; sie drängen sich uns
von selbst auf. Sollte sich nicht ihr Ursprung bis in die
Grundgesetze zurückverfolgen lassen? Die Ej'aft, von welcher
die Definition und die ersten beiden Gesetze reden, wirkt auf
einen Eörper in einseitig bestimmter Richtung. Der Sinn des
dritten Gesetzes ist, dafs die Eräfte stets zwei Eörper verbinden
und ebenso gut vom ersten zum zweiten, wie vom zweiten zum
ersten gerichtet sind. Die Vorstellung der Eraft, welche dieses
Gesetz und die Vorstellung, welche jene Gesetze voraussetzen
und in uns erwecken, scheinen mir um ein Geringes ver-
schieden, dieser geringe Unterschied aber reicht vielleicht aus,
8
um die logische Trabung za erzeugen, deren Folgen in unserem
Beispiele znm Ansbrnch kamen. Doch haben wir nicht nötig,
auf die Untersuchung weiterer Beispiele einzugehen. Wir
können allgemeine Wahrnehmungen als Zeugen für die Be-
rechtigung unserer Zweifel aufrufen. Eäne erste solche Wahr-
nehmung scheint mir die Er&hrung zu bilden, daCs es sehr
schwer ist, gerade die Einleitung in die Mechanik denkenden
Zuhörern vorzutragen ohne einige Verlegenheit, ohne das Gre-
fEkhl, sich hier und da entschuldigen zu müssen, ohne den
Wunsch, recht schnell über die Anfange hinwegzugelangen zu
Beispielen, welche für sich selbst reden. Ich meine, Newton
selbst müsse diese Verlegenheit empfunden haben, wenn er die
Masse etwas gewaltthatig definiert als Produkt aus Volumen
und Dichtigkeit. Ich meine, die Herren Thomson und Tatt
müssen ihm nachempfanden haben, wenn sie anmerken, dies
sei eigentlich mehr eine Definition der Dichtigkeit als der
Masse, und sich gleichwohl mit derselben als einzigen Defini-
tion der Masse begnügen. Auch LAOBANaE, denke ich, müsse
jene Verlegenheit und den Wunsch, um jeden Preis vorwärts-
zukommen, verspürt haben, als er seine Mechanik kurzer-
hand mit der Erklärung einleitete, eiae Kraft sei eine Ur-
sache, welche einem Körper eine Bewegung erteüt „oder zu
erteilen strebt"; gewifs nicht ohne die logische Härte einer
solchen Überbestimmung zu empfinden. Ein zweites Zeugnis
nehme ich aus der Thatsache, dass wir schon für die elemen-
taren Sätze der Statik, für den Satz vom Parallelogramm der
Kräfte, den Satz der virtuellen Geschwindigkeiten, u. s. w. zahl-
reiche Beweise besitzen, welche von ausgezeichneten Mathe-
matikern herrühren, welche den Anspruch machen, streng zu
sein und welche doch wieder nach dem Urteil anderer hervor-
ragender Mathematiker diesem Anspruch keineswegs genügen.
In einer logisch vollendeten Wissenschaft, in der reinen
Mathematik, ist eine Meinungsverschiedenheit in solcher Frage
schlechterdings undenkbar. Als ein sehr belastendes Zeugnis
aber erscheinen mir auch die über Gebühr oft gehörten Be-
hauptungen: das Wesen der Kraft sei noch rätselhaft, es sei
eine Hauptaufgabe der Physik, das Wesen der Kraft zu er-
forschen, und ähnliche Aussagen mehr. In gleichem Sinne
bestürmt man den Elektriker immer wieder nach dem Wesen
Einleitung. 9
der Elektricität. Warum fragt nun niemand in diesem Sinne
nach dem Wesen des Goldes oder nach dem Wesen der Ge-
schwindigkeit? Ist uns das Wesen des Goldes bekannter als
das der Elektricität, oder das Wesen der Geschwindigkeit be-
kannter als das der Kraft? Können wir das Wesen irgend
eines Dinges durch unsere Vorstellungen, durch unsere Worte
erschöpfend wiedergeben? Gewifs nicht. Ich meine, der Unter-
schied sei dieser: Mit den Zeichen „Geschwindigkeit" und
„Gold" verbinden wir eine grofse Zahl von Beziehungen zu
anderen Zeichen, und zwischen allen diesen Beziehungen finden
sich keine uns verletzenden Widersprüche. Das genügt ims
und wir fragen nicht weiter. Auf die Zeichen „Kraft" und
„Elektricität" aber hat man mehr Beziehungen gehäuft, als
sich völlig mit einander vertragen; dies fahlen wir dunkel, ver-
langen nach Aufklärung und äufsem unsem unklaren Wunsch
in der unklaren Frage nach dem Wesen von Kraft und Elek-
tricität. Aber offenbar irrt die Frage in Bezug auf die Ant-
wort, welche sie erwartet. Nicht durch die Erkenntnis von
neuen und mehreren Beziehungen und Verknüpfungen kann
sie befriedigt werden, sondern durch die Entfernung der Wider-
sprüche unter den vorhandenen, vielleicht also durch Ver-
minderung der vorhandenen Beziehungen. Sind diese schmer-
zenden Widersprüche entfernt, so ist zwar nicht die Frage
nach dem Wesen beantwortet, aber der nicht mehr gequälte
Geist hört auf, die fiir ihn unberechtigte Frage zu stellen.
Wir haben in diesen Ausfuhrungen die Zulässigkeit des
betrachteten Bildes so stark verdächtigt, dais es scheinen mufis,
als sei es unsere Absicht, diese Zulässigkeit zu bestreiten und
schliefslich zu verneinen. Soweit geht indes unsere Absicht
und unsere Überzeugung nicht Mögen die logischen Unbe-
stimmtheiten, welche uns um die Sicherheit der Grundlagen
besorgt machten, auch wirklich bestehen, sie haben sicherlich
keinen einzigen der zahllosen Erfolge verhindert, welche die
Mechanik in ihrer Anwendung auf die Thatsachen errungen
hat. Sie können also auch nicht bestehen in Widersprüchen
zwischen den wesentlichen Zügen unseres Bildes, also nicht
in Widersprüchen zwischen denjenigen Beziehungen der
Mechanik, welche Beziehungen der Dinge entsprechen« Sie
10 Einleitung.
müssen sich yielmehr beschränken auf die unwesentlichen Züge,
auf alles dasjenige, was wir selbst nach Willkür dem von der
Natur gegebenen wesentlichen Inhalte hinzugedichtet haben.
Dann aber lassen sich jene Verlegenheiten auch vermeiden.
Vielleicht treflfen unsere Einwände überhaupt nicht den Inhalt
des entworfenen Bildes, sondern nur die Form der Darstellung
dieses Inhalts. Wir sind gewiss nicht zu streng, wenn wir
meinen, diese Darstellung sei noch niemals zur wissenschaft-
lichen Vollendung durchgedrungen, es fehle ihr noch durchaus
die hinreichend scharfe Unterscheidung dessen, was in dem
entworfenen Bilde aus Denknotwendigkeit, was aus der Er-
fahrung, was aus unserer Willkür stammt In diesem
Urteile treffen wir zusammen mit hervorragenden Physikern,
welche sich mit diesen Fragen beschäftigt und über dieselben
geäufsert haben, ^) freilich ohne dafs von einer Übereinstimmung
aDer gesprochen werden könnte.^ Jenes Urteil findet femer
eine Bestätigung in der wachsenden Sorgfalt, welche in den
neueren Lehrbüchern der Mechanik der logischen Zergliederung
der Elemente gewidmet wird.^ In Übereinstimmung mit den
Verfassern dieser Lehrbücher und mit jenen Physikern sind
wir selbst der Überzeugung, dafs die vorhandenen Lücken nur
Lücken der Form sind, und durch geeignete Anordnung der
Definitionen, Bezeichnungen und weiter durch vorsichtige Aus-
drucksweise jede Unklarheit und Unsicherheit vermieden werden
kann. In diesem Sinne geben wir, wie Jedermann, die Zu-
lässigkeit des Inhalts der Mechanik zu. Es erfordert aber die
Würde und Grösse des Gegenstandes durchaus, dafs die logische
Eeinheit nicht nur mit gutem Willen zugegeben, sondern dafs
sie durch eine vollendete Darstellung auch so erwiesen werde,
dafs es nicht möglich sei, sie auch nur zu verdächtigen.
1) Siehe E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwickelang. Leipzig
1883, S. 228. Siehe femer in der „Nature" von 1893 eine neuerdings
von Herrn 0. Lodge angeregte und im Schofse der Physical Society in
London fortgeführte Diskussion über die Grundgesetze der Mechanik.
2) Siehe Thomson & Tait, Theoretische Physik, § 205 flF.
3) Siehe E. Büdde, Allgemeine Mechanik der Punkte und starren
Systeme, Berlin 1890, S. 111 — 138. Die daselhst gegebene Darstellung giebt
zugleich ein deutliches Bild von der Gröfse der Schwierigkeiten, welchen
die widerspruchsfreie Anwendung der Elemente begegnet
Einleitung. 1 1
Leichter und der allgemeinen Zustimmung sicherer können
wir das Urteil fällen über die Richtigkeit des von uns betrach-
teten Bildes. Niemand wird widersprechen, wenn wir yer-
sichem, dafs diese Richtigkeit nach dem ganzen Umfange
unserer bisherigen Erfahrung eine vollkommene sei, dafs alle
dieienigen Züge unseres Bildes, welche überhaupt den Anspruch
machen, beobachtbare Beziehungen der Dinge wiederzugeben,
solchen Beziehungen auch wirklich und richtig entsprechen.
Wir beschränken allerdings unsere Zuversicht auf den Inhalt
der bisherigen Erfahrung; was zukünftige Erfahrungen anlangt,
so werden wir noch Gelegenheit haben, auf die Frage nach
der Richtigkeit zurückzukommen. Manchem wird freilich diese
Vorsicht nicht nur übertrieben, sondern geradezu sinnwidrig
dünken; in der Meinung vieler Physiker erscheint es als einfach
undenkbar, dafs auch die späteste Erfahrung an den fest-
stehenden Grundsätzen der Mechanik noch etwas zu ändern
finden könne. Und doch kann das was aus Erfahrung stammt,
durch Erfahrung wieder vernichtet werden; jene allzugünstige
Meinung von den Grundgesetzen kann also offenbar nur des-
halb entstehen, weil in ihnen die Elemente der Erfahrung
einigermafsen versteckt und mit den unabänderlichen denk-
notwendigen Elementen verschmolzen sind. Die logische Un-
bestimmtheit der Darstellung, welche wir vorher schlechtweg
rügten, bietet also auch einen gewissen Vorteil; sie giebt den
Fundamenten den Schein der Unabänderlichkeit; es war viel-
leicht in den Anfängen der Wissenschaft weise, sie einzuführen
und eine Zeitlang bestehen zu lassen. Man stellte die Richtig-
keit des Bildes auf alle Fälle sicher dadurch, dafs man sich vor-
behielt im Notfalle aus einer Erfahrungsthatsache eine Definition
zu machen oder umgekehrt. In einer vollendeten Wissenschaft
aber ist solches Tasten, ein solcher Schein der Sicherheit nicht
erlaubt; in der gereiften Erkenntnis ist die logische Reinheit
in erster Linie zu berücksichtigen; nur logisch reine Büder
sind zu prüfen auf ihre Richtigkeit, nur richtige Bilder zu ver-
gleichen nach ihrer Zweckmäfsigkeit. Das dringende Bedürfais
verfährt oft umgekehrt: Die Bilder werden erfunden passend
für einen beabsichtigten Zweck, dann geprüft auf ihre Richtig-
keit, endlich und zuletzt gesäubert von inneren Wider-
sprüchen.
12 Einleitung.
Ist diese letzte Bemerkung nur einigermafsen zutreffend,
so erscheint es uns nur natürlich, dafs das betrachtete System
der Mechanik höchste Zweckmäfsigkeit aufweist, sobald es
angewandt wird auf die einfachen Erscheinungen, für welche
es zuerst erdacht wurde, also vor allem auf die Wirkung der
Schwerkraft und die Aufgaben der praktischen Mechanik. Wir
dürfen uns aber hierbei nicht beruhigen, wir haben uns zu
erinnern, dafs wir hier nicht die Bedürfnisse des täglichen
Lebens und nicht den Standpunkt vergangener Zeiten vertreten
wollen, dafs wir vielmehr den gesamten Umfang der heutigen
physikalischen Erkenntnis ins Auge fassen und dafs wir über-
dies von der Zweckmäfsigkeit in einem besonderen Sinne reden,
welchen wir im Eingange genau bestimmt haben. Damach
haben wir die Pflicht, zunächst zu fragen: Ist das entworfene
Bild vollkommen deutlich? Enthält es alle Züge, welche die
heutige Erkenntnis an den natürlichen Bewegungen zu unter-
scheiden vermag? Diese Frage beantworten wir nun ent-
schieden mit nein. Nicht alle Bewegungen, welche die Grund-
gesetze zulassen und welche die Mechanik als mathematische
Übungsaufgaben behandelt, kommen in der Natur vor; wir
können von den natürlichen Bewegungen, Kräften, festen Ver-
bindungen mehr aussagen, als es die angenommenen Grund-
gesetze thun. Seit der Mitte dieses Jahrhunderts sind wir
fest überzeugt, dafs keine Kräfte in der Natur wirklich vor-
kommen, welche eine Verletzung des Prinzips von der Erhal-
tung der Energie bedingen würden. Weit älter ist die Über-
zeugung, dafs nur solche Kräfte vorkommen, welche sich
darstellen lassen als Summe von Wechselwirkungen zwischen
unendlich kleinen Elementen der Materie. Auch diese Ele-
mentarkräfte sind nicht frei. Als allgemein zugegebene Eigen-
schaften derselben können wir anführen, dass sie unabhängig
sind vom absoluten Werte der Zeit und vom absoluten Orte im
Räume. Andere Eigenschaften sind umstritten. Man hat bald
vermutet, bald in Frage gestellt, ob die Elementarkräfte nur
bestehen können in Anziehungen und Abstofsungen nach der
Verbindungslinie der wirkenden Massen; ob ihre Gröfse nur
bedingt sei durch die Entfernung oder ob sie nicht auch ab-
hängen könne von der absoluten oder der relativen Geschwin-
digkeit und nur von dieser, oder ob nicht auch die Be-
Einleitung. 1 3
schleunigung oder noch höhere Differentialquotienten des Wegs
nach der Zeit in Betracht kommen könnten. So wenig man
sich also einig ist über alle bestimmten Eigenschaften, welche
den Elementarkräften beizulegen sind, so sehr stimmt man
doch überein in der Meinung, dafs sich mehr solche allge-
meine Eigenschaften angeben und aus der schon vorhandenen
Beobachtung ableiten lassen, als die Grundgesetze enthalten.
Man ist überzeugt, dafs die Elementarkräfte, unbestimmt ge-
sprochen, einfacher Natur sein müssen. Was in dieser Hin-
sicht von den Kräften gilt, kann man in gleicher Weise von
den festen Verbindungen der Körper sagen, welche mathe-
matisch durch Bedingungsgleichungen zwischen den Koordinaten
dargestellt werden und deren Einflufs durch das d'Alembeet-
sche Prinzip bestimmt ist. Mathematisch kann man jede be-
liebige endliche oder Differentialgleichung zwischen den Ko-
ordinaten hinschreiben und verlangen, dafs sie befriedigt werde;
aber nicht immer läfst sich eine physikalische, eine natürliche
Verbindung angeben, welche die Wirkung jener Gleichung hat;
oft liegt die Vermutung, bisweilen die Überzeugung vor, dafs
eine solche Verbindung durch die Natur der Dinge ausge-
schlossen sei. In welcher Weise aber sind die zulässigen Be-
dingungsgleichungen einzuschränken? Wo ist die Grenzlinie
zwischen ihnen und den vorstellbaren? Man hat sich häufig
begnügt, nur endliche Bediugungsgleichungen in Betracht zu
ziehen. Diese Einschränkung aber geht zu weit, denn nicht
integrierbare Differentialgleichungen können als Bedingungs-
gleichungen bei natürlichen Problemen wirklich auftreten.
Kurzum, sowohl was die Kräfte, als was die festen Ver-
bindungen anlangt, enthält unser System der Prinzipien zwar
alle die natürlichen Bewegungen, aber es umfängt gleichzeitig
sehr viele Bewegungen, welche nicht natürliche sind. Ein
System, welches diese letzteren oder doch einen Teil derselben
ausschlösse, würde mehr wirkliche Beziehungen der Dinge zu
einander wiederspiegeln und also in diesem Sinne zweckmäfsiger
sein. Doch haben wir die Pflicht, auch noch in einer zweiten
Richtung nach der Zweckmäfsigkeit unseres Bildes zu fragen.
Ist unser Bild auch einfach? Ist es sparsam an unwesent-
lichen Zügen, an Zügen also, welche von uns zwar zulässiger
14 Einleitung»
aber doch willkürlicher Weise den wesentlichen Zä^en der
Natnr hinzogefugt werden? unsere Bedenken bei Beantwortong
dieser Frage knüpfen sich wiedenun an den Begriff der Kraft.
Es kann nicht geleognet werden , dafs in sehr vielen Fällen
die Kräfte, welche unsere Mechanik znr Behandlung physika-
lischer Fragen einfahrt, nur als leergehende Nebenräder mit-
laufen, um überall da aufser Wirksamkeit zu treten, wo es
gilt, wirkliche Thatsachen darzustellen. In den einfachen Ver-
hältnissen, an welche die Mechanik ursprüngUch anknüpfte,
ist das freilich nicht der Fall. Die Schwere eines Steines,
die Kraft des Armes scheinen ebenso wirklich, ebenso der
unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich, wie die durch sie er-
zeugten Bewegungen. Aber wir brauchen nur etwa zur Bewegung
der Gestirne überzugehen, um schon andere Verhältnisse zu
haben. Hier sind die Kräfte niemals Gegenstand der unmittel-
baren Erfahrung gewesen; alle unsere früheren Erfahrungen
beziehen sich nur auf den scheinbaren Ort der Gestirne. Wir
erwarten auch in Zukunft nicht die Kräfte wahrzunehmen,
sondern die zukünftigen Erfahrungen, welche wir erwarten,
betreffen wiederum nur die Lage der leuchtenden Punkte am
Himmel, als welche uns die Gestirne erscheinen. Nur bei der
Ableitung der zukünftigen Erfahrungen aus den vergangenen
treten als Hülfsgröfsen vorübergehend die Gravitationskräfte
ein, um wieder aus der Überlegung zu verschwinden. Ganz
allgemein liegt die Sache so bei der Betrachtung der mole-
kularen Kräfte, der chemischen, vieler elektrischen und magne-
tischen Wirkungen. Und wenn wir nun nach reiferer Erfahrung
zurückkehren zu den einfachen Kräften, über deren Bestehen
wir keinen Zweifel hatten, so werden wir belehrt, dafs diese
mit überzeugender Gewifsheit von uns wahrgenommenen Kräfte
jedenfalls nicht wirkliche waren. Der Trieb jedes Körpers
gegen die Erde hin, welchen wir mit Händen zu greifen
glaubten, dieser Trieb, so sagt uns die reifere Mechanik, ist
als solcher nicht wirklich, er ist das als Einzelkraft nur vor-
gestellte Ergebnis einer unfafsbaren Anzahl wirklicher Kräfte,
welche die Atome des Körpers gegen alle Atome des Weltalls
hinziehen. Auch hier sind dann also die wirklichen Kräfte
niemals Gegenstand der früheren Erfahrung gewesen, noch
erwarten wir sie in zukünftigen Erfahrungen anzutreffen. Nur
Einleitung. 15
während des Prozesses, mit welchem wir die zukünftigen Er-
fahrungen aus den yergangenen ableiten, treten sie leise ein
und wieder aus. Doch selbst wenn die Kräfte nur von uns
in die Natur hineingetragen wären, dürften wir darum ihre
Einführung noch nicht als unzweckmäfsig bezeichnen. Wir
waren uns von vornherein klar darüber, dafs sich unwesent-
liche Nebenbeziehungen in unsem Bildern nicht ganz würden
vermeiden lassen. Nur möglichste Einschränkung dieser Be-
ziehungen, nur weise Besonnenheit in ihrem Gebrauch
durften wir verlangen. Kann man aber behaupten, dafs die
Physik in dieser Eichtung immer mit Sparsamkeit zu Wege
gehen konnte? Mufste sie nicht vielmehr die Welt bis zum
Übermafs erfüllen mit den verschiedensten Arten von Kräften,
mit Ejäften, welche selbst niemals in die Erscheinung treten,
sogar mit solchen, welche nur ganz ausnahmsweise überhaupt
eine Wirkung haben? Wir sehen etwa ein Stük Eisen auf
dem Tische ruhen, wir vermuten demnach, dafs keine Bewegungs-
ursachen, keine Kräfte daseien. Die Physik, welche auf unserer
Mechanik aufgebaut und durch dies Fundament notwendig
bestimmt ist, belehrt uns eines anderen. Jedes Atom des
Eisens wird zu jedem anderen Atom des Weltalls durch die
Gravitationskraft hingezogen. Jedes Atom des Eisens ist aber
auch magnetisch und dadurch mit jedem anderen magnetischen
Atom des Weltalls durch neue Kräfte verbunden. Aber die
Körper des Alls sind auch erfüllt mit bewegter Elektricität
und von diesen bewegten Elektricitäten gehen weitere ver-
wickelte Kräfte aus, welche an jedem magnetischen Atom des
Eisens ziehen. Und insofern die Teile des Eisens selbst Elek-
tricität enthalten, haben wir wieder andere Kräfte in Betracht
zu ziehen; neben diesen dann noch verschiedene Arten von
Molekularkräften. Einige dieser Kräfte sind nicht klein; wäre
von allen Kräften nur ein Teil wirksam, so könnte dieser Teil
das Eisen in Stücke reifsen. In Wahrheit aber sind alle
Kräfte so gegen einander abgeglichen, dafs die Wirkung der
gewaltigen Zurüstung Null ist; dafs trotz tausend vorhandenen
Bewegungsursachen Bewegung nicht eintritt; dafs das Eisen
eben ruht. Wenn wir nun diese Vorstellungen unbefangen
Denkenden vortragen, wer wird uns glauben? Wen werden wir
überzeugen, dafs wir noch von wirklichen Dingen reden und
16 Einleitung,
nicht YOD Gebilden einer ausschweifenden EinbUdungskraft?
Wir selbst aber werden nachdenklich werden, ob wir wirk-
lich die Euhe des Eisens und seiner TeUe in einfacher Weise
geschildert und abgebildet haben. Ob sich die Verwickelung
überhaupt vermeiden läTst, ist zunächst ja fraglich; aber das
ist nicht fraglich, dafs ein System der Mechanik, welches sie
vermeidet oder ausschliefst, einfacher und in diesem Sinne
zweckmäfsiger ist, als das hier betrachtete, welches solche
Vorstellungen nicht nur zidäfst, sondern uns geradezu aufzwingt.
Fassen wir noch einmal in kiirzester Form die Bedenken
zusammen, welche uns bei Betrachtung der gewöhnlichen Dar-
stellungsweise der Prinzipien der Mechanik aufstiefsen. Was
die Form anlangt, schien uns, dafs der logische Wert der
einzelnen Aussagen nicht hinreichend klar festgelegt worden
sei. Was die Sache anlangt, schien uns, dafs die von der
Mechanik betrachteten Bewegungen sich nicht völlig mit den
zu betrachtenden natürlichen Bewegungen decken. Manche
Eigenschaften der natürlichen Bewegungen werden in der
Mechanik nicht berücksichtigt; viele Beziehungen, welche die
Mechanik betrachtet, fehlen wahrscheinlich in der Natur. Auch
wenn diese Ausstellungen als gerechtfertigt anerkannt werden,
dürfen sie uns freilich nicht zu der Meinung verleiten, dafs
die gewöhnliche Darstellung der Mechanik ihren Wert und
ihre bevorzugte Stellung deshalb einbüfsen müsse oder je ein-
büfsen werde; aber sie rechtfertigen es doch hinreichend, dafs wir
uns auch nach anderen Darstellungen umsehen, welche in den
getadelten Beziehungen Vorteile bieten und den darzustellen-
den Diogen noch enger angepafst sind.
2.
Ein zweites Bild der mechanischen Vorgänge ist weit
jüngeren Ursprungs als das erste. Seine Entwickelung aus
und neben jenem ist eng verknüpft mit den Fortschritten,
Einleitung. 1 7
welche die physikalische Wissenschaft in den letzten Jahr-
zehnten gemacht hat. Noch bis in die Mitte des Jahrhunderts
erschien als letztes Ziel und als letzte anzustrebende Er-
klärung der Naturerscheinungen die Bückführung derselben
auf unzählige Femkräfte zwischen den Atomen der Materie.
Diese Anschauungsweise entsprach vollständig dem Systeme der
mechanischen Prinzipien, welches wir als das erste bezeichnet
haben; sie wurde durch jenes bedingt, wie jenes durch sie.
Jetzt, gegen Ende des Jahrhunderts hat die Physik einer
anderen Denkweise ihre Vorliebe zugewandt. Beeinflufst von
dem überwältigenden Eindrucke, welchen die Auffindung des
Prinzipes von der Erhaltung der Energie ihr gemacht hat,
liebt sie es, die in ihr Gebiet fallenden Erscheinungen als
Umsetzungen der Energie in neue Formen zu behandeln, und
die Rückführung der Erscheinungen auf die Gesetze der
Energieverwandlung als ihr letztes Ziel zu betrachten. Diese
Behandlungsart kann auch schon von vornherein auf die
elementaren Vorgänge der Bewegung selbst angewandt
werden; alsdann entsteht eine neue, von der ersten ver-
schiedene Darstellung der Mechanik, in welcher von An-
fang an der Begriff der Kraft zurücktritt zu Gunsten des
Begriffs der Energie. Eben dieses so entstandene neue
Bild der elementaren Bewegungsvorgänge ist es, welches
wir als das zweite bezeichnen und welchem wir jetzt
unsere Aufmerksamkeit widmen wollen. Wenn wir bei Be-
sprechung des ersten Bildes den Vorteil hatten, dafs wir
das Bild selbst als deutlich vor dem Auge aller Physiker
stehend voraussetzen konnten, so ist das bei diesem zweiten
Bilde nun freilich nicht der FaU. Dasselbe ist sogar wohl noch
niemals in allen seinen Einzelheiten ausgemalt worden, es giebt
meines Wissens kein Lehrbuch der Mechanik, welches sich
von vornherein auf den Standpunkt der Energielehre stellte,
und den Begriff der Energie vor dem Begriff der Kraft ein-
führte. Vielleicht ist auch noch niemals eine Vorlesung über
Mechanik nach diesem Plane eingerichtet worden. Aber die
Möglichkeit eines solchen Planes hat schon den Begründern
der Energielehre eingeleuchtet; die Bemerkung, dafs man auf
diese Weise den Begriff der Kraft mit seinen Schwierigkeiten
vermeiden könne, ist öfters gemacht; in einzelnen besonderen
Hertz, Mechanik. 2
18 EifUeUung,
Anwendungen treten in der Wissenschaft immer häufiger
Schlussreihen auf, welche ganz dieser Denkweise angehören.
Wir können daher recht wohl eine Skizze entwerfen, welche
uns die groben Umrisse des Bildes vorfuhrt; wir können im
allgemeinen den Plan angeben, nach welchem die beabsichtigte
Darstellung der Mechanik geordnet werden müfste. Wie im
ersten Bilde, so gehen wir auch hier aus Ton vier von einander
unabhängigen Grundbegriffen, deren Beziehungen zu einander
den Inhalt der Mechanik bilden sollen. Zwei derselben haben
einen mathematischen Charakter: Baum und Zeit; die beiden
anderen: Masse und Energie, werden eingefiihrt als in ge-
gebener Menge vorhandene, unzerstörbare und unvermehrbare
physikalische Wesenheiten. Freilich wird es nötig sein, neben
dieser Erklärung auch deutlich anzugeben, durch welche kon-
kreten Erfahrungen wir in letzter Instanz das Vorhandensein
von Masse und Energie feststellen wollen. Hier nehmen wir
an, dass dies möglich und dass es geschehen sei. Dass die
Menge der Energie, welche mit bestimmten Massen verbunden
ist, von dem Zustande dieser Massen abhängig ist, ist selbst-
verständlich. Es ist aber als eine erste allgemeine Erfahrung
einzuführen, dafs die vorhandene Energie sich stets in zwei
Teile zerfallen läfst, von welchen der eine allein durch die
gegenseitige Lage der Massen bedingt ist, der andere aber
von ihrer absoluten Geschwindigkeit abhängt. Der erste Teil
wird als potentielle Energie, der zweite Teil als kinetische
Energie definiert. Die Form fiir die Abhängigkeit der kine-
tischen Energie von der Geschwindigkeit der bewegten Körper
ist in allen Fällen die gleiche und bekannt; die Form für die
Abhängigkeit der potentiellen Energie von der Lage der Körper
kann nicht allgemein angegeben werden, sie bildet vielmehr
die besondere Natur und die charakteristische Eigentümlich-
keit der gerade betrachteten Massen. Es ist die Aufgabe der
Physik, diese Form für die uns umgebenden Naturkörper aus
früheren Erfahrungen zu ermitteln. Bis hierher treten in den
Betrachtungen im wesentlichen nur drei Elemente, nämUch
Baum, Masse und Energie in Beziehung. Um die Beziehungen
aller vier Grundbegriffe und damit den zeitlichen Ablauf der
Erscheinungen festzulegen, bedienen wir uns eines der Inte-
gralprinzipien der gewöhnlichen Mechanik, welche sich zu ihren
Einleitung, 19
Aussagen des Energiebegriffs bedienen. Welches derselben
wir anwenden, ist ziemlich gleichgültig; wir können und wir
wollen etwa das HAMiLTON'sche Princip wählen. Wir würden
dann also als einziges erfahrungsmäfsiges Grundgesetz der
Mechanik den Satz aufstellen, dafs jedes System natürlicher
Massen sich so bewegt, als sei ihm die Aufgabe gestellt, ge-
gebene Lagen in gegebener Zeit zu erreichen imd zwar in
solcher Weise, dafs die Differenz zwischen kinetischer und
potentieller Energie im Mittel über die ganze Zeit so klein
ausfalle wie möglich. Ist dieses Gesetz auch in der Form
nicht einfach, so giebt es doch durch eine einzige Bestimmung
die natürlichen Umwandlungen der Energie zwischen ihren
Formen in eindeutiger Weise wieder, es gestattet daher den
Ablauf der wirklichen Erscheinungen für die Zukunft voll-
ständig Yorauszubestimmen. Mit der Aufstellung dieses neuen
Gesetzes sind die unentbehrlichen Grundlagen der Mechanik
abgeschlossen. Was wir noch hinzufügen können, sind nur
mathematische Ableitungen und etwa. Vereinfachungen oder
Hilfsbezeichnungen, welche vielleicht zweckmäfsig, aber jeden-
falls nicht notwendig sind. Zu diesen letzteren gehört dann
auch der Begriff der Kraft, welcher in den Grundlagen selbst
nicht auftrat. Seine Einfuhrung ist zweckmäfsig, sobald wir
nicht nur Massen in Betracht ziehen, welche mit konstanten
Mengen von Energie verbunden sind, sondern auch solche
Massen, welche Energie an andere Massen abgeben oder von
ihnen empfangen. Aber die Einführung geschieht nicht durch
neue Erfahrung, sondern durch eine Definition, welche in mehr
als einer Weise gefafst werden kann. Dementsprechend sind
auch die Eigenschaften der so definierten Kräfte nicht aus
der Erfahrung zu ermitteln, sondern lassen sich aus der De-
finition und dem Grundgesetz ableiten und selbst die Be-
stätigung dieser Eigenschaften durch die Erfahrung ist über-
flüssig, es wäre denn, dafs man noch an der Richtigkeit des
ganzen Systems zweifelte. Der Kraftbegriff als solcher kann
also in diesem System keine logischen Schwierigkeiten mehr
bereiten ; auch für die Beurteilung der Richtigkeit des Systems
kann er nicht in Frage kommen, nur auf die gröfsere oder
kleinere Zweckmäfsigkeit desselben kann er Einflufs haben.
20 EmUüung,
In der angedeuteten Weise also hätten wir etwa die
Prinzipien der Mechanik zu ordnen, um sie der Anschauungs-
weise der Energielehre anzupassen. Es fragt sich nun aber,
ob das entstandene zweite Bild Tor dem erstbetrachteten etwas
voraus habe, und wir wollen deshalb seine Vorzüge und Nach-
teile näher ins Auge fassen.
Diesmal liegt es in unserem Interesse, dafs wir uns zu-
erst an die Zweckmäfsigkeit halten, weil in Bezug auf diese
ein Fortschritt am unzweifelhaftesten hervortritt. Denn unser
zweites Bild der natürlichen Bewegungen ist zunächst ent-
schieden deutlicher; es giebt mehr Eigentümlichkeiten derselben
wieder als das erste. Wenn wir das HAKiLTON'sche Prinzip
aus den allgemeinen Grundlagen der Mechanik ableiten wollen,
müssen wir den letzteren gewisse Voraussetzungen über die
wirkenden Kräfte und über die Beschaffenheit etwaiger fester
Verbindungen hinzufugen. Diese Voraussetzimgen sind höchst
allgemeiner Art, aber sie bedeuten darum doch ebenso viele
wichtige Einschränkungen der durch das Prinzip dargestellten
Bewegungen, und umgekehrt lassen sich daher auch aus dem
Prinzip eine ganze Beihe von Beziehungen, insbesondere von
Wechselbeziehungen zwischen jeder Art von möglichen Kräften
ableiten, welche in den Prinzipien des ersten Bildes fehlen,
welche aber in dem zweiten Bilde, und gleichzeitig, worauf es
ankommt, in der Natur sich finden. Der Nachweis, dafs dem
so sei, bildet den eigentlichen Inhalt und das Ziel der Arbeiten,
welche von Helmholtz unter dem Titel: „Über die physi-
kalische Bedeutung des Prinzips der kleinsten Wirkung** ver-
öffentlicht hat. Wir treffen aber die Sachlage wohl genauer,
wenn wir sagen, die Thatsache selbst, welche bewiesen werden
soll, bilde die Entdeckung, welche in jener Arbeit mitgeteilt
und dargelegt wird. Denn einer Entdeckung bedurfl;e in der
That die Erkenntnis, dafs aus so allgemeinen Voraussetzungen
sich so besondere, wichtige und zutreffende Folgerungen
ziehen lassen. Auf jene Abhandlung können wir uns daher
auch berufen zur Erhärtung unserer Behauptung im einzelnen,
und insofern jene Abhandlung zur Zeit den äufsersten Fort-
schritt der Physik bezeichnet, können wir uns der Frage über-
hoben halten, ob ein noch engerer Anschluis an die Natur
Einleitung. 21
erreichbar sei, etwa durch Einschränkung der für die poten-
tielle Energie zulässigen Formen. Lieber wollen wir betonen,
dafs unser jetziges Bild auch in Hinsicht der Einfachheit die
Klippen vermeidet, an welchen die Zweckmäfsigkeit unseres
ersten Bildes sich gefährdet fand. Denn fragen wir nach dem
eigentlichen Grunde, aus welchem die Physik es heutzutage
liebt, ihre Betrachtungen in der Ausdrucksweise der Energie-
lehre zu halten, so dürfen wir antworten : weil sie es auf diese
Weise am besten vermeidet, von Dingen zu reden, von welchen
sie sehr wenig weifs xmd welche auf die wesentlich beabsich-
tigten Aussagen auch keinen Einflufs haben. Wir bemerkten
schon gelegentlich, dafs die Rückführung der Erscheinungen
auf die Kraft uns zwingt, unsere Überlegung beständig an die
Betrachtung der einzelnen Atome und Moleküle anzuknüpfen.
Nun sind wir ja allerdings gegenwärtig überzeugt davon, dafs
die wägbare Materie aus Atomen besteht; auch haben wir von
der Gröfse dieser Atome und ihren Bewegungen in gewissen
Fällen einigermafsen bestimmte Vorstellungen. Aber die Ge-
stalt der Atome, ihr Zusammenhang, ihre Bewegungen in den
meisten Fällen, alles dies ist uns gänzlich verborgen; ihre
Zahl ist in allen Fällen unübersehbar grofs. Unsere Vor-
stellung von den Atomen ist daher selbst ein wichtiges und
interessantes Ziel weiterer Forschung, keineswegs aber ist sie
besonders geeignet, als bekannte und gesicherte Grundlage
mathematischer Theorieen zu dienen. Einen so streng den-
kenden Forscher, wie es Gustav Kibchhoff war, berührte
es daher fast peinlich, die Atome und ihre Schwingungen ohne
zwingende Notwendigkeit in den Mittelpunkt einer theoretischen
Ableitung gestellt zu sehen. Die willkürlich angenommenen
Eigenschaften der Atome mögen ohne Einflufs auf das End-
resultat sein, das letztere mag richtig sein. Gleichwohl sind
die Einzelheiten der Ableitung selbst zum grofsen Teile mut-
mafslich falsch, die Ableitung ist ein Scheinbeweis. Die ältere
Denkweise der Physik läfst hier kaum eine Wahl, einen Aus-
weg zu. Dagegen bietet die Auffassung der Energielehre und
damit unser zweites Bild der Mechanik den Vorteil, dafs in
die Voraussetzungen der Probleme nur die der Erfahrung un-
mittelbar zugänglichen Merkmale, Parameter, oder willkürlichen
Koordinaten der betrachteten Körper eintreten; dafs die Be-
22 Einleitung.
trachtungen mit Hülfe dieser Merkmale in endlicher und ge-
schlossener Form fortschreiten und dafs auch das Endresultat
unmittelbar wieder in greifbare Erfahrung kann übersetzt
werden. Aufser der Energie selbst in ihren wenigen Formen
treten keine Hilfskonstruktionen in die Betrachtung ein. Unsere
Aussagen können sich auf die bekannten Eigentümlichkeiten
der betrachteten Körpersysteme beschränken, ohne dafs wir
unsere Unkenntnis der Einzelheiten durch willkürliche und ein-
flufslose Hypothesen verdecken müfsten. Nicht nur das End-
resultat, sondern auch alle Schritte der Ableitung desselben
können als richtig und sinnvoll vertreten werden. Dies sind die
Vorzüge, welche diese Methode der heutigen Physik lieb gemacht
haben, welche also auch unserem zweiten Bilde der Mechanik
eigen sind, und welche wir in unserer Bezeichnungsweise als Vor-
züge der Einfachheit, also der Zweckmäfsigkeit aufzufassen haben.
Leider werden wir wieder unsicherer über den Wert
unseres Systems, wenn wir seine Eichtigkeit und seine logische
Zulässigkeit prüfen. Schon die Frage nach der Richtigkeit
giebt zu gerechtfertigten Zweifeln Anlafs. Keineswegs dürfen
wir der Übereinstimmung mit der Natur schon deshalb sicher
sein, weil sich das Hamilton^ sehe Prinzip ja auch aus den
zugegebenen Grundlagen der Newton' sehen Mechanik ableiten
läfst. Wir haben zu bedenken, dafs diese Ableitung nur dann
stattfindet, wenn gewisse Voraussetzungen zutreffen, und dafs
anderseits unser System nicht nur den Anspruch macht,
einige Bewegungen der Natur richtig zu beschreiben, sondern
dafs es behauptet, alle Bewegungen der Natur zu umfassen.
Wir haben also zu untersuchen, ob auch wirklich neben den
Newton' sehen Gesetzen jene besondem Voraussetzungen All-
gemeingültigkeit haben, und ein einziges Beispiel der Natur,
welches widerspräche, würde die Richtigkeit des Systems als
solches umwerfen, wenn es auch die Gültigkeit des Hamilton-
schen Prinzips als allgemeinen Lehrsatzes nicht im mindesten
erschütterte. Hier entsteht nun das Bedenken nicht sowohl
ob unser Bild die gesamte Mannigfaltigkeit der Kräfte, sondern
ob es auch wirklich die gesamte Mannigfaltigkeit der starren
Verbindungen enthielte, welche zwischen den Körpern der
Natur auftreten können. Die Anwendung des Hamilton 'sehen
MrUeitimg. 23
Prinzips auf ein materielles System scUiesst nicht aus, dafs
zwischen den gewählten Koordinaten desselben feste Zusammen-
hänge bestehen, aber es yerlangt immerhin, dafs diese Zu-
sammenhänge sich mathematisch ausdrücken lassen durch
endliche Gleichungen zydschen den Koordinaten; es gestattet
nicht das Auftreten solcher Zusammenhänge, welche mathe-
matisch nur durch Differentialgleichungen wiedergegeben werden
können. Die Natur selbst aber scheint Zusammenhänge der
letzteren Art nicht einfach auszuschliessen. Denn dieselben
treten zum Beispiel auf, sobald dreidimensionale Körper mit
ihren Oberflächen ohne Gleitung auf einander rollen. Durch
diese Verbindung, welche wir in unserer Umgebung oft vor-
finden, ist die Lage beider Körper zu einander nur insofern
beschränkt, als sie stets einen Punkt der Oberfläche gemein
haben müssen; die Bewegungsfreiheit der Körper aber ist noch
um einen Grad weiter beschränkt. Es lassen sich also aus
der Verbindung mehr Gleichungen zwischen den Änderungen
der Koordinaten herleiten als zwischen den Koordinaten selbst,
unter jenen muss daher mindestens eine sein, welche mathe-
matisch als eine nicht integrabele Differentialgleichung zu
bezeichnen ist. Auf derartige Fälle nun gestattet das Hamil-
ton 'sehe Prinzip keine Anwendung mehr, oder genau ge-
sprochen: Die mathematisch mögliche Anwendung des Prinzips
fuhrt zu physikalisch falschen Besultaten. Man beschränke
die Betrachtung auf den einfachen Fall einer Kugel, welche
allein ihrer Trägheit folgend auf einer festen horizontalen
Ebene ohne Gleitung rollt; man kann hier ganz wohl durch
blofse Betrachtung ohne Rechnung sowohl die Bewegungen
übersehen, welche die Kugel wirklich ausführen kann, als auch
die Bewegimgen, welche dem Hamilton 'sehen Prinzip ent-
sprechen würden und welche so ausfallen müfsten, dafs die
Kugel bei konstanter lebendiger Kraft gegebene Ziele in kür-
zester Zeit erreicht. Man kann sich daher auch ohne Rechnung
überzeugen, dafs beide Arten von Bewegungen sehr verschiedene
Eigentümlichkeiten aufweisen. Wählen wir Anfangs- und
Endlage der Kugel beliebig aus, so giebt es doch offenbar
stets einen bestimmten Übergang aus einer zur andern, auf
welchem die Zeit des Übergangs, also das Hamilton' sehe
Integral ein Minimum wird. In Wahrheit ist aber gar nicht
24 Einleitung.
aus jeder Lage in jede andere ohne die Mitwirkung von Kräften
ein natürKcher Übergang möglich, wenn auch die Wahl der
Anfangsgeschwindigkeit ToUkommen frei steht. Aber selbst
dann, wenn wir Anfangs- und Endlage so wählen, dafs eine
natürliche freie Bewegung zwischen beiden möglich ist, so ist
dies gleichwohl nicht diejenige, welche dem Minimum der Zeit
entspricht. Bei gewissen Anfangs- und Endlagen kann der
Unterschied sehr auffallend sein. In diesem Falle würde eine
Kugel, welche dem Prinzip gemäfs sich bewegte, entschieden
den Schein eines belebten Wesens annehmen, welches ziel-
bewufst einer bestimmten Lage zusteuert, während neben ihr
die Kugel, welche dem Gesetze der Natur folgt, den Eindruck
einer toten, gleichförmig dahinkreiselnden Masse hervorrufen
würde. Es würde nichts helfen, wollten wir an Stelle des
Hamilton 'sehen Prinzips das Prinzip der kleinsten Wirkungen
oder ein anderes Integralprinzip in den Vordergrund rücken,
da alle diese Prinzipien nur einen geringen Unterschied der
Bedeutung aufweisen und sich in der hier betrachteten Hin-
sieht ganz gleich verhalten. Übrigens ist der Weg vorgezeichnet,
auf welchem allein wir das System verteidigen und gegen den
Vorwurf der Unrichtigkeit in Schutz nehmen können. Wir
haben zu leugnen, dafs starre Verbindungen der angefahrten
Art mit Strenge in der Natur wirkKch vorkommen. Wir
haben auszuführen, dafs jedes sogenannte ßoUen ohne Gleitung
in Wahrheit ein Rollen mit geringer Gleitung, also ein Vor-
gang der Reibung sei. Wir haben uns darauf zu berufen, dafs
ganz allgemein die Vorgänge in reibenden Flächen zu den-
jenigen gehören, welche noch nicht auf klar verstandene Ur-
sachen zurückgeführt werden können, sondern für welche nur
gerade empirisch die erzeugten Bj:äfte ermittelt sind; daher
gehöre das ganze Problem zu denjenigen, zu deren Behandlung
zur Zeit die Benützung der Kräfte und damit der Umweg
über die gewöhnlichen Methoden der Mechanik noch nicht
vermieden werden könne, überzeugend wirkt freilich diese
Verteidigung nicht. Denn ein Rollen ohne Gleiten widerspricht
weder dem Energieprinzipe noch einem anderen allgemein an-
erkannten Grundsatze der Physik; der Vorgang ist in der
sichtbaren Welt mit so grofser Annäherung verwirklicht, dafs
man sogar Integrationsmaschinen auf die Voraussetzung seines
Mfüeitung, 25
genauen Eintretens gegründet hat; wir haben daher kaum ein
Becht, sein Vorkommen als unmöglich auszuschliefsen, am
wenigsten aus der Mechanik noch unbekannter Systeme, wie
es die Atome oder die Teile des Äthers sind. Aber selbst
wenn wir zugeben, dass die fraglichen Verbindungen in der
Natur nur angenähert verwirklicht sind, selbst dann bereitet
uns das Versagen des Hamilton 'sehen Prinzips in diesen
Fällen Schwierigkeiten. Von jedem G-rundgesetze unseres
mechanischen Systems werden wir verlangen müssen, dafs es
angewandt auf angenähert richtige Verhältnisse immer noch
angenähert richtige Resultate gebe, nicht aber gänzlich falsche.
Denn da schliesslich alle starren Zusammenhänge, welche wir
der Natur entnehmen und in die Bechnung einführen, den
wirklichen Verhältnissen nur angenähert entsprechen, so ge-
raten wir sonst in gänzliche Unsicherheit, auf welche unter
ihnen wir das Gesetz überhaupt noch anwenden dürfen, auf
welche nicht mehr. Doch wollen wir die vorgetragene Ver-
teidigung auch nicht gänzlich verwerfen; wir wollen entgegen-
kommend zugeben, dafs die aufgeworfenen Zweifel nur die
Zweckmäfsigkeit des Systems, nicht aber seine Richtigkeit
betreflfen, so dafs die aus ihnen entspringenden Nachteile durch
andere Vorteile aufgewogen werden können.
Die wahren Schwierigkeiten erwarten uns nun aber erst,
sobald wir versuchen, die Grundlagen des Systems so zu
ordnen, dafs den Anforderungen der logischen Zulässigkeit mit
aller Strenge genügt werde. Wir dürfen bei der Einführung
der Energie nicht dem gewöhnlichen Wege folgend von den
Kräften ausgehen, von diesen zur Kräftefunktion, zur poten-
tiellen Energie, zur Energie überhaupt fortschreiten. Eine
solche Anordnung würde der ersten Darstellung der Mechanik
angehören. Vielmehr haben wir, ohne eigentlich mechanische
Entwickelungen schon vorauszusetzen, diejenigen einfachen
unmittelbaren Erfahrungen anzugeben, durch welche wir all-
gemein das Vorhandensein eines Vorrats von Energie und
die Bestimmung seiner Menge definiert wissen wollen. Wir
haben oben nur angenommen, nicht aber bewiesen, dafs eine
solche Bestimmung möglich sei. Mehrere ausgezeichnete
Physiker versuchen heutzutage, der Energie so sehr die Eigen-
26
Schäften der Substanz zu leihen, daCs sie annehmen, jede
kleinste Menge derselben sei zn jeder Zeit an einen bestimmten
Ort des Banmes geknüpft und bewahre bei allem Wechsel
desselben und bei aller Verwandlnng der Energie in neue
Formen dennoch ihre Identität. Diese Physiker müssen
notwendig die Dberzengong vertreten, dafs sich Definitionen
der verlangten Art wirklich geben lassen, und es war daher
wohl erlaubt, die Möglichkeit derselben anzunehmen. Sollen
wir selbst aber eine konkrete Form dafor aufweisen, welche
uns genügt und welche allgemeiner Zustimmung sicher ist, so
geraten wir in Verlegenheit; zu einem befriedigenden und
abschliefsenden Ergebnis scheint diese ganze Anschauungs-
weise noch nicht gelangt. E^e besondere Schwierigkeit mufs
auch von vornherein der Umstand bereiten, dafs die angeblich
substanzartige Energie in zwei so gänzlich verschiedenen
Formen auftritt, wie es die kinetische und die potentielle
Form sind. Die kinetische Energie bedarf im Grunde an
sich keiner neuen Gmndbestimmung, da sie aus den Begriffen
der Geschwindigkeit und der Masse abgeleitet werden kann;
die potentielle Energie hingegen, welche eine selbständige
Feststellung fordert, widerstrebt zugleich jeder Definition,
welche ihr die Eigenschaften einer Substanz beilegt. Die
Menge einer Substanz ist eine notwendig positive Grösse; die
in einem System enthaltene potentielle Energie scheuen wir
uns nicht, als negativ anzunehmen. Bedeutet ein analytischer
Ausdruck die Menge einer Substanz, so hat eine additive
Eonstante in dem Ausdruck dieselbe Wichtigkeit wie der Best;
in dem Ausdruck für die potentielle Energie eines Systems
hat eine additive Konstante niemals eine Bedeutung. Endlich
kann der Inhalt eines physikalischen Systems an einer Sub-
stanz nur abhängen von dem Zustande des Systems selbst,
der Inhalt gegebener Materie an potentieller Energie aber
hängt ab von dem Vorhandensein entfernter Massen, welche
vielleicht niemals Einfiufs auf das System hatten. Ist das
Weltall und damit die Menge jener entfernten Massen unendlich,
so wird der Inhalt auch endlicher Mengen von Materie an
vielen Formen potentieller Energie unendlich gross. Dies
sind alles Schwierigkeiten, welche durch die gesuchte Definition
der Energie beseitigt oder umgangen werden müfsten. Obwohl
Einleitung, 27
wir nun auch nicht behaupten wollen, dafs eine solche Umgehung
unmöglich sei, so können wir sie doch gegenwäiüg noch nicht als
geleistet ansehen, und es wird am vorsichtigsten sein, wenn wir
es einstweilen noch als eine offene Frage betrachten, ob sich das
System überhaupt in logisch einwurfsfreier Form entwickeln läfst.
Es ist vielleicht der Mühe wert, an dieser Stelle auch
die Frage zu erörtern, ob ein anderer Einwurf gerechtfertigt
sei, den man vielleicht gegen die Zulässigkeit des hier be-
trachteten Systems richten könnte. Soll ein Bild gewisser
äufserer Dinge in unserem Sinne zulässig sein, so müssen die
Züge desselben nicht allein unter sich in Einklang stehen,
sondern sie dürfen auch nicht den Zügen anderer in unserer
Erkenntnis schon feststehender Bilder widersprechen. Darauf-
hin könnte man nun behaupten: Es sei nicht denkbar, dafs
das Hamilton 'sehe Prinzip oder ein Satz von verwandten
Eigenschaften in Wahrheit ein Grundgesetz der Mechanik und
damit ein Grundgesetz der Natur vorstelle, denn von einem
Grundgesetze sei von vornherein Einfachheit und Schlichtheit
zu erwarten, das HAMiLTGN'sche Prinzip aber stelle, wenn
man es analysiere, eine äufserst verwickelte Aussage dar.
Nicht allein mache es die gegenwärtige Bewegung abhängig
von Folgen, welche erst in der Zukunft hervortreten können
und mute dadurch der leblosen Natur Absichten zu, sondern,
was schlimmer sei, es mute der Natur sinnlose Absichten zu.
Denn das Integral, dessen Minimum das Hamilton 'sehe Prinzip
fordert, habe keine einfache physikalische Bedeutung; es sei
aber für die Natur ein unverständliches Ziel, einen mathe-
matischen Ausdruck zum Minimum zu machen oder seine
Variation zum Verschwinden zu bringen. Die gewöhnliche
Antwort, welche die heutige Physik auf derartige Angriffe
bereit hält, ist diese, dafs die Voraussetzungen, von welchen
die Betrachtungen ausgehen, metaphysischen Ursprungs seien,
dafs aber die Physik darauf verzichtet habe und es nicht mehr
als Pflicht anerkenne^ den Ansprüchen der Metaphysik gerecht
zu werden. Sie lege kein Gewicht mehr auf die Gründe,
welche von metaphysischer Seite einst zu Gunsten der Prin-
zipien vorgebracht seien, welche einen Zweck in der Natur
andeuten; ebensowenig aber könne sie jetzt Einwänden meta-
28 EMeäung.
physischen Charakters gegen ebendieselben Prinzipien ihr Ohr
leihen. Wenn wir bei solchem Bechten zu entscheiden hätten,
so würden wir nicht unbillig denken, wenn wir uns mehr anf
Seiten des Angreifers, als des Verteidigers stellten. Kein Be-
denken, welches überhaupt Eündrack anf nnsem Gkist macht,
kann dadurch erledigt werden, da(s es als metaphysisch be-
zeichnet wird; jeder denkende Greist hat als solcher Bedürf-
nisse, welche der Naturforscher metaphysische zu nennen ge-
wohnt ist. Überdies läCst sich in dem TorUegenden Falle, wie
wohl in allen ähnlichen, die gesunde und bereditigte Quelle
unseres Bedürfiiisses ganz wohl aufweisen. Freilich können
wir Yon der Natur nicht a priori EinfBM^hheit fordern, noch
auch urteilen, was in ihrem Sinne einfeush sei. Aber den Bil-
dern, welche wir uns von ihr machen, können wir als unsem
eigenen Schöpfungen Vorschriften machen. Wir urteilen nun
mit Becht, da(s, wenn unsere Bilder den Dingen gut angepafst
sind, da(s dann die wirklichen Beziehungen der Dinge durch
einJBkche Beziehungen zwischen den Bildern müssen wieder-
gegeben werden. Wenn aber die wirklichen Beziehungen
zwischen den Dingen nur durch rerwickelte, ja dem unvor-
bereiteten Geiste sogar unTcrständliche Beziehungen zwischen
den Bildern sich wiedei^ben lassen, so urteilen wir, dafs
diese Bilder den Dingen nur ungenügend angepa&t sind, unsere
Forderung der Ein£8u;hheit geht also nicht an die Natur, son-
dern an die Bilder, welche wir uns von ihr machen, und unser
Widerspruch gegen eine yerwickelte Aussage als Grundgesetz
drückt nur die Überzeugung aus, dals, wenn der Inhalt der
Aussage richtig und umfsLSsend sei, er sich durch zweck-
mälsigere Wahl der GrundTorstellungen auch in einfEM^herer
Form müsse aussprechen lassen. Eine andere AuDserung der-
selben Überzeugung ist der in uns erwachende Wunsch, yon dem
äufeeren Verständnisse einesderartigenGesetzes zu seinem tieferen
und eigentlichen Sinn Yorzudringen, Yon dessen Vorhandensein
wir überzeugt sind. Ist diese AufiGeissung richtig, so bildet in
der That der vorgebrachte Einwurf ein berechtigtes Bedenken
gegen das System, aber er trifft dann nicht sowohl seine Zulässig-
keit, als vielmehr seine ZweckmäCdgkeit und er käme bei der
Beurteilung der letzteren in Betracht. Es ist indessen nicht
nötig, deshalb nochmals zur Besprechung jener zurückzukehren.
MfUeitung. 29
Überblicken wir noch einmal dasjenige, was wir über die
Vorzüge des zweiten Bildes vorzubringen hatten, so können
wir von der Gesamtheit desselben nicht allzu befriedigt sein.
Obgleich die ganze Richtung der neueren Physik uns anlockt,
den Begriff der Energie in den Vordergrund zu stellen und
ihn auch in der Mechanik als Grund- und Eckstein unseres
Aufbaues zu benutzen, so bleibt es doch mehr als zweifelhaft,
ob wir bei diesem Vorgehen die Härten und Bauhigkeiten
vermeiden können, welche uns in dem ersten Bilde der Mechanik
anstöfsig waren. In der That habe ich auch diesem zweiten
Wege der Darstellung nicht deshalb eine längere Besprechung
gewidmet, um zur Beschreitung desselben zu ermutigen, son-
dern vielmehr um anzudeuten, aus welchen Gründen ich selbst
ihn aufgegeben habe, nachdem ich zuerst ihn zu verfolgen
versucht hatte.
3.
Eine dritte Anordnung der Prinzipien der Mechanik ist
diejenige, welche in dem Hauptteil des Buches ausführlich
dargelegt werden soll, deren Hauptzüge wir aber schon hier
in der Einleitung vorführen wollen, um sie in demselben Sinne
einer Kritik zu unterwerfen, wie es mit den beiden ersten
geschehen ist. Von jenen unterscheidet sie sich wesentlich
dadurch, dafs sie von nur drei unabhängigen Grundvor-
stellungen ausgeht; denen der Zeit, des Baumes und der
Masse. Sie betrachtet daher als ihre Aufgabe, die natürlichen
Beziehungen zwischen diesen dreien und allein zwischen diesen
dreien darzustellen. Ein vierter Begriff, wie der Begriff der
Kraft oder der Energie, an welchen sich vorhin die Schwierig-
keiten knüpften, ist als selbständige Grundvorstellung beseitigt.
Die Bemerkung, dafs drei von einander unabhängige Vor-
stellungen nötig, aber auch hinreichend seien zur Entwicklung
30 Einleitung.
der Mechanik, hat schon G. Eibghhoff seinem Lehrbuche der
Mechanik yorangestellt. Ganz ohne Ersatz kann freilich die
so in den Grandvorstellungen ausfallende Mannig<igkeit nicht
bleiben. In unserer Darstellung suchen wir die entstehende
Lücke auszufüllen durch Benützung einer Hypothese, welche
hier nicht zum ersten Male aufgestellt wird, welche man aber
nicht in die Elemente der Mechanik selbst einzufuhren gewohnt
ist, und deren Wesen wir etwa in der folgenden Weise
erläutern können.
Versuchen wir die Bewegungen der uns umgebenden
Körper zu verstehen und auf einfache und durchsichtige
Eegehi zurückzuführen, indem wir aber nur dasjenige berück-
sichtigen, was wir unmittelbar vor Augen haben, so schlagt
unser Versuch im allgemeinen fehl. Wir werden bald gewahr,
dafs die Gesamtheit dessen, was wir sehen und greifen können
noch keine gesetzmäfsige Welt bildet, in welcher gleiche Zu-
stände stets gleiche Folgen haben. Wir überzeugen uns, dafs
die Mannigfaltigkeit der wirklichen Welt gröfser sein mufs
als die Mannigfaltigkeit der Welt, welche sich unseren Sinnen
unmittelbar offenbart. Wollen wir ein abgerundetes, in sich
geschlossenes, gesetzmäfsiges Weltbild erhalten, so müssen wir
hinter den Dingen, welche wir sehen, noch andere, unsichtbare
Dinge vermuten, hinter den Schranken unserer Sinne noch
heimliche Mitspieler suchen. Diese tieferliegenden Einflüsse
erkannten wir in den ersten beiden Darstellungen an und wir
dachten sie uns als Wesen einer eigenen und besonderen Art,
deshalb schufen wir zu ihrer Wiedergabe in unserem Bilde
die Begriffe der Kraft und der Energie. Es steht uns aber
noch ein anderer Weg offen. Wir können zugeben, dafs ein
verborgenes Etwas mitwirke und doch leugnen, dafs dieses
Etwas einer besonderen Kategorie angehöre. Es steht uns
frei anzunehmen, dafs auch das Verborgene nichts anderes sei
als wiederum Bewegung und Masse, und zwar solche Bewegung
und Masse, welche sich von der sichtbaren nicht an sich
unterscheidet, sondern nur in Beziehung auf uns und auf
unsere gewöhnlichen Mittel der Wahrnehmung. Diese Auf-
fassungsweise ist nun eben unsere Hypothese. Wir nehmen
also an, dafs es möglich sei, den sichtbaren Massen des
Einleitung. 81
Weltalls andere denselben Gesetzen gehorchende Massen hinzu-
zudichten von solcher Art, dafs dadurch das Ganze Gesetz-
mäfsigkeit und Verständlichkeit gewinnt, und zwar nehmen
wir an, dafs dies ganz allgemein und in allen Fällen möglich
sei, und dafs es daher andere Ursachen der Erscheinungen
auch gar nicht gebe, als die hierdurch zugelassenen. Was
wir gewohnt sind als Kraft und als Energie zu bezeichnen ist
dann fiir uns nichts weiter als eine Wirkung von Masse und
Bewegung, nur braucht es nicht immer die Wirkung grob-
sinnlich nachweisbarer Masse und grobsüanlich nachweisbarer
Bewegung zu sein. Eine derartige Erklärung einer Kraft aus
Bewegungsvorgängen pflegt man eine dynamische zu nennen,
und man kann wohl sagen, dafs die Physik gegenwärtig der-
artigen Erklärungen in hohem Grade hold ist. Die Kräfte
der Wärme hat man mit Sicherheit auf die verborgenen Be-
wegungen greifbarer Massen zurückgeführt. Durch Maxwell's
Verdienst ist die Vermutung fast zur Überzeugung geworden,
dafs wir in den elektrodynamischen Kräften die Wirkung der
Bewegung verborgener Massen vor uns haben. Lord Kelvin
rückt die Möglichkeit dynamischer Erklärungen der Kräfte
mit Vorliebe in den Vordergrund seiner Betrachtungen; in
seiner Theorie von der Wirbelnatur der Atome hat er ein
dieser Anschauung entsprechendes Bild des Weltganzen zu
geben versucht, von Helmholtz hat in der Untersuchung
über die cyklischen Systeme die wichtigste Form der verbor-
genen Bewegung ausführlich und zum Zwecke allgemeiner An-
wendung behandelt; durch ihn ist den Ausdrücken „verborgene"
Masse, „verborgene" Bewegung die Geltung technischer Aus-
drücke im Deutschen verliehen. Hat aber jene Hypothese die
Fähigkeit, die geheimnisvollen Kräfte allmählich aus der Mechanik
wieder zu eliminieren, so kann sie auch verhindern, dafs die-
selben überhaupt in die Mechanik eintreten. Und entspricht
die Verwertung der Hypothese zu ersterem Zwecke der Denk-
weise der heutigen Physik, so mufs das Gleiche von ihrer
Benutzung zu letzterem Zwecke gelten. Dies ist der leitende
Gedanke, von welchem wir ausgehen und durch dessen Ver-
folgung dasjenige Bild entsteht, welches wir als das dritte
bezeichneten, und dessen allgemeine Umrisse wir nun um-
&hren wollen.
32 Einleitung.
Zuerst führen wir also ein die drei unabhängigen Grund-
begriffe Zeit, Baum und Masse als Gegenstände der Erfahrung,
indem wir angeben, durch welche konkreten sinnlichen Erfah-
rungen wir uns Zeiten, Massen, räumliche Gröfsen bestimmt
denken wollen. Was die Massen anbelangt, so behalten wir
uns vor, neben den sinnlich wahrnehmbaren Massen durch
Hypothese verborgene Massen einzuführen. Wir stellen sodann
die Beziehungen zusammen, welche zwischen jenen konkreten
Erfahrungen stets obwalten und welche wir als die wesent-
lichen Beziehungen zwischen den Grundbegriffen festzuhalten
haben. Es ist naturgemäfs, dafs wir die Grundbegriffe zu-
nächst zu je zweien verbinden. Die Beziehungen, welche
Raum und Zeit allein betreffen, können wir als Kinematik
voraussenden. Zwischen Masse und Zeit allein besteht keine
Verknüpfung. Masse und Baum dagegen treten wieder zu-
sammen zu einer Beihe wichtiger erfahrungsmäfsiger Bezie-
hungen. Wir finden nämlich zwischen den Massen der Natur
gewisse rein räumliche Zusammenhänge, welche darin bestehen,
dafs von Anbeginn an für alle Zeiten, und also unabhängig
von der Zeit, jenen Massen gewisse Lagen und gewisse Ände-
rungen der Lage als mögliche, alle anderen aber als unmögliche
vorgeschrieben und zugeordnet sind. Wir können über diese
Zusammenhänge femer allgemein aussagen, dafs sie nur die
relative Lage der Massen unter einander betreffen und weiter-
gehend, dafs sie gewissen Bedingungen der Stetigkeit genügen,
welche ihren mathematischen Ausdruck darin finden, dafs sich
die Zusammenhänge selbst stets durch homogene lineare Glei-
chungen zwischen den ersten Differentialen derjenigen Gröfsen
wiedergeben lassen, durch welche wir die Lage der Massen
bezeichnet haben. Die Zusammenhänge bestimmter materieller
Systeme im einzelnen zu erforschen ist nicht Sache der
Mechanik, sondern der experimentellen Physik; die bezeich-
nenden Merkmale, durch welche sich die verschiedenen mate-
riellen Systeme der Natur unterscheiden, sind nach unserer
Vorstellung eben einzig und allein die Zusammenhänge ihrer
Massen. In den bisherigen Erörterungen haben wir nur je
zwei der Grundbegriffe für sich verbunden, nunmehr wenden
wir uns der eigentlichen Mechanik im engeren Sinne zu, in
welcher alle drei zusammenzutreten haben. Es gelingt uns
Mnleitimg, 33
ihre erfahrungsmäfsige allgemeine Verknüpfung zusammen-
zufassen in ein einziges Grundgesetz , welches eine sehr nahe
Analogie mit dem gewöhnlichen Trägheitsgesetz zieht. In der
That läfst es sich in der Ausdrucksweise, welche wir benutzen,
wiedergeben in der Aussage: jede natürliche Bewegung eines
selbständigen materiellen Systems bestehe darin, dafs das
System mit gleichbleibender Geschwindigkeit eine seiner ge-
radesten Bahnen verfolge. Diese Aussage ist allerdings nur
verständlich, nachdem die benutzte mathematische Bedeweise
gehörig erörtert ist; der Sinn des Satzes aber läfst sich auch
in der gewöhnlichen Sprache der Mechanik wiedergeben. Jener
Satz fafst nämlich einfach das gewöhnliche Trägheitsgesetz
und das GAUSs'sche Prinzip des kleinsten Zwanges in eine
einzige Behauptung zusammen. Er sagt also aus, dafs, wenn
die Zusammenhänge des Systems einen Augenblick gelöst
werden könnten, dafs sich dann seine Massen in geradliniger
und gleichförmiger Bewegung zerstreuen würden, dafs aber,
da solche Auflösung nicht möglich ist, sie jener angestrebten
Bewegung wenigstens so nahe bleiben als möglich. Wie jenes
Grundgesetz in unserem Bilde der erste Erfahrungssatz der
eigentlichen Mechanik ist, so ist er auch der letzte. Aus ihm
zusammen mit der zugelassenen Hypothese verborgener Massen
und gesetzmäfsiger Zusammenhänge leiten wir den übrigen
Inhalt der Mechanik rein deduktiv ab. Um ihn gruppieren
wir die übrigen allgemeinen Prinzipien nach ihrer Verwandt-
schaft zu ihm und untereinander, als Folgerungen oder als
Teilaussagen. Wir bemühen uns zu zeigen, dafs bei dieser
Anordnung der Inhalt unserer Wissenschaft nicht weniger reich
und mannigfaltig ausfällt, als der Inhalt einer Mechanik, welche
von vier Grundvorstellungen ausgeht, jedenfalls nicht weniger
reich und mannigfaltig als es die Darstellung der Natur ver-
langt. Übrigens erweist es sich auch hier bald als zweck-
mäfsig, den Begriff der Krafb einzuführen. Aber die Straft
tritt nun nicht auf als etwas von uns unabhängiges und uns
fremdes, sondern als eine mathematische Hilfskonstruktion,
deren Eigenschaften wir völlig in unserer Gewalt haben, und
welche also auch für uns nichts Bätselhaftes an sich haben
kann. Nach dem Grundgesetze mufs nämlich überall da, wo
zwei Körper demselben System angehören, die Bewegung des
Herts, Mechanik. 3
34 Einleitung.
einen durch die Bewegung des anderen mitbestimmt sein. Der
Begriflf der Kraft entsteht nun dadurch, dafs wir es aus an-
gebbaren Gründen zweckmäfsig finden, diese Bestimmung
der einen Bewegung durch die andere in zwei Stadien zu zer-
legen und uns zu sagen: die Bewegung des ersten Körpers
bestimme zunächst eine Ej*aft, diese Kraft erst bestimme die
Bewegung des zweiten Körpers. Auf diese Weise wird jede
Kraft zwar stets Ursache einer Bewegung, mit gleichem Rechte
aber zugleich auch stets Folge einer Bewegung; sie wird, genau
gesprochen, das nur gedachte Mittelglied zwischen zwei Be-
wegungen. Es ist klar, dafs bei dieser Auffassung die allge-
meinen Eigenschaften der Kräfte mit Denknotwendigkeit aus
dem Grundgesetze folgen müssen und wenn wir in möglichen
Erfahrungen diese Eigenschaften bestätigt sehen, so kann uns
dies nicht einmal verwundem, wenn anders wir an unserm
Grundgesetz nicht zweifeln. Mit dem Begriffe der Energie und
mit allen anderen einzuführenden Hilfskonstruktionen liegt die
Sache ganz ebenso.
Was wir bisher gesagt haben, betraf den physikalischen
Inhalt des vorzuft^hrenden Bildes und erschöpfte denselben im
Bahmen dieser Einleitung; es wird zweckmäfsig sein, nun
auch eine kurze Erörterung der besonderen mathematischen
Form zu widmen, in welcher wir denselben wiedergeben wer-
den. Jener Inhalt ist von dieser Form ganz unabhängig und
es ist vielleicht nicht ganz klug gehandelt, dafs wir einen von
dem Herkömmlichen abweichenden Inhalt sogleich in einer
ungewohnten Form darbieten. Indessen weichen ja sowohl
Form als Inhalt ein jedes für sich nur sehr wenig von wohl-
bekannten Dingen ab, aufserdem passen eben dieser Inhalt und
diese Form so zu einander, dafs ihre Vorzüge sich gegenseitig
stützen. Das wesentliche Merkmal der benutzten Terminologie
besteht nun darin, dafs sie gleich von vornherein ganze
Systeme von Punkten vorstellt und in Betracht zieht, nicht
aber jedesmal von den einzelnen Punkten ausgeht. Einem
jeden sind die Ausdrücke „Lage eines Systems von Punkten"
und „Bewegung eines Systems von Punkten" geläufig. Es ist
eine nicht unnatürliche Fortsetzung dieser Redeweise, wenn
wir die Gesamtheit der bei der Bewegung durchlaufenen Lagen
Einleitung, 35
eines Systems als seine Bahn bezeichnen. Jeder kleinste Teil
dieser Bahn ist alsdann ein Bahnelement. Von zwei Bahn-
elementen kann das eine ein Teil des andern sein, sie unter-
scheiden sich alsdann noch nach der Gröfse und nur nach
dieser. Zwei Bahnelemente, welche von derselben Lage aus-
gehen, können aber auch verschiedenen Bahnen angehören,
alsdann ist keines von beiden ein Teil des anderen und sie
unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Gröfse; wir sagen
deshalb, dafs sie auch verschiedene Richtung haben. Durch diese
Aussagen sind freilich die Merkmale „Gröfse^' und „Bichtung^^
für die Bewegung eines Systems noch nicht eindeutig bestimmt;
wir können aber unsere Definition geometrisch oder analytisch
so vervollständigen, dafs ihre Folgen weder mit sich selbst
noch mit dem Gesagten in Widerspruch geraten und dafs
zugleich die definierten Gröfsen in der Geometrie des Systems
genau den Gröfsen entsprechen, welche wir in der Geometrie
des Punktes mit den gleichen Namen bezeichnen, mit welchen
bekannten Gröfsen sie auch stets zusammenfallen, sobald das
System sich auf einen Punkt reduziert. Sind aber einmal die
Merkmale Gröfse und Richtung bestimmt, so liegt es nahe
genug, die Bahn eines Systems gerade zu nennen, wenn alle
ihre Elemente die gleiche Richtung haben; und krumm, sobald
die Richtung der Elemente sich von Lage zu Lage ändert.
Als Mafs der Krümmung bietet sich wie in der Geometrie des
Punktes die Anderungsgeschwindigkeit der Richtung mit der
Lage von selber dar. Durch diese Definition sind nun aber
schon eine ganze Reihe von Beziehungen gegeben und die Zahl
derselben wächst, sobald die Bewegungs£reiheit des betrachteten
Systems' durch seine Zusammenhänge eingeschränkt ist. Ins-
besondere lenken alsdann gewisse Klassen von Bahnen die
Aufmerksamkeit auf sich, welche sich unter den möglichen
durch besondere einfache Eigenschaften auszeichnen. Hierher
gehören vor allen Dingen diejenigen Bahnen, welche in jeder
ihrer Lagen so wenig wie möglich gekrümmt sind und welche
wir als die geradesten Bahnen des Systems bezeichnen. Sie
sind es, von welchen in dem Grundgesetz die Rede ist und
welche wir schon oben bei Anführung desselben erwähnt haben.
Hierher gehören femer diejenigen Bahnen, welche die kürzeste
Verbindung zwischen irgend zweien ihrer Lagen bilden, und
36 Einleitung.
welche wir als kürzeste Bahnen des Systems bezeichnen,
unter gewissen Bedingungen faUen die Begriffe der geradesten
und der kürzesten Bahnen zusammen. Dies Verhältnis ist
uns durch Erinnerung an die Theorie der krummen Ober-
flächen sogar höchst geläufig, aber allgemein und unter allen
umständen hat es gleichwohl nicht statt. Die Sammlung tmd
Ordnung aller hier auftretenden Beziehungen gehört in die
Geometrie der Punktsysteme und die Entwickelimg dieser Geo-
metrie hat eigenen mathematischen Reiz; wir verfolgen dieselbe
aber nur soweit als es der augenblickliche Zweck der physi-
kalischen Anwendung erfordert. Da ein System von n Punkten
eine anfache Mannigfaltigkeit der Bewegung darbietet, welche
aber durch die Zusammenhänge des Systems auch auf jede
beliebige Zahl vermindert werden kann, so entstehen viele
Analogien mit der Geometrie eines mehrdimensionalen Baumes,
welche zum Teil so weit gehen, dafs dieselben Sätze und Be-
zeichnungen hier und dort Bedeutung haben können. Es ist
aber in unserem Interesse zu betonen, dafs diese Analogien
nur formale sind, und dafs trotz eines gelegentlich fremdartigen
Klanges sich unsere Betrachtung ausnahmslos auf konkrete Ge-
bilde des Baumes unserer Sinnenwelt beziehen, dafs also auch
alle unsere Aussagen mögliche Erfahrungen darstellen und
wenn es nötig wäre, durch unmittelbare Versuche, nämlich
durch Messung an Modellen bestätigt werden könnten. Den
Vorwurf, dafs wir beim Aufbau einer Erfahrungswissenschaft
die Welt der Erfahrung verlassen, diesen Vorwurf haben wir
also nicht zu fürchten. Dagegen haben wir Bede zu stehen
auf die Frage, ob sich denn die Weitläufigkeit einer neuen
und ungewohnten .Ausdrucksweise lohne, und welchen ent-
sprechenden Nutzen wir von der Anwendung derselben erwarten?
Als Antwort nennen wir darauf als ersten Nutzen die grofse
Einfachheit und Kürze^ mit welcher sich die meisten allgemeinen
und umfassenden Aussagen wiedergeben lassen. In der That
erfordern Sätze, welche ganze Systeme behandeln hier nicht
mehr Worte und nicht mehr Begriffe, als wenn sie unter
Benutzung der gewöhnlichen Ausdrucksweise in Bezug auf
einen einzelnen Punkt ausgesagt würden. Die Mechanik des
materiellen Systems erscheint hier nicht mehr als eine Er-
weiterung und Verwickelung der Mechanik des einzelnen Punktes,
Einleitung. 37
sondern die letztere fällt als selbständige Untersuchung fort
oder tritt doch nur gelegentlich als Vereinfachung und beson-
derer Fall der ersteren auf. Wendet man etwa ein, diese
Einfachheit sei künstlich erzeugt, so antworten wir, dafs es
gar keine andere Methode gebe, einfache Beziehungen zu
schaffen, als die künstliche und wohlerwogene Anpassung
unserer Begriffe an die darzustellenden Verhältnisse. Will man
aber in jenem Vorwurf des Künstlichen den Nebensinn des
Gesuchten und Unnatürlichen hervorheben, so dürfen wir dem
entgegenhalten, dafs man vielleicht mit mehr Becht die Be-
trachtung ganzer Systeme für das Natürliche und Naheliegende
halten könne, als die Betrachtung einzelner Punkte. Denn in
Wahrheit ist uns das materielle System unmittelbar gegeben,
der einzelne Massenpunkt eine Abstraktion; alle wirkliche Er-
fahrung wird unmittelbar nur an Systemen gewonnen und die
an einfachen Punkten möglichen Erfahrungen sind daraus durch
Verstandesschlüsse abgezogen. Als einen zweiten, allerdings
nicht sehr wesentlichen Nutzen heben wir die Vorzüge der
Form hervor, welche durch unsere mathematische Einkleidung
dem Grundgesetz gegeben werden kann. Ohne jene Einklei-
dung müfsten wir es zerlegen in das erste NEwroN'sche Ge-
setz und das GAUSs'sche Prinzip des kleinsten Zwanges. Beide
zusammen würden nun zwar genau dieselbe Thatsache dar-
stellen, aber sie würden neben dieser Thatsache andeutungs-
weise noch ein wenig mehr enthalten und dieses Mehr wäre
ein Zuviel. Erstens rufen sie die unserer Mechanik fremde
Vorstellimg wach, dafs die Zusammenhänge der materiellen
Systeme doch auch gelöst werden könnten, obwohl wir die-
selben als von Anbeginn an bestehende und als gänzlich un-
lösbare bezeichnet haben. Zweitens kann man bei Benutzung
des GAUSs'schen Prinzips nicht vermeiden, die Nebenvorstellung
zu erwecken, dafs man nicht nur eine Thatsache, sondern zu-
gleich auch den Grund dieser Thatsache mitteilen wolle. Man
kann nicht aussagen, dafs die Natur eine Gröfse, welche man
Zwang nennt, beständig so klein als möglich hält, ohne anzu-
deuten, dafs dies geschehe, eben weil jene Gröfse für die Natur
einen Zwang, das heifst ein Unlustgefühl bedeute. Man kann
nicht aussagen, dafs die Natur verfahre wie ein verständiger
Rechner, der seine Beobachtung ausgleicht, ohne nahezulegen.
38 Einleitung.
dafs hier wie dort wohlüberlegte Absicht der Grund des Ver-
fahrens sei. Gewifs liegt gerade ein besonderer Reiz in der-
artigen Seitenblicken und dies hat Gauss selbst in gerechter
Freude an seiner schönen und für unsere Mechanik grund-
legenden Entdeckung hervorgehoben. Aber doch müssen wir
uns gestehen, dafs dieser Reiz nur ein Spiel mit dem Geheimnis-
vollen ist; im Ernste glauben wir selbst nicht an unser Ver-
mögen, durch derartige Andeutungen halb schweigend das Welt-
rätsel zu lösen. Unser eigenes Grundgesetz vermeidet solche
Winke gänzlich. Indem es genau die Form des gewöhnlichen
Trägheitsgesetzes annimmt, giebt es so gut wie dieses eine
nackte Thatsache ohne jeden Schein einer Begründung der-
selben. In demselben Mafse, in welchem es dadurch ärmer
und ungeschmückter erscheint, in demselben Mafse ist es ehr-
licher und wahrer. Doch vielleicht verführt mich die Vorliebe
für die kleine Abänderung, welche ich selbst an dem Gauss'-
schen Prinzip angebracht habe, dafs ich Vorzüge in ihr er-
blicke, welche fremden Augen notwendig verborgen sind. Sicher
aber wird man, denke ich, dagegen zustimmen, wenn ich als
dritten Nutzen unserer Methode anführe, dafs dieselbe ein
helles Licht auf die von Hamilton erfundene Behandlungs-
weise mechanischer Probleme mit Hilfe charakteristischer
Funktionen wirft. Diese Behandlungsweise hat in den sechzig
Jahren ihres Bestehens Anerkennung und Ruhm genug gefunden,
aber sie ist doch mehr aufgefafst und behandelt worden wie
ein neuer Seitenzweig der Mechanik, dessen Wachstum und
Weiterbildung neben der gewöhnlichen Methode und unab-
hängig von derselben vor sich zu gehen habe. In unserer
Form der mathematischen Darstellung aber trägt die Hjlmil-
TON'sche Methode nicht den Charakter eines Seitenzweiges, son-
dern sie erscheint als die gerade, naturgemäfse und sozusagen
selbstverständliche Fortsetzung der elementaren Aussagen in
allen den Fällen, in welchen sie überhaupt anwendbar ist
Auch das läfst unsere Darstellungsweise klar hervortreten,
dafs die HAMTTiTON^sche Behandlungsweise nicht in den be-
sonderen physikalischen Grundlagen der Mechanik ihre Wurzeln
hat, wie man wohl gewöhnlich annimmt, sondern dafs sie im
Grunde genommen eine rein geometrische Methode ist, welche
begründet und ausgebildet werden kann, ganz unabhängig von
Einleitung. 39
der Mechanik, und welche mit dieser in keiner engeren Be-
ziehung steht, als alle andere von der Mechanik benutzte
geometrische Erkenntnis auch. Übrigens ist es von den Mathe-
matikern seit lange bemerkt worden, dafs die Hamilton' sehe
Methode rein geometrische Wahrheiten enthält und zum klaren
Ausdruck derselben eine eigentümliche, ihr angepafste Aus-
drucksweise geradezu fordert. Nur ist diese Thatsache in
etwas verwirrender Form zu Tage getreten, nämlich in den
Analogieen, welche man beim Verfolg der HAMiLTON'schen
Gedanken zwischen der gewöhnlichen Mechanik und der Geome-
trie eines vieldimensionalen Raumes gefunden hat. Unsere
Ausdrucksweise giebt eine einfache und verständliche Erklärung
dieser Analogieen; sie gestattet auch die Vorteile derselben zu
geniefsen und sie vermeidet doch die ünnatürlichkeit, welche
in der Verquickung eines Zweiges der Physik mit aufsersinn-
lichen Abstraktionen liegt.
Wir haben nunmehr unser drittes Bild der Mechanik nach
Inhalt und Form soweit geschildert, als es angeht ohne dem
Buche selbst vorzugreifen; zugleich hinreichend, um es den
beabsichtigten Fragen nach seiner Zulässigkeit, seiner Richtig-
keit und seiner Zweckmäfsigkeit unterwerfen zu können. Was
zunächst die logische Zulässigkeit des entworfenen Bildes
anlangt, so denke ich, dafs dieselbe selbst strengen Anforde-
rungen genügen könne, und hoffe, dafs diese Meinung der Zu-
stimmung begegnen möge. Ich lege auf diesen Vorzug der
Darstellung das gröfste Gewicht, ja einzig Gewicht. Ob das
entworfene Bild zweckmäfsiger ist, als ein anderes, ob es fähig
ist alle zukünftige Erfahrung zu umfassen, ja ob es auch
nur alle gegenwärtige Erfahrung umfafst, alles dies ist mir
fast nichts gegen die Frage, ob es in sich abgeschlossen, rein
und widerspruchsfrei ist. Denn nicht deshalb habe ich es zu
zeichnen versucht, weil die Mechanik nicht bereits für ihre
Anwendungen genügend Zweckmäfsigkeit zeigte, noch weil
dieselbe mit der Erfahrung irgend in Widerstreit geraten
wäre, sondern allein um mich von dem drückenden Gefühle
zu befreien, dafs ihre Elemente nicht frei seien von Dunkel-
heiten und UnVerständlichkeiten für mich. Nicht das einzig
mögliche Bild der mechanischen Vorgänge, noch auch das
40 Mnleüu/ng.
beste Bild, sondern überhaupt nur ein begreifbares Bild wollte
ich suchen und an einem Beispiel zeigen, dafs ein solches
möglich sei und wie es etwa aussehen müsse. Die Voll-
kommenheit ist uns freilich in jeder Richtung unerreichbar,
und ich mufs mir gestehen, dafs trotz vieler Mühe das erlangte
Bild nicht in allen Punkten von so überzeugender Klarheit
ist, dafs es nicht dem Zweifel ausgesetzt und der Verteidigung
bedürftig wäre. Doch scheint mir von Einwänden allgemeiner
Art nur ein einziger hinreichend nahe zu liegen, dafs es sich
lohnt, ihn vorwegzunehmen und abzuschneiden. Er betrifft die
Natur der starren Verbindungen, welche wir zwischen den
Massen annehmen^ und welche wir auch in unserem System
auf keine Weise entbehren können. Viele Physiker werden
zunächst der Ansicht sein, dafs mit diesen Verbindungen doch
schon Kräfte in die Elemente der Mechanik eingeführt und zwar in
heimlicher und deshalb unerlaubter Weise eingeführt seien. Denn
— so werden sie sagen — starre Verbindungen sind nicht denkbar
ohne Kräfte ; starre Verbindungen können nicht auf andere Weise
zu stände kommen, als indem sie durch Kräfte erzwungen werden.
Wir antworten darauf: Eure Behauptung ist allerdings richtig für
die Denkweise der gewöhnlichen Mechanik, aber sie ist nicht richtig
unabhängig von dieser Denkweise; sie erscheint nicht zwingend
dem Geist, welcher die Sache unbefangen und wie zum erstenmal
betrachtet. Gesetzt wir finden, auf welche Weise auch immer,
dafs der Abstand zweier bestimmter punktförmiger Massen zu
allen Zeiten und unter allen Umständen derselbe bleibt, so
können wir dieser Thatsache Ausdruck verleihen, ohne andere
als räumliche Vorstellungen zu benutzen und die ausgesagte
Thatsache hat als Thatsache für die Voraussicht zukünftiger
Erfahrung und für alle andern Zwecke ihren Wert unabhängig
von einer etwaigen Erklärung, welche wir besitzen oder nicht
besitzen. Auf keinen Fall wird der Wert der Thatsache
erhöht oder unser Verständnis von ihr verbessert dadurch, dafs
wir sie in der Form mitteilen: Zwischen jenen Massen wirke
eine Kraft, welche ihren Abstand konstant hält, oder: Zwischen
ihnen sei eine Kraft thätig, welche verhindert, dafs sich ihr
Abstand von seinem festen Wert entferne. Aber — so wird
man uns wieder einwenden - wir sehen ja, dafs die letztere
Erklärung, obwohl scheinbar nur eine lächerliche Umschreibung,
Mfüeitimg, 41
gleichwohl richtig ist. Denn alle Verbindungen der wirklichen
Welt sind nur angenähert starr und der Schein der Starrheit
wird nur dadurch hervorgebracht, dafs die elastischen Kräfte
die kleinen Abweichungen von der Ruhelage beständig wieder
vernichten. Wir antworten: Von solchen starren Verbindungen
der greifbaren Körper, welche nur angenähert verwirklicht
sind, wird unsere Mechanik selbstverständlich als Thatsache
auch nur aussagen, dafs ihnen angenähert gentigt werde und
zu dieser Aussage, auf welche es ankommt, bedarf sie wiederum
des Begriffs der Kraft nicht. Will unsere Mechanik aber in
zweiter Annäherung die Abweichungen und damit die elastischen
Kräfte berücksichtigen, so wird sie für diese wie flir alle
£räfte eine dynamische Erklärung annehmen; bei der Suche
nach den wirklich starren Verbindungen wird sie vielleicht zur
Welt der Atome hinabzusteigen haben, aber diese Erörterungen
sind hier nicht am Platze, sie berühren nicht mehr die Frage,
ob es logisch zulässig sei, feste Verbindungen unabhängig
von und vor den Kräften zu behandeln. Dafs diese Frage zu
bejahen sei und nur dies wünschten wir zu erweisen und
glauben wir erwiesen zu haben. Steht aber dies fest, so
können vrir aus der Natur der festen Verbindungen die Eigen-
schaften der Kräfte und ihr Verhalten ableiten ohne uns
damit einer petitio principii schuldig gemacht zu haben.
Andere Einwände ähnlicher Art sind möglich, können aber,
wie ich glaube, in ähnlicher Art erledigt werden.
Dem Wunsche, die logische Reinheit des Systems auch
in allen Einzelheiten zu erweisen, habe ich dadurch Ausdruck
gegeben, dafs ich für die Darstellung die ältere synthetische
Form benutzt habe. Diese Form bietet für jenen Zweck schon
darin einen gewissen Vorteil, dafs sie uns zwingt, jeder wesent-
lichen Aussage den beabsichtigten logischen Wert in abwechs-
Inngsarmer aber bestimmter Angabe vorauszuschicken. Dadurch
werden die bequemen Vorbehalte und Vieldeutigkeiten unmöglich
gemacht, zu welchen die gewöhnliche Sprache durch den Reich-
tum ihrer Verknüpfung verlockt. Der wichtigste Vorteü der
gewählten Form ist aber dieser, dafs sie stets nur auf Vor-
bewiesenes sich beruft, niemals auf später zu erweisendes,
80 dafs man der ganzen Kette sicher ist, wenn man beim Vor-
42 MfUeitung,
wärtsschreiten nur jedes einzelne Glied genügend prüfk. In
dieser Hinsicht habe ich den Pflichten dieser Art der Dax-
Btellung mit Strenge zu genügen gesucht. Im übrigen ist es
selbstTerständlich, dafs die Form allein vor Irrtum und Über-
sehen keinen Schutz gewähren kann und bitteich etwa eingeflossene
Fehler nicht um des etwas anspruchsvoUen Vortrags wiDen
strenger zu beurteilen. Ich hoffe, solche Fehler werden stets
verbesserungsfahig sein und daher keinen wesentlichen Punkt
betreffen. Bisweilen bin ich übrigens bewufster Weise zur
Vermeidung allzu grofser Weitläufigkeit hinter der vollen
Schärfe zurückgeblieben, welche die Darstellungsweise eigentlich
fordert. Es bedarf keiner besonderen Begründung, dafs ich
den Betrachtungen der eigentlichen Mechanik, welche von
physikalischer Erfahrung abhängt, diejenigen Beziehungen
vorausgeschickt habe, welche allein Folge der gewählten De-
finitionen und mathematischer Notwendigkeit sind, und welche,
wenn überhaupt, so doch jedenfalls in anderm Sinne als jene
mit der Erfahrung zusammenhängen. Nichts hindert übrigens
den Leser, mit dem zweiten Buche zu beginnen. Die durch-
sichtige Analogie mit der Mechanik des einzelnen Punktes und
der bekannte Stoff werden ihn den Sinn der vorgetragenen
Sätze leicht erraten lassen. Hat er der benutzten Bedeweise
Zweckmäfsigkeit zugebilligt, so ist immer noch Zeit, dafs er
sich aus dem ersten Buche von ihrer Zulässigkeit überzeuge.
Wenden wir uns jetzt der zweiten wesentlichen Forderung
zu, welcher unser Bild zu genügen hat, so ist es zunächst
unzweifelhaft, dafs das System sehr viele natürliche Bewegungen
richtig darstellt. Allein nach den Ansprüchen des Systems
genügt dies nicht; es mufs als notwendige Ergänzung die Be-
hauptung dahin erweitert werden, dafs das System alle natür-
lichen Bewegungen ohne Ausnahme umfasse. Auch dies kann
man, denke ich, behaupten, wenigstens in dem Sinne, dafs
sich zur Zeit keine bestimmten Erscheinungen angeben lassen,
welche dem System nachweislich widersprächen. Es ist frei-
lich klar, dafs die Ausdehnung auf alle Erscheinungen einer
scharfen Prüfung nicht zugänglich ist, dafs daher das System
über das Ergebnis sicherer Erfahrung ein wenig hinausgeht
und also den Charakter einer Hypothese trägt, welche ver-
Einleitung. 43
Suchsweise angenommen wird und auf plötzliche Widerlegung
durch ein einziges Beispiel oder allmähliche Bestätigung durch
sehr viele Beispiele wartet. Vornehmlich sind es zwei Stellen,
an welchen ein Hinausgehen über sichere Erfahrung statt-
findet: Die eine betrifft unsere Beschränkung der möglichen
Zusammenhänge, die andere betrifft die dynamische Erklärung
der Kräfte. Mit welchem Rechte können wir versichern, dafs
alle Zusammenhänge der Natur durch lineare Differential-
gleichungen erster Ordnung sich ausdrücken lassen? Diese
Annahme ist für uns nicht eine nebensächliche, welche wir
auch fallen lassen könnten; mit ihr fiele unsere Mechanik;
denn es fragt sich, ob auf Verbindungen allgemeinster Art
unser Grundgesetz anwendbar bliebe. Und doch sind Ver-
bindungen allgemeinerer Art nicht nur vorstellbar, sie werden
auch in der gewöhnlichen Mechanik ohne Bedenken zugelassen.
Dort hindert uns nichts, die Bewegung eines Punktes zu unter-
suchen, dessen Bahn der einzigen Beschränkung unterworfen
ist, dafs sie mit einer gegebenen Ebene einen gegebenen Winkel
bUde, oder dafs ihr Krümmungshalbmesser beständig einer
gegebenen anderen Länge proportional sei. Diese Bedingungen
fallen schon nicht mehr unter diejenigen, welche unsere Mechanik
zuläfst. Woher nehmen wir aber die Gewifsheit, dafs sie auch
durch die Natur der Dinge ausgeschlossen seien? Wir können
erwidern, dafs man vergeblich versuche, diese und ähnliche
Verbindungen durch ausführbare Mechanismen zu verwirk-
lichen und wir können uns in dieser Ansicht auf die gewaltige
Autorität von HetiMholtz's berufen. Aber in jedem Beispiel
können Möglichkeiten übersehen worden sein, und noch so
viele Beispiele würden nicht hinreichen, die allgemeine Be-
hauptung zu erweisen. Mit mehr Recht können wir, wie mir
scheint, als Grund unserer Überzeugung anfuhren, dafs alle
Verbindungen eines Systems, welche aus dem Rahmen unserer
Mechanik heraustreten, in dem einen oder in dem andern
Sinne eine unstetige Aneinanderreihung seiner möglichen Be-
wegungen bedeuten würden, dafs es aber in der That eine
Erfahrung allgemeinster Art sei, dafs die Natur im Unendlich-
kleinen überall und in jedem Sinne Stetigkeit aufweise, eine
Erfahrung, die sich in dem alten Satze „natura non facit
saltus", zu fester Überzeugung verdichtet hat. Ich habe des-
44 Mnleitimg,
halb auch im Texte Wert darauf gelegt, die zugelassenen Ver-
bindungen aDein durch ihre Stetigkeit zu definieren, und ihre
Eigenschaft, sich durch Gleichungen bestimmter Form dar-
stellen zu lassen, erst aus jener abzuleiten. Eigentliche Sicher-
heit wird indessen auch so nicht erlangt. Denn die Unbestimmt-
heit jenes alten Satzes läfst es zweifelhaft erscheinen, ob die
Grenzen seiner berechtigten Tragweite hinreichend feststehen
und wieweit er überhaupt das Ergebnis wirklicher Erfahrung,
wieweit das Ergebnis willkürlicher Voraussetzung ist. Am ge-
wissenhaftesten wird es daher sein, zuzugeben, dafs unsere
Annahme über die zulässigen Verbindungen den Charakter
einer versuchsweise angenommenen Hypothese trage. Ganz
ähnlich liegen die Dinge in betreff der dynamischen Erklärung
der Kräfte. Wir können allerdings zeigen, dafs gewisse Klassen
verborgener Bewegungen Kräfte erzeugen, welche, wie die Fem-
kräfte der Natur, sich mit beliebiger Annäherung als Ablei-
tungen von Kräftefunktionen darstellen lassen. Es stellt sich
auch heraus, dafs die Formen dieser Kräftefunktionen sehr
allgemeiner Natur sein können und wir leiten in der That gar
keine Einschränkungen derselben ab. Aber auf der anderen
Seite bleiben wir auch den Beweis schuldig, dafs sich jede
beliebige Form der Kräftefiinktionen erzielen läfst und es bleibt
daher die Frage offen, ob nicht etwa gerade eine der in der
Natur vorkommenden Formen einer solchen Erklärungsweise
sich entzieht. Es bleibt auch hier abzuwarten, ob die Zeit
unsere Annahme widerlegen oder durch das Ausbleiben eüier
Widerlegung mehr und mehr wahrscheinlich machen wird. Ein
gutes Vorzeichen können wir darin sehen, dafs die Ansicht
vieler ausgezeichneter Physiker sich der Hypothese immer
mehr zuneigt. Ich erinnere nochmals an die Wirbeltheorie
der Atome von Lord Kelvin, welche uns ein Bild des mate-
riellen Weltganzen vorflihrt, wie es mit den Prinzipien unserer
Mechanik in vollem Einklänge ist. Und doch verlangt unsere
Mechanik keineswegs eine so grofse Einfachheit und Beschrän-
kung der Voraussetzungen, wie sie sich Lord E[elvin auferlegt
hat. Wir würden unsere Grundsätze noch nicht verlassen,
wenn wir annähmen, dafs die Wirbel um starre oder um bieg-
same, aber unausdehnbare Kerne kreisten und auch das welt-
erfiillende Medium könnten wir anstatt der blofsen Inkom-
Einleitung. 45
pressibilität viel verwickeiteren Bedingungen unterwerfen, deren
allgemeinste Form noch zu untersuchen wäre. Es erscheint
also keineswegs ausgeschlossen, dafs wir mit den von unserer
Mechanik zugelassenen Hypothesen zur Erklärung der Er-
scheinungen auch ausreichen.
Einen Vorbehalt müssen wir indessen hier einschalten.
Es ist gewifs eine gerechtfertigte Vorsicht, wenn wir im Texte
das Gebiet unserer Mechanik ausdrücklich beschränken auf die
unbelebte Natur und die Frage vollkommen oflfen lassen, wie
weit sich ihre Gesetze darüber hinaus erstrecken. In Wahr-
heit liegt die Sache ja so, dafs wir weder behaupten können,
dafs die inneren Vorgänge der Lebewesen denselben Gesetzen
folgen, wie die Bewegungen der leblosen Körper, noch auch
behaupten können, dafs sie andern Gesetzen folgen. Der An-
schein aber und die gewöhnliche Meinung spricht für einen
grundsätzlichen Unterschied. Und dasselbe Gefühl, welches
uns antreibt, aus der Mechanik der leblosen Welt jede An-
deutung einer Absicht, einer Empfindung, der Lust und des
Schmerzes, als fremdartig auszuscheiden, dasselbe Gefühl läfst
uns Bedenken tragen, unser Bild der belebten Welt dieser
reicheren und bunteren Vorstellungen zu berauben. Unser
Grundgesetz, vielleicht ausreichend die Bewegung der toten
Materie darzustellen, erscheint wenigstens der flüchtigen
Schätzung zu einfach und zu beschränkt, um die Mannigfaltig-
keit selbst des niedrigsten Lebensvorganges wiederzugeben.
Dafs dem so ist, scheint mir nicht ein Nachteil, sondern eher
ein Vorzug unseres Gesetzes. Eben weil es uns gestattet das
Ganze der Mechanik umfassend zu überblicken, zeigt es uns
auch die Grenzen dieses Ganzen. Eben weil es uns nur eine
Thatsache giebt, ohne derselben den Schein der Notwendigkeit
beizulegen, läfst es uns erkennen, dafs alles auch anders sein
könnte. Vielleicht wird man solche Erörterungen an dieser
Stelle für überflüssig halten. In der That ist man auch nicht
gewöhnt, sie in der gewöhnHchen DarsteUung der Mechanik
bei den Elementen behandelt zu sehen. Aber dort gewährt
die völlige Unbestimmtheit der eingeführten Kräfte noch einen
weiten Spielraum. Man behält sich stillschweigend vor, später
etwa einen Gegensatz zwischen den Kräften der belebten und
46 Einleitung,
der unbelebten Natur festzustellen. In unserer Darstellung
ist das betrachtete Bild von vornherein so scharf umrissen,
dafs sich nachträglich kaum mehr tief eingreifende Einteilungen
werden vornehmen lassen. Wollen wir daher die aufgeworfene
Frage nicht überhaupt ignorieren, so müssen wir gleich im
Eingang Stellung zu derselben nehmen.
Über die ZweckmäXsigkeit unseres dritten Bildes können
wir uns ziemlich kurz fassen. Wir können aussagen, dafs
dieselbe, wie der Inhalt des Buches zeigen soll, nach Deut-
lichkeit und Einfachheit etwa derjenigen gleichkommt, welche
wir dem zweiten Bilde zusprachen, und dafs wir dieselben
Vorzüge, welche wir dort rühmten, auch hier hervorheben
können. Allerdings ist der Umkreis der zugelassenen Möglich-
keiten hier nicht ganz so eng gezogen wie dort, da diejenigen
starren Verbindungen, deren Fehlen wir dort hervorhoben,
hier durch die Grundannahmen nicht ausgeschlossen sind.
Aber diese Erweiterung entspricht der Natur und ist daher
ein Vorzug; auch hindert sie nicht, die allgemeinen Eigen-
schaften der natürlichen Kräfte herzuleiten, in welchen die
Bedeutung des zweiten Bildes lag. Einfachheit besteht hier
wie dort zunächst im Sinne der physikalischen Anwendung.
Auch hier können wir unsere Betrachtung auf beliebige der
Beobachtung zugängliche Merkmale der materiellen Systeme
beschränken, und aus ihren vergangenen Veränderungen durch
Anwendung des Grundgesetzes die zukünftigen ableiten, ohne
dafs wir nötig hätten, die Lagen aller Einzelmassen des
Systems zu kennen und ohne dafs wir nötig hätten, diese
Unkenntnis durch willkürliche, einflufslose und wahrscheinlich
falsche Hypothesen zu überdecken und zu bemänteln. Im
Gegensatz zum zweiten Bilde besitzt aber unser drittes Ein-
fachheit auch in dem Sinne, dafs sich seine Vorstellungen der
Natur so anschmiegen, dafs die wesentlichen Beziehungen der
Natur durch einfache Beziehungen zwischen den Begriffen
wiedergegeben werden. Das zeigt sich nicht nur im Grund-
gesetze selbst, sondern auch in den zahlreichen allgemeinen
Folgerungen desselben, welche den sogenannten Prinzipien
der Mechanik entsprechen. Es mufs allerdings zugegeben
werden, dafs diese Einfachheit nur eintritt, so lange wir es
Einleitung, 47
mit Yollstandig bekannten Systemen zu thun haben, und dafs
sie wieder verschwindet, sobald verborgene Massen sich ein-
mischen. Aber auch in diesen Fällen liegt dann der Grund
der Verwickelung klar auf der Hand; wir verstehen, dafs der
Verlust der Einfachheit nicht in der Natur, sondern in unserer
mangelhaften Kenntnis derselben beruht; wir begreifen, dafs
die eintretenden Komplikationen nicht allein eine mögliche,
sondern die notwendige Folge unserer besonderen Voraus-
setzimgen sind. Auch das mufs zugegeben werden, dafs die
Mitwirkung verborgener Massen, welche vom Standpunkte
unserer Mechanik aus der entlegene und besondere Fall ist,
dafs diese Mitwirkung gerade der gewöhnliche Fall der Pro-
bleme des täglichen Lebens und der Technik ist. Daher ist
es auch nützlich, hier nochmals zu betonen^ dafs wir von einer
Zweckmäfsigkeit überhaupt nur geredet haben in einem beson-
deren Sinne, nämlich im Sinne eines Geistes, welcher ohne
Bücksicht auf die zufällige Stellung des Menschen in der Natur
das Ganze unserer physikalischen Erkenntnis objectiv zu um-
fassen und in einfacher Weise darzustellen sucht; dafs wir
aber keineswegs redeten von einer Zweckmäfsigkeit im Sinne
der praktischen Anwendung und der Bedürfnisse des Menschen.
In betreff dieser letzteren kann die fiir sie ausdrücklich
erdachte gewöhnliche Darstellung der Mechanik wohl niemals
durch eine zweckmäfsigere ersetzt werden. Zu dieser Dar-
stellung verhält sich die von uns hier vorgeführte etwa wie
die systematische Grammatik einer Sprache zu einer Gram-
matik, welche den Lernenden möglichst bald erlauben soll,
sich über die Notwendigkeiten des täglichen Lebens zu ver-
ständigen. Man weifs wie verschieden die Anforderungen an
beide sind und wie verschieden ihre Anordnungen ausfallen
müssen, wenn beide ihrem Zweck so genau wie möglich ent-
sprechen sollen.
48 Einleitung,
Blicken wir zum Schlüsse noch einmal znrück auf die
drei Bilder der Mechanik , welche wir vorgeführt haben und
suchen wir einen letzten und endgültigen Vergleich zwischen
ihnen anzustellen. Das zweite Bild lassen wir nach dem, was
wir gesagt haben, fallen. Das erste und dritte Bild wollen
wir gleichstellen in Bezug auf die Zulässigkeit, indem wir an-
nehmen, dafs dem ersten Bilde eine in logischer Hinsicht voll-
ständig befriedigende Gestalt gegeben sei, wie wir ange-
nommen haben, dafs sie gegeben werden könne. Wir wollen
beide Bilder auch gleichstellen in Bezug auf die Zweckmäfsig-
keit, indem wir annehmen, dafs man das erste Bild durch
geeignete Zusätze ergänzt habe und indem wir annehmen, dafs
die nach verschiedener Eichtung gehenden Vorzüge einander
das Gleichgewicht halten. Dann bleibt als einziger Wert-
mafsstab die Richtigkeit der Büder, welche durch die Gewalt
der Dinge bestimmt ist, und welche nicht in unserer Willkür
liegt. Und hier machen wir nun die wichtige Bemerkung, dafs
nur das eine oder das andere jener Bilder, nicht aber beide
gleichzeitig richtig sein können. Denn suchen wir die wesent-
lichen Beziehungen beider Darstellungen auf ihren kürzesten
Ausdruck zu bringen, so können wir sagen: Das erste Bild
nehme als letzte konstante Elemente in der Natur die relativen
Beschleunigimgen der Massen gegen einander an, aus diesen
leite sie gelegentlich angenähert, aber auch nur angenähert feste
Verhältnisse zwischen den Lagen ab. Das dritte Bild aber
nehme als die streng unveränderlichen Elemente der Natur
feste Verhältnisse zwischen den Lagen an, aus diesen leite sie,
wo die Erscheinungen es erfordern, angenähert, aber auch nur
angenähert unveränderliche relative Beschleunigungen zwischen
den Massen her. Könnten wir nun die Bewegungen der Natur
nur genau genug erkennen, so wüfsten wir sogleich, ob in
ihnen die relative Beschleunigung oder ob die relativen Lagen-
verhältnisse der Massen oder ob beide nur angenähert unver-
änderlich sind. Wir wüfsten dann auch sogleich, welche von
unseren beiden Annahmen falsch ist oder ob beide falsch
sind, denn richtig können nicht beide gleichzeitig sein. Die
gröfste Einfachheit steht auf seiten des dritten Budes. Was
ims zwingt, gleichwohl zunächst zu Gunsten des ersten zu
Einleitung, 49
entscheiden, i^t der Umstand, dafs wir wirklich in den Fern-
kräften relative Beschleunigungen aufweisen können, welche
bis an die Grenze unserer Beobachtung unveränderlich scheinen,
während alle festen Verbindungen zwischen den Lagen der
greifbaren Körper schon innerhalb der Wahrnehmung unserer
Sinne sich schnell nur angenähert als konstant erweisen. Aber
dies Verhältnis ändert sich zu Gunsten des dritten Bildes,
sobald die verfeinerte Erkenntnis uns etwa zeigt, dafs die
Annahme unveränderlicher Femkräfte nur eine erste An-
näherung an die Wahrheit liefert, welcher Fall in dem Ge-
biete der elektrischen und magnetischen Kräfte bereits ein-
getreten ist. Und die Wage schlägt vollends über zu Gunsten
des dritten Bildes, sobald eine zweite Annäherung an die
Wahrheit dadurch erzielt werden kann, dafs man die vermeint-
liche Wirkung der Femkräfte zurückfuhrt auf Bewegungsvor-
gänge in einem raumeriuUenden Mittel, dessen kleinste Teile
starren Verbindungen unterliegen, ein Fall der gleichfalls in
dem erwähnten Gebiete nahezu verwirklicht erscheint. Hier
also liegt das Feld, auf welchem auch der Entscheidungskampf
zwischen den verschiedenen von uns betrachteten Grund-
annahmen der Mechanik ausgefochten werden mufs. Die
Entscheidung selbst aber setzt voraus, dafs vorher die vor-
handenen Möglichkeiten nach allen Richtungen hin gründlich
erwogen seien. Sie nach einer besonderen Richtung zu ent-
wickeln, ist der Zweck der vorliegenden Arbeit. Diese Arbeit
ist also notwendig gewesen, auch wenn es noch lange dauern
sollte, bis eine Entscheidung möglich ist, und auch dann, wenn
diese Entscheidung schliefslich zu Ungunsten des hier ausführ-
lich entwickelten Bildes ausfallen sollte.
Hertz, Mechanik.
EBSTES BUCH.
ZUR GEOMETRIE UND KINEMATIK
DER MATERIELLEN SYSTEME,
Vorbemerkung. Den Überlegungen des ersten Buches
bleibt die Erfahrung völlig fremd. Alle vorgetragenen Aus-
«agen sind Urteile a priori im Sinne Kant's. Sie beruhen auf
den Gesetzen der inneren Anschauung und den Formen der
eigenen Logik des Aussagenden und haben mit der äufseren
Erfahrung desselben keinen anderen Zusammenhang, als ihn
diese Anschauungen und Formen etwa haben.
Abschnitt 1. Zeit, Raum, Masse.
Erläuterung. Die Zeit des ersten Buches ist die Zeit 2
unserer inneren Anschauung. Sie ist daher eine Gröfse, von
deren Änderung die Änderungen der übrigen betrachteten
Gröfsen abhängig gedacht werden können, während sie selbst
stets unabhängig veränderlich ist.
Der Baum des ersten Buches ist der Baum unserer Vor-
stellung. Er ist also der Raum der EuKLro'schen Geometrie
mit allen Eigenschaften, welche diese Geometrie ihm zuspricht.
Es ist gleichgültig für uns, ob man diese Eigenschaften an-
sieht als gegeben durch die Gesetze der inneren Anschauung,
oder als denknotwendige ' Folgen willkürlicher Definitionen.
Die Masse des ersten Buches wird eingeführt durch eine
Definition.
54 Erstes BucHu
3 Definition 1. Ein Massenteilchen ist ein Merkmal, durch
welches wir einen bestimmten Pxmkt des Eaumes zu einer
gegebenen Zeit eindeutig zuordnen einem bestimmten Punkte
des Baumes zu jeder anderen Zeit.
Jedes Massenteilchen ist unveränderlich und unzerstör-
bar. Die durch dasselbe Massenteilchen gekennzeichneten
Punkte des Raumes zu zwei verschiedenen Zeiten fallen zu-
sammen, wenn die Zeiten zusammenfallen. Diese Bestim-
mungen sind bereits in der Definition enthalten, wenn deren
Wortlaut richtig gefafst wird.
4 Definition 2. Die Zahl der Massenteilchen in einem
beliebigen Räume, verglichen mit der Zahl der Massenteilchen,
welche sich in einem festgesetzten Räume zu festgesetzter Zeit
finden, heifst die in dem ersteren Räume enthaltene Masse.
Die Zahl der Massenteilchen in dem Vergleichsraume kann
und soll unendlich grofs gewählt werden. Die Masse des ein-
zelnen Massenteilchens wird alsdann nach der Definition un-
endlich klein. Die Masse in einem beliebigen Räume kann
daher jeden rationalen oder irrationalen Wert annehmen.
5 Definition 3. Eine endliche oder unendlich kleine Masse,
vorgestellt in einem unendlich kleinen Räume, heifst ein mate-
rieller Punkt.
Ein materieller Punkt besteht also aus einer beliebigen
Anzahl mit einander verbundener Massenteilchen. Diese Zahl
soll stets unendlich grofs sein, was dadurch erreicht werden
kann, dafs wir uns die Massenteilchen von höherer Ordnung
unendlich klein denken, als die etwa betrachteten materiellen
Punkte von verschwindender Masse. Die Massen der mate-
riellen Punkte, insbesondere auch die Massen der unendlich
kleinen materiellen Punkte können darnach in jedem beliebigen
rationalen oder irrationalen Verhältnis zu einander stehen.
6 Definition 4. Eine Anzahl gleichzeitig betrachteter ma-
terieller Punkte heifst ein System materieller Punkte, oder
kurz eiD System. Die Summe der Massen der einzelnen Punkte
ist nach 4 die Masse des Systems.
Ein endliches System besteht also aus einer endlichen
Zahl endlicher oder aus einer unendlichen Anzahl unendlich
Lage der Punkte tmd Systeme. 55
kleiner materieller Punkte oder aus beiden. Stets ist es er-
laubt, das System materieller Punkte anzusehen als zusammen-
gesetzt aus einer unendlichen Anzahl von Massenteilchen.
Anmerkung 1. Im folgenden werden wir das endliche 7
System stets behandeln als bestehend aus einer endlichen Zahl
endlicher materieller Punkte. Da wir aber keine obere Grenze
festsetzen fiir die Zahl derselben und keine untere für ihre
Masse, so umfassen unsere allgemeinen Aussagen als besonderen
Fall auch den Fall, dafs das System unendlich viele unendlich
kleine materielle Punkte enthält. Auf die Besonderheiten,
welche die analytische Behandlung dieses Falles nötig macht,
werden wir indessen nicht eingehen.
Anmerkung 2. Der materielle Punkt kann angesehen 8
werden als ein besonderer Fall und als das einfachste Bei-
spiel eines Systems materieller Punkte.
Abschnitt 2. Lagen nnd Verrückungen der Punkte
und Systeme.
Lage.
Definition 1. Der Punkt des Raumes, welcher durch 9
ein gewisses Massenteilchen zu einer gewissen Zeit gekenn-
zeichnet ist, wird die Lage des Massenteilchens zu jener Zeit
genannt. Lage eines materiellen Punktes heifst die gemein-
same Lage seiner Massenteilchen.
Definition 2. Die gleichzeitig vorgestellte Gesamtheit lO
der Lagen aller Punkte eines Systems heifst die Lage des
Systems.
Definition 3. Jede beliebige Lage eines materiellen 11
Punktes im imendlichen Baume heifst eine geometrisch denk-
56 Erstes Buch.
bare oder kurz eine denkbare Lage des Punktes. Die Gesamt-
heit irgend welcher denkbaren Lagen der Punkte eines Systems
heilst eine denkbare Lage des Systems.
Zu einer jeden Zeit können sich unterscheiden zwei Massen-
teilchen durch ihre Lage, zwei materielle Punkte durch ihre
Masse und ihre Lage, zwei Systeme materieller Punkte durch
Zahl, Masse und Lage ihrer Punkte. Nach anderen Eick-
tungen als diesen aber können sich auf Grund unserer bis-
herigen Definitionen Massenteilchen, materielle Punkte, Systeme
materieller Punkte nicht unterscheiden.
12 Analytische Darstellung der Lage, a) des Punktes.
Die Lage eines materiellen Punktes kann analytisch dargestellt
werden durch die Angabe der drei rechtwinklig-geradlinigen
cartesischen Koordinaten desselben in Bezug auf ein ruhendes,
festes Axensystem. Diese Koordinaten sollen dauernd mit
^1 ^3 ^3 bezeichnet werden. Jeder denkbaren Lage des Punktes
entspricht ein eindeutig bestimmtes Wertsystem dieser Koordi-
naten, und umgekehrt jedem willkürlich gewählten Wertsystem
der Koordinaten eine eindeutig bestimmte denkbare Lage des
Punktes.
Anstatt durch seine rechtwinkligen Koordinaten kann die
Lage eines Punktes auch bestimmt werden durch irgend welche
r Gröfsen J»i . . ./?^ . . ./?r> sobald durch Übereinkunft bestimmte
Wertsysteme dieser Gröfsen bestimmten Lagen stetig zuge-
ordnet sind und umgekehrt. Die rechtwinkligen Koordinaten
sind alsdann Funktionen dieser Gröfsen, und umgekehrt. Die
Gröfsen p^ bezeichnen wir als allgemeine Koordinaten des
Punktes. Ist r > 3, so müssen zwischen den p^ aus geome-
trischen Gründen r — 3 Gleichungen bestehen, welche gestatten,
die pg als Funktionen dreier unabhängiger Gröfsen, z. B. der
^i ^3 ^3 j darzustellen. Es soll indessen eine Abhängigkeit der
Koordinaten von einander aus rein geometrischen Gründen aus-
geschlossen sein, und deshalb stets vorausgesetzt werden, dafs
r ^ 3 sei. Ist r < 3, so werden nicht alle denkbaren Lagen
des Punktes durch Wertsysteme der p^ dargestellt, sondern
nur ein Teil derselben. Die durch die pg nicht dargestellten
Lagen sollen bei Benutzung der p^ dadurch selbst als von der
Betrachtung ausgeschlossen gelten.
Ktmfigif/rcUion und absolute Lage. 57
Analytische Bantellimg. b) des Systems. Die Lage 13
eines Systems von n materiellen Punkten kann analytisch dar-
gestellt werden durch Angabe der 3n rechtwinkligen Koor-
dinaten der Punkte des Systems. Diese Koordinaten sollen
dauernd bezeichnet werden mit ar^ . . . ar^ . . . ara«, wobei ar^ x^ x^
die Koordinaten des ersten Punktes, ^3^-2 ^s^— i ^3^ die ent-
sprechend gerichteten Koordinaten des jtiten Punktes bedeuten
mögen. Diese 3n Koordinaten Xy bezeichnen wir auch kurz
als die rechtwinkligen Koordinaten des Systems. Jeder denk-
baren Lage des Systems entspricht ein eindeutig bestimmtes
Wertsystem seiner rechtwinkligen Koordinaten, und umgekehrt
jedem willkürlich gewählten Wertsystem der x^ eine eindeutig
bestimmte denkbare Lage des Systems.
Anstatt durch die rechtwinkligen Koordinaten können wir
die Lage eines Systems auch bestimmen durch irgendwelche
r Gröfsen Pi^-^Pq'» -fr, sobald durch "Übereinkunft bestimmte
Wertsysteme dieser Gröfsen bestimmten Lagen stetig zuge-
ordnet sind und umgekehrt. Die rechtwinkligen Koordinaten
sind dadurch Funktionen dieser Gröfsen, und umgekehrt; Die
Gröfsen p^ bezeichnen wir als allgemeine Koordinaten des
Systems. Ist r > 3n, so müssen zwischen den p^ aus geome-
trischen Gründen r — 3n Gleichungen bestehen. Wir wollen
indessen ausschliefsen, dafs zwischen den Koordinaten aus
rein geometrischen Gründen eine Abhängigkeit bestehe, und
es sei daher stets r^3w. Ist r < 3;i, so werden nicht alle
denkbaren Lagen des Systems durch Wertsysteme der p^ dar-
gestellt, sondern nur ein Teil derselben. Die durch die p^
nicht dargestellten Lagen sollen bei Benutzung der Koordi-
naten Pq dadurch selbst als von der Betrachtung ausgeschlossen
gelten.
Konfiguration und absolute Lage.
Definition L Die Gesamtheit der gegenseitigen Lagen 14
der Punkte eines Systems heifst die Konfiguration des Systems.
Die Konfiguration des Systems und die absolute Lage der
Konfiguration im Baume bestimmen zusammen die Lage des
Systems.
58 Erstes Bück,
15 Definition 2. Eonfigurationskoordinate nennen wir jede
Koordinate des Systems, deren Wert nicht geändert werden
kann, ohne dafs dadurch die Konfiguration des Systems sich
änderte.
Ob eine bestimmte Koordinate Konfigurationskoordinate
ist oder nicht, hängt also nicht ab von der Wahl der übrigen
gleichzeitig benutzten Koordinaten.
16 Definition 3. Koordinate der absoluten Lage heifst jede
Koordinate des Systems, durch deren Änderung die Kon-
figuration nicht geändert werden kann, solange die übrigen
Koordinaten des Systems sich nicht ändern.
Ob eine bestimmte Koordinate Koordinate der absoluten
Lage ist oder nicht, hängt also ab von der Wahl der übrigen
gleichzeitig benutzten Koordinaten.
Polgerungen.
17 1. Eine Koordinate kann nicht zugleich Konfigurations-
koordinate und Koordinate der absoluten Lage sein. Dagegen
kann und wird int allgemeinen eine beliebig herausgegrifi'ene
Koordinate weder Konfigurationskoordinate noch auch Koor-
dinate der absoluten Lage sein.
18 2. Sobald w > 3, können 3n von einander unabhängige
Koordinaten aller Lagen auf mannigfaltige Art so gewählt
werden, dafs sich unter ihnen bis zu 3w — 6 Konfigurations-
koordinaten finden, aber auf keine Weise so, dafs sich mehr
als 3/1 — 6 Konfigurationskoordinaten unter ihnen finden.
Denn wählen wir unter die Koordinaten die 3 Abstände
dreier beliebiger Punkte des Systems von einander und die
3(n — 3) Abstände der übrigen von jenen, so haben wir
bereits 3/1 — 6 Konfigurationskoordinaten, und je 3w — 6 ver-
schiedene Funktionen jener Abstände werden ebenfalls 3w — 6
Konfigurationskoordinaten des Systems sein. Weniger Kon-
figurationskoordinaten können vorhanden sein; denn es sind
z. B. gar keine vorhanden, wenn wir die 3w rechtwinkligen
Koordinaten benutzen. Mehr Konfigurationskoordinaten aber
können sich unter unabhängigen Koordinaten nicht finden;
Konfiguration und absolute Lage. 59
denn wären unter beliebigen Koordinaten mehr als 3n — 6
Konfigorationskoordinaten vorhanden, so liefsen sich die letz-
teren als Funktionen jener Sn — 6 Abstände darstellen, wären
also nicht von einander unabhängig.
3. Sobald n > 3, können 3n unabhängige Koordinaten
aller denkbaren Lagen eines Systems auf mannigfaltige Art 1^
so gewählt werden, dafs sich unter ihnen bis zu 6, aber nicht
mehr als 6 Koordinaten der absoluten Lage finden.
Denn wählen wir die Koordinaten so, dafs sich unter
ihnen Sn — 6 Konfigurationskoordinaten finden, und fügen
hinzu 6 beliebige Koordinaten, etwa 6 der rechtwinkligen
Koordinaten des Systems, so sind die letzteren eo ipso Koor-
dinaten der absoluten Lage, da keine Änderung derselben die
Konfiguration ändert, solange die übrigen festgehalten werden.
Weniger als 6 Koordinaten der absoluten Lage können vor-
handen sein; denn es sind z. B. keine vorhanden, wenn wir
die rechtwinkligen Koordinaten des Systems benutzen. Mehr
als 6 aber können nicht vorhanden sein; denn wären für eine
bestimmte Wahl der Koordinaten mehr vorhanden, so wären
alle denkbaren Konfigurationen bestimmt durch die übrigen
weniger als 3^ — 6 Koordinaten, es liefsen sich also für das
System überhaupt nicht Sn — 6 von einander unabhängige Kon-
figurationskoordinaten angeben, was gegen Folgerung 2 wäre.
4. Sind 371 unabhängige Koordinaten eines Systems 20
von n Punkten so gewählt, dafs sich unter ihnen Sn — 6 Kon-
figurationskoordinaten finden, so sind die übrigen 6 notwendig
Koordinaten der absoluten Lage. Sind jene Sn Koordinaten
so gewählt, dafs sich unter ihnen 6 Koordinaten der absoluten
Lage finden, so sind die übrigen Sn — 6 notwendig Konfigu-
rationskoordinaten.
Denn fände sich unter den letzteren Sn — 6 Koordinaten
auch nur eine, welche geändert werden könnte ohne die Kon-
figuration zu ändern, so wäre die absolute Lage der Konfigu-
ration bestimmt durch mehr als 6 unabhängige Koordinaten,
was nicht möglich.
6. Als Koordinate der absoluten Lage kann jede Gröfse 21
benutzt werden, deren Änderung eine Änderung in der Lage
60 Erstes Buch.
des Systems zur Folge hat, und welche nicht eine Eonfigu-
rationskoordinate ist. Sechs beliebige Gröfsen, welche diese
Eigenschaften besitzen und von einander unabhängig sind, können
als Koordinaten der absoluten Lage gewählt werden und werden
zu Koordinaten der absoluten Lage dadurch, dafs ihnen keine
anderen Gröfsen als Koordinaten hinzugefugt werden, als
solche, welche die Eigenschaft von Konfigurationskoordinaten
haben.
Endliche Verruckungen
a) der Punkte.
22 Definition 1. Den Übergang eines materiellen Punktes
aus einer Anfangslage in eine Endlage ohne Rücksicht auf die
Zeit und die Art des Überganges nennen wir eine Verrückung
des Punktes aus der Anfangs- in die Endlage.
Die Verrückung eines Punktes ist also vollständig be-
stimmt durch ihre Anfangs- und ihre Endlage. Sie ist eben-
falls vollständig gegeben durch ihre Anfangslage, ihre Rich-
tung und ihre Gröfse.
23 Anmerkung 1. Die Gröfse der Verrückung eines Punktes
ist gleich der Entfernung seiner Endlage von seiner An-
fangslage. Sind die x^ die rechtwinkligen Koordinaten der
Anfangslage, die Xy die rechtwinkligen Koordinaten der End-
lage, so ist die Gröfse s' der Verrückung die positive Wurzel
der Gleichung:
3
24 Anmerkung 2. Die Richtung einer Verrückung ist die
Richtung einer Geraden, welche von der Anfangslage der Ver-
rückung zu ihrer Endlage gezogen wird. Haben ä', Xy, Xy die
Bedeutung wie vorher, und sind die arj, Xy, *" die Koordi-
naten der Anfangs-, der Endlage und die Länge einer zweiten
Endliehe Verrückungen, 61
Verrückung, so ist der Winkel oder Richtungsunterschied *;«"
beider Verrückungen gegeben durch die Gleichung:
3
sV'cos $/' == 2" (^""^y) i^v-^^v) • *>
1
Denn die Betrachtung des Dreiecks aus den beiden Längen
s und ä" als Seiten, und dem Winkel i/' als eingeschlossenem
Winkel liefert uns die Gleichung:
8^ + s"^ — 2 s's"c0S 8,8' = 2*' [(^y—^y) "~ i^v—^v)^ 9 ^)
aus welcher zusammen mit 23 Gleichung a) folgt.
Definition 2. Zwei Verrückungen eines Punktes heifsen 2»
identisch, wenn sie Anfangs- und Endlage gemein haben; zwei
Verrückungen eines Punktes heifsen gleich, wenn sie Richtung
und Gröfse gemein haben; zwei Verrückungen heifsen gleich-
gerichtet oder parallel, wenn sie die Richtung gemein haben.
Zwischenbemerkung. Bezeichnen x^ Xj^ die k gerad- 2^
linigen, rechtwinkligen Koordinaten eines Punktes in einem
Raum von k Dimensionen, xi x^ die Koordinaten eines
zweiten Punktes, so erweitert die an dieser Stelle eingeschaltete
Festsetzung, dafs die Entfernung beider Punkte die positive
Wurzel der Gleichung
«'^ = ^'^ i^-^^^)
2
sei, den ganzen folgenden Inhalt der Untersuchung und damit
die ganze Mechanik auf den Raum von k Dimensionen, ohne
dafs eine Änderung auch nur des Wortlautes nötig wäre, von
Nebendingen abgesehen. Doch soll von dieser Bemerkung
kein Gebrauch gemacht werden, sondern es soll gemäfs der
ersten Festsetzung stets nur von dem Raum der Euklid' sehen
Geometrie die Rede sein.
62 Erstes Buch.
b) der Systeme.
"27 Definition. Der Übergang eines Systems materieller
Punkte aus einer Anfangslage in eine Endlage ohne Bücksicht
auf die Zeit und ohne Bücksicht auf die Art des Überganges
heifst eine Verrückung des Systems aus der Anfangs- in die
Endlage.
Die Verrückung eines Systems ist also vollständig ge-
geben durch ihre Anfangs- und ihre Endlage. Sie ist eben-
falls vollständig bestimmt, wenn ihre Anfangslage und die-
jenigen Merkmale gegeben sind, welche wir als ihre Eichtung
und Gröfse bezeichnen.
^8 Hülfsbezeiclmung. Quadratischen Mittelwert einer Beihe
von Gröfsen nennen wir die positive Quadratwurzel des arith-
metischen Mittelwertes der Quadrate der einzelnen Gröfsen.
29 Definition a. Gröfse der Verrückung eines Systems
heifst der quadratische Mittelwert aus der Gröfse der Ver-
rückungen seiner sämtlichen Massenteilchen.
Die Gröfse der Verrückung, welche eine Lage eines Sy-
stems in eine andere überführt, heifst auch die Entfernung
oder der Abstand beider Lagen von einander. Die Gröfse
einer Verrückung wird auch als die Länge derselben bezeichnet.
SO Bemerkung. Die Entfernung zweier Lagen eines Sy-
stems von einander ist unabhängig definiert von der Form der
analytischen Darstellung, insbesondere von der Wahl der
Koordinaten des Systems.
ZI Aufgabe. Die Entfernung zweier Lagen eines Systems
durch die rechtwinkligen Koordinaten desselben darzustellen.
Es sei n die Zahl der materiellen Punkte des Systems.
Es sei Xy der Wert einer der rechtwinkligen Koordinaten des
Systems vor der Verrückung, Xy der Wert derselben Koordi-
nate nach der Verrückung. Die Koordinate Xy ist zugleich
Koordinate eines der Punkte des Systems; es sei die Masse
dieses Punktes nty . v läuft von 1 bis 3w, aber nicht alle
TUy sind ungleich, sondern es ist für jedes jm von 1 bis n
Endliche Verriickungen, 63
Ist nun etwa rj die Zahl der Massenteilchen in der Massen-
einheit, so enthält die Masse m^ myti Massenteilchen, und die
Gesamtmasse m des Systems mfj derselben. Berechnet man
mit diesen Bezeichnungen den quadratischen Mittelwert / der
Verriickungen aller Massenteilchen, so folgt für denselben die
positive Wurzel der Gleichung:
3n
m
^1
und diese Wurzel ist also die gesuchte Entfernung, übrigens ist
3n
m
Lehrsatz. Die Entfernung zweier Lagen eines Systems von 32
einander ist stets kleiner als die Summe der Entfernungen
beider Lagen von einer dritten.
Es seien nämlich die ar^, x^, x^,' die rechtwinkligen
Koordinaten der Lagen 1, 2, 3; es seien s^^^ «^g, s^^ die Ent-
fernungen derselben von einander. Wird für den Augenblick
zur Abkürzung gesetzt:
y m y m
so wird
8n 3n 3n
«13 = 2" ^^ ' ^23 = 2" ^^ ^ ^12 = 2" c^"-*^)^ •
111
Gesetzt nun, es wäre ^^j > *i8+*23> ^^ wäre durch Quadrie-
rung zu erhalten *i2— "^fs—'^ls > 2«i3*33, also durch noch-
malige Quadrierung:
^^13^23 "~ (^12 ""^3""%) < ö
Dies ist aber nicht möglich, denn die linke Seite wird durch
Einsetzen der Werte für die « in die Form gebracht:
3n Sn
64 Erstes Buch.
ist also als Summe von Quadraten notwendig positiv. Da
nun also die entgegengesetzte Vermutung unmöglich war, so
mufs stets* sein:
33 Eolgemng. Aus den drei Entfernungen dreier belie-
biger Lagen eines Systems von einander als Seiten ist stets
ein ebenes Dreieck zu zeichnen möglich.
34 Definition b. Richtungsunterschied zwischen zwei Ver-
rückungen eines Systems aus gleicher Anfangslage heifst der
eingeschlossene Winkel eines ebenen Dreiecks, in welchem
die Längen der beiden Verrückungen die einschliefsenden und
die Entfernung ihrer Endpunkte die gegenüberliegende Seite
bilden.
Der Richtungsunterschied zwischen zwei Verrückungen
wird auch der Winkel zwischen ihnen oder ihre Neigung
gegen einander genannt.
35 Bemerkung 1. Die Neigung zweier Verrückungen aus
derselben Lage gegen einander ist unter allen Umständen ein
eindeutig bestimmter, reeller Winkel, kleiner als n.
Denn das Dreieck, welches jene Neigung bestimmt, kann
nach 32 immer gezeichnet werden.
36 Bemerkung 2. Der Richtungsunterschied zwischen zwei
Verrückungen ist unabhängig definiert von der Form der
analytischen Darstellung, insbesondere also von der Wahl der
benutzten Koordinaten.
37 Aufgabe. Den Richtungsunterschied zweier Verrückungen
aus der gleichen Anfangslage auszudrücken durch die recht-
winkligen Koordinaten der Anfangslage und der Endlagen.
Es seien die Xy die Koordinaten der gemeinsamen An-
fangslage, die Xy und Xy die Koordinaten der beiden Endlagen.
/ und /' seien die Längen der beiden Verrückungen, «'«"
der von ihnen eingeschlossene Winkel. Unter Benutzung des
ebenen Dreieckes aus den drei Entfernungen der drei Lagen
erhalten wir:
Endliche Verrückungen, 65
Sn 8n
2 m ss' cos s.s" =2*' ^'^ (^y""^)^ +2" ^^ {^v—^vf
1 1
^^ 2
1
und hieraus
8n
m « s ' cos s[s' = ^y my (»y — Xy) (Xy—Xy) , a)
1
in welcher Gleichung wir uns noch / und s" nach 81a durch
die rechtwinkligen Koordinaten ausgedrückt zu denken haben.
Lehrsatz. Zwei Yerrückungen eines Systems aus gleicher 38
Anfangslage haben den Bichtungsunterschied Null, wenn
die Verrückungen der einzelnen Punkte des Systems in
beiden gleichgerichtet und beziehentlich proportional sind, —
und umgekehrt.
Denn sind die Verrückungen aller Punkte gleichgerichtet
und proportional, so ist für alle v
imter 6 einen für alle v gleichen Faktor verstanden. Es wird
daher die rechte Seite der Gleichung 37a gleich mes^. Es
wird aber femer s"^es\ also nach jener Gleichung cos 5^=1,
also, da s.s" der Innenwinkel eines Dreiecks, *>" = (35).
Umgekehrt, wenn *'*"= 0, cos *Y'=1 ist, so liefert
die Gleichung 37 a durch Einsetzen der Werte von / und ä
und Quadrierung:
//
_3n t2 8n 3^
=
^ 1
3n 3n ^
= ^2l^ ^"^Z* [(«i^'-ajy) {X^—Xfi) - [Xlr-Xfj) {XyXy)]
3n -2 3n 3n
2" ^y {Xy—^^l) {Xy—X^ — ^y rriy {Xy—XyY ' ^V myi^y—X^
1 -1 1 • 1
und dies ist nur möglich, wenn für jedes jtt und v
77 ~~ 7
womit auch die ümkehrung bewiesen ist.
H«rtz, Mechanik. f>
66 Erstes Buch,
89 Eolgernng 1. Haben zwei Yerrückungen aus derselben
Anfangslage den Bichtungsunterschied Null gegen eine dritte
Verrückung aus der gleichen Lage, so haben sie den Eich«
tungsunterschied Ntdl gegen einander.
AUe Verrückungen, welche den Winkel Null mit einer
bestimmten Verrückung bilden, bilden also mit einander den
Winkel Null. Das Gemeinsame aller solcher Verrückungen
heilst die Bichtung derselben.
40 Folgerung 2. Wenn zwei Verrückungen eines Systems
gleiche Bichtung haben, so haben sie gleichen Bichtungsunter-
schied mit jeder dritten Verrückung.
Alle Verrückungen von gleicher Bichtung aus gleicher
Lage bilden also denselben Winkel mit allen Verrückungen,
welche eine andere gleiche Bichtung haben. Dieser gemein-
same Winkel heifst auch der Winkel der Bichtungen gegen
einander oder der Unterschied der beiden Bichtungen.
41 Definition. Zwei Verrückungen eines Systems heifsen
identisch, wenn die Verrückungen der Punkte des Systems
in beiden identisch sind. Zwei Verrückungen eines Systems
heifsen gleich, wenn die Verrückungen der einzelnen Punkte
in beiden gleich sind. Zwei Verrückungen eines Systems
heifsen gleichgerichtet oder parallel, wenn die Verrückungen
der einzelnen Punkte in beiden gleichgerichtet und beziehent-
lich proportional sind.
42 Eolgenmg. Zwei Verrückungen eines Systems aus ver-
schiedener Anfangslage sind gleichgerichtet, wenn jede von
ihnen gleiche Bichtung hat mit einer Verrückung, welche durch
ihre Anfangslage geht und der anderen Verrückung gleich
ist, — und umgekehrt.
48 Zusatz. Bichtungsunterschied zweier Verrückungen eines
Systems aus verschiedener Anfangslage heifst der Winkel
zwischen jeder von ihnen und einer zu der anderen parallelen
Verrückung aus ihrer Anfangslage.
44 Aufgabe. Den Winkel zwischen zwei beliebigen Ver-
rückungen eines Systems auszudrücken durch die rechtwink-
ligen Koordinaten ihrer vier Endlagen.
Endliehe Verrüokungen. 67
Es seien s' und ä" die Gröfsen der beiden Verrückungen
und s/' ihr Winkel. Es seien die Xy und x^ die Koordinaten
der Anfangs- und Endlage der ersten, die arj und Xy die
Koordinaten der Anfangs- und Endlage der zweiten Verrückung.
£}ine Verrückung, deren Anfangskoordinaten die Xy sind, und
deren Endkoordiriaten den Wert Xy+Xy—xS haben, hat
gleiche Anfangslage mit der ersten und ist der zweiten gleich.
Sie bildet also mit der ersten den gesuchten Winkel, für
welchen also die Gleichung folgt:
Bn
ms 8 cos 8,8 = ^y my \Xp--Xy) (Xy—av) .
Der gleiche Wert wird erhalten, wenn wir eine Ver-
rückung durch die Anfangslage der zweiten und gleich der
ersten legen, und den Winkel zwischen dieser und der zweiten
bestimmen.
Unsere Definition im Zusatz 43 war also eindeutig imd
daher zulässig.
Definition. Zwei Verrückungen eines Systems heifsen 45
senkrecht auf einander, wenn der Winkel zwischen ihnen ein
rechter ist.
Folgerung 1. Die hinreichende und notwendige analy- 40
tische Bedingung dafür, dafs zwei Verrückungen senkrecht
auf einander stehen, ist die Gleichung:
8n
^ y my {xp—xi) (ajy — iCy) = ,
1
in welcher Gebrauch gemacht ist von den Bezeichnungen der
Aufgabe 44.
rolgenmg 2. In einem System von n Funkten ist 47
aus einer gegebenen Lage eine (3w — l)fache Mannigfaltigkeit
von Verrückungen, also eine (3 w — 2) fache Mannigfaltigkeit
Ton Eichtungen denkbar, welche auf einer gegebenen Richtung
«enkrecht stehen.
Definition. Komponente einer Verrückung in einer ge- 4^
gebenen Richtung heifst eine Verrückung, deren Richtung die
68 JSh-stes Buch.
gegebene Richtung ist, und deren Gröfse gleich der Vertikal-
projektion der Gröfse der gegebenen Verrückung innerhalb des
Winkels ist, welchen die gegebene Verrückung mit der ge-
gebenen Richtung bildet.
Ist also die Gröfse der gegebenen Verrückung s, und bildet
sie mit der gegebenen Richtung den Winkel g>, so ist ihre
Komponente in dieser Richtung gleich s cos cd.
Die Gröfse der Komponente in gegebener Richtung wird
gewöhnlich schlechthin die Komponente in dieser Richtung
genannt.
Zusammensetzung der Verruckungen.
49 Bemerkxmg. Werden einem System mehrere Verrückungen
erteilt, welche gegebenen Verrückungen gleich sind, und welche
sich so an einander schliefsen, dafs die Endlage der voraus-
gegangenen Verrückung die Anfangslage der folgenden ist,
so ist die erreichte Endlage unabhängig von der Reihenfolge
der Verrückungen.
Denn dies gilt für die Verruckungen^ welche die einzelnen
Punkte dabei erleiden, also für das System.
50 Definition 1. Eine Verrückung, welche das System in
dieselbe Endlage überfuhrt, wie eine Reihe aneinandergefügter
Verrückungen, welche gegebenen Verrückungen gleich sind,
heifst die Summe jener gegebenen Verrückungen.
51 Definition 2. Differenz zwischen einer erstgenannten und
einer zweitgenannten Verrückung heifst eine Verrückung, deren
Summe mit der zweitgenannten die erstgenannte ergiebt.
52 Eolgenmg (aus 49). Die Addition und Subtraktion der
Verrückungen unterliegt den Regeln der algebraischen Ad-
dition und Subtraktion.
Unendlich kleine Verrückungen. 69
Abschnitt 3. Unendlich kleine Yerrflcknngen und
Bahnen der Systeme materieller Pnnkte.
Torbemerknng. Wir behandeln von hier ab den ein- 58
zelnen materiellen Punkt nicht mehr gesondert, sondern
schliefsen seine Betrachtung in die Betrachtung der Systeme
ein. Es ist daher im folgenden stets Ton Verrückungen der
Systeme die Bede, auch wo dies nicht besonders bemerkt wird.
Unendlich kleine VerrOcIcungen.
Erläuterung. Eine Yerrückung heifst unendlich klein, 54
wenn ihre Länge unendlich klein ist.
Lage der unendlich kleinen Yerrückung heifst eine Lage,
welcher die Grenzlagen der Verrückung unendlich nahe liegen.
Eine unendlich kleine Verrückung ist nach Bichtung und
Grofse bestimmt durch die Angabe ihrer Lage und der un-
endlich kleinen Änderungen, welche die Koordinaten des
Systems durch die Verrückung erleiden.
Aufgabe la. Die Länge ds einer unendlich kleinen 5&
Verrückung auszudrücken durch die Änderungen dx^ der 3n
rechtwinkligen Koordinaten des Systems.
Lidem wir in Gleichung 31a x^—Xy ersetzen durch dr^,
erhalten wir
Sn
m dS^ = ^^ flfhy d^
i
Angabe Ib. Den Winkel s^s der beiden unendlich 56
kleinen Verrückungen ds und ds' auszudrücken durch die
Änderungen dxy und dxy der 3n rechtwinkligen Koordinaten
des Systems.
Indem wir in Gleichung 44 für x'^-^x^ setzen d!r, und
für Xy—x% setzen dx^^ erhalten wir
8n
m ds ds cos s,s = 2*' ^y ^^v dXy .
70 Erstes Buch.
Die Lösung gilt, ob beide Verrückimgeii gleiche Lage haben
oder ob nicht.
57 Anfjg^be 2a. Die Länge ds einer unendlich kleinen
verrtlckung auszudrücken durch die Änderungen dp^ der r
allgemeinen Koordinaten pg des Systems.
Die rechtwinkligen Koordinaten x^ sind Funktionen der
Pq und zwar der p^ allein, da sie durch diese vollständig be-
stimmt sind, und da Yerrückungen des Systems, welche nicht
durch Änderungen der p^ darstellbar sind, als von der Be-
trachtung ausgeschlossen gelten (13). Setzen wir zur Ab-
kürzung
V dXy _
SO bestehen denmach 3n Gleichungen von der Form:
r
1^) dXp = 2^ ayg dpg ,
1
in welchen die a^^ P\inktionen der Lage sind, also als Funk-
tionen der Pq aufgefafst werden können. Setzen wir die Werte
b) in Gleichung 55 ein, und setzen noch zur Abkürzung
so erhalten wir als Lösung der Aufgabe:
r r
d) ds^ = S^^"" ^Q^ ^Pq ^P^ '
1 1
58 Aufgabe 2b. Den Winkel Sys' zweier unendlich kleiner
Yerrückungen von der Länge ds und ds' und gleicher Lage
auszudrücken durch die Änderungen dp^ und dp'^ der r allge-
meinen Koordinaten p^ des Systems.
Wir bilden die Werte der dx'^ nach Gleichung 57 b und
setzen diese und die Werte für dx^ in Gleichung 56 ein. Wir
beachten, dafs für beide Verrückungen die Werte der Koordi-
ünmcUich kleine Verrüokungen. 71
naten selbst, also die der Gröfsen cCq^ gleich sind, und wir
erhalten:
r r
ds d% COS «,a' = x9x? ^Q(r ^Pq ^P(t
1 1
Eigenschaften der a^a ^uid aq^ . Einfahrnng der b^^ •
1. Für alle Werte der (),<7, r ist: (vergl. 57a) 59
2. Für alle Werte von q und g ist: (vergl. 57 o) 60
3. Die Zahl der Gröfsen a^a ist gleich 3nr; die 61
Zahl der von einander verschiedenen Gröfsen a^a ist gleich
\r{r+l).
4. Für alle q ist 62
Für alle Werte von q und a ist
Denn es ist die rechte Seite der Gleichung 57 d nach
ihrer Ableitung aus Gleichung 55 eine notwendig positive
Gröfse, welches auch die Werte der dp^ sind. Hierfür sind
die vorstehenden Ungleichheiten notwendige Bedingungen.
5. Für alle Werte der p, ö-, r gilt die Gleichung: 68
^öa^n . öa^\ Ida^ . dam . dug^
Um die Gleichung zu beweisen, setzt man rechts die Werte
72 Erstes Buch.
der a^ aus Gleichung 57 e ein und macht Gebrauch von den
Eigenschaften der a^^ nach 59.
64 6. Die Determinante aus den r^ Gröfsen a^a sei a.
Der Faktor von a^ in a, dividiert durch a, soU dauernd
bezeichnet werden mit 3^^. Es ist also als Definition
b cr = — —
^^ A da^a
Für alle Werte von q und <r ist dann
Die Zahl der von einander verschiedenen Gröfsen b^a ist gleich
ir(r+l).
65 7. Der Wert des Ausdrucks
2^ ci^Qc h
Q7C
ist gleich Eins, sobald £ = x ist; jener Wert ist gleich Null,
sobald i und x verschieden sind.
r
Denn ist « = x, so stellt der Ausdruck ^e a^^b^^ A die
1
Determinante a selbst dar. Ist aber i von x verschieden, so
stellt er eine Determinante dar, welche aus a entsteht, indem
die Reihe a^^ ersetzt wird durch die Eeihe der a^,. In dieser
Determinante sind also zwei Reihen gleich, und ihr Wert
ist Null.
66 8. Es gelten für alle Werte der i und x die beiden
Gleichungen:
2^ 2<' bga CIqi Ct(Tx = €ii
1 1
r r
r T
1 1
Man bilde nach 65 den Wert des Ausdrucks 2^ ^e» ^e«
Unendlich kleine Verrückungen, 73
r
bez. 2^ a^a igt für alle Werte des a yon 1 bis r, man multi-
1
pliziere die entstandenen Gleichungen der Reihe nach mit
a„^ bez. b„M und addiere, so folgen die Gleichungen.
9. Bestimmte Änderungen der Gröfsen a^ haben be- 67
stimmte Änderungen der Gröfsen b^a zur Folge. Bezeichnen
da^ und db^^ beliebige zusammengehörige Variationen der
a^ und b^aj so gelten die Gleichungen:
r r
TT T^
1 1
Man variiere die Gleichungen 66 und mache Gebrauch
Yon den Beziehungen 65, so folgen die Gleichungen.
10. Variiert man in den «^ und i^ nur eine be- 68
stimmte Koordinate p^^ von welcher sie abhängen, so folgt
insbesondere für jeden Wert des t
2^^" ^''^ ^''* '^ ^ ""
1 1
^e^o „j. e*,K ^^^ ^^^
>e ^^^ on, Örrx ir-^ = —
Xf^ y^, ^qi^ax
dpr dp^
Verruckungen in Richtung der Koordinaten.
Definition 1. Verrückung in Richtung einer bestimmten 69
Koordinate heifst eine unendlich kleine Verrückung, bei
welcher sich nur diese eine Koordinate, nicht aber die übrigen
gleichzeitig benutzten ändern.
Die Richtung aller Verrückungen in Richtung derselben
Koordinate aus derselben Lage ist dieselbe; sie heifst die
Richtung der Koordinate in dieser Lage.
74 Erstes Buch.
70 Bemerkung^. Die Richtung einer Koordinate hängt ab
von der Wahl der übrigen, gleichzeitig benutzten Koordinaten
des Systems.
71 Definition 2. Beduzierte Komponente einer unendlich
kleinen Verrückung in Richtung einer bestimmten Koordinate
heifst die Komponente der Verrückung in Richtung der Koor-
dinate (48, 69), dividiert durch die Anderungsgeschwindigkeit
der Koordinate bei einer Verrückung in ihrer eigenen Richtung.
Die reduzierte Komponente in der Richtung einer Koor-
dinate nennen wir auch kurz die Komponente nach der
Koordinate.
Man spricht also von der Komponente einer beliebigen
Verrückung in einer beliebigen Richtung, aber man kann nicht
sprechen von der reduzierten Komponente in einer beUebigen
Richtung, sondern nur von der reduzierten Komponente einer
unendlich keinen Verrückung in der !Etichtung einer Koordinate.
72 Aufgabe la. Die Neigung s,x^ der Verrückung ds
gegen die rechtwinklige Koordinate x^ durch die 3n Ände-
rungen dx^ auszudrücken.
In Gleichung 56 setzen wir die dxy gleich Null für alle v
mit Ausnahme des bestimmten i/, auf welches sich die Aufgabe
bezieht. Dann ist die Richtung von ds nach 69 die von Xy,
und der Winkel *,/ wird der gesuchte Winkel. Da femer
alsdann nach 55 m ds'^ = niy cür^^, so wird als Lösung der
Aufgabe erhalten:
ds GO^ s.Xp =y —^ dxy ,
r m
m
worin für ds sein Wert in den dxy einzusetzen ist.
73 Aufgabe Ib. Die Komponenten dx^ der Verrückung
ds nach den rechtwinkligen Koordinaten x^ durch die Ände-
rungen dxy der Koordinaten auszudrücken.
Setzen wir in der vorigen Aufgabe s.x, = 0, so erfolgt
die Verrückung ds in Richtung der Koordinate ar^, und wir
erkennen, dafs die Anderungsgeschwindigkeit der Koordinate
bei einer Verrückung in ihrer eigenen Richtung gleich dx^ : ds
also gleich 'frnjmy ist. Die linke Seite der Gleichung 72 stellt
Unendlich kleine Verrüchmgen. 75
schon die Komponente von ds in Bichtnng von x^ dar; divi-
dieren wir also die Gleichung durch ymjm^ , so erhalten wir
(71) als Lösung der Aufgabe:
uXy — uXv m
m
Aufgabe lo. Die Änderungen dxy der rechtwinkligen 74
Koordinaten bei einerVerrückung auszudrücken durch die redu-
zierten Komponenten der Verrückung nach jenen Koordinaten.
Die Lösung der vorigen Aufgabe giebt unmittelbar:
Aufgabe 2a. Die Neigung s,Pq der VenUckung ds 75
gegen die allgemeine Koordinate p^ durch die r Änderungen
dp^ auszudrücken.
Li Gleichung 58 setzen wir die dp^ gleich Null für alle
Q mit Ausnahme des bestimmten q, auf welches sich die Auf-
gabe bezieht. Die Richtung von ds' ist alsdann nach 69 die
von pg , und der Winkel s,s wird der gesuchte Winkel. Da
gleichzeitig nach 57 ds'^ =^ a^dp'^ wird, so erhalten wir als
Lösung der Aufgabe:
r
\a^ ds cos s^Pq = ^^ aga dp^ ,
1
worin für ds sein Wert in den dp„ einzusetzen ist.
Anmerkung 1. Setzen wir in der Lösung der vorigen 76
Aufgabe alle dp^ gleich Null mit Ausnahme eines bestimmten
dp^y so wird die Richtung von ds die Richtung dieser Koordi-
nate pa , und der Winkel s,pg geht über in den Winkel PoiP^f
welchen die Koordinate p^ mit der Koordinate pg bildet. Da
gleichzeitig alsdann ds^ ^ a^adp^ wird, so erhalten wir für
diesen Winkel:
^O^PgjPq =
Ctga
Dieser Winkel ist nach 62 stets ein reeller Winkel.
76 Erstes Buch.
77 Anmerknng^ 2. Die Koordinaten p^ heifsen orthogonal,
wenn jede von ihnen in jeder Lage auf allen übrigen senk-
recht steht Die hinreichende und notwendige Bedingung
hierfür ist (76), dafs alle a^a, Air welche p und <r verschieden
sind, verschwinden. Die rechtwinkligen Koordinaten sind ein
Beispiel orthogonaler Koordinaten.
78 Aufgabe 2b. Die Komponenten dp^ der Verrückung ds
nach den Koordinaten pg auszudrücken durch die Änderungen
dpg dieser Koordinaten bei der Verrückung.
Setzen wir in Gleichung 75 s,pg gleich Null, so erfolgt
die Verrückung ds dieser G-leichung in Richtung von p^ ; alle
dpa sind also Null, ausser dp^y und die Gleichung wird also
yä^ds = Uqq dpg . Die Änderungsgeschwindigkeit von p^ mit
einer Verrückung in ihrer eigenen Richtung ist also l/'^a^Q .
Bedenken wir, dafs nach 4S ds cos s,pg die Komponente von
ds in der Richtung von p^ ist, und beachten die Definition 71,
so erkennen wir, dafs die linke Seite der Gleichung 75 bereits
die reduzierte Komponente nach p^ darstellt, und wir erhalten
also die Beziehung:
a) dpQ = Va^ds cos s^pg
also als Lösung der Aufgabe:
r
b) dpg = ^o aQff dpff .
79 Aufgabe 2o. Die Änderungen dp^ der Koordinaten bei
Ausführung der Verrückung ds auszudrücken durch die Kom-
ponenten dpg der Verrückung nach den Koordinaten pg .
Die Auflösung der Gleichungen 78 b unter Benutzung der
Bezeichnung von 64 ergiebt unmittelbar:
r
dpg = ^O bgff dpa .
1
80 Aufjg^be 8a. Die Komponenten dp^ einer Verrückung
nach den allgemeinen Koordinaten p^ auszudrücken durch die
Unendlich kleine Verrückungen. 11
Komponenten dx^ der Verrückung nach den rechtwinkligen
Koordinaten des Systems.
Wir erhalten der Reihe nach unter Benutzung von 78,
57 e, 57b, 74:
r T 8n
dpq = ^ a^<T dpa ^^^ZT % ^w dpa
1 1 1 ^'^
3n 8n
= yy — ^pq dXy = ^ » ^,,« C?Xy
Aufgabe 3b. Die Komponenten d£^ einer Verrückung Sl
nach den rechtwinkligen Koordinaten x^ auszudrücken durch
die Komponenten dp^ der Verrückung nach den allgemeinen
Koordinaten p^ des Systems.
Wir erhalten der Beihe nach unter Benutzung von 78,
57 b, 79:
wi« _ wi.
dXy ^ -^ dXy === -^ ^c ttvadpi
tn m ^
r
m
""^^^ "^^ 2^ *?^ ^PQ '
m ^
also, wenn wir zur Abkürzung setzen
r
-^ 2'' ""^ h^ ^ P"^ ' *^
m ,
folgt als Lösung der Aufgabe:
r
dXy = 2^ /9y^ dpq . b)
1
Aufgabe 4. Die Länge einer unendlich kleinen Verrückung 82
auszudrücken durch ihre reduzierten Komponenten nach den
Koordinaten des Systems.
Wenden wir die allgemeinen Koordinaten /7^ an, so er-
halten wir durch successive Anwendung von 78 b und 79 auf
Gleichung 57 d nach einander:
78 Erstes Buch.
r r
ds^ = 2^2*^ ^Q^ ^Pq ^<
1 1
= 2« dpf dp^
r r
= 2^2*' h^ ^pQ ^p^ •
1 1
88 Wenden wir insbesondere die rechtwinkligen Koordinaten
an, so erhalten diese Gleichungen die Form:
^ m ^
Bn
= 2** ^^ d^*
1
3n
= ^r — dx
-^ my
V
84 Aufgabe 6a. Den Winkel zwischen zwei unendlich
kleinen Yerrückungen beliebiger Lage auszudrücken durch
die reduzierten Komponenten der beiden Verrückungen nach
den rechtwinkligen Koordinaten.
Durch successive Anwendung von 78 und 74 auf Gleichung
56 erhalten wir nach einander die Formen:
8« ^
ds ds cos 8,8 =s ^ — dXp dXp
1 ^
3« Bn
= 2" ^^v dXp = 2*' ^^y dXp
1 1
3n
= ^^ dXy diy
1 Wl^
Hierin haben wir für die ds und ds' ihre Werte in den
dJt^ nach 83 einzusetzen.
Unendlich kleine Verrückungen, 79
Aufgabe 6b. Den Winkel zwischen zwei unendlich klei- 85
nen Verrückungen aus der gleichen Lage anszudrücken durch
die Komponenten der beiden Yerrückungen nach den allge-
meinen Koordinaten p^ .
Durch successive Anwendung von 78 und 79 auf Gleichung
58 erhalten wir nach einander die Formen:
r r
dS dS COS 8jS = ^6^" dqa dpg dpa
1 1
r
= 2^ dpgdp'g = ^edp^dp^
1
r r
= ^^^ ^Q(y dpQ dP(T •
1 1
Hierin sind wieder fllr die ds und ds' ihre Werte in
den dpQ nach 82 einzusetzen.
Aufgabe 6. Den Winkel zweier unendlich kleiner Ver- 86
rückungen auszudrücken durch die Winkel, welche beide mit
den Koordinaten des Systems bilden.
Wir dividieren die letzte der Gleichungen 85 durch dsds'
und beachten, dafs nach 78 a
yö^cos s,pg = -^ , yö^cos spg = -^ ;
wir erhalten so als Lösung der Aufgabe:
r r
cos 8yS = ^^^'^ ^Q^ Vö^^T^ ^^^ ^'PQ ^^^ ^^P^
1 1
Wenden wir rechtwinklige Koordinaten an, so erhält die 87
vorstehende Gleichung die besondere Form:
8n
COS s,S = 2*' ^^^ ^y^y ^^8 ^\^v •
1
Es ist zu bemerken, dass die Gleichung 86 gleiche Lage
der beiden Verrückungen voraussetzt, während die Gleichung
^7 von dieser Voraussetzung frei ist.
80 Erstes Buch.
88 Lelirsatz. Die r Winkel, welche eine beliebige Bicbtung
in einer bestimmten Lage mit den Richtungen der r allge-
meinen Koordinaten daselbst bildet, sind verbunden durch die
Gleichung:
2^2" ^9^ rö^T^^COS 8,pq cos 8,pa = 1
1 1
Denn diese Gleichung folgt, wenn wir in 86 die Sich-
tungen Yon ds und ds' zusammenfallen lassen.
89 Folgerung. Insbesondere genügen die 3n Winkel, welche
eine beliebige Verrückung des Systems mit den rechtwink-
ligen Koordinaten des Systems bildet, der Gleichung
S.n
2" ^^s^ ^y^p = ^
Benutzung partieller DlfTerentialquotienten.
90 Bezeichnung. Durch die Werte der Koordinaten p^ ihrer
Lage und der Änderungen dp^ derselben ist die Länge ds
einer unendlich kleinen Verrückung bestimmt. Andern wir
eins jener Bestimmungsstücke, während die übrigen constant
gehalten werden, so soll das entsprechende partielle Differen-
tial von ds mit dpds bezeichnet werden.
Betrachten wir dagegen, was ebenfalls zulässig ist, die
Koordinaten p^ und die Komponenten dp^ nach ihnen als die
unabhängigen Bestimmungsstücke von ds, so soll das ent-
sprechende partielle Differential von ds mit d^ds bezeichnet
werden.
Andere partielle Differentiale von ds sind selbstyerständ-
lich möglich, aber es ist für unseren Zweck nicht nötig, sie
zu bezeichnen, sondern es bleibt für sie das gewöhnliche,
jedesmal durch eine Worterklärung näher zu bestimmende
Zeichen dds yorbehalten.
91 Bemerkung 1. Die Komponenten einer Verrückung nach
den Koordinaten lassen sich als. partielle Differentialquotienten
Unendlich kleine Verrüekimgen, 81
der Länge der Verrückting darstellen, und zwar geschieht
dies in der Form:
1 dpds^ _ dpds
^P9 =^ 2±hr =- ^'
Man differentiiere die Gleichung 57 d und beachte 78.
Bemerkung 2. Die Neigung einer unendlich kleinen Ver- 92
rückung gegen die Koordinate pg kann mit Hülfe der par-
tiellen Differentialquotienten ihrer Länge dargestellt werden.
Und zwar geschieht dies in der Form:
Va^^ cos «,|)^ = -|^ .
Man beachte 91 und 78.
Anmerkung. Werden insbesondere in den Bemerkungen 93
1 und 2 rechtwinklige Koordinaten angewandt, so erhält man
dds
r m
'•»
m^ dds
cos s,Xv = ^T- ' *^
wobei die Bedeutung der partiellen Differentiale aus dem
vorigen hervorgeht.
Bemerkung 3. Die Änderungen, welche die Koordinaten 94
Pq bei Durchlaufung einer unendlich kleinen Verrückung er-
leiden, lassen sich als partielle Differentialquotienten der Länge
der Verrückung darstellen. Und zwar geschieht dies in der
Form:
, 1 dgds^ , dgds
Man beachte die Gleichungen 82 und 79.
Hertz, Mechanik. 6
82 Erstes Buch.
95 Bemerkung 4. Für alle Werte des Index r besteht
zwischen den partiellen Differentialquotienten von ds die
Gleichung:
d^ds dgds
a) -^ — = — ^
Ö/?r Öp,
Denn es ist:
dpds ___ 1 '^ ^ ^^Qo
~dp^ "" 2ds ^^ dp^
dpg dp^
und
Setzen wir in der ersteren Form für die dp^ und dp„
ihre Werte in den dp^ und dp„ nach 79, und beachten die
Beziehungen 68 und die zweite Form, so folgt die Behauptung.
Ebenso wenn wir in gleicher Weise von der zweiten Form
ausgehen.
96 Lehrsatz. Erleidet die Lage einer unendlich kleinen Ver-
rückung zweimal dieselbe Veränderung, während gleichzeitig
das eine Mal die Komponenten nach den Koordinaten, das
andere Mal die Änderungen der Koordinaten die ursprüng-
lichen bleiben, so ist die Änderung der Länge der Verrückung
in beiden Fällen entgegengesetzt gleich.
Da im zweiten Falle die Sdp^^O sein sollen, während
die Koordinaten p^ die Änderungen Sp^ erleiden, so ist die
Änderung der Länge der Verrückung:
a) V« = 2-^^?T .
Ln ersten Falle sollen die Sdp^^O sein, während die
Koordinaten dieselben Änderungen Sp^ erleiden, es ist also jetzt:
Bahnen der Systeme. 83
Aus beiden Gleichungen a) und b) und der Bemerkung 4
folgt
Spds = — Sqds , c)
welches die Behauptung ist.
Bahnen der Systeme.
Erläuterungen.
1. Die gleichzeitig vorgestellte Gesamtheit der Lagen, 97
welche ein System beim Übergang aus einer Lage in die andere
durchläuft, heifst eine Bahn des Systems.
Eine Bahn kann auch betrachtet werden als die gleich-
zeitig vorgestellte Gesamtheit der Verrückungen, welche das
System beim Übergang aus der einen in die andere Lage
erleidet.
2. Ein Teil der Bahn, welcher durch zwei unendlich nahe 98
Lagen begrenzt wird, heifst ein Bahnelement. Ein Bahn-
element ist eine unendlich kleine Verrückung; es hat eine Länge
und eine Richtung.
3. Richtung der Bahn eines Systems in einer bestimmten 99
ihrer Lagen heifst die Bichtung eines dieser Lage unendlich
benachbarten Bahnelements.
Länge der Bahn eines Systems zwischen zwei ihrer Lagen
heifst die Summe der Längen der Bahnelemente zwischen
diesen Lagen.
Analytische Darstellung. Die Bahn eines Systems wird 100
analytisch dargestellt, indem die Koordinaten ihrer Lagen an-
gegeben werden als Funktionen einer und derselben, übrigens
beliebigen Variabein. Jeder Lage.der Bahn ist dann ein Wert der
Variabein zugeordnet. Als unabhängige Variabele kann eine
der Koordinaten selbst dienen. Sehr häufig ist es zweck-
mäfsig, als unabhängige Variabele die Länge der Bahn, von
einer bestimmten Lage der Bahn ab gerechnet, zu benutzen.
Die Diflferentialquotienten nach dieser bestimmten Variabelen,
6*
84 Erstes Buch.
also nach der Bahnlänge, sollen in Lagbange's Weise durch
Accente bezeichnet werden.
101 Definition 1. Die Bahn eines Systems heilst gerade, wenn
sie in allen ihren Lagen die gleiche ßichtung hat.
102 Folgernng. Beschreibt ein System eine gerade Bahn, so
beschreiben seine einzelnen Punkte gerade Linien, deren
Längen, von der Ausgangslage an gerechnet, einander be-
ständig proportional bleiben. (38).
103 Definition 2. Die Bahn eines Systems heilst krumm,
wenn sich die Richtung der Bahn von Lage zu Lage ändert.
Die Anderungsgeschwindigkeit der Richtung mit der Bahn-
länge heifst die Krümmung der Bahn.
Die Ki-ümmung der Bahn ist also der Grenzwert des Ver-
hältnisses zwischen dem Bichtungsunterschied und der Ent-
fernung zweier benachbarter Bahnelemente.
104 Anmerkung. Der Wert der Krümmung ist hierdurch de-
finiert unabhängig von der Form der analytischen Darstellung,
also insbesondere unabhängig von der besonderen Wahl der
Koordinaten des Systems.
105 Aufgabe L Die Krümmung c der Bahn auszudrücken
durch die Änderungen der Winkel, welche die Bahn mit den
rechtwinkligen Koordinaten des Systems bildet.
Es sei de der Winkel zwischen der Richtung der Bahn
am Anfang und am Ende des Bahnelementes ds» Dann ist
nach Definition (103):
de
c =
ds
Es seien femer die coss,Xy die Cosinus der Winkel, welche
die Bahn am Anfange von ds mit den Xy bildet, und es seien
coss,Xy+ dcoss,Xy die Werte der gleichen Gröfsen am Ende
von ds. Dann ist nach Gleichung 87:
3»
s
T
cos (dt) = 2*' ^^S ^y^v (cos SyXp + dcos S^v)
Bahnen der Systems, 85
Es ist aber femer nach Gleichung 89 sowohl
3n
^v COS^ S^p = 1 ,
1
als auch
8n
S
1
^v (cos sflv + rfcos s,av)^ = 1
Indem wir das Doppelte der ersten Gleichung subtrahieren
von der Summe der beiden letzteren, erhalten wir:
3n
2 — 2 cos (rf«) = d^ = 2" (^^os 8,x^^ ,
1
also durch Division mit ds^ die Lösung der Aufgabe;
2 -^ /rfcos S,Xy\ *
= 2
C"= ^v
Angabe 2. Die Ej*ümmung der Bahn darzustellen durch 106
die Änderungen der rechtwinkligen Koordinaten des Systems
mit der Bahnlänge.
Unter Berücksichtigung von 72 haben wir (100):
_ 1 y^7 '
\^Xy y — . Xy 9
also
cos 5,
m
(cos5,a;,)'=|/j^.
m
also nach 105 als Lösung der Aufgabe:
8n
1
Aufgabe 3. Die Krümmung der Bahn darzustellen durch 107
die Änderungen der rechtwinkligen Koordinaten, dieselben be-
trachtet als Funktionen einer beliebigen Variabelen r.
86 M-stes Buch,
Nach den Regeln der DifiFerentialrechnung ist
„ d fdxy dx
JUp ^^ ~T'
dsxdx ds
) "" (dsj {drdi^ d^'d?\ •
Setzen wir diesen Ausdruck in c^ ein, und beachten,
dafs (56)
lds\^ 4a /eÄr,\2
also
3n
c/ä d^s ^ dir. rf2^.
"Wil
^> '^dTd^'^^-'-^dTdr^
ist, so folgt als Lösung der Aufgabe:
'<fe\* o ^ Id^x.V liPsV
av.i.«,fer-
c) rn\-y-\c^= yymy\^-^\ -m
worin für c/ä/ä und d^sjdr^ noch ihre Werte aus den
vorigen Gleichungen zu setzen sind.
lOS Aufgabe 4. Die Krümmung der Bahn darzustellen durch
die Änderungen der allgemeinen Koordinaten p^ des Systems
mit der Bahnlänge.
Wir fuhren in den Ausdruck 106 an Stelle der recht-
winkligen Koordinaten die p^ ein, indem wir die x^ ausdrucken
durch die p^ und p^. Zunächst ist nach 57 b
r
t "^
also
V — x9 ^vqPq j
1
also
r r
1 1
Bahnen der Systeme. 87
Man bilde diese Gleichungen für alle v , multipliziere eine (108)
jede mit m^/m, und addiere alle. Links entsteht c^. Rechts
kann die Summation nach v mit Hülfe der schon eingeführten
Grössen «^ in den ersten beiden Gliedern ausgeflihrt werden.
Im ersten Glied ergiebt die Summation immittelbar nach 57 e
a^. Als Faktor von pa im zweiten Gliede wird nach einander
erhalten:
*• 3n r r ^^ m da
r r
, , IdOga . da^a da.
- 2-2-Ä?'. S^ + ^ - ^ c«-^ «)
1 1
r r
-l/2'M'^^-
ßPx dpg dp,
da,^ dügx
1 1
ÖPr Öpc
Beim Übergang von der zweiten in die dritte Form und
von der vierten in die fünfte Form ist Gebrauch gemacht
von der Bemerkung, dafs, wenn P{Q,<y) ein beliebiger Aus-
druck ist, welcher die Indices q und a enthält, alsdann
identisch
2^2<'J^(M = 22<'^(M •)
11 11
ist.
Der Faktor des dritten Gliedes läfst sich nicht durch die
a^a ausdrücken. Um im Endresultat die Beziehung auf die
rechtwinkligen Koordinaten gleichwohl verschwinden zu lassen,
sei gesetzt:
88 Erstes Buch.
Es wird dann schliefslich erhalten als Lösung der Auf-
gabe:
^) C' = SS'' \<^(^P9P^ + 2 (2 1? - ^^]pQPrP^
1 1
dpr dp.
r r \
+ 2^2* <^9^h^P9PoPM
1 1 i
Hierin sind also die a^a die in 67 eingeführten Funk-
tionen der Pq ; die a^;i^ sind als neu eingeführte Funktionen
derselben Grössen anzusehen. Die Zahl dieser neu einge-
führten Funktionen beträgt ^r*(r+l)2.
Abschnitt 4. Mögliche und unmögliche Verrückungen.
Materielle Systeme.
Erläuterungen.
#
109 1. Zwischen einer Anzahl von materiellen Punkten be-
steht ein Zusammenhang, wenn aus der Kenntnis eines Teils
der Komponenten der Verrückungen dieser Punkte eine Aus-
sage in Bezug auf die übrigen Komponenten möglich ist.
110 2. Wenn zwischen den Punkten eines Systems Zu-
sammenhänge bestehen, so ist damit ein Teil der denkbaren
Verrückungen des Systems von der Betrachtung ausgeschlossen,
diejenigen Verrückungen des Systems nämlich, deren Statt-
finden den vorausgesetzten Aussagen widersprechen würde.
Umgekehrt bildet jede Aussage, dafs von den denkbaren Ver-
rückungen des Systems ein Teil von der Betrachtung • aus-
zuschliefsen sei, einen Zusammenhang zwischen den Punkten
des Systems. Die Zusammenhänge der Punkte eines Systems
sind vollständig gegeben, wenn für jede denkbare Verrückung
des Systems bekannt gegeben ist, ob dieselbe zur Betrach-
tung zugelassen oder von derselben ausgeschlossen sei.
Materielle Systeme. 89
3. Die zur Betrachtung zugelassenen Verrückungen 111
heifsen mögliche Verrückungen, die übrigen unmögliche. Die
möglichen Verrückungen werden auch virtuelle genannt. Mög-
liche Verrückungen heifsen sie stets, wenn sie als engerer
Begriff den * denkbaren gegenübergestellt werden; virtuelle
Verrückungen werden sie nur dann genannt, wenn sie als
weiterer Begriff einem engeren, z. B. den wirklichen Ver-
rückungen entgegengestellt werden.
4. Mögliche Bahnen heifsen alle Bahnen, welche sich ii2
aus möglichen Verrückungen zusammensetzen. Mögliche Lagen
sind alle Lagen, welche durch mögliche Bahnen erreicht wer-
den können.
5. Es sind also alle Lagen möglicher Bahnen mögliche 113
Lagen. Aber es geht aus dem Gesagten nicht hervor, und
es soll auch nicht gesagt sein, dafs jede denkbare Bahn durch
mögliche Lagen auch eine mögliche Bahn sei. Vielmehr kann
eine Verrückung auch zwischen unendlich benachbarten mög-
lichen Lagen als eine unmögliche Verrückung bezeichnet sein.
6. Zwischen zwei möglichen Lagen giebt es immer eine 114
mögliche Bahn. Denn fuhrt von irgend einer wirklichen
Lage zu beiden Lagen auch nur eine mögliche Bahn, so bil-
den diese beiden Bahnen zusammen schon eine mögliche Bahn
zwischen den beiden Lagen; führte zu einer von beiden keine
mögliche Bahn, so wäre diese Lage auch keine mögliche Lage.
Definition 1. Ein Zusammenhang eines Systems heifst 115
ein stetiger, wenn er den folgenden drei Voraussetzungen nicht
widerspricht:
1. Dafs die Angabe aller möglichen endlichen Verrück-
ungen enthalten sei in der Angabe aller möglichen unendlich
kleinen Verrückungen, (Stetigkeit im Endlichen);
2. dafs jede mögliche unendlich kleine Verrückung in
gerader, stetiger Bahn durchlaufen werden könne, (Stetigkeit
im Unendlichkleinen);
3. dafs jede unendlich kleine Verrückung, welche aus
einer bestimmten Lage möglich ist, auch möglich ist aus jeder
unendlich benachbarten Lage, abgesehen von Abweichungen
90 Erstes Buch.
von der Ordnung der Entfernung der Lagen oder von höherer
Ordnung, (stetige Veränderlichkeit der möglichen Verrückungen).
116 Folgerung. Wenn in einem System nur stetige Zu-
sammenhänge sich finden, so ist die Summe irgend welcher
möglichen unendlich kleinen Verrückungen aus derselben Lage
wieder eine mögliche Verrückung aus der gleichen Lage.
(Superposition unendlich kleiner Verrückungen.)
Denn nach 116, 3 müssen sich die einzelnen Verrückungen
hinter einander durchlaufen lassen, und nach 115, 2 ist dann
die direkte Verrückung aus der Anfangs- in die Endlage selbst
auch eine mögliche Verrückung.
117 Definition 2. Ein Zusammenhang eines Systems heifst
ein innerer, wenn er nur die gegenseitige Lage der Punkte
des Systems betrifft.
118 Folgerung. Wenn in einem System nur innere Zu-
sammenhänge sich finden, so ist jede Verrückung des Systems,
welche die Konfiguration nicht ändert, eine mögliche Ver-
rückung, und umgekehrt.
119 Definition 3. Ein Zusammenhang eines Systems heifst
ein gesetzmäfsiger, wenn er unabhängig von der Zeit besteht.
Ein gesetzmäfsiger Zusammenhang besteht also in der
Aussage, dafs von den denkbaren Verrückungen des Systems
zu jeder Zeit, oder unabhängig von der Zeit, gewisse Ver-
rückungen möglich, andere unmöglich sind.
120 Anmerkung. Solange wir von der Geometrie der Systeme
handeln, kommt der Unterschied zwischen gesetzmäfsigem und
ungesetzmäfsigem Zusammenhange nicht in Betracht, da unsere
Überlegungen die Zeit nicht enthalten. Sind die Zusammen-
hänge eines Systems zu zwei Zeiten verschieden, so haben wir
es für unsere jetzige Betrachtung zu beiden Zeiten mit zwei
^ verschiedenen Systemen zu thun. Es läuft praktisch auf das-
selbe hinaus, wenn wir voraussetzen, dafs in diesem ersten
Buche die Zusammenhänge sämtlich gesetzmäfsige seien.
121 Definition 1. Ein System materieller Punkte, welches
keinen anderen als stetigen Zusammenhängen unterworfen ist,
nennen wir ein materielles System.
Materielle Systeme, 91
Definition 2. Ein materielles System ^ welches keinen 122
anderen als inneren und gesetzmäfsigen Zusammenhängen
unterworfen ist, nennen wir ein freies System*.
Definition 3. Ein materielles System, zwischen dessen 123
möglichen Lagen alle denkbaren stetigen Übergänge zugleich
auch mögliche Übergänge sind, heilst ein holonomes System.
Der Name soll andeuten, dafs ein solches System inte-
gralen {8Xoq) Gesetzen {vöfiog) gehorcht, während die mate-
riellen Systeme im allgemeinen nur Differentialgesetzen unter-
worfen sind. (Vergleiche 132 ff.)
Analytische Darstellung.
Bemerkung. Ein System materieller Punkte genügt den 124
Bedingungen eines materiellen Systems, wenn die Differen-
tiale seiner rechtwinkligen Koordinaten keinen anderen Be-
dingungen unterworfen sind als einer Anzahl homogener linearer
Gleichungen, deren Koefficienten stetige Funktionen möglicher
Werte der Koordinaten sind.
Denn die erste Art der Stetigkeit, welche die Definition (116)
verlangt, mufs vorausgesetzt werden, wenn überhaupt von
Differentialen der Koordinaten des Systems gesprochen wird;
den beiden andern Arten wird durch die Einschränkung der
zugelassenen Differentiale genügt.
TTmkehmng. Genügt ein System materieller Punkte den 125
Bedingungen eines materiellen Systems, so sind die Differen-
tiale seiner rechtwinkligen Koordinaten keinen anderen Ein-
schränkungen unterworfen, als einer Anzahl homogener linearer
Gleichungen unter sich, deren Koefficienten stetige Funktionen
möglicher Werte der Koordinaten sind.
Zum Beweise fassen wir eine mögliche Lage des Systems *
ins Auge und die möglichen Verrückungen aus ihr. Für eine
beliebig herausgegriffene dieser Verrückungen mögen sich die
3n Änderungen dx^ verhalten wie:
92 Erstes Bueh.
(125) Verstehen wir nun unter du^^ eine ganz beliebige unendlich
kleine Gröfse, so ist durch den Satz von Gleichungen:
dXj, = Sip dUi
ein Satz möglicher Verrückungen gegeben. EJntweder sind
nun in demselben alle möglichen Verrückungen überhaupt ent-
halten, oder dies ist nicht der Fall. Trifft letzteres zu, so
wählen wir eine beliebige zweite Verrückung aus, welche nicht
durch jene Form dargestellt werden kann, und es mögen für
diese die Sn Änderungen dxy sich verhalten wie:
€21 • ^22 • • ^2dn
Verstehen wir nun unter du^ eine zweite beliebige un-
endlich kleine Gröfse, so ist durch das System der Gleichungen :
dXp = eiv dUi + e2if dv^
nach Voraussetzung (116) ein allgemeinerer Satz möglicher Ver-
rückungen gegeben. Entweder sind nun wenigstens in diesem
alle möglichen Verrückungen enthalten, oder dies ist nicht der
Fall. Wenn letzteres eintritt, so verfahren wir wie vorher,
indem wir eine neue Gröfse du^ einführen, und wir wieder-
holen das Verfahren so lange, bis es wegen Erschöpfung aller
möglichen Verrückungen sich nicht wiederholen lässt. Seine
Fortsetzung wird spätestens unmöglich, wenn wir 3n Gröfsen
dux eingeführt haben; denn alsdann stellt die Form:
3n
dXy = ^A exv dUx
1
alle möglichen Verrückungen des Systems auch dann dar,
wenn alle denkbaren Verrückungen möglich sind, wenn also
gar keine Zusammenhänge zwischen den Punkten des Systems
bestehen. Im allgemeinen muss also das Verfahren notwendig
früher zu Ende kommen, und es lassen sich daher alle mög-
lichen Verrückungen des Systems darstellen durch Bedingungs-
gleichungen der Form:
Materielle Systeme, 93
i
dZp =^^ieipdui , a)
1
in welcher unter allen Umständen
ist. Damit aber dieser Form durch willkürlich gewählte dx^
genügt werden könne, ist hinreichende Bedingung, dafs die
dxy den 3n — / homogenen linearen Gleichungen genügen,
welche durch Elimination der dux aus den Gleichungen a) sich
ableiten lassen. Die Gröfsen exv müssen nach 11693 stetige
Funktionen der Lage sein. Weiteren Einschränkungen als
diesen brauchen aber nach 124 die dxy nicht unterworfen zu
werden.
Anmerkung. Die Zahl und der Inhalt der Gleichungen, 126
welche wir zwischen den dxy nach dem angegebenen Verfahren
ableiten, ist unabhängig von der besonderen Wahl der be-
nutzten Verrückungen.
Denn benutzen wir andere Verrückungen wie vorher, und
drücken daher die dxy durch andere Gröfsen dvx aus, so
können wir die Werte der dxy in diesen in die vorher er-
halt^ien Eliminationsgleichungen einsetzen. Würden die-
selben nicht identisch befriedigt, so wären die dvx nicht un-
abhängig von einander, was gegen die Voraussetzung ginge,
unter welcher sie bestimmt wurden. Jene Gleichungen werden
also identisch befriedigt, und sie können daher nicht verschie-
den sein von den Gleichungen oder von linearen Kombinationen
der Gleichungen, welche durch Elimination der dvx aus den
Formen erhalten werden, in welchen sie die dxy darstellen.
Gröfser als die Zahl der mit Hülfe der dvi zu erhaltenden
Gleichungen kann demnach die Zahl der mit Hülfe der c??i;.
erhaltenen nicht sein; sie kann aber auch nicht kleiner sein,
sonst würde das umgekehrte Verfahren erlauben, zu erweisen,
dafs die dux nicht unabhängig von einander wären.
Folgerung 1. Der Zusammenhang eines materiellen Sy- 127
stems kann analytisch vollständig beschrieben werden durch
Angabe einer einzigen möglichen Lage des Systems und eines
94 Erstes Buch.
Satzes homogener linearer Gleichungen zwischen den Diffe-
rentialen seiner rechtwinkligen Koordinaten.
Denn Beziehungen zwischen diesen Differentialen können
nach 125 nicht anders als durch einen solchen Satz von Glei-
chungen gegeben werden. Dies hindert allerdings nicht, dafs
zwischen den Koordinaten auch endliche Gleichungen bestehen.
Aber alle diese endlichen Gleichungen liefsen sich vollständig
ersetzen durch eine einzige mögliche Lage und ebensoviele ho-
mogene lineare Gleichungen zwischen den Differentialen. Diese
letzteren aber können den unmittelbar gegebenen Differential-
gleichungen nicht widersprechen; sie gehen also entweder aus
denselben hervor oder sind ihnen zur Erzielüng einer voll-
ständigen Beschreibung hinzuzufügen.
12S Bezeichnung. Die Gleichungen, welche den Zusammen-
hang eines materiellen Systems in den rechtwinkligen Koordi-
naten desselben darstellen, sollen in Zukunft dauernd in der
Form geschrieben werden:
3n
yy Xip dXy =
1
Dabei wird angenommen, dafs i solcher Gleichungen vorhanden
seien, und es [sind also dem i in den einzelnen Gleichungen
die Werte 1, 2, etc. bis i beizulegen. Die Gröfsen x^y sind
als stetige Funktionen der Xy zu betrachten.
129 Folgerung 2. Der Zusammenhang eines materiellen Sy-
stems, dessen Lagen durch allgemeine Koordinaten dargestellt
sind, kann analytisch vollständig beschrieben werden durch
Angabe einer einzigen möglichen Lage und eines Satzes ho-
mogener linearer Gleichungen zwischen den Differentialen der
Koordinaten.
Durch Benutzung der allgemeinen Koordinaten p^ , deren
Zahl r kleiner als 3n ist, ist bereits ein Zusammenhang zwi-
schen den Punkten des Systems gesetzt. Denken wir uns des-
halb den Zusammenhang zuerst nach 12S vollständig be-
schrieben durch die rechtwinkligen Koordinaten. Li den ent-
sprechenden Differentialgleichungen seien die Werte der dxy
in den dp^ nach Gleichung 57 b eingetragen. Die entstehenden
Materielle Systeme. 95
linearen homogenen Gleichungen müssen sich so ordnen lassen,
dass unter ihnen 3n — r identisch erfüllt sind infolge der
3?4 — r Gleichungen, welche ausdrücken, dafs die 3n Gröfsen
x^ Funktionen der r Gröfsen Pq sind. Die übrig bleibenden
Ä = « — 3n + r Gleichungen zwischen^ den dp^ ersetzen bei
Benutzung der pg vollständig die sämtlichen Gleichungen
zwischen den dx^ und genügen daher, nach 127, zusammen mit
der Angabe einer möglichen Lage zur vollständigen Beschrei-
bung des Zusammenhanges des Systems.
Bezeichnung. Die Gleichungen, welche den Zusammen- 130
hang eines materiellen Systems in den allgemeinen Koordi-
naten Pq desselben darstellen, sollen in Zukunft dauernd in
der Form geschrieben werden:
r
1
Die Zahl dieser Gleichungen wird gleich k angenommen,
und es sind also dem x nach einander die Werte 1,2, etc.
bis k zu erteilen. Die Gröfsen p^^ sind als stetige Funk-
tionen der Pq zu betrachten.
Anmerkung. Die Gleichungen 128 bez. 130 werden auch 131
die Differentialgleichungen oder die Bedingungsgleichungen des
Systems genannt werden.
Lehrsatz. Lassen sich aus den Differentialgleichungen 132
eines materiellen Systems eine gleiche Zahl von endlichen
Gleichungen zwischen den Koordinaten des Systems ableiten,
so ist das System ein holonomes System (123).
Denn die Koordinaten einer jeden möglichen Lage müssen
alsdann den endlichen Gleichungen genügen. Die Unterschiede
der Koordinaten zweier benachbarter Lagen genügen also
einer gleichen Zahl von homogenen linearen Differentialgleich-
ungen, und da diese der ebenso gröfsen Zahl der gegebenen
Differentialgleichungen des Systems nicht widersprechen können,
auch diesen letzteren. Die Verrückung zwischen irgend zwei
möglichen Lagen ist also eine mögliche Verrückung, welches
die Behauptung ist.
96 Erstes Buch.
133 ümkehrung. Ist ein materielles System ein holonomes
System, so lassen seine Differentialgleichungen eine ebenso
grofse Zahl von endlichen oder Integralgleichungen zwischen
den Koordinaten selbst zu.
Man betrachte von den r Koordinaten des Systems, zwi-
schen deren Differentialen die k Gleichungen bestehen, irgend
welche r — ä , etwa die ersten r — A als unabhängig veränder-
lich. Man gehe von einer beliebigen Anfangslage des Systems
auf verschiedenen möglichen Bahnen zu einer Lage über, für
welche die unabhängigen Koordinaten bestimmte Werte
haben. Käme man nun mit stetig sich ändernder Bahn zu
stetig sich ändernden Werten der übrigen Koordinaten, also
zu verschiedenen Lagen, so wären diese Lagen mögliche Lagen,
die Verrückungen zwischen ihnen also nach Voraussetzung
mögliche Verrückungen. Es gäbe also von Null verschiedene
Wertsysteme der Differentiale, welche den Differentialgleich-
ungen genügen, obwohl die ersten r ■— ä dieser Differentiale
gleich NuU gesetzt sind. Dies ist nicht möglich, da die Gleich-
ungen homogen und linear sind. Also kommen wir stets
zu denselben Werten nicht nur der ersten r — ä, sondern auch
der übrigen Koordinaten. Die letzteren sind also bestimmte
Funktionen der ersteren. Die k endlichen Gleichungen, welche
dies ausdrücken, sind, da sie den Differentialgleichungen nicht
widersprechen können, Integralgleichungen derselben.
Bewegungsfreiheit.
134 Definition. Die Zahl der willkürlich anzunehmenden un-
endlich kleinen Änderungen der Koordinaten eines materiellen
Systems heifst die Zahl der Bewegungsfreiheiten des Systems
oder auch der Grad der Freiheit seiner Bewegung.
Bemerkungen dazu.
135 1. Die Zahl der Freiheiten eines Systems ist gleich der
Zahl seiner Koordinaten, vermindert um die Zahl der Diffe-
rentialgleichungen des Systems.
Bewegungsfreiheit 97
2. Die Zahl der Freiheiten eines materiellen Systems ist 136
unabhängig von der Wahl der Koordinaten.
In der Bezeichnung von 128 — 130 ist die Zahl der Frei-
heiten gleich r — Ä, also (129) gleich Sn—i, also stets dieselbe
Zahl, welche Zahlen auch durch r und k dargestellt sind.
8. Die Zahl der Freiheiten eines Systems ändert sich 137
nicht mit der Lage des Systems.
Da der Zusammenhang ein stetiger ist, so kann sich die
Zahl der Freiheiten in benachbarten Lagen nicht um ein End-
liches unterscheiden, also, da eine stetige Änderung dieser Zahl
ausgeschlossen ist, auch nicht in endlich entfernten Lagen.
4. Der Beweis des Satzes 125 enthält eine Lösung der 138
Aufgabe: Die Zahl der Bewegungsfreiheiten eines vollständig
bekannten materiellen Systems, allerdings nicht ohne Pro-
bieren, zu finden. Die Zahl l der nach der Methode jenes
Beweises gefundenen Hülfsgröfsen dux ist die gesuchte Zahl.
Ist von vornherein bekannt, dafs die mögUchen Lagen des
Systems sich durch r allgemeine Koordinaten p^ darstellen
lassen, so können in jenem Beweise auch diese Koordinaten
anstatt der Xy benutzt werden.
Definition. Eine Koordinate eines materiellen Systems, 139
deren Änderungen unabhängig von den Änderungen aller
übrigen Koordinaten geschehen können, heifst eine freie Koordi-
nate des Systems.
Polgenmg. Eine freie Koordinate kommt in den Diffe- 140
rentialgleichungen ihres Systems nicht vor, und umgekehrt ist
jede Koordinate, welche in den Differentialgleichungen nicht
vorkommt, eine freie Koordinate.
Anmerkung 1. Ob eine bestimmte Koordinate eines Sy- 141
stems eine freie Koordinate ist, oder nicht, hängt ab von der
Wahl der übrigen, gleichzeitig benutzten Koordinaten.
Denn kommt eine gewisse Koordinate in den Differential-
gleichungen des Systems nicht vor, und wählen wir nun an
Stelle einer der Koordinaten, welche in diesen Gleichungen
vorkommen, eine Funktion dieser und jener ersten als Koordi-
Hertz, Mechanik. 7
98 Erstes Buch.
nate, so verliert jene erste die Eigenschaft , freie Koordinate
zu sein, welche sie bis dahin hatte.
142 Anmerlnuig 2. In einem freien System ist jede Koordi-
nate der absoluten Lage eine freie Koordinate.
Vergleiche 118 und 122.
143 Lehrsatz. Lassen sich die möglichen Lagen eines mate-
riellen Systems durch Koordinaten darstellen, welche sämtlich
freie Koordinaten sind, so ist das System ein holonomes (123).
Jede Verrückung des Systems zwischen möglichen Lagen
wird durch ein Wertsystem der Di£ferentiale der freien
Koordinaten ausgedrückt; jedes solche Wertsystem ist aber
möglich, da es keinen Bedingungen unterworfen ist, und daher
ist jede Verrückung zwischen möglichen Lagen eine mögliche
Verrückung.
144 ümkehrong. Li einem holonomen System lassen sich alle
möglichen Lagen durch freie Koordinaten darstellen.
Hat ein holonomes System r Koordinaten, zwischen welchen
k Diflferentialgleichungen bestehen, so lassen sich k der Koordi-
naten als Funktionen der übrigen r —■ k darstellen (vergl. 133).
Diese r — k willkürlich ausgewählten Koordinaten bestimmen also
bereits die Lage des Systems vollständig und können unter
Weglassung der übrigen Koordinaten als freie Koordinaten des
Systems benutzt werden. Auch irgend welche r — ä Funktionen
der ursprünglichen r Koordinaten können offenbar der gleichen
Absicht dienen.
145 Anmerkung L Die Zahl der freien Koordinaten eines
holonomen Systems ist gleich der Zahl seiner Bewegungs-
freiheiten.
146 Anmerkung 2. Ist die Zahl der Koordinaten eines mate-
riellen Systems gleich der Zahl seiner Bewegungsfreiheiten,
so sind die Koordinaten sämtlich freie Koordinaten, und das
System ist ein holonomes.
Denn bestände auch nur eine einzige Differentialgleichung
zwischen den Koordinaten, so wäre schon die Zahl der Koordi-
naten gröfser als die der Bewegungsfreiheiten. Kleiner als
Bewegungsfreiheit, 99
die Zahl der Bewegungsfreiheiten kann die Zahl der Koordi-
naten überhaupt nicht sein.
Anmerkung 3. Die möglichen Lagen eines Systems, 147
welches kein holonomes ist, lassen sich nicht vollständig allein
durch freie Koordinaten darstellen.
Denn das Gegenteil dieser Behauptung stände in Wider-
spruch zu 143.
Verruckungen senkrecht zu den möglichen Verruckungen.
Lehrsatz. Lassen sich in einem System die r Kompo- 14S
nenten dp^ einer Verriickung ds nach den Koordinaten Pq
darstellen durch k Gröfsen /« in der Form:
1
worin die p^ den Bedingungsgleichungen des Systems (130)
entnommen sind, so steht die Venrückung senkrecht auf jeder
möglichen Verrtickung des Systems aus der gleichen Lage.
Es sei nämlich ds' die Länge einer beliebigen möglichen
Verrückung aus der gleichen Lage, und es seien die dp^ die
Änderungen der Koordinaten für diese Verrückung. Multi-
plizieren wir nun die Gleichungen der Reihe nach mit dp^
und addieren sie, so erhalten wir unter Berücksichtigung der
Gleichungen S5 und 130:
r fc r
2^ dp^ dp^ = ds ds COS s^S = 2** yyt 2^ ^x^ dp^^ = ,
1 1 1 ■
also cosä,ä'= ; *,«'= 90® , was zu beweisen war.
Zusatz. Die r Komponenten dp^ einer Verrückung ds 149
nach den Koordinaten p^ sind eindeutig bestimmt durch k
unter ihnen und die Angabe, dafs die Verrückung senkrecht
stehe auf jeder möglichen Verrückung des Systems.
Es seien nämlich wieder die dp^ die Änderungen der p^
flir eine beliebige mögliche Verrückung. Mit Hülfe der k Be-
dingungs^leichungen können wir k derselben ausdrücken als
100 Erstes Buch.
homogene lineare Funktionen der übrigen r — k und diese
Werte einsetzen in die Gleichung:
r
2^ dpg dpg =
1
Die in dieser Gleichung noch Yorhandenen dp'^ sind nun völlig
willkürlich; es mufs also der Faktor einer jeden dieser Gröfsen
verschwinden. Dies giebt r — k homogene lineare Gleichungen
zwischen den dp^, welche gestatten, r — ä derselben als ein-
deutige, weil lineare Funktionen der übrigen k darzustellen.
150 Umkehmng. Steht eine denkbare Verrückung senkrecht
auf jeder möglichen Verrückung eines Systems, so lassen sich
die r Komponenten dpg derselben nach den p^ stets durch
passende Bestimmung von k Gröfsen y^ darstellen in der Form:
k
1
Bestimmen wir nämlich die /^ ^^s irgend welchen k dieser
Gleichungen und berechnen mit diesen Werten die sämtlichen
Komponenten, so müssen wir auf die gegebenen Werte der
dpQ kommen. Denn die so berechnete Verrückung steht nach 148
senkrecht auf allen möglichen und hat mit der gegebenen
Verrückung k Komponenten gemein, sie hat also mit derselben
nach 149 alle r Komponenten nach den p^ gemein.
Abschnitt 5. Von den ansgezeichneten Bahnen
der materiellen Systeme.
i. Geradeste Bahnen.
Definitionen.
151 1. Ein Bahnelement eines materiellen Systems heifst ge-
rader als ein anderes, wenn es eine geringere Krümmung hat.
152 2. Geradestes Bahnelement nennen wir ein mögliches
Geradeste Bahnen der Systeme. 101
Bahnelement, welches gerader ist als alle anderen möglichen
Bahnelemente, welche mit ihm die Lage lind die Richtung
gemein haben.
3. Eine Bahn, deren sämtliche Elemente geradeste Ele- 153
mente sind, heifst eine geradeste Bahn.
Analytische Darstellung. Alle Bahnelemente, nnter wel- 154
chen ein geradestes Bahnelement das geradeste ist, haben
Lage und Richtung, also die Werte der Koordinaten und
der ersten Differentialquotienten der Koordinaten nach der
unabhängigen Variabelen gemein. Die Krümmung ist aber,
aufser durch jene Werte, auch noch mitbestimmt durch die
zweiten Differentialquotienten der Koordinaten. Durch die
Werte dieser also unterscheiden sich jene Bahnelemente, und
es müssen also für das geradeste Bahnelement die zweiten
Differentialquotienten solche Funktionen der Koordinaten und
ihrer ersten Differentialquotienten sein, welche die Krümmung
zu einem Minimum machen.
Die Gleichungen, welche diese Bedingung ausdrücken,
müssen erfüllt sein für alle Lagen einer geradesten Bahn, sie
sind also zugleich die Differentialgleichungen einer solchen Bahn.
Aufgabe L Die Differentialgleichungen der geradesten Bah- 155
nen eines materiellen Systems darzustellen in den rechtwink-
ligen Koordinaten des Systems.
Es möge als unabhängige Variabele die laufende Bahn-
länge gewählt werden. Da nur mögliche Bahnen in Betracht
zu ziehen sind, unterliegen die 3n Grössen x^ nach 128 und
100 i Gleichungen von der Form:
8n
2" ^ip Xp==0 . a)
1
Also unterliegen die 3n Gröfsen Xy i Gleichungen von der
Form:
3n ^ 3n ^^
welche durch Differentiation aus jenen folgen.
102 Erstes Buch.
Unter der Voraussetzung, dafs diesen Gleichungen h)
nicht widersprochen werde, sollen die Gröfsen x^ so bestimmt
werden, dafs die Krümmung c (106) oder, was dasselbe sagt,
dafs der Wert von ^c*, nämlich
an
3n
Wly //O
im ^
ein Minimum werde.
Nach den Regehi der Differentialrechnung verfahren wir
wie folgt: Wir multiplizieren jede der Gleichungen b) mit
einem nachträglich zu bestimmenden Faktor, welcher für die
ite Gleichung Si heifsen möge; wir addieren die partiellen
Differentialquotienten der linken Seiten der entstandenen
Gleichungen nach einer jeden der Gröfsen x!^ zu dem nach
der gleichen Gröfse genommenen partiellen Differentialquotien-
ten der Form e), welche zu einem Minimum zu machen ist;
wir setzen schliefslich die entstandenen Aggregate gleich Null.
Wir erhalten so 3n Gleichungen von der Form:
welche zusammen mit den i Gleichungen b) Sn + i nicht ho-
mogene, lineare Gleichungen für die 3n + i Grössen Xy und
St ergeben, und aus welchen sich diese Gröfsen und dann
aus c) der Wert der kleinsten Krümmung selbst ergeben.
Die Erfüllung der Gleichungen d) längs aller Lagen einer
möglichen Bahn ist also notwendige Bedingung dafür, dafs die
Bahn eine geradeste sei, und die Gleichungen d) sind also die
verlangten Differentialgleichungen.
156 Anmerkung 1. Die Gleichungen d) sind aber auch die hin-
reichenden Bedingungen, zunächst für das Eintreten eines Mi-
nimums. Denn die zweiten Differentialquotienten
d^c
2
a "a "
oXy öar«
Geradeste Bahnen der Systeme. 103
verschwinden, sobald v und /u verschieden sind, und sind not-
wendig positiv, sobald v und ju gleich sind. Der Wert der
Krümmung läfst also keine anderen ausgezeichneten Werte
zu, als allein ein Minimum.
Die Erfüllung der Gleichungen d) für alle Lagen einer
möglichen Bahn ist demnach auch hinreichende Bedingung
dafür, dafs die Bahn eine geradeste sei.
Anmerkung 2. Unter Berücksichtigung von 72 können 157
die Gleichungen d) in der Form geschrieben werden:
]/— ^(cos s,a;„) = -^^x.yA,
Die Gleichungen d) geben also an, wie sich die Rich-
tung der Bahn beim Fortschreiten in ihrer Länge beständig
ändern mufs, damit die Bahn eine geradeste bleibe; und zwar
giebt eine jede einzelne Gleichung an, wie sich die Neigung
der Bahn gegen eine bestimmte der rechtwinkligen Koordi-
naten ändert.
Angabe 2. Die Differentialgleichungen der geradesten 158
Bahnen eines materiellen Systems in den allgemeinen Koordi-
naten des Systems auszudrücken.
Wir wählen wieder als unabhängige Variabele die Bahn-
länge. Die Koordinaten p^ und ihre Differentialquotienten
Pq genügen (130) den k Gleichungen
^epxgPQ = , a)
also die Gröfsen p^ den Gleichungen:
r r
J3
r' ^P'
1»)
Unter allen Werten der pg , welche diesen Gleichungen
genügen, sind diejenigen zu bestimmen, welche den Wert der
104 Erstes Buch.
Erümmung c oder, was auf dasselbe hinausläuft;, den Wert
von \c^, also die halbe rechte Seite der Gleichung 108 c zu
einem Minimum machen. Verfahren wir nach den Regeln der
Differentialrechnung wie in 165, und nennen wir ZT^ den Faktor,
mit welchem wir die x te der Grleichungen b) multiplizieren,
so erhalten wir als notwendige Bedingungen für das Minimum
r Gleichungen von der Form:
in welchen nämlich dem q für jede Gleichung ein bestimmter
Wert von 1 bis r zu erteilen ist. Zusammen mit den
Gleichungen b) bilden sie r + k nicht homogene, lineare
Gleichungen für die r + ä Gröfsen p^ und U^ , aus welchen
sich diese Gröfsen und dann nach 108 die kleinste Ejümmung
bestimmen lassen. Die Erfüllung der Gleichungen d) längs
aller Lagen einer möglichen Bahn ist die notwendige Be-
dingung dafür, dafs die Bahn eine geradeste sei.
159 Anmerkung 1. Die Erfüllung der Gleichungen d) ist aber
auch die hinreichende Bedingung für das Eintreten eines Mi-
nimums und also einer geradesten Bahn. Denn der Aus-
druck 108 ist nur eine Transformation des Ausdrucks 106 fiir
die Krümmung; wie dieser (156) läfst daher auch jener nur
einen einzigen ausgezeichneten Wert, und zwar ein Mini-
mum zu.
160 Anmerkung 2. Nach 75 haben wir:
Va^^ cos 8,pg = ^o agapa
also ist:
-^O^agg cos S,Pg) = ^O ag^ f^ + ^^-^V^^T
Geradeste Bahnen der Systeme. 105
Es lassen sich daher die Gleichungen 168 d auch schreiben in
der Form:
^(V^ cos B,p^) = { 2^2' -^P'^P'^ " 2 P^Q ^^ •
Die Gleichungen 158 d geben also wiederum an, wie sich
die Richtung der Bahn beim Fortschreiten in ihrer Länge
ändern mufs, damit die Bahn eine geradeste bleibe; und zwar
giebt jetzt jede einzelne Gleichung an, wie sich die Nei-
gung gegen eine bestimmte der Koordinaten p^ ändert.
Lehrsatz. Aus einer gegebenen Lage in einer gegebenen 161
Richtung ist stets eine und nur eine geradeste Bahn .möglich.
Denn ist eine Lage und eine Richtung in ihr gegeben,
so geben die Gleichungen 155 d oder 158 d stets bestimmte,
und zwar eindeutig bestimmte Werte für die Änderung der
Richtung; es ist also durch die gegebenen Gröfsen eindeutig
bestimmt die Anfangslage und die Richtung im nächsten Bahn-
element, also auch die im Folgenden, und so fort ins Unendliche.
Folgerung. Es ist im allgemeinen nicht möglich, von 162
einer beliebigen Lage eines gegebenen Systems zu einer be-
liebigen anderen Lage eine geradeste Bahn zu ziehen.
Denn die Mannigfaltigkeit der möglichen Verrückungen
aus einer Lage ist gleich der Zahl der Bewegungsfreiheiten
des Systems, die Mannigfaltigkeit der möglichen Richtungen
in einer Lage und daher die Mannigfaltigkeit der geradesten
Bahnen aus ihr also um die Einheit kleiner. Die Mannig-
faltigkeit der Lagen, welche auf geradesten Bahnen von einer
gegebenen Lage aus zu erreichen sind, ist also wieder gleich
der Zahl der Freiheiten. Aber die Mannigfaltigkeit der mög-
lichen Lagen kann der Zahl der benutzten Koordinaten gleich
sein, und ist daher im allgemeinen gröfser als jene.
Bemerkung 1. Um alle geradesten Bahnen eines mate- 163
riellen Systems, dessen Lagen durch die p^ bezeichnet sind,
durch Gleichungen zwischen eben diesen p^ darstellen zu
können, ist nicht die Kenntnis irgend welcher 3« Funktionen
erforderlich, welche die Lagen der einzelnen Punkte des Systems
106 Erstes Buch.
als Funktionen der p^ vollständig bestimmen. Es genügt viel-
mehr, dafs neben den Bedingungsgleichungen des Systems in
den Pq die ^r(r+l) Funktionen a^ der p^ bekannt gegeben
seien.
Denn die Diflferentialgleichungen der geradesten Bahnen
158 d können explicite hingeschrieben werden, sobald nur neben
den p^ die a^^ als Funktionen der p^ gegeben sind.
164 Bemerkung 2. um die geradesten Bahnen eines mate-
riellen Systems, dessen Lagen man durch die p^ bezeichnet
hat, durch Gleichungen zwischen eben diesen p^ angeben zu
können, genügt neben der Kenntnis der Bedingungsgleichungen
zwischen den p^ die Kenntnis der Länge einer jeden möglichen
unendlich kleinen Verrückung als Funktion eben jener Koor-
dinaten p^ und deren Änderungen.
Denn ist ds der Ausdruck jener Länge in der verlangten
Form, so ist
1 d^ds^
'^^ - 2 Bp,dp, '
165 Bemerkung 3. Um den Wert der Krümmung selbst zu
kennen in jeder Lage einer geradesten Bahn, genügt indessen
die Kenntnis der ^r{r+l) Funktionen a^^ nicht. Es mufs
hinzukommen die Kenntnis der ^r^(r+l)2 Funktionen
a^aXf. (108).
Die Kenntnis der Lagen aller einzelnen Punkte als
Funktionen der p^ ist auch zur Ermittelung der Krümmung
selbst nicht erforderlich.
2. Kürzeste und geodätische Bahnen.
166 Definition 1. Kürzeste Bahn eines materiellen Systems
zwischen zweien seiner Lagen heifst eine mögliche Bahn
zwischen diesen Lagen, deren Länge kleiner ist als die Länge
irgend einer anderen, ihr unendlich benachbarten Bahn zwischen
denselben Lagen.
Kürzeste Bahnen der Systeme. 107
Bemerkungen dazu.
1. Es ist durch die Definition nicht ausgeschlossen, und 167
es kann in der That eintreten, dafs es mehrere kürzeste
Bahnen zwischen zwei Lagen giebt. Die kürzeste unter
diesen heiTst die absolut kürzeste Bahn. Sie ist zugleich die
kürzeste Bahn, welche überhaupt zwischen den beiden Lagen
möglich ist.
2. Zwischen irgend zwei möglichen Lagen eines mate- 168
riellen Systems ist stets mindestens eine kürzeste Bahn
möglich.
Denn mögliche Bahnen sind zwischen möglichen Lagen
stets vorhanden (114), unter ihnen also eine absolut kürzeste,
welche also auch kürzer ist als ihre Nachbarn, deren sie nach
der vorausgesetzten Stetigkeit (121, 115) besitzen mufs, welche
also eine kürzeste Bahn ist.
3. Eine kürzeste Bahn zwischen zwei Lagen ist zugleich 169
eine kürzeste Bahn zwischen irgend zwei der ihr angehörigen .
Lagen. Jeder Teil einer kürzesten Bahn ist wieder eine
kürzeste Bahn.
4. Die Länge einer kürzesten Bahn unterscheidet sich 170
nur um unendlich kleine Gröfsen höherer Ordnung von der
Länge aller benachbarten Bahnen zwischen den gleichen End-
lagen. Als unendlich kleine Gröfsen der ersten Ordnung gelten
dabei die Längen der Verrückungen, welche nötig sind, um
die benachbarten Bahnen in die kürzeste überzuführen.
Definition 2. Geodätische Bahn eines materiellen Systems 171
heifst jede Bahn, deren Länge zwischen irgend zweien ihrer
Lagen sich nur um unendlich kleine Gröfsen höherer Ordnung
unterscheidet von der Länge irgend welcher unendlich benach-
barter Bahnen zwischen den gleichen Lagen.
Bemerkungen dazu.
1. Jede kürzeste Bahn zwischen irgend zwei Lagen ist 172
eine geodätische Bahn.
108 Erstes Buch.
Es enthält also auch die Definition 171 nicht etwa einen
inneren Widerspruch, sondern es giebt Bahnen, welche dieser
Definition genügen.
173 2. Zwischen irgend zwei möglichen Lagen eines mate-
riellen Systems ist stets mindestens eine geodätische Bahn
mögUch (168 und 172).
174 3. Eine geodätische Bahn ist nicht notwendig zugleich
kürzeste Bahn zwischen irgend zweien ihrer Lagen.
Es kann aus den Definitionen nicht gefolgert werden,
dafs jede geodätische Bahn auch kürzeste Bahn ist, und ein-
fache Beispiele zeigen, dafs es in der That geodätische Bahnen
giebt, welche nicht zugleich kürzeste Bahnen zwischen ihren
Endlagen sind. Solche Beispiele können bereits der Geometrie
des einzelnen materiellen Punktes, also der gewöhnlichen
Geometrie entnommen, und also aus dieser als bekannt vor-
ausgesetzt werden.
175 4. Giebt es zwischen zwei Lagen nur eine einzige geodä-
tische Bahn, so ist dieselbe eine kürzeste, und zwar die absolut
kürzeste Bahn zwischen beiden Lagen.
Denn das Gegenteil würde nach 168 und 172 der Voraus-
setzung widersprechen.
176 5. Eine geodätische Bahn ist stets kürzeste Bahn zwischen
irgend zwei hinreichend benachbarten, übrigens noch endlich
von einander entfernten ihrer Lagen.
Es möge zwischen zwei beliebigen Lagen der betrachteten
geodätischen Bahn noch eine Anzahl weiterer geodätischer
Bahnen geben. Mit einer dieser Bahnen mufs die absolut
kürzeste Bahn zwischen beiden Lagen zusammenfallen (172).
Nähern wir nun die Lagen einander längs der betrachteten
geodätischen Bahn, so nähert sich die Länge dieser Bahn und
zugleich die Länge der absolut kürzesten Bahn der Null,
während die übrigen geodätischen Bahnen endlich bleiben.
Mindestens von einem gewissen endlichen Abstand der Lagen
an mufs also die geodätische Bahn, längs welcher die beiden
Lagen sich nähern, mit der absolut kürzesten unter ihnen zu-
sammenfallen.
Kürzeste Bahnen der Systeme. 109
Analytische Darstellung. Damit eine Bahn eine geodä- 177
tische Bahn sei, ist die notwendige und hinreichende analy-
tische Bedingung, dafs das Integral des Bahnelements (99),
nämlich
ß
8
genommen zwischen irgend zwei Lagen der Bahn, nicht va-
riiere, wenn auch den Koordinaten der Lagen der Bahn be-
liebige stetige Variationen erteilt werden, vorausgesetzt nur,
dafs 1) diese Variationen verschwinden an den jedesmaligen
Grenzlagen des Integrals, und dafs 2) auch noch nach Aus-
fuhrung der Variation die Koordinaten und ihre Dififerentiale
den Bedingungsgleichungen des Systems genügen. Als not-
wendige und hinreichende Bedingung hierfür ergiebt sich ein
Satz von Dififerentialgleichungen, denen die Koordinaten der
Bahn, gedacht als Funktionen einer beliebigen Variabelen,
genügen müssen, und welche also die Differentialgleichungen
der geodätischen Bahnen sind.
Dafs jene Differentialgleichungen für alle Punkte einer 178
möglichen Bahn erfüllt seien, ist nach 172 zugleich die not-
wendige Bedingung dafür, dafs die Bahn eine kürzeste sei,
und jene Gleichungen sind daher zugleich die Differential-
gleichungen der kürzesten Bahnen. Das Verschwinden der
Variation des Integrals ist aber noch nicht hinreichende Be-
dingung dafür, dafs die Bahn zwischen seinen Endlagen eine
kürzeste sei. Vielmehr ist hierzu weiter erforderlich, dafs für
jede zulässige Variation der Koordinaten die zweite Variation
des Integrals einen wesentlich positiven Wert habe. Für hin-
reichend benachbarte Lagen einer Bahn, welche den Diffe-
rentialgleichungen genügt, ist diese Bedingung nach 176 stets
von selber erflült.
Aufgabe 1. Die Differentialgleichungen der geodätischen 179
Bahnen eines materiellen Systems in den rechtwinkligen Koordi-
naten desselben darzustellen.
Die Sn rechtwinkligen Koordinaten x^, welche wir zu-
nächst als Funktionen einer beliebigen Variabelen ansehen,
sollen vor und nach der Variation den i Gleichungen
110 Erstes Bibch,
3n
(179) „
a) >v Xcv dXy =
genügen (128). Die 3w Variationen dx^ sind also gebunden
an die i Gleichungen, welche aus jenen durch Variation folgen,
nämlich:
3n 8n 8 n ««
*) 2" ^*^ ^^^'^ "^ 2^2* Ä~^ ^^i^ ^^'^ "^ ^
1 11^
Da die Länge ds des Bahnelements nicht von den Xy,
sondern nur von den dxy abhängt, so ist seine Variation
Dies vorausgesetzt, soll
c) Sfds=fSds =
gemacht werden. Nach den Regeln der Variationsrechnung
multiplizieren wir jede der Gleichungen b) mit einer nach-
träglich zu bestimmenden Funktion der Xy, welche für die
ete Gleichung mit 1^ bezeichnet werden möge, und addieren
die Summe der linken Seiten der entstandenen Gleichungen,
welche Summe gleich Null ist, zu dem variierten Element des
Integrals. Durch partielle Integration schaffen wir die Diffe-
rentiale der Variationen fort; endlich setzen wir den Faktor
einer jeden der willkürlichen Funktionen Sxy gleich Null.
Wir erhalten so 3w Differentialgleichungen der Form:
welche zusammen mit den i Gleichungen a) 3n+i Gleichungen
für die 3n+i Funktionen Xy und |, bilden. Diese Differential-
Kürzeste Bahnen der Systeme, 111
gleichungen sind notwendige Bedingungen für das Verschwinden
der Variation des Integrals; jede geodätische Bahn genügt also
denselben, und sie stellen also die gesuchte Lösung dar.
Anmerkung 1, Die Differentialgleichungen 179 d sind aber 180
auch hinreichende Bedingungen dafür, dafs die Bahn, welche
ihnen genügt, eine geodätische Bahn sei. Denn sind jene
Gleichungen erfüllt, so wird die Variation des Integrals fds
gleich den Gliedern, welche bei der partiellen Integration vor
das Integralzeichen treten; es wird also in der üblichen Be-
zeichnungsweise, wenn mit die untere, mit 1 die obere Grenze
angedeutet wird:
Lassen wir also für irgend zwei Lagen der Bahn die
Variationen Sx^ verschwinden, so verschwindet die Variation
des Integrals zwischen jenen Lagen als Grenzwerten, und es
ist daher die für geodätische Bahnen verlangte hinreichende
analytische Bedingung nach 177 erfüllt.
Anmerkung 2. Benutzen wir die laufende Länge der 181
Bahn als unabhängige Variabele, so nehmen unter Berück-
sichtigung von 55 und 100 die Gleichungen 179 d nach Division
durch ds die Formen an:
welche zusammen mit den i durch Differentiation von 179a er-
haltenen Gleichungen:
3n 3 n 3n •^
1 1 1 ^^A*
Sn+i nicht homogene, lineare Gleichungen für die 3n+i
Grössen x!^ und |e darstellen, und also erlauben, diese Gröfsen
112 Erstes Buch.
als eindeutige Funktionen der Grölsen x^j Xy und ^^ anzu-
geben.
182 Amnerkiing 3. Unter Benutzung von 72 kann den Gleich-
ungen 181 ft die Form gegeben werden:
1/^
r m
?Ä<-«-^)-s^£+i-l'(&-fe)^^'
Die Gleichungen 181a geben also an, wie sich die Rich-
tung der Bahn bei gegebenem AnfiEuig derselben bestandig
ändern mufs, damit die Bahn eine geodätische bleibe; und
zwar giebt jede einzelne Gleichung an, wie sich die Neigung
gegen eine bestimmte der rechtwinkligen Koordinaten ändert
183 Aufgabe 2. Die Differentialgleichungen der geodätischen
Bahnen eines materiellen Systems in den allgemeinen Koordinaten
Pq desselben darzustellen.
Die r Koordinaten pg des Systems sind gebunden an die
k Gleichungen (130):
r
a) 2^ Pkq dpg =
1
und also die r Variationen Sp^ an die Gleichungen:
r r r ^
1 1
^Pc
Die Länge ds einer unendlich kleinen Verrückung hängt
jetzt nicht allein von den Differentialen dp^ , sondern auch von
den Werten der p^ selbst ab, es ist also:
Dies vorausgesetzt, soll
c) Sjds =JSd8 =
Kürzeste Bahnen der Systeme. 113
gemacht werden. Indem wir nach den Begehi der Variation
verfahren^ genau wie in 179, und indem wir mit n^ den Faktor
der X ten Gleichung b) bezeichnen, erhalten wir r Differential-
gleichungen von der Form:
^Idds \ dds -^
-l-l-gf-lf)".*»» , • ■
welche zusammen mit den Gleichungen a) r + A Differential-
gleichungen für die r + k Funktionen p^ und n^ der unab-
hängigen Variabelen bilden. Diese Gleichungen sind notwen-
dige Bedingungen für das Verschwinden der Variation, sind
also erfüllt in allen Lagen einer geodätischen Bahn; sie ent-
halten demnach die Lösung der gestellten Aufgabe.
Anmerkung 1. Die Differentialgleichungen 183 d sind aber 184
auch hinreichende Bedingungen dafür, dafs die Bahn, welche
ihnen genügt, eine geodätische Bahn sei. Denn sind jene
Gleichungen erfilllt, so wird die Variation der Bahnlänge
(vergl. 180):
Lassen wir also für irgend zwei Lagen der Bahn die Va-
riationen Spg verschwinden, so verschwindet die Variation
des Integrals zwischen jenen Lagen als Grenzlagen, und es
ist daher die für geodätische Bahnen verlangte analytische
Bedingung erflillt (177).
Anmerkung 2. Wählen wir die Bahnlänge als unab- 185
hängige Variabele, indem wir die Gleichungen 183 d durch ds
dividieren und für ds seinen Wert in den p^ und dp^ nach
57 d einsetzen, so erhalten wir die Gleichungen der geodäti-
schen Bahnen in der Form der r Gleichungen:
Hertz, Mechanik. g
114 Er^es Buch.
•>
r r
fla«, 1 da„
2' ««-i»'«^ +2'2b^ - 2 ä^iP'P-
1 1
dp^ 2 dp^
+
±.p,n.-±2.{^-^]n.p,.0 .
welche zusammen mit den k aus 183a abgeleiteten Grleich-
ungen
r r r «»
1 11 ^^^
r + k nicht homogene, lineare Gleichungen für die r + k
Grrö£Ben p^ und n'x bilden , also gestatten, diese Gröfsen als
eindeutige Funktionen der p^ , p'^ und n^ anzugeben.
186 Anmerkung 3. Indem wir bei der Einführung der Bahn-
länge als unabhängiger Variabele die Gleichung 92 berück-
sichtigen, erhalten wir die Gleichungen 185a in der Form:
^ (V^ cos 8,p^) =
i24- '^P'P. - i'p."' ^i-i-df - if ) '.pi ■
Jene Gleichungen geben also wiederum an, wie sich die
Richtung der Bahn mit Durchlaufung ihrer Länge ändern muTs,
damit die Bahn beständig eine geodätische bleibe; und
zwar giebt jede einzelne Gleichung an, wie sich die Neigung
gegen eine bestimmte der Koordinaten p^ ändert.
187 Bemerkung 1. Eine geodätische Bahn ist durch Lage
und Richtung eines ihrer Elemente noch nicht bestimmt, son-
dern aus einer gegebenen Lage in gegebener Richtung ist im
allgemeinen eine unendliche Anzahl geodätischer Bahnen
möglich.
Sind uns für eine Lage der Bahn die pg, p^ und die k
Gröfsen n^ gegeben, so sind sie nach 185 auch für das nächste
Element eindeutig bestimmt, und die Fortsetzung der Bahn
Kürxeste Bahnen der Systeme. 115
ist also nur in eindeutig bestimmter Weise mögUch. Die An-
gabe der Richtung der Bahn in jener gegebenen Lage aber
liefert nur die Gröfsen p^ und /?^, und genügt also nicht zur
Festlegung der Bahn, sondern läfst, wenn nicht besondere
Verhältnisse vorliegen, noch eine k fache Unendlichkeit geodä-
tischer Bahnen zu.
Bemerkung 2. Wenn die DüFerentialgleichungen des be- 18S
trachteten Systems kein Integral zulassen, also im allgemeinen
Falle, können von den 2r Gröfsen p^ und p^, welche eine
Lage und die Richtung in dieser bestimmen, 2r—k will-
kürlich angenommen werden, nämlich die r Gröfsen p^ und r — ä
der Gröfsen /?^. Jene 2r— ä willkürlichen Werte, zusammen
mit den k willkürlichen Werten der tt« in jener Lage können
als die 2r willkürlichen Konstanten angesehen werden, welche
zusammen mit den Differentialgleichungen 185 a eine geodä-
tische Bahn bestimmen, und welche in den Integralen jener
Gleichungen auch vorhanden sein müssen, da es nach 173
möglich sein soll, jede mögliche Lage des Systems mit jeder
andern durch eine geodätische Bahn zu verbinden. Lassen
nämlich die Differentialgleichungen des Systems keine end-
liche Beziehung zwischen den p^ ableiten, so ist jedes denk-
bare Wertsystem dieser Gröfsen auch ein mögliches Wert-
system; eine willkürliche Anfangs- und Endlage sind also zu-
sammen durch 2r willkürliche Koordinatenwerte bestimmt.
Bemerkung 3. Für jedes Integral, welches die Differential- 189
gleichungen des materiellen Systems zulassen, vermindert dich
die Zahl der Konstanten, welche eine geodätische Bahn ein-
deutig bestimmen, um zwei.
Lassen sich nämlich aus den Bedingungsgleichungen des
Systems Z endliche Gleichungen zwischen den p^ herleiten, so
können von den r Koordinaten p^ nur noch r — Z willkürlich
angenommen werden, von den 2r Gröfsen p^ und p^, welche
«ine Lage und eine Richtung in ihr bestimmen, also nur noch
2r— /— Ä. Femer lassen sich in diesem Falle die Differential-
gleichimgen durch Multiplikation mit geeigneten Faktoren und
Addition in solche Form bringen, dafs l derselben unmittel-
bar integrabele Gleichungen darstellen, nämlich diejenigen
-Gleichungen, welche durch Differentiation der l endlichen Be-
8*
116 Erstes Buch.
Ziehungen gewonnen werden. Für jede dieser Gleichungen,
von welchen eine den Index X haben möge, wird dann:
^Pe ^Pa
Es verschwinden dann also die entsprechenden Gröfsen ni
aus den Gleichungen 185 a, und alle pg und tt^ sind bereits
eindeutig bestimmt durch die ä — / Werte der übrigen n^ .
Im Ganzen also behalten wir noch übrig 2r— 2/ willkürliche
Bestimmungsstücke; zwei sind für jede endliche Gleichung ver-
loren gegangen.
Übrigens genügen diese 2r—2l willkürlichen Konstanten
immer noch, wie es sein mufs, um jede mögliche Lage des
Systems mit jeder andern durch eine geodätische Bahn zu ver-
binden. Denn^bestehen zwischen den p^ l endliche Gleichungen,
so genügt es, "die Bahn so zu führen, dafs zwei ihrer Lagen
mit den gegebenen Lagen je r — l Koordinaten gemein haben;
die Übereinstimmung in Hinsicht der übrigen wird alsdann
von selbst statthaben.
3. Beziehungen zwischen geradesten und geodätischen
Bahnen.
190 Lehrsatz. In einem holonomen System ist jede geodätische
Bahn eine geradeste Bahn und auch umgekehrt jede geradeste
eine geodätische Bahn.
Benutzen wir für den Beweis rechtwinklige Koordinaten.
Ist das System ein holonomes, so läfst sich den i Bedingungs-
gleichungen desselben durch Multiplikation mit geeigneten
Faktoren und Addition in geeigneter Ordnung eine solche
Form geben, in welcher jede derselben ohne weiteres integrier-
bar ist, in welcher nämlich die linke Seite einer jeden mit
dem exakten Differentiale eines der i Integrale der Gleichungen
zusammenfällt. Für jedes Wertsystem der i, jti, v ist alsdann:
^ _ ^f^ =
Geradeste und kürzeste Bahnen, 117
und die Differentialgleichungen der geodätischen Bahnen wer-
den alsdann nach 181 a:
m
Dieselben unterscheiden sich offenbar nur in der Bezeichnung
von den Gleichungen der geradesten Bahnen (155 d):
rriy n
m
da weder die 1, noch die Sl in den übrigen zu befriedigenden
Gleichungen vorkommen. Jede mögliche Bahn, welche nach
geeigneter Bestimmung der ^^ den ersten dieser Gleichungen
genügt, genügt den zweiten, indem man setzt ^^ = 1«, und nicht
minder ist jede Lösung der zweiten zugleich eine Lösung der
ersten. Die Befriedigung der Gleichungen b) und c) ist aber
schon hinreichende Bedingung dafür, dafs die Bahn eine geo-
dätische, bez. eine geradeste sei.
Folgerung 1. In einem holonomen System ist aus einer 191
möglichen Lage in einer möglichen Richtung nur eine einzige
geodätische Bahn möglich (161).
Folgerung 2. In einem holonomen System ist zwischen 192
irgend zwei möglichen Lagen immer mindestens eine geradeste
Bahn möglich (173).
Lehrsatz. Ist in einem materiellen System jede geodä- 193
tische Bahn zugleich eine geradeste Bahn, so ist das System
ein holonomes.
Denn von jeder möglichen Lage aus ist in gegebener
Eichtung nach 161 nur eine einzige geradeste, also nach Vor-
aussetzung nur eine einzige geodätische Bahn möglich. Gleich-
wohl ist nach 173 jede mögliche Lage durch eine dieser
Bahnen zu erreichen. Es ist also die Zahl der Bewegungs-
freiheiten des Systems gleich der Zahl seiner unabhängigen
Koordinaten, also nach 146 das System ein holonomes.
118 Erstes Buch.
194 Folgerung. In einem System, welches kein holonomes ist,
ist im allgemeinen eine geodätische Bahn nicht zugleich eine
geradeste Bahn.
Dies geht übrigens schon daraus hervor, dafs in jeder
Sichtung nur eine geradeste, aber viele geodätische Bahnen
möglich sind (161 imd 187).
195 Bemerkung. In einem Systeme, welches kein holonomes
ist, ist eine geradeste Bahn im allgemeinen nicht zugleich eine
geodätische Bahn.
Die Behauptung ist bewiesen, sobald Beispiele von Systemen
vorgezeigt werden, in welchen sich die geradesten Bahnen
nicht unter den geodätischen finden. Nehmen wir deshalb
der Einfachheit halber an, es bestehe nur eine einzige nicht
integrierbare Bedingungsgleichung zwischen den r Koordinaten
Pq des Systems, und es sei dieselbe:
r
a) ^^PiqPq = •
1
Machen wir nun die Annahme, es sei jede geradeste Bahn
zugleich eine geodätische. Dann liefse sich ftLr jedes mögliche
Wertsystem der pg und p^ mindestens ein Wertsystem der
Pg so bestimmen, dafs zugleich den Gleichungen 158 d und
185 a genügt ist. Es müfsten daher auch für alle möglichen
Pq und Pq die durch paarweise Subtraktion jener Gleichungen
zu erhaltenden Gleichungen
zu befriedigen sein. Dies sind aber r Gleichungen für die
eine Gröfse {IIi—ni)lnij und sie sind nur verträglich mit
einander, wenn fiir alle Wertpaare der q und r
^2-f^-|^k-i:S
'dpia
Pie ^ \öPe ^Po r P^r^ \^P-
ist. Drücken wir in r — 1 von einander unabhängigen dieser
Flächen von Lagen, 119
Gleichungen eine der Gröfsen p^ mit Hülfe von Gleichung a)
durch die übrigen aus, so sind die Verhältnisse zwischen den
letzteren nun völlig willkürliche Gröfsen. Der Eoefßcient jeder
einzelnen dieser Gröfsen mufs also fCLr sich verschwinden.
Wir erhalten so als notwendige Folge unserer Annahme im
ganzen (r— 1)* Gleichungen zwischen den r Funktionen p^
und ihren r^ partiellen ersten Differentialquotienten. In be-
sonderen Fällen können diese Gleichungen sämtlich befriedigt
sein, denn sie sind befriedigt, wenn die Gleichung a) integrabel
ist. Aber im allgemeinen haben wir kein Becht, die Funk-
tionen piQ auch nur einer einzigen Bedingung unterworfen
vorauszusetzen, und im allgemeinen war also unsere Annahme
unzulässig. Damit ist die Behauptung erwiesen.
Ergebnis. (190 bis 195). In holonomen Systemen decken 196
sich die Begriffe der geradesten und der geodätischen Bahnen
dem Inhalt nach vollständig; in nichtholonomen Systemen
schliefst keiner dieser Begriffe den andern ein, sondern beide
haben im allgemeinen vollständig verschiedenen Inhalt.
Abschnitt 6. Von der geradesten Entfernung in
holonomen Systemen
Vorbemerkungen.
1. In diesem Abschnitt soll nur von holonomen Systemen 197
die Bede sein und unter einem System schlechthin also ein
holonomes verstanden werden. Es kann daher, und es soll
vorausgesetzt werden, dafs die benutzten Koordinaten p^ des
Systems sämtlich freie Koordinaten sind. Die Zahl dieser
Koordinaten ist gleich der Zahl der Bewegungsfreiheiten des
Systems, also unabhängig von unserer Willkür; wir bezeichnen
sie dauernd mit r.
2. Geradeste und geodätische Bahnen fallen in die- 19S
sem Abschnitt zusammen (196), und die gemeinsamen Diffe-
120 Erstes Buch.
rentialgleichungen dieser Bahnen können geschrieben werden
in der Form der r Gleichungen:
dds
diyägg cos 8,pg) =
dp.
welche man ans 186 oder aus 160 erhält, indem man bedenkt,
dafs für die gewählten Koordinaten die sämtlichen Gröfsen p^
gleich Null sind.
199 3. Zufolge derselben Bemerkung erhält man für die
Variation der Länge einer Bahn, welche den vorstehenden
Differentialgleichungen genügt, also der Länge einer geodätischen
Bahn, aus 184:
r r
Sfds = 2
dds
-^0
oder unter Berücksichtigung von 92:
r 1
sfds = 2^ \Yö^ cos SjPq Spg^
in welchen Gleichungen also die Sp^ die Variationen der
Koordinaten der Endlage, und die cos s^p^ die Bichtungscosinus
der Endelemente der betrachteten geodätischen Bahn be-
zeichnen.
I. Flächen von Lagen.
200 Definition, unter einer Fläche von Lagen verstehen wir
im allgemeinen eine stetig zusammenhängende Gesamtheit von
Lagen. Im besonderen aber soll hier unter einer Fläche eine Ge-
samtheit möglicher Lagen eines holonomen Systems verstanden
sein, welche dadurch charakterisiert ist, dafs die Koordinaten
der ihr angehörigen Lagen einer einzigen endlichen Gleichung
unter sich genügen.
Die Gesamtheit der Lagen, welche gleichzeitig zweien
Flächm von Lagen, 121
oder mehr Flächen angehören, bezeichnen wir auch als den
Durchschnitt jener zwei oder mehr Flächen.
Anmerkung 1. Durch jede Lage einer Fläche kann eine 201
unendliche Mannigfaltigkeit von Bahnen gezogen werden, deren
sämtliche Lagen der Fläche angehören. Wir sagen von diesen
Bahnen, dafs sie der Fläche angehören, oder in der Fläche
liegen; wir brauchen die gleiche Ausdrucksweise für die Ele-
mente der Bahnen und für unendlich kleine Verrückungen
überhaupt.
Anmerkung 2. Eine Bahn, welche nicht einer Fläche 202
angehört, hat mit dieser im allgemeinen eine endHche Anzalil
von Lagen gemeinsam.
Denn die Bahn wird analytisch dargestellt durch r — 1
Gleichungen zwischen den Koordinaten ihrer Lagen, die Fläche
durch eine einzige Gleichung. Nach Voraussetzung sind erstere
Gleichungen unabhängig von der letzteren. Alle zusammen
bilden sie daher r Gleichungen für die r Koordinaten der
gemeinsamen Lagen, welche Gleichungen im allgemeinen keine
oder eine endliche Zahl reeller Lösungen zulassen.
Anmerkung 3. Aus jeder Lage einer Fläche ist eine 20S
(r — 1) fache Mannigfaltigkeit unendlich kleiner Verrückungen
in der Fläche möglich.
Denn von den r unabhängigen Änderungen der Koordi-
naten, welche die Verrückung charakterisieren, können r — 1
willkürlich angenommen werden, die r te ist dann dadurch
bestimmt, dafs die Verrückung der gegebenen Fläche ange-
hören soll.
Lehrsatz 1. Es ist stets eine, und- im allgemeinen nur 204
eine Bichtung anzugeben möglich, welche auf r — 1 ver-
schiedenen unendlich kleinen Verrückungen eines Systems (197)
aus derselben Lage senkrecht steht.
Es sei d^pQ die Änderung der Koordinate p^ für die
rte jener r — 1 Verrückungen; es sei 8p ^ die Änderung der
Koordinate p^ für eine weitere Verrückung. Soll die letztere
anf jenen senkrecht sein, so ist notwendig und hinreichend,
dafs r — 1 Gleichungen der Form (58)
122 Erstes Buch.
r r
1 1
erfüllt seien. Dies sind aber r — 1 nicht homogene, lineare
Gleichungen für die r — 1 Verhältnisse der Sp^ unter sich; sie
können also stets, und zwar im allgemeinen nur durch ein Wert-
system dieser Verhältnisse befriedigt werden. In Ausnahme-
fallen kann Unbestimmtheit eintreten; solche mufs z. B. dann
emtreten, wenn irgend drei der r - 1 Verrückungen so ge-
wählt sind, dafs jede Verrückung, welche auf zwei von ihnen
senkrecht ist, auch auf der dritten senkrecht steht.
205 Lehrsatz 2. Steht eine Bichtung senkrecht auf r — 1
verschiedenen Verrückungen, welche einer Fläche in einer
bestimmten Lage angehören, so steht sie senkrecht auf jeder
Verrückung, welche der Fläche in dieser Lage angehört.
Die Verrückungen, welche einer Fläche in einer be-
stimmten Lage angehören, sind dadurch charakterisiert, dafs
die entsprechenden dp^ einer einzigen homogenen linearen
Gleichung unter sich genügen, der Gleichung nämlich, welche
durch Differentiation der Gleichung der Fläche erhalten wird.
Genügen nun die r — 1 Wertsysteme der d^p^ jener Gleich-
ung, so genügen auch die Gröfsen
r— 1
dpg =^l^djp^
1
derselben, worin die X^ willkürliche Faktoren bezeichnen. Die
dpQ gehören also einer beliebigen Verrückung in der Fläche
an, und zwar kann jede Verrückung der Fläche in dieser
Form dargestellt werden, da die rechte Seite der Gleichung
eine (r — 1) fache willkürliche Mannigfaltigkeit enthält.
Nach Voraussetzung ist nun (204):
r r
1 1
durch Multiplikation dieser Gleichungen mit den ^ und
Addition folgt:
Mächen von Lagen. 123
r r
2^2" ^9(r^P9 ^PiJ=^^ j
1 1
welches die Behauptung ist (58).
Definition. Eine Yerrückung aus einer Lage einer Fläche 206
heifst senkrecht auf der Fläche, wenn sie senbrecht steht auf
jeder Verrückung, welche in der gleichen Lage der Fläche
angehört.
Folgerung 1. Li jeder Lage einer Fläche giebt es stets 207
eine, und im allgemeinen nur eine Richtung, welche senk-
recht auf der Fläche steht.
Polgerong 2. Li jeder Lage einer Fläche ist stets eine, 208
und im allgemeinen nur eine geradeste Bahn auf der Fläche
senkrecht zu errichten möglich.
Definition 1. Schar von Flächen nennen wir eine Ge- 209
samtheit von Flächen, deren Gleichungen (200) sich nur unter-
scheiden durch den Wert einer in ihnen vorkommenden Kon-
stanten.
Bezeichnung. Jede Schar von Flächen kann analytisch 210
dargestellt werden durch eine Gleichung der Form:
R = constans ,
welche nämlich erhalten wird durch Auflösung der Gleichung
einer der Flächen nach der variierenden Konstanten, und in
welcher die rechte Seite die möglichen Werte eben dieser
Konstanten, die linke Seite aber eine Funktion der Koordi-
naten Pq bezeichnet. Jeder Fläche jener Schar entspricht
ein bestimmter Wert der rechts stehenden Konstanten, also
ein bestimmter Wert der Funktion R. Solche Flächen, flir
welche die Werte der Funktion R nur unendlich kleine Unter-
schiede dR zeigen, nennen wir Nachbarflächen.
Definition 2. Senkrechte Trajektorie einer Schar von 211
Flächen nennen wir eine Bahn, welche die Schar senkrecht
durchschneidet , d. h. welche auf jeder Fläche der Schar in
den gemeinsamen Lagen (202) senkrecht steht.
124 Erstes Buch.
212 Lehrsatz. Damit eine Bahn senkrechte Trajektorie der
Schar
a) JR = constans
sei, ist hinreichende und notwendige Bedingung, dafs sie in
jeder ihrer Lagen r Gleichungen der Form
b) yö^cos 8,pg = f
dB
dpo
genüge, in welchen die s^p^ die Neigungen der Bahn gegen
die Koordinaten p^ bezeichnen, und in welchen f eine fiir alle
r Gleichungen identische, übrigens mit der Lage sich ändernde
Funktion der p^ ist.
Wir konstruieren von der betrachteten Lage der Bahn
aus eine unendlich kleine Verrückung, deren Länge Sa sei,
bei deren Durchlaufung sich die p^ um Sp^ und R um SB
ändern möge, welche endlich mit der betrachteten Bahn den
Winkel s,(t bilden möge. Multiplizieren wir die Gleichungen b)
der Reihe nach mit den Sp^ und addieren, so folgt (78 a und 85):
c) Sa cos 8,0 = 2 /"^ Spg = fSE .
Gehört nun die Verrückung Sa einer Fläche der Schar a) an,
nämlich derjenigen Fläche, welche die betrachtete Lage mit der
Bahn gemeinsam hat, so ist SB = 0, also ä,o" = 90®. Die
Richtung der Bahn steht daher senkrecht auf der durch-
schnittenen Fläche (206), und die Gleichungen b) bilden die
hinreichenden Bedingungen dafür, dafs dies in jeder Lage ein-
trete. Sie bilden aber auch die notwendigen Bedingungen
hierfür, da, von Ausnahmefällen abgesehen, in jeder Lage nur
eine einzige Richtung der gestellten Forderung genügt.
213 Zusatz 1. Der senkrechte Abstand zweier Nachbarflächen
der betrachteten Schar in irgend einer Lage ist gleich
fdR .
Geradeste Entfernung. 125
Denn lassen wir die Verrückung Sa des vorigen Beweises
nach Eichtnng und Länge jetzt zusammenfallen mit dem Teil
der senkrechten Trajektorie, welcher zwischen beiden Flächen
liegt^ so fällt Sa zusammen mit dem betrachteten Abstand,
der Winkel s,(t aber wird Null, und so folgt aus Gleichung 212 c
die Behauptung.
Zusatz 2. Die in den Gleichungen der senkrechten Tra- 214
jektorien auftretende Funktion f wird erhalten als Wurzel
der Gleichung:
1 -^ '^ 7 dR dR
Denn diese Gleichung folgt, wenn wir die Werte der r
Bichtungscosinus nach 2121) einsetzen in die Gleichung 8S,
welcher sie genügen müssen. Welche Wurzel zu wählen sei,
hängt davon ab, ob wir die Richtung der Trajektorie nach
wachsenden Werten von R oder nach abnehmenden als positiv
rechnen.
2. Geradeste Entfernung.
Definition. Geradeste Entfernung zweier Lagen eines ho- 215
lonomen Systems heifst die Länge einer sie verbindenden ge-
radesten Bahn.
Anmerkung. Zwei Lagen können mehr als eine geradeste 210
Entfernung haben. Unter diesen finden sich die Längen der
kürzesten Bahnen zwischen beiden Lagen, also auch die Länge
der absolut kürzesten Bahn. Wenn von der geradesten Ent-
fernung zweier Lagen als einer eindeutig bestimmten gespro-
chen wird, so soll von dieser letzteren die Eede sein.
CL.
Analytische Darstellung. Die geradeste Entfernung zweier 217
Lagen kann als Funktion der Koordinaten dieser Lagen dar-
gestellt werden. Diejenige Lage, welche als Ausgangslage be-
trachtet wird, werde dauernd mit 0, ihre Koordinaten mit />;,
bezeichnet; diejenige Lage, welche als Endlage betrachtet
126 Erstes Buch,
wird, werde dauernd mit 1, ihre Koordinaten mit p^^ be-
zeichnet, so dafs die Richtung der geradesten Bahn stets
positiv gerechnet ist von gegen 1. Die geradeste Ent-
fernung ist alsdann eine flir alle Wertsysteme der p^ und p^^
definierte Funktion dieser 2r Gröfsen. Den analytischen Aus-
druck der geradesten Entfernung, ausgedrückt in eben diesen
Yariabelen, bezeichnen wir durch 8, und nennen diesen ana-
lytischen Ausdruck auch kurz die geradeste Entfernung des
Systems.
218 Anmerkung 1. Die Funktion 8 ist im allgemeinen eine
mehrdeutige Funktion ihrer Unabhängigen. Von den Zweigen
dieser Funktion Verschwindet einer und nur einer zugleich mit
verschwindendem Unterschiede zwischen den p^ und />^. Von
diesem Zweig ist (216) die Rede in solchen Aussagen, in
welchen von 8 als von einer eindeutig bestimmten Funktion
gesprochen wird.
219 Anmerkung 2. Die Funktion 8 ist symmetrisch in Hin-
sicht der Pq^ und p^^ in dem Sinne, dafs 8 seinen Wert nicht
ändert, wenn die Pq^ und p^^ für alle Werte des q gleich-
zeitig mit einander vertauscht werden.
Denn mit dieser Vertauschung vertauschen wir nur die
Anfangs- und die Endlage.
220 Bemerkung. Wenn die geradeste Entfernung eines Systems
in irgend welchen freien Koordinaten desselben gegeben ist,
so sind damit die sämtlichen geradesten Bahnen des Systems
in eben diesen Koordinaten gegeben, ohne dafs eine weitere
Kenntnifs darüber nötig wäre, in welcher Weise die Lage der
einzelnen materiellen Punkte des Systems von jenen Koordi-
naten abhängt.
Denn die geradeste Entfernung irgend zweier unendlich
benachbarter Lagen des Systems ist zugleich die Länge der
unendlich kleinen Verrückung zwischen ihnen; läfst sich aber
diese letztere durch die gewählten Koordinaten darstellen, so
trifft die Behauptung zu nach 163.
221 Aufgabe. Aus der geradesten Entfernung eines Systems
den Ausdruck für die Länge seiner unendlich kleinen Ver-
rückungen abzuleiten.
Geradeste Entfernung. 127
In 8 setzen wir fiir die Pq^ jetzt pg, für die p^ jetzt
Pß+dp^j und lassen alsdann die dp^ sehr klein werden. Wir
wissen bereits (57 d), dafs sich alsdann die Entfernung der
beiden Lagen als Quadratwurzel einer homogenen quadrati-
schen Funktion der dp^ darstellt. S selbst läfst sich also
nicht in eine Reihe nach aufsteigenden Potenzen der dp^ ent-
wickeln, wohl aber S^j und in dieser Entwickelung müssen
die quadratischen Glieder die ersten sein, welche nicht ver-
schwinden. Drücken wir also durch einen übergesetzten Strich
aus, dafs in der betreffenden Funktion die p^^p^^^p^ ge-
setzt werden sollen, so erhalten wir für die Entfernung der
beiden Lagen, also für die Gröfse der Verrückung:
r r ^2^
^''-Y2'2^ä^-ä;^'^P9^p-
f T" ^Per ^P-^
und es wird also die Funktion a^:
1 5252
Mit gleichem Bechte wird auch erhalten:
_ 1 d^S^
'*" ^Sp^Sp„, •
Diese Werte der a^a kann man benutzen, um indirekt
von der Funktion 8 zu den geradesten Bahnen zu gelangen.
Die folgenden Lehrsätze bieten einen direkteren Weg zu dem
gleichen Ziele dar.
Lehrsatz. Eine Fläche, deren sämtliche Lagen gleiche 222
geradeste Entfernung haben von einer festen Lage, wird senk-
recht durchschnitten von allen geradesten Bahnen, welche
durch jene feste Lage gehen.
Es seien die Pq^ die Koordinaten der festen Lage, die
Pg^ die Koordinaten einer Lage der Fläche. Wir gehen von
der letzteren zu einer anderen Lage der Fläche über, ftir
128 Erstes Buch.
welche die p^^ sich geändert haben um dp^^ . Dabei hat sich
die geradeste Entfernung von der festen Lage nach der
Voraussetzung um Nichts geändert; nach 199 aber hat sie
r
sich geändert um ^e yö^ cos s^pg^ dp^^ , wenn s,pg^ den
1
Winkel bezeichnet, welchen die geradeste Bahn in 1 mit der
Bichtung von pg bildet. Es ist also:
2^ yö^ ^^^ ^?P?i ^Pr. = ^ '
und diese Gleichung sagt aus, dafs die geradeste Bahn auf der
Verrückung der dp^^ senkrecht steht (86 und 78 a). Da dies
gilt für jede beliebige Verrückung, welche in 1 der Fläche
angehört, so folgt (206) die Behauptung.
223 Folgerang 1. Die geradesten Bahnen, welche durch eine
feste Lage hindurch gehen, sind die senkrechten Trajektorien
einer Schar von Flächen, welche der Bedingung genügen,
dafs die sämtlichen Lagen einer jeden gleiche geradeste Ent-
fernung von jener festen Lage haben.
224 Folgerung 2. Die sämtlichen geradesten Bahnen, welche
durch die feste Lage hindurch gehen, genügen den r
Gleichungen :
68
a) yö^ cos s,p^^ =
^P9r
in welchen die p^^ als die Koordinaten der variabelen Lage
der Bahn und die cos s^pg^ als die Eichtungscosinus der Bahn
in dieser Lage zu betrachten sind.
Denn die Gleichungen a) sind die Gleichungen der senk-
rechten Trajektorien einer Schar von Flächen, welche durch
die Gleichung
b) aS' = constans
dargestellt wird. Wäre nämlich 8 eine beliebige Funktion
Geradeste Entfernung. 129
der variabelen Koordinaten p^ , so wären nach 212 die Gleich-
ungen der senkrechten Trajektorien:
und der senkrechte Abstand zweier Nachbarflächen wäre gleich
fdS , Nach der besonderen Natur unserer Funktion S (217, 222)
ist aber dieser Abstand gleich dS selbst, also folgt
/•=! , d)
und die allgemeinen G-leichungen c) nehmen die besondere
Form a) an.
Anmerkung 1. Die Gleichungen 224a, welche Differen- 225
tialgleichungen erster Ordnung sind, können auch angesehen
werden als die Gleichungen geradester Bahnen in endlicher
Form, sobald wir nämlich in denselben die p^^ als die Va-
riabelen, die 2r Gröfsen p^^ und s^p^^ aber als Konstanten
betrachten.
Denn bestimmen wir aus jenen Gleichungen eine Reihe
von Lagen in solcher Weise, dafs bei festgehaltenen Werten
der Pq^ auch die Werte der s,Pq^ unverändert bleiben, so erhalten
wir solche Lagen 0, von welchen aus die nach der Lage 1
gezogenen geradesten Bahnen in dieser Lage 1 eine feste Rich-
tung haben. Da nun aber nur eine einzige geradfeste Bahn
von dieser Eigenschaft möglich ist, so müssen alle so be-
stimmten Lagen dieser einen Bahn angehören, ihre Gesamt-
heit bildet diese Bahn, und diese letztere wird also selbst
dargestellt durch die Gleichungen 224 a.
Anmerkung 2. Im Beweise des Lehrsatzes 222 hätten 226
wir mit gleichem Rechte die Lage 1 als die feste, die Lage
als die variabele Lage einfuhren können. Anstatt zu den
Gleichungen 224 a wären wir alsdann gelangt zu den Gleich-
ungen:
«j q
YägQ, cos s,pg^ = - — . a)
Hertz, Mechanik. 9
130 Erstes Buch.
Der Unterschied im Vorzeichen der rechten Seite erklärt
sich daraus, dass nunmehr das Fortschreiten von der festen
Lage aus nach 217 als Fortschreiten in negativer Richtung
zu bezeichnen ist. Wie die Gleichungen 224 a stellen auch
die Gleichungen 226 a geradeste Bahnen dar. Es sind Diffe-
rentialgleichungen erster Ordnung aller geradesten Bahnen,
welche durch die feste Lage der p^^ hindurchgehen, und zu-
gleich die endlichen Gleichungen der einen bestimmten Bahn,
welche durch die Lage p^^ hindurchgeht und in dieser mit den
Koordinaten die Winkel s,Pq^ bildet.
227 rolgenmg 8. Die geradeste Entfernung S eines Systems
genügt als Funktion der p^^ der partiellen Differentialgleichung
erster Ordnung:
^^ , dS dS
und ebenso als Funktion der p^^ der partiellen Differential-
gleichung erster Ordnung:
^ ^ , dS dS
Denn beide Gleichungen folgen aus 214 und 224 d; sie
werden auch unmittelbar erhalten, indem man die Richtungs-
cosinus einer geradesten Bahn, ausgedrückt durch S nach
224 a oder 226 a, einsetzt in die Gleichung 88, welcher die
Winkel einer jeden beliebigen Richtung mit den Koordinaten
genügen.
228 Lehrsatz. Errichtet man in allen Lagen einer beliebigen
Fläche geradeste Bahnen senkrecht zur Fläche, und trägt auf
allen die gleiche Länge ab, so wird die so erhaltene neue
Fläche von jenen geradesten Bahnen ebenfalls senkrecht durch-
schnitten.
Die Lagen der ursprünglichen Fläche seien mit 0, die
der neu construierten mit 1 bezeichnet. Es seien die s,Pq^
bez. s,Pq^ die Winkel, welche eine bestimmte der geradesten
Bahnen an der ersten bez. an der zweiten Fläche mit den
Geradeste Entfernung, 131
Koordinaten bildet. Gehen wir von dieser geradesten Bahn
zu irgend einer benachbarten über, so ändert sich die Länge
der Bahn nach 199 um
2^ Yä^, cos 8,pf,^ dp^^ - 2 ^^99. ^^^ ^^Pqo ^Pq, '
1 1
wenn die dp^ iind dp^^ die Änderungen der p^ in den
Lagen 1 und bezeichnen. Nach der Konstruktion ist aber
diese Änderung gleich Null, und ebenso ist nach der Konstruktion
2^ lS7o ^^^ ^^Pqo dPa, = ,
da ja die Bahn auf der ursprünglichen Fläche senkrecht steht.
Daher ist nun auch
2^ yö^ cos Sypg^ dp^^ = ,
und da die dp^^ jede beliebige Verrückung in der Fläche
der Lagen 1 bezeichnen können, so ist damit die Behauptung
erwiesen.
Folgerung 1. Die senkrechten Trajektorien einer be- 229
liebigen Schar von Flächen, von welchen jede in allen ihren
Lagen denselben senkrechten geradesten Abstand von ihren
Nachbarflächen hat, sind geradeste Bahnen.
rolgerung 2. Ist R eine Funktion der r Koordinaten
Pq von solcher Beschaffenheit, daUs die Gleichung
R = constans a)
eine Schar von Flächen darstellt, deren jede von ihren Nach-
barn in allen Lagen den gleichen senkrechten geradesten Ab-
stand dR hat, so sind die Gleichungen:
1/ — dR
Va^^ cos 8,p^ = — b)
9*
132 Erstes Buch.
die Gleichungen der senkrechten Trajektorien, also die Gleich-
ungen geradester Bahnen. Und zwar sind diese Gleichungen
Differentialgleichungen erster Ordnung fiir jene Bahnen.
Denn wäre B eine ganz beliebige Funktion der p^, so
stellten die Gleichungen 212b die senkrechten Trajektorien
der Schal' a) vor, und es wäre nach 213 der senkrechte Ab-
stand zweier Nachbarflächen gleich fdB. Nach unserer be-
sonderen Voraussetzung ist aber dieser Abstand konstant und
gleich dE, also ist /= 1, und es gehen daher die Gleichungen
212 b in die obigen Gleichungen b) über.
231 Folgening 3. Stellt die Gleichung
H = constans
eine Schar von Flächen dar von solcher Beschaffenheit, dafs
jede unter ihnen von ihren Nachbarn in allen Lagen den
gleichen senkrechten geradesten Abstand dB hat, so genügt
die Funktion R der partiellen Differentialgleichung:
^^ '^n 7 dB dB
Denn diese Gleichung folgt aus 214 und 230; sie wird
auch unmittelbar erhalten, wenn wir die Richtungscosinus einer
geradesten Bahn nach 230 b einsetzen in die Gleichung S8^
welcher die Winkel einer jeden Richtung mit den Koordinaten
genügen.
232 Lehrsatz 1. (ümkehning von 231.) Genügt die Funktion
B der partiellen Differentialgleichung:
'^ -%-! 7 dB dB ^
2F2''h<^ep]8p-r^ '
so stellt die Gleichung
R = constans
eine Schar von Flächen dar von solcher Beschaffenheit, dafs
i
Geradeste Entfernung, 133
jede unter ihnen von ihren Nachbarn in allen Lagen gleichen
senkrechten geradesten Abstand hat, und zwar einen Abstand,
welcher durch die Änderung von B gemessen wird.
Denn wäre B eine ganz beliebige Funktion, so wären die
senkrechten Trajektorien der Schar gegeben durch Gleichungen
der Form 212 b, und der senkrechte Abstand zweier Nachbar-
flächen in jeder Lage wäre fdE. Aus der besonderen Voraus-
setzung, welcher wir die Funktion JR unterwarfen., folgt aber
nach 214: f=l, und also die Behauptung.
Lehrsatz 2. Ist die Funktion JR der p^ eine beliebige 28S
Lösung der partiellen Differentialgleichung:
SO sind die Gleichungen
]/agg COS S,Pg = — b)
Gleichungen geradester Bahnen. Und zwar sind es Differential-
gleichungen erster Ordnung der durch sie dargestellten ge-
radesten Bahnen.
Der Satz folgt unmittelbar aus 230 und 232.
Anmerkung. Obwohl jede Bahn, welche durch die Gleich- 234
ungen 2331) dargestellt wird, eine geradeste ist, so läfst sich
doch nicht umgekehrt allgemein jede geradeste Bahn in dieser
Form darstellen. Die Mannigfaltigkeit der geradesten Bahnen,
welche in der gegebenen Form enthalten sind, hängt vielmehr
ab von der Mannigfaltigkeit, welche die Funktion B als Lösung
der Differentialgleichung besitzt, d. h. von der Zahl ihrer will-
kürlichen Konstanten.
Ist aber im besondern R eine vollständige Lösung, ent-
hält also R r willkürliche Konstanten a^, a^, .... «r— i? von
welchen die erste die notwendig vorhandene additive Konstante
bezeichne, so lassen sich alle geradesten Bahnen des Systems
in der Form 2331) darstellen. Denn die rechten Seiten dieser
r Gleichungen (von welchen nur r— 1 unabhängig von einander
134 Erstes Buch.
sind) enthalten dann r— 1 Konstanten, welche hinreichen, um
der dargestellten Bahn in einer willkürlichen Lage eine durch
r— 1 unabhängige Bichtungscosinus bestimmte willkürliche
Bichtung zu erteilen. Können wir aber eine Lage der dar-
gestellten Bahn und ihre Bichtung in dieser Lage willkürlich
wählen, so können wir alle geradesten Bahnen darstellen.
Lehrsatz 3. (Jacobi's Satz.) Es bezeichne B eine voll-
ständige Lösung der Differentialgleichung
and es seien ihre wiUkürlichen Eonstanten, von der additiven
abgesehen, cc-^, a^, o^r— i- ^s geben alsdann die r— 1
Gleichungen
dB ^
*> d^r^' '
in welchen die ßj ?•— 1 neue willkürliche Konstanten sind, die
Gleichungen der geradesten Bahnen des Systems in endlicher
Form.
Zum Beweise zeigen wir, dafs die Bahnen, welche durch
die Gleichungen b) dargestellt werden, senkrechte Trajektorien
der Schar
c) R = constans
sind; alsdann folgt die Behauptung nach 232 und 229.
Um nun erstens die Bichtung der dargestellten Bahn zu
finden, differentiieren wir die Gleichungen b) in Bichtung der-
selben, d. h. wir bilden jene Gleichungen für zwei um ds entfernte
Lagen der Bahn, in welchen sich die p^ um die dp^ unter-
scheiden, subtrahieren, und dividieren durch ds. Wir erhalten
so r— 1 Gleichungen der Form:
^ dp^dUr ds
Oeradeste Entfernung. 135
oder, wenn wir in dieselben nach 79 und 78 die Richtungs- (236)
Cosinus des betrachteten Bahnelementes einfuhren:
welche Gleichungen nunmehr r—l nicht homogene, lineare
Gleichungen für die r—l Verhältnisse der Eichtungscosinus
unter einander bilden.
Zweitens bemerken wir, dafs die Gleichung a) für alle
Werte der Konstanten a^ gilt; wir können sie also nach diesen
Gröfsen differentiieren, und indem wir dies thun, erhalten wir
r—l Gleichungen, welche sich schreiben lassen in der Form:
du '^ j du
*Q
y? f>ga ^-^- = , e)
und welche Beziehungen darstellen, welchen die partiellen DifFe-
rentialquotienten von R zufolge unserer besonderen Voraus-
setzungen über diese Funktion genügen müssen.
Stellen nun die Gleichungen b) für die gerade betrach-
teten Werte der a^ und ß^ überhaupt eine bestimmte Bahn
vor, so müssen aus den Gleichungen d) eindeutig bestimmte
Werte für die Verhältnisse der Richtungscosinus zu einem
unter ihnen folgen. Ganz dieselben eindeutig bestimmten
Werte müssen dann aber auch aus den Gleichungen e) fär
die Verhältnisse der Gröfsen dB/dp^ zu einer unter ihnen
sich ergeben. Ist also f ein noch zu bestimmender Faktor,
so mufs sein:
Demnach ist nach 212 die betrachtete Bahn die senkrechte
Trajektorie der Schar c), was wir beweisen woUten. Der
Faktor f wird gleich der Einheit gefunden.
Die Voraussetzung, dafs dief r—l Gleichungen b) für
bestimmte Werte der cc^ und ß^ eine bestimmte Bahn be-
136 Erstes Buch.
zeichnen, würde nur dann nicht zutreffen, wenn diese Gleich-
ungen nicht unabhängig von einander wären. Dann aber
wären auch die willkürlichen Konstanten nicht von einander
unabhängig und die Lösung wäre keine vollständige Lösung^
was wir doch voraussetzten.
236 Aufgabe. Aus einer beliebigen vollständigen Lösung E
der Differentialgleichung 235 a die geradeste Entfernung S des
Systems zu ermitteln.
Unter S ist also wieder zu verstehen die geradeste Ent-
fernung zweier Lagen und 1 mit den Koordinaten jo^ und /?^ .
In den r— 1 Gleichungen 235b setzen wir für die pg das eine
Mal die p^^ , das andere Mal die p^^ . Aus den entstehenden
2r— 2 Gleichungen eliminieren wir die ß^ und stellen die cc^ als
Funktionen der p^^ und p^^ dar. Diese Funktionen werden
symmetrisch in Bezug auf p^^ und p^^ , sie geben diejenigen
Werte, welche die Ur haben müssen, damit die durch sie be-
zeichneten Bahnen durch bestimmte Lagen und 1 hindurch-
gehen.
Wir haben nun erstens für irgend eine Lage 1 nach
224 a und 233 b:
dS IdR
^Pe. Weil
und zweitens für irgend eine Lage nach 226 a und 233 b:
^Pe. " "" \ Wo
Setzen wir in den rechten Seiten dieser Gleichungen für
die a^ ihre Werte in den /?^ und pg^ ein, und die p^ selbst
in der ersten gleich p^^ , in der zweiten gleich p^^ , so erhalten
wir die ersten Differentialquotienten von S nach den sämt-
lichen unabhängigen Variabelen ausgedrückt als Funktionen
dieser Variabelen. S kann also dann durch einfache Inte-
grationen gefunden werden.
Vektorgröfsen eines Systems, 137
Abschnitt 7. Kinematische Begriffe.
I. VektorgröTsen in Bezug auf ein System.
Definition. Vektorgröfse in Bezug auf ein System heifst 237
jede Gröfse, welche zu dem System in Beziehung steht, und
welche dieselbe Art der mathematischen Mannigfaltigkeit hat,
wie eine denkbare Verrückung des Systems.
Bemerkungen dazu.
1. Eine Verrtickung eines Systems ist selbst eine Vektor- 238
gröfse in Bezug auf das System. Jedes Produkt einer Ver-
riickiing des Systems mit irgend welchen nicht gerichteten
Gröfsen ist eine Vektorgröfse in Bezug auf das System.
2. Jede Vektorgröfse in Bezug auf ein System kann 239
geometrisch dargestellt werden durch eine denkbare Ver-
rückung des Systems. Die Eichtung der sie darstellenden Ver-
rückung nennen wir auch die Richtung der Vektorgröfse. Der
Mafsstab der Darstellung kann und soll stets so gewählt
werden, dafs die darstellende Verrückung unendlich klein wird.
Jeder Vektor in Bezug auf ein System, welcher sich mit der
Lage des Systems ändert, kann alsdann dargestellt werden als
eine unendlich kleine Verrückung des Systems aus der Lage,
zu welcher sein augenblicklicher Wert gehört.
3. Eine Vektorgröfse in Bezug auf einen einzelnen mate- 240
riellen Punkt ist ein Vektor im gewöhnlichen Sinne des Wortes.
Jeder Vektor in Bezug auf einen Punkt kann dargestellt werden
durch eine geometrische Verrückung des Punktes, insbesondere
durch eine unendlich kleine Verrückung aus seiner gegen-
wärtigen Lage.
4. Unter Komponenten und reduzierten Komponenten 241
eines Vektors sind diejenigen Vektoren gleicher Art verstanden,
welche dargestellt sind durch die Komponenten und reduzierten
138 Erstes Buch,
Komponenten derjenigen unendKch kleinen Verrüclning, welche
den ursprünglichen Vektor darstellt (48, 71).
Die reduzierte Komponente eines bestimmten Vektors in
Richtung einer Koordinate p^ nennen wir wiederum kurz die
Komponente des Vektors nach p^ , oder noch kürzer den Vektor
nach der Koordinate p^ .
Wo es ohne Mifsverständnifs geschehen kann, wird mit
Komponente oder reduzierte Komponente kurz die Gröfse
dieser Komponenten bezeichnet.
242 Aufgabe la. Aus den Komponenten ky eines Vektors
nach den 3n rechtwinkligen Koordinaten die Komponenten k^
nach den allgemeinen Koordinaten p^ abzuleiten.
Sind die dxy die Komponenten nach den Xy derjenigen
Verrückung, welche die Vektorgröfse darstellt, und sind die
dpg die Komponenten derselben Verrückung nach den p^ ,
so sind nach 80 die dp^ durch die d£y gegeben. Den dp^ und
dxy aber sind die k^ und hy beziehlich proportional, also ist
3n ^** ^
1 1 ^Pq
243 Aufjg^abe Ib. Aus den Komponenten k^ eines Vektors
nach den p^ die Komponenten hy des Vektors nach den recht-
winkligen Koordinaten abzuleiten.
Die Gleichungen 242 geben nur r Gleichungen für die
3n Gröfsen hyj aus welchen sich diese letzteren also nicht
bestimmen lassen. In der That ist auch die Aufgabe im all-
gemeinen unbestimmt. Denn nicht alle denkbaren Lagen und
Verrückungen eines Systems lassen sich durch die p^ aus-
drücken, sondern nur ein Teil derselben, unter diesen die
möglichen Verrückungen.
Nur in dem Falle also, dafs der gegebene Vektor einer
Verrückung parallel ist, welche sich durch die p^ und ihre
Änderungen darstellen läfst, ist die Aufgabe lösbar; in diesem
Falle aber ist nach 81
hy = 2^ ßvQ k^
Vektorgröfsen eines Systems, 139
Aufgabe 2a. Aus den Komponenten hy eines Vektors 244
nach den rechtwinkligen Koordinaten seine Gröfse h zu be-
stimmen.
Unter Benutzimg von 83 erhält man:
Bn
m ,2
1 Wl,
Aui^be 2b. Aus den Komponenten k^ eines Vektors 245
nach den allgemeinen Koordinaten p^ seine Gröfse k zu be-
stimmen.
Die Aufgabe ist wiederum im allgemeinen unbestimmt
wie 243.
Nur in dem Falle, dafs aufser den Komponenten k^ noch
die Thatsache bekannt gegeben ist, dafs der fragliche Vektor
einer durch die p^ ausdrückbaren Verrückung parallel ist,
ist k durch die k^ bestimmt, und in diesem Falle ist nach 82
r r
F = ^^^'^ ^Q^ ^Q ^^^
1 1
Aufgabe 3a. Aus den Komponenten hy eines Vektors 246
nach den Xy die Komponente des Vektors in Richtung einer
beliebigen Verrückung ds zu finden.
Ist ds die Länge, und sind die cte^ die reduzierten Kom-
ponenten der Verrückung, durch welche wir den Vektor dar-
stellen, so ist die Komponente dieser Verrückung in Richtung
von ds nach 48 und 84:
3n
ds cos S^S = -j- 2" ^^v dXp
Multiplizieren wir diese Gleichung mit dem Verhältnis
zwischen der Gröfse des Vektors und der Länge der Ver-
rückung, durch welche wir ihn darstellen, so erhalten wir
links die gesuchte Komponente; rechts treten an Stelle der
cte^ die hyj und wir erhalten also als Lösung der Aufgabe die
gesuchte Gröfse gleich:
140 Erstes Buch.
oder nach 72 gleich:
3n r^
2" 1/ — ^v COS S,Zj
247 Aufgabe 3b. Aus den Komponenten k^ eines Vektors
nach den pg die Komponente des Vektors in der Eichtung
einer beliebigen durch die pg ausdrtickbaren Verruckung ds
zu bestimmen.
Wenden wir dieselbe Überlegung an, wie in der vorigen
Aufgabe, so folgt nach 48 und 85 die gesuchte Gröfse gleich:
2' ''S
oder nach 78 und 79 gleich:
r r
2^2*^ *?^ ^Q ^^ ^^^ ^'P'
1 1
248 Anmerkung. Obwohl also durch die Gröfsen k^ im all-
gemeinen nicht alle beliebigen Komponenten eines Vektors be-
stimmt sind, so sind doch durch jene Gröfsen die Kompo-
nenten des Vektors in allen solchen Richtungen bestimmt,
welche sich durch die p^ darstellen lassen, also in jeder mög-
lichen Richtung.
249 Lehrsatz 1. Damit der Vektor, dessen Komponenten nach
den Pq die Gröfsen k^ sind, senkrecht stehe auf einer Ver-
rückung, far welche die p^ die Änderungen dp^ erleiden, ist
notwendige und hinreichende Bedingung die Erfüllung der
Gleichung:
r
2^ kg dpg=-0 .
1
Dies folgt aus 85, wenn wir die k^ den dp^ proportional
annehmen.
Vektorgröfsen eines Systems. 141
Lehrsatz 2. Damit der Vektor, dessen Komponenten 250
nach den p^ die k^ sind, senkrecht stehe auf jeder möglichen
Verrückung des Systems, ist notwendige und hinreichende Be-
dingung, dafs sich die r Gröfsen k^ darstellen lassen in der
Form:
Je
1
in welcher die p^^ den Bedingungsgleichungen des Systems
entnommen (130) und die y^ k frei zu bestimmende Gröfsen sind.
Dies folgt aus 148 und 150, wenn wir die k^ durch die
dpQ dargestellt annehmen.
Bemerkung 1. Vektoren in Bezug auf ein und dasselbe 251
System können zusammengesetzt und zerlegt werden wie die
denkbaren Verrückungen des Systems.
Die Zusammensetzung von Vektoren in Bezug auf das-
selbe System erfolgt also nach den Eegeln der algebraischen
Addition.
Bemerkung 2. • Vektoren in Bezug auf verschiedene Sy- 252
steme sind zu betrachten als Gröfsen verschiedener Art; sie
können nicht zusammengesetzt, noch addiert werden.
Bemerkung 3. Eine Vektorgrösse in Bezug auf ein ge- 253
wisses System kann betrachtet werden als eine Vektorgröfse
in Bezug auf jedes gröfsere System, von welchem das ur-
sprüngliche einen Teil bildet.
Aufgabe 1. Dieselbe Vektorgröfse werde einmal betrachtet 254
als Vektorgröfse in Bezug auf ein Teilsystem, das andere Mal
als Vektorgröfse in Bezug auf das vollständige System. Aus
den Komponenten hy nach den rechtwinkligen Koordinaten x^
im ersten Falle sollen die Komponenten h^ nach den entspre-
chenden Koordinaten Xy im zweiten Falle berechnet werden.
Es sei die Masse des Teilsystems m, die des vollständigen
Systems m . Die Koordinaten Xy des Teilsystems sind zu-
gleich Koordinaten des vollständigen Systems, nur um der
verschiedenen Auffassung willen sind sie als solche mit Xy be-
zeichnet. Erteilen wir daher dem Teilsystem eine beliebige
142 Erstes Buch.
Verrückung, welche eo ipso zugleich eine Verrückung des
vollständigen Systems ist, so ist dx'^ = dxy für die gemein-
samen Koordinaten, während für die übrigen dxy = ist. Nun
ist nach 73: md£y = mydxy und fnd£y = mydxyj also ist
m'd£y = md£y. Für einen Vektor, welcher durch jene Ver-
rückung dargestellt wird, ist die Komponente nach Xy mit cte^ ,
die nach Xy mit d£y proportional. Als Lösung der Aufgabe
erhalten wir also:
mh'p = mhy
für diejenigen v, welche beiden Systemen gemeinsam sind,
während für die übrigen
Äl = ist.
255 Aufgabe 2. Dieselbe Vektorgröfse werde einmal betrachtet
als Vektorgröfse in Bezug auf ein Teilsystem, das andere Mal
als Vektorgröfse in Bezug auf das vollständige System. Aus
den Komponenten k^ nach den allgemeinenÄ^oordinaten p^ im
ersten Falle die Komponenten ä^ nach den entsprechenden
Koordinaten p^ im zweiten zu bestimmen.
Es sei wieder die Masse des Teilsystems m, die des voll-
ständigen Systems m\ Wir setzen voraus, dafs die Koordi-
naten Pq des Teilsystems zugleich Koordinaten des vollstän-
digen Systems sind und nur um der verschiedenen Auffassung
willen im letzteren Falle mit p^ bezeichnet werden. Von den
nicht gemeinsamen p^ setzen wir voraus, dafs sie nicht Koordi-
naten des Teilsystems seien. Unter diesen Voraussetzungen
ergiebt eine der vorigen (254) analoge Betrachtung als Lösung
der Aufgabe:
für die gemeinsamen Koordinaten, während für die übrigen
h'^ = ist.
Ohne die gemachten Voraussetzungen aber ist die Auf-
gabe unbestimmt.
Kinematische Begriffe, 143
2. Bewegung der Systeme.
Erläuterungen.
1. Der Übergang eines Systems materieller Punkte aus 256
einer Anfangslage in eine Endlage, betrachtet unter Berück-
sichtigung der Zeit und der Art des Überganges, heifst eine
Bewegung des Systems aus der Anfangs- in die Endlage (vgl. 27).
Bei einer jeden bestimmten Bewegung durchläuft also das
System eine bestimmte Bahn, und zwar hat es in bestimmten
Zeiten bestimmte Längen derselben durchlaufen.
2. Jede Bewegung eines Systems durch eine denkbare 257
Bahn heifst eine denkbare Bewegung des Systems (11).
3. Jede Bewegung eines Systems durch eine mögliche 258
Bahn heifst eine mögliche Bewegung des Systems (112).
4. Die KinenAtik oder reine Bewegungslehre handelt von 259
den denkbaren und den möglichen Bewegungen der Systeme.
Solange es sich um die Betrachtung gesetzmäfsiger Sy-
steme (119, 120) handelt, fallen die Betrachtungen der Kine-
matik mit denen der Geometrie fast zusammen. Erst wenn
es sich um ungesetzmäfsige Systeme handelt und also die Zeit
in die Bedingungsgleichungen der Systeme eintritt, gewinnt die
Kinematik vor der Geometrie gröfsere Mannigfaltigkeit. Wir
haben indessen nicht nötig, auf eigentlich kinematische Be-
trachtungen einzugehen, sondern dürfen uns hier mit der Er-
örterung einer Anzahl von Grundbegriffen begnügen.
Analytische Darstellung. Die Bewegung eines Systems 260
wird analytisch dargestellt, indem bei Darstellung der be-
schriebenen Bahn die Zeit t als unabhängige Variabele benutzt
wird, oder, was dasselbe ist, indem die Koordinaten der Lage
des Systems als Funktionen der Zeit angegeben werden.
Die DiflFerentialquotienten aller Gröfsen nach der Zeit be-
zeichnen wir nach Newton's Weise durch übergesetzte Punkte.
144 Erstes Buch,
Geschwindigkeit.
261 Definition 1. Die augenblickliche Bewegungsart eines Sy-
stems heifst die Geschwindigkeit . des Systems.
Die Geschwindigkeit ist bestimmt durch die Änderung,
welche die Lage des Systems in einer unendlich kleinen Zeit
erleidet und durch diese Zeit selbst. Sie wird gemessen durch
das von dem absoluten Werte beider unabhängige Verhältnis
dieser Gröfsen.
Lage und Geschwindigkeit eines Systems zusammen nennen
wir den Zustand des Systems.
262 Polgenmg. Die Geschwindigkeit eines Systems kann be-
trachtet werden als Vektorgröfse in Bezug auf das System.
Die Eichtung der Geschwindigkeit ist alsdann die Richtung
des augenblicklichen Bahnelements, die Gröfse der Geschwin-
digkeit ist gleich dem Differentialquotienten der zurückgelegten
Bahnstrecke nach der Zeit.
Die Gröfse der Geschwindigkeit heifst auch die Ge-
schwindigkeit des Systems in seiner Bahn, oder, wo Mifsver-
ständnisse ausgeschlossen sind, die Geschwindigkeit schlechthin.
263 Definition 2. Eine Bewegung eines Systems, bei welcher
die Geschwindigkeit ihre Gröfse nicht ändert, heifst eine
gleichförmige Bewegung.
264 Anmerkung. Gerade Bewegung eines Systems ist eine
Bewegung in gerader Bahn. Bei einer solchen Bewegung
ändert die Geschwindigkeit ihre Richtung nicht.
265 Aufgabe 1. Die Gröfse der Geschwindigkeit, ihre Kom-
ponenten und ihre reduzierten Komponenten in Richtung der
rechtwinkligen Koordinaten auszudrücken durch die Anderungs-
geschwindigkeiten dieser Koordinaten.
Die Gröfse v der Geschwindigkeit ist gegeben durch die
positive Wurzel der Gleichung:
9 US -y^} ,o
KinemoHsche Begriffe. 145
Damacli (241) sind die Komponenten der Geschwindigkeit
in Kichtung der x^ gleich
V m
Xy y
m
und die reduzierten Komponenten in der gleichen Richtung,
oder die Komponenten nach den x^ gleich:
rriy ,
m
Anmerkiing. Die Gröfse der Geschwindigkeit eines Systems 266
ist der quadratische Mittelwert aus der Gröfse der Geschwindig-
keiten aller seiner Massenteilchen.
Aufgabe 2. Die Gröfse der Geschwindigkeit, ihre Kom- 267
ponenten tmd ihre reduzierten Komponenten in Richtung der
allgemeinen Koordinaten p^ auszudrücken durch die Änderungs-
geschwindigkeiten pQ dieser Koordinaten.
Durch Transformation von 265 nach 67 erhalten wir die
Gröfse der Geschwindigkeit als positive Wurzel der Gleichung:
r r
^^ = 2^2" v^^^t^ •
1 1
Damach sind (241) die Komponenten in der Richtung der
Pq gleich
1 ^
\"'QQ 1
und die reduzierten Komponenten in derselben Richtung, oder
die Komponenten nach den Pq gleich:
r
1
Hertz, Mechanik. 10
146 Erstes Buch.
Moment
268 DefinitioiL Das Produkt aus der Masse eines Systems in
seine Geschwindigkeit heiCst die Bewegungsgröfse oder das
Moment des Systems.
Das Moment eines Systems ist also eine Vektorgröfse in
Bezug auf das System. Die Komponenten des Moments nach
irgendwelchen Koordinaten werden gewöhnlich schlechthin die
Momente des Systems nach diesen Koordinaten genannt (241).
269 Bezeichnimg. Die Momente eines Systems nach den all-
gemeinen Koordinaten pg sollen dauernd mit q^ hezeichnet
werden.
270 Aufgabe 1. Die Momente g^ eines Systems nach den p^
auszudrucken durch die Anderungsgeschwindigkeiten dieser
Koordinaten.
Aus 268 und 267 erhalten wir:
r
1
271 Au^be 2. Die Anderungsgeschwindigkeiten der allge-
meinen Koordinaten pg auszudrücken durch die Momente des
Systems nach diesen Koordinaten.
Durch Auflösung der vorigen Gleichungen erhalten wir:
r
m ,
272 Anmerkung. Die Geschwindigkeit und die Bewegungs-
gröfse eines Systems sind solche Vektoren in Bezug auf das
System, welche stets möglichen Verrückungen des Systems
parallel sind (vergl. 243, 245).
Beschleunigung.
273 Definition. Die augenblickliche Veränderungsweise der
Geschwindigkeit eines Systems heifst die Beschleunigung des
Systems.
Kinematische Begriffe. 147
Die Beschleunigung ist bestimmt durch die Änderung,
welche die Geschwindigkeit in unendlich kurzer Zeit erleidet
und diese Zeit selbst; sie wird gemessen durch das von dem
absoluten Werte beider unabhängige Verhältnis dieser Gröfsen.
Folgerung. Die Beschleunigung eines Systems kann be- 274
trachtet werden als Vektorgröfse in Bezug auf das System.
Bilden wir von der gegenwärtigen Lage des Systems aus zwei
Verrückungen, von welchen die eine die gegenwärtige Ge-
schwindigkeit darstellt, die andere die Geschwindigkeit im
nächsten Augenblick, so giebt die DiflPerenz derselben eine
neue Verrückung, deren Richtung die Richtung der Be-
schleunigung ist, während die Gröfse der Beschleunigung
gleich ist dem Verhältnis der Länge jener neuen Verrückung
zum Differentiale der Zeit.
Aufgabe 1. Die Gröfse f der Beschleunigung und ihre 275
Komponenten nach den rechtwinkligen Koordinaten auszu-
drücken durch die Differentialquotienten dieser Koordinaten
nach der Zeit.
Die Komponenten der Geschwindigkeit nach den Xy, jetzt
und nach der Zeit dt, sind (266):
— r und —7- 4-— y ///
m mm
m
die Komponenten der Differenz beider also —^Xydt ; das
m
Verhältnis dieser zur Zeit dt giebt die Komponenten der Be-
schleunigung nach den Xy gleich:
my
m
Xp ,
woraus die Gröfse der Beschleunigung folgt als positive Wurzel
der Gleichung (244):
3n
T
10'
148 Erstes Buch.
276 Anmerkiing. Die Gröfse der Beschletmigimg eines mate-
riellen Systems ist der quadratische Mittelwert aus der Gröfise
der Beschleunigungen seiner Massenteilchen.
277 Aufgabe 2. Die Komponenten f^ der Beschleunigung eines
Systems nach den allgemeinen Koordinaten p^ darzustellen
durch die Differentialquotienten dieser Koordinaten nach der Zeit.
Nach 242 haben wir
3n
771
1 "^
und hierin ist einzusetzen, wie ia 108:
r r
1 1 1 ^/'^
Indem wir dieselbe Umformung benutzen wie in 108, er-
halten wir als Lösung der Aufgabe:
278 Anmerkung 1. Die Komponenten der Beschleunigung sind
also im allgemeinen lineare Funktionen der zweiten Differential-
quotienten der Koordinaten, quadratische Funktionen der ersten
Differentialquotienten derselben,, beliebig verwickelte Funktionen
der Koordinaten selbst.
279 Anmerkung 2. Die Beschleunigung eines Systems ist nicht
notwendig einer möglichen Verrückung des Systems parallel,
noch auch einer Verrückung, welche sich durch die benutzten
Koordinaten pg ausdrücken läfst.
Die Komponenten f^ reichen daher im allgemeinen nicht
aus, um die Gröfse der Beschleunigung, noch auch um ihre
Komponenten nach sämtlichen rechtwinkligen Koordinaten zu
bestimmen (243, 245). Dagegen reichen die /^ aus, um die
Komponente der Beschleunigung in der Richtung einer jeden
möglichen Bewegung des Systems zu bestimmen (248).
KmemcUisehe Begriffe, 149
Aufgabe 3. Die Komponente der Beschleunigung in der 2S0
Dichtung der Bahn zu finden.
Die Bichtungscosinus der Bahn sind nach 72 gleich
1/ -^ — -, also unter Berücksichtigung von 265 gleich 1/ — !i _ü. .
Hieraus folgt nach 246 unter Benutzung von 275 fiir die ge-
suchte tangentiale Komponente fti
** m^XyXy dv ePs
'^ THyXyXy UV
dfi
S
unter s die laufende Länge der Bahn verstanden.
Bemerkung. Zerlegen wir die Beschleunigung eines Systems 281
in zwei Komponenten, von denen die eine die Richtung der
Bahn hat, die andere auf der Bahn senkrecht steht, so ist
die Gröfse der letzteren gleich dem Produkt aus der Krüm-
mung der Bahn in das Quadrat der Geschwindigkeit des .
Systems in der Bahn.
Indem wir in Gleichung 107 o die Zeit t als unabhängige
Variabele nehmen, erhalten wir:
Sn
also unter Benutzung von 275 und 2S0:
Nennen wir nun die zweite, radiale oder centrifiigale
Komponente der Beschleunigung /J. , so ist, da /J. und /J senk-
recht zu einander sein sollen: /^ =^ +/J% also:
welches die Behauptung ist.
150 Erstes Buch,
Energie.
282 Definition. Das halbe Produkt aus der Masse eines
Systems in das Quadrat der Gröfse seiner Geschwindigkeit
heilst die Energie des Systems.
283 Aufgabe 1. Die Energie E eines Systems darzustellen
durch die Anderungsgeschwindigkeiten seiner rechtwinkligen
Koordinaten.
Es ist nach 265:
3n
284 Folgerung 1. Die Energie eines Systems ist die Summe
der Energieen seiner Massenteilchen.
285 Folgerung 2. Bilden mehrere Systeme zusammen ein
gröfseres System, so ist die Energie des letzteren die Summe
der Energieen der ersteren.
286 Aufgabe 2. Die Energie eines Systems darzustellen durch
die Änderungsgeschwindigkeiten der allgemeinen Koordinaten
des Systems und durch die Momente nach diesen Koordinaten.
Unter Benutzung von 267, 270 und 271 folgt nach einander:
r r
1 1
r
1
r r
2m , ^
287 Anmerkung (zu 261 bis 286). Die Geschwindigkeit, das
Moment, die Beschleunigung, die Energie eines Systems sind
definiert unabhängig von der analytischen Darstellung, insbe-
sondere also auch unabhängig von der Wahl der Koordinaten
des Systems.
Kinematische Begriffe. 151
Benutzung partieller DIITerentialquotienten.
Bezeichnung. (Vergl. 90). Mit dpE soll bezeichnet wer- 288
den das partielle Differential der Energie JE dann und nur
dann, wenn wir die Koordinaten p^ und deren Änderungs-
geschwindigkeiten Pq als die unabhängig von einander ver-
änderlichen Bestimmungsstücke der Energie betrachten (286 a).
Mit dqE dagegen soll bezeichnet werden das partielle
Differential der Energie H dann und nur dann, wenn wir die
Koordinaten p^ und die Momente q^ nach diesen Koordinaten
als die unabhängig von einander veränderlichen Bestimmungs-
stücke der Energie betrachten (286 c).
Eine jede der beiden Annahmen schliefst die andere aus.
Mit du werde, wie gewöhnlich, bezeichnet irgend eine Art
des partiellen Differentials von H, also die erste Art oder die
zweite, wo ein Mifsverständnis ausgeschlossen ist, oder auch
irgend eine dritte Art.
Bemerkung 1. Die Momente q^ eines Systems nach den 289
Koordinaten p^ lassen sich darstellen als partielle Differential-
quotienten der Energie des Systems nach den Anderungs-
geschwindigkeiten der Koordinaten.
Denn es ist nach Gleichung 286 a und 270: (vergl. 91)
Bemerkung 2. Die Anderungsgeschwindigkeiten p^ der 290
Koordinaten Pq eines Systems lassen sich darstellen als par-
tielle Differentialquotienten der Energie des Systems nach den
Momenten.
Denn es ist nach Gleichung 286 e und 271: (vergl. 94)
Pq =
dq^
Bemerkung 3. Die Komponenten f^ der Beschleunigung 291
eines Systems nach den Koordinaten p^ lassen sich darstellen
durch partielle Differentialquotienten der Energie.
152 Erstes Back.
Denn nach Gleichung 286a ist erstens:
also:
und nach derselben Gleichung zweitens:
^Pq 2 -f' Y ^/^e .
Durch Subtraktion der zweiten Gleichung von der ersten und
Vergleichung mit 277 folgt:
'^^"^iki"
dp.
wofür auch geschrieben werden kann unter Berücksichtigung
von 289:
292 Bemerkanff 4. Andern wir eine Koordinate p^ eines
Systems zweimal um denselben unendlich kleinen Betrag, in-
dem wir das eine Mal den ÄnderungsgeschwindigkeiteS der
Koordinaten, das andere Mal den Momenten nach den Ko-
ordinaten ihre ursprünglichen Werte lassen, so erleidet die
Energie des Systems in beiden Fällen entgegengesetzt gleiche
Änderung.
Denn multipliziert man die Gleichung 95a mit mds und
dividiert durch dfi ^ so liefert sie:
welches -die Behauptung ist.
KinemcUische Begriffe. 153
Lehrsatz. Erleidet die Lage eines Systems zweimal die- 293
selbe unendlich kleine Änderung, während das eine Mal die
Änderungsgeschwindigkeiten der Koordinaten, das andere Mal
die Momente nach den Koordinaten ihre ursprünglichen Werte
behalten, so erleidet die Energie des Systems in beiden Fällen
entgegengesetzt gleiche Änderung.
Denn die Änderung der Energie ist im ersten Falle:
und im zweiten Falle:
also ist nach Bemerkung 4:
welches die Behauptung ist.
Folgerung. Die Komponenten der Beschleunigung eines 294
Systems nach seinen Koordinaten p^ lassen sich auch dar-
stellen in der Form: (nach 291b und 292)
<'? = 9* + ä^ •
Schlufsbemerkung zum ersten Buch.
Wie bereits in der Vorbemerkung (1) ausgesprochen 296
wurde, ist den Überlegungen dieses Buches die Erfahrung
völlig fem geblieben. Wenn wir also den gewonnenen Be-
ziehungen in der Folge wieder begegnen, so werden wir
154 Erstes Buch»
wissen, dafs sie nicht der Erfahrung entstammen, sondern
den gegebenen Gesetzen unserer Anschauung und unseres
Denkens, zusammen mit einer Reihe willkürlicher Fest-
setzungen.
Es ist wahr, dafs Bildung der Begriffe und Entwickelung
ihrer Beziehungen nur geschahen im Hinblick auf mögliche
Erfahrungen; es ist also nicht minder wahr, dafs einzig die
Erfahrung zu entscheiden hat über Wert oder Unwert unserer
Überlegungen. Die Eichtigkeit oder Unrichtigkeit dieser
Überlegungen aber kann durch keine mögliche zukünftige Er-
fahrung weder bestätigt noch widerlegt werden.
ZWEITES BUCH.
MECHANIK DER MATERIELLE]^
SYSTEME.
Yorbemerkung. In diesem zweiten Buch werden wir unter 296
Zeiten, Räumen, Massen Zeichen fiir Gegenstände der äufseren
Erfahrung verstehen, deren Eigenschaften übrigens den Eigen-
schaften nicht widersprechen, welche wir vorher den gleich-
benannten Gröfsen als Formen unserer inneren Anschauung
oder durch Definition beigelegt hatten. Unsere Aussagen über
die Beziehungen zwischen Zeiten, Bäumen und Massen sollen
daher nicht mehr allein den Ansprüchen unseres Geistes ge-
nügen, sondern sie sollen zugleich auch möglichen, insbesondere
zukünftigen Erfahrungen entsprechen. Diese Aussagen stützen
sich daher auch nicht mehr allein auf die Gesetze unserer
Anschauung und unseres Denkens, sondern aufserdem auf
vorangegangene Erfahrung. Den Anteil der letzteren aber,
soweit er nicht schon in den Grundbegriffen enthalten ist,
werden wir zusammenfassen in eine einzige allgemeine Aus-
sage, welche wir als Grundgesetz voranstellen. Eine spätere,
nochmalige Berufung auf die Erfahrung findet dann nicht mehr
statt. Die Frage nach der Richtigkeit unserer Aussagen fällt
also zusammen mit der Frage nach der Richtigkeit oder
Allgemeingültigkeit jener einzigen Aussage.
Abschnitt 1. Zeit, fianm, Masse.
Zeit, Raum und Masse schlechthin sind unserer Erfahrung 297
in keinem Sinne zugänglich, sondern nur bestimmte Zeiten,
bestimmte räumliche Gröfsen, bestimmte Massen. Jede be-
158 Zweites Buch,
stimmte Zeit, räumliche Gröfse oder Masse aber kann das
Ergebnis einer bestimmten Erfahrung bilden. Wir machen
nämlich jene Begriffe zu Zeichen für Gegenstände der äufseren
Erfahrung, indem wir festsetzen, durch welche sinnlichen Wahr-
nehmungen wir bestimmte Zeiten, räumliche Gröfsen und
Massen festlegen wollen. Die Beziehungen, welche wir aus-
sagen als bestehend zwischen Zeiten, Eäumen und Massen sind
alsdann in Zukunft Beziehungen zwischen eben diesen sinn-
lichen Wahrnehmungen.
298 Festsetzung 1. Die Dauer der Zeit bestimmen wir mit
Hülfe des Chronometers nach der Zahl der Schläge seines
Pendels. Die Einheit der Dauer setzen wir durch willkürliche
Übereinkunft fest. Als Merkmal eines bestimmten Augenblicks
dient uns sein zeitlicher Abstand von einem durch weitere
willkürliche Übereinkunft festgesetzten Augenblick.
Diese Festsetzung enthält erfahrungsmäfsig nichts, was
uns hinderte, die Zeit als stets unabhängige, niemals abhängige,
auch stetig von einem Wert zum andern übergehende Variabele
zu benutzen. Die Festsetzung ist auch bestimmt und ein-
deutig, abgesehen von solchen Unsicherheiten, welche es uns
überhaupt nicht gelingt aus unserer Erfahrung fem zu halten,
weder aus der früheren, noch aus der zukünftigen.
299 .Festsetzung 2. Die Verhältnisse des Baumes bestimmen
wir nach den Kegeln der praktischen Geometrie mit Hülfe des
Mafsstabes. Die Einheit der Länge setzen wir fest durch will-
kürliche Übereinkunft. Als Merkmal eines bestimmten Ortes
im Baume dient uns seine relative Lage gegen ein in Hin-
sicht des entfernteren Fixsternhimmels ruhendes, im übrigen
durch willkürliche Übereinkunft festgesetztes Koordinatensystem.
Bei Anwendung aller Aussagen der EuKLiD^schen Geome-
trie auf die so bestimmten räumlichen Verhältnisse stossen
wir erfehrungsmäfsig auf keine Widersprüche, unsere Fest-
setzung ist auch bestimmt und eindeutig, abgesehen von Un-
sicherheiten, welche es uns nicht gelingt aus unserer wirk-
lichen Erfahrung fernzuhalten, weder aus der früheren, noch
aus der zukünftigen.
300 Festsetzung 3. Die mit den greifbaren Körpern bewegten
Massen bestimmen wir mit Hülfe der Wage. Als Einheit der
Zeit, Bawm, Masse, 159
Masse dient uns die Masse eines durch willkürliche Überein-
kunft festgesetzten Körpers.
Die nach dieser Festsetzung bestimmte Masse der greif-
baren Körper besitzt die Eigenschaften, welche wir der be-
grifflich definierten Masse beilegten. Sie kann nämlich in
beliebig viele gleiche Massenteilchen geteilt gedacht werden,
deren jedes unzerstörbar und unveränderlich ist und als Merk-
mal dienen kann, um einen Punkt des Baumes zu einer Zeit
einem Punkt des Raumes zu jeder anderen Zeit eindeutig
und bestimmt zuzuordnen (3). Die Festsetzung ist auch in
Hinsicht der greifbaren Körper bestimmt und eindeutig, ab-
gesehen von den Unsicherheiten, welche es überhaupt nicht
gelingt aus unserer wirklichen Erfahrung fernzuhalten, weder
aus der früheren, noch aus der zukünftigen.
Zusatz zu Festsetzung 3. Übrigens lassen wir die Ver- 301
mutung zu, dafs es neben den greifbaren Körpern auch andere
Körper gebe, welche wir nicht ergreifen, nicht bewegen, nicht
auf die Wage legen können, und auf welche daher die Fest-
setzung 3 keine Anwendung finden kann. Die Massen solcher
Körper können nur durch Hypothese bestimmt werden.
Was diese hypothetisch anzunehmenden Massen anlangt,
so steht es in unserer Macht, ihnen keine Eigenschaften durch
die Hypothese beizulegen, welche den Eigenschaften der be-
grifflich definierten Masse widersprächen.
Anmerkung 1. Die vorstehenden drei Festsetzungen sind 302
nicht neue Definitionen flir die schon vorher fest definierten
Gröfsen Zeit, Baum und Masse. Vielmehr stellen sie die Ab-
bildungsgesetze dar, durch welche wir äufsere Erfahrung, d. h.
konkrete sinnliche Empfindungen und Wahrnehmungen über-
tragen in die Zeichensprache unseres inneren Bildes (ver-
gleiche die Einleitung), und durch welche wir rückwärts die
denknotwendigen Folgen dieses Bildes wieder übersetzen in
die Gestalt möglicher sinnlicher Empfindungen und Wahr-
nehmungen. Erst durch diese drei Festsetzungen werden also
die Zeichen Zeit, Baum und Masse zu Teilen unserer Schein-
bilder der äufseren Gegenstände. Erst durch diese drei Fest-
setzungen auch werden sie weitergehenden Ansprüchen unter-
worfen, als der Denknotwendigkeit unseres Geistes.
160 Zweites Back.
303 Anmerkung 2. Die Unbestimmtheiten, welche unsere
Festsetzungen enthalten, und welche wir in denselben aner-
kannten, sind also nicht Unbestimmtheiten unserer Bilder,
auch nicht unserer Abbildungsgesetze, sondern es sind Unbe-
stimmtheiten der abzubildenden äufseren Erfahrung selbst.
Wir wollen damit sagen, dafs wir durch thatsächliche Be-
stimmung mit Hülfe unserer Sinne doch keine Zeit genauer
festlegen können, als sie sich messen läfst mit Hülfe der besten
Chronometer, keine Lage genauer als sie sich beziehen läXst
auf ein mit dem entfernteren Fixstemhimmel ruhendes Koordi-
natensystem, keine Masse genauer, als die besten Wagen sie
uns liefern.
304 Anmerkung 3. Es ist gleichwohl anscheinend die Frage
berechtigt, ob durch unsere drei Festsetzungen wahre oder
absolute Mafse der Zeit, des ßaumes und der Masse gegeben
seien, und diese Frage ist nach der Wahrscheinlichkeit zu
verneinen, da unsere Festsetzungen offenbar Zufälligkeiten und
Willkür enthalten. In Wahrheit aber fäUt diese Frage aus
unserer Betrachtung heraus und berührt ihre Richtigkeit nicht,
selbst wenn wir der Frage einen deutlichen Sinn beilegen und
sie verneinen wollen. Es genügt, dafs unsere Festsetzungen
solche Mafse bestimmen, in welchen wir frühere und zukünftige
Erfahrungen eindeutig bestimmt aussprechen imd mitteilen
können. Würden wir andere Mafse festsetzen, so würde sich
die Form unserer Aussagen entsprechend ändern, in solcher
Weise aber, dafs die ausgesagten Erfahrungen, die vergangenen
und die zukünftigen, dieselben blieben.
Materielies System.
305 Erklärung. Unter einem materiellen System ist fortan
ein System von Massen der Erfahrung verstanden, dessen
Eigenschaften den Eigenschaften der begrifflich definierten
materiellen Systeme nicht widersprechen. In einem natür-
lichen materiellen Systeme sind also gewisse Lagen und Ver-
rückungen möglich, andere unmöglich, und es genügt die Ge-
samtheit der möglichen Lagen und Verrückungen den Be-
Zeity Bati/m, Masse. 161
dingnngen der Stetigkeit (121). In einem natürlichen freien Sy-
steme sind die Zusammenhänge unabhängig von der Lage des
Systems gegen alle ihm nicht angehörenden Massen, und un-
abhängig von der Zeit (122).
Bemerkung dazu. Erfahrungsmäfsig entspricht den so 306
definierten Begriffen auch ein wirklicher Inhalt.
Erstens nämlich lehrt uns die Erfahrung, dafs es Zu-
sammenhänge und zwar stetige Zusammenhänge zwischen den
Massen der Natur giebt. Es giebt also materielle Systeme
im Sinne von 305. Wir dürfen sogar behaupten, dafs andere
als stetige Zusammenhänge in der Natur nicht gefunden wer-
den, und dafs also jedes natürliche System materieller Punkte
zugleich ein materielles System sei.
Zweitens lehrt uns die Erfahrung, dafs die Zusammen-
hänge eines materiellen Systems unabhängig sein können von
seiner Lage gegen andere Systeme und von seiner absoluten
Lage überhaupt. Wir dürfen sogar behaupten, dafs diese Un-
abhängigkeit stets eintritt, sobald eiü materielles System von
allen anderen Systemen räumlich hinreichend entfernt wird.
Es giebt also Systeme, welche nur innere Zusammenhänge
haben, und wir besitzen auch ein allgemeines Mittel, solche
Systeme zu erkennen und herzustellen.
Endlich lehii; uns die Erfahrung drittens, dafs die ab-
solute Zeit ohne Einflufs auf die Vorgänge in natürlichen
Systemen ist, welche nur inneren Zusammenhängen unter-
liegen. Jedes derartige natürliche System ist daher auch
nur gesetzmäfsigen Zusammenhängen unterworfen und ist da-
her ein freies System. Es giebt also auch freie Systeme im
Sinne von 305, und wir können freie Systeme herstellen und
als solche erkennen unabhängig von den Aussagen, welche
wir weiter über freie Systeme yorzutragen haben werden.
Anmerkung. Die gesetzmäfsigen Zusammenhänge der 307
freien Systeme bilden die unabhängig von der Zeit bestehen-
den Eigenschaften derselben. Es fällt der experimentellen
Physik die Aufgabe zu, aus der unendlichen Erscheinungswelt
solche endliche Gruppen von Massen herauszulösen,* welche
als freie Systeme selbständig bestehen können, und aus den
Hertz, Mechanik. 11
162 Zweites Buch.
in der Zeit und in Verbindung mit anderen Systemen yer-
laufenden Elrscheinnngen derselben ihre anfserzeitlichen Eigen-
schaften abzuleiten.
Abschnitt 2. Das Gmiidgesetz.
308 Wir betrachten es als die Aufgabe der Mechanik, aus den
von der Zeit unabhängigen Eigenschaften materieller Systeme
die in der Zeit verlaufenden Erscheinungen derselben und
ihre von der Zeit abhängigen Eigenschaften abzuleiten. Zur
Lösung dieser Aufgabe stellen wir der Mechanik das folgende
und nur das folgende, der Erfahrung entnommene Grund-
gesetz zur Verfügung:
309 Grundgesetz. Jedes &eie System beharrt in seinem Zu-
stande der Buhe oder der gleichförmigen Bewegung in einer
geradesten Bahn.
Systema omne liberum perseverare in statu suo quies-
cendi Tel moyendi uniformiter in directissimam.
Bemerkungen dazu.
310 1. Das Grundgesetz enthält nach dem Wortlaut nur Aus-
sagen, welche sich auf ifreie Systeme beziehen. Da aber jeder
Teil eines freien Systemes ein unfreies System ist, so lassen
sich aus dem Grundgesetz auch Folgerungen ableiten, welche
sich auf unfreie Systeme beziehen.
311 2. Die Gesamtheit der Folgerungen, welche aus dem
Grundgesetz in Hinsicht freier Systeme und ihrer unfreien
Teile abgeleitet werden können, bildet den Inhalt der Mechanik. .
Andere Ursachen der Bewegung, als welche aus dem Grund-
gesetz entspringen, kennt unsere Mechanik nicht. Die Kenntnis
des Grundgesetzes ist nach unserer Auffassung desselben nicht
allein notwendig zur Lösung der Aufgabe der Mechanik, son-
Das Orundgeaetx. 163
dem auch hinreichend zu diesem Zwecke, und dies ist ein
wesentlicher Teil unserer Behauptung.
3. (Definition.) Jede Bewegung eines freien materiellen 312
Systems oder seiner Teile, welche im Einklänge mit dem Grund-
gesetz erfolgt, nennen wir eine natürliche Bewegung des Sy-
stems im Gegensatz zu den denkbaren und den möglichen
Bewegungen desselben (257, 258).
Die Mechanik handelt also von den natürlichen Be-
wegungen der freien materiellen Systeme und ihrer Teile.
4. Wir betrachten eine Erscheinung der Körperwelt als 313
mechanisch und damit als physikalisch erklärt, wenn wir sie
erkannt haben als denknotwendige Folge des Grundgesetzes
und der von der Zeit unabhängigen Eigenschaften materieller
Systeme.
5. Die vollständige Erklärung der Erscheinungen der 314
Körperwelt würde also erfordern : 1. ihre mechanische oder
physikaUsche Erklärung; 2. eine Erklärung des Grundgesetzes;
3. die Erklärung der aufserzeitlichen Eigenschaften der Körper-
welt. Die zweite und dritte dieser Erklärungen aber rechnen
wir nicht mehr in das Gebiet der Physik.
Berechtigung des Grundgesetzes.
Das Grundgesetz betrachten wir als das wahrscheinliche 315
Ergebnis allgemeinster Erfahrung. Genauer gesprochen ist
das Grundgesetz eine Hypothese oder Annahme, welche viele
Erfahrungen einschliefst, welche durch keine Erfahrung wider-
legt wird, welche aber mehr aussagt, als durch sichere Er-
fahrungen zur Zeit erwiesen werden kann. Hinsichtlich ihres
Verhaltens zum Grundgesetz lassen sich nämlich die mate-
riellen Systeme der Natur in drei Klassen einteilen.
1. Die erste Klasse umfafst solche Körpersysteme oder 316
Teile solcher Körpersysteme, welche den Bedingungen der
freien Systeme nach dem unmittelbaren Ergebnis der Erfahrung
genügen, und auf welche das Grundgesetz ohne weiteres Än-
11*
164 Z/weUes Bach.
Wendung findet. Hierher gehören z. B. starre Körper, welche
sich im leeren ißanm, oder YoUkommene Flüssigkeiten, welche
sich in geschlossenen Gefafsen bewegen.
Aus den Erfahrungen an solchen Eörpersystemen ist das
Grundgesetz abgeleitet. In Hinsicht dieser ersten Klasse stellt
es eine nackte Erfahrungsthatsache dar.
317 2. Die zweite Klasse umÜEÜBt solche Körpersysteme, welche
dann, aber auch nur dann den Voraussetzungen des Grund-
gesetzes sich fugen, oder welche dann, aber auch nur dann
dem Grundgesetze folgen, wenn der unmittelbaren sinnlichen
Erfahrung gewisse angebbare Hypothesen über ihre Natur
hinzugefügt werden.
a) Hierher gehören erstens diejenigen Systeme, welche
der Bedingung der Stetigkeit in einzelnen Lagen nicht zu ge-
nügen scheinen, also diejenigen Systeme, in welchen Stöfse im
weitesten Sinne vorkommen. Hier genügt die im höchsten
Grade wahrscheinliche Hypothese, dafs alle Unstetigkeiten
scheinbare sind und verschwinden, sobald es uns gelingt, hin-
reichend kleine Kaum- und Zeitteile in Betracht zu ziehen.
b) Hierher gehören zweitens diejenigen Systeme, in welchen
Femkräfte, die Kräfte der Wärme, und andere, nicht immer
vollständig verstandene Bewegungsursachen thätig sind. Wenn
wir die greifbaren Körper solcher Systeme zur Euhe bringen,
so verharren sie nicht in diesem Zustande, sondern setzen
sich, freigemacht, aufs neue in Bewegung. Sie folgen also
scheinbar nicht dem Grundgesetz. Hier wird die Hypothese
immer wahrscheinlicher, dafs die greifbaren Körper nicht die
einzigen Massen, ihre sichtbaren Bewegungen nicht die ein-
zigen Bewegungen solcher Systeme sind, sondern dafs, wenn
wir die sichtbaren Bewegungen der greifbaren Körper zur
Ruhe gebracht haben, noch andere, verborgene Bewegungen in
den Systemen bestehen, welche sich dann, wenn wir die greif-
baren Körper freigeben, diesen aufs neue mitteilen, über
diese verborgenen Bewegungen lassen sich, wie es scheint,
stets solche Annahmen machen, dafs die vollständigen Systeme
dem Gesetze gehorchen.
In Hinsicht dieser zweiten Klasse von natürlichen Systemen
trägt das Grundgesetz den Charakter einer teils sehr, teils
Das onmdgesetz, 165
ziemlich wahrscheinlichen, aber stets, soweit wir sehen, einer
zulässigen Hypothese.
3. Die dritte Klasse der Körpersysteme enthält solche 318
Systeme, deren Bewegungen sich nicht ohne weiteres als not-
wendige Folgen des Grundgesetzes darstellen lassen, und für
welche auch keine bestimmten Hypothesen angegeben werden
können, durch welche sie unter das Gesetz gefugt würden.
Hierher gehören z. B. alle Systeme, welche organische oder
belebte Wesen enthalten. Unsere Unkenntnis aller hierher
gehörigen Systeme ist aber so grofs, dafs auch der Beweis
nicht gefuhrt werden kann, dafs solche Hypothesen unmöglich
seien und dafs die Erscheinungen an diesen Systemen dem
Gesetz widersprechen.
Hinsichtlich dieser dritten Klasse von Körpersystemen
trägt also das Grundgesetz den Charakter einer zulässigen
Hypothese.
Anmerkung. Wenn es zulässig ist, anzunehmen, dafs es 319
in der Natur kein freies System giebt, welches dem Grund-
gesetze nicht gehorchte, so ist es zulässig, jedes System über-
haupt anzusehen als ein solches freies System oder als Teil
eines solchen freien Systemes, so dafs es dann in der That
kein System in der Natur giebt, dessen Bewegungen nicht
durch seine Zusammenhänge und das Grundgesetz bestimmt
wären.
Einschränkung des Grundgesetzes.
In einem Körpersystem, welches dem Grundgesetze ge- 320
horcht, giebt es keine neue Bewegung, noch auch Ursachen
neuer Bewegung, sondern nur die Fortsetzung der bisherigen
Bewegung in gewisser einfacher Weise. Man kann kaum um-
hin, ein solches Körpersystem als ein lebloses oder totes zu
bezeichnen. Wollte man also den Satz auf die gesamte Natur
als das allgemeinste freie materielle System erweitem, und
aussagen: die gesamte Natur verfolge mit gleichbleibender Ge-
schwindigkeit eine geradeste Bahn, so würde man sich in
Widerspruch setzen zu einem gesunden und natürlichen Ge-
166 ZfweUes Buch.
fühl. Es erscheint daher vorsichtiger, die wahrscheinliche
Gültigkeit des Satzes zu heschränkcA auf leblose Systeme.
Es trifft dies zusammen mit der Aussage, dafs der Satz, an-
gewandt auf die Systeme der dritten Klasse (318), eine un-
wahrscheinliche Hypothese bilde.
321 Auf diese Erwägung ist indessen im Folgenden keine
Bücksicht genommen, und es ist auch nicht nötig, Rücksicht
auf sie zu nehmen, weil, wie wir sahen, das Grundgesetz auch
in Hinsicht dieser Systeme eine wenn auch nicht wahrschein-
liche, so doch zxQässige Hypothese bildet. Könnte der Nach-
weis geführt werden, dafs die belebten Systeme dem Satz
widersprechen, so würden diese dadurch aus der Mechanik
ausscheiden. Zugleich würde dann, aber auch erst dann, unsere
Mechanik eine Ergänzung erfordern in bezug auf diejenigen
unfreien Systeme, welche zwar selber leblos, aber doch Teile
solcher freier Systeme sind, welche belebte Wesen enthalten.
Nach aUem, was wir wissen, könnte diese Ergänzung in-
dessen dann auch geleistet werden, und zwar durch die Er-
fahrung, dafs belebte Systeme auf unbelebte niemals einen
anderen Einäufs auszuüben vermögen, als welcher auch durch
ein unbelebtes System ausgeübt werden könnte. Damach ist
es möglich, jedem belebten System ein unbelebtes unterzu-
schieben, welches jenes in den gerade behandelten Problemen
zu vertreten vermag, und dessen Angabe wir verlangen
dürfen, um das gegebene Problem zu einem rein mechanischen
zu machen.
322 Anmerkung. In der gewöhnlichen Darstellung der Me-
chanik wird ein ähnlicher Vorbehalt für überflüssig gehalten,
und als sicher angenommen, dafs die Grundgesetze die be-
lebte wie die unbelebte Natur in gleicher Weise umfassen.
Es ist dies in jener Darstellung auch erlaubt, da man den
Formen der Kräfte, welche dort in die Grundgesetze ein-
treten, zunächst den weitesten Spielraum läfst und sich
vorbehält, später und aufserhalb der Mechanik zu erörtern,
ob die Kräfte der belebten und der unbelebten Natur ver-
schieden seien, und welche Eigenschaften etwa die einen vor
den anderen auszeichnen. In unserer Darstellung ist gröfsere
Vorsicht geboten, da eine bedeutende Zahl von Erfahrungen,
Das Orundgesetz. 167
welche sich znnächst nur auf die unbelebte Natur beziehen,
in das Grundgesetz selbst schon einbezogen ist, und die Mög-
lichkeit späterer Abgrenzung eine weit beschranktere ist.
Zerlegung des Grundgesetzes.
Die gewählte Fassung des Gesetzes schlie&t sich absieht- 323
lieh an die Fassung Yon Newton's erstem Bewegungsgesetz
unmittelbar an. Offenbar aber enthält diese Fassung drei von
einander unabhängige Aussagen, nämlich die folgenden:
1. Ein freies System verfolgt keine anderen seiner mög-
lichen Bahnen, als nur die geradesten Bahnen;
2. Verschiedene freie Systeme beschreiben in identischen
Zeiträumen einander proportionale Längen ihrer Bahnen;
3. Die am Chronometer gemessene Zeit (298) wächst
proportional der Bahnlänge irgend eines bewegten freien
Systems.
Nur die ersten beiden Aussagen enthalten Erfedirungs-
thatsachen von grofser Allgemeinheit. Die dritte rechtfertigt
nur unsere willkürliche Festsetzung der Zeitmessung und ent-
hält nur die besondere Erfahrung , dafs ein Chronometer in
gewisser Hinsicht sich verhält wie ein freies System, obgleich
es genau genommen kein solches ist.
Methode der Anwendung des Gesetzes.
Wird eine bestimmte Frage in Hinsicht der Bewegung 324
eines materiellen Systemes gestellt , so mufs von den folgen-
den drei Fällen notwendig einer eintreten:
1. Es kann die Frage so gestellt sein, dafs das Grund-
gesetz zu einer bestimmten Beantwortung derselben ausreicht.
In diesem Falle ist das Problem ein bestimmtes mechanisches
Problem, und die Anwendung des Grundgesetzes giebt seine
Lösung.
2. Es kann die Frage so gestellt sein, dafs das Grundgesetz 325
zu einer bestimmten Beantwortung derselben unmittelbar nicht
168 Zweites Buch.
ausreicht, dafs aber der Fragestellung eine oder mehrere An-
nahmen hinzugefügt werden können, durch welche die be-
stimmte Anwendung des Grundgesetzes mögHch gemacht wird.
Ist nur eine einzige solche Annahme möglich, und setzen
wir voraus, dafs das Problem überhaupt ein mechanisches
Problem sei, so mufs diese Annahme auch zutreffend sein;
das Problem kann also als ein bestimmtes mechanisches Pro-
blem betrachtet werden, und die Anwendung der hinzugefügten
Annahme und des Grundgesetzes giebt die Lösung.
Sind mehrere Annahmen möglich, und setzen wir voraus,
dafs das Problem überhaupt ein mechanisches Problem sei,
so mufs eine dieser Annahmen zutreffen; das Problem kann
alsdann als ein unbestimmtes mechanisches Problem betrachtet
werden, und die Anwendung des Grundgesetzes auf die ver-
schiedenen möglichen Annahmen giebt die möglichen Lösungen.
326 3. Es kann die Frage so gestellt sein, dafs das Grund-
gesetz zur Beantwortung nicht ausreicht, und dafs auch keine
Annahmen hinzugefügt werden können, durch welche die An-
wendung des Grundgesetzes möglich gemacht würde. In diesem
Falle mufs in den Voraussetzungen der Fragestellung selbst
ein Widerspruch liegen gegen das Grundgesetz oder gegen
die Eigenschaften der Systeme, auf welche sie sich bezieht;
die gestellte Frage kann alsdann überhaupt nicht als ein
mechanisches Problem betrachtet werden.
Angenäherte Anwendung des Grundgesetzes.
327 Bemerkung. Wenn aus den gegebenen Bedingungsglei-
chungen eines Systems zusammen mit dem Grundgesetze Glei-
chungen folgen, welche genau die Form der Bedingungsglei-
chimgen haben, so ist es für die Bestimmung der Bewegung
des Systems gleichgültig, ob wir allein jene ursprünglichen,
oder neben und statt derselben die abgeleiteten Bedingungs-
gleichungen als Darstellungen des Zusammenhanges des Systems
betrachten.
Denn wenn wir auch aus der Beihe der ursprünglichen
Bedingungsgleichungen alle diejenigen streichen, welche schon
analytisch aus den übrigen und aus den abgeleiteten Bedin-
Das Orundgesetx. 169
gungsgleichungen folgen, so genügen doch den jetzt übrig
bleibenden ursprünglichen und abgeleiteten Gleichungen sicher-
lieh nur mögliche Verrückungen, wenn auch im allgemeinen
nicht alle Verrückungen, welche nach den ursprünglichen
Grleichungen möglich waren. Eine Bahn, welche unter der
ursprünglichen gröfseren Mannigfaltigkeit eine geradeste war,
wird es umsomehr unter der jetzigen beschränkteren Mannig-
faltigkeit sein. und da sich die natürlichen Bahnen unter
dieser beschränkteren Mannigfaltigkeit iSinden müssen, so sind
die natürlichen Bahnen die geradesten unter denjenigen, welche
nach den jetzigen Bedingungsgleichungen möglich sind. Dies
ist aber die Behauptung.
Folgerung 1. Gewinnen wir aus der Erfahrung die 328
Kenntnis, dafs ein System gewissen Bedingungsgleichungen
thatsächlich genügt, so ist es für die Anwendung des Grund-
gesetzes vollständig gleichgültig, ob jene Zusammenhänge
ursprüngliche, d. h. physikalisch nicht weiter erklärbare (318)
sind, oder ob es Zusammenhänge sind, welche sich darstellen
lassen als die notwendige Folge anderer Zusammenhänge und
des Grundgesetzes, welche also eine mechanische Erklärung
zulassen.
Folgerung 2. Gevminen wir aus der Erfahrung die 329
Kenntnis, dafs gewissen Bedingungsgleichungen eines materiellen
Systems nur angenähert, nicht aber genau genügt werde, so
ist es gleichwohl zulässig, jene BedingungsglelchuBgen als
angenäherte Darstellungen eines wahren Zusammenhanges be-
stehen zu lassen und durch Anwendung des Grundgesetzes
auf sie angenäherte Aussagen über die Bewegung des Systems
zu gewinnen, obwohl es unzweifelhaft feststeht, dafs jene an-
genäherten Bedingungsgleichungen nicht einen ursprünglichen,
stetigen, gesetzmäfsigen Zusammenhang darstellen, sondern
nur als die angenäherte Folge unbekannter Zusammenhänge
und des Grundgesetzes angesehen werden können.
Anmerkung. Auf der vorstehenden Folgerung beruht jede 330
praktische Anwendung unserer Mechanik. Denn bei allen Zu-
sammenhängen zwischen grobsinnlichen Massen, welche die
Physik entdeckt und die Mechanik verwertet, lehrt eine hin-
170 Ztpeüea Buch.
reichend genaue Untersuchung, dafs sie nur angenäherte Gül-
tigkeit haben und daher nur abgeleitete Zusammenhange sein
können. Die letzten, ursprunglichen Zusammenhänge sind wir
gezwungen in der Welt der Atome zu suchen, und sie sind
uns unbekannt. Aber auch wenn sie uns bekannt wären,
müisten wir auf ihre Benutzung zu praktischen Zwecken yer-
zichten und Yer£ahren, wie wir yerfahren. Denn die wirkliche
Beherrschung jedes Problems erfordert stets die Beschrän-
kung der Betrachtung auf eine äuijserst kleine Zahl von
Variabelen, während das Zurückgehen auf die Zusammen-
hänge der Atome die Einfuhrung einer unermefislichen Zahl
von Veränderlichen nötig machen würde.
Dafs wir aber das Grundgesetz so anwenden dürfen, wie
wir es anwenden, ist nicht als eine neue Erfahrung neben dem
Grundgesetz anzusehen, sondern ist, wie wir sahen, eine not-
wendige Folge eben dieses Gesetzes selbst.
Abschnitt 3. Bewegung der freien Systeme.
Allgemeine Eigenschaften der Bewegung,
i. Bestimmtheit der Bewegung.
331 Lehrsatz. Eine natürliche Bewegung eines freien Systems
ist eindeutig bestimmt durch die Angabe der Lage und der
Geschwindigkeit des Systems zu einer bestimmten Zeit.
Denn durch die Lage und die Richtung der Geschwindig-
keit ist die Bahn des Systems eindeutig bestimmt (161); die
konstante Geschwindigkeit des Systems in seiner Bahn ist
durch die Gröfse der Geschwindigkeit zur Anfangszeit gegeben.
332 Folgerung 1. Durch den gegenwärtigen Zustand (261)
eines freien Systems sind seine zukünftigen Zustande und seine
yergangenen Zustande zu allen Zeiten eindeutig bestimmt.
333 Polgenmg 2. Könnte man in irgend einer Lage die Ge-
schwindigkeit eines Systems umkehren (was niemals gegen "^die
Allgemeine Eigenschaften der Bewegung. 171
Bedingungsgleichungen des Systems verstofsen würde), so würde
das System die Lagen seiner Yorherigen Bewegung in umge-
kehrter Reihenfolge durchlaufen.
Bemerkung 1. In einem freien holonomen System (123) giebt 334
es stets eine natürliche Bewegung, welche das System in ge-
gebener Zeit aus einer willkürlich gegebenen Anfangs- in eine
willkürlich gegebene Endlage überfiihrt.
Denn es ist stets eine natürliche Bahn zwischen beiden
Lagen möglich (192); in dieser Bahn ist jede Geschwindigkeit
zulässig, also auch eine solche, welche das System in der ge-
gebenen Zeit die gegebene Strecke durchlaufen läXst.
Anmerkung. Die vorige Bemerkung bleibt richtig, wenn 335
an Stelle der Zeit des Überganges die Geschwindigkeit des
Systems in seiner Bahn oder auch die Energie des Systems
gesetzt wird.
Bemerkung 2. Ein freies System, welches kein holonomes 336
ist, kann nicht aus jeder möglichen Anfangslage in jede mög-
liche Endlage durch eine natürliche Bewegung übergeführt
werden (162).
LehrsatK. Eine natürliche Bewegung eines freien holo- 337
nomen Systems ist bestimmt durch die Angabe zweier Lagen,
in welchen sich das System zu zwei bestimmten Zeiten
finden soll.
Denn durch diese Angabe ist die Bahn des Systems be-
stimmt und die Geschwindigkeit in dieser Bahn.
Anmerkung 1. Die Bestimmung einer natürlichen Be- 338
wegung durch zwei Lagen, zwischen welchen sie stattfindet,
ist im allgemeinen eine mehrdeutige; sie ist eine eindeutige,
sobald die Entfernung der beiden Lagen ein gewisses endliches
Mafs nicht überschreitet und die Länge der beschriebenen
Bahn von der Ordnung dieser Entfernung sein soll (vgl.
167, 172, 190 u. 176).
Anmerkung 2. Eine natürliche Bewegung eines freien 339
holonomen Systems ist, abgesehen von dem absoluten Wert
172 Zweites Bück,
der Zeit, auch bestimmt durch zwei Lagen des Systems und
entweder die Zeitdauer des Überganges oder die Geschwindig-
keit des Systems in seiner Bahn oder die Energie des Systems.
2. Erhaltung der Energie.
340 Lehrsatz. Die Enei:gie eines in beliebiger Bewegung be-
griffenen freien Systems ändert sich nicht mit der Zeit.
Denn die Energie setzt sich zusammen (2S2) aus der Masse
des Systems, welche unveränderlich ist, und der Geschwindig-
keit längs der Bahn, welche ebenfalls unveränderlich ist.
341 Anmerkung 1. Von den drei Teilaussagen, in welche wir
das Grundgesetz zerlegten (323), bedurften wir zum Beweise
des Satzes nur die zweite und dritte. Wir können auch die
dritte entbehrlich machen, und den Satz von einer bestimmten
Art der Zeitmessung unabhängig aussagen, wenn wir ihm die
Form geben:
Das Verhältnis der Energieen irgend zweier in beliebiger
Bewegung begriffener freier Systeme ändert sich nicht mit
der Zeit. ^
342 Anmerkung 2. Der Satz von der Erhaltung der Energie
ist eine notwendige Folge des Grundgesetzes. Umgekehrt folgt
aus dem Satz von der Erhaltung der Energie die zweite Teil-
aussage (323) jenes Gesetzes, aber nicht die erste, also nicht
das ganze Gesetz. Es wären natürliche Systeme denkbar,
für welche der Satz von der Erhaltung der Energie gälte, und
welche sich dennoch nicht in geradesten Bahnen bewegten.
Es wäre zum Beispiel denkbar, dafs der Satz von der Er-
haltung der Energie Gültigkeit hätte auch für belebte Systeme,
und dafs dieselben dennoch sich unserer Mechanik entzögen.
Umgekehrt liefsen sich auch natürliche Systeme denken,
welche sich nur in geradesten Bahnen bewegten, imd für welche
dennoch der Satz von der Erhaltung der Energie keine Gültig-
keit hätte.
343 Anmerkung 3. Es ist in neuerer Zeit mehrfach die An-
sicht vorgetragen worden, dafs die Energie bewegter Systeme
an einen bestimmten Ort gebunden sei und sich von Ort zu
Allgemeine Eigenschaften der Bewegung. 173
Ort fortpflanze. Man hat deshalb die Energie, wie in Hin-
sicht der Unzerstörbarkeit; so auch in dieser Hinsicht mit der
Materie in Vergleich gestellt. Diese Auffassung der Energie
weicht offenbar sehr weit ab von der Auffassung der hier vor-
getragenen Mechanik. Mit dem gleichen Rechte, aber nicht
mit gröfserem Bechte, kann man sagen: die Energie eines be-
wegten Systems sei am Orte des Systems yorhanden, mit
welchem man sagen kann : die Geschwindigkeit eines bewegten
Körpers sei an den Ort desselben gebunden. Diese letztere
Ausdrucksweise aber ist mit Eecht ungebräuchlich.
3. Kleinste Beschleunigung.
Lehrsatz. Ein jfreies System bewegt sich in solcher Weise, 344
dafs die Gröfse seiner Beschleunigung in jedem Augenblick
die kleinste ist, welche mit der augenblicklichen Lage, der
augenblicklichen Geschwindigkeit und dem Zusammenhange des
Systems sich verträgt.
Denn das Quadrat der Gröfse der Beschleunigung ist
nach 280 und 281 gleich
Da nun für die natürliche Bewegung r = ist, v einen durch
die augenblickliche Geschwindigkeit gegebenen Wert hat und
c den kleinsten Wert hat, welcher mit der gegebenen Richtimg
der Bewegung und dem Zusammenhange des Systems verträg-
lich ist, so nimmt der Ausdruck selbst den kleinsten, mit den
genannten Nebenumständen verträglichen Wert an.
Anmerkung 1. Die in dem vorigen Lehrsatz ausgesagte 345
Eigenschaft der natürlichen Bewegung bestimmt diese Bewegung
eindeutig, und es kann daher der Lehrsatz das Grundgesetz
vollständig vertreten.
Denn soll der Ausdruck
v^ (? + i?
ein Minimum werden, so mufs zunächst t> = sein, also das
174 Zweites Buch.
System seine Bahn mit konstanter Geschwindigkeit diirch-
lanfen, zweitens mufs entweder t? = sein — alsdann ruht
das System — oder c mufs den kleinsten, bei der Richtung
der Bahn möglichen Wert haben, — dann ist die Bahn eine
geradeste.
346 Anmerkung 2. Der Lehrsatz 344 würde, als Grundgesetz
vorangestellt, vor der benutzten Form sogar den Vorzug haben,
dafs er das Gesetz in eine einzige unteilbare Aussage zu-
sammenfafste, nicht nur äufserlich in einen Satz. Die benutzte
Form hat aber den Vorzug, dafs sie ihre Bedeutung klarer
und durchsichtiger erkennen läfst.
4. Kurzeste Bahn.
347 Lehrsatz. Die natürliche Bahn eines freien holonomen
Systems zwischen irgend zwei hinreichend benachbarten Lagen
ist kürzer als irgend eine andere mögliche Bahn zwischen
beiden Lagen.
Denn in einem holonomen System ist eine geradeste Bahn
zwischen hinreichend benachbarten Lagen zugleich die kürzeste
(190, 176).
348 Anmerkung 1. Wird die Beschränkung auf hinreichend
benachbarte Lagen weggelassen, so kann nicht mehr behauptet
werden, dafs die natürliche Bahn kürzer sei als alle anderen
Bahnen, nicht einmal, dafs sie kürzer sei als aUe benachbarten
Bahnen; es gilt aber immer noch die in dem vorigen Satz
enthaltene Behauptung, dafs die Variation der Länge der Bahn
verschwinde beim Übergang zu irgend einer benachbarten mög-
lichen Bahn (190, 171).
349 Anmerkung 2. Der vorige Lehrsatz entspricht dem Prinzip
der kleinsten Wirkung in der Form, welche Jacobi diesem
Prinzip gegeben hat. Denn nennen wir für den Augenblick
rriy die Masse, ds^ die Weglänge des v ten der n Punkte des
Systems in einem bestimmten Zeitelement, so sagt der Lehr-
satz aus, dafs die Variation des Integrals
Allgemeine Eigenschaften der Bewegung, 175
h = j^M
r TTlv dsl
verschwinde bei der natürlichen Bewegung des Systems, und
dies ist die JACOBi'sche Form jenes Prinzips.
Anmerkung 3. Um das Verhältnis zwischen dem Lehr- 350
satz 347 und dem jACOBi'schen Satz genauer festzustellen,
müssen wir aussagen: Nach der gewöhnlichen Auffassung der
Mechanik enthält der Lehrsatz einen besonderen Fall des
JACOBi'schen Satzes, den Fall nämlich, dafs keine Kräfte
wirken.
Nach unserer Auffassung sind umgekehrt die Voraus-
setzungen des vollständigen JACOBi'schen Satzes als die
engeren zu bezeichnen, und der jACOBi'sche Satz ist nach
dieser Auffassung eine Anpassung des Lehrsatzes an beson-
dere Verhältnisse und seine Umformung auf die Voraussetzungen
derselben.
Anmerkung 4. Der Lehrsatz 347 hat den Satz von der 351
Erhaltung der Energie weder zur Voraussetzung, noch zur
Folge, sondern ist von demselben ganz unabhängig. Zu-
sammen mit dem Satz von der Energie vermag er das Grund-
gesetz vollständig zu ersetzen, jedoch nur für holonome Sy-
steme. Angewandt auf andere Systeme würde der Satz aller-
dings auch bestimmte Bewegungen ergeben, aber diese Be-
wegungen würden dem Grundgesetz widersprechen (194), also
falsche Lösungen der gestellten mechanischen Probleme sein.
5. Kurzeste Zeit.
Lehrsatz. Die natürliche Bewegung eines freien holono- 352
men Systems führt das System in kürzerer Zeit aus einer
gegebenen Anfangslage in eine hinreichend benachbarte End-
lage, als es durch irgend eine andere mögliche, mit dem glei-
chen konstanten Wert der Energie ausgeführte Bewegung ge-
schehen könnte.
176 Zweites Buch.
Denn ist flir alle verglichenen Bewegungen die Energie,
also die Bahngeschwindigkeit die gleiche, so ist die Dauer des
Übergangs der Bahnlänge proportional, also die kleinste für
die kürzeste Bahn, also für die natürliche Bahn.
^53 Anmerkung. Fällt die Beschränkung auf hinreichend be-
nachbarte Lagen fort, so wird die Zeit des Übergangs nicht
mehr notwendig ein Minimum, aber sie behält immer noch
die Eigenschaft, gleich zu sein für die natürliche Bahn und
alle ihr unendlich benachbarten möglichen Bahnen (vergl. 348).
354 Folgerung 1. Für die natürliche Bewegung eines freien
holonomen Systems zwischen gegebenen, hinreichend benach-
barten Endlagen ist das Zeitintegral der Energie kleiner, als
für irgend eine andere mögliche, mit dem gleichen konstanten
Wert der Energie ausgeführte Bewegung.
Denn es ist jenes Zeitintegral gleich dem Produkt aus
dem gegebenen konstanten Wert der Energie und der Zeit-
dauer des Übergangs.
355 Anmerkung 1. Der Lehrsatz 352, insbesondere in der
Form der Folgerung 354, entspricht dem MAUPEETiris'schen
Prinzip der kleinsten Wirkung. Wollen wir sein Verhältnis zu
diesem Prinzipe genauer feststellen, so müssen wir uns in der-
selben Weise ausdrücken, wie dies in 350 geschehen ist.
356 Anmerkung 2. Die Folgerung 354 imd auch der Lehr-
satz 352 setzen für die mit einander verglichenen Bewegungen
die Eonstanz der Energie mit der Zeit voraus. Zusammen
mit der Voraussetzung, dafs die natürliche Bewegung sich
überhaupt unter den verglichenen finde, genügen sie also zur
Bestimmung derselben und können das Grundgesetz vertreten,
jedoch nur für holonome Systeme. Ihre Voraussetzungen auf
andere Systeme angewandt, würden zu falschen mechanischen
Lösungen führen.
357 Folgerung 2. Ein freies holonomes System wird aus
seiner Anfangslage in gegebener Zeit auf gröfsere geradeste
Entfernung fortgetragen durch seine natürliche Bewegung, als
durch irgend eine andere mögliche Bewegung, welche mit dem
Allgemeine Eigenschaften d&r Bewegung, 177
gleichen konstanten Wert der Energie erfolgt, wie die natür-
liche Bewegung.
6. Kleinstes Zeitintegral der Energie.
Lehrsatz. Das Zeitintegral der Energie ist beim Über- 358
gang eines freien holonomen Systems aus einer gegebenen
Anfangslage in eine hinreichend benachbarte Endlage kleiner
für die natürliche Bewegung, als fiir jede andere mögliche
Bewegung, welche das System in der gleichen Zeit aus der
gegebenen Anfangslage in die gegebene Endlage überfuhrt.
Vergleichen wir nämlich zunächst nur Bewegungen in
einer und derselben Bahn von der Länge 8, so erreicht unter
diesen das Zeitintegral der Energie sein Minimum für diejenige
Bewegung, für welche die Bahngeschwindigkeit v konstant ist.
Denn da die Summe der Gröfsen vdi den gegebenen Wert 8
hat, so wird die Summe der Gröfsen v^dt dann und nur dann
ihren kleinsten Wert erreichen, wenn alle v gleich sind. Ist
aber die Bahngeschwindigkeit konstant, so ist das Zeitintegral
der Energie gleich \mS^jTj wenn T die Dauer des Übergangs
ist. Da T gegeben ist, so verhält sich für verschiedene
Bahnen des Systems das Zeitintegral der Energie wie das
Quadrat der Bahnlänge, erstere Gröfse hat also wie die
letztere ihren Minimalwert für die natürliche Bahn.
Anmerkung 1. Fällt die Beschränkung auf hinreichend 359
benachbarte Lagen fort, so wird das Zeitintegral der Energie
nicht mehr notwendig ein Minimum, aber seine Variation ver-
schwindet immer noch beim Übergang zu einer anderen der
in Betracht gezogenen Bewegungen (vgl. 348).
Anmerkung 2. Der vorstehende Lehrsatz entspricht dem 360
HamüiTon' sehen Prinzip. Wollen wir sein Verhältnis zu diesem
Prinzipe genauer feststellen, so müssen wir uns derselben Aus-
drucksweise bedienen wie in 350.
Anmerkung 8. Der Lehrsatz 358 und die Folgerung 354 361
stimmen darin überein, dafs sie unter gewissen Klassen mög-
licher Bewegungen die natürliche Bewegung auszeichnen durch
Hertz, Mechanik. 12
178 ZucmUs Budi.
ein und dasselbe Merkmal, nämlich den Minimalwert des Zeit-
int^rak der flnei^e; sie nnterscheiden sich aber wesentiich
Ton einander dadurch, dafs sie ganz Yerschiedene Klassen
möglicher Bewegungen in Betracht ziehen.
M2 Anmerkung 4. Der Satz Ton der Erhaltung der Ebiei^e
ist eine notwendige Folge des Lehrsatzes 358, und dieser Lehr-
satz kann daher, als Prinzip Yorangestellt, als YoUstandiger
Ersatz für das Grundgesetz dienen, jedoch nur in der An-
wendung desselben auf holonome Systeme. LaTst man die
Beschränkung auf holonome Systeme fallen, so ergiebt der
Satz zwar auch bestimmte Bewegungen der materiellen Systeme,
aber diese widersprechen im allgemeinen dem Grundgesetz
und sind also, mechanisch betrachtet, falsche Lösungen der ge-
stellten Probleme.
863 Buckblick auf 347 bis 362. Benutzen wir die in den
Lehrsätzen 347, 352, 354, 358 ausgesprochenen Eigenschaften
der natürlichen Bewegung als Prinzipien zur YoUständigen
oder teilweisen Bestimmung dieser Bewegung, so machen wir
die gegenwärtig eintretenden Änderungen im Zustand des
Systems abhängig von solchen Eigentümlichkeiten der Be-
wegung, welche erst in der Zukunft hervortreten können, und
welche oft in menschlichen Verrichtungen als erstrebenswerte
Ziele erscheinen. Dieser umstand hat bisweilen Physiker und
Philosophen dazu geführt, in den Gesetzen der Mechanik den
Ausdruck einer bewufsten Absicht auf zukünftige Ziele, ver-
bunden mit Voraussicht der zweckmäfsigen Mittel, zu erblicken.
Eine solche Auffassung ist aber weder notwendig, noch auch
nur zulässig.
364 Dafs nämlich eine solche Auffassung jener Prinzipien
nicht notwendig ist, ergiebt sich daraus, dafs die Eigenschaften
der natürlichen Bewegung, welche eine Absicht anzudeuten
scheinen, als denknotwendige Folgen eines Gesetzes erkannt
wurden, in welchem man den Ausdruck einer Voraussicht in
die Zukunft nicht findet.
365 Dafs jene Auffassung der Prinzipien aber sogar unzulässig
ist, ergiebt sich daraus, dafs die Eigenschaften der natürlichen
Bewegung, welche eine Absicht auf zukünftigen Erfolg anzu-
deuten scheinen, nicht bei allen natürlichen Bewegungen sich
IHfferentialgleichungen der Bewegung. 179
finden. Hätte die Natur wirklich die Absicht, einen kürzesten
Weg, einen kleinsten Aufwand an Energie, eine kürzeste Zeit
zu erzielen, so wäre es unmöglich zu verstehen, wie es Sy-
steme geben könnte, in welchen diese Absicht, obwohl er-
reichbar, dennoch der Natur regelmäfsig fehlschlüge.
Will man darin, dafs ein System unter allen möglichen 366
Bahnelementen beständig ein geradestes auswählt, den Aus-
druck eines bestimmten WiUens erkennen, so steht dies frei;
man sieht alsdann eben schon darin den Ausdruck eines be-
stimmten Willens, dafs ein natürliches System überhaupt unter
allen möglichen Bewegungen keine willkürliche, sondern stets
^ine durch besondere Merkmale bezeichnete, im voraus be-
stimmbare Bewegung auswählt.
Analytische Darstellung. Differentialgleichungen
der Bewegung.
Erläuterung. Unter den Differentialgleichungen der Be- 367
wegung eines Systems verstehen wir einen Satz von Differential-
gleichungen, in welchen die Zeit die unabhängige Variabele,
die Koordinaten des Systems die abhängigen Variabelen sind,
und welche zusammen mit einer Anfangslage und einer An-
fangsgeschwindigkeit die Bewegung des Systems eindeutig be-
stimmen (331).
Aufgabe 1. Die Differentialgleichungen der Bewegung 368
•eines freien Systems in den rechtwinkligen Koordinaten des-
selben darzustellen.
In 155 d haben wir die Differentialgleichungen der gerade-
sten Bahnen des Systems in den rechtwinkligen Koordinaten
abgeleitet. In diese Gleichungen führen wir anstatt der Bahn-
länge die Zeit t als unabhängige Variabele ein. Nach dem
Orundgesetz ist ds/dt = v von t, also auch von s unabhängig,
imd wir haben:
Ofyp — QUp V , %y — X>p V
12
180 Zweites Buch.
Multiplizieren wir demnach die Gleichungen 155 d mit mv^
und setzen zur Abkürzung für mv^Si jetzt X^, so erhalten
wir als Lösung der Aufgabe die 3« Gleichungen:
a) m;xv + 2' ^iv -^t = >
1
welche zusammen mit den i Gleichungen (vgl. 155 b):
Bn 3n 3n ^
V X,y Xy + Z:2t~^^^^i^ = ^
1 11 ^^l*
die 3 71 +2 Gröfsen x^ und X^ als eindeutige Funktionen der
Xy und Xy bestimmen.
369 Anmerkung 1. Die Gleichungen der Bewegung des freien
Systems in der Form 368 werden gewöhnlich als Lagbange's
Gleichungen der ersten Form bezeichnet.
370 Anmerkung 2. Jede einzelne der Gleichungen 368 a giebt
uns, nachdem wir die X. zuerst bestimmt haben, die Kompo-
nente der Beschleunigung des Systems nach einer bestimmten
der rechtwinkligen Koordinaten des Systems.
371 Aufgabe 2. Die Differentialgleichungen der Bewegung
eines freien Systems in den allgemeinen Koordinaten pg des-
selben auszudrücken.
Die Differentialgleichungen der geradesten Bahnen in den
Pq finden wir in 158 d. In diese führen wir statt der Bahnlänge
die Zeit als unabhängige Variabele ein, indem wir wiederum
bemerken, dafs nach dem Grundgesetz ist:
P9=PQ^ , Pq=PqV^ .
Indem wir also die Gleichungen 158 d multiplizieren mit mv^
und setzen für mv^II^ jetzt P^, so erhalten wir als Lösung
der Aufgabe die r Gleichungen:
«) m|2<' v/^'' +2''2^ (^-1 ^)^-^} +2-'Ph ^« = ,
Di/fer&nticUgleichungen der Bewegung. 181
welche zusammen mit den k Gleichungen (vgl. 158 b):
2^ p^'.p, +2^2' '£rP9p<r-^ *>
1 1
^Po
die r + k Gröfsen p^ und P^ als eindeutige Funktionen der
Pq und der p^ bestimmen.
Anmerkung. Indem wir Gebrauch machen von der Be- 372
Ziehung 277, können wir die Bewegungsgleichungen 371a in der
Form schreiben:
k
1
Denken wir uns die Pj^ zuerst bestimmt, so giebt uns
eine jede dieser Gleichungen die Komponente der Beschleu-
nigung nach einer bestimmten der Koordinaten p^ , ausgedrückt
als Funktion der augenblicklichen Lage und Geschwindigkeit
des Systems.
Folgerung 1. Drücken wir mit Hülfe der Beziehung 875
291a die Komponenten der Beschleunigung durch die Energie
aus, so nehmen die Bewegungsgleichungen eines freien Systems
die Form an:
Anmerkung 1. Die Differentialgleichungen der Bewegung 374
in dieser Form heifsen auch die allgemeinen LAGEANGE'schen
Gleichungen der Bewegung oder Lagiiange's Gleichungen der
zweiten Form (vgl. 369).
Anmerkung 2. Ist die Koordinate pg eine freie Koordi- 375
nate, so kommt sie in den Bedingungsgleichungen des Systems
nicht vor (140), die Gröfsen p^ sind also sämtlich gleich NuU,
und die auf jo^ bezügliche Bewegungsgleichung wird:
dt \ dpj dpg
.^..u-^uKu :^^em können {lU) stets die sämt-
„ii .er Jw'viiÄ^ang in dieser einfachen Form
J. '';i3 'ii-'weeungsgleiclningen eines freien ho-
> n ■i>:'!nii welchen r freien Koordinaten p^
■::i.cu ^«isoiirieben werden in der Form der
Je
c -■i^ien?o nur Definitionen, die letzteren aber
. ...>.>L''.i.u enthalten. Man kann die Bewegoogs-
; ;!e>i^c Form auffassen als 2r Differantial-
-sitf i,Vinung für die 2r Gröfsen pg nnd qg,
^t.» lu^smmen mit 2r Änfangswerten den Ver-
--.v.Niu :Ur alle Zeiten bestimmen.
l*^ 1. l*ie Gleichungen 8J6 a nnd b würde man
■ ,^ :i. ;i!s die PoissON'sche Form der Bewegnngs-
v-vii.'huen.
v<.j4^ 4> Ans den Gleichungen 37« folgen zwei
•v . .^-.luti^n, welche analytisch dargestellt sind dorcb
dp„ Bpg
(aus b»
Bf/]. 8p^„
ö^ = ep^ ' (*°ä ■> ^^ *»
len physikalischen Sinn besitzen. Beide
Elemente der Erfahmng und würden
Bewegung des Systems gelten, können
nden zur Prüfimg des Grundgesetzes
t dritte analoge, allein aus 3!«« ab-
Irde nur die Folge unserer Defini-
Differentialgleichungen der Bewegtmg. 183
Folgerung 3. Die Bewegungsgleichungen eines freien ho- 379
lonomen Systems in irgend welchen r freien Koordinaten pg
des Systems können geschrieben werden in der Form der
2r Gleichungen (290, 289, 292, 375):
von welchen die ersteren nur Definitionen, die letzteren aber
Erfahrungsthatsachen enthalten. Auch in dieser Form er-
scheinen die Bewegungsgleichungen als 2r Differentialglei-
chungen erster Ordnung für die 2r Gröfsen Pq und q^, welche
Gleichungen zusammen mit 2r Anfangswerten den Verlauf
jener Gröfsen für alle Zeiten bestimmen.
Anmerkung 1. Die vorstehenden Gleichungen 379 a und b 380
werden gewöhnlich als die HAMTLTON'sche Form der Be-
wegungsgleichungen für ein freies System bezeichnet.
Anmerkung 2. Aus den Gleichungen 379 folgen zwei reci- 381
proke Beziehungen, welche analytisch dargestellt sind durch
die Gleichungen:
^Pa ^Pe
und welche eine einfache physikalische Bedeutung besitzen.
Beide Beziehungen enthalten Elemente der Erfahrung und
zeichnen die natürliche Bewegung vor andern möglichen Be-
wegungen aus, können also auch unter Umständen rückwärts
zur Prüfung des Grundgesetzes verwertet werden. Eine dritte
analoge, allein aus 379a abzuleitende Beziehung würde nur
die Folge unserer Definitionen sein, also keine mechanische
Bedeutung besitzen.
184 ZweUes BuOu
Es Terdient herrorgehoben zu werden, da(s die Gleichungen
S78a und S81a Terscliiedene Aussagen darstellen nnd nicht
etwa dieselben Aussagen in yerschiedener Form.
Innerer Zwang der Systeme.
S82 Lehrsatz. Ein System materieller Punkte, zwischen welchen
keine Zusammenhänge bestehen, beharrt in seinem Zustand
der Buhe oder der gleichförmigen Bewegung längs einer ge-
raden Bahn.
Denn ftir ein solches System ist die gerade Bahn zugleich
die geradeste.
883 Polgemng 1. Ein freier materieller Punkt beharrt in
seinem Zustand der Buhe oder der gleichförmigen Bewegung
in einer geraden Bahn (Galilei's Trägheitsgesetz oder New-
ton's Lex prima).
884 Folgerung 2. Die Beschleunigung eines Systems mate-
rieller Punkte, zwischen welchen keine Zusammenhänge be-
stehen, ist Null. Die Zusammenhänge zwischen den Punkten
eines materiellen Systems können also als die Ursache auf-
gefafst werden, aus welcher die Beschleunigung im allgemeinen
Yon Null abweicht.
885 Definition. Die Abänderung, welche die sämtUchen Zu-
sammenhänge eines materiellen Systems an seiner Beschleu-
nigung hervorrufen, heilst der Zwang, welchen die Zusammen-
hänge dem System auferlegen; jene Abänderung wird auch
kurz der innere Zwang oder noch kürzer der Zwang des Sy-
stems genannt.
Der Zwang wird gemessen durch den Unterschied zwischen
der wirklichen Beschleunigung des Systems und der Beschleu-
nigung derjenigen natürlichen Bewegung, welche bei Aufhebung
sämtlicher Bedingungsgleichungen des Systems eintreten würde;
er ist gleich der ersteren vermindert um die letztere.
886 Folgerung 1. Der innere Zwang eines Systems ist wie
die Beschleunigung eine Vektorgröfse in Bezug auf das System.
Innerer Zwang, 185
Folgerung 2. In einem freien System ist der innere 3S7
Zwang gleich der Beschleunigung des Systems; er ist hier in
der That nur eine andere Auffassung der Beschleunigung (3S2).
Lehrsatz 1. Die Gröfse des Zwanges ist in jedem Augen- 388
blick für die natürliche Bewegung eines freien Systems
kleiner als für irgend eine andere mögliche Bewegung, welche
in dem betrachteten Augenblick nach Lage und Geschwindig-
keit mit jener zusammenfällt.
Denn diese Behauptung ist nach 387 nur im Ausdruck ver-
schieden von dem Lehrsatz 344.
Folgerung. Ein jeder Zusammenhang, welcher den vor- 389
handenen Zusammenhängen des Systems hinzugefügt wird, ver-
gröfsert den Zwang des Systems. Die Auflösung irgend eines
Zusammenhanges ändert die natürliche Bewegung in solcher
Weise, dafs sich der Zwang verkleinert.
Anmerkung 1. Der vorstehende Lehrsatz entspricht dem 390
GAUSs'schen Prinzip des kleinsten Zwanges. Um sein Ver-
hältnis zu diesem Prinzipe genau darzustellen, würden wir uns
derselben Ausdrucksweise zu bedienen haben wie in 360.
Anmerkung 2. Das GAUss'sche Prinzip und das Trag- 391
heitsgesetz (383) zusammen können das Grundgesetz vollständig
ersetzen, und zwar für alle Systeme.
Denn sie sagen zusammen den Lehrsatz 344 aus.
Lehrsatz 2. Die Richtung des Zwanges steht bei der 392
natürlichen Bewegung eines freien Systems beständig senkrecht
auf jeder möglichen oder virtuellen (111) Verrückung des Sy-
stems aus seiner augenblicklichen Lage.
Denn die Komponenten des Zwanges nach den Koordi-
naten Pq sind nach 387 in einem freien System gleich /^,
können also nach 372 geschrieben werden in der Form:
■"—^"i^x^^x ,
m ,
sind also nach 250 senkrecht auf jeder möglichen Verrückung
des Systems.
186 ZweUes Buch,
393 Symboliiclier Aiudmek. Bezeichnen die 8p^ die Ände-
rungen der Koordinaten p^ for ii^end eine beliebige mögliche
oder virtuelle Yerrüdning des Systems, so giebt die Gleichung:
r
1
einen symbolischen Ansdmck des Yorigen Lehrsatzes. Denn
die Gleichung ersetzt den Lehrsatz nach 249, und sie ist sym-
bolisch, insofern sie als Symbol für unendlich viele Gleichungen
steht.
Wenden wir rechtwinklige Koordinaten an, und bezeichnet
dx^ die Änderung von x^ für irgend eine mögliche oder vir-
tuelle Yerrückung, so nimmt die Gleichung a) die Gestalt an:
3n
b) ^J 7»y Xp SXp = .
1
394 Anmerkung 1. Der vorstehende Lehrsatz 392 entspricht
dem D'AiiEMBEBT'schen Prinzip; die Gleichungen 393a und 1>
entsprechen der gewöhnlichen Darstellungsweise desselben. Um
das Verhältnis zwischen diesem Prinzip und jenem Lehrsatz
genau festzustellen, würden wir uns derselben Ausdrucksweise
zu bedienen haben wie in 350.
395 Anmerkung 2. Aus der Bedingung, dafs der Zwang senk-
recht stehe auf jeder virtuellen Verrückung des Systems, folgen
nach 250 die Bewegungsgleichungen des freien Systems in der
Form 372. Das D'AiiEMBEBx'sche Prinzip kann also für sich
allein das Grundgesetz vertreten und zwar für alle Systeme.
Das von uns benutzte Grundgesetz hat vor jenem Prinzip die
einfachere und durchsichtigere Bedeutung voraus.
396 Polgerung 1. Li einem freien System steht die Beschleu-
nigung beständig senkrecht auf jeder möglichen Verrückung
des Systems aus seiner augenblicklichen Lage.
397 Polgerung 2. Bei der Bewegung eines freien Systems
steht die Beschleunigung beständig senkrecht auf der Richtung
der wirklichen augenblicklichen Bewegung.
Innerer Zwang. 187
Folgerung 3. Bei der Bewegung eines freien Systems ist 39S
die Komponente der Beschleunigung in jeder Eichtung einer
möglichen Bewegung beständig gleich Null.
Folgerung 4. Die Komponente der Beschleunigung eines 399
freien Systems in der Richtung irgend einer freien Koordinate
des Systems ist beständig gleich Null.
Lehrsatz. Ein freies System bewegt sich in solcher Weise, 400
dafs die Komponenten der Beschleunigung in Richtung einer
jeden Koordinate der absoluten Lage beständig Null bleibt,
welches auch immer der innere Zusammenhang zwischen den
Punkten des Systems ist.
Denn welches auch der Zusammenhang des Systems ist,
jede Koordinate seiner absoluten Lage ist eine freie Koordi-
nate (142).
Folgerung. Wählen wir die Koordinaten eines freien Sy- 401
stems übrigens beliebig, aber doch so, dafs sich unter ihnen
sechs Koordinaten der absoluten Lage finden (19), so können
wir auch ohne Kenntnis des Zusammenhanges des Systems,
oder ohne vollständige Kenntnis desselben, doch stets sechs
Differentialgleichungen der Bewegung des Systems angeben.
Besondere Wahl der Koordinaten. Die folgende Wahl von 402
Koordinaten der absoluten Lage ist für jedes System eine zu-
lässige Wahl.
Wir bezeichnen mit
die arithmetischen Mittelwerte derjenigen rechtwinkligen Koordi-
naten aller Massenteilchen, welche beziehlich mit x^^x^x^ pa-
rallel sind. Die Gröfsen cc^ cc^ cc^ betrachten wir als recht-
winklige Koordinaten eines Punktes von mittlerer Lage, welchen
wir den Schwerpunkt des Systems nennen. Durch den Schwer-
punkt legen wir drei Gerade parallel den drei Koordinatenaxen;
durch diese drei Geraden und alle Massenteilchen legen wir
Ebenen, und bezeichnen mit
188 ZweiUa Bueh.
die arithmetischen Mittelwerte der Winkel aller dnrch dieselbe
Gerade gellten Ebenen mit einer beliebigen nnter ihnen.
Die sechs Gröüsen a nnd & sind Ton einander unabhängig yer-
änderliche Grölsen, deren Anderong notwendig eine Andemng
in der Lage des Systems bedingt, und welche dnrch die Kon-
figuration allein nicht bestimmt sind. Wir können also diese
sechs Gröfsen zu Koordinaten der absoluten Lage machen (21),
und wir machen sie zu Koordinaten der absoluten Lage, so-
bald wir neben ihnen nur noch Konfigurationskoordinaten als
weitere Koordinaten einfuhren.
Erteilen wir den a und a beliebige Veränderungen, während
wir die übrigen Koordinaten festhalten, so bewegt sich das
System wie ein starrer Körper. Wir erhalten daher aus rein
geometrischen Gründen für die Änderungen der rechtwinkligen
Koordinaten, wenn wir den Lidex v von 1 bis n laufen
lassen (13):
dx^ = dai + (a^y-i— «2) ^^s — (^-2— «3) ^«2
dXsy_i = dcc2 + {x^-2—cts) dcDi — (Xq, — Äi) ^«3
dX^_2 = ^«3 + (^ —«1) ^^2 "" (^-l-~«2) ^^1
Hieraus ergeben sich, wenn wir auch nun die x^ als Funk-
tionen sämtlicher Koordinaten betrachten^ die Werte der par-
tiellen Differentialquotienten der Xy nach den cc und (o; also
zum Beispiel:
, V dx^ dxsy dxQy
dai da2 da^
403 Folgerung 1. Zufolge der Bemerkung, dafs die Be-
schleunigungen des Systems nach den Koordinaten ui a2 «3 ver-
schwinden müssen (400), gelten die drei Gleichungen:
n n
'^mvX^ = , ^myx^_^=^0 , 2*' ^^-2 = ^
Innerer Zwang. 189
Denn nach 242 und 275 ist die Beschleunigung nach der
Koordinate ux des Schwerpunktes gleich:
^1^ dXy rriy ..
also nach 402b gleich:
n
und entsprechende Ausdrücke gelten für die Beschleunigungen
nach U2 und a^ .
Anmerkung. Die drei Gleichungen 403, welche sich un- 404
mittelbar zweimal integrieren lassen und dann aussagen, dafs
der Schwerpunkt eines freien Systems sich in gleichförmiger,
geradliniger Bewegung befindet, enthalten das sogenannte
Prinzip des Schwerpunktes.
Folgerung 2. Zufolge der Bemerkung, dafs die Be- 405
schleunigungen des Systems nach den Koordinaten (o^m^faz
verschwinden müssen (400), gelten die drei Gleichungen:
n
xT ^y (^y-2 ^y-i — ^y-i ^-2} — ^ j
n
XT '^^ v^ %y-2 ^v-2 ^v ) — ^ >
1
n
1
Denn nach 242 und 275 ist die Beschleunigung nach coi
gleich:
3n 2
'^^ oXy niy .,
>* 01^
also nach 402 e gleich:
190 Zweites Buch.
yT ~ |(^y-2'~«3) %'-! — (%y-l~"CJ2) ^y-21 >
also durch Benutzung von 403 gleich:
n
m
xT ~ v^v-2 ^3v-l ^y-1 ^8^-2) >
1 »^
und entsprechende Werte gelten für die Beschleunigungen
nach 0D2 und »3 .
406 Anmerkung. Die drei Gleichungen 405 enthalten das so-
genannte Prinzip der Flächen. Jene Gleichungen lassen sich
nämlich unmittelbar einmal integrieren und ergeben dann die
Differentialgleichungen erster Ordnung:
n
xT ^y y^-2 "^-1 ^y-i ^^-2} — consti ,
n
xT ^v \^v ^v-2 — %j/-2 %y ) — const2 ;
n
^v rriv {x^v-i i^ —x^v 4y-i) = consts ,
1
welche die folgende, den Namen rechtfertigende geometrische
Deutung erlauben:
Ziehen wir vom Ursprung der Koordinaten nach jedem
Massenteilchen des Systems einen Eadius, so wächst die
Summe der Projektionen der von diesen Eadien beschriebenen
Flächen auf jede der drei Koordinatenebenen gleichförmig mit
der Zeit.
407 Anmerkung 1 zu 402 bis 406. Wir haben die Prinzipien
des Schwerpunktes und der Flächen als besondere Fälle des
allgemeinen Lehrsatzes 400 eingeführt. Wir hätten hierzu
kein Becht gehabt, wenn man, wie es bisweilen geschieht, als
den wesentlichen Inhalt jener Prinzipien den Vorteil ansehen
wollte, dafs sie Integrale der Bewegungsgleichungen liefern.
Diese Auffassung scheint uns aber schon deshalb unzulässig.
Holonome Systeme. 191
weil das Ergebnis des Flächensatzes doch nur in uneigent-
lichem Sinne ein Integral genannt werden kann. Als wesent-
lichen Inhalt jener Prinzipien betrachten wir vielmehr, wie uns
scheint mit Recht, den Vorteil, dafs sie Behauptungen liefern,
welche unabhängig von dem besonderen Zusammenhang des
Systems allgemeingültig ausgesagt werden können.
Anmerkung 2 zu 402 bis 406. Bei der Ableitung des Satzes 408
vom Schwerpunkt und des Flächensatzes als besonderer Fälle
des Satzes 400 haben wir nicht von allen Eigenschaften Ge-
brauch gemacht, welche wir den cc und den (o durch die
Definition beilegten. In der That hätten wir jene Sätze auch
mit Benutzung anderer Koordinaten ableiten können, z. B.
aller Koordinaten , welche mit den a und w gleiche Richtung
haben, ohne doch identisch mit ihnen zu sein. Überhaupt
würden wir bei beliebiger Wahl der Koordinaten nicht jedes--
mal 6 Gleichungen erhalten, welche einen neuen physikalischen
Sinn ergäben oder von den Gleichungen 403 und 405 völlig
unabhängig wären, sondern es würden stets diejenigen Glei-
chungen sein, welche aus den Gleichungen 403 und 405 durch
Transformation auf die gewählten Koordinaten entstehen. Aber
für alle diese verschiedenen Formen giebt der Lehrsatz 400
einen gemeinschaftlichen Ausdruck und den physikalischen Sinn.
Holonome Systeme.
Bemerkung. Ist für ein holonomes System die geradeste 409
Entfernung (217) bekannt, so lassen sich die Gleichungen der
geradesten Bahnen in endlicher Form darstellen (225). Diese
Bahnen sind aber die natürlichen Bahnen des Systems, so-
bald dasselbe frei ist, und alle Bewegungen, bei welchen sie
mit gleichbleibender Geschwindigkeit durchlaufen werden, sind
natürliche Bewegungen des Systems. Die Bewegungsglei-
chungen eines freien holonomen Systems werden sich also in
endlicher Form darstellen lassen.
Aufgabe. Die Bewegungsgleichungen eines freien holo- 410
nomen Systems mit Hülfe der geradesten Entfernung desselben
darzustellen.
192 Zweites Buch,
(410) Es sei wie früher 8 die geradeste Entfernung des Sy-
stems, gedacht als Funktion der freien Koordinaten p^^ und jo^
ihrer Anfangs- und Endlage. Es sei /b die Zeit, zu welcher
das System die Anfangslage, ^i die Zeit, zu welcher es die
Endlage durchläuft;. Es ist dann ^i — ^ die Dauer des Über-
gangs, also
S
a) V =
ti-to
die konstante Geschwindigkeit des Systems in seiner Bain,
also seine Energie:
b) E-=^m
S^
und seine Momente ^^ und ^^ zu den Zeiten ^ und ti:
^ 1/
e)
a
Für die Gleichungen der geradesten Bahnen finden wir
zwei Formen in den Gleichungen 224 a und 226 a. Multipli-
zieren wir dieselben mit m8j{ti — /b) oder, was nach b) das-
selbe ist, mit ]/2m^, so erhalten wir die folgenden vier Sätze
von je r Gleichungen:
__ 1 m dS^
_ 1 m dS^
dS
qg^= y2mE
♦
^Per
IT)
i'-'-^-^t ■
Holonome Systeme, 193
Damit ist unsere Aufgabe gelöst und zwar in mehrfacher
Weise.
Denn betrachten wir ti als die variabele Zeit, und also
die pg^ als die Koordinaten der mit dieser Zeit sich ver-
ändernden Lage, so bestimmen uns die r Gleichungen e) diese
r Koordinaten als endliche Funktionen von ti , und das Gleiche
leisten uns die Gleichungen g), wenn wir zu diesen noch die
Beziehung zwischen E und tij also die Gleichung b) hinzu-
nehmen. Die 2r Gröfsen p^^ und y^ spielen dabei die Rolle der
2r willkürlichen Konstanten. Bei der gleichen Betrachtungs-
weise geben uns nebenbei auch die Gleichungen d), oder f)
und h), die Bewegungsgleichungen des Systems, und zwar nun-
mehr als Differentialgleichungen erster Ordnung, in welchen
die r Gröfsen p^^ die Rolle der r willkürlichen Konstanten
übernehmen.
Oder betrachten wir, was nicht minder erlaubt, die Zeit
td als die variabele Zeit, also die Lage als die variabele
Lage, so geben uns die Gleichungen d), oder auch f) und b),
die Bewegungsgleichungen in endlicher Form, mit der Zeit to
als unabhängiger, den p^^ als abhängigen Variabelen und den
p^ und q^ als 2r willkürlichen Konstanten. Zugleich geben
uns dann nebenbei die Gleichungen e), oder auch g) und b),
die Bewegungsgleichungen in der Gestalt von Differentialglei-
chungen erster Ordnung, in welchen die pg^ die Rolle von r
willkürlichen Konstanten spielen.
Folgenmg 1. Setzen wir 411
i2E^.S= V , a)
und betrachten F als Funktion der pg^ , pg^ und von JE, so
lassen sich die natürlichen Bewegungen des Systems darstellen
in der Form:
dF
dF
, . __ BF
Hertz, Mechanik. 13
194 Zweites Buch,
Denn die Gleichungen b) und e) fallen zusammen mit den
Gleichungen 410 f und ^, und die Gleichung d) folgt aus Glei-
chung a) und 410 b.
412 Anmerkung. Die so eingeführte Funktion F ist Hamtl-
ton's charakteristische Funktion des Systems; sie ist bei Ha-
milton mit dem gleichen Buchstaben bezeichnet. E^e solche
Funktion besteht also nur für holonome Systeme. Ihrer
mechanischen Bedeutung nach giebt die charakteristische
Funktion den doppelten Wert des Zeitintegrals der Energie
an, welcher eintritt, wenn das System mit gegebener Energie
aus gegebener Anfangs- in gegebene Endlage übergeht, ge-
dacht als Funktion jener Energie und der Koordinaten der
Anfangs- und der Endlage.
Denn es ist nach Gleichung 411a und 410 b:
dem Werte nach, der Form nach allerdings nur dann, wenn
wir in der rechten Seite die Dauer des Übergangs t^—t^ als
Funktion von E und den p^^ und j9^ dargestellt denken.
413 Lehrsatz. Die charakteristische Funktion V eines freien
holonomen Systems genügt den beiden partiellen Differential-
gleichungen erster Ordnung:
Denn dieselben werden erhalten durch Multiplikation der
Gleichungen 227 für die geradeste Entfernung mit 2m E und
Beachtung der Gleichung 411a.
414 Folgerung 2. Setzen wir
Holonome Systeme, 195
und betrachten P als Funktion der Pg^jPg^ und von t^ und ^,
so stellen die Gleichungen:
dP
?.o=-^ e)
die natürlichen Bewegungen des Systems dar. Die Energie B
des Systems kann aus P unmittelbar abgeleitet werden mit
Hülfe der Gleichungen:
rr öP dP
^="ä^ = ä^ • *>
Denn die Gleichungen b) und c) fallen zusammen mit
den Gleichungen 410 d und e, und die Gleichungen d) folgen
aus Gleichung a) und 410 b.
Anmerkung. Die jetzt eingeführte Funktion P ist die 41&
HAMiLTON'sche Prinzipalfunktion des Systems; sie ist bei Ha-
milton selbst mit S bezeichnet. Nur für holonome Systeme be-
steht eine solche Funktion. Ihrer mechanischen Bedeutung nach
giebt die Prinzipalfiinktion den Wert des Zeitintegrals der
Energie an, welcher eintritt, wenn das System in gegebener
Zeit aus gegebener Anfangs- in gegebene Endlage übergeht,
gedacht als Funktion jener Zeit und der Anfangs- und End-
werte der Koordinaten.
Denn es ist nach Gleichungen 414 a und 410 b:
dem Werte nach, der Form nach allerdings nur dann, wenn
wir uns in der rechten Seite JE als Funktion der Pq^^Pq^ und
der t^ und t^ dargestellt denken.
Lehrsatz. Die Prinzipalfunktion eines freien holonomen 416
Systems genügt den beiden partiellen DiflFerentialgleichungen
erster Ordnung:
13*
196 Zweites Buch.
r r
L2'2'^i
dP dP dP
Denn dieselben werden erhalten, indem man die Glei-
chungen 227 multipliziert mit (410 b)
2
und die Beziehungen 414 a und d beachtet.
417 Anmerkung zu 411 bis 416. Ebenso wie wir in 232 bis
236 von den Differentialgleichungen 227 ausgehend Funktionen
betrachten konnten, welche der geradesten Entfernung ver-
wandt waren und sie in analytischer Hinsicht vollkommen er-
setzten, ohne doch eine gleich einfache geometrische Bedeutung
wie sie zu haben, ebenso können wir von den Differential-
gleichungen 413 und 416 ausgehend zu Funktionen gelangen,
welche der charakteristischen Funktion und der Prinzipal-
funktion verwandt sind und in analytischer Hinsicht gleiche
Dienste leisten oder selbst Vorteile bieten, deren Bedeutung
in physikalischer Hinsicht aber durch die mathematische Ver-
wickelung mehr und mehr verdunkelt erscheint. Solche Funk-
tionen würde man passend als jACOBi'sche Prinzipalfimktionen
und charakteristische Funktionen bezeichnen.
Es erhellt übrigens, dafs auch schon in der charakte-
ristischen Funktion und in der Prinzipalfunktion nur der ein-
fache Sinn der geradesten Entfernung und auch dieser in
leichter Verschleierung auftritt, so dafs die Einführung jener
Funktionen neben einander und neben der geradesten Ent-
fernung nur eine geringe Bedeutung haben würde, wenn es
sich stets, wie hier, um die Betrachtung vollständig bekannter
freier Systeme handelte.
Dynamische ModeUe. 197
Dynamische Modelle.
Definition. Ein materielles System heifst dynamisches 418
Modell eines zweiten Systems, wenn sich die Zusammenhänge
des ersteren durch solche Koordinaten darstellen lassen, dafs
den Bedingungen genügt ist:
1. dafs die Zahl der Koordinaten des ersten Systems
gleich der Zahl der Koordinaten des andern Systems ist,
2. dafs nach passender Zuordnung der Koordinaten f)ir
beide Systeme die gleichen Bedingungsgleichungen bestehen,
3. dafs der Ausdruck fiir die Gröfse einer Verrückung in
beiden Systemen bei jener Zuordnung der Koordinaten über-
einstimme.
Je zwei einander zugeordnete Koordinaten beider Systeme
heifsen auch korrespondierende. Korrespondierende Lagen,
Verrückungen, u.s.w. heifsen solche Lagen, Verrückungen, u. s.w.
beider Systeme, welchen gleiche Werte der korrespondierenden
Koordinaten und ihrer Änderungen zugehören.
Folgerung 1. Ist ein System Modell eines zweiten Sy- 419
stems, so ist auch umgekehrt das zweite System Modell des
ersten. Sind zwei Systeme Modelle eines dritten, so sind sie
auch Modelle von einander. Das Modell des Modells eines
Systems ist auch Modell des ursprünglichen Systems.
Alle Systeme, welche Modelle von einander sind, heifsen
auch dynamisch ähnlich.
Folgerung 2. Die Eigenschaft eines Systems, Modell 420
eines andern zu sein, ist unabhängig von der Wahl der
Koordinaten des einen oder des andern Systems, obwohl sie
erst bei besonderer Wahl der Koordinaten unmittelbar her-
vortritt.
Folgerung 3. Ein System ist noch nicht vollständig be- 421
stimmt dadurch, dafs es Modell eines gegebenen Systems ist.
Unendlich viele, physikalisch gänzlich verschiedene Systeme
können Modelle eines und desselben Systems sein. Ein System
ist Modell unendlich vieler, gänzlich verschiedener Systeme.
Denn die Koordinaten der Massen der beiden Systeme,
welche Modelle von einander sind, können der Zahl nach
198 Zweites Bach.
gänzlich verschieden und gänzlich verschiedene Funktionen der
korrespondierenden Koordinaten sein.
422 Folgenmg 4. Modelle holonomer Systeme sind wieder
holonome Systeme. Modelle nicht holonomer Systeme sind
wieder nicht holonome Systeme.
423 Anmerkung. Damit ein holonomes System Modell eines
andern sei, genügt es, dafs sich solche freie Koordinaten beider
angeben lassen, in welchen der Ausdruck fiir die Gröfse der
Verriickung beider Systeme der gleiche wird.
424 Lehrsatz. Haben zwei Modelle von einander korrespon-
dierende Zustände zu einer bestimmten Zeit, so haben sie
korrespondierende Zustände zu allen Zeiten.
Denn durch die Bedingungsgleichungen eines Systems,
den Ausdruck für die Gröfse der Verrückung- (164) und durch
die Anfangswerte der Koordinaten und ihrer Veränderung (332)
ist der Verlauf dieser Koordinaten für alle Zeiten bestimmt,
welche Funktion dieser Koordinaten auch immer die Lage
der Massen des Systems ist.
425 Folgening 1. um den Ablauf der natürlichen Bewegung
eines materiellen Systems vorauszusehen, genügt die Kenntnis
eines Modells jenes Systems. Das Modell kann unter Um-
ständen viel einfacher sein, als das System, dessen Bewegungen
es darstellt.
426 Folgerung 2. Sind von einer Anzahl materieller Systeme,
welche Modelle von einander sind, dieselben Gröfsen korre-
spondierende Koordinaten, und sind nur diese korrespondierenden
Koordinaten der Beobachtung zugänglich, so sind alle diese
Systeme in Hinsicht der beschränkten Beobachtung nicht von
einander verschieden, sondern erscheinen als gleiche Systeme,
wie verschieden auch in Wahrheit in ihnen Zahl und Zu-
sammenhang der materiellen Punkte sein möge.
Es ist daher auch unmöglich, allein aus der Beobachtung
der natürlichen Bewegungen eines freien materiellen Systems,
d. h. ohne direkte Bestimmung seiner Massen (300), den Zu-
sammenhang des Systems weiter zu erkennen, als soweit, dafs
man ein Modell des Systems angeben könne.
Bewegung wnfreier Systeme, 199
Anmerkung 1. Lassen wir allgemein und ohne Ein- 427
schränkung zu, dafs auTser den unmittelbar, d. h. den mit der
Wage bestimmbaren Massen noch andere, hypothetische Massen
(301) in den Systemen der Natur sich finden können, so ist
es überhaupt unmöglich, in der Erkenntnis des Zusammen-
hanges natürlicher Systeme weiter zu gelangen, als soweit,
dafs man Modelle der wirklichen Systeme angeben könne.
Wir können dann in der That keine Kenntnis haben, ob die
Systeme, welche wir in der Mechanik betrachten, mit den
wirklichen Systemen der Natur, welche wir zu betrachten
meinen, in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein
darin, dafs die einen Modelle der anderen sind.
Anmerkung 2. Das Verhältnis eines dynamischen Modells 428
zu dem System, als dessen Modell es betrachtet wird, ist das-
selbe, wie das Verhältnis der Bilder, welche sich unser Geist
von den Dingen bildet, zu diesen Dingen. Betrachten wir
nämlich den Zustand des Modells als eine Abbildung des Zu-
standes des Systems, so sind die Folgen der Abbildung, welche
nach den Gesetzen dieser Abbildung eintreten müssen, zu-
gleich die Abbildung der Folgen, welche sich an dem ursprüng-
lichen Gegenstand nach den Gesetzen dieses ursprünglichen
Gegenstandes entwickeln müssen. Die Übereinstimmung zwischen
Geist und Natur läfst sich also vergleichen mit der Überein-
stimmung zwischen zwei Systemen, welche Modelle von ein-
ander sind, und wir können uns sogar Rechenschaft ablegen
von jener Übereinstimmung, wenn wir annehmen wollen, dafs
der Geist die Fähigkeit habe, wirkliche dynamische Modelle
der Dinge zu bilden und mit ihnen zu arbeiten.
Abschnitt 4. Bewegung der unfreien Systeme.
Vorbemerkung 1. Nach unserer Auffassung ist jedes un- 429
freie System Teil eines gröfseren freien Systems; unfreie
Systeme, für welche diese Annahme nicht zuträfe, kennen wir
nicht. Soll aber jenes Verhältnis besonders hervorgehoben
200 Zweites Buch.
werden, so bezeiclmen wir das unfreie System als Teilsystem,
das freie System aber, von welchem es ein Teil ist, als das
vollständige System.
430 Vorbemerkung 2. Indem wir einen Teil eines freien
Systems als unfreies System behandeln, setzen wir voraus, dafs
das übrige System uns mehr oder weniger unbekannt ist, so
dafs die unmittelbare Anwendung des Grundgesetzes unmög-
lich wird. Dieser Mangel unserer Kenntnis mufs in irgend
einer Weise durch besondere Angaben ausgeglichen sein.
Solche Angaben können in verschiedener Weise gemacht wer-
den. Ohne die Möglichkeiten erschöpfen zu wollen, ziehen
wir nur zwei Formen flir jene Angaben in Betracht, welche
in der bisherigen Entwickelung der Mechanik besondere Be-
deutung gewonnen haben.
Die erste Form ist diejenige, bei welcher wir die Be-
wegung des unfreien Systems als eine geleitete bezeichnen; die
zweite ist diejenige, bei welcher wir sagen, die Bewegung des
unfreien Systems sei durch Kräfte beeinflufst.
I. Geleitetes unfreies System.
431 Definition. Geleitete Bewegung eines unfreien Systems
heifst jede Bewegung, welche das System ausfuhrt während
die übrigen Massen des vollständigen Systems eine ganz be-
stimmte, vorgeschriebene Bewegung ausführen. Ein System,
welches geleitete Bewegungen ausfuhrt, nennen wir ein ge-
leitetes System.
4:32 Zusatz 1. Mögliche Bewegung eines geleiteten Systems
heifst jede Bewegung desselben, welche dem Zusammenhange
des vollständigen Systems und der bestimmten Bewegung
der übrigen Massen desselben nicht widerspricht.
433 Zusatz 2. Natürliche Bewegung eines geleiteten Systems
heifst jede Bewegung desselben, welche mit der bestimmten
Bewegung der übrigen Massen zusammen eine natürliche
Bewegung des vollständigen Systems bildet.
Geleitetes System. 201
Aufgabe. Die möglichen Bewegungen eines geleiteten 434
Systems analytisch darzustellen.
Seien die r Gröfsen pg allgemeine Koordinaten des be-
trachteten Teilsystems, die r Gröfsen ^^ irgendwelche Ko-
ordinaten der übrigen Massen des vollständigen Systems. Die
r + x Gröfsen p^ und p^ sind alsdann allgemeine Koordinaten des
vollständigen Systems, und die Zusammenhänge dieses sind dar-
gestellt durch eine Anzahl, etwa ä, Gleichungen von der Form:
r r
^6PxgpQ + ^ep^g:p^=^0 , a)
worin die p^^ und auch die p^ Funktionen sowohl der p^ als
auch der p^ sein können. Sind nun die Bewegungen der
Massen, deren Koordinaten die pQ sind, bestimmt, so sind die
pQ gegebene Funktionen der Zeit. Zum Teil sind die Glei-
chungen a) durch diese Funktionen identisch erfüllt, zum Teil
nehmen sie durch Einsetzen derselben die Form der k Glei-
chungen an:
oder auch:
1
welche die Bedingungsgleichungen des geleiteten Systems
heifsen, und in welchen die/?«^ und p^t jetzt allein Funktionen
der Pq und der Zeit t sind. Alle möglichen Bewegungen des
geleiteten Systems genügen diesen Gleichungen, und alle Be-
wegungen, welche ihnen genügen, sind mögliche Bewegungen.
Anmerkung 1. Ist das geleitete System ein holonomes 435
System, so lassen sich die Differentialgleichungen b) und c) für
dasselbe ersetzen durch ebensoviel endliche Gleichungen zwischen
den r Koordinaten des Systems und der Zeit t Die möglichen
Lagen eines geleiteten holonomen Systems lassen sich dar-
stellen durch Koordinaten, welche keinen anderen Bedingungen
202 Zfweiies Buch.
unterworfen sind, als dieser, dafs eine Anzahl nnter ihnen ge-
gebene Funktionen der Zeit sind.
486 Anmerknng 2. Die Bedingungsgleichnngen eines geleiteten
Systems enthalten also im allgemeinen die Zeit, und das
geleitete System würde für sich betrachtet der Forderung
der Gesetzmäfsigkeit (119) widersprechen. Umgekehrt be-
trachten wir nun auch jedes System, dessen Bedingungsglei-
chungen nach der gewöhnUchen Bedeweise der Mechanik die
Zeit explicite enthalten, und welches also in. unserer Bede-
weise anscheinend ungesetzmäfsig ist, als ein geleitetes System,
als ein System also, welches zusammen mit anderen unbe-
kannten Massen den Bedingungen der Gesetzmälsigkeit ge-
nügt. Ist diese Annahme zulässig, so macht erst sie das
Problem zu einem bestimmten mechanischen Problem (325).
Ist diese Annahme aber bei einer besonderen Form der Be-
dingungsgleichungen etwa unzulässig, so enthalten diese Be-
dingungsgleichungen bereits einen Widerspruch gegen das
Grundgesetz oder seine Voraussetzungen, und alle in Bezug
auf das System gestellten Fragen wären keine mechanischen
Probleme (326).
437 Anmerkung 3. Auf ein geleitetes System ist das Grund-
gesetz nicht unmittelbar anwendbar. Denn der Begriff der
geradesten Bahnen ist nur definiert for gesetzmäfsige Zu-
sammenhänge (120); die inneren Zusammenhänge des geleiteten
Systems aber sind ungesetzmäfsige. Es müssen daher ander-
weitige Merkmale aufgesucht werden, durch welche die natür-
lichen Bewegungen eines geleiteten Systems sich von der
gröfseren Mannigfaltigkeit der möglichen Bewegungen unter-
scheiden.
43S Lehrsatz 1. Wie ein freies System, so bewegt sich auch
ein geleitetes System in solcher Weise, dafs die Gröfse der
Beschleunigung beständig kleiner ist für die wirkliche Be-
wegung, als für irgend eine andere Bewegung, welche den Be-
dingungsgleichungen des Systems genügt, und welche in dem
I betrachteten Augenblick nach Lage und Geschwindigkeit mit
I der wirklichen zusammenfällt.
I Denn das Quadrat der Gröfse der Beschleunigung des
Odeitäes System. 203
vollständigen Systems ist gleich der Summe der entsprechen-
den Gröfsen flir das Teilsystem und für das übrige System,
diese Gröfsen multipliziert mit den Massen ihrer Systeme und
dividiert durch die Masse des Gesamtsystems. Diese Summe
soll nach 344 ein Minimum sein; der zweite Summand wird
als bereits bestimmte und solche Funktion der Zeit voraus-
gesetzt, für welche das Minimum der Summe eintritt (486);
dieses Minimum wird also dann und nur dann erzielt, wenn
der erste Summand zu einem Minimum gemacht wird.
Lehrsatz 2. Wie ein freies, so bewegt sich auch ein ge- 439
leitetes holonomes System in solcher Weise, dafs das Zeitintegral
der Energie beim Übergang zwischen hinreichend benachbarten
Lagen kleiner wird für die wirkliche Bewegung, als flir irgend
eine andere Bewegung, welche den Bedingungsgleichungen ge-
nügt, und welche das System in der gleichen Zeit aus der
gegebenen Anfangs- in die Endlage überfuhrt.
Denn das Zeitintegral der Energie des vollständigen
Systems ist gleich der Summe der entsprechenden Gröfsen für
das Teilsystem und für das übrige System. Diese Summe
soll nach 358 ein Minimum sein; der zweite Summand wird
als bereits bestimmt und als solcher vorausgesetzt, für welchen
das Minimum der Summe eintritt; dieses Minimum wird also
dann und nur dann erzielt, wenn der erste Summand zu
einem Minimum gemacht wird.
Anmerkung 1. Die vorstehenden beiden Lehrsätze (438, 440
439) enthalten offenbar die Anpassung der Sätze 344 und 358
an die besonderen Voraussetzungen dieses Abschnittes. In
der gewöhnlichen Ausdrucksweise der Mechanik können wir
ihren Inhalt in die Form der Aussage kleiden: Der Satz von
der kleinsten Beschleunigung und das HAMiLTON'sche Prinzip
behalten ihre Gültigkeit, auch wenn die Bedingungsgleichungen
eines Systems die Zeit explicite enthalten.
Anmerkung 2. Die Sätze von der Energie, vom kürzesten 441
Wege, von der kürzesten Zeit (340, 347, 352) lassen sich nicht
in gleich unmittelbarer Weise den Voraussetzimgen der ge-
leiteten Systeme anpassen. In der gewöhnlichen Ausdrucks-
weise der Mechanik nimmt diese Aussage die Form an: Das
204 Zweites Buch.
Prinzip der Energie und das Prinzip der kleinsten Wirkung
verlieren ihre Gültigkeit, wenn die Bedingungsgleichungen
eines Systems die Zeit explicite enthalten.
44:2 Ani^abe. Die Differentialgleichungen der Bewegung eines
geleiteten Systems anzugeben.
Es seien wieder m die Masse, die p^ die Koordinaten und
die fg die Beschleunigungen nach den Pq für das geleitete
System. Es seien femer m die Masse und die p^ irgend
welche Koordinaten der übrigen materiellen Punkte des voll-
ständigen Systems. Die /^^ und p^ können auch als Koordi-
naten des vollständigen Systems gelten; es mögen bei dieser
Auffassung die Komponenten der Beschleunigung des voll-
ständigen Systems nach diesen Koordinaten mit fl und f^ be-
zeichnet werden. Dann ist die Bewegung des vollständigen
Systems eindeutig bestimmt durch seine h Bedingungsglei-
chungen von der Form 494 a und durch r + x Bewegungsglei-
chungen von der Form (872):
h
1
h
^) {m + m)f^ + ^- pxgPx = .
1
Nun haben wir nach der Voraussetzung uns die pg be-
reits bestimmt zu denken als solche Funktionen der Zeit,
durch welche die Gleichungen b) identisch erfüllt werden, und
durch deren Einsetzen die h Bedingungsgleichungen des voll-
ständigen Systems übergehen in die A Bedingungsgleichungen
(434 b) des geleiteten Systems. Ferner haben wir nach 255:
c) {m + m)fg = mfg .
Hiemach erhalten wir als zu berücksichtigende Gleichungen
die r Bewegungsgleichungen:
k
d) nifg + ^'<PxQPx=0
Geleitetes System. 205
und die k Bedingungsgleichungen:
r
^6 PxQpQ + Pnt == , e)
1
welche r + k Gleichungen nun eine Beziehung auf die unbe-
kannten Massen des YoUständigen Systems nicht mehr ent-
halten, welche zur eindeutigen Bestimmung der r + k Gröfsen
pQ und P« ausreichen, und welche daher die Lösung der ge-
stellten Aufgabe bilden.
Folgerung 1. Die Differentialgleichungen der Bewegung 443
eines geleiteten Systems haben dieselbe Form wie diejenigen
eines freien Systems.
In der gewöhnlichen Ausdrucksweise der Mechanik wür-
den wir sagen, die Gültigkeit jener Form hänge nicht davon
ab, ob die Bedingimgsgleichungen des Systems die Zeit expli-
cite enthalten oder nicht. Die Bewegungsgleichungen eines
geleiteten Systems werden daher auch genau dieselben Um-
formungen zulassen, wie diejenigen eines freien Systems
(868 ff.); diejenigen Formen allerdings, welche alle Koordinaten
als freie voraussetzen, werden ihre Anwendbarkeit verlieren.
Folgerung 2. Eine natürliche Bewegung eines geleiteten 444
Systems ist eindeutig bestimmt durch Angabe der Lage und
Geschwindigkeit des Systems zu einer bestimmten Zeit
(vergl. 331).
Bemerkung. Wie in einem freien, so ist in einem ge- 445
leiteten System der Zwang des Systems gleich seiner Be-
schleunigung.
Denn wenn die sämtlichen Bedingungsgleichungen eines
geleiteten Systems aufgelöst werden, so werden die materiellen
Punkte des Systems freie Punkte und die Beschleunigung der
natürlichen Bewegung des Systems gleich Null (385).
Lehrsatz 1. Wie in einem freien, so ist in einem ge- 446
leiteten System die Gröfse des Zwanges in jedem Augenblick
kleiner für die natürliche Bewegung, als für irgend eine andere
206 Zweites Buch.
mögliche Bewegung , welche in dem betrachteten Augenblick
nach Lage und Geschwindigkeit mit jener zusammenfällt.
Der Satz folgt aus 445 und 438.
447 Lehrsatz 2. Wie bei der natürlichen Bewegung eines
freien Systems, so steht auch bei der natürlichen Bewegung
eines geleiteten Systems die Bichtung des Zwanges beständig
senkrecht auf jeder möglichen oder virtuellen Verrückung des
Systems aus seiner augenblicklichen Lage.
Der Satz folgt aus 445 und 442 wie in 392.
448 Anmerkung. Die vorstehenden beiden Sätze 446 und 447
enthalten die Anpassung der Sätze 388 und 392 an die be-
sonderen Verhältnisse der geleiteten Systeme. In der gewöhn-
lichen Ausdrucksweise der Mechanik würden wir ihren Inhalt
in der Fassung wiedergeben: Das GAuss'sche Prinzip des
kleinsten Zwanges und das D'ALEMBEBx'sche Prinzip behalten
ihre Gültigkeit, auch wenn die Bedingungsgleichungen eines
Systems die Zeit explicite enthalten.
449 Bemerkung. Wenn die Koordinaten pQ des vollständigen
Systems, welche in den Gleichungen 434 a mit den p^ in den-
selben Gleichungen auftreten, nicht Funktionen der Zeit, son-
dern konstant in derselben sind, so nehmen die Bedingungs-
gleichungen des geleiteten Systems die Form an:
r
1
worin die p^^ die Zeit nicht enthalten. Das geleitete System
erscheint in diesem Falle als ein gesetzmäfsiges, aber es hört
nicht notwendig auf, ein unfreies zu sein, da die p^ Funk-
tionen des absoluten Ortes sein können, während sie in den
Bedingungsgleichungen eines freien Systems von der absoluten
Lage unabhängig sind.
In solchen unfreien, aber gesetzmäfsigen Systemen behält
der Begriff der geradesten Bahn seine Anwendbarkeit. Auch
das Grundgesetz ist daher auf solche Systeme unmittelbar an-
wendbar, und es gelten daher fllr ein solches System auch alle
Lehrsätze, welche für die Bewegung eines freien Systems auf-
System durch Kräfte beeinflufst. 207
gestellt wurden 7 mit alleiniger Ausnahme derjenigen, welche
sich auf die absolute Lage beziehen, also allein mit Ausnahme
des Lehrsatzes 400 und seiner Folgerungen.
IL Systeme durch Kräfte beeinflufst.
Definition. Zwei materielle Systeme heifsen direkt ge- 450
koppelt, wenn eine oder mehrere Koordinaten des einen einer
oder mehreren Koordinaten des anderen dauernd gleich sind.
Gekoppelt schlechthin heifsen zwei Systeme, wenn ihre Koordi-
naten so gewählt werden können, dafs die Systeme in das Ver-
hältnis der direkten Koppelung treten. Gekoppelte Systeme,
welche nicht direkt gekoppelt sind, heifsen indirekt gekoppelt.
Folgerung 1. Die Koppelung zweier Systeme ist eine Be- 451
Ziehung zwischen beiden, welche unabhängig von unserer Will-
kür, insbesondere unabhängig von der Wahl der Koordinaten
besteht. Ob aber eine bestehende Koppelung eine direkte
oder eine indirekte sei, hängt ab von der Wahl der Koordi-
naten, ist also eine Frage unserer willkürlichen Auffassung.
Folgerung 2. Jede bestehende Koppelung zwischen zwei 452
Systemen kann durch geeignete Wahl der Koordinaten zu
einer direkten gemacht werden. Wenn nicht ausdrücklich das
Gegenteil bemerkt ist, so setzen wir im folgenden voraus, dafs
dies geschehen sei. Die beständig gleichen Koordinaten der
gekoppelten Systeme bezeichnen wir dann auch als ihre ge-
meinsamen Koordinaten.
Folgerung 3. Jedes von zwei gekoppelten Systemen ist 453
durch die Koppelung notwendig ein unfreies System, beide
bilden aber zusammen oder zusammen mit weiteren Systemen,
mit welchen sie gekoppelt sind, ein freies System. Wenn
nicht ausdrücklich das Gegenteil bemerkt ist, so wird im fol-
genden angenommen, dafs eine Koppelung mit mehreren Sy-
stemen nicht stattfindet, so dafs die beiden gekoppelten Systeme
zusammen bereits ein freies bilden.
Analytische Darstellung. Sind die p^ die Koordinaten des 454
einen, die p^ die Koordinaten des andern Systems, so wird
208 Zwmtes Buch.
eine Koppelung zwischen beiden Systemen dadurch hergestellt,
dafs für ein oder mehrere Wertpaare von q und a p^ gleich
pa gemacht "wird. Wir können aber offenbar ohne Beschrän-
kung der Allgemeinheit die Indices so verteilen, dafs überein-
stimmende Koordinaten in beiden Systemen denselben Index
erhalten. Die Systeme sind dann gekoppelt, wenn fiir einen
oder mehrere Werte von q dauernd
») p^ -f^ =
wird, von welcher Gleichung die Gleichungen
e) dp^ — dpg==0
notwendige Folgen sind.
455 Definition. Unter einer Kraft verstehen wir den selb-
ständig vorgestellten Einflufs, welchen das eine von zwei ge-
koppelten Systemen zufolge des Grundgesetzes auf die Be-
wegung des anderen ausübt.
456 Folgenmg. Zu jeder Kraft giebt es stets notwendig eine
Gegenkraft.
Denn die Vorstellung des Einflusses, welchen das in der
Definition als das zweite bezeichnete System auf das erste
ausübt, ist nach der Definition selbst wieder eine Kraft. Kraft
und Gegenkraft sind gleichberechtigt in dem Siime, dafs nach
Willkür jede von ihnen als die Kraft oder auch als die Gegen-
kraft aufgefafst werden kann.
457 Aufgabe. Einen Ausdruck für den Einflufs anzugeben,
welchen das eine von zwei gekoppelten Systemen auf die Be-
wegung des anderen ausübt.
Es seien m die Masse und die r Gröfsen p^ die Koordi-
naten des ersten Systems; es seien die k Gleichungen
r
System durch Kräfte beeinflufst 209
wieder die Bedingungsgleichungen desselben. Es seien m die (457)
Masse und die r Gröfsen p^ die Koordinaten des zweiten Sy-
stems; es seien die ! Gleichungen
1
die Bedingungsgleichungen desselben. Es mögen ferner zwischen
beiden, für einen oder mehrere, nämlich A Werte von p, Koppe-
lungsgleichungen von der Form
^q-Pq = ^ c)
bestehen. Wir betrachten nun die Bewegung des ersten
Systems unter dem Einflüsse des zweiten, und behandeln
es dabei als geleitetes System. Soweit die p^ in den Glei-
chungen c) nicht vorkommen, sind die Beschleunigungen nach
ihnen gegeben durch die Gleichungen (442):
k
mfg + ^»<PxQ Px = ; d)
1
für diejenigen p^ aber, welche in e) vorkommen, haben wir
auch diese Gleichungen zu berücksichtigen und also den
Faktor von p^ in denselben, nämlich — 1, zu multiplizieren
mit einem unbestimmten Faktor, welcher Pq heifsen möge, und
das Produkt der linken Seite hinzuzufügen; für diese Pq wird
also:
mfg + ^^p^gP^-Fg = . e)
Das Eintreten der h Gröfsen Pq in die Bewegungsgleichungen
vermehrt die Zahl der Unbekannten in denselben um k, und
zur Bestimmung dieser h Gröfsen ist auch diö Zahl der Be-
dingungsgleichungen um die h Gleichungen e) vermehrt, in
welchen wir uns die pg als Funktionen der Zeit explicite ge-
geben denken müssen. Nehmen wir aber an, die Gröfsen P^
Hertz, Mechanik. 14
210 Zweiies Buch.
rechnen nicht zu den Unbekannten , sondern seien uns als
Funktionen der Zeit unmittelbar gegeben, alsdann sind die
h Gleichungen e) und jede Kenntnis der f^^ und des zweiten
Systems überhaupt entbehrlich, und die k+r Gleichungen
a) d) e) genügen wiederum zur eindeutigen Bestimmung der
A+r unbekannten P^ und p^. Die h Multiplikatoren P^
stellen also den Einflufs des zweiten Systems auf das erste
Yollständig dar, und ihre Gesamtheit kann als ein analytischer
Ausdruck für diesen Eünflufs angesehen werden, wie ihn die
Aufgabe verlangt.
468 Zusatz 1. Wollen wir in symmetrischer Weise den Ein-
flufs des ersten Systems auf das zweite darstellen, so haben
wir die Koppelungsgleichungen zu schreiben in der Form:
a) ^9 - ^^ = »
und es werden nun für diejenigen )fg , welche sich in a) nicht
finden, die Bewegungsgleichungen:
1
während sie für die übrigen p^ die Form annehmen:
i
1
unter den 5p^ die unbestimmten Multiplikatoren der Glei-
chungen a) verstanden. Die Gesamtheit der $^ giebt uns
einen Ausdruck für den Einflufs, welchen das erste System in
jedem Augenblick auf die Bewegung des zweiten ausübt.
459 Zusatz 2. Offenbar können wir alle Bewegungsgleichungen
des ersten Systems in der Form:
a) mf^ + ^^pytQPx- Pq^^
System durch Kräfte beeinflufst, 211
und alle Bewegungsgleichungen des zweiten Systems in der
Form:
^f9 + 2^^^^"-^9 = ^>
schreiben, wenn wir in zulässiger, wenn auch willkürlicher
Weise festsetzen, dafs für alle nicht gekoppelten Koordinaten
die Gröfsen P^ und ^^ den Wert Null haben sollen. Aller-
dings verliert die Gesamtheit der P^ und ^ß^ dabei ihre Be-
deutung* als System der Multiplikatoren der Gleichungen 457 c
und 458 a, aber sie behält ihre Bedeutung als Ausdruck des
Einflusses, welchen das eine System auf das andere ausübt.
Analytische Darstellung der Eraft« Wir können und 460
wollen daher im Einklang mit der Definition 455 festsetzen,
dafs die Gesamtheit der für alle p^ nach 469 eindeutig be-
stimmten Gröfsen Pg den analytischen Ausdruck für die Erafb
bilden solle, welche das System der ^)^ auf das System der
Pg ausübt. Entsprechend bildet dann die Gesamtheit der
Gröfsen ^ß^ den analytischen Ausdruck für die Kraffc, welche
das System der p^ auf das der p^ ausübt. Die einzelnen
Gröfsen P^ bez. ^ß^ heifsen die Komponenten der Kraft nach
den entsprechenden Koordinaten p^ bez. p^ , auch wohl kurz
die Kräfte nach diesen Koordinaten.
Durch diese Bestimmung setzen wir uns zugleich in Ein-
klang mit der bestehenden Bezeichnung der Mechanik, und die
Notwendigkeit, diesen Einklang herzustellen, rechtfertigt hin-
reichend, warum wir unter mehreren zulässigen Bestimmungen
gerade diese getroffen haben.
Folgerung 1. Die Kraft, welche ein System auf ein 461
zweites ausübt, kann betrachtet werden als eine Yektorgröfse
in Bezug auf das zweite System, als eine Vektorgröfse näm-
lich, deren Komponenten nach den gemeinsamen Koordinaten
im allgemeinen von Null verschieden sind, deren Komponenten
nach den nicht gemeinsamen Koordinaten verschwinden, deren
Komponenten nach solchen Richtungen aber, welche sich nicht
durch Änderungen der benutzten Koordinaten ausdrücken'
lassen, unbestimmt bleiben.
14*
212 Zweites Buch.
462 Folgerung 2. Die Kraft , welche ein System auf ein
zweites ausübt, kann aber auch betrachtet werden als Vektor-
gröfse in Bezug auf das erstere System, als eine Vektorgröfse
nämlich, deren Komponenten nach den gemeinsamen Koordi-
naten im allgemeinen von Null verschieden sind, deren Kom-
ponenten nach den nicht gemeinsamen Koordinaten verschwinden,
deren Komponenten in Richtungen aber, welche sich nicht
durch Änderungen der benutzten Koordinaten ausdrücken
lassen, unbestimmt bleiben.
463 Anmerkung. Betrachtet als Vektorgröfse in Bezug auf
ein System enthält also jede Kraft Komponenten, welche ab-
hängen von der Wahl der Koordinaten, d. h. von unserer will-
kürlichen Auffassung. Es rührt dies daher, dafs von der Wahl
der Koordinaten die Mannigfaltigkeit derjenigen Bewegungen
des Systems abhängt, welche wir überhaupt in Betracht ziehen,
in deren Eichtung wir also einen möglichen Einflufs zulassen
wollen.
464 Bemerkung 1. Wird ein System nach einander mit
mehreren anderen Systemen gekoppelt, und erleidet es dabei
von diesen Systemen die gleiche Kraft, so ist seine Bewegung
die gleiche, wie verschieden auch immer diese anderen Systeme
unter sich sein mögen.
Wir reden daher auch (entsprechend der Definition 455)
von der Bewegung eines Systems unter dem Einflufs oder der
Einwirkung oder dem Angriff einer Kraft schlechthin, ohne
der anderen Systeme zu erwähnen, von welchen sie ausgeht,
und ohne welche sie nicht denkbar wäre.
465 Bemerkung 2. Wird ein System nach einander mit
mehreren anderen Systemen gekoppelt, und führt es dabei die
gleiche Bewegung aus, so kann es dabei auf jene anderen
Systeme gleiche Kraft ausüben, obwohl jene Systeme unter
sich vollkommen verschieden sein können.
Wir reden daher auch (entsprechend der Definition 455)
von der Kraft, welche ein bewegtes System ausübt, schlecht-
hin, ohne der anderen Systeme zu erwähnen, auf welche
jene Kraft ausgeübt wird, und ohne welche sie nicht denk-
bar wäre.
System durch Kräfte heeinflufst. 218
Bemerkung 3. Da aber alle Kräfte, Ton welchen schlecht- 466
hin die Bede ist, doch keine anderen sein können, als welche
von materiellen Systemen zufolge des Grundgesetzes auf ma-
terielle Systeme ausgeübt werden, so haben alle Kräfte Ton
vornherein gewisse Eigenschaften gemeinsam. Die Quelle
aller solcher gemeinsamen Eigenschaften sind die Eigenschaften
der materiellen Systeme und das Grundgesetz.
Wirkung und Gegenwirkung.
Bezeichnung. 1. Die Komponenten der Kraft, welche das 467
System der :p^ auf das der p^ ausübt, betrachtet als Vektor-
gröfsen in Bezug auf das System der p^ , haben wir in 460 be-
reits bezeichnet mit P^. Betrachten wir dieselbe Kraft als
Vektorgröfse in Bezug auf das System der p^, so wollen wir
ihre Komponenten nach den p^ bezeichnen mit $p^ . Identisch
ist dann für alle gemeinsamen Koordinaten:
p, = % .
2. Die Komponenten der Kraft, welche das System der
Pq auf das der ^)^ ausübt, betrachtet als Vektorgröfsen in
Bezug auf das System der !pg, haben wir in 460 bereits be-
zeichnet mit 5ßß. Betrachten wir dieselbe Kraft als Vektor-
gröfse in Bezug auf das System der p^, so wollen wir ihre
Komponenten nach den p^ bezeichnen mit P^. Identisch ist
dann für alle gemeinsamen Koordinaten:
% = p', .
Die auf ein System ausgeübten Kräfte sind also durch
nicht accentuierte, die von dem System ausgeübten Kräfte
durch accentuierte Buchstaben bezeichnet, sobald wir sie als
Vektorgröfsen in Bezug auf das System selbst betrachten.
Lehrsatz. Elraft und Gegenkraft sind einander stets ent- 46S
gegengesetzt gleich. Es soll damit gesagt sein, dafs die Kom-
ponenten beider nach jeder der benutzten Koordinaten ent-
gegengesetzt gleich sind, und zwar sowohl wenn wir E^raft
214 Zweites Buch.
(468) und Gegenkraft betrachten als Yektorgröfsen in Bezug auf
das eine, als auch in Bezug auf das andere System.
Denn wir können auch die beiden gekoppelten Systeme
(457) betrachten als ein einziges, freies System. Seine Masse
ist m + m, seine Koordinaten sind die pg und p^ . Seine Be-
dingungsgleichungen sind die Gleichungen 457 a und b und die
Eoppelungsgleichungen, etwa in der Form 457 e. Bezeichnen
wir nunmehr die Multiplikatoren jener Gleichungen a) mit P^ ,
die der Gleichungen b) mit 5ß2, die der Gleichungen e) mit
jF^, so nehmen die Bewegungsgleichungen des gesamten Sy-
stems (vergl. 442) die Form an:
1
1
in «welchen für die Koordinaten, welche in den Koppelungs-
gleichungen nicht vorkommen, die P^ gleich Null zu setzen sind.
Die durch diese Gleichungen dargestellte Bewegung ist
nun aber dieselbe, welche wir vorhin als Bewegung der ein-
zelnen Systeme betrachteten. Eine mögliche Lösung der
gegenwärtigen Gleichungen erhalten wir also, wenn wir für die
fg und f^ ihre früheren Werte setzen, wenn wir machen
aoTserdem
in
a)
d)
^ =
^.
Tind in b)
e)
^ =
-% .
Aber da durch die Gleichungen a) und b) die unbestimm-
ten Multiplikatoren eindeutig bestimmt sind, so ist diese mög-
liche Lösung zugleich die einzig mögliche Lösung. Daher
System dwrch Kräfte beeinftufst 215
gelten die Gleichungen d) und e) mit Notwendigkeit; aus
ihnen folgt:
oder mit Benutzung der Bezeichnung 467:
welches die Behauptung ist.
Anmerkung 1. Der vorstehende Lehrsatz entspricht der 469
Lex tertia Newton's und wird auch wohl das Prinzip der Re-
aktion genannt. Doch deckt sich sein Inhalt nicht vollständig
mit dem Inhalt jenes dritten Gesetzes, sondern das genaue
Verhältnis ist das folgende:
Das NBWTON'sche Gesetz enthält unsem Lehrsatz 468
vollständig, nach der Absicht des Begründers, wie die dem
Gesetze beigefügten Beispiele zeigen.
Das NEWTON'sche Gesetz enthält aber mehr. Wenigstens
wird es auch allgemein angewandt auf die Wirkung von Fern-
kräften, d. h. von Ej*äffcen zwischen Körpern, welche keine
gemeinsamen Koordinaten haben. Solche Kräfte aber kennt
unsere Mechanik nicht. Damit man also beispielsweise aus
unserem Lehrsatze die Folgerung ziehen könne, dafs ein
Planet die Sonne mit gleicher Kraft anziehe wie diese ihn,
ist nötig, dafs nähere Angaben über die Natur des Zusammen-
hanges zwischen beiden Körpern gemacht werden.
Anmerkung 2. Es darf aber als fraglich bezeichnet wer- 47a
den, ob der Überschufs dieser Anwendung des Reaktionsprin-
zipes über den Inhalt des Lehrsatzes 468 nach Form und
Inhalt mit Recht zu den Grundgesetzen der Mechanik könne
gerechnet werden, und ob nicht vielmehr der wesentliche und
allgemein gültige Inhalt jenes Prinzipes bereits durch den Lehr-
satz 468 erschöpft werde.
Was die Form anlangt, so ist offenbar die Fassung des
dritten Gesetzes, sobald es auf Femkräfte angewandt wird^
nicht völlig klar bestimmt. Denn wenn Kraft und Gegen-
216 Zweites Buch,
kraft an verschiedenen Körpern angreifen, so ist nicht schlecht-
hin deutlich, was unter entgegengesetzter Richtung zu ver-
stehen sei. Dies tritt zum Beispiel hervor, wenn es sich um
die Wechselwirkung zwischen Stromelementen handelt.
Was den Inhalt anlangt, so stellt die Anwendung des
Eeaktionsprinzipes auf die Fernkräfbe der gewöhnlichen Me-
chanik offenbar eine Erfahrungsthatsache dar, über deren ge-
naues Zutreffen in allen Fällen man anfängt zweifelhaft zu
werden. So ist die Elektrodynamik bereits fast überzeugt
davon, dafs die Wechselwirkung zwischen bewegten Magneten
dem Prinzip nicht in allen Fällen genau unterworfen sei.
Zusammensetzung der Kräfte.
471 Lehrsatz. Ist ein System gleichzeitig mit mehreren Sy-
stemen gekoppelt, so ist die Kraft, welche die Gesamtheit
jener Systeme auf das erste System ausübt, gleich der Summe
der Kräfte, welche die einzelnen Systeme auf dasselbe ausüben.
Es sei nämlich das System 1 von der Masse m und den
Koordinaten p^, dessen Bedingungsgleichungen die k Grlei-
chungen
1
a) ^^PitQpQ =
sind, gleichzeitig gekoppelt mit den Systemen 2, 3, etc., deren
Koordinaten die p^, p^", etc. sind.
Betrachten wir die Systeme 2, 3, etc. zunächst als ge-
trennte Systeme, so sind die Koppelungsgleichungen fiir jede
gemeinsame Koordinate pg zu schreiben in der Form:
1» % -Pg =
.. fff
C) pg -pg =
etc.
Behandeln wir nun das aus 1, 2, 3, etc. zusammengesetzte
System als freies und bezeichnen wieder die Multiplikatoren
System durch Kräfte beeinflufst. 217
der Gleichungen a) mit P^, dagegen die von b) mit Pq , die (471)
von e) mit P^", etc., so erhalten wir die Bewegungsgleichungen
des Systems 1 in der Form:
^/^ + ^''P^Q^^ " ^' "" ^r - etc = , d)
1
worin die sämtlichen P^', P^", etc. ebenso wie die P^ ein-
deutig bestimmte Gröfsen sind. Die P^ ,Pq', etc. stellen die
Komponenten der Kräfte dar, welche die einzelnen Systeme 2,
3, etc. auf das System 1 ausüben.
Betrachten wir nun aber zweitens die Systeme 2, 3, etc.
zusammen als ein System, so können die nach Gleichungen
b) c) etc. gleichen Gröfsen p^ , ^)^" , etc. als eine einzige Ko-
ordinate pQ desselben angesehen werden, und an Stelle jener
Koppelungsgleichungen tritt dann für jede gemeinsame Ko-
ordinate Pq die eine Gleichung:
h '-'pQ = . e)
Ist Pq der Multiplikator derselben, und bezeichnen wir
mit P^ die Multiplikatoren der Gleichungen a), welche dem
jetzigen System der Bewegungsgleichungen entsprechen, so
nehmen diese die Form an:
mfg + ^-p^gI^-Pg = . f)
1
Die Pq stellen die Komponenten der Gesamtkraft dar, welche
auf das System 1 wirkt.
Die verschiedene Auffassung kann nun die nach dem
Grundgesetze erfolgende Bewegung selbst nicht ändern. Eine
mögliche Lösung der Gleichungen f) erhalten wir daher, in-
dem wir mit Benutzung der früheren Lösung setzen:
i^ = Px »)
P^ = P-^' + i^" + etc. h>
Aber da es nur eine einzige mögliche Lösung giebt, so
218 2kveit68 Buch.
ist die Yorstehende eben diese, und die Gleichung h), welche
unsere Behauptung enthält, mufs mit Notwendigkeit zutreffen.
472 Folgerung 1. Eine jede Zahl von Kräften, welche auf
ein System wirkt, oder welche von einem System ausgeübt
wird, kann aufgefafst werden als eine einzige Kraft, und zwar
als diejenige Kraft, welche als Yektorgröfse in Bezug auf das
System betrachtet gleich der Summe jener Kräfte ist.
Fassen wir eine Zahl von Kräften in dieser Weise auf,
so sagen wir, dafs wir sie zusammensetzen. Das Ergebnis
der Zusammensetzung nennen wir auch die Besultante der
einzelnen Kräfte.
473 Folgerung 2. Eine jede Kraft, welche auf ein System
wirkt, oder welche von einem System ausgeübt wird, kann auf-
gefafst werden als Summe einer beliebigen Zahl von Kräften,
und zwar jeder Zahl von Kräften, deren Summe als Vektor-
gröfsen in Bezug auf das System gleich jener ursprünglichen
Kraft ist.
Fassen wir eine Kraft in dieser Weise auf, so sagen wir,
dafs wir sie zerlegen; die Earäfte, welche das Ergebnis einer
solchen Zerlegung sind, nennen wir die Komponenten der ur-
sprünglichen Kraft.
474 Anmerkung« Die geometrischen Komponenten einer Kraft
nach den Koordinaten können zugleich als Komponenten der-
selben im Sinne von 473 aufgefafst werden.
475 Definition. Eine Kraft, welche von einem einzelnen mate-
riellen Punkte ausgeübt wird, oder welche auf einen einzelnen
materiellen Punkt wirkt, heifst eine Elementarkraft.
476 Anmerkung. Die elementare Mechanik versteht gewöhn-
lich unter Kräften nur Elementarkräfte. Im Gegensatz zu
denselben bezeichnet man dann wohl die bisher von uns be-
trachteten allgemeineren Kraftformen als LAGBANaE'sche Kräfte.
Man könnte dementsprechend die Elementarkräfte selbst auch
passend als GALiLEi'sche oder NEWTON'sche Kräfte bezeichnen.
477 Folgerung 1. Jede Elementarkraft ist darstellbar durch
die geometrische Yerrückung eines Punktes, also durch eine
nach Gröfse und Eichtung gegebene Strecke.
System durch Kräfte beeinflufst 219
Denn jede Elementarkraft; ist Vektorgröfse in Bezug auf
einen einzelnen Punkt.
Folgerung 2. Die Zusammensetzung der Elementarkräfte, 47S
welche an demselben Punkte angreifen, geschieht nach der Me-
thode der geometrischen Zusammensetzung und Zerlegung von
Strecken.
Insbesondere setzen sich also zwei Kräfte, welche an dem-
selben Punkte angreifen, zusammen zu einer einzigen Kraft,
welche nach Gröfse und Richtung durch die Diagonale eines
Parallelogramms dargestellt ist, dessen Seiten nach Gröfse und
Richtung jene Kräfte darstellen (Parallelogramm der Kräfte).
Folgerung 3. Jede LAaBANGE'sche Kraft ist darstellbar 479
als eine Summe von Elementarkräften, also zerlegbar in
Elementarkräfte.
Denn jede Verrückung eines Systems kann aufgefafst
werden als eine Summe von Verrückungen seiner einzelnen
Punkte.
Folgerung 4. Die Komponenten einer Ej'aft nach den 480
rechtwinkligen Koordinaten des Systems, auf welches die Straft
wirkt, oder welches die Kraft ausübt, können unmittelbar auf-
gefafst werden als Elementarkräfte, welche auf die einzelnen
materiellen Punkte des Systems wirken.
Bewegung unter dem Einflufs von Kräften.
Aufgabe 1. Die Bewegung eines materiellen Systems 481
unter dem Einflufs einer gegebenen Kraft zu bestimmen.
Die Auflösung folgt unmittelbar aus 457. Sind die Pq die
gegebenen Komponenten der wirkenden Kraft nach den p^, so
benutze man die r Gleichungen
k
mfg + ^>^Pxq Pn = Pq
1
zusammen mit den k Bedingungsgleichungen des Systems zur
Bestimmung der r+k Gröfsen pg und P^, zu deren eindeu-
tiger Bestimmung jene Gleichungen ausreichen.
220 Zweites Buch.
482 Anmerkung 1. Die Bewegungsgleichungen eines Systems,
auf welches Kräfte wirken, haben in den rechtwinkligen Koordi-
naten desselben die Form der 3/1 Gleichungen:
i
Wj/ Xy + ^« Xtv -3^ = Xy ,
1
wenn unter X^ die Komponente der Kraft nach x^ verstanden
wird, und im übrigen die Bezeichnung von 368 benutzt wird.
483 Anmerkung 2. Ist die Koordinate p^ eine freie Koordi-
nate, so nimmt die ihr entsprechende Bewegungsgleichung die
einfache Form an:
mf^ = Pg .
Sind in einem holonomen System alle p^ freie Koordinaten,
so nehmen alle Bewegungsgleichungen des Systems diese Form
an, und diese r Gleichungen genügen zur Bestimmung der
r Gröfsen p^ ,
484 Folgerung. Die natürliche Bewegung eines materiellen
Systems von einem bestimmten Augenblick an ist eindeutig
bestimmt durch die Lage und Geschwindigkeit des Systems in
jenem Augenblick und die Angabe der auf das System wir-
kenden Kraft für alle Zeiten von jenem Augenblick an (vergl.
331, 444).
485 Lehrsatz. Die Beschleunigung, welche mehrere gleich-
zeitig wirkende Kräfte einem System erteilen, ist gleich der
Summe der Beschleunigungen, welche die Kräfte einzeln
wirkend dem System erteilen würden.
Denn die Bewegungsgleichungen 481 sind linear in den f^
und den P«. Sind also die Wertsysteme fo^Pn^ y /e«-Px,> etc. die
Auflösungen dieser Gleichungen fllr die Kräfte -Pß^yi^t, etc.,
so ist das Wertsystem /^i+Z^+ötc. , Px,+Px,+ etc. die Auf-
lösung ftlr die Kraft Pg^+P^+ etc.
486 Anmerkung. Der Inhalt des Lehrsatzes kann auch wieder-
gegeben werden in der Aussage, dafs mehrere gleichzeitig
wirkende Kräfte sich hinsichtlich der Beschleunigung, welche
System dwroh Kräfte heeinflufst 221
sie erzeugen, nicht stören. Ohne einen besonderen Namen er-
halten zu haben, ist dieser Satz seit GAiiiLEi's Zeiten stets
als Prinzip angenommen und benutzt worden.
Folgerung. Die Beschleunigung^ welche eine resultierende 487
Eraft einem System erteilt, ist gleich der Summe der Be-
schleunigungen^ welche die Komponenten, einzeln wirkend, dem
System erteilen würden (472, 473).
Lehrsatz. Steht eine Kraft als Yektorgröfse senkrecht 488
auf jeder möglichen Verrückung eines materiellen Systems, so
übt sie keinen Einflufs auf die Bewegung des Systems aus, —
und umgekehrt.
Denn ist n eine solche Ej:aft, so haben ihre Kompo-
nenten Hq nach den Pq die Form (250):
Lassen wir nun diese Kraft neben der Kraft P auf das Sy-
stem wirken, so können die Bewegungsgleichungen in der Form
geschrieben werden:
fg + ^''P^Q (^x-yx) = Pq
m
Bei der Auflösung dieser Gleichungen nach pQ und P« er-
scheinen also nur die P« vergröfsert um die /«; die jö^, welche
allein die Bewegung bestimmen, erscheinen unverändert.
Umgekehrt: Ändert die Hinzufügung der Komponenten iIq
zu den rechten Seiten der Gleichungen 481 nicht die /^, son-
dern nur die P«, so lassen sich die itg schreiben in der Form:
^Q^'^^P^qYn
die Krafk n steht also senkrecht auf jeder möglichen Yerrückung
des Systems (250).
222 Zweites Buch.
489 Anmerkung. Der Lehrsatz giebt die Bedingung an, welcher
derjenige Teil einer als Vektorgröfse betrachteten Kraft unter-
worfen ist, welcher von der Wahl der Koordinaten, also von
unserer Willkür abhängt (4^8). Denn dieser Teil mufs not-
wendig ein solcher sein, welcher in der wirklichen Bewegung
nicht zur Geltung kommt.
490 Folgerung. Obgleich aus der Kenntnis der auf ein System
wirkenden Kraft eindeutig geschlossen werden kann auf die
Bewegung des Systems, so kann doch aus der Bewegung des
Systems i^ieht eindeutig geschlossen werden auf die Kraft,
welche das System beeinflufst.
491 Aufgabe 2. Die Kraft zu bestimmen, welche ein mate-
rielles System bei gegebener Bewegung ausübt.
Nach 467 bezeichnen wir mit P^ die Komponente der ge-
suchten Kraft nach der Koordinate p^ ; aus 468 und 481 folgt
dann:
k
1
In diesen Gleichungen sind die fg als gegeben zu betrachten,
und zwar müssen sie den Bedingungsgleichungen an sich ge-
nügen. Die Gröfsen P^ sind ebenfalls bestimmt, wenn auch
dasjenige System gegeben wird, mit welchem das betrachtete
gekoppelt ist. So lange aber nur die Bewegung des Systems
der Pq gegeben ist, bleiben die P^ unbekannt. Die Kraft,
welche ein bewegtes System ausübt, ist also allein durch die
Angabe der Bewegung des Systems noch nicht völlig bestimmt,
sondern enthält einen unbestimmt bleibenden Summanden,
dessen Komponenten die Form haben:
k
1
und welcher daher auf jeder möglichen Verrückung des Sy-
stems senkrecht steht.
492 Anmerkung. Obwohl von der Kraft, welche ein bewegtes
System ausübt, nicht alle Komponenten durch die Bewegung
System durch Kräfte beeinflufst. 223
des Systems eindeutig bestimmt sind, so sind doch die Kom-
ponenten in Hichtimg einer jeden möglichen Verrückung des
Systems durch seine Bewegung eindeutig bestimmt.
Folgerung. Von der Kraft, welche ein bewegtes System 498
ausübt, sind die Komponenten in Bichtung einer jeden freien
Koordinate des Systems durch die Bewegung eindeutig be-
stimmt.
Ist nämlich pg eine freie Koordinate, so verschwinden die
p^ und damit die unbestimmten Glieder, und es kann die
Komponente der Kraft des Systems nach p^ geschrieben wer-
den in den Formen:
(491) a)
(291a) b)
(291b) e)
^.=
-mf^
=
dpg
djdj,E\
dt\dpg 1
^
dpg
■i<i
^
d,E
dpg
■in
Innerer Zwang.
(294). d)
Lehrsatz. Die Beschleunigung eines Systems materieller 494
Funkte, zwischen welchen keine Zusammenhänge bestehen,
findet statt in Bichtung der Kraft, welche auf das System
wirkt, und ihre Gröfse ist gleich der Gröfse der Kraft, divi-
diert durch die Masse des Systems.
Denn wenn zwischen den n Punkten eines Systems keine
Zusammenhänge bestehen, so ist für jede der 3n rechtwink-
ligen Koordinaten des Systems: (482)
m^ .. ^ X
m m
die linken Seiten der Gleichungen aber stellen die Kompo-
nenten der Beschleunigung des Systems nach den x^ dar (275).
224 Zweites Buch.
495 Folgenmg. Die Beschleunigong eines einzelnen materiellen
Punktes geschieht in Eichtung der Kraft , welche auf den
Punkt wirkt, und ihre Gröfse ist gleich der Gröfse der
Ejraft, dividiert durch die Masse des Punktes. (Newton's Lex
secunda.)
496 Anmerkung. Bestehen Zusammenhänge zwischen den
Punkten eines materiellen Systems, auf welches eine Kraft
wirkt, so weicht die Beschleunigung des Systems im allge-
meinen ab von der durch den Lehrsatz 494 gegebenen. Als
Ursache dieser Abweichung können wir also die Zusammen-
hänge des Systems ansehen, und die Abweichung selbst haben
wir nach 385 als den inneren Zwang des Systems zu be-
zeichnen.
497 Aufgabe. Den inneren Zwang eines Systems zu bestim-
men, welches sich unter dem Einflufs von Kräften bewegt.
Die wirkliche Komponente der Beschleunigung des Systems
nach der allgemeinen Koordinate pg ist /^ , die Komponente,
welche nach Aufhebung der Bedingungsgleichungen eintreten
würde, ist (494) Pgjmj der Unterschied beider Gröfsen, oder:
P
also die Komponente des Zwanges nach pg.
Zur Bestimmung der Gröfse des Zwanges reicht die
Kenntnis der Komponenten desselben nach den p^ im allge-
meinen nicht aus (245). Wenden wir deshalb auch rechtvnnk-
lige Koordinaten an, so erhalten wir flir die Komponente
nach Xy\
also die Gröfse
Gleichung (244):
z des
Zwanges
als
die positive
Wurzel
der
m^
8n
(Wyi
'iy — JLp)
c)
1 ^
3n
1
(*;•
System durch Kräfte beeinflufst. 225
Lehrsatz 1. Die Gröfse des Zwanges eines materiellen 498
Systems unter dem Einflufs von Kräften ist wie bei einem
freien System in jedem Augenblick kleiner f&r die natürliche
Bewegung, als für irgend eine andere mögliche Bewegung,
welche in dem betrachteten Augenblick nach Lage und Ge-
schwindigkeit mit jener zusammenfällt.
Denn als notwendige und hinreichende Bedingung dafiir,
dafs bei gegebenen Werten der Xy die Gröfse \ mz^ ein Mini-
mum werde, erhalten wir nach derselben Methode wie in 155
die 3n Gleichungen:
my Xp — JTy + 2* ^IV ^t = 7
1
in welchen die X^ i unbestimmte Multiplikatoren bezeichnen,
welche zusammen mit den 3n Gröfsen Xy aus jenen 3n Glei-
chungen und den i Bedingungsgleichungen des Systems ein-
deutig zu bestimmen sind. Die vorstehenden Gleichungen aber
ergeben dieselben Werte der Xy und X,, wie die mit ihnen
übereinstimmenden Gleichungen der natürlichen Bewegung (482).
Anmerkung. Der vorstehende Lehrsatz enthält das voll- 499
ständige GAüss'sche Prinzip des kleinsten Zwanges. Wir
können den Lehrsatz 388 als einen besonderen Fall desselben
bezeichnen. Aber nach unserer ganzen Auffassung werden
wir lieber jenen Lehrsatz als den allgemeinen ansehen und
den vorliegenden als die Anpassung desselben an besondere,
verwickeitere Verhältnisse betrachten.
Lehnatz 2. Die Bichtung des Zwanges steht bei der 500
natürlichen Bewegung eines Systems unter dem Einflufs einer
Kraft, wie bei der natürlichen Bewegung eines freien Systems,
beständig senkrecht auf jeder möglichen oder virtuellen Ver-
rückung des Systems aus seiner augenblicklichen Lage.
Denn zufolge 497 a und 481 lassen sich die Komponenten
des Zwanges nach den p^ auch schreiben in der Form:
^9 "^ " m^** P""^ '^'^ '
der Zwang als Vektorgröfse steht also (250) senkrecht auf
jeder möglichen Verrückung des Systems.
Hertz, Mechanik. 15
226 Zweites Buch.
501 Symbolifloher Ausdruck. Bezeichnen wir mit SpQ die
Änderungen der Koordinaten p^ fllr irgend eine beliebige mög-
liche Verrückung des Systems, so können wir den vorstehen-
den Satz in die Gestalt der symbolischen Grleichung kleiden
(vergl. 393):
•> 2 \U -
Q
welche unter Anwendung rechtwinkliger Koordinaten die Form
annimmt:
3n
1
502 Anmerkung. Der Lehrsatz 500 enthält das vollständige
D'ALEMBEBx'sche Prinziü, die Gleichungen 5018 und b die ge-
wohnliche Fassung desselben, über das Verhältnis des Satzes
500 zu dem Satz 392 ist dasselbe zu bemerken, wie unter 499.
503 Eolgemng 1. Die Komponente der Beschleunigung eines
materiellen Systems in Sichtung einer jeden möglichen Be-
wegung ist gleich der Komponente der wirkenden Kraft nach
dieser Eichtung, dividiert durch die Masse des Systems.
Denn die Komponente des Zwanges nach der Richtung
jeder möglichen Bewegung verschwindet.
504 Folgerung 2. Die Komponente der Beschleunigung eines
materiellen Systems in Bichtung seiner wirklichen Bewegung
ist gleich der Komponente der wirkenden Kraft nach der
gleichen Richtung, dividiert durch die Masse des Systems.
505 Eolgenmg 3. Die Komponente der Beschleunigung eines
materiellen Systems nach jeder freien Koordinate des Systems
ist gleich der Komponente der wirkenden Kraft nach der
gleichen Richtung, dividiert durch die Masse des Systems.
506 Lehrsatz. Bei der natürlichen Bewegung eines materiellen
Systems unter dem Einflufs von Kräften ist die Komponente
der Beschleunigung nach jeder Koordinate der absoluten
System durch Kräfte beeinflufst. 227
Lage beständig gleich der Komponente der wirkenden Kraft nach
der gleichen Richtung, dividiert durch die Masse des Systems,
— welches auch der innere Zusammenhang des Systems ist.
Eolgernng 1. Wählen wir die Koordinaten eines Systems 507
übrigens beliebig, jedoch so, dafs sich unter ihnen sechs Koordi-
naten der absoluten Lage finden, so können wir bei vorhan-
dener Kenntnis der auf das System wirkenden Kräfte, aber
ohne Kenntnis des inneren Zusammenhangs des Systems doch
stets sechs der Bewegungsgleichungen des Systems angeben.
Folgerung 2. Treffen wir insbesondere über die Koordi- 508
naten der absoluten Lage dieselbe Verfügung wie in 402 und
wenden den Lehrsatz zunächst an auf die Richtung der 3 Ko-
ordinaten «1 «2 ccsf so ergiebt er uns die drei Gleichungen:
n n
^y rriy x^_i = 2" -^3^-1
' n n
1 1
Diese drei Gleichungen, welche sich dahin interpretieren
lassen, dafs der Schwerpunkt sich so bewegt, als sei die ganze
Masse des Systems in ihm vereinigt, und griffen an ihm alle
Elementarkräfte an, bilden das sogenannte erweiterte Prinzip
des Schwerpunkts. (Vergleiche 404.)
Polgenuig 3. Angewandt auf die Richtung der drei Ko- 509
ordinaten der absoluten Lage ooi q>2 ^3 ergiebt der Lehrsatz
die drei Gleichungen:
n n
X7 '^vy^-2^v-l — ^v~\ß^v-2) ~ XT (^y-2-^3y-l — ^v-1-^3J'-2)
1 1
n n
V mv{x^ Xqv-2 — ^-2^ ) = 2'' (^ -3^y-2 "~ %y-2-^3v )
1 1
n n
1
15*
228 Zweites Buch.
Diese drei Gleichungen bilden das sogenannte erweiterte
Prinzip der Flächen. (Vergleiche 406.)
Energie, Arbeit
510 Definition. Die Vermehrang der Energie eines Systems,
vorgestellt als Folge einer anf das System ausgeübten Kraft,
wird die Arbeit jener Eraft genannt.
Die Arbeit, welche eine Eraft in bestimmter Zeit leistet,
wird gemessen durch die Zunahme der Energie des Systems,
auf welches sie wirkt, in jener Zeit.
Eine etwaige Abnahme der Energie infolge des Vorhan-
denseins der Kraft rechnen wir als negative Zunahme. Die
Arbeit einer Kraft kann also positiv oder negativ sein.
511 Eolgemng. Während die auf ein System wirkende Kraft
eine gewisse Arbeit leistet, leistet die von dem System aus-
geübte Gegenkraft stets die entgegengesetzt gleiche Arbeit.
Denn die letztere Arbeit ist gleich der Zunahme der
Energie desjenigen Systems, mit welchem das betrachtete ge-
koppelt ist; die Summe der Energieen beider Systeme aber
ist konstant.
512 Lehrsatz. Die Arbeit, welche die auf ein System wir-
kende Kraft während der Durchlaufung eines Bahnelements
leistet, ist gleich dem Produkt aus der Länge des Elements
und der Komponente der Kraft in seiner Bichtung.
Denn die Zunahme dE der Energie während des Zeit-
elements dty in welchem das Bahnelement äs zurückgelegt
wird, ist (283):
dB = mvvdt=^mvds .
Nach 280 ist aber v die Komponente der Beschleunigung
des Systems in Bichtung seiner Bahn, also nach 504 mv die
Komponente der Kraft in Bichtung der Bahn.
513 Anmerkung 1. Die in Bede stehende Arbeit ist mit dem-
selben Bechte auch gleich dem Produkt aus der Gröfse der
System durch Kräfte beeinflufst, 229
Kraft und der in ihre Bichtung fallenden Komponente des
Bahnelements.
Anmerkung 2. Erleiden während der Durchlaufong des 514
Bahnelements ds die Koordinaten p^ die Änderungen dpg , so
ist die Arbeit der wirkenden Kraft dargestellt durch die
Grleichung:
r
dE = ^ß Pg dpg .
1
Denn die Komponente der Kraft in Richtung des Bahn-
elements ist gleich (247):
^ds •
Eolgemng 1. Die Kraft, welche auf ein System wirkt, 515
leistet positive oder negative Arbeit, je nachdem der Winkel,
welchen sie mit der Geschwindigkeit des Systems bildet, kleiner
oder gröfser als ein rechter ist. Steht die Kraft senkrecht
auf der Bewegungsrichtung, so leistet sie keine Arbeit.
Folgerung 2. Eine Kraft, welche auf ein ruhendes Sy- 516
stem wirkt, leistet keine Arbeit.
Gleichgewicht, Statilc.
Definition. Wir sagen, zwei oder mehrere Kräfte, welche 517
auf dasselbe System wirken, halten sich das Gleichgewicht,
wenn eine jede von ihnen den Einflufs der anderen aufhebt,
d. h. wenn unter dem Einflufs beider oder aller jener Elräfte
das System sich so bewegt, als wäre keine von ihnen vor-
handen.
Lehrsatz. Zwei oder mehrere Kräfte halten sich das 518
Gleichgewicht, wenn ihre Summe senkrecht steht auf jeder
möglichen (virtuellen) Verrückung des Systems aus seiner augen-
blicklichen Lage, — und umgekehrt.
Der Satz folgt unmittelbar aus 471 und 488.
J
230 Zweites Buch,
519 Symbolisolier Aasdmok. Bezeichnen wir mit Pg , Pq^ etc.
die Komponenten der einzelnen Kräfte nach den pg , mit Spg
die Änderungen der p^ für irgend eine mögliche Verrückung des
Systems, so können wir die Forderung des vorstehenden Satzes
in die Gestalt der symbolischen Gleichung kleiden:
r
1
Vergleiche 398, 601.
520 Anmerkung. Der vorstehende Lehrsatz enthält das
Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten (Verrückungen, Mo-
mente), die Gleichung 519 die gewöhnliche analytische Fas-
sung desselben.
521 Folgerung 1. Halten sich mehrere Kräfte an einem System
das Gleichgewicht, so verschwindet die Summe der von den
Kräften geleisteten Arbeiten bei jeder möglichen (virtuellen)
Verrückung des Systems aus seiner augenblicklichen Lage, —
und umgekehrt. (Prinzip der virtuellen Arbeit.)
Denn schreiben wir die Gleichung 519 in der Form:
1 1
so ergiebt sich nach 514 die Behauptung.
522 Folgerung 2. Halten sich zwei oder mehr Kräfte das
Gleichgewicht an einem System, so verschwindet die Summe
ihrer Komponenten in Richtung jeder möglichen Bewegung
des Systems.
523 Folgerung 3. Halten sich zwei oder mehr Kräfte das
Gleichgewicht an einem System, so verschwindet die Summe
ihrer Komponenten nach jeder freien Koordinate des Systems.
524 Lehrsatz. Halten sich zwei oder mehr Kräfte das Gleich-
gewicht an einem System, so verschwindet die Summe ihrer
Komponenten in Richtung einer jeden Koordinate der abso-
System durch Kräfte beeinflufst. 231
luten Lage, welches auch immer der innere Zusammenhang
des Systems sein möge.
Anmerkung. Auch ohne Kenntnis des inneren Zusammen- 525
hangs eines Systems können wir demnach doch stets 6 not-
wendige Bedingungsgleichungen für sein Gleichgewicht an-
geben. Wählen wir als Koordinaten der absoluten Lage die
6 Gröfsen «i ^^2 ^s <öi C02 093 , welche wir in 402 einführten, so
liefert uns der vorige Lehrsatz diejenigen 6 Gleichungen,
welche dem Prinzip des Schwerpunkts und der Flächen ent-
sprechen, und welche Lageange im 3. Abschnitt § 1 und § 2
des ersten Teils der M^canique analytique behandelt.
Bemerkung 1. Halten sich zwei oder mehr Kräfte in 526
einer bestimmten Lage des Systems das Gleichgewicht bei
einer gewissen Geschwindigkeit, so halten sich dieselben
Bj:äfte in derselben Lage das Gleichgewicht auch bei jeder
anderen Geschwindigkeit.
Denn die Bedingung des Gleichgewichts enthält nicht
die wirkliche Geschwindigkeit des Systems.
Bemerkung 2. Halten sich zwei oder mehr Kräfte das 527
Gleichgewicht an einem ruhenden System, so beharrt das
System in seinem Zustand der Ruhe; und umgekehrt: Be-
harrt ein System trotz des Angriffs zweier oder mehrerer
Kräfte in der Ruhe, so halten sich die Kräfte an dem System
das Gleichgewicht.
Folgerung 1. Zwei Kräfte, welche, gleichzeitig an dem- 528
selben ruhenden System angreifend, die Ruhe des Systems
nicht stören, haben entgegengesetzt gleiche Komponenten in
Richtung jeder möglichen Bewegung des Systems.
Polgenmg 2. Zwei Kräfte, welche, nach einander auf das- 529
selbe ruhende System zugleich mit denselben andern Kräften
wirkend, das System in Ruhe lassen, haben gleiche Kompo-
nenten in Richtung jeder möglichen Bewegung des Systems.
Anmerkung. Auf den letzten beiden Folgerungen beruht 530
die statische Vergleichung der Kräfte.
232 Zweües Buch.
Maschinen und innere Kräfte.
531 Definition. Ein System, dessen. Massen als yerschwindend
klein betrachtet werden gegen die Massen der Systeme, mit
welchen es gekoppelt ist, wird eine Maschine genannt.
Eine Maschine ist also hinsichtlich ihres Einflusses auf
die Bewegung der übrigen Systeme vollständig dargestellt
durch ihre Bedingungsgleichungen; die Kenntnis des Ausdrucks
der Energie der Maschine in ihren Koordinaten ist nicht er-
forderlich.
Einfach heifst eine Maschine, welche nur einen Grrad der
Bewegungsfreiheit hat.
532 Lehrsatz. So lange eine Maschine sich mit endlicher G-e-
schwindigkeit bewegt, halten sich die auf die Maschine wir-
kenden Kräfte beständig das Gleichgewicht.
Denn ergäben diese Kräfte eine Komponente in Rich-
tung irgend einer möghchen Bewegung der Maschine, so würde
die Komponente der Beschleunigung in dieser Bichtung wegen
der verschwindenden Masse unendlich grofs (504).
533 Folgerung. Zwischen den Komponenten der auf eine
Maschine wirkenden Kräfte nach ihren Koordinaten besteht
eine Anzahl homogener lineare Gleichungen, deren Zahl
gleich der Zahl der Bewegungsfreiheiten der Maschine ist.
Eine einfache Maschine wird vertreten durch eine einzige
homogene lineare Gleichung zwischen den auf ihre Koordi-
naten wirkenden Kräften.
534 Bemerkung 1. Wird eine Maschine nach allen ihren Ko-
ordinaten gekoppelt mit zwei oder mehr materiellen Systemen,
so kann die auf diese Art hergestellte mechanische Verbin-
dung zwischen den letztere^i analytisch dargestellt werden
durch einen Satz homogener linearer Differentialgleichungen
zwischen den Koordinaten der verbundenen Systeme. Denn
wir können in den Bedingimgsgleichungen der Maschine die
Koordinaten derselben ersetzen durch die ihnen gleichen Ko-
ordinaten der verbundenen Systeme.
Umgekehrt können wir daher auch jeden analytisch ge-
gebenen Satz homogener linearer Differentialgleichungen zwischen
System durefi Kräfte beemflufst. 233
den Koordinaten zweier oder mehrerer Systeme physikalisch
deuten als eine mechanische Verbindung der angegebenen Art,
welche wir bezeichnen als eine Koppelung jener Systeme durch
die Maschine.
Eolgernng. Sind zwei oder mehr Systeme durch eine 535
Maschine gekoppelt, so ist die von jedem der Systeme ge-
leistete Arbeit entgegengesetzt . gleich der Summe der von
den übrigen Systemen geleisteten Arbeit. Bei der Koppelung
der Systeme mittels einer Maschine wird also Arbeit nicht
gewonnen.
Denn die von den Systemen ausgeübten Kräfte halten
sich an der Maschine das Gleichgewicht, die Summe der von
ihnen geleisteten Arbeit ist also Null.
Bemerkung 2. Ein jedes materielle System kann auf 536
mannigfaltige Art aufgefafst werden als bestehend aus zwei
oder mehr Systemen, welche durch Maschinen gekoppelt sind.
Denn teilen wir die Massen des Systems in mehrere Teile, und
sind die p^ Koordinaten des ersten Teiles, die p^ Koordinaten
des zweiten Teiles, u. s. w., so können wir diejenigen Bedingungs-
gleichungen des vollständigen Systems, welche nur die p^ ent-
halten, betrachten als Bedingungsgleichungen des ersten Teil-
systems, diejenigen Gleichungen, welche nur die p^ enthalten, als
Bedingungsgleichungen des zweiten Teilsystems, u. s. w., während
diejenigen Bedingungsgleichungen des vollständigen Systems,
welche die Pq,Pq u. s. w. gemischt enthalten, aufgefafst wer-
den als die Gleichungen der die Teilsysteme koppelnden Ma-
schinen.
Die Kräfte, welche bei dieser zulässigen, wenn auch will-
kürlichen Auffassung auf die Teilsysteme von den sie koppeln-
den Maschinen ausgeübt werden, bezeichnen wir als innere
Kräfte des Systems.
Eolgernng 1. Ein jeder Satz innerer Kräfte kann einen 537
Teil des Zusammenhanges eines Systems ersetzen. Lassen
wir nämlich diejenigen Bedingungsgleichungen des ganzen
Systems fort, welche die Maschinen zwischen den Teilsystemen
darstellen, behalten aber die von den Maschinen ausgeübten
Kräfte bei, so bewegt sich das System wie vorher.
234 Zweites Buch.
538 Folgenmg 2. Der gesamte Zusammenhang eines Systems
kann aufgelöst werden in und ersetzt werden durch eine An-
zahl von Elementarkräflen, welche auf die einzelnen materiellen
Punkte des Systems wirken.
Denn wir können die einzelnen Punkte als Teilsysteme
betrachten und das ganze System als Gesamtheit dieser durch
Maschinen gekoppelten Teilsysteme.
539 Polgerung 3. Die inneren Kräfte, welche den Zusammen-
hang eines Systems vollständig oder teilweise ersetzen, halten
sich, an dem ursprünglichen System angreifend, beständig das
Gleichgewicht.
Denn sie halten sich nach 532 das Gleichgewicht an den
Maschinen, welche Teile des ursprünglichen Systems bilden.
540 Anmerkung. Diese letztere Überlegung ist es, mit deren
Hülfe in der gewöhnlichen Entwickelung der Mechanik der
XJbergang von den Gesetzen des Gleichgewichts (dem Prinzip
der virtuellen Geschwindigkeiten) zu den Gesetzen der Be-
wegung (dem n'ALEMBERT'schen Prinzip) gemacht wird.
Messung der Kräfte.
541 Aus unseren Überlegungen ergeben sich im Ganzen drei
unabhängige Methoden, um diejenigen Komponenten der Kräfte
unmittelbar zu messen, welche überhaupt Einflufs auf die Er-
scheinungen haben. Durch Anwendung einer jeden dieser
drei Methoden können auch die Kräfte aus Rechnungsgröfsen
zu Gegenständen der unmittelbaren Erfahrung gemacht werden,
d. h. zu Zeichen für bestimmte Verbindungen sinnlicher Em-
pfindungen und Wahrnehmungen.
542 Die erste Methode bestimmt die Kraft aus den Massen
und Bewegungen des Systems, von welchem sie ausgeübt wird.
Physikalisch wird diese Methode die Messung der Kraft nach
ihrem Ursprung genannt. Sie wird z. B. angewandt in der
Annahme, dafs gleich gespannte Federn, gleiche Mengen explo-
dierenden Pulvers u. s. w. unter übrigens gleichen Verhält-
nissen gleiche Kräfte ausüben.
Oyklisehe Bewegimg. 235
Die zweite Methode bestimmt die Kraft aus den Massen 548
und der Bewegung des Systems, auf welches sie wirkt. In der
Physik* wird diese Methode als die dynamische Messung der
E[raft bezeichnet. Sie wurde z. B. von Newton angewandt,
als er die auf die Planeten wirkende Kraft aus deren Be-
wegung ableitete.
Die dritte Methode bestimmt die Kraft, indem sie sie mit MA
bekannten Kräften ins Gleichgewicht bringt. Diese Methode
wird die statische genannt. Auf ihr beruhen z. B. alle Kräfte-
messungen mit der Wage,
Angewandt zur Bestimmung einer und derselben Kraft S45
unter Beobachtung der von uns abgeleitet-en Beziehungen
müssen aber diese drei verschiedenen Methoden unter allen
Umständen zu dem gleichen Eesultate führen, wenn anders
das Grundgesetz, auf welches sich unsere Überlegungen
stützen, wirklich alle mögliche mechanische Erfahrung richtig
zusammenfafst.
Abschnitt 5. Systeme mit verborgenen Massen.
L Cyklische Bewegung.
Definition 1. Cyklische Koordinate eines Systems heifst eine 546
freie Koordinate des Systems dann, wenn die Länge einer
unendlich kleinen Verrüqkung des Systems nicht von dem
Werte der Koordinate, sondern nur von dem ihrer Änderung
abhängt.
Anmerkung 1. Es giebt cyklische Koordinaten. Denn 547
es genügt z. B. eine rechtwinklige Koordinate des Systems,
wenn sie frei ist, der Voraussetzung. Cyklische Koordinaten
können stets eingeführt werden, wenn unendlich kleine Ver-
rückungen des Systems möglich sind, welche nicht eine Ände-
rung der Massenverteilung im Baume zur Folge haben, son-
dern nur eine cyklische Vertauschung der Massen unter sich.
236 Zweites Buch.
Daher der Name. Es können aber auch unter anderen Ver-
hältnissen cyklische Koordinaten auftreten, wie es das Beispiel
der rechtwinkligen Koordinaten zeigt.
548 Anmerkung 2. Die Energie eines Systems hängt nicht
ab von dem Werte seiner cyklischen Koordinaten, sondern
nur von deren Anderungsgeschwindigkeiten mit der Zeit.
549 Definition 2. Cyklisches System heifst ein materielles
System^ dessen Energie mit hinreichender Annäherung als
eine homogene quadratische Funktion der Anderungsgeschwin-
digkeiten seiner cyklischen Koordinaten erscheint.
Ein cyklisches System heifst ein monocykUsches , dicy-
klisches, u. s. w., je nachdem es eine, zwei, u. s. w. cyklische
Koordinaten besitzt.
In eiaem cyklischen System werden die nicht cyklischen
Koordinaten auch die Parameter des Systems genannt; die
Anderungsgeschwindigkeiten der cyklischen Koordinaten nennen
wir auch die cyklischen Intensitäten.
550 Anmerkung 1. Die Bedingung, deren* angenäherte Er-
füllung für cyklische Systeme erfordert wurde, kann mit Strenge
überhaupt nicht erfüllt sein, abgesehen von dem Falle, dafs
das System nur cyklische Koordinaten besitzt.
Denn ist eine Gröfse Koordinate eines Systems,, so be-
dingt ihre Änderung eine Verrückung mindestens eines ma-
teriellen Punktes des Systems; die Energie dieses Punktes ist
also quadratische Funktion der Anderungsgeschwindigkeit
jener Koordinate, und für die Energie des Systems gilt dem-
nach das gleiche. Die Energie eines jeden Systems enthält
daher in Strenge notwendig die Anderungsgeschwindigkeiten
aller Gröfsen, welche überhaupt Koordinaten des Systems sind,
also auch die Energie eines cyklischen Systems die Anderungs-
geschwindigkeiten seiner Parameter.
551 Anmerkung 2. Jene Bedingung für das Auftreten eines
cyklischen Systems kann aber mit jedem beliebigen Grade der
Annäherung erfüllt sein, sobald das System überhaupt cyklische
Koordinaten besitzt.
Sie ist nämlich erfüllt in dem Falle, dafs die Teile der
Energie, welche die Änderungsgeschwindigkeiten der Para-
Oyklische Bewegung. 237
meter enthalten, verschwinden gegen die Teile, welche von den
cyklischen Intensitäten abhängen, und dies kann stets dadurch
erreicht werden, dafs die Anderangsgeschwindigkeiten der
Parameter hinreichend klein, oder dafs die cyklischen Inten-
sitäten hinreichend grofs angenommen werden. Wie grofs
diese oder wie klein jene angenommen werden müssen, damit
ein bestimmter Grad der Annäherang erzielt werde, hängt
ab von den besonderen Werten der Koefficienten im Ausdruck
der Energie.
Im Folgenden wird stets vorausgesetzt, dafs die Bedingung
der cyklischen Systeme mit so grofser Annäherung erfüllt sei,
dafs wir so reden können, als sei sie genau erfüllt.
Bezeichnung. Wir bezeichnen die cyklischen Koordinaten 552
des Systems mit pg, mit r ihre Zahl, die Momente des Sy-
stems nach den p^ mit q^. Die r nicht cyklischen Koordi-
naten des Systems mögen mit p^, die Momente nach ihnen
mit q^ bezeichnet werden. Die Masse des cyklischen Sy-
stems sei nt.
Die äufseren Kräfte, welche auf das System wirken, mögen
nach den p^ die Komponenten Pq , nach den p^ die Kompo-
nenten $ßg haben. Die Kräfte, welche das System selbst aus-
übt, haben dann nach den Pq , beziehlich den p^ Komponenten,
welche nach 467 mit P^ , beziehlich $ß^ zu bezeichnen sind.
Folgerung 1. Die Energie (S eines cyklischen Systems 553
kann geschrieben werden in den Formen (286):
r r
® = 2^2^2^ vl^?^
1 1
r r
= ^ S^S^'V^?^^ '
2nt , ,
in welchen die a^o ^nd b^^ Funktionen allein der p^ , nicht
aber der pg sind (548), übrigens aber dieselben Eigenschaften
und denselben Zusammenhang haben, wie die a^a und bg^ (59 ff.).
Betrachten wir ® als Funktion der pg und der pg, wie
es die erste Form darstellt, so möge sein partielles Differential
mit dp® bezeichnet werden; betrachten wir aber @ als Funk-
238 Zweites Buch.
tion der pg und der q^ , wie es die zweite Form darstellt, so
möge sein partielles Differential mit dq@ bezeichnet werden
(vergl. 288).
554 FolgenJQg 2. Für alle Werte des q gelten die Glei-
chungen:
a) (289)
b) (290)
dpe
= 9q
=
dqg
=Pq
-0
5p@
=
«
dp.
-0
•
c)
d)
Diese Gleichungen enthalten die charakteristischen Merk-
male der cyküschen Systeme, und auf ihnen beruhen die be-
sonderen Eigentümlichkeiten derselben.
Die Gleichung b) wiederholt die Bemerkung (550), dafs
ein Widerspruch besteht zwischen der Annahme, dafs die
Form der Energie genau die angenommene sei und dafs
gleichwohl die p^ mit der Zeit veränderliche Gröfsen seien.
Wir haben die Gleichung gemäfs 551 dahin zu deuten, dafs,
wenn (S sehr angenähert die gewählte Gestalt hat, die p^ als
langsam sich verändernde Gröfsen betrachtet werden müssen.
Kräfte und Kräftefunktion.
555 Aufgabe 1. Die Kraft P^ zu bestimmen, welche das
cyklische System nach seinem Parameter p^ ausübt.
Zufolge der Gleichungen 493 e, d und 554a erhalten wir:
oder in entwickelter Form:
OyMische Bewegung, 239
' ' da.
1 1 Vre
' ' dh
= -^2^2^^^^- • ^>
Folgerung. Die Ejräfte eines cyklischen Systems nach 556
seinen Parametern sind unabhängig von den Änderungsge-
schwindigkeiten dieser Parameter.
Vorausgesetzt ist jedoch immer, dafs diese Anderungs-
geschwindigkeiten nicht dasjenige Mafs übersteigen, welches
erlaubt, das System als ein cyklisches zu behandeln. So sind
in der Elektrodynamik die Anziehungen zwischen Magneten
zwar unabhängig von der Geschwindigkeit ihrer Bewegung,
aber doch nur so lange, als diese Geschwindigkeit weit unter-
halb der Lichtgeschwindigkeit liegt.
Angabe 2. Die Kraft ^^ zu bestimmen, welche das 557
cyklische System nach seiner cyklischen Koordinate p^ ausübt.
Zufolge der Gleichungen 493c und 554 e erhält man:
% = - q? . *)
Entwickelt, hat man, da (270)
r
q^ = m 2*' ö?(T iPcr > ^)
1
r ^ ^ da
1 11 "/^'
Folgerung. Wirkt auf ein cyklisches System eine äufsere 55S
Kraft, deren Komponenten nach den pg die ^^ sind, so ändern
sich die cyklischen Momente nach den Gleichungen:
q^ = $^ •
Lehrsatz. Wenn auf die cyklischen Koordinaten eines 559
240 Zweites Buch.
cyklischen Systems keine Kräfte wirken, so sind die sämtlichen
cyklischen Momente des Systems konstant in der Zeit.
Denn sind die Jß^ gleich Null, so ergehen die vorigen
Gleichungen durch Integration
q^ = constans .
560 Definition. Eine Bewegung eines cyklischen Systems, hei
welcher seine cyklischen Momente konstant hleiben, heilst eine
adiabatische Bewegung. Eine Bewegung eines cyklischen
Systems, bei welcher seine cyklischen Intensitäten konstant
bleiben, heilst eine isocyklische Bewegung.
Adiabatisch, beziehlich isocyklisch wird das cyklische
System selbst genannt, wenn es gezwungen ist, keine anderen
Bewegungen auszuführen, als nur adiabatische, beziehlich iso-
cyklische.
561 Anmerkung 1. Die analytische Bedingung der adiabati-
schen Bewegung ist diese, dafs für alle q:
q = , c\g = constans
sei. Die analytische Bedingung der isocyklischen Bewegung
ist diese, dafs für alle q:
ipg = , |)^ = constans
sei.
562 Anmerkung 2. Die Bewegung eines cyklischen Systems
ist eine adiabatische, sobald auf die cyklischen Koordinaten
dauernd keine Ej'äfte wirken. Die Bewegung eines cyklischen
Systems ist eine isocyklische, wenn es nach den cyklischen
Koordinaten mit anderen Systemen gekoppelt ist, welche kon-
stante Änderungsgeschwindigkeit der gekoppelten Koordinaten
besitzen. Damit die Bewegung eine isocyklische sei, müssen
also geeignete Kräfte auf die cyklischen Koordinaten wirken.
563 Definition. Lassen sich die Kräfte eines cyklischen Sy-
stems nach seinen Parametern darstellen als die partiellen
OyUisdhe Bewegung. 241
Differentialquotienten einer Funktion der Parameter und kon-
stanter Gröfsen, nach den Parametern, so heifst diese Funk-
tion die Kräftefunktion des cyklischen Systems.
Lehrsatz. Sowohl für die adiabatische^ als auch für die 564
isocyklische Bewegung besteht eine Kräftefunktion.
Denn für die adiabatische Bewegung folgt aus 555 e:
und hierin sind die Gröfsen qaCfr/in Konstanten und die
bor Funktionen lediglich der Parameter.
Entsprechend folgt für die isocyklische Bewegung aus
555b:
und hierin sind wiederum die Gröfsen Vdpa'ifx Konstanten und
die a^ Funktionen lediglich der Parameter.
Anmerkung. Die Kräftefnnktion für die adiabatische 565
und für die isocyklische Bewegung unterscheiden wir auch
wohl als adiabatische bez. isocyklische Kräftefunktion. Es
giebt weitere Bewegungsformen des Systems, für welche
Kräftefiinktionen bestehen, aber nicht für jede beliebige Be-
wegung besteht eine solche.
Znsatz 1. Die Kräftefunktion eines adiabatischen 'Systems 566
ist gleich der Abnahme der Energie des Systems, gerechnet
von einem willkürlich gewählten Anfangszustand aus. Sie ist
daher auch gleich einer willkürlichen, d. h. durch die Defini-
tion nicht bestimmten Konstanten, vermindert um die Energie
des Systems.
Zusatz 2. Die Kräftefunktion eines isocyklischen Systems 567
ist gleich der Zunahme der Energie des Systems, gerechnet
von einem willkürlich gewählten Anfangszustand aus. Sie ist
daher auch gleich der Energie des Systems, vermindert um
eine willkürliche Konstante.
Hertz, Mechanik. 16
242 Zweites Buch.
Reclproke Eigentümlichkeiten.
568 Lehrsatz la. Wenn in einem adiabatischen System eine
Vergröfserimg des Parameters p^ die Komponente der Kraft
nach dem anderen Parameter px steigert, so steigert auch
umgekehrt eine Vergröfserung von px die Kraft nach jo^ . Und
zwar ist bei unendlich kleiner Vergröfserung das quantitative
Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung in beiden Fällen
das gleiche.
Denn in einem adiabatischen System können wir die p^
als die hinreichenden unabhängigen Bestimmungsstücke der
Fg betrachten, und es liefert uns daher die für adiabatische
Systeme gültige Gleichung 664 a:
welches die Behauptung ist.
569 Lehrsatz Ib. Wenn in einem isocyklischen System eine
Vergröfserung des Parameters jp^ die Komponente der Kraft
nach dem anderen Parameter px steigert, so steigert auch
umgekehrt eine Vergröfserung von px die Kraft nach /?^ . Und
zwar ist bei unendlich kleiner Vergröfserung das quantitative
Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung in beiden Fällen
das gleiche.
Denn auch in einem isocyklischen System können wir
die Pq als hinreichende unabhängige Bestimmungsstücke der
Pq ansehen, und es Uefert uns daher die für isocyklische Sy-
steme gültige Gleichung 564b:
dPx^dP;^
^Pf, dpi '
welches die Behauptung ist.
Es ist zu bemerken, dafs diese Gleichung von der vorigen
dem Sinne nach verschieden, wenn auch der Form nach
identisch ist.
570 Anmerkung. Damit die vorstehenden beiden Lehrsätze
eine physikalische Anwendung gestatten, genügt es, dafs von
OyUisdhe Beiwegimg, 243
dem cyklischen System zwei Parameter und die Kräfte nach
diesen der unmittelbaren Beobachtung zugänglich seien.
Lehrsatz 2 a. Wenn in einem cyklischen System eine 571
Vermehrung des cyklischen Momentes q^ bei festgehaltenen
Parametern eine Steigerung der Kraft nach dem Parameter
px zur Folge hat, so ruft die adiabatische Vergröfserung des
Parameters px eine Verminderung der cyklischen Intensität ^^
hervor, und umgekehrt. Und zwar ist bei unendlich kleiner
Änderung das Grössenverhältnis zwischen Ursache und Wir-
kung in beiden Fällen das gleiche.
Denn wir haben:
P,^-f^ (555a) , ^, = g (290) ,
also ist
dPi
öq^ dpx '
a)
von welcher Gleichung der Lehrsatz die richtige Interpre-
tation ist.
Folgerung. Wenn in einem monocyklischen System eine 672
Vermehrung der cyklischen Intensität |) bei festgehaltenen
Parametern eine Steigerung der Kraft nach dem Parameter
pi zur Folge hat, so ruft die adiabatische Vergröfserung des
Parameters px eine Verminderung der cyklischen Intensität ^p
hervor, und umgekehrt.
Denn in einem monocyklischen System geht Vermehrung
der cyklischen Intensität und Vermehrung des cyklischen Mo-
mentes bei festgehaltenen Parametern stets Hand in Hand.
Für ein monocyklisches System ist nämlich
worin a eine notwendig positive (62) Funktion der Parameter
des Systems ist.
Lehrsatz 2 b. Wenn in einem cyklischen System eine 573
Vermehrung der cyklischen Intensität p^^ bei festgehaltenen
16*
244 Zfweües Buch.
Parametern eine Steigemng der Kraft nach dem Parameter px
znr Folge hat, so ruft die isocyklische Yergröfsenmg des
Parameters px eine Vermehrung des cyklischen Momentes q^
hervor, und umgekehrt. Und zwar ist bei unendlich kleiner
Änderung das Grössenverhältnis zwischen Ursache und Wir-
kung in beiden Fällen das gleiche.
Denn wir haben:
(556a) , q^ = ^ (289)
Fi-
Bpx
also ist:
»)
y
%
dPi
öq^
%
dpi '
von welcher Gleichung der Lehrsatz den Ausdruck in Wor-
ten giebt.
574 Folgerung. Wenn in einem monocyklischen System eine
Vermehrung des cyklischen Momentes q bei festgehaltenen
Parametern eine Steigerung der Kraft nach dem Parameter px
zur Folge hat, so ruft die isocyklische Vergröfserung des
Parameters px eine Vermehrung des cyklischen Momentes q
hervor, imd umgekehrt.
Der Grund ist derselbe wie in 572.
575 Anmerkung. Die vorstehenden Lehrsätze 2 a und 2 b ge-
statten eine physikalische Anwendung dann, wenn es möglich
ist, neben einer cyklischen Intensität auch das entsprechende
cyklische Moment unmittelbar, d. h. ohne Kenntnis der Koefß-
cienten a^«,, zu bestimmen. Dies kann eintreten. In der
Elektrostatik entsprechen z. B. die PotentialdiflFerenzen der
Leiter den cyklischen Intensitäten, die Elektricitätsmengen der
Leiter den cyklischen Momenten, und beide Gröfsen können
unabhängig von einander unmittelbar bestimmt werden.
Die Folgerungen verlangen nur die unmittelbare Be-
stimmbarkeit entweder der cyklischen Intensität oder des
cyklischen Momentes.
576 Lehrsatz 3 a. Wenn in einem cyklischen System eine auf
die cyklische Koordinate pf^ ausgeübte Kraft ein zeitliches An-
wachsen der Kraft nach dem Parameter px zur Folge hat, so
Oyklische Bewegv/ng. 245
ruft die adiabatische Vergröfserung des Parameters p), eine
Verminderung der cyklischen Intensität ^^ hervor, und umge-
kehrt. Und zwar ist bei unendlich kleiner Änderung das
Grössenverhältnis zwischen Ursache und Wirkung in beiden
Fällen das gleiche.
Denn denken wir uns in der linken Seite der Gleichung
571a die Änderungen dPx ^^id dq^ entstanden in der Zeit dtj
dividieren wir den Differentialquotienten im Zähler und Nenner
durch diese Zeit dt, und beachten die Gleichung 558, indem
wir die Änderung dq^ als Wirkung der Kraft ^^ ansehen,
so folgt:
von welcher Gleichung der Lehrsatz den vervollständigten Aus-
druck in Worten giebt.
Lehrsatz 3 b*). Wenn in einem cyklischen System eine 577
Vermehrung der cyklischen Intensität |)^ bei festgehaltenen
Parametern eine Steigerung der Kraft nach dem Parameter px
zur Folge hat, so ruft die isocyklische Vergröfserung des
Parameters p^ eine Verminderung der Kraft des Systems nach
der cyklischen Koordinate p^ hervor, und umgekehrt. Und
zwar ist bei unendlich kleiner Änderung das Gröfsenverhält-
nis zwischen Ursache und Wirkung in beiden Fällen das gleiche.
Denken wir uns in der rechten Seite der Gleichung 573 a
die Änderungen öq^ und dpx entstanden in der Zeit dt, so
können wir setzen:
öq^ = ^ d(\fi'dt = öq^ dt^ - ö^j;, dt (557 a) ,
dpi=-j^dp^'dt=-dpxdt ;
es wird also jene Gleichung:
dp^ dp, '
welche Aussage der Lehrsatz in Worten wiedergiebt.
* Mit dem Originale übereinstimmender Abdruck. — Der Herausgeber.
246 Zweites Btush.
578 Anmerkung. Die Lehrsätze 3 a und 3 b gestatten die
physikalische Anwendung dann, wenn neben einer cyklischen
Intensität auch die entsprechende cyklische Kraftkomponente
der unmittelbaren Beobachtung zugänglich ist. Dies trifft
zum Beispiel für die Elektrodynamik zu, und man versinnlicht
sich die Bedeutung der Lehrsätze 3 a und 3 b am besten,
indem man sie in die Redeweise dieses Zweiges der Physik
übersetzt.
Energie und Arbeit.
679 Lehrsatz 1. Bei der isocyklischen Bewegung eines cykli-
schen Systems ist die Arbeit, welche das System durch die
Koppelung seiner cyklischen Koordinaten aufiiimmt, beständig
das Doppelte der Arbeit, welche es durch die Koppelung seiner
Parameter abgiebt.
Bei der isocyklischen Bewegung ist p^ für alle q gleich
Null, also nach 514 und 557c die Arbeit, welche die auf
die cyklischen Koordinaten wirkenden äufseren Kräfte in der
Zeiteinheit leisten, gleich:
r r r
da.
1 1 1 1 "^^
Die Arbeit aber, welche das System durch seine Kräfte
nach den Parametern leistet, berechnet auf die Zeiteinheit,
wird gefunden mit Hülfe von 655b gleich:
*" 1 ^ ^ ^ da
2^ PqPq = 2 ^ 2^2"2' öjT ^^ ^'P^ •
1 111 ^^e
Die Summen in beiden Gleichungen sind bis auf die Be-
zeichnung identisch, und die Glieder der ersten Gleichung sind
daher doppelt so grofs als die der letzten.
680 Folgerung. Wenn ein isocyklisches System durch die
Kräfte nach seinen Parametern Arbeit leistet, so wächst gleich-
zeitig die Energie des Systems, und zwar um den Betrag der
geleisteten Arbeit; wenn ein isocyklisches System durch die
Oyklisehe Bewegung. 247
Kräfte nach seinen Parametern Arbeit aufnimmt, so nimmt
gleichzeitig die Energie des Systems ab, und zwar um den
Betrag der aufgenommenen Arbeit.
Denn die Zunahme der Energie des Systems ist gleich
dem unterschiede der von den cyklischen Koordinaten auf-
genommenen und der durch die Parameter abgegebenen Arbeit.
Anmerkung. Wenn ein adiabatisches System durch die 581
Kräfte nach seinen Parametern Arbeit leistet, so nimmt gleich-
zeitig die Energie des Systems ab^ und zwar um den Betrag
der geleisteten Arbeit; wenn ein adiabatisches System durch
die Kräfte nach seinen Parametern Arbeit aufnimmt, so wächst
gleichzeitig die Energie des Systems, und zwar um den Betrag
der aufgenommenen Arbeit.
Denn in einem adiabatischen System wird durch die
cyklischen Koordinaten keine Arbeit aufgenommen (562).
Lehrsatz 2. Bei der adiabatischen Yerrückung eines 582
cyklischen Systems erleiden die cyklischen Intensitäten stets
Änderungen in solchem Sinne, dafs die von diesen Änderungen
hervorgerufenen Kräfte nach den Parametern bei der Ver-
rückung negative Arbeit leisten.
Es mögen bei der Verrückung die p^ die Änderungen 8pq
und die Intensitäten p^ die Änderungen Spg erleiden. Fänden
nur die letzteren Änderungen statt, so würden sich die Kräfte
Fg ändern um die Beträge (5551b):
r r
ddr
1 1 ^rQ
und diese 8Pq sind es, welche der Lehrsatz als die von den
^y hervorgerufenen Kräfte bezeichnet. Die von ihnen ge-
leistete Arbeit ist gleich:
1 1 1 1 ^^e
t r
- ttt 2^2^ Saai ^(7 Sifx j
1 1
248 Zweites Buch.
und die Behauptung geht dahin , dafs diese Arbeit notwendig
negativ sei. Nun ist aber für die adiabatische Bewegung:
^1 = ^2*' ^" IP^ "^ constans ,
1
also:
r r
1 1
Bilden wir diese Gleichungen für alle r, multiplizieren sie der
Eeihe nach mit mSp^ und addieren, so erhalten wir links den
vorigen Ausdruck für die betrachtete Arbeit, rechts eine not-
wendig negative Gröfse (62), womit die Behauptung erwiesen ist.
5S3 Folgerung. Bei der adiabatischen Verrückung eines
cyklischen Systems erleiden die cyklischen Intensitäten stets
Änderungen in solchem Sinne, dafs die von diesen Änderungen
hervorgerufenen . Kräfte die erzeugende Bewegung aufzuhalten
streben.
Dies ist in der That nur eine andere Form, den vorigen
Lehrsatz auszusagen. Sie entspricht der Ausdrucksweise der
Lenz' sehen Regel in der Elektrodynamik.
584 Bemerkung. Bei jeder unendlich kleinen Bewegung eines
mono cyklischen Systems verhält sich die durch die cyklische
Koordinate aufgenommene Arbeit zur Energie des Systems,
wie der doppelte Zuwachs, welchen das cyklische Moment des
Systems erfährt, zu diesem Moment.
Denn die während der Zeit dt durch die cyklische Ko-
ordinate p aufgenommene Arbeit dO, ist gleich:
d€L=^^dp = (\dp = (\^dt = 'pdq ,
während die Energie ® geschrieben werden kann:
Also ist:
welches die Behauptung ist.
OykUacke Bewegung. 249
Folgerung 1. Bei beliebiger Bewegung eines mono- 5S5
cyklischen Systems ist der Ausdruck
das vollständige Differential einer Funktion der Parameter und
der cyklischen Intensität des Systems, nämlich der Funktion
21og5- ,
Ho
in welcher q^, das cyklische Moment für eine willkürlich ge-
wählte Anfangslage bedeutet. Diese Funktion wird auch die
Entropie des monocyklischen Systems genannt.
Folgerung 2. Der Wert des für eine beliebige endliche 586
Bewegung eines monocyklischen Systems gebildeten Integrales
/
d^
hängt nur ab von den Zuständen des Systems in der Anfangs-
und Endlage der Bewegung, nicht aber von den zwischen
beiden Lagen durchlaufenen Zuständen. Der Wert jenes Inte-
grales wird Null für jede Bewegung, welche das System zu
seinem Anfangszustand zurückführt.
Denn der Wert jenes Integrales ist gleich dem Unter-
schiede der Entropie im Anfangs- und im Endzustande der
Bewegung.
Folgerung 3. Bei der adiabatischen Bewegung eines 587
monocyklischen Systems bleibt die Entropie konstant. Denn
für die adiabatische Bewegung ist 5ß, also auch ^D gleich
Null. Die adiabatische Bewegung eines monocyklischen Sy-
stems wird deshalb auch eine isentropische genannt.
Zeitintegral der Energie.
Bemerkung 1. Ändern sich bei der adiabatischen Be- 588
wegung eines cyklischen Systems die cyklischen Koordinaten p^
j
250 Ziceites Buch.
in einer gewissen endlichen Zeit um die Beträge p^f so ist
das Zeitintegral der Elnergie des Systems, genommen über
jene Zeit, gleich
y2^^??? •
Denn es kann die Energie des Systems geschrieben werden
in der Form (286b);
2"2^^?1P? '
2
1
und hierin sind für die adiabatische Bewegung die q^ Kon-
stanten.
589 Bemerkung 2. Die Variation des Zeitintegrales der Energie
eines adiabatischen Systems bei variierter Bewegung des Sy-
stems hängt ab erstens von der Variation der Parameter
während der ganzen Zeit, über welche das Integral gebildet
ist, zweitens aber auch von den in der Zeit konstanten Varia-
tionen, welche die in der Zeit konstanten cyklischen Momente
des Systems erleiden.
590 Bezeichnung. Wir bezeichnen im folgenden:
mit S eine Variation, bei welcher die cyklischen Momente
willkürliche Variationen erleiden,
mit ^q eine Variation, bei welcher die cyklischen Momente
keine Variationen erleiden,
endlich mit Sp eine Variation, bei welcher die cyklischen
Momente solche Variationen erleiden, dafs die Anfangs- und
Endwerte der cyklischen Koordinaten unvariiert bleiben.
691 Eolgerung. Aus der Bezeichnung folgt von selbst für
alle q:
SqC{Q = , Sp^g = ,
also wird nach 588 für beliebige Variationen der Parameter:
Oyldische Bewegung, 251
Anmerkung. In einem adiabatischen System ist es stets, 592
und zwar im allgemeinen nur auf eine Weise möglich, bei
beliebiger Variation der Parameter den cyklischen Momenten
solche Variationen zu erteilen, dafs die Anfangs- und End-
werte der cyklischen Koordinaten unvariiert bleiben.
Denn aus der allgemeinen Beziehung:
^9 = iSV^^
m ,
folgt für ein adiabatisches System, in welchem sich die pg von
den Werten pg^ auf die Werte p^^ ändern:
1
also bei beliebiger Variation der Parameter und der cyklischen
Momente:
1 1
Diese Gleichungen aber bilden r nicht homogene, lineare Glei-
chungen für die r Gröfsen ^q^, welche also stets eine und
zwar im allgemeinen nur eine Lösung zulassen, insbesondere
auch dann, wenn die links stehenden Variationen ver-
schwinden.
Variationen der Art, welche wir mit Sp bezeichneten, sind
also auch bei beliebiger Variation der Parameter stets möglich.
Lehrsatz. Bei gleicher, übrigens willkürlicher Variation 593
der Parameter während einer gewissen Zeit fällt die Variation
252 Zweites Buch,
des Zeitintegrales der Energie in einem adiabatischen System
entgegengesetzt gleich aus, wenn man das eine Mal die cy-
klischen Momente des Systems unvariiert läfst, das andere
Mal sie so variiert, dafs Anfangs- und Endwerte der cyklischen
Koordinaten unvariiert bleiben.
Denn für eine beliebige Variation ist:
=-sJ^dt+^^gSqg ,
also insbesondere flir eine Variation, bei welcher Anfangs-
und Endwerte der pQ unvariiert bleiben:
Spj^dt = SJ(&dt+^e^gSpqg .
Subtrahiert man hiervon zweimal die Gleichung 591 b, so folgt:
Sc^f(S;dt= -Spff&dt ,
welches die Behauptung ist.
Man vergleiche übrigens die verwandten Sätze 96 und 293.
n. Verborgene cyklische Bewegimg.
Erläuterungen und Definitionen.
594 1. Wir sagen, ein System enthalte verborgene Massen,
wenn durch die der Beobachtung zugänglichen Koordinaten
des Systems noch nicht die Lage aller Massen des Systems
bestimmt ist, sondern nur die Lage eines Teiles derselben.
595 2. Diejenigen Massen, deren Lage bei vollständiger An-
gabe der beobachtbaren Koordinaten des Systems dennoch
unbekannt bleibt, heifsen verborgene Massen, ihre Bewegungen
Verborgene Bewegtmg. 253
verborgene Bewegungen, ihre Koordinaten verborgene Koordi-
naten. Im Gegensatz dazu heifsen die übrigen Massen des
Systems sichtbare Massen, ihre Bewegungen sichtbare Be-
wegungen, ihre Koordinaten sichtbare Koordinaten.
3. Die Aufgabe, welche der Mechanik in Hinsicht der 596
Systeme mit verborgenen Massen zufällt, ist diese: die Be-
wegungen der sichtbaren Massen des Systems oder auch die
Veränderungen der sichtbaren Koordinaten des Systems vor-
auszubestimmen trotz der vorhandenen Unkenntnis über die
Lage der verborgenen Massen.
4. Ein System, welches verborgene Massen enthält, unter- 597
scheidet sich von einem System ohne verborgene Massen allein
in Hinsicht unserer Kenntnis des Systems. Alle bisherigen
Aussagen unserer Mechanik bleiben daher anwendbar auf Sy-
steme mit verborgenen Bewegungen, sobald wir unter den
Massen, Koordinaten u. s. w. die sämtlichen Massen, Koordi-
naten u. s. w. verstehen. Erst dann werden Änderungen nötig,
wenn wir unsere Aussagen auf die sichtbaren Gröfsen be-
schränken wollen. Die zu stellende Aufgabe kann daher auch
dahin formuliert werden, dafs anzugeben sei, welche Änderungen
die bisherigen Aussagen unserer Mechanik erleiden müssen,
wenn unter den Massen, Koordinaten u. s. w. schlechthin nur
die sichtbaren Massen, Koordinaten u. s. w. verstanden werden.
6. Es ist klar, dafs die in der einen oder der anderen 598
Form gestellte Aufgabe nicht zu lösen ist ohne gewisse An-
gaben über den Einflufs, welchen die verborgenen Massen auf
die Bewegung der sichtbaren Massen ausüben. Solche An-
gaben aber sind möglich. Ein geleitetes System oder ein von
Kräften beeinflufstes System kann bereits als ein System mit
verborgenen Massen aufgefafst werden, indem man die un-
bekannten Massen des leitenden Systems oder des beein-
flussenden Systems als verborgene ansieht. Im allgemeinen
ist es indessen in diesen Fällen möglich, auch die Massen des
leitenden oder des Kräfte ausübenden Systems physikalisch zu
erkennen, und die Auffassung derselben als verborgener ist
alsdann eine freiwillige. Jetzt indessen fassen wir vorwiegend
solche Fälle ins Auge, in welchen die Erkenntnis der ver-
254 Zweites Buek.
borgenen Massen in der That durch keine physikalische Beob-
achtung möglich ist.
699 6. In sich zurücklaufende Bewegungen, also cyklische
Bewegungen, sind häufig verborgene Bewegungen, da sie, allein
bestehend, eine Änderung in der Massenyerteilung, also im
Anblick der Welt, nicht hervorrufen. So ist die Bewegung
einer homogenen Flüssigkeit in einem geschlossenen Gefäfse
für den Anblick eine verborgene; sie wird erst sichtbar ge-
macht, wenn ihr durch Einbringen von Staub oder dergleichen
die Eigenschaft der streng cyklischen Bewegung geraubt wird.
Umgekehrt sind verborgene Bewegungen fast stets cyklische
Bewegungen. Nicht in sich zurücklaufende Bewegungen fuhren
nämlich stets über kurz oder lang eine gröfsere Änderung in
der Massenverteilung, also im Anblick der Welt hervor und
werden dadurch sichtbar.
600 7. Auch cyklische Bewegungen können ihre Verborgenheit
nicht lange bewahren, sobald wir Mittel gewinnen, auf die
einzelnen cyklischen Koordinaten zu wirken und die cyklischen
Intensitäten beliebig abzuändern. Die Mannigfaltigkeit unseres
Einflusses auf das System ist in diesem Falle ebenso grofs
wie die wirkliche Mannigfaltigkeit des Systems, und wir können
von jener auf diese schliefsen. Anders aber verhält es sich,
wenn ein freiwilliger unmittelbarer Einflufs auf die cyklischen
Koordinaten dauernd ausgeschlossen ist. Dies kann eintreten
in adiabatischen cyklischen Systemen (560), und in diesen
werden wir daher vorzugsweise die für unsere Beobachtung
dauernd verborgenen Bewegungen zu suchen haben.
Auf solche Fälle beschränken wir daher zunächst die Be-
trachtung der verborgenen Bewegung. Unsere Behandlungsart
aber bringt es mit sich, dafs wir auch in diesen Fällen die
verborgene Bewegung so behandeln, als wäre sie sichtbar, und
erst nachträglich untersuchen, welche unserer Aussagen an-
wendbar bleiben trotz der nunmehr vorausgesetzten Ver-
borgenheit.
Konservative Systeme. 255
KonserTatlre Systeme.
Definition 1. Ein materielles System, welches keine an- 601
deren verborgenen Massen enthält, als solche, welche adiaba-
tische cyklische Systeme bilden, heilst ein konservatives System.
Der Name ist veranlafst durch eine Eigenschaft solcher
Systeme, welche später hervortreten wird; er ist zunächst
durch den Anschlufs an den feststehenden Gebrauch der Mecha-
nik genügend gerechtfertigt.
Anmerkung. Jedes konservative System kann betrachtet 602
werden als bestehend aus zwei Teilsystemen, von denen das
eine alle sichtbaren Massen, das andere alle verborgenen
Massen des ganzen Systems enthält. Die Koordinaten des
sichtbaren Teilsystems, also die sichtbaren Koordinaten des
ganzen Systems, sind zugleich die Parameter des verborgenen
Teilsystems.
Wir bezeichnen dauernd die Masse des sichtbaren Teil-
systems mit m, seine Koordinaten mit p^ , seine Momente nach
den Pq mit q^ . Die Masse des verborgenen Teilsystems werde
mit m bezeichnet, seine Koordinaten mit p^, seine Momente
nach diesen mit q^ .
Definition 2. Unter der Kräftefunktion eines konservativen 603
Systems verstehen wir die Kräftefunktion seines verborgenen
Teilsystems (563).
Die Kräftefunktion eines konservativen Systems ist also
im allgemeinen gegeben als Funktion der sichtbaren Koordi-
naten und konstanter Gröfsen, ohne dafs der Zusammenhang
dieser Konstanten mit den Momenten des cyklischen Teil-
systems offen gegeben sei. Die Form dieser Funktion ist
durch unsere Betrachtungen keiner Einschränkung unterworfen.
Wir bezeichnen die Kräftefunktion des konservativen Sy-
stems dauernd mit U.
Bemerkung. Damit die Bewegung der sichtbaren Massen 604
eines konservativen Systems vollständig bestimmt sei, genügt
es, dafs seine Kräftefunktion gegeben sei als Funktion seiner
sichtbaren Koordinaten, und es macht diese Angabe jede weitere
Angabe über die verborgenen Massen des Systems entbehrlich.
256 Zweites Buch.
Denn ans der Eräftefiinktion in der angegebenen Form
folgen vollständig die Kräfte, welche das verborgene Teilsystem
anf das sichtbare ausübt, und diese Kraft;e vertreten voll-
ständig den Einflnfs des ersteren auf das letztere (457 £P.).
605 Definition 3. Derjenige Teil der Energie eines konserva-
tiven Systems, welcher von der Bewegung seiner sichtbaren
Massen herrührt, heilst die kinetische Energie des ganzen
Systems. Im Gegensatz dazu wird die Energie der verborgenen
Massen die potentielle Energie des ganzen Systems genannt.
Die kinetische Energie wird auch wohl als lebendige Kraft
bezeichnet; nach einer anderen, älteren Redeweise wird das
Doppelte der kinetischen Energie mit diesem Namen belegt.
606 Bezeiclmung. Wir bezeichnen die kinetische Energie
dauernd mit T. T ist demnach eine homogene quadratische
Fimktion der p^ , mit gleichem Rechte der q^ ; die Koefßcienten
dieser Funktion sind Funktionen der pg . Mit d^T bezeichnen
wir das partielle Differential von T^ sobald wir die pg und die
pQ als unabhängig von einander veränderliche Variabele be-
trachten, mit dqT aber dann, wenn wir die p^ und die q^ als
unabhängig von einander veränderliche Variabele betrachten.
Die Energie des verborgenen cyklischen Teilsystems, also
die potentielle Energie des ganzen Systems, möge unter Bei-
behaltung einer bereits benutzten Bezeichnung (653) mit (£
bezeichnet werden.
607 Anmerkung. Die kinetische und die potentielle Energie
eines konservativen Systems unterscheiden sich von einander
nicht durch ihre Natur, sondern nur durch den freiwilligen
Standpunkt unserer Auffassung, oder die unfreiwillige Be-
schränkung unserer Kenntnis von den Massen des Systems.
Dieselbe Energie, welche bei einem gewissen Stand unserer
Auffassung oder unserer Kenntnis als potentielle zu bezeichnen
ist, ist bei verändertem Stand unserer Auffassung oder Kenntnis
als kinetische anzusprechen.
608 Folgerung 1. Die Energie eines konservativen Systems
ist gleich der Summe seiner kinetischen und seiner potentiellen
Energie.
Konservative Systeme, 257
Wir bezeichnen die Gesamtenergie des konservativen Sy-
stems dauernd mit E und haben alsdann:
Eolgenmg 2. In einem freien konservativen System ist 609
die Summe der potentiellen und der kinetischen Energie kon-
stant in der Zeit; die kinetische Energie wächst nur auf Kosten
der potentiellen, und umgekehrt (840).
Folgerung 3. In einem freien konservativen System ist 610
die Differenz zwischen kinetischer Energie und Kräftefunktion
konstant in der Zeit; kinetische Energie und Kräftefnnktion
nehmen gleichzeitig zu und ab und zwar um gleiche Beträge (566).
Definition 4. Die Differenz zwischen kinetischer Energie 611
und Kräftefunktion eines konservativen Systems nennen wir
die mathematische oder analytische Energie des Systems.
Wir bezeichnen die mathematische Energie dauernd mit ä.
Sie unterscheidet sich von der Energie des Systems nur durch
eine von Zeit und Lage des Systems unabhängige, im allge-
meinen aber unbekannte Konstante. Für die mathematische
Anwendung kann sie die Energie vollständig vertreten, es fehlt
ihr aber die physikalische Bedeutung, welche diese besitzt.
Anmerkung. Die Definition wird wiedergegeben durch 612
die Gleichung:
T-U^-h , a)
oder in anderer Schreibart:
ü+h^T . 1))
Ist das konservative System ein freies, so ist in dieser
Gleichung die Gröfse h eine von der Zeit unabhängige Kon-
stante, und die Gleichung wird alsdann auch wohl als die
Gleichung der Energie für das konservative System bezeichnet.
Aus b) und 608 leiten wir noch die Beziehung her:
ü+h = E--l^ . e)
Hertz, Mechanik. 17
258 Zweües Buch,
613 Definition 5. Das Zeitintegral der kinetischen Energie eines
Systems, genommen zwischen zwei bestimmten Zeiten als Grenzen,
wird die Wirkung oder der Kraftaufwand während der Zwischen-
zeit genannt.
Die Wirkung bei der Bewegung eines konservativen Sy-
stems während einer gegebenen Zeit wird also dargestellt
durch das Integral
^Tdt
!'■
genommen zwischen dem Anfangs- und dem Endwerte jener Zeit.
614 Anmerkung L Bezeichnet ds das Bahnelement des sicht-
baren Teilsystems, v die Geschwindigkeit desselben in seiner
Bahn, so kann die Wirkung auch dargestellt werden in der
Form des Integrals
\mjv
ds
genommen zwischen den Lagen, in welchen sich das System
zu Anfang und zu Ende der betrachteten Zeit befindet.
615 Anmerkung 2. Der Name „Wirkung" für das in Bede
stehende Integral ist oft als unpassend verurteilt worden. EiS
ist aber nicht wohl einzusehen, warum der von Jacobi vor-
geschlagene Name „Eraftaufwand" besser wäre, noch auch
was der ursprünglich von Maüpebtuis gewählte Ausdruck
„action" vor jenen voraushabe. Alle diese Benennungen er-
wecken Vorstellungen, welche mit dem benannten Gegenstande
nichts zu schaffen haben. Es ist auch schwer verständlich,
wie die Summation der zu verschiedenen Zeiten vorhandenen
Energieen etwas anderes liefern könne, als eine Bechnungsgröfse,
und es ist daher wohl nicht nur schwierig, sondern unmöglich,
für das in Bede stehende Integral eine passende Bezeichnung
von einfachem Sinne zu finden.
Auch die übrigen in diesem Abschnitt eingeführten Namen
und Bezeichnungen sind weniger durch die innere Zweck-
mäfsigkeit gerechtfertigt, als durch die Notwendigkeit, uns der
bestehenden Bedeweise der Mechanik so viel als möglich an-
zuschliefsen.
Konservative Systeme, 259
Differentialgleichungen der Bewegung.
Aufgabe. Die Differentialgleichungen der Bewegung eines 616
konservativen Systems aufzustellen.
Die Lösung der Aufgabe besteht nur in der Angabe der
Bewegungsgleichungen für das sichtbare Teilsystem. Die Masse
dieses Teilsystems ist m, seine Koordinaten sind die p^; es
seien die k Gleichungen:
r
^^Pxgdpg-^O a)
1
seine Bedingungsgleichungen. Da die pg zugleich die Para-
meter des verborgenen Teilsystems sind, so sind die Komponenten
der E[räfte, welche dieses auf das sichtbare Teilsystem ausübt,
gleich dU/dpg (563). Wirkt auf das sichtbare Teilsystem
durch Koppelung mit anderen sichtbaren Systemen noch eine
weitere Kraft, so mögen deren Komponenten Pg sein. Dann
sind die Bewegungsgleichungen des Systems nach 481:
i
fc ßTT
und diese r Gleichungen zusammen mit den k Gleichungen a)
reichen wieder aus zur eindeutigen Bestimmung der r+ÄGröfsen
pQ und P«.
Anmerkung 1. Ist das betrachtete konservative System 617
ein freies, wirkt also auf dasselbe keine äufsere Kraft, so sind
die Pq gleich Null, und die Bewegungsgleichungen haben die
Form:
1
^Pq
Anmerkung 2. Ist insbesondere die Koordinate pg eine 61S
freie Koordinate des sichtbaren Teilsystems, so nimmt die dem
Index Q zugehörige Bewegungsgleichung die Form an:
17*
^^
260 ZtoeUes Buch.
j, du
da die p^ alsdann sämtlich verschwinden.
619 Anmerkong 3. Indem wir in die Gleichungen 616 bis 618
für die Beschleunigungen nach den p^ ihre verschiedenen Aus-
drücke nach 291 einsetzen, erhalten wir 'f&r diese Gleichungen
eine Seihe verschiedener Formen, welche den Formen ent-
sprechen, welche wir für ein vollständig bekanntes System in
368 u. ff. erhalten haben.
620 Folgerung 1. Sind in einem holonomen konservativen
System die p^ sämtlich freie Koordinaten, und setzen wir zur
Abkürzimg:
so lassen sich die Bewegungsgleichungen des Systems dar-
stellen in der Form der 2r Gleichungen:
welche als ebensoviele Differentialgleichungen erster Ordnung
für die 2r Gröfsen p^ und q^ aufgefafst werden können, und
welche zusammen mit bestimmten Anfangswerten den Verlauf
dieser Gröfsen eindeutig bestimmen.
Denn setzen wir den Wert von L ein, entwickeln die
partiellen Differentialquotienten, und beachten, dafs U die p^
nicht enthält, dafs also
^=0 dpU^dü
dpQ ' dp^ dp^
ist, so erkennen wir, dafs die Gleichungen a) mit der aus den
Definitionen folgenden Beziehung der q^ und der pg zusammen-
fallen, die Gleichungen b) aber mit den Bewegungsgleichungen
in der Form 618. (289, 291)
Konservaäve Systeme, 261
Anmerkimg. Die Funktion Z, durch deren Benutzung die 621
Differentialgleichungen der Bewegung die einfache Form der
Gleichungen 620a und b annehmen, hat man bisweilen die
LAGtBANGE'sche Funktion des Systems genannt. Diese Funktion
besteht also nur in einem holonomen System, und sie ist hier
gleich der Differenz der kinetischen und der potentiellen
Energie, abgesehen von einer willkürlich bleibenden Eonstanten.
Eolgenmg 2. Sind in einem holonomen konservativen 622
System die p^ sämtlich freie Koordinaten, und setzen wir zur
Abkürzung:
so lassen sich die Bewegungsgleichungen des Systems dar-
stellen in der Form der 2r Gleichungen:
welche als ebensoviele Differentialgleichungen erster Ordnung
für die 2 r Gröfsen p^ und q^ aufeefafst werden können, und
welche zusammen mit bestimmten Anfangswerten den Verlauf
dieser Gröfsen eindeutig bestimmen.
Denn setzen wir den Wert von H ein, und beachten, dafs
U die q^ nicht enthält, dafs also:
ist, so sehen wir, dafs die Gleichungen a) die aus den Defi-
nitionen folgende Beziehung der q^ und der p^ darstellen,
während die Gleichungen b) mit den aus der Erfahrung ab-
geleiteten Bewegungsgleichungen (618) des Systems zusammen-
fallen. (290, 294)
Anmerkung. Die Funktion H, durch deren Benutzung die 62S
Differentialgleichungen der Bewegung die einfache Gestalt der
262 Zweites Buch.
Gleichungen 622a und b annehmen, hat man wohl die Ha-
MiLTON'sche Funktion des Systems genannt. Diese Funktion
besteht also nur für ein holonomes System, und sie ist für
ein solches gleich der Summe der kinetischen und der poten-
tiellen Energie, abgesehen von einer willkürlich bleibenden
Eonstanten; sie ist also auch gleich der Gesamtenergie des
Systems, von einer willkürlichen Konstanten abgesehen.
Allgemein ist es zulässig, für ein System mit beliebigen,
nicht notwendig cyklischen, verborgenen Bewegungen die Ha-
MiLTON'sche Funktion zu definieren durch die Gleichungen
622 a und h , nämlich als eine Funktion der sichtbaren p^
und qgj durch deren Benutzung (vorausgesetzt, dafs es eine
solche Funktion giebt) die Bewegungsgleichungen eben jene
einfache Form annehmen. Bei dieser allgemeineren Definition
ist die ELociLTON'sche Funktion nicht immer gleich der Summe
der kinetischen und der potentiellen Energie.
624 Bemerkung. Aus den Gleichungen 620 und 622 können
für ein System mit verborgenen Cykeln dieselben reciproken
Eigenschaften der Bewegung abgeleitet werden, welche wir für
ein vollständig bekanntes System in 378 und 381 abgeleitet
haben. Es ist aber diese neue Ableitung nicht erforderlich,
sondern es liegt schon im Wesen jener Beziehungen, dafs jede
von ihnen Gültigkeit hat unabhängig davon, ob die in ihnen
nicht vorkommenden Koordinaten, Momente, u. s. w. sichtbare
oder verborgene Koordinaten, Momente, u. s. w. sind.
Integralsätze für holonome Systeme.
625 Bemerkung 1. Das Integral
~~ dt
JiT-ü)
ist beim Übergang eines fireien holonomen Systems mit verbor-
genen adiabatischen Cykeln zwischen hinreichend benachbarten
Lagen und 1 kleiner für die natürliche Bewegung des Systems,
als für jede andere mögliche Bewegung, welche in der gleichen
KonservoHve Systeme. 263
Zeit sowohl die sichtbaren, als auch die verborgenen Koordi-
naten aus den Anfangswerten in die Endwerte überfuhrt.
Denn da T— Z7 gleich ist der Energie des Systems, vermehrt
um eine für alle möglichen Bewegungen gleiche Eonstante (611),
so ist die Bemerkung nichts anderes, als der Lehrsatz 358, aus-
gesagt unter Anwendung der gegenwärtigen Bezeichnung.
Anmerkung 1. Wird die Beschränkung auf hinreichend 626
benachbarte Endlagen weggelassen, so kann nur behauptet
werden, dafs die Variation des Integrals verschwindet beim
Übergang zu irgend einer anderen der in Betracht kommenden
Bewegungen. Unter Anwendung der Bezeichnung 590 nimmt
alsdann die Aussage die Form an, dafs
Spf{T-ü)dt=^0
sei beim Übergang von der natürlichen Bewegung zu irgend
einer anderen möglichen^ während die Variationen der Anfangs-
imd Endzeiten und der Anfangs- und Endwerte der sichtbaren
Koordinaten verschwinden. (Vergl. 859.)
Anmerkung 2. Die Bemerkung 1 unterscheidet die natür- 627
liehen Bewegimgen eindeutig von jeder anderen möglichen Be-
wegung, und sie kann daher dazu dienen, die natürliche Be-
wegung zu bestimmen, sobald es möglich ist, die Variation
der Anmerkung 1 wirkUch zu büden. Sind aber, wie wir es
ja voraussetzen, die cyklischen Koordinaten verborgene, so ist
die Bildung der Variationen der Form Sp nicht möglich, und
der Satz verliert daher nicht zwar seine Richtigkeit, wohl aber
seine Anwendbarkeit.
Lehrsatz 1. Das Integral 62S
j{T+U)dt
ist beim Übergang eines freien holonomen Systems mit ver-
borgenen adiabatischen Cykeln zwischeii hinreichend benach-
barten Lagen seiner sichtbaren Massen kleiner f&r die natttr-
264 Zweites Bueh.
liehe Bewegung, als für irgend eine andere mögliche Bewegung,
welche in der gleichen Zeit und mit denselben Momenten der
verborgenen cyUischen Bewegungen die sichtbaren Koordinaten
aus den gegebenen Anfangswerten in die gegebenen Endwerte
überführt.
Wir führen den Beweis, indem wir den Satz auf die Be-
merkung 625 zurückfähren. Wir ordnen deshalb, wie es nach
592 möglich ist, einer jeden nach den Ansprüchen des Lehr-
satzes variierten Bewegung eine zweite zu, bei welcher die
sichtbaren Koordinaten dieselbe Variation erleiden, bei welcher
aber die cyklischen Momente so variieren, dafs die Anfangs-
und Endwerte der cyklischen Koordinaten die ursprünglichen
bleiben. Eine Variation beim Übergang zu einer Bewegung
der ersten Art haben wir nach 590 mit S^ , eine Variation zu
der entsprechenden Bewegung zweiter Art mit Sp zu bezeichnen.
Nun ist erstens, da T nur von den sichtbaren Koordi-
naten abhängt:
») Sc^fTdt^SpfTdt .
Zweitens ist, da die Dauer der Bewegung nicht variiert
wird und -^ U sich nur durch eine Konstante von der Energie
der cykHschen Bewegung unterscheidet (566), zufolge von 593:
b) sSUdt-^ -Spfüdt .
Durch Addition von a) und b) ergiebt sich:
c) sJ{T+ü)dt^dpf{T-ü)dt .
Die rechts stehende Variation aber hat (626, 625) für die
natürliche Bewegung stets einen verschwindenden und fiir hin-
reichend benachbarte Endlagen notwendig negativen Wert, also
auch die links stehende Variation. Das links stehende Integral
selbst hat also für die natürliche Bewegung und hinreichend be-
nachbarte Endlagen einen Minimalwert, welches die Behauptung ist.
629 Anmerkung 1. Wird die Beschränkung auf hinreichend
benachbarte Lagen weggelassen, so kann nur noch behauptet
Konservative Systeme. 265
werden, dafs die Variation des Integrales verschwindet. Der
analytische Ausdruck dieser Behauptung ist in unserer Bezeich-
nungsweise (im Gegensatz zu der Aussage von 626):
sJ{T+ü)dt = .
Anmerkung 2. Die in dem Lehrsatz ausgesprochene 630
Eigenschaft der natürlichen Bewegung unterscheidet dieselbe
eindeutig von jeder anderen möglichen Bewegung. Die Varia-
tion dq kann gebildet werden, obwohl die cyklischen Bewegungen
als verborgene angesehen sind, denn ihre Bildung erfordert
nur, dafs man die in der Eräftefunktion vorkommenden Kon-
stanten unvariiert lasse. Der Lehrsatz kann deshalb benutzt
werden zur Bestimmung der natürlichen Bewegung konserva-
tiver Systeme. Seine Gültigkeit ist allerdings streng beschränkt
auf holonome Systeme.
Anmerkung 3. Der vorstehende Lehrsatz, benutzt in der 631
Auffassung der Anmerkung 2, führt den Namen des Hamil-
ton' sehen Prinzips. Seine physikalische Bedeutung kann nach
unserer Anschauung keine andere sein, als die des Lehrsatzes
358, aus welchem wir das Prinzip hergeleitet haben. Das
Prinzip selbst stellt die Umformung dar, welche wir jenem
Satze 358 geben müssen, damit er trotz unserer Unkenntnis
der Einzelheiten der cyklischen Bewegung zur Bestimmung der
Bewegung des sichtbaren Systems anwendbar bleibe.
Bemerkung 2. Bezeichnen wir mit ds das Bahnelement 632
der sichtbaren Massen eines freien holonomen Systems, welches
verborgene adiabatische Gykeln enthält, so ist das Litegral
1
/
fÜ+h
beim Übergang zwischen hinreichend benachbarten Lagen
und 1 kleiner f&r die natürlichen Bahnen des Systems, als für
irgend welche andere mögliche Bahnen, welche sowohl die
266 Zweites Buch.
Werte der sichtbaren, als auch die Werte der cyklisclien Ko-
ordinaten ans den gegebenen Anfangswerten in die gegebenen
Endwerte überfllbren. Die Grölse k ist dabei als eine toh einer
natürlichen Bahn zur anderen wechselnde, Übrigens Gü alle
jedesmal verglichenen Bahnen gleiche Konstante za betrachten.
Denn fuhren wir die Zeit als Hülfsgröfse ein und machen
dabei die willkürliche aber znläasige Annahme, das System
durchlaufe die betrachteten Bahnen mit konstanter Geschwin-
digkeit, and zwar mit solcher Geschwindigkeit, daTs die Kon-
stante h den Wert der analytischen Energie bezeichnet, so ist:
also das betrachtete Integral gleich:
m^'
Das Integral ist also, von dem Faktor abgesehen, gleich
der Zeitdauer des Überganges. Diese ist aber nach 352 als
Folge von 847 fUr gegebenen Wert der Energie, also der Kon-
stanten h, ein Mi mT" ""!. Unsere Bemerkung ist demnach
nichts anderes, als der Inhalt des Lehrsatzes 352, ausgesagt
anter Benutzung der inzwischen eingeführten Bezeichnungen.
I Anmorknng I. Wird die Beschränkung auf hinreichend
benachbarte Lagen fortgelassen, so kann nur noch das Ver-
sdiwinden einer Variation behauptet werden (353); welche Aus-
sage in unserer Bezeichnung in der Form darzustellen ist:
Dg 2. Dnrch die Eigenschaft, welche die Be-
issagt, sind die natürlichen Bahnen, welche den
Werten der Konstanten h entsprechen, eindeutig
vor jeder anderen möglichen Bahn, und der Lehr-
Konservative Systeme, 267
satz kann daher zur Bestimmung der natürlichen Bahnen des
Systems dienen, sobald es möglich ist, die Variation Sp zu
bilden. Sind aber, wie wir voraussetzen, die Einzelheiten der
cyklischen Bewegung verborgen, so ist diese Büdung nicht
möglich, und die Bemerkung verliert daher nicht zwar ihre
Richtigkeit, wohl aber ihre Anwendbarkeit zu dem beregten
Zwecke.
Lehrsatz 2*). Beim Übergang eines freien holonomen Sy- 635
stems, welches verborgene adiabatische Cykeln enthält^ zwischen
zwei hinreichend benachbarten Lagen und 1 der sichtbaren
Massen, ist das Integral
X
/
yu+h de
kleiner für die natürlichen Bahnen, als fiir irgend welche an-
dere mögliche Bahnen, welche mit denselben Werten der
verborgenen cyklischen Momente und der Konstanten h die
sichtbaren Koordinaten aus den gegebenen Anfangswerten in
die gegebenen Elndwerte überfahren.
Wir führen wiederum den Beweis des Satzes, indem wir
ihn auf die vorangegangene Bemerkung (632) zurückfiihren.
Zu dem Ende benutzen wir wieder die Zeit als Hülfsgrösse,
indem wir die willkürliche aber zulässige Annahme machen,
dass das System die betrachteten Bahnen mit konstanter und
solcher Geschwindigkeit durchlaufe, dass die Konstante h gleich
der mathematischen Energie wird. Es lässt sich dann das In-
tegral, von dem der Lehrsatz handelt, schreiben in der Form:
l/^/(^^+^)
dt
Femer ordnen wir wieder, wie es nach 592 zulässig ist,
einer jeden nach der Yorschrift des Lehrsatzes variierten Be-
wegung eine zweite zu, bei welcher die sichtbaren Koordinaten
dieselbe Variation erleiden, für welche auch die Konstante h,
* Mit dem Originale übereinstimmender Abdruck. — Der Herausgeber.
268 ZweUes Buch.
(635) und also auch die Energie B ihren Wert behält, bei welcher
aber die cyldischen Momente so variieren, dass die Anfangs-
und Endwerte der cyklischen Koordinaten die ursprünglichen
bleiben. Eine Variation, wie sie den Ansprüchen des Lehr-
satzes entspricht, bezeichnen wir wieder mit dq , eine Variation
zu der entsprechenden zweiten Bewegung mit Sp.
Nun ist erstens für beliebige Variationen 3qg der cyldi-
schen Momente q^ (566):
dj{ U+h) dt = sj{ U+h) dt + 2^ r^ö ^q^ dt
=- S^f{U+h) dt -- ^^e ^g Sq^ ,
also im besonderen für eine Variation Spi
a) sJ(U+h)dt = sJ{ü+h)dt - ^^^l^qS^^g .
Zweitens erhalten wir aus Gleichung 612 c unter Berück-
sichtigung der Beziehung 588 und der Eonstanz Yon E:
also durch eine Variation der Art 8p :
k) hj{ U+h) dt^ESp (<i-0 - i 2^ ?? ^P ^Q •
Durch Subtraktion von a) und b) ergiebt sich:
c) dJ{ü+h)df=:ESp(t^-to) ,
oder indem wir mit Hülfe von 682 a die Zeit wieder elimi-
nieren:
1 1
d) S,f^fTf+h ds = ^^p/y= .
KonservcUive Systeme. 269
Die rechts stehende Variation aber hat nach 632 für die
natürliche Bewegung stets einen verschwindenden und für hin-
reichend benachbarte Endlagen negativen Wert, also, da H
notwendig positiv ist, auch die links stehende Variation.
Das links stehende Integral selbst hat also für die natürliche
Bewegung und hinreichend benachbarte Endlagen einen Mi-
nimalwert, welches die Behauptung ist.
Anmerkung 1. Wird die Beschränkung auf hinreichend 636
benachbarte Lagen weggelassen, so kann nur noch behauptet
werden, dafs die Variation des Integrales verschwindet. Der
analytische Ausdruck dieser Behauptung ist in unserer Be-
zeichnungsweise (im Gegensatz zu 633):
1
SqfMU+hd8=-0 .
Anmerkung 2. Für jeden Wert der Eonstanten h zeichnet 637
der Lehrsatz eine natürliche Bahn in eindeutiger Weise aus
vor jeder anderen möglichen Bahn. Die Eigenschaft der
natürlichen Bahnen, welche der Lehrsatz aussagt, kann daher
benutzt werden zur Bestimmung dieser Bahnen; und zwar
kann sie benutzt werden, obwohl die cyklischen Bewegungen
als verborgene vorausgesetzt sind.
Denn die Bildung der Variation S^ erfordert nur, dafs
man die in der Eräftefunktion vorkommenden Konstanten
unvariiert lasse; die Variation kann also gebildet werden trotz
Unkenntnis der Einzelheiten der cyklischen Bewegung.
Anmerkung 3. Der Lehrsatz 2, benutzt in der Auffassung 638
der Anmerkung 2, ist die jACOBi'sche Form des Prinzips der
kleinsten Wirkung. Denn nennen wir für den Augenblick rriy
jdie Masse des v ten der sichtbaren n Punkte des Systems, dsy
das Element der Bahn dieses Punktes, so ist
n
m ds^ = ^y rifiy dsl ,
1
und also das Integral, für welches wir einen Minimalwert
feststellten, bis auf einen Faktor:
270 Zweites Buch.
fVü+h]/^r
mvdsi
welches, wiederum bis auf einen konstanten Faktor, das
jACOBi'sche Integral ist.
Die physikalische Bedeutung des JAOOBi'schen Prinzipes
kann nach unserer Auffassung keine andere sein, als die des
Lehrsatzes 352, bez. 347, aus welchem es abgeleitet ist; es
stellt die Umformung dar, welche wir jenem Satze geben
müssen, damit er trotz vorhandener Unkenntnis der Elinzel-
heiten der cyklischen Bewegungen zur Bestimmung der Be-
wegung des sichtbaren Systems anwendbar bleibe. Die Gültig-
keit auch des jACOBi'schen Satzes erstreckt sich nur auf ho-
lonome Systeme.
639 Lehrsatz 3. Beim Übergang eines freien holonomen kon-
servativen Systems zwischen hinreichend benachbarten Lagen
ist das Zeitintegral der kinetischen Energie kleiner f&r die
natürliche Bewegung, als fiir jede andere mögliche Bewegung,
welche das System von den gegebenen Anfangswerten zu den
Endwerten der sichtbaren Koordinaten überfuhrt, und welche
mit demselben gegebenen, in der Zeit konstanten Werte der
mathematischen Energie ausgeführt wird.
Denn nennen wir h den gegebenen Wert der mathe-
matischen Energie, so ist für alle in Betracht kommenden
Bahnen (611)
also ist das Litegral, von welchem der Satz handelt, nämlich
(TM
bis auf einen konstanten Faktor dasselbe Integral, von wel-
chem der Lehrsatz 2 handelt; der gegenwärtige Satz ist daher
nur eine andere Form, den Lihalt jenes Lehrsatzes auszusagen.
Die zu dem Lehrsatz 2 gemachten Anmerkungen 1 und 2
finden daher auch hier sinnentsprechende Anwendung.
KonservaHve Systeme. 271
Anmerknng, Der Lehrsatz 639 giebt die ursprüngliche 640
MAUPEBTüis'sche Form des Prinzips der kleinsten Wirkung.
Diese Form hat vor der jAOOBi'schen den Vorzug, dafs sie
sich in einfachen Worten aussprechen läfst und daher einen
einfachen physikalischen Sinn zu enthalten scheint. Sie hat
aber gegenüber der Jaoobi' sehen Form den Nachtheil, dafs
sie unnötigerweise die Zeit enthält, obwohl doch die eigent-
liche Aussage nur die Bahn des Systems bestimmt, nicht die
Bewegung in dieser, und obwohl diese Bewegung viehnehr nur
durch die hinzugefügte Bemerkung bestimmt ist, dafs überhaupt
nur Bewegungen mit konstanter Energie in Betracht gezogen
werden sollen.
Bückblick auf 625 bis 640.
1. Nach den Ergebnissen unserer Überlegung nimmt für 641
die natürliche Bewegung eines freien konservativen Systems
ein jedes der Integrale:
dt
J{T-^U)dt , J(T+Ü)
fTdt ,
unter bestimmten Verhältnissen einen ausgezeichneten Wert
an. Dabei beziehen sich die beiden oberen Integrale auf die
Bewegung des Systems, die übrigen in Wahrheit nur auf die
Bahn desselben. Die beiden links stehenden Integrale be-
ziehen sich auf den Fall, dafs alle, auch die cyklischen Ko-
ordinaten des Systems in Betracht gezogen werden, und dafs
nur solche Lagen des Systems als gleiche gelten, bei welchen
auch die letzteren Koordinaten die gleichen Werte haben.
Die übrigen Integrale beziehen sich auf den Fall, dafs die
cyklischen Koordinaten des Systems verborgen sind, und dafs
schon solche Lagen des Systems als gleich gelten, bei welchen
die sichtbaren Koordinaten gleiche Werte haben. Die Be-
traohtung des letzten Integrals setzt die Gültigkeit des Prin-
zips von der Erhaltung der Energie als zugestanden voraus;
272 Zweites Buch.
die Betrachtung der beiden obersten Integrale läfst diese Gültig-
keit folgen; die Betrachtang der beiden mittleren Integrale
kann von dieser Gültigkeit unabhängig gehalten werden.
6^2 2. Die physikalische Bedeutung der beiden links stehen-
den Integrale ist eine äufserst einfache; die sie betreffenden
Aussagen sind unmittelbare Ausflüsse des Grundgesetzes. Die
rechts stehenden Integrale haben die einfache physikalische
Bedeutung verloren; aber die Aussage, dafs sie f&r die natür-
liche Bewegung ausgezeichnete Werte annehmen, stellt immer
noch eine, wenn auch verwickelte und xmdurchsichtige Form
des Grundgesetzes dar. Verwickelt und undurchsichtig ist
aber die Form des Grundgesetzes hier deshalb geworden, weil
das Gesetz verwickelten und undurchsichtigen Voraussetzungen
angepafst ist. Die Aussage, welche sich auf das untere In-
tegral bezieht, hat den trügerischen Schein einer selbständigen,
einfachen physikalischen Bedeutung.
Unser Beweisverfahren war nicht darauf berechnet, mög-
lichst einfach zu sein, sondern darauf den obigen Zusammen-
hang möglichst deutlich hervortreten zu lassen.
643 3. Dafs die Natur nicht darauf eingerichtet ist, dafs das
eine oder das andere jener Integrale ein Minimum werde, geht
erstens daraus hervor, dafs schon in holonomen Systemen bei
ausgedehnterer Bewegung das Minimum im allgemeinen nicht
eintritt, und zweitens daraus, dafs es natürliche Systeme giebt,
für welche das Minimum niemals eintritt, und für welche nicht
einmal die Variation jener Integrale verschwindet. Ein um-
fassender Ausdruck für die Gesetze der natürlichen Bewegung
kann daher auch an keines jener Integrale angeknüpft wer-
den, und hieraus nahmen wir auch das Recht her, den Schein
einfacher Bedeutung desletztenintegrales für trügerisch zu halten.
Endliche Bewegungsgleichungen für holonome Systeme.
e44 Bemerkung 1. Bezeichnen wir mit V den Wert des
Integrales
1
^ r ds
Konservative Systeme. 273
genommen über die natürliche Bahn zwischen zwei Wert-
systemen aller Koordinaten eines freien holonomen Systems
mit adiabatischen Gykeln, und gedacht als Funktion der An-
fangs- und Endwerte jener Koordinaten, also der p^ , p^ und
der pQ^, pg^, und der Grösse A, so stellt der Ausdruck
v/.
2U
m+m
die geradeste Entfernung des Systems dar. Die Bezeichnung
ist dabei dieselbe, welche wir bisher in diesem Abschnitt be-
nutzt haben.
Denn nach 632 ist V gleich der Zeitdauer des natür-
liehen Übergangs zwischen den gegebenen Lagen für die
mathematische Energie h. Ist also S die geradeste Entfernung
beider Lagen, so ist
2 V"«^**M T^a
^ = i(m+m)^
woraus die Behauptung folgt.
Folgerung. Mit Hülfe der Funktion F lassen sich die 645
natürlichen Bahnen des betrachteten Systems in geschlossener
Form darstellen.
Denn bezeichnen wir wie bisher mit ds das Bahnelement
des sichtbaren Teilsystems, weiter mit d& das Bahnelement
des cyklischen Teilsystems und mit da das Bahnelement des
YoUständigen Systems, so ist
(m+m) dtr^ =^md8^ + m d^ , a)
also (57) bei der bisher benutzten Bezeichnung:
r r U r
Sind also schliefslich noch G^p^ und a^p^ die Winkel, welche
die Bahn des ganzen Systems mit den Koprdinaten j?^ und p^
des ganzen Systems büdet, so werden die Gleichungen der
Hertz, Mechanik. 18
274 Zweites BuOi.
natürlichen Bahnen zufolge von 224 and 226, nach Division
heider Seiten durch einen konstanten Faktor, erhalten in
der Form:
e) Va^^. cos ö^^ = K ir äp^
t) Vo^ cos a,^),, = -]/-— ,
und diese Gleichungen lassen sich auf je zwei Weisen so
interpretieren, dafs sie die Gleichungen der natürlichen Bahnen
als Differentialgleichungen erster Ordnung oder auch in end-
licher Form angeben.
646 Anmerkung. Die vorstehenden Gleichungen c) bis f) sind
richtig in jedem Falle, ob nun die cyklischen Koordinaten als
beobachtbare oder als dauernd verborgene angesehen werden;
aber jene Gleichungen verlieren ihre Anwendbarkeit, sobald
das letztere vorausgesetzt wird. Denn alsdann ist der voll-
ständige Ausdruck von V nicht bekannt, und die Gleichungen
lassen sich nicht entwickelt hinschreiben.
647 Aufgabe 1. Die vorstehenden Bewegungsgleichungen eines
freien holonomen Systems so umzuformen, dafs sie ihre An-
wendbarkeit behalten, auch wenn die cyklischen Bewegungen
des Systems als verborgene gelten.
Wir bezeichnen mit F den Wert des Integrales
j.
d8
genommen über die natürliche Bahn zwischen irgend zwei
Wertsystemen der sichtbaren Koordinaten. Bei Bestimmung
dieser natürlichen Bahn wollen wir die in der Kräftefunktion
Konservative Systeme, 275
Yorkommenden cyklischen Momente als unveränderliche Eon- (647)
stanten ansehen, und V soll also gedacht werden als Funk-
tion der Anfangs- und Endwerte allein der sichtbaren Koordi-
naten und der Konstanten h. Nach 685 d ist nun beim Über-
gang von einer natürlichen Bahn zu einer anderen mit be-
liebig variierten sichtbaren Koordinaten:
Sc^y2^ JVü+h ds = 2ESp]/^f-
ds
U+h
also ist auch insbesondere beim Übergang von einer natür-
lichen zu einer beliebigen benachl)arten natürlichen Bahn:
Sc^V-=^2EdpV , *b)
also ist:
^Pe. ^P.
eo
Mit Hülfe dieser Gleichungen können wir die cyklischen
Koordinaten aus den rechten Seiten der Gleichungeü 646 c
und d fortschaffen. Was die linken Seiten anlangt, so haben
wir die Winkel (t,Pq zu ersetzen durch die s,Pq. Nun haben
wir nach 645 b (75):
^^V^döcosü,p, = 2"^ Vi»-
und femer aus den beiden Gleichungen
r+Ä=r=|mg und
dff*
4)
«)
^=i(m+m)^
18'
276 Zweites Buch.
durch Division:
o *-l^l/S*
also aus d) und f):
g) cos a,;)^ = y -^ cos «,;>^
Indem wir nun das Ergebnis c) in die rechten, das Er-
gebnis gr) in die linken Seiten der umzuformenden Gleichungen
einsetzen, erhalten wir die Gleichungen:
Va^, cos 8,pg^ =
1 ar
pm{U+h\dp,,
pm{U+hXdp^ '
welches die gesuchten Umformungen sind. Denn sie enthalten
keine Gröfsen mehr, welche sich auf das verborgene Teil-
system beziehen, und sie lassen sich auf je zwei Weisen so
interpretieren, dafs sie die natürlichen Bahnen des sichtbaren
Teilsystems als Differentialgleichungen erster Ordnung oder
auch in endlicher Form angeben.
64S Anmerkung 1. Die Funktion F enthält nicht die Zeit und
giebt auch nur die natürlichen Bahnen des Systems, nicht
aber die Bewegung des Systems in diesen Bahnen. Da aber
die natürlichen Bahnen mit gleichbleibender Geschwindigkeit
durchlaufen werden, und da wir bereits der in F vorkommen-
den Eonstanten h die Bedeutung der analytischen Energie bei-
legten, so ist es leicht, die Zeit als unabhängige Variabele in
die Gleichungen einzuführen. Zunächst ist die Verknüpfung
der Zeit mit der bisher als unabhängige Variabele benutz-
ten Weglänge gegeben durch die Gleichung:
dh V 2J yjj+h
*> ^ = y^J]^^ ^k-k
Konservative Systmie. 277
Sodann erhalten wir durch Multiplikation der Gleichungen
647 h mit
y2m{U+h) = y2mT = m^ ,
and Beachtung von 75 und 270:
dF
Endlich erhalten wir ftir den Wert der Funktion selbst:
-/
Tdt . d)
Der Form nach sind diese Gleichungen weit einfacher als
die Gleichungen der vorangegangenen Aufgabe, aber jene
Gleichungen haben den Vorzug, eine unabhängige Variabele
weniger zu enthalten.
Anmerkung 2. Die E\mktion F ist diejenige Funktion, 649
welche von Hamilton mit dem gleichen Buchstaben bezeichnet
und die charakteristische Funktion des konservativen Systems
genannt worden ist. Diese Aussage steht im Einklang mit
der Aussage 412, denn unter der dort gemachten Voraussetz-
ung, dafs alle Koordinaten sichtbare seien, geht die jetzt mit
F bezeichnete Funktion in die dort mit dem gleichen Buch-
staben bezeichnete Funktion über.
Übrigens erhellt, dafs die charakteristische Funktion eines
Systems nach der jetzt erweiterten Definition eine ßechnungs-
gröfse ohne physikalische Bedeutung ist. Denn je nachdem
wir gröfsere oder kleinere Teile der cyklischen Bewegungen
als verborgene behandeln, können wir für dasselbe System
verschiedene charakteristische Funktionen aufstellen, welche
den gleichen analytischen Dienst leisten, aber fiir identische
Übergänge des Systems verschiedene Werte besitzen.
278 Zweües Buch.
650 Lehrsatz. Die charakteristische Funktion F eines kon-
servativen Systems genügt den beiden partiellen Differential-
gleichungen erster Ordnung:
h.2^irh''^'^'^^-(^+^)^
welche den Differentialgleichungen 227 für die geradeste Ent-
fernung entsprechen.
Denn diese Gleichungen werden erhalten durch Einsetzen
der Bichtungscosinus aus den Gleichungen 647 li in die Glei-
chung SSj welcher diese Bichtungscosinus genügen.
651 Bemerkung 2. Bezeichnen wir mit P' den Wert des In-
tegrales
J{T^Ü)
dt
genommen über die natürliche Bewegung zwischen zwei Wert-
systemen der sämtlichen Koordinaten eines freien holonomen
Systems mit adiabatischen Cykeln und gedacht als Funktion
dieser Werte und der Zeitdauer des Übergang^ so unter-
scheidet sich P' von der Prinzipalfunktion des Systems (415)
nur um das Produkt der Zeitdauer des Übergangs in eine
(unbekannte) Eonstante.
Denn es unterscheidet sich T—U von der Energie des
Systems nur um eine (unbekannte) Eonstante.
652 Folgerung. Mit Hülfe der Funktion P' lassen sich die
natürlichen Bewegungen des Systems in geschlossener Form
darstellen.
In der That hindert der Unterschied zwischen P' und der
in 415 definierten Prinzipalfunktion nicht die unmittelbare
Anwendung der Gleichungen 414b und c, so dafs wir als Be-
wegungsgleichungen erhalten:
Konservative Systeme. 279
dF
1»)
9?.=
öpft
>
?p.=
>
% =
aP'
>
rt. =
öP'
e)
Dagegen erfordert die Gleichung 414d eine leichte Abändemng;
an ihrer Stelle wird erhalten:
, dF dF
^^=-5^ = 0^ • «>
Amnerkimg. Die vorstehenden Gleichungen a) bis d) sind 653
richtig in jedem Falle, ob nun alle Koordinaten in Wahrheit
beobachtbar sind oder ob nicht, aber jene Gleichungen ver-
lieren ihre Anwendbarkeit, sobald die cyklischen Bewegungen
des Systems als verborgene behandelt werden.
Aufgabe 2. Die vorstehenden Bewegungsgleichungen 654
eines freien holonomen Systems so umzuformen, dafs sie ihre
Anwendbarkeit behalten, auch wenn die cyklischen Bewegungen
des Systems als verborgene gelten.
Wir bezeichnen mit P den Wert des Integrales
J{T+Ü)dt
genommen für die natürliche Bewegung zwischen zwei zu den
Zeiten t^ und ^ stattfindenden Wertsystemen der sichtbaren
Koordinaten. Bei Bestimmung dieser natürlichen Bewegung
sollen die in den Konstanten der Kräftefunktion enthaltenen
cyklischen Momente als unabänderHch angesehen werden, und
P soll also gedacht sein als Funktion allein der Anfangs- und
Endwerte der sichtbaren Koordinaten und der Zeiten t^ und fj .
280 Zweites Buch.
t«
Nun gilt nach 628 e beim Übergang von einer natürlichen
Bewegung zu einer beliebigen benachbarten Bewegung von
gleicher Dauer die Gleichung:
Sc^f{T+U)dt^dpf{T-ü)dt .
Wenden wir diese Gleichung an auf den Übergang von einer
natürlichen Bewegung zu einer benachbarten natürlichen Be-
wegung von gleicher Dauer, so Uefert sie uns:
dqP = SpP" ,
also:
dP _dP' dP _ dP'
Mit Hülfe dieser Gleichungen entfernen wir die verborgenen
Koordinaten aus den rechten Seiten der Gleichungen 652. Was
die linken Seiten anlangt, so genügt die Bemerkung, dafs das
Moment q^ des gesamten Systems nach seiner Koordinate p^
zugleich das Moment des sichtbaren Teilsystems nach der
Gröfse Pq als Koordinate dieses Teilsystems ist. Wir erhalten
demnach als Bewegungsgleichungen des sichtbaren Teilsystems:
dP
*) 9^0 =
dP
welches die gesuchten Umformungen sind.
655 Anmerkung 1. Die jetzt von uns eingeführte Funktion P
ist diejenige Funktion, welche von Hamilton mit dem Buch-
staben 8 bezeichnet und die Prinzipalfimktion des konserva-
tiven Systems genannt worden ist. Diese Aussage steht im
Einklang mit der Aussage 415, denn unter der dort gemachten
Voraussetzung, dafs alle Koordinaten sichtbare seien, geht die
jetzt mit P bezeichnete Funktion in die dort mit dem gleichen
Buchstaben belegte Funktion über.
Konservative Systeme. 281
Anmerkung 2. Der Wert der Prinzipalfanktion für einen 656
bestimmten Übergang hängt mit dem der charakteristischen
Funktion in einfacher Weise zusammen. Durch einfache
Umformung wird nämlich erhalten:
f{T+ü)dt^f{2U+h)dt
1 1
hds
ü+h
Also ist (647, 644):
F=^V^h{t,^to) , a)
wobei wir uns in der rechten Seite, in F\mä im zweiten Sum-
manden, die Gröfse h als Funktion von t^—t^ und der p^ und
Pq^ eingesetzt zu denken haben.
Umgekehrt ist also auch
F=P+Ä(<i-g , b)
wobei wir uns in der rechten Seite, in P und im zweiten Sum-
manden, die Gröfse t^—t^ als Funktion von k und der p^^ und
p^^ eingesetzt zu denken haben.
Anmerkung 3. Die analytische Energie h kommt in der 657
Prinzipalfunktion nicht vor. Doch kann sie aus derselben mit
Hülfe der Gleichungen 654 a,b, 286 c und 612 a mittelbar ab-
geleitet werden. Sie kann aber auch unmittelbar durch P
ausgedrückt werden. Denn ändern wir in der rechten Seite
der Gleichung 656 a nicht die pg^ und /?^, sondern nur ^^
und tQ, und bezeichnen mit dh die damit notwendig verbundene
Änderung von ä, so folgt:
dF
dP^^dh-h d{t^-Q - {t^-Q dh ,
also nach 648 a:
dP^ -h d{t^-'Q ,
282 Zweites Buch.
woraus folgt:
658 LehTBatz. Die Prinzipalfunktion P eines konseryativen
Systems genügt den beiden partiellen Differentialgleichnngen
erster Ordnung:
1 — f, ** qP qP qP
1 ^^ , dP dP dP_ J.J.
welche den Differentialgleichungen 227 für die geradeste Ent-
fernung entsprechen.
Denn diese Gleichungen werden erhalten, wenn man die
analytische Energie h das eine Mal direkt mit Hülfe von 657,
das andere Mal indirekt mit Hülfe von 612 a und 654 a, b durch
die Differentialquotienten von F ausdrückt.
EückbUck auf 644 bis 658.
659 1. In den Nummern 644 bis 658 sind vier endliche Dar-
stellungen der Bewegung eines holonomen Systems mit adiaba-
tischen Cykeln gegeben. In der ersten und dritten Darstellung
waren alle Koordinaten des Systems als beobachtbare an-
gesehen, in der zweiten und vierten Darstellung waren die
cyklischen Koordinaten als verborgene behandelt. Die erste
und zweite Darstellung, welche auf die charakteristische Funk-
tion führte, gab im Grunde nur die Bahn des Systems und
entsprach dem Prinzip der kleinsten Wirkung. Die dritte und
vierte Darstellung, welche auf die Prinzipalfunktion führte, gab
vollständig die Bewegung und entsprach dem HAMiLTON'schen
' Prinzip.
660 2. Alle vier Darstellungen haben denselben einfachen
physikalischen Sinn und für alle ist der Grund der mathema-
tischen Verwickelung derselbe. Der einfache physikalische
Nicht'konservaiive Systeme. 283
Sinn bestellt in der Thatsache, dafs die natürlichen Bahnen
stets geradeste Bahnen sind, und in dem rein geometrischen
Znsammenhange dieser Bahnen mit der geradesten Entfernung
in holonomen Systemen. Der Grund der mathematischen Ver-
wickelung aber besteht darin, dafs wir nicht stets alle wesent-
lichen Bestimmungsstücke der Bewegung gleichmäfsig behan-
delten, sondern einige derselben als verborgene eliminierten.
Wir können auch sagen, die üngleichmäfsigkeit bestehe darin,
dafs wir fiir einige Koordinaten die Anfangs- und Endwerte,
für andere Koordinaten die Anfangsgeschwindigkeiten als Be-
stimmungsstücke einführten. Unsere Ableitungsweise war nicht
darauf berechnet, möglichst einfach zu sein, sondern darauf,
dies Verhältnis möglichst deutlich hervortreten zu lassen.
3. Man kann weitere Darstellungen der Bewegung eines 661
holonomen Systems geben, indem man weitere Koordinaten
eliminiert, oder indem man auch für die sichtbaren Koordi-
naten nicht die Anfangs- und End werte, sondern andere Gröfsen
als Bestimmungsstücke einfuhrt, oder indem man von den
partiellen Diflferentialgleichungen 650 oder 658 ausgeht, in ähn-
licher Weise, wie dies für die geradeste Entfernung in 282 u. ff.
geschehen ist. Solche Darstellungen können in besonderen
Fällen mathematische Vorteile bieten, wie Jacobi in um-
fassender Weise gezeigt hat. Je mehr man aber in dieser
Richtung fortschreitet, desto mehr verbirgt sich der physika-
lische Sinn der Operationen hinter deren mathematischer Form,
desto mehr nehmen die benutzten Funktionen den Charakter
von Hülfskonstruktionen an, welchen es nicht mehr möglich
ist, eine physikalische Bedeutung beizulegen.
Nlcht-konservatlTe Systeme.
Erläuterungen und Bemerkungen.
1. Enthält ein materielles System keine anderen ver- 662
borgenen Massen, als solche, welche in adiabatischer cyklischer
Bewegung begriffen sind, so ist es bei freier Verfügung über
die sichtbaren Koordinaten jederzeit möglich, Energie, welche
in die Energie der verborgenen Massen übergegangen ist, in
284 Zweites Buch.
die Energie der sichtbaren Massen zuriickznverwandeln. Die
einmal im System vorhandene sichtbare Energie kann also
dauernd als sichtbare Energie erhalten bleiben.
Dies ist die Eigenschaft, auf Grund deren wir solche Sy-
steme als konservative bezeichneten. Aus dem gleichen Grunde
bezeichnen wir die von den verborgenen Massen solcher Sy-
steme ausgeübten Kräfte als konservative Kräfte.
663 2. Im Gegensatz dazu werden solche Systeme, bei welchen
die freie Verfügung über die sichtbaren Koordinaten nicht
ausreicht, verborgene Energie jederzeit in sichtbare zurück-
zuverwandeln, als nicht-konservative Systeme, und die Kräfte
der verborgenen Massen solcher Systeme als nicht-konservative
Kräfte bezeichnet. Nicht-konservative Systeme, in welchen die
Energie sich vorzugsweise aus der Energie sichtbarer Massen
in die Energie der verborgenen Massen verwandelt, nicht aber
umgekehrt, heifsen dissipative Systeme, und die Kräfte der
verborgenen Massen solcher Systeme dissipative Kräfte.
664 3. Im allgemeinen sind die Systeme und Kräfte der Natur
nicht-konservativ, sobald überhaupt verborgene Massen in Be-
tracht kommen. Dieser Umstand ist eine notwendige Folge davon,
dafs die konservativen Systeme nur Ausnahmefälle, sogar nur
mit mehr oder weniger Annäherung erreichte (550) Ausnahme-
fälle bilden, dafs also für ein beliebig herausgegriffenes natür-
liches System eine unendliche Wahrscheinlichkeit dagegen
spricht, dafs es ein konservatives sei. Erfahrungsmäfsig aber
sind weiter die Systeme und Kräfte der Natur dissipativ, so-
bald überhaupt verborgene Massen in Betracht kommen. Dieser
Umstand findet eine hinreichende Erklärung in der Hypothese,
dafs in der Natur die Zahl der verborgenen Massen und ihrer
Bewegungsfreiheiten unendlich grofs sei gegen die Zahl der
sichtbaren Massen und deren sichtbarer Koordinaten, so dafs
für eine beliebig herausgegriffene Bewegung eine unendliche
Wahrscheinlichkeit dagegen spricht, dafs sich die Energie ge-
rade in der besonderen und ausgezeichneten Eichtung von
jener grofsen Zahl von Massen auf diese ganz bestimmte kleine
Zahl hin konzentriere.
665 4. übrigens steht der Unterschied zwischen konservativen
Nicht-konservative Systeme, 285
und dissipativen Systemen nnd Kräften nicht in der Natur,
sondern beruht lediglich auf der freiwilligen Beschränkung
unserer Auffassung oder der unfreiwiUigen Beschränktheit un-
serer Kenntnis der natürlichen Systeme. Werden alle Massen
der Natur als sichtbare Massen betrachtet, so fällt jener Unter-
schied fort, und alle Kräfte der Natur können alsdann als
konservative Ejräfte bezeichnet werden.
5. Die konservativen Kräfte erscheinen im allgemeinen 666
als Differentialquotienten von Kräftefanktionen, also als solche
Funktionen der sichtbaren Koordinaten der Systeme, welche
unabhängig von der Zeit sind. Die nicht'konservativen Kräfte
hängen aufserdem im allgemeinen von den ersten und von
höheren Differentialquotienten der sichtbaren Koordinaten nach
der Zeit ab. Bei jeder analytisch gegebenen Form einer Kraft
beider Arten kann die Frage aufgeworfen werden, ob diese
Form mit den Voraussetzungen unserer Mechanik verträglich
sei, oder ihr widerspreche.
6. Auf diese letztere Frage kann im allgemeinen Ant- 667
wort nicht erteilt werden; im einzelnen ist sie nach folgenden
Gesichtspunkten zu beurteilen:
1. Wenn irgend ein gesetzmäfsiges stetiges System auf-
gewiesen werden kann, welches Kräfte der gegebenen Form
ausübt, so ist bewiesen, dafs die gegebene Form den An-
sprüchen unserer Mechanik genügt.
2. Wenn die Unmöglichkeit nachgewiesen werden kann,
ein solches System aufzufinden, so ist gezeigt, dafs die ge-
gebene Form unserer Mechanik widerspricht.
3. Wenn in der Natur irgend ein System aufgewiesen
werden kann, welches erfahrungsmäfsig Ejräfte der gegebenen
Form ausübt, so betrachten wir dadurch zunächst als bewiesen,
dafs die gegebene Form mit unserer Mechanik verträglich ist.
Trifft keiner der Fälle 1. 2. 3. zu, so mufs die gestellte
Frage eine offene bleiben. Sollte sich eine Form der Kraft
finden, welche nach 2. zurückzuweisen wäre, nach 3. aber zu-
gelassen werden müfste, so wäre damit die Unzulänglichkeit
der Hypothese, welche unserer Mechanik zu Grunde liegt, und
damit die Unzulänglichkeit dieser Mechanik selbst erwiesen.
286 Zweites Buch.
Abschnitt 6. Von den ünstetigkeiten der
Bewegung,
Erlänterongen und BemerknngexL
1. Alle Systeme materieller Punkte, auf welche das Grund-
gesetz nach seinen Voraussetzungen überhaupt Anwendung
finden kann, müssen stetige Zusammenhänge besitzen. Die
Eoefficienten aller Bedingungsgleichungen solcher Systeme sind
also von vornherein stetige Funktionen der Lage (124). Dies
hindert aber nicht, dafs diese Funktionen sich in der Nähe
gewisser Lagen äufserst schnell ändern, so dafs die Gleichungen
schon in sehr benachbarten Lagen endlich verschiedene £o-
efidcienten haben.
2. Wenn das betrachtete System durch eine solche Lage
sehr schneller Änderung hindurchgeht, so erfordert die voll-
ständige Kenntnis seiner Bewegung die vollständige Kenntnis
der Bedingungsgleichungen auch während der schnellen Ände-
rung derselben. Gewisse Aussagen über die Bewegung aber
lassen sich fällen, auch wenn die Form der Bedingungs-
gleichungen des Systems nur vor und hinter der Stelle ihrer
schnellen Änderung gegeben ist. Beschränken wir uns auf
diese Klasse von Aussagen, so ist es analytisch einfacher, auf
die besondere Art der Änderung keine Bücksicht zu nehmen,
und die Bedingungsgleichungen so zu behandeln, als ob ihre
Koefficienten unstetig wären. In diesem Falle ist die Auf-
fassung des Systems als eines unstetigen bedingt durch die
freiwillige Beschränkung unserer Behandlung desselben.
670 3. Es kann aber auch geschehen, dafs unsere physika-
lischen Mittel uns zwar erlauben, den Zusammenhang eines
Systems im übrigen vollständig zu erforschen, dafs sie aber
nicht ausreichen, ihn zu erforschen an den Stellen der sehr
schnellen Änderung, obwohl wir überzeugt sind, und etwa auch
physikalisch nachweisen können, dafs dieser Zusammenhang
auch hier ein stetiger ist. Trifft dies ein, so sind wir ge-
zwungen, den Zusammenhang analytisch als einen unstetigen
Unstetige Bewegu/ng, 287
darzustellen, wenn wir nicht auf eine einheitiiche Darstellung
desselben überhaupt verzichten wollen. In diesem Falle ist
dann die Auffassung des Systems als eines unstetigen bedingt
durch die unfreiwillige Beschränktheit unserer Kenntnis von
dem System.
4. Sind uns umgekehrt unmittelbar analytisch die Koeffi- 671
cienten der Bedingungsgleichungen eines Systems als unstetige
Funktionen der Lage gegeben, ohne Angabe, wie diese Funk-
tionen ermittelt sind, so setzen wir voraus, dafs einer der
beiden vorher erwähnten Fälle vorliege. Wir betrachten also
die gegebenen Gleichungen nur als eine unvollständige und
angenäherte Angabe der wahren, stetigen Form derselben. Wir
nehmen also auch eo ipso an, dafs man nicht eine vollständige
Bestimmung der Bewegung eines solchen Systems von uns ver-
lange, sondern nur die Angabe derjenigen Aussagen, welche
sich trotz der unvollständigen Kenntnis des Systems thim
lassen unter der Voraussetzung, dafs an den ünstetigkeits-
stellen der unbekannte Zusammenhang in Wirklichkeit ein
stetiger sei.
6. Geht ein System mit endlicher Geschwindigkeit durch 672
eine SteUe sehr schneUer Änderung hindurch, so erleiden seine
Bedingungsgleichungen in verschwindender Zeit endliche Ände-
rungen. Ist das System während des ganzen Verlaufs auch
in Wirklichkeit, wie es das Grundgesetz voraussetzt, ein gesetz-
mäfsiges, so gewinnt es doch den Anschein, als erlitte seine
Gesetzmäfsigkeit zur Zeit des Durchgangs durch jene Lage
einen Bruch, ohne dafs in Wahrheit ein solcher stattfände.
Ist uns also analytisch ein System gegeben, dessen im übrigen
von der Zeit unabhängige Bedingungsgleichungen zu einer be-
stimmten Zeit in neue Formen überspringen, so betrachten
wir diese Bedingungsgleichungen zu dieser Zeit nur als an-
genäherte Vertreter eines anderen, ims unbekannten, vielleicht
viel verwickeiteren, aber jedenfalls nicht nur stetigen, sondern
auch gesetzmäfsigen Zusammenhangs. Wir nehmen also auch
an, dafs man nicht eine vollständige Bestimmung der Bewegung
des Systems von uns verlange, sondern nur die Angabe der-
jenigen Aussagen, welche sich trotz der vorhandenen Unkenntnis
288 Zweites Buch.
nach dem Grundgesetz aussagen lassen unter der Voraus-
setzung, dafs auch zur Zeit der Unstetigkeit der wahre Zu-
sammenhang des Systems ein stetiger und gesetzmäisiger sei.
673 6. Indem wir alle ünstetigkeitslagen und -zeiten in der
vorerwähnten Weise auffassen, haben wir freilich auf die Be-
handlung wirklich unstetiger Systeme verzichtet. Auf solche
würde auch das Grundgesetz eine Anwendung gar nicht ge-
statten. Einen Verzicht auf die Behandlung irgendwelcher
natürlicher Systeme bedeutet aber diese Einschränkung nicht,
da alles uns zu der Annahme berechtigt, dafs in der Natur
wohl scheinbare, aber keine wirklichen Unstetigkeiten vor-
kommen. Dals der Durchgang der Systeme durch scheinbare
ünstetigkeitslagen nicht vollständig durch das Grundgesetz
allein bestimmt ist, entspricht auch vollständig der physika-
lischen Erfahrung, dafs die Kenntnis eines Systems vor und
hinter einer ünstetigkeitsstelle nicht hinreicht, um die Ände-
rung der Bewegung beim Durchgang durch die Stelle voll-
ständig zu ermitteln.
Von der Stofskraft oder dem Stofs.
674 Bemerkung. Durchläuft ein System eine ünstetigkeits-
lage, so erleidet seine Geschwindigkeit eine Änderung von end-
licher Gröfse. Die Differentialquotienten seiner Koordinaten
nach der Zeit springen plötzlich auf neue Werte über.
Denn unmittelbar vor und hinter der ünstetigkeitsstelle
müssen diese Differentialquotienten, und also die Komponenten
jener Geschwindigkeit, linearen Gleichungen mit endlich ver-
schiedenen Koefficienten genügen.
676 Folgerung 1. Beim Durchgang durch eine ünstetigkeits-
lage wird die Beschleunigung unendlich grofs, jedoch in sol-
cher Weise, dafs das Zeitintegral der Beschleunigung, ge-
nommen über die Zeit des Durchgangs, im allgemeinen einen
endlichen Wert behält.
Denn dieses Zeitintegral ist die im allgemeinen endliche
Änderung der Geschwindigkeit.
ühsteHge Bewegung. 289
Folgerung 2. Erleiden die Bedingungsgleichungen des 676
einen von zwei oder mehreren gekoppelten Systemen eine TJn-
stetigkeit, so wird beim Durchgang durch diese Unstetigkeit
die zwischen den Systemen auftretende Straft im allgemeinen
unendlich grofs, jedoch in solcher Weise, dafs das Zeitinte-
gral der Kraft, genommen über die Zeit des Durchgangs, end-
lich bleibt.
Denn im allgemeinen werden die Komponenten der Be-
schleunigung des unstetigen Systems auch nach den gemeinsamen
Koordinaten im Sinne der Folgerung 1 unendlich werden.
Da aber die Koefficienten der Bedingungsgleichungen auch
während der Unstetigkeit endlich bleiben, so ist die Ej:aft von
der Ordnung der Beschleunigung.
Definition. Stofskraft oder kurz Stofs heifst das Zeit- 677
integral der während des Durchgangs durch eine TJnstetig-
keitsstelle von einem System auf ein anderes ausgeübten Kraft,
genommen über die Dauer des Durchgangs durch die ünstetig-
keitsstelle.
Anmerkung. Bei endlicher Geschwindigkeit aller betrach- 678
teten Systeme können endliche und unendlich kleine, nicht
aber unendlich grofse Stöfse vorkommen. Wir setzen die
Stöfse im folgenden als endlich voraus.
Folgerung 1. Zu jedem Stofs giebt es immer einen 679
Gegenstofs. Er ist das Zeitintegral der Kraft, welche das als
zweites bezeichnete System auf das in der Definition zuerst
genannte ausübt.
Folgerung 2. Ein Stofs wird stets ausgeübt von einem 680
System, welches eine Unstetigkeit seiner Bewegung erleidet,
und ausgeübt auf ein System, welches eine Unstetigkeit seiner
Bewegung erleidet; er ist nicht denkbar ohne zwei solcher
einander beeinflussender Systeme.
Aus denselben Gründen wie bei der Kraft können wir
uns aber erlauben, von Stöfsen schlechthin zu reden, ohne
ausdrücklich der Systeme zu gedenken, von welchen oder auf
welche sie ausgeübt werden.
Folgerung 3. Ein Stofs kann stets betrachtet werden 681
als Vektorgröfse, sowohl in Bezug auf das System, welches
Hertz, Mechanik. 19
290 Zweites Buch.
ihn ausübt^ als auch in Bezug auf das System, auf welches
er ausgeübt wird. Seine Komponenten nach den gemein-
samen Koordinaten sind im allgemeinen von Null verschieden;
seine Komponenten nach den nicht gemeinsamen Koordinaten
sind Null; seine Komponenten in Bichtungen, welche sich
nicht durch Änderungen der benutzten Koordinaten ausdrucken
lassen, bleiben unbestimmt.
Denn die gleiche Behauptung gilt von der Kraft, von
welcher der Stofs das Zeitintegral ist.
682 Bezeichnung. Erleidet ein System mit den Koordinaten
Pg eine ünstetigkeit seiner Bewegung, so wollen wir die Kom-
ponenten des Stofses, welcher auf das System wirkt, nach den
Pq mit Jg bezeichnen. Die Komponenten des Stofses aber,
welchen das System ausübt, nach den p^, sollen mit J^ be-
zeichnet werden. Für das zweite System, dessen Koordinaten
wir mit p^ bezeichnen, mögen die entsprechenden Gröfsen mit
3ß und 3e bezeichnet werden (vergl. 467). Identisch ist dann:
688 Lehrsatz. Stofs und Gegenstofs sind einander stets ent-
gegengesetzt gleich, d. h. es sind die Komponenten beider
nach jeder Koordinate entgegengesetzt gleich, und zwar so-
wohl wenn wir beide Gröfsen betrachten als Vektorgröfsen
in Bezug auf das eine, als auch in Bezug auf das andere
System.
Denn Stoss und Gegenstofs können .auch betrachtet
werden als die Zeitintegrale Yon Kraft und Gegenkraft
(vergl. 468).
In der eingeführten Bezeichnung wird der Lehrsatz wie-
dergegeben durch die Gleichungen:
ünsteiige Bewegung. 291
Zusammensetzung der Stöfse.
Lehrsatz. Ist ein System gleichzeitig mit mehreren Sy- 684
stemen gekoppelt, so ist ein Stofs, welchen die Gesamtheit
jener Systeme ausübt, gleich der Summe der Stöfse, welche
die einzelnen Systeme ausüben.
Denn die Behauptung gilt für jeden Augenblick der Stofs-
zeit für die wirkenden Kräfte (471), also auch für die In-
tegrale derselben, die Stöfse.
Folgerung. Gleichzeitig auf dasselbe System ausgeübte, 685
oder von demselben System ausgeübte Stöfse können wie
Kräfte zusammengesetzt und zerlegt werden nach den Regeln
der Zusammensetzung und Zerlegung von Yektorgröfsen über-
haupt. Wir reden von den Komponenten eines Stofses und
von resultierenden Stöfsen in demselben Sinne, in welchem
wir von Komponenten der Kraft und von resultierenden Kräften
reden. (Vergl. 472 bis 474.)
Definition. Ein Stofs, welcher von einem einzelnen ma- 686
teriellen Punkt oder auf einen einzelnen materiellen Punkt
ausgeübt wird, heifst ein Elementaratofs.
Folgerung 1. Jeder Stofs, welcher von einem mate- 687
riellen System oder auf ein materielles System ausgeübt wird,
kann zerlegt werden in eine Anzahl von Elementarstöfsen.
(Vergl. 479.)
Folgerung 2. Die Zusammensetzung und Zerlegung der 688
Elementarstöfse erfolgt nach den Kegeln der Zusammen-
setzung und Zerlegung geometrischer Strecken. (Parallelo-
gramm der Stöfse.) (Vergl. 478.)
Bewegung unter dem Einflufs von Stöfsen.
Aufgabe 1. Die Bewegung eines materiellen Systems 689
unter dem Einflufs eines gegebenen Stofses zu bestimmen.
Die Lösung der Aufgabe besteht nur in der. Angabe der
Änderung, welche die Geschwindigkeit des Systems durch den
19*
292 2ho6Ü6s Buch.
(689) Stofs erfäJirt. Es sei nnn das betrachtete System dasselbe wie
in 481; bedeuten dieP^ die Komponenten der unendKchen Kraft,
welche während der Dauer des Stofses auf das System wirkt,
so ist während dieser Dauer nach 481:
Je
1
Wir multiplizieren diese Gleichung mit dt und integrieren
über die Stofszeit. Da die Werte der Koordinaten während
dieser Zeit konstant sind, so ist
wenn wir durch den Index die Gröfsen vor dem Stofse,
durch den Index 1 die Gröfsen nach dem Stofse charakteri-
sieren. Wir haben ferner nach 682:
c) jP^dt = J^ ,
und wenn wir noch zur Abkürzung setzen:
d)
7 Pjc dt^ Jtt j
so erhalten wir r Gleichungen von der Form:
k
1
Da die Geschwindigkeit des Systems vor und nach dem
Stofse den Zusammenhängen des Systems genügen mufs, so
erhalten wir weiter aus den k Bedingungsgleichungen des Sy-
stems k Gleichungen von der Form:
r
O ^^P>^9(P9i-P9o)=^^ '•
1
welche zusammen mit den Gleichungen e) als k + r nicht
homogene, lineare Gleichungen für die A+r Gröfsen Pg^—pQ^
Unstetige Bewegtmg, 293
und /« oder auch für die ä + r Gröfeen qo^—qo^ und J^ angesehen
werden können, und welche also diese Gröfsen und damit die
Änderung der Geschwindigkeit des Systems eindeutig bestimmen.
Anmerkung 1. Ist uns die Geschwindigkeit des Systems vor 690
dem Stofse gegeben, und sind also die Gröfsen y^^und^g^ bekannt,
so können wir die r Gleichungen 6S9e zusammen mit den k
Gleichungen 689 f, oder, was dasselbe, mit den k Glei-
chungen
r
1
auch auffassen als r + k nicht homogene, lineare Gleichungen
für die r + k Gröfsen ^^ und J^ , welche also diese Gröfsen
und damit die Geschwindigkeit des Systems nach dem Stofse
eindeutig bestimmen.
Anmerkung 2. Wenden wir rechtwinklige Koordinaten 691
an, und bezeichnen wir die Komponente des Stofses nach der
Koordinate Xy mit I^ , so nehmen die Gleichungen des Stofses
die Form der 3n Gleichungen an:
m^
welche zusammen mit den i aus den Bedingungsgleichungen
abgeleiteten Gleichungen:
8n
T
die 3n Komponenten Xy^—x^^ der Geschwindigkeitsänderung und
die i Hülfsgröfsen 7« eindeutig bestimmen.
Anmerkung 3. Ist die Koordinate pg eine freie Koordi- 692
nate, so sind die entsprechenden Gröfsen p^ gleich Null, und
die auf p^ bezügliche Stofsgleichung nimmt die einfache
Form an:
294 Zweites Buch.
Sind in einem holonomen System alle Koordinaten freie
Koordinaten, so nelimen alle Gleichungen diese Form an, nnd
die so entstehenden r Gleichungen genügen zur Bestimmung
der r Gröfsen Per~Peo > welche bekannte lineare Funktionen der
durch jene Gleichungen unmittelbar gegebenen qo^—qg^ sind.
693 Folgenmg 1 (aus 689). um ein System aus der Buhe
plötzlich in eine gegebene mögliche Geschwindigkeit zu ver-
setzen, genügt es, dem System einen Stofs zu erteilen, welcher
nach Richtung und Gröfse gleich ist dem Produkt aus der
gegebenen Geschwindigkeit und der Masse des Systems.
Denn sind die y^ = 0, und genügen die gegebenen p^^ an
sich den Bedingungsgleichungen, so genügt die Annahme:
den Gleichungen 689 e und f.
694 Folgemng 2. um ein bewegtes System in seiner augen-
blicklichen Lage plötzlich zur Buhe zu bringen, genügt es,
dem System einen Stofs zu erteilen, welcher nach Bichtung
und Gröfse entgegengesetzt gleich ist dem Produkt aus der
Geschwindigkeit des Systems in seine Masse.
Denn sollen die qg^ = werden, und genügen die p^^ den
Bedingungsgleichungen des Systems, so genügt die Annahme:
den Gleichungen 689 e und f.
695 Lehrsatz. Die Geschwindigkeitsänderung, welche mehrere
gleichzeitig wirkende Stöfse einem System erteilen, ist die
Summe der Geschwindigkeitsänderungen, welche die Stöfse,
einzeln wirkend, dem System erteilen würden.
Als gleichzeitig wirkend sind dabei alle Stöfse bezeichnet,
welche innerhalb einer verschwindend kleinen Zeit erfolgen.
Unstetige Bewegimg, 295
ohne Bücksicht auf ihre etwaigen Zeitunterschiede oder ihre
Beihenfolge innerhalb dieser Zeit.
Der Satz folgt (vergl. 485) aus der linearen Form der
Gleichungen 689 e, t, er kann aber auch als unmittelbare Folge-
rung des Satzes 485 angesehen werden.
Anmerkung. Der Inhalt des vorigen Lehrsatzes kann auch 696
wiedergegeben werden in der oft benutzten Form der Aus-
sage, dafs mehrere gleichzeitig erfolgende Stöfse sich hinsieht-
lieh der Geschwindigkeit, welche sie erzeugen, nicht stören.
Lehrsatz. Steht die Richtung eines Stofses senkrecht auf 697
jeder möglichen Verrückung des Systems, auf welches er wirkt,
so übt der Stofs keinen EinfluTs aus auf die Bewegung des
Systems. Und umgekehrt: übt ein Stofs keinen Einflufs aus
auf die Bewegung des Systems, auf welches er wirkt, so steht
er senkrecht auf jeder möglichen Verrückung desselben.
Der Satz kann als unmittelbare Folgerung des Satzes 488
angesehen werden oder auch in entsprechender Weise aus
den Gleichungen 689e, f abgeleitet werden.
Anmerkung. Obwohl also aus der Angabe eines Stofses 698
eindeutig die Bewegungsänderung erschlossen werden kann,
welche er erzeugt, so kann doch nicht umgekehrt aus einer
plötzlichen Bewegungsänderung eindeutig auf den Stofs ge-
schlossen werden, welcher sie erzeugt hat.
Aufgabe 2. Die Stofskraft zu bestimmen, welche ein 699
materielles System bei gegebener plötzlicher Bewegungsände-
rung ausübt.
Nach 682 sind die Komponenten des gesuchten Stofses
zu bezeichnen mit J^, und nach 683 und 689 e sind dieselben:
k
1
Hierin sind die g^^ und q^^ durch die Angaben der Auf-
gabe bestimmt, die J^ aber sind nicht gegeben, solange nicht
auch die Bewegung des zweiten Systems gegeben ist, auf
welches der Stofs ausgeübt wird. Die Lösung der Aufgabe
296 Zweites Buch.
ist also nicht eine bestimmte, sondern enthält einen unbestimmt
bleibenden. Sammanden, welcher einen auf jeder möglichen
Verrückung des Systems senkrechten Stofs darstellt (250).
700 Anmerkung 1. Obwohl von dem Stofs, welchen ein Sy-
stem bei plötzlicher Bewegungsänderung ausübt, nicht alle
Komponenten durch die Bewegungsänderung des Systems be-
stimmt sind, so sind doch alle Komponenten in Richtung einer
möglichen Bewegung durch jene Bewegungsänderung bestimmt.
701 Anmerkung 2. Obwohl von dem Stofs, welchen ein Sy-
stem bei plötzlicher Bewegungsänderung ausübt, nicht alle
Komponenten durch die Bewegungsänderung des Systems be-
stimmt sind, so ist doch jede Komponente in Eichtung einer
freien Koordinate durch die Bewegungsänderung eindeutig
bestimmt.
702 Anmerkung 3. Ist p^ eine freie Koordinate, so kann der
nach dieser Koordinate ausgeübte Stofs geschrieben werden
in den Formen:
e/o
Innerer Zwang beim Stofse.
703 Bemerkung 1. Trifft ein Stofs ein System materieller
Punkte, zwischen welchen keine Zusammenhänge bestehen, so
erfolgt eine Geschwindigkeitsänderung, deren Richtung die
Richtung des Stofses ist, und deren Gröfse gleich ist der
Gröfse des Stofses, dividiert durch die Masse des Systems.
704 Bemerkung 2. Bestehen Zusammenhänge zwischen den
Punkten des gestofsenen Systems, so weicht die Geschwindig-
keitsänderung im allgemeinen ab von der durch die vorige
Bemerkung gegebenen. Als Ursache dieser Abweichung können
wir also die Zusammenhänge des Systems betrachten.
Unstetige Bewegung. 297
Beflnitioii. Inneren Zwang beim Stofse oder kurz Zwang 705
beim Stofse nennen wir die Abänderung, welche die sämt-
lichen Zusammenhänge eines Systems an der Geschwindigkeits-
änderung des Systems beim Stofse hervorbringen.
Der Zwang beim Stofse wird gemessen durch den Unter-
sdiied zwischen der wirklichen Geschwindigkeitsänderung und
derjenigen Geschwindigkeitsänderung, welche bei Aufhebung
sämtlicher Bedingungsgleichungen des Systems eintreten würde;
er ist gleich ersterer, vermindert um letztere.
Folgerung. Der Zwang beim Stofse ist das Zeitintegral 706
des inneren Zwanges des Systems während des Stofses, ge-
nonmien über die ganze Dauer desselben.
Aufgabe. Den Zwang eines Systems bei einem Stofse zu 707
bestimmen.
Wir bezeichnen die Komponenten des Zwanges nach den
Koordinaten p^ mit Zg. Indem wir nun die Gleichung 497 a
mit mdt multiplizieren, und über die Dauer des Stofses inte-
grieren, erhalten wir:
Zur Bestimmung der Grofse des Zwanges reichen die
Komponenten nach beliebigen Koordinaten im allgemeinen
nicht aus. Wenden wir deshalb auch rechtwinkUge Koordi-
naten an und bezeichnen die Komponente des Zwanges nach
x^ mit Zy, so erhalten wir:
also wird die Gröfse Z des Zwanges die positive Wurzel der
Gleichung:
mP = 2*' ^y l^j/i— ^(
Lehrsatz 1. Die Gröfse des Zwanges beim Stofse fallt 70S
kleiner aus für die natürliche Bewegungsänderung, als sie aus-
fallen würde für irgend eine andere mögliche Bewegungs-
änderung.
298 Zweites Bueh.
Denn als notwendige und hinreichende Bedingung dafür,
dafs bei gegebenen Werten der ly die Gröfse \mZ^ ein Mini-
mum werde, erhalten wir (vergl. 155, 498) die 3n G-leichungen :
m,
(Xp-X^^) - /y + ^'X^yl, = ,
in welchen die 7< zunächst beliebige unbestimmte Multiplika-
toren bedeuten, und welche zusammen mit den i Gleichungen
8n
1
die 8n+i Gröfsen £yj—£y^ und 7» eindeutig bestimmen. Da aber
die Gleichungen zusammenfaUen mit den Bewegungsgleichungen
691 des Systems, so wird ihnen genügt durch die natürlichen
Geschwindigkeitsänderungen und nur durch diese.
709 Anmerkung. Der vorstehende Lehrsatz enthält die An-
passung des GAUss'schen Prinzips des kleinsten Zwanges an
die besonderen Verhältnisse des Stofses.
710 Polgenmg. Verhindern die Zusammenhänge des Systems,
dafs der Winkel zwischen einem Stofse und der durch ihn
hervorgerufenen Geschwindigkeitsänderung gleich Null werde
(703), so fällt doch dieser Winkel so klein aus, als es die Zu-
sammenhänge des Systems irgend gestatten.
Denn zeichnen wir ein ebenes Dreieck, dessen Seiten sind
die Gröfse des Stofses dividiert durch die Masse des Systems,
die Gröfse einer beliebigen möglichen Geschwindigkeitsänderung
und die Gröfse des Unterschiedes beider, also des Zwanges,
welcher jener Geschwindigkeitsänderung entspricht, so stellt
der von den ersten beiden Seiten eingeschlossene Winkel e
den Winkel zwischen Stofs und Geschwindigkeitsänderung dar
(34). Eine mögliche Geschwindigkeitsänderung von gegebe-
ner Sichtung kann nun alle Gröfsen annehmen; unter allen
Geschwindigkeitsänderungen von gegebener Richtung kann aber
nur diejenige die natürliche sein, bei welcher der Zwang
senkrecht steht auf der Geschwindigkeitsänderung (708). Be-
Unstetige Bewegung» 299
schränken wir uns also auf diejenigen Geschwindigkeitsänder-
iingen, welche hiemach noch in Betracht kommen, so sind
alle in Betracht zu ziehenden Dreiecke rechtwinklig; die
Hypothenuse aller ist gleich und gegeben; die dem Winkel €
gegenüberliegende Kathete wird aber für die natürliche Ge-
schwindigkeitsänderung kleiner als fiir jede andere (708), also
wird für diese Geschwindigkeitsänderung der Winkel « selbst
ein Minimum, welches die Behauptung ist.
Lehrsatz 2. Die Eichtung des Zwangs beim Stofse steht 711
senkrecht auf jeder mögHchen (virtueUen) Verrückung des Sy-
stems aus seiner augenblicklichen Lage.
Denn nach 707 und 689 lassen sich die Komponenten des
Zwangs darstellen in der Form:
m ^
der Zwang als Vektorgröfse steht also (250) senkrecht auf
jeder möglichen Verrückung des Systems. Der Satz kann
auch als unmittelbare Folgerung aus dem Satz 500 gezogen
werden.
Symbolischer Ausdruck. Bezeichnen wir mit dpg die 712
Änderungen der Koordinaten p^ für eine jede beliebige mög-
liche Verrückung des Systems, so kann der vorige Satz in die
Form der symbolischen Gleichung gekleidet werden:
r
2(9'?-??o-«^9)4Pe = o , a)
1
welche für die rechtwinkligen Koordinaten die Form annimmt:
8n
Vergl. 398, 501.
Anmerkung. Der vorige Lehrsatz (711) enthält die An- 713
passung des D'ALEMBEET'schen Prinzips an die besonderen
300 Zweites Buch.
Verhältnisse des Stofses, die symbolische Form 712 den ge-
wöhnlichen Ausdruck dieser Anpassung.
714 Folgerung 1. Beim Stofse ist die Komponente der er-
zeugten Bewegungsänderung in der Richtung jeder möglichen
Bewegung gleich der Komponente des Stofses nach derselben
Richtung, dividiert durch die Masse des Systems.
715 Eolgerung 2. Beim Stofse ist die Komponente der er-
zeugten Bewegungsänderung nach jeder freien Koordinate
gleich der Komponente des Stofses nach dieser Koordinate,
dividiert durch die Masse des Systems.
716 Folgerung 3. Die Geschwindigkeitskomponente eines ge-
stofsenen Systems nach jeder Koordinate der absoluten Lage
ändert sich um einen Betrag, welcher gleich ist der Kom-
ponente des wirkenden Stofses nach der gleichen Koordinate,
dividiert durch die Masse des Systems, — welches auch immer
die Zusammenhänge des Systems sind.
717 Anmerkung. Auch ohne Kenntnis, oder ohne vollständige
Kenntnis des Zusammenhangs der Massen eines Systems können
wir demnach doch stets sechs Gleichungen für die Bewegung
des Systems unter dem Einflufs eines Stofses angeben. Wählen
wir als Koordinaten der absoluten Lage die sechs Gröfsen
^1 0^2 ^8 ^^1 ^2 ^3 9 welche wir in 402 einführten, so stellen die
sechs Gleichungen, welche wir erhalten, die Anpassung des
Prinzips des Schwerpunkts und der Flächen an die besonderen
Verhältnisse des Stofses dar.
Energie, Arbeit.
718 Definition. Die Vermehrung der Energie eines Systems
in Folge eines auf das System ausgeübten Stofses wird die
Arbeit des Stofses genannt.
Eine etwaige Abnahme der Energie infolge des Stofses
wird als negative Zunahme gerechnet. Die Arbeit eines
Stofses kann demnach positiv oder negativ sein.
719 Eolgemng. Die Arbeit eines Stofses ist das Zeitintegral
Unstetige Bewegtmg, 301
der Arbeit, welche diejenige Kraft leistet, deren Zeitintegral
der Stofs ist.
Lelmatz. Die Arbeit eines Stofses ist gleich dem Pro- 720
dukt aus der Gröfse des Stofses und der in seiner Richtung
gekommenen Komponente des Mittelwertes der Anfangs- und
der Endgeschwindigkeit des Systems.
Denn welches auch in Wahrheit der Verlauf der wirken-
den Kraft während der Stofszeit und die Bewegung des Sy-
stems während dieser Zeit ist, die schliefsliche Bewegung und
also die Arbeit des Stofses wird dieselbe sein, als wirkte die
Kraft mit konstanter mittlerer Gröfse in der Richtung des
Stofses selber. Machen wir aber diese vereinfachende Vor-
aussetzung, so wird erstens die Gröfse der wirkenden Kraft gleich
der Gröfse des Stofses dividiert durch die Stofszeit. Zweitens
geht die Geschwindigkeit gleichmäfsig sich ändernd aus dem
Anfangs- in den Endwert über, und ihr Mittelwert ist das
arithmetische Mittel ihres Anfangs- und ihres Endwertes. Die
Komponente der während des Stofses zurückgelegten Bahn-
strecke in Richtung des Stofses ist aber gleich der Kompo-
nente jenes Mittelwerts, multipliziert mit der Stofszeit. Be-
rechnen wir nun nach 518 die von der Kraft während ihrer
Dauer, also die vom Stofs geleistete Arbeit, so hebt sich die
Stofszeit heraus, und es folgt die Behauptung.
Anmerkung. Unter Benutzung der bisherigen Bezeich- 721
nung ist der analytische Ausdruck des Lehrsatzes die Aus-
sage, dafs die Arbeit des Stofses gleich sei:
1 *"
Polgemng 1. Die Arbeit eines Stofses ist gleich dem 722
Produkt des Stofses und der in seiner Richtung genommenen
Komponente der ursprünglichen Geschwindigkeit, vermehrt
um das halbe Produkt aus der Gröfse des Stofses und der
in seiner Richtung genommenen Komponente der durch ihn
erzeugten Geschwindigkeitsänderung.
Der analytische Ausdruck hierfür ist die Aussage, es sei
die Arbeit des Stofses gleich:
302 Zweites Buch.
2^ JqPQo +2^^Jq {pQi-pQo)
welche Aussage mit 721 übereinstimmt.
723 Polgenmg 2. Die Arbeit eines Stofses, welcher *ein
ruhendes System in Bewegung setzt , ist gleich dem halben
Produkt aus der Gröfse des Stofses und der in seiner Rich-
tung genommenen Komponente der durch ihn erzeugten Gre-
schwindigkeit.
Denn sind die pQ^ gleich Null, so ist die Arbeit des
Stofses gleich:
^^eJgP^^
724 Lehrsatz. Ein ruhendes System setzt sich unter dem Ein-
fiufs eines Stofses in derjenigen Sichtung in Bewegung, bei
welcher der Stofs die meiste Arbeit leistet, d. h. bei welcher
er mehr Arbeit leistet, als er leisten würde, wenn wir durch
Vermehrung der Zusammenhänge des Systems eine andere
Richtung erzwängen. (Sogenannter Satz von Bebtband.)
Denn ist / die Gröfse des Stofses, v die Gröfse der er-
zeugten Geschwindigkeit, s der Winkel zwischen beiden, so
ist für jeden ursprünglichen oder auch vermehrten Zusammen-
hang nach 714:
/
V = —COSE •
m
also die Arbeit des Stofses nach 723 gleich:
— jvcose= — cos'^ß
2 2m
Der Winkel e aber nimmt für die natürliche Wirkung
des Stofses nach 710 den kleinsten mit dem ursprünglichen
Zusammenhang verträglichen Wert an, 6 kann also durch
Vermehrung der Zusammenhänge nur vergröfsert, cos* 6 also
nur verkleinert werden, woraus die Behauptung folgt.
Unstetige Bewegung. 303
Folgerung. Die Energie, welche ein auf ein ruhendes 725
System treffender Stofs in dem System erzeugt, fällt um so
gröfser aus, je mehr Zusammenhänge des Systems wir auf-
lösen. Der gröfste mögliche Wert jener Energie, welcher
aber nur durch Auflösung aller Zusammenhänge erreicht wird,
ist gleich dem Quadrat der Gröfse des Stofses, dividiert durch
die doppelte Masse des Systems.
Zusammenstors zweier Systeme.
Erläutenmgen.
L Wir sagen, zwei Systeme stofsen zusammen, wenn sie 726
sich so verhalten, als hätten sie während einer sehr kurzen
Zeit eine Koppelung erfahren. Diese Koppelung nehmen wir
als eine direkte an, indem wir geeignete Wahl der Koordi-
naten beider Systeme voraussetzen (452).
2. Eine solche vorübergehende Koppelung haben wir 727
aufzufassen als eine dauernde Koppelung beider Systeme mit
einem dritten, unbekannten System von solcher Beschaffen-
heit, dafs es im allgemeinen keinen Einflufs hat auf die Be-
wegung jener, dafs aber in unmittelbarer Nachbarschaft solcher
Lagen, in welchen gewisse Koordinaten des einen Systems
gewissen Koordinaten des anderen Systems gleich werden, es
diese Koordinaten vorübergehend gleich zu bleiben zwingt.
Diese vorübergehend gleichbleibenden Koordinaten nennen wir
die gemeinsamen Koordinaten beider Systeme.
3. Vor und nach dem Zusammenstofse sind die Ander- 728
ungsgeschwindigkeiten der Koordinaten eines jeden der beiden
zusammenstofsenden Systeme lediglich den Bedingungsgleich-
ungen ihres eigenen Systems unterworfen. Während des
Stofses aber sind die Änderungsgeschwindigkeiten der ge-
meinsamen Koordinaten auch an die Koppelungsgleichungen
gebunden. Diese Änderungsgeschwindigkeiten müssen also,
wie die Koordinaten selbst, während des Stofses beziehlich
gleich geworden und eine Zeit lang gleich geblieben sein. Die
304 Zweites Buch.
Zeit aber, in welcher sich diese Vorgänge abspielen, betrachten
wir als verschwindend klein, und die Vorgänge in ihr als
gänzlich unbekannt. Wir betrachten die Systeme nur vor und
nach dem Stofse,^ und erwarten, dafs man von uns auch nur
solche Aussagen über den Zusammenstofs verlange, welche
sich ohne Kenntnis der Vorgänge während der Stofszeit aus-
sagen lassen.
729 Aufgabe. Die Bewegung zweier zusammenstofsender Sy-
steme nach dem Stofse aus ihrer Bewegung vor dem Stofse
so weit zu bestimmen, als es ohne Angabe der Vorgänge
während der Stofszeit möglich ist.
Es seien die p^ die r Koordinaten des einen, die pQ die
r Koordinaten des anderen Systems. Die Zahl der gemein-
samen Koordinaten sei s. Beim Zusammenstofs erfährt jedes
der beiden Systeme einen Stofs; es seien die Komponenten
des Stofses, welchen das erste System erfährt e^; die Kom-
ponenten des Stofses, welchen das zweite System erfährt,
seien 3^ . Die Gröfsen vor und nach dem Stofse seien wieder
durch die Indices und 1 bezeichnet.
Nun gelten erstens für alle Koordinaten des ersten Sy-
stems Gleichungen von der Form 689 e und für alle Koordi-
naten des zweiten Systems die entsprechenden Gleichungen.
Zweitens stehen die Stofse, welche die beiden Systeme er-
halten, im Verhältnis von Stofs und Gegenstofs, also ist für
alle gemeinsamen Koordinaten nach 682 und 683:
e/^ = — 09
und für alle nicht gemeinsamen Koordinaten beider Systeme:
^9 = , ^9 = .
Verbinden wir beide Beziehungen mit einander, so er-
halten wir für die s gemeinsamen Koordinaten s Gleichungen
von der Form:
unstetige Bewegung. 805
während wir für die (r— ä) + (r—*) nicht gemeinsamen Koor-
dinaten r— « Gleichungen von der Form:
k
1
und r— « Gleichungen der Form
f
1
erhalten. Die Gleichungen a) b) c), zusammen mit den k+t
Bedingungsgleichungen beider Systeme dürfen wir auffassen als
Gleichungen flir die Änderungsgeschwindigkeiten p^ und p^^^
welche die Bewegung des Systems nach dem Stofse bestim-
men, und für die Hülfsgröfsen J^ und 3^ • Wir haben also im
Ganzen r+x—s+k+l nicht homogene, lineare Gleichungen, wel-
chen die r+r+Ä+f Unbekannten genügen müssen, und welche
diejenigen Aussagen enthalten, welche die Aufgabe verlangte.
Anmerkung. Sind die Koordinaten p^ und p^ freie Koor- 730
dinaten ihrer Systeme, so können die Gleichungen des Zu-
sammenstofses in einfacherer Form geschrieben werden. Es
werden nämlich erhalten durch Berücksichtigung der gemein-
samen Koordinaten s Gleichungen der Form:
9qx+% = 9qo+% y »>
durch Berücksichtigung der nicht gemeinsamen Koordinaten
des ersten Systems r— * Gleichungen der Form:
durch Berücksichtigung der nicht gemeinsamen Koordinaten
des zweiten Systems r— * Gleichungen der Form:
zusammen also r+x^s Gleichungen für die zu bestimmenden
r+v Unbekannten p^ und p^^ .
Hertz, Mechanik. 20
306 ZweUes Buch.
731 Folgerung 1. Die Bewegung zweier Systeme nach ihrem
Zusammenstofs ist durch ihre Bewegung vor dem Zusammen-
stofs und durch die allgemeinen Gesetze der Mechanik noch
nicht YoUständig bestimmt, sondern es erfordert ihre Bestim-
mung noch die Angabe weiterer, aus anderen Quellen ge-
schöpfter Beziehungen. Die Zahl dieser weiteren notwendigen
Beziehungen ist gleich der Zahl der gemeinsamen Koordinaten,
welche beim Zusammenstofs auftreten.
732 Folgerang 2. Ist es bei einem Zusammenstofs möglich,
neben den Beziehungen, welche aus den allgemeinen Gesetzen
der Mechanik folgen, noch so viele lineare Gleichungen für
die Geschwindigkeitskomponenten nach dem Stofse anzugeben,
als gemeinsame Koordinaten auftreten, so ist die Bewegung
nach dem Zusammenstofs durch die Bewegung vor demselben
eindeutig bestimmt.
733 Anmerkung. Die besonderen Beziehungen, welche zur Be-
stimmung der Bewegung beim Zusammenstofs notwendig sind,
und welche nicht aus den allgemeinen Gesetzen der Mechanik
folgen, hängen ab von der besonderen Natur desjenigen Sy-
stems, welches die Koppelung bewirkt, und dessen Eigentüm-
lichkeiten im einzelnen uns verborgen sind. Dies verborgene
System ist es auch, welches die Energie aufaimmt, welche
etwa aus den zusammenstofsenden Systemen verschwindet, oder
welches die Energie liefert, welche in den zusammenstofsenden
Systemen etwa gewonnen wird. Der erste Fall tritt z. B. ein
beim unelastischen Stofse, bei welchem die unmittelbare Nach-
barschaft des Stofspunktes als das koppelnde System anzu-
sehen ist. Der zweite Fall tritt z. B. ein bei Stöfsen, welche
Explosionen auslösen. Die Einzelbetrachtung dieser besonderen
Verhältnisse aber gehört nicht mehr in die allgemeine Mechanik.
Schlnfsbemerkung zum zweiten Bneli.
734 In diesem zweiten Buche wollten wir nicht mehr denk-
notwendige Beziehungen zwischen den Schöpfungen unseres
eigenen Geistes erörtern, sondern wir wollten erfahrungs-
mäfsige Zusammenhänge zwischen Gegenständen der äufseren
ScMufsbemerkimg, 307
Beobachtung betrachten. Es war deshalb unumgänglich, dafs
sich unsere Betrachtung stütze nicht allein auf die Gesetze
unseres Geistes, sondern auch auf die Ergebnisse früherer
Erfahrung. Als notwendigen Beitrag der Erfahrung entnahmen
wir daher unserer Beobachtung der Natur das Grundgesetz.
Es mufste freilich zunächst scheinen, als sei das Grund- 735
gesetz bei weitem nicht hinreichend, um die ganze Fülle der
Thatsachen zu umspannen, welche die Natur uns darbietet,
und deren Darstellung die bestehende Mechanik auch bereits
leistet. Denn während das Grundgesetz stetige und gesetz-
mäfsige Zusammenhänge voraussetzt, trägt uns die tägliche
Anwendung auch unstetige und ungesetzmäfsige Zusammen-
hänge entgegen. Und während das Grundgesetz ausdrücklich
nur von freien Systemen redet, sind wir gezwungen, auch un-
freie Systeme zu behandeln. Selbst die gesetzmäfsigen, stetigen,
freien Systeme der Natur fügen sich nicht alle ohne weiteres
dem Grundgesetz, sondern scheinen ihm zum Teil zu wider-
streiten. Wir sahen nun aber, dafs wir auch ungesetzmäfsige
und unstetige Systeme behandeln konnten, indem wir ihre Un-
gesetzinäfsigkeiten und ünstetigkeiten als scheinbare ansahen;
dafs wir auch die Bewegung der unfreien Systeme verfolgen
konnten, indem wir sie als Teile von freien Systemen auf-
fafsten; dafs endlich auch die dem Grundgesetz scheinbar
widerstreitenden Systeme ihm unterworfen werden konnten,
wenn wir die Möglichkeit verborgener Massen in ihnen zu-
liefsen. Obwohl wir neben dem Grundgesetz weder andere Er-
fahrungsthatsachen, noch irgend willkürliche Annahmen zu-
liefsen, konnten wir uns doch über das ganze Gebiet verbreiten,
welches die Mechanik überhaupt beherrscht. Unsere besondere
Hypothese hindert uns auch nicht, zu verstehen, dafs sich die
Mechanik so entwickeln konnte und entwickeln mufste, wie
sie sich thatsächlich entwickelt hat.
Insofern also können wir am Schlüsse behaupten, dafs 736
das Grundgesetz nicht nur notwendig, sondern dafs es auch
hinreichend sei, um den Anteil der Erfahrung an den allge-
meinen Gesetzen der Mechanik erschöpfend darzustellen.
20'
Nachweis
der Definitionen nnd Bezeielinnngen.
(Die beigeBotzten Zahlen bedeuten die Nummern.)
Abstand zweier Lagen 29.
Adiabatische Bewegung 560.
Analytische Energie 611.
Arbeit einer Kraft, eines Stofses
510, 718.
Bahn eines Systems 97.
Bahnelement 98.
Bedingungsgleichungen 181.
Beschleunigung 278.
Bewegung 256.
Bewegungsfreiheiten 184.
Bewegungsgleichimgen 867.
Bewegungsgröfse 268.
Cyklische Intensität 549.
Cyklische Koordinate 546.
Cyklisches System 549.
Denkbare Bewegung 257.
— Lage 11.
Di£Eierentialgleichungen der Bewe-
gung 867.
ifferc
Differentialgleichungen eines Sy-
stems 181.
Differenz zweier Verrückungen 51.
Dissipative Systeme, Kräfte 668.
Elementarkraft 475.
ElementarstoiB 686.
Energie 282.
Entfernung zweier Lagen 29.
Entropie 585.
Fläche von Lagen 200.
Freie Koordinate 189.
Freies System 12!^.
Gegenkraft 456.
Gre^enstofs 679.
Gekoppelte Systeme 450.
Greleitete Bewegung 481.
Geleitetes System 431.
Gemeinsame Koordinaten 452.
Geodätische Bahn 171.
Gerade Bahn 101.
Geraderes Bahnelement 151.
Geradestes Bahnelement 152.
Geradeste Bahn 153.
— Entfernung 215.
Geschwindigkeit 261.
G«setzmäfsiger Zusammenhang 119.
Gleiche Yerrückungen 25, 41.
Gleichförmige Bewegung 263.
Gleichgewicht 517.
Gleichgerichtete Verrückungen 25,
41.
Grad der Bewegungsfreiheit 134.
GröDse einer Verrückung 23, 29.
Holonomes System 128.
Identische Verrückungen 25, 41.
Innerer Zusammenhang 117.
— Zwang 385.
— — beim Stofse 705.
Isocyklische Bewegung 560.
Kinetische Energie 605.
Komponente einer Verrückung 48.
Komponenten einer Kraft 473.
— eines Stofses 685.
— eines Vektors 241.
— nach den Koordi-
naten 71^ 241*
310
Nachweis.
(Die Zahlen bedeuten die Nummern.)
Konfiguration 14.
Konfigorationskoordinate 15.
Konservative Systeme, Kräfte 601,
662.
Koordinate der absoluten Lage 16.
Koppelung 450.
Kraft 455.
Kräfte nach den Koordinaten 460.
Kräftefunktion 563.
— eines konservativen Systems 603.
Krümmung einer Bahn 103.
Kürzeste Bahn 166.
Lage 9, 10, 54.
Ll^e einer Bahn 99.
— — Verrückung 28, 29.
Lebendige Ejraft 605.
Maschine 531.
Masse 4.
Massenteilchen 8.
Materieller Punkt 5.
Materielles System 121.
Mathematische Energie 611.
Modell eines Systems 418.
Mögliche Bahnen, Lagen 112.
— Bewegung 258.
— Verrückungen 111.
Moment 268.
Momente nach den Koordinaten 268.
Monocyklisches System 549.
Natürliche Bewegung 312.
Neigung zweier Verrückungen 34, 43.
Nicht-konservative Systeme, Kräfte
663.
Parallele Verrückungen 25, 41.
Parameter 549.
Potentielle Energie 605.
Quadratischer Mittelwert 28.
Reduzierte Komponente 71, 241.
Resultante von Kräften 472.
Besultierender Stols 685.
Bichtung einer Bahn 99.
— — Koordinate 69.
-— — Vektorgrö&e 239.
— — Verrückung 24, 39.
Bichtungsunterschied zweier Ver-
rückungen 34, 43.
Schar von Flächen 209.
Senkrecht aufeinander stehende Ver-
rückungen 45.
Senkrecht auf einer Fläche stehende
Verrückung 206.
Senkrechte Trajektorie 211.
Sichtbare Massen, Bewegungen,
Koordinaten 595.
Stetiger Zusammenhang 115.
Stols, Sto&kraft 677.
Summe zweier Verrückungen 50.
System materieller Punkte 6.
— mit verborgenen Massen 594.
Unendlich kleine Verrückung 54.
Unmögliche Verrückungen 111.
Vektorgröfec 237.
Verborgene Massen, Bewegungen,
Koordinaten 595.
Verrückung 22, 27.
— in Bichtung einer Koordi-
nate 69.
Verrückung senkrecht auf einer
Fläche 206.
Verrückungen senkrecht auf ein
ander 45.
Virtuelle Verrückungen 111.
Winkel zweier Verrückungen 34, 43.
Wirkung 613.
Zusammenhang 109.
Zustand eines Systems 261.
Zwang 385.
— beim StoDse 705.
Nachweis. 311
(Die Zahlen bedeuten die Nummern.)
x^ Die 3n rechtwinkligen Koordinaten eines Systems 13.
p j p Die r bez. r allgemeinen Koordinaten eines Systems 13.
rriy Masse eines materiellen Punktes 31.
TU, tn Gresamtmasse eines Systems 31.
ds Lfinge einer unendHch kleinen Yerrückung, eines Bahn-
elements 55, 57.
SjPq Neigung des Bahnelements ds gegen die Koordinate p 75.
CCvey V> ^6o\ a^a, 16^ 57, 64; 553.
c Krümmung einer Bahn 105.
^«vj Phq^ Pico Koefficionten der Bedingungsgleichungen 128, 130.
^vj Ph^ ^Ph Multiplikatoren 368, 371.
Geradeste Entfernung eines Systems 217.
Die Zeit 260.
Grö&e der Geschwindigkeit eines Systems 265.
Reduzierte Komponenten der Momente eines Systems 269.
Gröfse; reduzierte Komponenten der Beschleunigung 275, 277.
(Energie eines Systems 283.
Gesamtenergie eines konservativen Systems 608.
{Energie eines cyklischen Systems 553.
Potentielle Energie eines konservativen Systems 606.
Kinetische Energie eines konservativen Systems 606.
P^, i^, 5ßß , 5ß^ , Xy Reduzierte Komponenten einer Kraft 460, 467, 482; 552.
jQ,^e^%y%y^ - - ^^°^« S*^^«®« ^^2, 691.
öp. ö<?; ö^j öq 90, 288, 606; 553.
5p, Jq 590.
Accente {x^ , Xy , »1 , etc.) bezeichnen Differentialquotienten nach der
Bahnlänge, wo nicht Anderes angegeben 100.
Punkte {pg , 4gj pgy ®*®0 bezeichnen Differentialquotienten nach der
Zeit 260.
Indices und 1 {p^^, p^^, a^a^, etc.) 217.
% 588.
8
t
V
9e> %
f,fe
E
(S
T
312 Nachweis.
(Die Zahlen bedeuten die Nommem.)
d*Albmbert*8 Prinzip 394, 448, 502, 713.
Hamilton*8 Prinzip 360, 440, 631.
— Form der Bewegnngsgleichongen 380.
— Funktion 623.
— charakteristische Funktion 412, 649.
— Prinzipalfunktion 415, 655.
jAcoBi^sche Prinzipalfunktionen und charakteristische Funktionen 417.
LiAGRANGE^sche Bewcgungsgleichungeu 369, 374.
— Gleichgewichtsbedingungen 525.
— Kräfte 476.
— Funktion 621.
Newton^s Lex prima 383.
— Lex secunda 495.
— Lex tertia 469.
Prinzip der Erhaltung der Energie 340, 441.
— der kleinsten Wirkung, Maüpebtuis* Form 355, 441, 640.
— — — — jAcoBi'sche Form 349, 441, 638.
— des kleinsten Zwanges 390, 448, 709.
~ des Schwerpunktes und der Flächen 404, 406, 508, 509, 717.
— der virtuellen Geschwindigkeiten 520.
— — — Arbeit 521.
PoissoN*sche Form der Bewegungsgleichungen 377.
Berichtigung.
In Nummer 164, Seite 106, ist im Nenner zu setzen statt dp dp :
ddp^ddp^.
In Nummer 577, Seite 245 Zeile 4 v. u., findet sich in einem Teile der
Auflage, zufolge Verschiebung einer Letter während des Druckes, dp^-
statt dp^ .
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STANFORD, CALIFORNIA 94305-6004