Paul Deussen

Allgemeine geschichte der philosophie : mit besonderer berücksichtigung der religionen

이윤진이카루스 2016. 6. 26. 13:59

 

Full text of "Allgemeine geschichte der philosophie : mit besonderer berücksichtigung der religionen"

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DEUSSEN 
Ah) GßMEINE GESCHICHTE 
h)M PHILOSOPHIE 
CEIPZIB: 
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GESCHICHTE DEIl rHILOSOPHIE. 
ERSTER BAND, DRITTE ABTEILUNG. 
ALLGEMEINE ,T\ 
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE 
MIT 
BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER RELIGIONEN. 
Von 
Dr. PAUL DEUSSEN 
PROFESSOIl AN DER UNIVERSITÄT KIEL. 
ERSTER BAND, DRITTE ABTEILUNG: 
DIE NACHYEDISCHE PHILOSOPHIE DER INDER. 
NEBST EINEM ANHANG ÜBER DIE PHILOSOPHIE 
DER CHINESEN UND JAPANER. 
ZWEITE AUFLAGE. 
LEIPZIG: 
F. A. BROCK II A U S. 
1914. 
AUSSPRACHE. 
lu iudischeu Wörteru ist 
c, eil wie tsch, tschh 
j, jli wie tisch, dsclih 
zu sprechen; also: Yddschnavalkya, Tschhändogya usw. 
q ist ein mittlerer Laut zwischen s (stets scharf) und sli (= seh). 
Die Betonung richtet sich, wie im Lateinischen, nach der Quantität 
der vorletzten Silbe; ist dieselbe lang, so hat sie den Akzent, ist sie 
kurz, so liegt er auf der drittletzten Silbe (e und o sind stets lang). 
Nach der von uns befolgten Schreibweise sind alle Wörter auf a 
Maskulina, alle auf ä, Feminina, alle auf am Neutra: der Vedmita^ 
die Mhnänsd, das Sänkhyam (sc. darQanam). 
voinvorvT zi u ersten aiflace. 
Der Plan, in einer mir als Lebensaufgabe vorgesetzten, 
neuen und eigenartigen* Bearbeitung der Allgemeinen Ge- 
schichte der Philosophie der griechischen, biblisch- mittelalter- 
liehen und neuern Philosophie eine möglichst eingehende 
Darstellung der Philosophie der Inder vorausgehen zu lassen, 
--^«ntstand zuerst vor fünfunddreifsig Jahren im November 1873 
' unter dem Eindruck der Vorlesungen, welche ich damals als 
N^ Privatdozent der Universität Genf über Philosophie und das 
von mir dort begründete Sanskrit hielt. Der Durchführung 
dieses Unternehmens ist seit jener Zeit die beste Kraft jedes 
Jahres und jedes Tages fünfmal sieben Jahre hindurch ge- 
Aj) widmet gewesen: die ersten sieben Jahre vergingen über der 
Einarbeitung in das Gebiet, die zweiten sieben brachten als 
r^ Erucht das System des Yedänta (1883) und die Sütra's des 
t Vedänta (1887), die dritten sieben die Philosophie des Veda 
bis auf die Upanishad's (1894), die vierten sieben die Sechzig 
Upanishad's des Veda (1897) und die Philosophie der Upa- 
nishad's (1899), die fünften sieben endlich die Vier philo- 
^sophischen Texte des Mahäbhäratam (1906) und im vor- 
'- liegenden Bande den Abschlufs der Indischen Philosophie, 
/^ Alle diese Schriften weisen auf einander hin, erläutern 
■ sich o;eo;enseitio- und schliefsen sich zu einem einheitlichen 
"' Ganzen zusammen. So ist namentlich die zweite Abteilung 
■der Geschichte der Philosophie auf den in den Sechzig Upani- 
shad's übersetzten Texten und den beigegebenen Einleitungen 
und Erläuterungen aufgebaut, und ebenso war die Darstellung 
|^<ler Philosophie des epischen Zeitalters, wie sie den Eingang 
^ der vorliegenden Abteilung bildet, nur möglich, nachdem ihr 
^^^^nsere Übersetzung der Vier philosophischen Texte des Mahä- 
\9: 
^ * Vergleiche darüber das in der Vorrode zur ersten Abteilung des 
^v^ Werkes S. V — VIII Gesagte. 
VI Vorwort. 
bhäratam vorangegangen war. Schon in der Einleitung zu 
diesen sprachen wir uns dafür aus, dafs die im ^lahabhäratani 
und den verwandten Partien des Manu vorhegenden philo- 
sophischen Gedanken nicht sowohl den Charakter einer 
Mischphilosophie, als vielmehr den einer Übergangs- 
philosophie an sich tragen, — und wo sonst, wenn nicht 
in diesen, nach Sprache, Metrik und Gedanken zwischen der 
vedischen und der klassischen Literatur die Mitte haltenden 
epischen Texten hätten wir den Übergang vom Idealismus 
der altern Upanishad's zum Eealismus des klassischen Säii- 
khyam zu suchen? Wie dieser Übergang im einzelnen zu 
denken sei, haben wir im ersten Abschnitte der vorliegenden 
Abteilung an der Hand der epischen Texte zu zeigen ver- 
sucht. Freilich sind diese nicht die ursprünglichen (für uns 
verlorenen) Denkmäler jenes Entwicklungsganges, sondern 
enthalten nur deren poetische Keflexe im Geiste der Mahä- 
bhärata- Dichter, welche keine systematischen Denker waren 
und daher oft ältere und jüngere Gedanken in einer wenig 
zusammenstimmenden Weise bunt durch einander mischen. 
In diesem Sinne ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man 
in ihrer Philosophie eine Mischung sieht, nicht sowohl zwischen 
der Upanishadlehre und dem klassischen Sänkhyam, als viel- 
mehr zwischen den verschiedenen Phasen, welche von jener 
zu diesem im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte übergeleitet 
haben. Die historische Darstellung mufs das Recht in Anspruch 
nehmen, zu sondern, was hier durch einander gewirrt erscheint,, 
und die vom Vedänta derUpanishad's zum Sänkhyam deslgvara- 
krishna überleitenden Gedankenfäden aus den epischen Texten,, 
wenn auch vielfach nur hypothetisch, zu rekonstruieren. 
Gleichzeitig mit dieser Entwicklung, die etwa von 500 bis 
200 a. C. reichen mag, und mit ihr vielfach sich berührend ist der 
ursprüngliche Buddhismus, dessen Entstehung und weitere 
Fortentwicklung wir in der Kürze verfolgt, und dessen ebensosehr 
zur Philosophie wie zur Religion gehörige Hauptlehren wir einer. 
Vorwort. VIl 
wie ^vil• denken, gerechten, von Überschätzung und ünter- 
schätzung gk^ichweit entfernten Kritik unterzogen hüben. 
An die epische Periode schhefst sich (etwa von 200 a. C. 
bis 14)00 p. C. und in ihren Ausläufern bis auf die Gegenwart 
reichend) die Zeit des khissischen Sanskrit, in welclier aus 
den in den Upanishad's enthaltenen und in der epischen Zeit 
fortentwickeken Keimen eine Reihe philosophischer Systeme 
nicht sowohl nach einander (wie zumeist in der griechischen 
und neuern Philosophie), als vieknehr neben einander er- 
wachsen sind. Da die äkesten Denkmäler, in denen uns 
diese Systeme vorliegen, schon das Endresultat einer längern, 
für uns verloren gegangenen Entwicklung sind, so bleibt 
fraglick, ob wir in betreff der ursprünglichen Genesis der- 
selben und ihrer Einwirkung* auf einander jemals weiter als 
zu blofsen Vermutungen gelangen werden. Bei dieser Lage 
der Sache haben wir uns, um dem Urteile des Lesers und 
der eigenen, künftigen Entschliefsung in keiner Weise vor- 
zugreifen, an die Reihenfolge gehalten, wie sie in dem geist- 
vollen, von Müdhava (um 1350 p. C.) verfafsten Sarva-darrana- 
Sünujraha, dem „Kompendium aller Systeme", vorliegt, vom 
weniger Wertvollen zum Wertvollem fortschreitet und für 
viele der behandelten Systeme die wichtigste, für manche die 
einzige uns bisher zugängliche Quelle bildet. 
Von dem Wunsche geleitet, hier wie überall tunlichst 
urkundlickes Material dem Leser in die Hände zu geben und 
ihm so das Sehen mit eigenen Augen zu ermöglichen, haben 
wir die neun ersten dieser Systeme in wortgetreuer Über- 
setzung aus dem Sarva-dargcDia-samr/mha mitgeteilt, wodurch 
die ^Möglichkeit geboten wird, in die Werkstätte der indischen 
Denker einen Einblick zu gewinnen, und nicht nur ihre Philo- 
sophie, sondern auch ihr Philosophieren kennen zu lernen. 
Erinnert auch ihre Methode vielfach an die mittelalterliche 
Scholastik, ja mitunter sogar an die griechische Sophistik, 
so sind ihre Argumentationen doch überall scharfsinnig und 
VIII Vorwort. 
zum eigenen Denken anregend ; auch hoflen wir, dafs unsere 
Übersetzung, so grofse Anstrengungen sie auch hin und 
wieder dem Leser zumutet, doch in jeder Zeile bis auf den 
Grund klar und daher des ernsten Durchdenkens wohl wei't ist. 
Anders war bei den sechs obern, den sogenannten ortho- 
doxen Systemen zu verfahren, deren Darstellung aus den noch 
vorhandenen Grundwerken, den Sütra's und der Sähkhya- 
Kärika, geschöpft werden konnte. Für drei derselben, das 
naturwissenschaftliche System der Vai^-csJiiJcas, das logische 
des Jsyuya und das rituelle der Mimmsu, durfte für unsere 
Zwecke eine kürzere Übersicht des Inhaltes s-enügen. Um 
so eingehender waren die drei metaphysischen Hauptsysteme, 
das Süülchyani des Kapiht , der Yoga des PatavjaJi und der 
Ycdänta des (Jaülcara darzustellen. Hier mufste, um unserer 
Arbeit auch für die fernere Zukunft die Brauchbarkeit zu 
sichern und zu vermeiden, dafs sie in kurzer Zeit durch 
weitere Forschungen überholt und beiseite geschoben würde, 
ein monographisches Verfahren eingeschlagen werden, in der 
Art, dafs wir für jedes System die Hauptquelle in Text und 
Übersetzung mitteilten und ausschliefslioh auf Grund derselben 
eine möglichst erschöpfende Darstellung zu gewinnen bemüht 
waren, w^ eiche durch weitere Erforschung und Bearbeitung 
des Gebietes nicht sowohl der Berichtigung als vielmehr nur 
der Ergänzung bedürftig sein wird. Durch diese Erwägungen 
bestimmt haben wir für das Sähkhyasystem die SäfiJiJtya- 
KäriJiä des Igvarahrislma und für das Yogasystem die Yoga- 
Sfitra's des FatanjaJi zugrunde gelegt, während für den Ycdänia 
des Q\(nJiara dasselbe durch unsere frühern Arbeiten, ,,Die 
Sütra's des Vedänta nebst dem Kommentare des ^ankara" 
(1887) und „Das System des Vedänta" (1883) durchgeführt 
worden war, daher wir uns hier mit einer kurzen, dem System 
des Vedänta entnommenen Rekapitulation begnügen konnten. 
um jedoch auch den spätem, von Qankara abhängigen, aber 
manche Bestandteile der Sähkhvadoktrin in sich aufnehmenden 
Vorwort. IX 
Vedanüi zur Anschauung zu bringen, wurde zum öclilufs 
eine Analysis des Vcdänidsäru nebst einer neuen Übersetzung 
dieses vielgelesenen Kompendiums der Vedäntalehre bei- 
gefügt, welche beide auch nach allen frühern Arbeiten dar- 
über willkommen sein werden. 
In einer „Allgemeinen Geschichte der Philosophie", wenn 
sie diesen Namen mit Recht beanspruchen will, durfte als 
Anhang zur Philosophie der Inder und als Abschlufs der 
ganzen ostasia tischen Philosophie eine kurze Übersicht der 
philosophischen Anschauungen der Cliinesen und Japaner 
nicht fehlen, bei "welcher neben den neuesten Geschichten der 
chinesischen und japanischen Literatur von Grube (1902) und 
Florenz (1906) auch ältere Übersetzungen und Darstellungen 
sich von grofsem Nutzen erwiesen. Eine eingehendere Be- 
handlung erfuhr nur das Tao-ie-lMuj des Lao-isc, welches 
jedenfalls das Wertvollste ist, was China zum Aufbau des 
geistigen Lebens der Menschheit beizutragen vermag. Dank- 
bar möchte ich hier meines verewigten alten Freundes Wilhelm 
Schott gedenken, dessen persönlichem Umgange in den Jahren 
1881 — 1889 ich mannigfache Anregungen und Belehrungen 
über jenes ferne Gebiet des menschlichen Wissens verdanke. 
Schliefslich möchte ich nicht unterlassen, Herrn cand. 
pliilos. Alfred Menzel für die verständnisvolle und gewandte 
[Mithilfe, welche er mir bei Herstellung des Manuskripts und 
Überwachung der Drucklegung des vorliegenden Bandes ge- 
Avährt hat, meinen warmen Dank auszusprechen, zugleich mit 
der Hoffnung, dafs es ihm möglich sein werde, mir auch bei 
Ausarbeitung der noch übrigen, für die griechische, biblisch- 
mittelalterliche und neuere Philosophie vorbestimmten Ab- 
teilungen des Werkes seine treue [Mitarbeiterschaft zu erhalten. 
Kiel, im Juni 1908. 
P. D. 
X Vorwort. 
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGIE. 
Es ist ein erfreuliches Zeichen für das zunehmende Inter- 
esse an der Religion und Philosophie des alten Indiens, dafs 
auch von der vorliegenden dritten Abteilung unserer „Geschichte 
der Philosophie" schon nach fünf Jahren eine neue Auflage 
erforderlich geworden ist, obgleich gerade diese Abteilung 
durch ausgiebige Mitteilungen aus den Werken indischer 
Denker dem Leser stellenweise eine nicht geringe Anstrengung 
zumutet. Aber vielleicht hat gerade der Reiz, hier nicht nur 
indische Gedanken aus zweiter Hand zu empfangen, sondern 
auch das indische Denken mit seinen scharfsinnigen und doch 
oft so naiven Argumentationen kennen lernen zu können, dazu 
beigetragen, dem Buche so zahlreiche Freunde zu gewinnen. 
Zu nennenswerten Änderungen hat sich mir kein Anlafs 
geboten; namentlich freue ich mich, dafs meine Auffassung^ 
der Philosophie des epischen Zeitalters als einer Ubergangs- 
philosophie vom Idealismus der altern Upanishad's zum Realis- 
mus des klassischen Sankhyam die Zustimmung kompetenter 
Beurteiler gefunden hat. Auch bedauere ich nicht, der heut- 
zutage vielfach herrschenden Überschätzung des Buddhismus 
durch meine, auch hier im Grunde nur die Quellen selbst zu 
Worte kommen lassende, Darstellung entgegengetreten zu sein. 
Wenn die indische Gedankenwelt dazu mitwirken kann, uns 
aus der Gefangenschaft altererbter Vorurteile zu befreien, so 
sollte sie uns doch nicht verleiten, uns wiederum in ein anderes 
Gefängnis einschliefsen zu lassen. 
Auch für diese dritte Abteilung hat Herr Dr. Johannes 
Brune in Schleswig die Revision der Druckbogen bereitwillig 
übernommen, wofür ich nicht unterlassen möchte, ihm meinen 
freundlichen Dank auszusprechen. 
Kiel, im Oktober 1913. 
P. D. 
INHALTSÜBERSICHT. 
Seite 
Vorwort V 
DRITTE PERIODE DER INDISCHEN PHILOSOPHIE: 
DIE NACHVEDISCHE ZEIT. 
(c. 500 a. C. bis 1500 p. C). 
Vorbemerkung, Plan und Anordnung 1 
Der nachvediscben Periode erster Abschnitt: 
DIE PHILOSOPHIE DES EPISCHEN ZEITALTERS. 
I. Die literarischen Verhältnisse 8—21 
1. Vorbemerkungen 8 
2. Stellung des Epos zum Veda 12 
0. Das Sänkhyam und der Yoga im Epos 15 
4. Andere philosophische Richtungen 18 
II. ontologie und Theologie 21—37 
1. Vorbemerkungen 21 
2. Brahnian-Atman als alleiniges Weltprinzip 22 
3. Die Prakriti abhängig vom Atman 23 
4. Die Prakriti unabhängig vom Atman (Purusha) 24 
5. Der Purusha von der Prakriti isoliert 26 
t). Theologische Fortentwicklungen 29 
7. Monotheistische Bestrebungen 34 
IM. Kosmologie und Psychologie 38—74 
1. Vurbemerkungen 38 
2. Die psychisch-kosmischen Organe des Weltschöpters . . 38 
3. Der Schöpfungsbericht des Manu 39 
4. Allmählicher l'bergang der Schöpfertätigkeit vom Ätman 
auf die Prakriti 42 
XII Inlialtsübeisicht. 
Seite 
5. Weltperioden und Weltvernichtung 45 
6. Die Prakriti und ihre drei Guna's 47 
7. Die Prakriti und ihre Entfaltungen 51 
8. Die Buddhi (der Mabän Atmä) 55 
9. Der Aliankära 56 
10. Das Manas und die Indriya's 58 
11. Der feine Leib (Bhiitiitman, Lingaai) G3 
12. Die Elemente (bhüta) und ihre spezifischen (^»ualitäten 
(vi^esha) 65 
13. Die fünf Präna's und der Jiva 69 
14. Nachträgliches zur Kosmologie und Psychologie .... 72 
IV, Ethik und Eschatoiogie 74—114 
1. Unfreiheit des Willens und Moralität 74 
2. Kasten und A^rama's 84 
3. Erkenntnis und Yoga als Wege zum Heil 95 
4. Seelenwanderung und Vergeltung 101 
5. Tod und Schicksale nach dem Tode 104 
6. Die Erlösung 109 
Anhang zirr Philosophie des epischen Zeitalters : 
DER BUDDHISMUS. 
I. Vorbemerkungen 115-125 
1. lleligion und Philosophie 115 
2. Jainismus und Buddhismus 116 
3. Einiges über die Jaina's 118 
4. Über die Quellen des Buddhismus 120 
5. Die buddhistische Zufluchtsformel 125 
II. Buddha's Leben 125—145 
1. Von der Geburt bis zum grofsen Auszuge aus der Heimat 125 
2. Vom Auszuge aus der Heimat bis zur Erlangung der 
Buddhaschaft 132 
3. Von der Erlangung der Buddhaschaft bis zum Tode . . 138 
!ll. Dharma, die Lehre 145—169 
1. Vorbereitendes 145 
2. Die vier heiligen Wahrheiten 117 
3. Die Predigt von Benares und die Bergpredigt 156 
4. Die fünf Skandha's 157 
5. Die zwölf Nidäna's 163 
6. Sänkhyaphilosophie und Buddhismus 168 
IV. Sangha, die Gemeinde 170—189 
1. Die Organisation der Buddhagemeinde 170 
2. Einiges zur Geschichte des Buddhismus 176 
3. Mythischer Bericht über die Ausrottung des Buddhismus 181 
Iiilialtsüborsicht. XllI 
Der nachvedisclien Periode zweiter Abschnitt: 
DIE rillLOSOPHISCHEN SYSTEME. 
Seite 
Vorbemerkungen und Übersicht 190 — 192 
Vorwort des Müdhava-Acärya zum Sarva-dar^ana-sanigralia 192 
I. Die Cärvälta's oder IVIaterialisten 194 
II. Die Bauddha's oder Buddhisten 204 
III. Die Ärhata's oder Jaina's 231 
IV. Die Lehre des Rämänuja 259 
V. Die Lehre des PürnaprajRa 284 
VI. Die Lehre der NakuITca-päcupata's 302 
VII. Die Lehre der Caiva's 312 
VIII. Die Lehre von der Wiedererkennung 326 
IX. Das Quecksilbersystem 336 
X. Das Vaiceshikam des Kanada 345—360 
1. Vorbemerkungen 345 
2. Name, Quellen und Grundbegiil'l'e des Vai^esliikam . . 346 
3. Zweck des Systems 847 
4. Die sechs Kategorien 348 
I. dravyam, die Substanz 349 
IL giina, Qualität 353 
III. Icarman, die Tätigkeit 358 
IV. sämänyam, die Gemeinsamkeit 359 
V, vigesha, die Verschiedenheit 359 
VI. saviavdya, die Inhärenz 359 
VII. abhäva, das Nichtsein 360 
XI. Der Nyäya des Gotama 361—388 
1. Vorbemerkungen 361 
2. Ursprung, Name und Quellen des Nyäya 362 
3. Die sechzehn Kategorien des Gotama 365 
I. prawünam, die Erkenntnisnorm 366 
11. prameyam, das Erkenntnisobjekt 370 
III. scmu^aya, der Zweifel 376 
IV. prayojiuiam, das Motiv 377 
V. drishtäiita, der Mustersatz 378 
VI. siddliänta, der Lehrsatz 378 
VII. avayaväh, die Glieder des Syllogismus .... 379 
VIII. tarka, Überlegung, Widerlegung 381 
IX. nirnaya, die Entscheidung 382 
X. väda, die Diskussion 383 
XL jalpa, die Disputation 383 
XII. vitanda, die Schikane 383 
XIII. hetH-dbha.ia, der Scheingrund 384 
XIV Inhaltsübersicht. 
Seite 
XIV. clialam, die Verdrehung 386 
XV. jäti, die Albernheit 387 
XVI. nigraha-sthunam, der Abbruchsgnind 387 
Schlufsbemerkung zum Nyäya 387 
XII. Die MTmähsä des Jaimini 389—397 
1. Name und Zweck der Mimäiisä 389 
2. Inhalt der Mimäiisä des Jaimini 391 
3. Ursprung und Methode der Mimäiisä 392 
4. Erkenntnisnormen und Erkenntnisobjekte der Mimäiisä 395 
XIII. Das grammatische System des Pänini 398—407 
1. Brahman, Welt und Veda 398 
2. Der Sphota 399 
3. Kritik des Sphota bei Qankara 401 
XIV. Das Sänkhyam des Kapila 408—506 
Vorbemerkungen 408 
A. Die Sänkhya-Kärikä des I^varakrishna .... 413 — 466 
1. Einleitung 413 
2. ontologie 421 
3. Psychologie 435 
4. Pathologie 450 
5. Kosmologie 456 
6. Eschatologie 459 
7. Epilog 465 
B. Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach 
der Sänkhya-Kärikä 467 — 506 
1. Die Grundanschauungen des Systems 467 
2. ontologie oder die Lehre von den drei Grund- 
prinzipien Avyaktam, Vyaktam und Purusha. . . 474 
3. Psychologie oder die Lehre von dem Hervorgehen 
des psychischen Komplexes (Liilgam) aus der Prakriti 488 
4. Pathologie oder die Lehre von den Bhäva's . . . 498 
5. Kosmologie oder die Lehre von der Welt .... 503 
6. Eschatologie oder die Lehre von der Gebundenheit 
und Erlösung 504 
XV. Der Yoga des Patafijali 507—578 
Vorbemerkungen 507 
A. Die Yoga-Siitra's des Patafijali 511 
Erster Text 1,1—16 511 
Zweiter Text 1,17—51 513 
Dritter Text 2,1—27 519 
Vierter Text 2,28—3,55 523 
Erster Xachtragteil 4,1— ß 536 
Zweiter Nachtragteil 4,7 — 13: Karman und Väsanä's 537 
Inhaltsübersicht. XV 
, Seite 
Dritter Nachtragteil 4,14 — 23: Vastu, Cittam, Turusha 539 
Vierter Nachtragteil 4,24 — 33: Kaivalyara 541 
B. Das Yogasystem nach den Yoga-Sütra"s des Pa- 
tau jali 513—578 
1. Allgemeine Übersicht und Grundbegriffe 543 
2. Metaphysik des Yogasystems 545 
3. Psychologie des Yoga 552 
4. Praktische Philosophie 559 
XVI. Der Vedänta des Cankara und Sadänanda 579—670 
Vorbemerkungen 579 
A. Das Vedäntasystem nach den Sütra's des Bä- 
daräyana und dem Kommentar des Tankara 
über dieselben 586 — 614 
1. Einleitung 586 
2. Theologie 588 
3. Kosmologie 593 
4. Psychologie 602 
5. Seelenwanderung 607 
6. Erlösung 610 
B. Der Vedäntasara des Sadänanda 615 — 638 
Vorbemerkungen 615 
1. Vorwort und Thema 620 
2. Voraussetzungen des Vedänta 621 
3. Adhyäropa, die Aufbürdung 622 
4. Avarana(;akti, die Verhüllungskraft des Nichtwissens 624 
5. Die Ausbreitung (vUcshepa) des feinen Leibes und 
der feinen Welt 626 
6. Die Ausbreitung (vikshejyi) des groben Leibes und 
der groben Welt 628 
7. Polemischer Teil 630 
8. Apaväda, die Aufhebung G31 
9. Das grofse Wort: tat tvam asi 632 
10. Das grofse Wort: nhnm hruhma asmi 634 
11. Die vier Anushthäna's 635 
12. Jivanmukta, der bei Lebzeiten Erlöste 636 
C. Übersetzung des Vedäntasara G39— 670 
1. Vorwort und Thema 639 
2. Voraussetzungen des Vedänta 640 
3. Adhyäropa, die Aufbürdung 643 
4. Avaranarakti, die Verhüllungskraft 646 
5. Die Ausbreitung (vilshepa) des feinen Leibes und 
der feinen Welt 647 
6. Die Ausbreitung (vikshepa) des groben Leibes und 
der groben Welt 651 
XVI Inhaltsübersiclit. 
• Seite 
7. Polemischer Teil 654 
8. Apaväda, die Aufhebung G57 
9. Das grofse Wort: tat tvam asi 658 
10. Das grofse Wort: aham braJima asmi 663^ 
11. Die vier Anushthäna's 664 
l'i. Jivanmukta, der bei Lebzeiten Erlöste 668 
Anhang zur indischen Philosophie: 
EINIGES ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER CHINESEN 
UND JAPANER. 
I. China, Vorbemerkungen 673—681 
1. Land und Leute 67S 
2. Sprache und Schrift 674 
3. Geschichte 676 
4. Die drei Lehren 678 
5. Lao-tse und Kong-fu-tse 679 
6. Anordnung 680 
II. Confucius und sein Wirken 681—691 
1. Die alte chinesische Reichsreligion 681 
2. Das Leben des Confucius 683 
3. Die fünf King oder kanonischen Bücher 685 
4. Die vier Schu oder klassischen Bücher 689 
III. Lao-tse und das Tao-te-king 692—704 
1. Lao-tse und sein Werk 692 
2. Philosophische Grundanschauungen: das Tao als letzter 
Urgrund und höchstes Ziel 693 
3. Wesen des Tao 694 
i. Die irdische Welt und ihre Gegensätze 696 
5. Ethik des Tao-te-king 697 
6. Politik des Tao-te-king 702 
IV. Einiges über die Fortentwicklung der chinesischen Philosophie . 704 — 709 
1. Der Taoismus 704 
2. Der Confucianismus 704 
3. Der Buddhismus 705 
4. Der Neu-Confucianismus des Tschou-tse und Tschu-hi . 707 
V. Blick auf Japan 710—715 
1. Vorbemerkungen ''10 
2. Das alte Japan und die Schinto- Religion 711 
3. Der Buddhismus in Japan 712 
4. Neu-Confucianismus und Gegenströmungen 712 
5. Beschlufs 715 
Index 716 
Dritte Periode der indischen Philosophie: 
Die nachvedische Zeit. 
(ca. 500 a. C — 1500 p. C.) 
Vorbemerkung, Plan und Anordnung. 
^ 1. Das geistige Leben der Inder zeigt in seiner Ent- 
wicklung bemerkenswerte Analogien mit der griechischen Philo- 
sophie. Wie in Griechenland auf das mutige Aufstreben der 
vorsokratischen Zeit, auf die heifse Gedankenarbeit des So- 
krates, Piaton und Aristoteles die nacharistotelische Zeit 
folgt, an zeitlichem und räumlichem Umfang jenen beiden 
ersten Perioden weit überlegen, an Tiefe und Bedeutung aber 
ebenso sehr hinter ihnen zurückstehend, — so folgt in Indien 
auf die ersten Flügelschläge des philosophischen Genius im 
Rigveda und auf den hohen Flug, den dieser Genius in den 
Upanishad's, namentlich den altern, nimmt, die nachvedische 
Zeit, in welcher ein, seinem Aufkeimen nach schon in den 
spätem I'panishad's bemerkbarer, unphilosophischer Realismus 
üppig fortwuchert und zu einer ganzen Reihe philosophischer 
Systeme sich entwickelt, von denen sechs für orthodox (ästika), 
d. h. für vereinbar mit dem Vedaglauben, die übrigen für 
heterodox und ketzerisch (näsWka) gelten. — So wie aber in 
Griechenland fünf Jahrhunderte nach Aristoteles der Neu- 
platonismus erstand, welcher über die minderwertigen und 
keine dauernde Befriedigung gewährenden Systeme der Stoiker 
DEX7SSEN, Geschichte iler Philosophie. I, iii. 1 
9 Die nachvedisclie Zeit. 
und Epikureer zurückgrifi' auf Piaton und Aristoteles und diesen 
nach halber Vergessenheit zu der ihnen gebührenden, domi- 
nierenden Stellung verhalf, welche sie das ganze Mittelalter 
hindurch und in gewissem Sinne bis auf die Gegenwart be- 
halten haben, — so war es in Indien Caiikara (geboren wahr- 
scheinlich 788 p. C, gerade 1000 Jahre vor dem ihm geistes- 
verwandten Schopenhauer), welcher die nachvedischen Systeme, 
namentlich das Sänkhyasystem und den Buddhismus mit rück- 
sichtsloser Bitterkeit bekämpfte, auf die reine Lehre der 
Upanishad's zurückgrifi' und aus den in ihnen vorliegenden 
Materialien einen theologisch -philosophischen Bau errichtete, 
Avelcher bis in die Gegenwart hereinragt und noch heute das 
Glaubensbekenntnis der überwiegenden Mehrzahl aller der- 
jenigen Inder bildet, welche das Bedürfnis einer philosopliischen 
Grundlage ihrer "Weltanschauung empfinden. 
§ 2. Zwischen der vedischen Zeit und der des spätem, 
klassischen Sanskrit liegt eine Übergangsperiode, welche wir 
nach den hauptsächlich für uns in Betracht kommenden 
Quellen die epische Periode nennen können, da wir die 
Philosophie dieses etwa von 500 a. C. an durch mehrere Jahr- 
hunderte sich erstreckenden Zeitalters vornehmlich in den 
umfangreichen philosophischen Texten zu suchen haben, welche 
dem als das 3Ia1iahharatam, „das grofse Lied von den Bhärata's" 
bekannten Riesenepos einverleibt worden sind, und zu deren 
Ergänzung die nahe verwandten philosophischen Abschnitte 
aus dem Gesetzbuche des Manu herangezogen werden müssen. 
Mag die endgültige Redaktion dieser Denkmäler auch noch 
so spät anzusetzen sein, mögen sich in ihnen noch so viele 
EinSchiebungen finden, welche einer erheblich Jüngern Zeit 
angehören, dafür, dafs die Entstehung der hier vorliegenden 
Gedanken und ihre Ausprägung in der Form, wie sie uns über- 
liefert worden ist, im wesentlichen einer weit frühern, vor 
Pänini und dem auf ihm beruhenden klassischen Sanskrit 
vorhergehenden Zeit angehört, legen Sprache, Metrik und vor 
allem der Charakter dieser Gedanken selbst ein Zeugnis ab, 
welches durch den Nachweis von Spuren einer spätem Über- 
arbeitung nicht erschüttert werden kann. Zunächst ist es die 
epische Sprache, welche in "Wortschatz und Flexion eine 
VorboniorkniiK, IMan und Auordiuiug. 3 
grofse Anzahl von Anomalien aufweist, die im klassischen 
Sanskrit nicht mehr o-eduklct werden und die Sprache der 
epischen Denkmäler als die unmittelbare Fortsetzung der in 
den Brahmana's uml namentlich in den Upanishad's herrschen- 
den Freiheit des Sprachgebrauches erweisen. Ebenso sehr aber 
hält die ^Metrik der epischen Zeit die Mitte zwischen der im 
Veda herrschenden Freiheit und der strengen Gesetzmäfsigkeit 
der spätem Zeit. So ist die vedische elfsilbige Trishtubh im 
Epos noch nicht zm* Indravajra ( ^ ^^^^^^) imd 
üpendrava jra (^_w ■^ -^ -.-^ — ^)? die vedische zwölfsilbige 
Jagati noch nicht zur Indravan^ä ( v>_ ^ ^_w_v^^) und 
Van(;astlia (\^_w ^ w_^_^w] geworden, sondern sind 
erst auf dem Wege es zu werden, so dafs die metrische Frei- 
heit im ]\Iahal)haratam noch beinahe ebenso grofs ist wie in 
den späteren Upanishad's des Veda. Mehr aber noch als 
Sprache und Metrum sind es die im Mahäbhäratam vorliegen- 
den philosophischen Gedanken, welche unzweifelhaft das 
verbindende Mittelglied zwischen der Vedaphilosophie der 
l'panishad's und den philosophischen Systemen der klassischen 
Zeit, vor allem dem spätem Sänkhyam bilden, wie dies weiter 
unten des nähern auszuführen sein wird. Gleichzeitig mit der 
epischen Philosophie und auf demselben Gedankenboden wie 
diese entstanden sind die beiden häretischen Religionen des 
Jainismus und Buddhismus ; daher ihre innere Verwandtschaft 
mit der Sänkhyalehre und der Streit unter den Forschern 
über die Abhängio-keit der Buddhalehre von der Sänkhya- 
Philosophie, den wir zur Befriedigung beider Parteien zu 
schlichten hotfen dürfen. 
§ 3. Aus der in den Upanishad's vorliegenden Gedanken- 
welt, wie sie durch die realistischen Tendenzen der epischen 
Zeit modifiziert worden war, hat sich weiterhin in der so- 
genannten klassischen Periode oder der Sanskritzeit im engern 
Sinne eine ganze Reihe philosophischer Systeme entwickelt, 
deren Mädhava (um 1350 p. C.) in seinem ausgezeichneten 
Werke Sarva-dargana-scülgraha (d. i. „Übersicht aller Systeme") 
mit dem schon durch diesen Titel bekundeten Ansprüche auf 
Vollständigkeit im ganzen sechzehn aufzählt. Diese für ihn 
als Vedtintisten strengster Observanz geweihte Zahl von 
1* 
4 Die nachvedisclie Zeit. 
4x4= 16 hat er nur durch Aufnahme einiger kaum noch zur 
Philosophie gehöriger Richtungen erreicht; um so mehr dürfen 
wir annehmen, dafs nichts Wesenthches von ihm ühergangen 
ist. Er ordnet diese sechzehn Systeme, vom weniger Wert- 
vollen zum Wertvolleren aufsteigend, in folgender Weise an: 
I. Die CärväJva's oder Materialisten. 
II. Die BauddJia's oder Buddhisten. 
in. Die ArJiata s oder Jaina's. 
IV. Die Lehre des Ilämänuja (als Vertreters der Päücarätra's 
oder Bhägavata's). 
V. Die Lehre des Parnaprajita {Anandatirtha, Madliva, ge- 
boren angeblich 1199 p. C). 
VI. Die Lehre der Nakulh^a-pärupata's. 
VII. Die Lehre der CJaiva's. 
VIII. Die Lehre von der Wiedererkennung (praiyabhijnä). 
IX, Baservara, das Quecksilbersystem. 
X. Das Vaigeshiliam des Kanada. 
XL Der Nyäya des Gotania. 
XII. Die Mtmäiisä des Jaimini 
XIII. Das grammatische System des Pänini. 
XIV. Das Säülihyam des Kapila. 
XV. Der Yoga des Patanjali. 
XVI. Der Vcdänta des Caukara. 
Sechs dieser Systeme, nämlich: 
Nyäya und Vai(^es]iiJcam, 
SänMiyani und Yoga, 
Mimänsä und Vedänfa 
bilden das Shaddarranam, „die Sechszahl der Systeme", auch 
die orthodoxen (ästika) Systeme genannt, weil sie mit dem 
Vedaglauben für vereinbar galten, was, streng genommen, 
allerdings nur auf die beiden letztgenannten zutrifi't. 
Diese sechs Systeme sind uns überliefert in der Form 
von Sütra's (Leitsprüchen), ganz kurzen, oft nur aus zwei oder 
drei Worten bestehenden Aphorismen, für den Schulbetrieb 
und zum Auswendiglernen bestimmt, welche nicht sowohl die 
Schlagworte oder Grundbegriffe des Systems als vielmehr die 
Stichworte zur Stütze des Gedächtnisses enthalten und viel- 
Vorbomcrkniig, Plan und Anordnung. 5 
facli ohne die ursprünolidi wohl nur mündlich, später schrift- 
lich beiuTgehenon Kommentare nicht verständlich sind. So 
liegen der Ni/nifa in 538, das Vaircsliikam in 370, das SürilJn/am 
in 5-f(), der Yoga in 194, die Mimäi).^ä in 2742 und der 
Vcddnta in 555 solcher Sütra's vor, und diese Gestalt ist, mit 
Ausnahme des S(hiJc)ii/ant, für welches wir in der Sdnkhya- 
KäriM eine ältere und bessere Quelle haben, die älteste Form, 
in der uns die Systeme erhalten sind. Zu ihrem Verständnisse 
mufs man die zahlreich vorhandenen Kommentare und Super- 
kommentare zu diesen Kommentaren heranziehen, und hierin 
liegt eine grofse Schwierigkeit. Denn zunächst ist nur zu 
oft richtig, was ein Vers (Bhojaraja's Vritti zum Yogasütram, 
Einleitung Vers 6) von den Kommentaren sagt: 
Ist die Sache schwer verständlich, 
Sagen sie: der Sinn ist klar. 
Wo der Sinn vollkommen klar ist, 
Machen sie ein breit Geschwätz. 
Durch sinnlose Wortgeflechte 
Und durch vielen Redeschwall 
Da, wo er nicht angebracht ist. 
Stiften sie Verwirrung nur 
Bei dem Hörer und verdunkeln 
Nur die Sache. So verfahren 
Die Kommentatoren alle ! 
An dieser allzuharten und nur stellenweise zutreffenden 
Charakteristik der indischen Kommentatoren ist jedenfalls so 
viel richtig, dafs sie oft die selbstverständlichsten Dinge er- 
klären und hingegen dasjenige mit Stillschweigen übergehen, 
was nicht nur für uns, sondern auch für den Inder einer 
Erklärung bedurft hätte. 
Aber es besteht beim Gebrauche dieser Kommentare eine 
noch weit gröfsere Gefahr. ]\Iit jenem völligen Mangel an 
historischem Sinn, der für die Inder charakteristisch ist, hängt 
es zusammen, dafs der indische Ausleger nicht sowohl sich 
auf den Standpunkt seines Textes versetzt, um diesen mit 
liebender Hingebung zu erläutern, als vielmehr die Worte des 
zu erklärenden Autors nur benutzt, um an ihnen seinen eigenen, 
fortgeschrittenen Standpunkt zu entwickeln und zur G<dtung 
ß Die nachvetlisclie Zeit. 
zu brinsen. So wenic; daher auch die Kommentatoren ent- 
behrt werden können, um die oft absichthcli rätselhaften Worte 
des Textes, namenthch der philosophischen Sütra's, zu ver- 
stehen, so sehr mufs man sich doch hüten, ihnen. in allem zu 
folgen, was sie in den Text hineinlegen. Vielmehr ist jeder 
philosophische Kommentar anzusehen als der Ausdruck eines 
eigenen, fortentwickelten Standpunktes, der als solcher eine 
besondere Behandlung erfordert und oft auch verdient. Viele 
Verwirrung ist in den europäischen Darstellungen der indischen 
Philosophie dadurch entstanden, dafs man zum Aufbau eines 
Systems alles zusammenraffte, was zu erreichen war, und 
dadurch ein unklares, nicht zusammenstimmendes, nicht philo- 
sophisch durchdenkbares Bild der betreflenden Lehre lieferte. 
Das erste wird sein, dafs man bei jeder Schrift, Originalwerk 
oder Kommentar, sich streng und ohne Hereinziehen anderer 
Lehrmeinungen auf ihren Standpunkt stellt, diesen aber durch 
Ausschöpfung der betreffenden Schrift bis in die letzten Ver- 
zweigungen der Gedanken zu verfolgen sucht, wie wir dies 
im „System des Vedänta" vom Standpunkte des (^aiikara aus 
zu tun bemüht gewesen sind und in ähnlicher Weise im 
folgenden durchzuführen versuchen wollen, so weit dies zur 
Zeit möglich ist. 
Schier unübersehbar ist die Menge der über die Systeme 
der indischen Philosophie vorhandenen Schriften. So zählte 
Hall in seiner Bibhography of the Indian Philosophical Systems 
schon im Jahre LS59 für Sänkhyam 24, Yoga 06 -f 3, Nyäya 
202, Vai^eshikam 87 + 2, Vedänta 310 -[- 10, Mimänsä 85 + 2 
und (^aiva- Philosophie 4, im ganzen also 765 zum Teil sehr 
umfangreiche Schriften als Quellen der indischen Philosophie 
auf, und wieviel ist seitdem noch in den Descriptive Catalogues 
von Calcutta, Madras usw. hinzugekommen! 
Vor einer gründlichen, von europäischer Methode ge- 
leiteten Durcharbeitung dieses gesamten, teilweise schwierigen 
Materials wird an eine vollgenügende Darstellung dieser 
Periode der indischen Philosophie, etwa wie wir sie für die 
Philosophie der Griechen durch Zeller haben, nicht gedacht 
werden können, und bis dahin dürfte wohl noch viel Wasser 
die Gaiigä hinabfliefsen. 
Vorbemerkung, Plan und Anordnung. 7 
l'ntor (liesoii rnisdindcn wird jeder Versuch, die nacli- 
vedisclic» Philosophie Indiens zu sclireil)en, sich der Gefahr aus- 
setzen, nach zehn oder zwanzig Jahren infolge neuer Erobe- 
rungen auf diesem (lehiete veraltet zu sein. Um dieser Gefalir 
niitglichst zu entgehen, erheben wir von vornherein nicht den 
Anspruch, eine erschöpfende Darstellung der nachvedischcn 
Philosophie zu verfassen. Vielmehr werden wir uns zur Zeit 
mit einem idealen Durchschnitt begnügen müssen, indem wir 
ITir Jedes der wichtigern Systeme uns streng auf den Stand- 
punkt einer bestimmten llauptschrift über dasselbe stellen 
und diese nach allen Seiten auszuschöpfen suchen. Auf diesem 
Wege dürfen wir hoffen, eine Reihe von Monographien zu 
gewinnen, welche als solche ihren Wert behalten und durch 
die fortschreitende Bearbeitung der Quellen nur der Ergänzung» 
nicht der Berichtigung bedürftig sein würden. 
Der nachvedischen Periode erster Abschnitt: 
Die Philosophie des epischen 
Zeitalters. 
I. Die literarischen Verhältnisse. 
1. Vorbemerkungen. 
Die Hauptquelle für unsere Kenntnis der (den l'bergang 
von der Upanishadphilosophie zu den spätem philosophischen 
Systemen bildenden) Philosophie der epischen Zeit ist das 
Mahabhäratam, jenes grofse, aus 100000 Doppelversen be- 
stehende Nationalepos der Inder, welches in achtzehn oder, 
mit Einschlufs des Harivanga, neunzehn Büchern den auf Rück- 
erinnerungen an die Einwanderung in das Gangesland und 
die mit ihr verbundenen Kämpfe gegen die Urbewohner wie 
gegen die arischen Stämme unter einander beruhenden Ver- 
nichtungskampf zweier arischer, nahe verwandter Stämme, der 
Kuru's und der Pändava's gegen einander schildert. Das ganze 
AVerk, welches erst im Laufe der Zeit durch wiederholte l'm- 
arbeitungen und Einschiebungen zu seinem jetzigen Umfange 
gelangt sein mufs, ist durchwachsen von religiös -philoso- 
phischen, namentlich ethischen Reflexionen, welche, abgesehen 
von den überall eingestreuten Einzelheiten, in vier Komplexen 
kondensiert sind; diese, unter dem Titel: „Vier philosophische 
Texte des Mahabhäratam" vor kurzem (1906) von uns in 
I. Die literurischoii Vfrliiiltuisse. 9 
deutscher i bersetziing herausgegebenen HauptdenkmiUer (h'r 
epischen Philosophie sind: 
J. das S(()iatsi(Jäfa2iayraii, Buch V, 40 — 45 (41 — 4ß), 
IL die Bhagavadfi'iiä, Buch VI, 25 — 42, 
III. der Moishadhürma, Buch XII, 174—367, 
IV. die Anmiitä, Buch IV, 16—51. 
Wir werden diese Texte in der Folge sehr oft zu zitieren 
haben, wobei die erste Zahl das Buch (parvan), die zweite die 
Lektion fadhi/äi/a), die dritte, wo eine solche beigefügt ist, 
d(m Vers (riobi) des Mahäbhäratam (nach der Bombayer Aus- 
gabe) bezeichnet. Eine mit S. zugefügte Ziffer weist auf die 
Seiten unserer Übersetzung hin. 
Die Anlässe zur Einschiebung dieser philosophischen Epi- 
soden sind äufserst willkürlich gewählt, wie aus folgender Inhalts- 
übersicht der neunzehn Bücher des Mahäbhäratam erhellt. 
1. adi-parvau. Vorgeschichte der Kuru's und Pändava's. 
2. sabhä-parvan. Die Pändava's verlieren im Spiele ihr 
Reich und müssen in den Wald ziehen. 
3. vana-parvan. Zwöltjähriger Aufenthalt der Pändava's 
im Kämyaka -Walde. 
4. Viräla-parvcm. Dreizehntes Jahr der Verbannung, ver- 
bracht im Dienste des Königs Viräta. 
5. udijoga-iKirvan. Vorbereitung beider Parteien zum Kampfe. 
Dhritaräshtra, der blinde König der Kuru's, läfst den Vidura 
in der Nacht zu sich kommen, empfängt von ihm allerlei Be- 
lehrungen über weltliche Dinge und wird in betreff der höchsten 
Fragen auf den ewig jungen Weisen Sanatsujäta verwiesen, 
welcher von Vidura durch sein Denken veranlafst wird, in 
sichtbarer Gestalt zu erscheinen und dem Dhritaräshtra die 
im Sanatsujäta-parvan V, 40 — 45 enthaltenen Belehrungen 
zu erteilen. 
6. Blüshma-parvan. Beginn des Kampfes im Kurukshetram, 
einer Ebene nordwestlich von Delhi. Arjuna schreckt vor 
dem Kampfe mit seinen Verwandten zurück und wird von 
seinem Wagenlenker Krishna, der eine Inkarnation des Vishnu 
ist, durch Mitteilung der im Angesichte beider Heere vor- 
getragenen Bhagavadgitä \'I, 25 — 42 zum Kampfe ermutigt. 
lO I. Die litcrarisclien Verhältnisse. 
Bhishnia beieliligt die Kunrs, wird von Aijuna's Pfeilen töd- 
lich verwundet, lebt aber noch weiter, da ihm beschieden ist, 
erst dann zu sterben, wenn die Sonne wieder nordwärts zieht. 
7. Droija-jKirvcDi. Drona übernimmt den Oberbefehl über 
die Kuru's und wird von Dhrishtadyumna .getötet. 
8. Karna-parvcut. Karna führt die Kuru's und wird von 
Arjuna «-etötet. 
9. {"alija-parvau. (^'alya befehligt das Heer der Kuru's. 
Ende der Schlacht. Nur drei Kuru's bleiben am Leben. 
10. sanpUlai-parran. Diese drei Überlebenden vernichten in 
einem nächtlichen l'berfall das ganze Heer der fünf Pändava's, 
ausgenommen diese selbst. 
11. strl-parvan. Klage der Weiber ül)er die Gefallenen. 
12. rauti-parvaih Yudhishthira in Hastinäpuram gekrönt. 
Der immer noch lebende Bhishma erteilt ihm, auf den Pfeilen, 
die ihn durchbohrten, wie auf einem Bette liegend, Lehren 
über Königspflichten, Verhalten bei Unfällen und endlich Xll, 
174 — 367 den Mokshadharma, „die Lehre von der Erlösung", 
dieses umfangreichste, aus vielen heterogenen Elementen zu- 
sammengetragene Denkmal der epischen Philosophie. 
13. antigäsana-parvau. Bhishma setzt seine Belehrungen 
über allerlei Gegenstände fort. Auch hier finden sich philo- 
sophische Betrachtungen eingeflochten, wie XIII, 6 — 7 (Vers 
297 — 370 C.) über das menschliche Handeln. Bhishma stirbt. 
14. äcvamedliil:a-parvan. Yudhishthira bringt zu seiner 
Sühnung ein Rofsopfer dar. Vorher bittet Arjuna den Kiishna, 
die in der Bhagavadgitä (VI, 25 — 42) erteilten Belehrungen zu 
wiederholen. Krishna erklärt sich dazu aufserstande, trägt 
aber als Ersatz XIV, 16 — 51 die Anugitä vor, welche sich 
zwar ihrem Namen nach an die Bhagavadgilä anschliefst, 
übrigens aber zu derselben in keiner nähern Beziehung als zu 
irgend einem andern philosophischen Texte des Mahäbhäratam 
steht; und nur soviel steht fest, dafs die Bhagavadgitä schon 
existierte, als die Anugitä nicht gedichtet, sondern aus allerlei 
schon vorhandenen Materialien zusammengestellt und in rein 
äufserliche Beziehung zur Bhagavadgitä gesetzt wurde. 
1. Vorbemerkungen. \1 
15. af niiiiar((siJc(t-j)((ii((ii. Dhritaraslitni zieht sicli mit 
(nnidhäri und Kimti in eine \\'aklk]au.se zurück; alle drei 
koninien bei einem Waldbrande ums Leben. 
in, rnüKsaUi-parvnii. Tod Krishna's und Balaramas; l'nter- 
gan^Li" ihrer Stadt und Vernichtung ihres Volkes durch gegen- 
seitiges Erschlagen mit Keulen. 
17. DiahdprastJtauiliü-payviDi. Die fünf Pändava's brechen 
zur Heise nach Indra's Himmel auf. 
18. fivar(järo]umil,<i-j)(iyr<ni. Ihre Aufnahme im Himmel. 
19. Ilarivaiira, ein späterer Anhang, welcher Krishna's 
Abstammung, Geburt und Jugenderlebnisse behandelt. 
Neben dem Mahabharatam ist für unsere Kenntnis der 
Philosophie des epischen Zeitalters eine nicht unergiebige 
Ouelle das Gesetzbuch des Manu, welches für die brah- 
manische Lebensordnung einen zunächst idealen Kanon auf- 
stellt, dem die Wirklichkeit wohl nur annäherungsweise ent- 
sprochen haben mag. Der Hauptinhalt seiner zwölf Bücher 
ist folgender: 
I. Weltschöpfung. 
n. Der Brahmacarin. 
III. — V. Der Grihastha. 
\I. Der Vanaprastha und Sannyäsin. 
VII. Der König. 
VIII. Zivilrecht und Strafrecht. 
IX. Ehe und Erbrecht. Vaiq-ya's und yCidra's. 
X. Mischkasten, Subsistenzmittel und Verschiedenes. 
XI. Bufsen und Sühnungen. 
XII. Seelenwanderung und Erlösung. 
Dieses Werk bietet namentlich in Buch I, VI und XII 
zu den philosophischen (bedanken des Mahabharatam eine will- 
kommene Ergänzung. Es kann als solche dienen, da die An- 
schauungen beider Werke im ganzen und grofsen ohne Zweifel 
derselben Epoche angehören, wie denn auch eine Reihe von 
Versen beiden gemeinsam ist. Auf welcher Seite dabei die 
Priorität liegt, dürfte schwer zu entscheiden sein. Mitunter 
treten im Mahabharatam Gedanken abgerissen und durch das 
Vorhergehende unvermittelt auf, welche bei ]\h\nu in ihrem 
12 I- Pie literarischen Verhältnisse. 
natürlichen Zusammenhang erscheinen. Andererseits ist nicht 
zu verkennen, dafs Manu in Sprache, Versbau und Gedanken- 
bildung einen weniger altertümlichen Eindruck als das Maha- 
bhäratam macht. 
Endlich ist zu bemerken, dafs auch manche Upanishad's, 
obgleich sie noch Aufnahme im Veda gefunden haben, bis in 
die Zeit des Mahäbharatam hinein und sogar darüber hinaus 
reichen; so besonders die Maiträyana-Upanishad, welche, 
nach ihrem Pessimismus sowie nach der in ihr vorliegenden 
entwickelten Form von Sänkhyam und Yoga zu urteilen, eher 
an das Ende als an den Anfang der epischen Zeit gehören 
dürfte. 
2. Stellung des Epos zum Veda. 
Die Philosophie der epischen Zeit ist aus der Atman- 
lehre der Upanishad's hervorgewachsen und schliefst sich zu- 
nächst an diese an, um sich erst nach und. nach von derselben 
zu entfernen. Diesem Verhältnis entspricht es, dafs der Veda 
einerseits im Mahäbharatam die höchste Anerkennung erfährt, 
andererseits aber namentlich in ritueller Hinsicht verwerfenden 
Urteilen ausgesetzt ist. 
In ersterm Sinne ist es zu verstehen, wenn Vyäsa XII, 
236,1 — 3 S. 34ß zu seinem Sohne (^uka spricht: „Die drei- 
fache Wissenschaft, wie sie in den Veden ausgesprochen ist, 
soll man sodann gliedweise betrachten nach V^'^orten und Silben 
der Rikverse und der Sämanlieder, und ebenso beim Yajur- 
und Atharvaveda. In ihnen lebt der Erhabene, beharrend in 
den sechs Werken [des Lernens, Lehrens, Opferns, Opfern- 
lassens, Gebens und Nehmens]. Denn diejenigen, welche mit 
den Vedaworten bekannt und mit der höchsten Seele bekannt 
sind, überschauen als Realitäthafte und Hochbeglückte das 
Entstehen und Vergehen." Der Veda ist in allen seinen Teilen 
götthche Offenbarung; XII, 268,10 S. 450: „Askesereiche, 
Charakterfeste, in der Schriftwissenschaft Gelehrte sind doch 
der Meinung, dafs alles, was im Veda vorkommt, von dem 
Wesenskenner uns offenbart worden ist." Nach den Veda- 
worten schafft Gott Rrahman die Welt und gerät in Ver- 
zweiflung, als ihm die Veden von zwei Dämonen geraubt werden : 
2. Stellung des Epos zum Veda. i;j 
„Die Veden sind mein lit)clistes Auge, die Veden meine höchste 
Kraft, die Veden sind meine höchste Stätte, die Veden mein 
liöclistes HeiHgtum. . . . Wie kann ich ohne die Veden die 
tretrhche WeU'scliöpfung vollhringen!'' (XII, 347,32 fg. 8. 835.) 
Sanatsujata spricht V, 43,7 S. 12: „Vermöge der in ihm [dem 
Veda| enthaltenen mannigfachen Formen, wie Namen usw., 
erglänzt diese ganze Welt, o Grofsmächtiger; die Veden zeigen 
sie auf und erklären sie vollständig, sie legen diese ganze 
Mannigfaltigkeit dar." Närada spricht zu Vyäsa XII, 328,20 fg. 
S. 723: „Das Nichtstudiertwerden ist eine Schmach für den 
Veda. ... O Herr, studiere zusammen mit deinem verständigen 
Sohne die Veden, dann wirst du durch den Schall der heiligen 
Rede den Trühsinn abschütteln, der dich aus Furcht vor den 
Kobolden befängt." XII, 318,4 fg. S. (360 fg. gewährt der 
Sonnengott dem Yajnavalkya als wertvollste Gabe den weifsen 
Yajurveda: „Der Veda soll dir zuteil werden mit allen Er- 
gänzungen und Anhängen, o Zwiegeborener, und das ganze 
(^atapatham sollst du, o Stier der Brahmanen, der Welt kund 
machen, und ist das geschehen, so wird dein Geist dazu ge- 
langen, nicht mehr wiedergeboren zu werden", und so heifst 
es XII, 301,26. 40 S. 600 fg., dafs die Erlösung schwer zu 
erlangen sei und den Veda zur Voraussetzung habe, und XII, 
305,7 S. 620: „Wenn aber einer einen Beweis in seinem Veda 
iindet und die Bestätigung desselben im Lehrsysteme, so ist 
diese Übereinstimmung von Veda und Lehrsystem ein für alle 
Zeiten vollgültiger Beweis." 
Diesen die Autorität des ganzen Veda anerkennenden 
Aufserungen steht eine Reihe von Stellen gegenüber, in welchen 
gegen den Veda, namentlich gegen die das Tieropfer ver- 
ordnenden Brahmana's polemisiert wird. In diesem Sinne 
bricht XII, 268,8 S. 449 Kapila bei dem Anblick einer Kuh, 
die geopfert werden soll, in den Ausruf aus: „0 diese Veden!", 
und so ist es wohl auch nur auf den Werkteil des Veda zu 
beziehen, wenn es Xll, 206,16 fg. S. 230 fg. heifst, dafs die 
Hymnen, Opfersprüche und Lieder des Veda „auf der Zungen- 
spitze schweben" und vergänglich sind, oder Xll, 212,30 
S. 254 : „Hingegen dürfte man sagen, dafs das Vedahafte zur 
Erlangune; des Ätman ein schlechter Weg ist, vielmehr ist 
14 I. Die literarischen Verhältnisse. 
es die Ursache dafür, dafs man ihn nicht erlangt und ein 
unreines Gesetz [durch Tieropfer usw.] beohachtet." Man 
vergleiche auch XII, 251,2 S. 394: . . . „damit dafs man den 
Rigveda, Yajurveda und Sämaveda kennt, ist man noch kein 
wahrer Zwiegeborener" ; V, 43,43 fg. S. 16: „Wegen der Un- 
kenntnis des einen zu Wissenden sind jene vielen Veden 
verfafst worden, jenes einen Wahren, o Fürst der Könige, in 
welchem nur wenige wurzeln. Dies ist der wahre Veda; ihn 
kennt man nicht und lebt in dem Wahne : ich bin wissend" ; 
V, 43,4 fg. S. 11: „Nicht die Sämanlieder, noch auch die Rig- 
vedaverse, auch nicht die Yajursprüche vermögen einen Toren 
vor bösem W^erke zu behüten. Nicht sage ich dir die Unwahr- 
heit. Die heiligen Lieder retten ihn nicht vor dem Unheil, 
den Verblendeten, in Verblendung Lebenden. Wie die Vögel 
das Nest Aderlässen, wenn ihnen die Flügel gewachsen sind, 
so verlassen ihn die heiligen Lieder, wenn sein Ende ge- 
kommen ist"; XII, 318,106 S. 670: „Durch kein Vedastudium, 
keine Askese oder Opfer, o Kurusprofs, kann man die Stätte 
des Unentfalteten [hier = Purusha] erreichen ; nur wer ihn er- 
kennt, gelangt zur Herrlichkeit." — Kann es schon bei einigen 
dieser Stellen zweifelhaft sein, ob sie nicht nur den Werkteil, 
sondern den ganzen Veda verwerfen, so richten sich entschieden 
gegen den Veda mit Einschlufs der Upanishad's diejenigen 
Stellen, welche von dem Wortbrahman auf das höhere ver- 
weisen. XII, 233,30 S. 339 heilst es [im Anschlufs an Maitr. 
Up. 6,22. Brahmabindu-Up. 17] : „Zwei Brahman's mufs der 
Mensch kennen, das Wortbrahman und das höchste; wer im 
Wortbrahman bewandert ist, erreicht auch das höchste Brah- 
man"; XII, 238,22 S. 356: „Ihn, der in der Erkenntnis des 
Brahman gewurzelt ist, erkennen die Götter als einen Brali- 
manen an, ihn, der sowohl in dem Wortbrahman bewandert, 
als auch in dem hohem Brahman zur Klarheit gelangt ist." 
Dieses höhere Brahman wird im Gegensatze zu allem Veda- 
wissen erreicht durch das unmittelbare Innewerden des Gött- 
lichen im Yoga ; VI, 30,44 S. 62 wird gesagt, dafs die, welche 
bestrebt sind, den Yoga kennen zu lernen, über das blofse 
Wortbrahman hinauskommen; XII, 237,8 S. 350: „Wenn er 
in dieser Weise durch diesen Yoga sich so von Grund aus 
2. Stelhiiit; iIcs l']pos /.iiiii \'oiUi. If) 
bereitet, dann gelangt rr, wenn er auch noch so erkenntnis- 
durstig ist, über das Wortbrahman hinaus'% und \If, 241,32 
S. 365: ,A\'er als ein Tüchtiger in dieser Weise selbständigen 
W'esens geworden ist, überall das Gleiche sieht und sechs 
Monate hindurch beständig den Yoga übt, den gib< das 
Wortbrahman frei.'" 
3. Das Säukbyniu iiud der Yo^a iiu Epos. 
Die Worte SchlUii/ani und )^o(j(( dienen in der spätem Zeit 
zur Bezeichnung zweier philosophischer Systeme. Ursprüng- 
lich aber haben sie eine andere Bedeutung und sind nur zwei 
A'erschiedene Methoden, um zu demselben Ziele, nämlich zur 
Erlangung des Atman zu führen, welcher einerseits als die 
ganze unendliche Welt sich ausbreitet, andererseits voll und 
ganz im eigenen Innern zu finden ist. Im erstem Sinne kann 
der Atman erfafst werden durch Reflexion über die mannig- 
faltigen Erscheinungen der Welt vmd ihre innere Wesens- 
identität, und diese Reflexion heilst Särtl'Jn/aDi (von swn -\- IJiyä, 
berechnen, reflektieren); andererseits ist der Atman ergreifbar 
durch Zurückziehung von der Aul'senwelt und Konzentration 
auf das eigene Innere, und diese Konzentration heilst Yoga. 
In diesem Sinne heifst es schon (^vet. Up. 6,13 (vgl. dort unsere 
Anmerkung S. 308): „Wer dies Ursein durch Prüfung (sdnlhijam) 
und Hingebung (i/0(ja) als Gott erkennt, wird frei von allen 
Banden", und dieselbe Bedeutung haben .sänJchyani und yoga 
auch an vielen Stellen des ]\Iahabhäratam. So heifst es gleich 
zu Eingang der Bhagavadgitä VI, 26,39 S. 41 : „Diese Ansicht 
wurde dir vorgetragen vom Standpunkte der berechnenden 
l berlegung (sdnldiyam). — Vernimm die folgende vom Stand- 
punkte der Hingebung (yoya) aus." Hier hat das Vorhergehende 
keine Beziehung zu den Lehren des spätem Safdchyasystems ; 
vielmehr enthalten Vers 11 — 30 reine Upanishadgedanken und 
Vers 31 — 38 Reflexionen über die Pflicht des Kshatriya; diese 
also heifsen liier Sänkhyam, während Yoga im folgenden zwar 
nicht die Konzentration, aber noch viel weniger das spätere 
Yogasystem, sondern nur das interesselose Handeln bedeutet. 
Im Geiste der Ätmanlehre werden die Worte auch VI, 37,24 
IQ 1. Die literarischen Verliältnisse. 
S. 88 gebraucht : „Manche schauen mittels der Meditation [des 
Yoga] das Selbst durch sich selbst in sich selbst, andere er- 
kennen es durch Hingebung an die Reflexion (sänJchyam), noch 
andere durch Hingebung an das [uninteressierte] Werk", und 
drei Verse weiter heilst es: „Wer aber in allen Wesen den 
höchsten Gott wohnen sieht, der nicht vergeht, wenn sie ver- 
gehen, wer den sieht, der ist wahrhaft sehend. Denn indem 
er allerwärts denselben Gott wohnen sieht, wird er nicht sich 
selbst durch sich selbst verletzen wollen, und so geht er den 
höchsten Weg." Aus dieser Einheit des Ziels ist es auch zu 
erklären, dafs an vielen Stellen die Einheit von Sänkhyam 
und Yoga betont wird, VI, 29,4 fg. S. 55: „Nur die Toren 
behaupten, dafs Sänlihgam und Yoga verschieden seien, nicht 
aber die Weisen. Wer auch nur eines von ihnen richtig be- 
treibt, der erlangt die Frucht aller beiden. Die Stätte, welche 
von den Rellektierenden (särilihyaih) errungen wird, eben diese 
wird auch von den Yoga-Übenden erlangt. Eines sind das 
Sänkhyam und der Yoga. Wer das sieht, der ist sehend." 
XII, 316,2 fg. S. 655: „Kein Wissen kommt dem Sänkhyam 
gleich, keine Kraft kommt dem Yoga gleich : beide verfolgen 
dasselbe Ziel, beide führen über die Vergänglichkeit hinaus. 
Für verschieden halten beide nur Menschen, die am Unver- 
stand sich freuen, wir aber, o König, erkennen sie unzweifel- 
haft als Einheit." Vergleiche XII, 300,7—9 S. 593. XII, 307,44 
S. 633. Noch manche Stellen liefsen sich anführen, in denen 
die auf die Upanishad's sich gründende Lehre als Sänkhyam 
bezeichnet wird. Besonders charakteristisch ist noch die 
folgende, XII, 301,101 fg. S. 607: „Darüber bleibe bei dir 
kein Zweifel, die Sänkhya-Erkenntnis ist die höchste, sie ist 
jenes als unvergänglich und unwandelbar bezeichnete, das 
volle, ewige Brahman, das ohne Anfang, Mitte und Ende 
seiende, gegensatzfreie, schöpferische, beständige, allerhöchste 
und dauernde, von dem die Weisen [in den Upanishad's] 
reden, aus welchem alle Wandlungen von Schöpfung und Ver- 
gang hervorgehen, welches die heiligen Bücher preisen, die 
höchsten Weisen künden." 
Diesem Verliältnis des Sänkhyam zur Vedalehre entspricht 
es, wenn als Urheber des Sänkhyam Hiranyagarbha, d. i. der 
3. Das Saiikhyaiu und der Yoga im Epos. 17 
Gott Biahiiuin als Urquell aller Weisheit bezeichnet wird; 
Xir, 308,40 S. G37 sagt Vasishtha: „Diese ewige Lehre habe 
ich erhalten von lliranyagarbha, d«>r sie mir verkündigte, 
o Fürst, nachdem ich ihn, den gewaltig Geistigen, der das 
ewige Brahman ist, mit Fleil's gnädig gestimmt hatte", und 
Bhishma fügt hinzu Vers 45: „Von lliranyagarbha empfing 
es der hochsinnige Weise Vasishtha, und von Vasishtha, dem 
Tiger der Weisen, hat es Narada erlangt. Von Närada habe 
ich dieses ewige Brahman empfangen." Diese Aufserungen 
bilden den Schlufs einer langen Darlegung der Sähkhyalehre, 
in deren p]ingang Bhishma XII, 301,3 S. 598 spricht: „Ver- 
nimm denn von mir jene feine Satzung der ätmankundigen 
Sankhya's, wie sie von Kapila und den andern heiligen Gott- 
herren otTenbart worden ist." Ist schon aus diesem Zusammen- 
hange zu entnehmen, dafs die von uns zu ^vet. Up. V, 2 S. 304 
nachgewiesene Identität des Kapila mit Hiranyagarbha noch 
den Dichtern des Epos bewufst ist, so findet diese Identität eine 
weitere Bestätigung durch die Stellen XII, 339,68 fg. 8.770: 
„Als den mit dem Wissen erfüllten, in der Sonne weilenden, 
gesammelten Kapila bezeichnen ihn die in der Sähkhyalehre 
festen Meister, als der heilige Hiranyagarbha wird er im Veda 
gepriesen", und XII, 342,95 fg. S. 814: „Als den ewigen, in 
der Sonne weilenden Wissenschaftsträger nennen mich die zur 
Gewifsheit durchgedrungenen Sähkhyalehrer Kapila; als der, 
welcher als der glanzvolle Hiranyagarbha im Veda gepriesen 
und allezeit von den Yoga's verehrt wird, als dieser werde ich 
in der Welt gefeiert."* Und so erscheinen auch die spätem 
Sähkhyalehrer Asuri und Pancagikha als Vertreter der Brahman- 
wissenschaft, XII, 218,14 fg. S. 271 : „Denn was als jenes eine, 
unvergängliche Brahman in seinen mannigfachen Erscheinungs- 
formen geschaut wird, dieses Ewige hatte schon Asuri auf 
diesem Erdkreise ergrilfen. Und dessen Schüler war Panca- 
qikh'd geworden." 
* Als unterschieden von einander erscheinen Kapila und lliranyagarbha 
schon XII , 349,tjö !S. H55 : „Als Urheber des Sänkhyam gilt der höchste 
Flishi Kapila, als Einführcr des Yoga Hiranyagarbha und kein anderer 
Weiser der Vorzeit." 
Dkcsses, Geschichte der Philosophie. I, in. 2 
][*^ I. Die literarischen Verhältnisse. 
Aus diesen Stellen geht wohl mit Gewifsheit hervor, dafs 
SäFikliyam und Yoga an vielen Stellen des Epos noch nicht 
zwei Systeme, sondern zwei Methoden zur Ergreifung des 
einen Höchsten bedeuten, w^elche sich zu einander verhalten 
wie Aufsenerfahrung und Innenerfahrung, wie Theorie und 
Praxis, oder etwa wie Philosophie und Religion. Aber wie die 
Mahäbhäratalehre im allgemeinen den Übergang vom Vedanta 
der Upanishad's zum spätem Sänkhyasystem bildet, so nimmt 
in dem Mafse, wie dieses Sänkhyasystem unter den Händen 
der epischen Dichter sich organisiert, auch das Wort SänMiyam 
mehr und mehr eine spezielle Färbung an, in welcher es schon 
das philosophische System bezeichnet, welches wir als das 
Sänkhyasystem weiter unten kennen lernen werden, und das- 
selbe gilt von dem ihm parallelen ßegrifte des Yoga. 
4. Andere philosophische Richtung'eii. 
Während die unter den Händen der Mahäbhäratadichter 
mehr und mehr zum spätem Sänkhyasystem sich umbildende 
Upanishadlehre in der Regel schon Sänkhyam genannt wird, 
lassen sich auch andere philosophische Richtungen der spätem 
Zeit ihrem Aufkeimen nach schon im Mahäbhäratam erkennen, 
und der Nachweis dieses ersten Ursprungs der spätem Sekten 
im Epos dürfte eine ebenso lohnende wie schwierige Aufgabe 
sein, da die Gedanken der gegnerischen Richtungen in der 
Regel ohne Nennung bestimmter Namen aufgeführt und be- 
kämpft werden. 
Von besonderm Interesse ist in dieser Hinsicht der 
Adhyäya XII, 218 S. 270 fg., in welchem erzählt wird, wie in 
dem Hause des gastfreien Königs Janaka beständig hundert 
Lehrer wohnten, deren Theorien über die Wiedergeburt nach 
dem Tode und das \\^esen des Atman den König nicht be- 
friedigten. „Da geschah es, dafs ein Anhänger des Kapila, 
ein grofser Weiser, mit Namen Pancagikha, indem er die ganze 
Erde durchstreifte, auch nach Mithilä kam" (Vers 6), welcher 
die hundert Lehrer durch seine Argumente in Verlegenlieit 
bringt, worauf Janaka sie entläfst. Pancagikha erteilt darauf 
dem Könige seine Belehrung ül^er den Atman und die Guna's, 
4. Aiiduri' i»liilosopliisclic liichtungen. l») 
üImh- dir Entsagung- und die Erlösung, daneben aber entwickelt 
er Vers 23 fg. auch gegnerische ^leinungen, und zunächst die 
Grundanschauung der Materialisten. Die Wahrnehmung, so 
sagen sie Vers 27, sei die Wurzel für alle andern Erkenntnis- 
gründe, und eine heilige l berlieferung oder auch Argumen- 
tation, welche mit der \A'ahrnelnnung in Widerspruch stehe, 
sei gar nichts. Die Wahrntdimung aber bezeuge die völlige 
Vernichtung des Menschen durch den Tod; die Annahme, dafs 
etwas am Menschen den Tod überdaure, sei ebenso ungereimt 
und gegen die Natur, wie die Behauptung, dafs der ganze 
Mensch niemals altere und nie sterbe (Vers 25). „Nein, die 
Seele ist nichts anderes als der Körper und als solche nach 
•der Meinung der Nihilisten (nästil-a) festgestellt." 
Weiter entwickelt von Vers 32 an Pancagikha eine Lehr- 
meinung, welche vom Konuuentator Nilakantha als die der 
Buddhisten bezeichnet wird: „Andere wiederum sagen, es ist 
vielmehr das Nichtwissen, welches bei der Neugeburt die 
Irsache der Betätigung in W^erken ist, es ist vielmehr Begierde 
und Verblendung, es ist vielmehr die Knechtung unter die 
Sünden. Das Nichtwissen, so sagen sie weiter, ist das Acker- 
land, und das Werk wird dabei als der Same betrachtet, der 
Durst (trislniu) ist die Zeugung, und das Zusammenkleben dieser 
[dreij ist die Wiedergeburt." „Durch die Vedalehren werden 
die Menschen [von der A\'ahrheit] abgelenkt wie Elefanten 
durch ihre Treiber" (45). „Erde, Äther, Wasser, Feuer und 
AN'ind erhalten den Körper in seinem Bestände fort und fort. 
Wer dies bedenkt, wie sollte der sich freuen: dagegen, dafs 
er vergänghch ist, gibt es keinen Schutz." 
Wenn hier, wie der Kommentator behauptet, die Bud- 
dhisten ohne Nennung ihres Namens bekämpft werden, so 
ündet sich doch vielfach auch wiederum zwischen den J^ehr- 
meinungen der epischen Dichter und des Buddhismus eine 
Verwandtschaft, die nicht sowohl auf Entlehnung, als vielmehr 
darauf beruhen mag, dafs unsere epischen Texte in ihrer ersten 
Entstehung mit der des Buddhismus zusammenfallen und in 
demselben Gedankenboden wie dieser wurzeln. So spricht 
XII, 330 S. 732 fg. Narada in buddhistischer Weise über die 
Leiden des Daseins und ihre Heilung durch die Erkenntnis. 
20 I- Die literarischen Verliältnisse. 
„Durch Verbindung mit Unliebem und Getrenntsein von Liebem 
verbinden sich die kurzsichtigen Menschen mit geistigen Leiden" 
(Vers 4). „Vergänghch ist Jugend, Schönheit, Leben, Ver- 
mögen, Gesundheit und Freundesumgang; der Weise möge 
nicht danach gierig sein" (Vers 14). „Reichtum geht verloren 
unter Schmerzen und ihn zu behüten ist auch keine Lust, 
erworben aber wird er mit Mühe, darum trauere man nicht 
um seinen Verlust" (Vers 18). „Noch ist er dabei, zu sammeln, 
noch sind seine Begierden nicht gesättigt, da, wie der Tiger 
ein Stück Vieh raubt, holt ihn der Tod" (Vers 24). Hierher 
gehören auch die zahlreichen Stellen, in welchen die Trisimä, 
der Durst, die Begierde, als die Wurzel aller Leiden, und 
das Nirvänam, das Erlöschen, die Seligkeit, als Heilmittel der- 
selben bezeichnet wird. (Vergleiche den Index zu unserer Über- 
setzung unter trisimä und nirvänam.) So spricht Ambarisha 
XIV, 31,8—10 S. 936: „Solange der Mensch mit Durst f/m/^^«; 
behaftet ist, läuft er Gemeinem nach und ist nicht weise. Sie, 
mit welcher behaftet hienieden der Mensch treibt, was er nicht 
sollte, die Begierde (lobJia), müfst ihr mit scharfen Schwertern 
ausrotten und immer wieder ausrotten" usw. Vgl. XIV, 16,31 fg. 
S. 888 : „Unschöne und für mich schlimme Wege wurden, weil 
ich Übles tat, erlangt von mir, da ich von Lust und Zorn 
überwältigt und von Durst (frisJina) verblendet war. Immer 
aufs neue wiederholt sich das Sterben und immer wieder aufs 
neue das Geborenwerden; mancherlei Speisen habe ich schon 
genossen, mancherlei Mutterbrüste schon getrunken . . . Viel- 
fach schon ist mir widerfahren, von Lieben getrennt zu werden 
und mit I iilieben vereinigt zu sein . . . Auch habe ich fort 
und fort Alter und Krankheit und vielfaches Mifsgeschick in 
dieser Welt heftig erleiden müssen." Denselben Geist atmet 
das Gesetzbuch des Manu, wenn es XII, 79 und 80 als Ver- 
geltung für das näcliste Dasein in Aussicht stellt: „Trennung 
von Verwandten und Freunden, Weilen unter schlechten 
Menschen, Erwerbung von Reichtum, welcher verloren geht, 
Gewinnung von Freunden, welche zu Feinden werden, unab- 
wendbares Altwerden, Heiragesuchtwerden durch Krankheiten, 
mancherlei Beschwerden in dieser und jener W^eise und end- 
lich das unvermeidliche Sterben." 
4. Andere' iiliilosopbischc Riclituiigen. 21 
Aufmatorialistisclie oder auch buddhistische Anschauungen 
könnte sich auch beziehen, was XII, 186 — 187 S. 150 fg. Bharad- 
vaja an (Jründen ins FcM führt, um die Existenz des jira, 
der inchvidueHen Seele, zu bestreiten, und so noch viele andere 
durch das Epos zerstreute Invektiven gegen Materialisten, Nihi- 
listen und Skeptiker, die wir hier übergehen müssen. 
II. ontologie und Theologie. 
1. yorbeiiierkungen. 
In den philosophischen Texten des Mahäbhäratam läfst 
sich schrittweise die Entwicklung verfolgen, welche von dem 
8tan(li)unkte der Tpanishad's, für den der Ätman, das Brah- 
man die alleinige Realität und die Welt nur seine Mayä, seine 
Entfaltung ist, hinüberleitet zu dem Standpunkte des klassi- 
schen Sänkhyam, auf welchem der Atman als Purusha völlig 
isoliert, und die Prakriti als eine von Grund aus selbständige 
Wesenheit ihm gegenüber steht. Freilich ist zu sagen, dafs 
diese in einander überleitenden Standpunkte nicht deutlich ge- 
sondert, nicht einer nach dem andern durch besondere Texte 
vertreten sind; vielmehr finden sich oft nahe neben einander 
Aufserungen, welche verschiedenen Phasen der Entwicklung 
angehören. Ja es kann vorkommen, dafs eine und dieselbe 
Person in ihren Reden widersprechende Anschauungen zum 
Ausdruck bringt. Dieses wunderliche Gemisch, in welchem 
ältere und jüngere Gedankengänge oft bunt durch einander 
laufen, erklärt sich daraus, dafs die Dichter des Epos nicht 
eigentliche Philosophen, nicht die ersten Urheber der von 
iluKMi vorgetragenen philosophischen Gedanken sind; vielmehr 
schöpften sie diese Gedanken aus dem gärenden und unab- 
geklärten Bewufstsein der Zeit, in welcher sie lebten, und die 
Personen, denen diese Gedanken in den ^lund gelegt werden, 
sind oft nur ein ganz äufserlicher Rahmen, in welchen die 
philosophischen Gedanken, so gut es gehen will, hinein- 
gezwängt werden. 
Der historischen Darstellung bleibt hier wohl kein anderer 
Ausweg, als deutlich zu sondern, was im Epos durch einander 
22 II. ontologie und Theologie. 
wogt, und zu zeigen, wie der ursprüngliche Idealismus der 
Upanishadlehre nach und nach zum Kealismus des Sänkhya- 
systems sich verhärtet. Es gibt Stellen, welche noch ganz 
auf dem Standpunkte der altern Upanishad's stehen, dann 
solche, in denen die Prakriti dem Atman gegenüber tritt, 
aber immer noch von ihm abhängig bleibt, und endlich solche, 
in welchen die Prakriti, d. h. die Gesamtheit der objektiven 
Welt, dem zum Purusha, zum reinen Subjekte des Erkennens 
gewordenen Atman vollkommen selbständig gegenüber tritt. 
2. Brahman-ltman als alleiniges Weltprinzip. 
Hin und wieder, wenn auch nicht gerade häufig, begeg- 
nen wir im Epos Aufserungen, nach welchen der Atman oder 
das Brahman der alleinige Inbegritf aller Realität und die 
Welt nvir seine Mayä, seine Ausbreitung ist. So schildert der 
Schlufs von V, 44 S. 21 fg. das ürwesen ganz in der Weise 
der alten Upanishad's. „Wer das Brahman weifs," heifst es 
Vers 24, „der erlangt durch dasselbe das All: nicht gibt es 
einen andern Weg zum Gehen"; und im folgenden wird ge- 
schildert, wie das Brahman in allen Farben der Welt erscheint 
und doch von keiner ihrer Erscheinungen ganz befaXst wird. 
„Es ist kleiner an Gestalt [als das Kleinste], es ist vergleich- 
bar der Schneide eines Schermessers ; und doch grofs an Ge- 
stalt, [noch gröfser] als die Berge. Das ist die Grundlage, 
dies das Unsterbliche, die Welten, dies ist das Brahman, dies 
die Herrlichkeit, denn aus ihm sind die Wesen entstanden 
und gehen wieder unter in dasselbe. Das ist das Krankheit- 
lose, Grofse, Ausgespannte, Herrliche; nur auf Worten [be- 
ruhe] seine Umwandlung, so erklären die Weisen (Chänd. 
Up. 6,1,3). Dieses, worin diese ganze W^elt gegründet ist, — 
die das erkennen, werden unsterblich" (Vers 29 — 30). Den- 
selben Geist atmen viele Stellen der Bhagavadgitä. VI, 26,17 fg. 
S. 39 fg. : ,, Wisse, dal's das unvergänglich ist, durch welches 
diese ganze Welt ausgebreitet wurde; das Zunichtewerden 
dieses Unvergänglichen kann keiner bewirken. Vergänglich 
sind diese Leiber, ewig der, welcher den Leib beseelt ; unver- 
gänglich ist er und unermefslich", und VI, 34 spricht der als 
"J. Brahraan-Atiuan als alleinigos Weltprinzip. 23 
Krishiui vorkörpcrtc Atman : ,Jc]i hin der Ursprung des Welt- 
alls, aus mir entwickelt sich das AX'cltall" (Vers 8); „Ich bin 
die Seele, die in der TielV^ aller \\esen weilt, ich hin der 
Ani'ang der Wesen, hin ihre Mitte und ihr Ende" (Vers 20); 
„Ich bin Anfang, Mitte und Ende der Schöpi'ungen'' (Vers 32); 
„Alles, was mächtig und gut, alles was schon und kraftvoll 
ist, das alles, sollst du wissen, entsteht als ein Teil aus meiner 
Kraft'' (Vers 41). VI, 33,4 S. 69: „Von mir in der Gestalt 
des l'nentfalteten ist diese ganze Welt ausgebreitet worden. 
Alle Wesen werden von mir, nicht aber werde ich von ihnen 
befafst"; und XIV, 51,33—35 S. 994: „Wer dieses weifs, wer 
den unsterblichen, ewigen, unfafsbaren, immerwährenden, un- 
vergänglichen, freien, unverflochtenen Atman kennt, der ist 
nicht mehr sterblich. Wer den uranfänglichen, imerschaffe- 
nen, ewigen, unzweifclnden Atman erlangt, den unangreif- 
baren, Amritam essenden, der ward unangreifbar und unsterb- 
lich, und steht aus diesen Gründen fest. Alle Lebenseindrücke 
überwältigend und sich selbst in sich selbst ergreifend, er- 
kennt er jenes schöne Brahman, über w^elches hinaus nichts 
mehr zu wissen bleibt." Ebenso heifst es im Mokshadharma 
Xn, 240,20 S. 361: „Denn in allen Wiesen, den beweglichen 
und unbeweglichen, wohnt jener eine grofse Atman, durch 
welchen dieses Weltall ausgespannt ist", und noch die Anu- 
gitä sagt in demselben Sinne XIV, 18,7 S. 895: „Dieses 
[Brahman] ist der Same aller Wesen, durch dieses leben alle 
Kreaturen." 
.3. Die Prakriti abhängig vom Atman. 
Der Gebrauch des Wortes Mätjä zur Bez<nchnung des 
illusorischen Charakters der Weltausbreitung ist verhältnis- 
mäfsig spät und findet sich erst von (^vet. Up. 4,10 ab (vgl. 
den Index unserer Upanishadübersetzung) : hingegen ist dieser 
Begriff der Weltillusion schon den ältesten Tpanishad's eigen. 
Deutlich spricht er sich in den auch vom Epos (oben S. 22) 
übernommenen Worten Chänd. üp. 6,1,3 aus: „Nur auf Wor- 
ten bei'uhend ist die Umwandlung, ein blofser Name." Dieser 
hohe idealistische Standpunkt mufste infolge der allen 
24 n. ontologie und Tlioologie. 
Menschen eigenen und auf der Naturbestimmung des Intel- 
lekts beruhenden Neigung, der Aufsenwelt eine vom Bewulst- 
sein unabhängige Realität zuzuschreiben, mehr und mehr einer 
realistischen Anschauung Platz machen, — • die 3Iäyä wurde 
zur Frah'iti. Vergebens protestiert gegen den einreifsenden 
Realismus von ihrem theistischen Standpmikte aus die Qve- 
tagvatara - Upnishad in der soeben erwähnten Stelle 4,10: 
„Als Blendwerk (mäyä) die Natur (prakriU) wisse!" 
Dieser ^¥arnungsruf verhallte ungehört; die Mäyä ver- 
dichtete sich unter den Händen der folgenden Denker mehr 
und mehr zu einer Substanz, zur Praki'iti, w^elche zunächst 
noch dem Atman (Brahman, Purusha) untergeordnet wird und 
von ihm abhängig bleibt. Für diese Abhängigkeit der Pra- 
kriti oder der drei Guna's, aus welchen sie besteht, von dem 
schöpferischen Urwesen legen unter andern die folgenden 
Stellen Zeugnis ab. XII, 285,40 S. 538 entläfst der Ätman 
die Guna's aus sich wie die Spinne ihren Faden. XIV, 18,26 
S. 896: „Darauf enthefs er aus sich das Pradhänam als die 
Prakriti der zu verkörpernden Seelen, von welchen diese 
ganze Welt erfüllt ist." XII, 240,6 S. 359 : „Alle die grofsen 
Elemente sind von dem durch sich selbst Seienden einzeln 
zustande gebracht worden und namentlich auch in die Schar 
der Lebewesen, in die Verkörperten eingegangen." XII, 275,35 
S. 482 : „Er besteht ewig für sich allein und schafft sich den 
Körper nebst Lust und Leid." XII, 302,15 S. 610 schafft 
nach dem Ende der grofsen A\"eltnacht der Gott Brahman als 
Erstgeborenen den Mahän. Vergleiche XII, 311,3 S. 644: 
„Darauf schuf er den Gott Brahman, der aus einem goldenen 
Ei entsprang; dieses bildet den Körper für alle Wesen, so ist 
es uns überliefert worden." 
4. Die Prakriti unabhängig- vom Atmau (Purusha). 
Kann es schon bei der letzterwähnten Stelle (wie auch 
in dem später zu besprechenden Schöpfungsberichtc Manu I, 
5 fg.) zweifelhaft sein, ob das goldene Ei, aus dem die Welt 
hervorgeht, vom Urwesen erschaffen worden ist oder als das 
Material, aus welchem es schafft, selbständig neben ihm steht, 
4. Die IMakriti unabhängig vom Ätman (l'urusha). 20 
SO tritt in einer Keihe anderer Stellen die Prakriti dem von 
ihr A iUlig verschiedenen Atman, welcher auf dieser Stufe der 
Entwicklung schon mit Vorliebe P/o-Ksha genannt wird, als 
eine selbständige Wesenheit gegenüber. Auch hier vollzieht 
sich die völlige Trennung, wie sie im klassischen Sänkhyam 
besteht, erst nach und nach. So heifst es XIl, ;U4,12 S. Göl 
immer noch, die Prakriti schatte, indem sie vom Purusha 
regiert werde, und XII, 315,8 S. 653, der Purusha veranlasse 
die schaffenden Prinzipien zur Tätigkeit und sei daher ihnen 
verwandt. Nach XIV, 48,6 S. 983 stützt sich der Purusha 
auf das Sattvam, den obersten Guna der Prakriti, und ebenda 
heifst es weiter (Vers 9 — 10): „Einige Gelehrte, die in der 
Erkenntnis wohl bewandert sind, behaupten die Einheit des 
Kshetrajna [PurushaJ und des Sattvam; aber das geht nicht 
an: denn das Sattvam ist von jenem verschieden, daran ist 
nicht zu zweifeln, und man mufs ihre gesonderte Existenz 
anerkennen, sowie auch, dafs dieselbe in Wahrheit durch 
Verwandtschaft verbunden ist." Entschiedener wird schon die 
Trennung zwischen Prakriti und Purusha XII, 222,15 — 16 
S. 287 ausgesprochen: „Vermöge der Natur (svahlulva ^= praliriti ) 
•entsteht und vergeht alles, was ist und was nicht ist; für den 
Purusha aber gibt es keinen Zweck. Und da es keinen 
Zweck des Purusha gibt, so ist kein Purusha je ein Täter, 
aber obgleich er selbst niemals ein Täter ist, so besteht doch 
hienieden der Wahn, als wenn er es sei." An andern Stellen 
wird alles Tätersein der Prakriti allein zugeschrieben, und 
dennoch ist sie aus dem Purusha hervorgegangen und geht 
wieder in ihn ein; so XII, 303,31 fg. S. 616: „Aber nur die 
■Göttin Prakriti ist es, welche Entstehen und Vergang be- 
wirkt, und am Ende der Tage zieht er alle ihre (Juna's in 
sich herein und besteht fort als der Eine. Wie die Sonne 
ihre Strahlen von Zeit zu Zeit wieder einzieht, so macht auch 
er immer wieder das Vorhergewesene spieleshalber zunichte, 
nämlich die mannigfachen, ihre eigene Natur habenden, sei- 
nem Herzen lieben Guna's. I'nd nachdem er wiederum sie, 
welche Schöpfung und Vergang als Wiesen besitzt, entfaltet 
hat, und ebenso die Tat, dem Weg der Tat anhängend, und 
die drei Guna's, er, der Herr der drei Guna's, so wähnt er, 
26 II- ontologie und Theologie. 
da er den Pfad der Tat betreten hat, von der Tat, sie sei ein 
Wirkliches"; aber noch in demselben Zusammenhange wird 
XII, 305,25 S. 622 die völlige Verschiedenheit von Purusha 
und Prakriti ausgesprochen: „Es gibt nur zweierlei, den Pu- 
rusha und was nicht Purusha ist. Alles, was aus den drei 
Merkmalen [Sattvam, Ragas, Tamas] besteht, wird als praki'iti- 
artig bezeichnet"; und in demselben Sinne heilst es schon in 
der Bhagavadgita VI, 37,19. 29 S. 88: „Du sollst wissen, dafs 
die Prakriti und ebenso der Purusha beide anfanglos sind; 
von den Umwandlungen aber und den Guna's wisse, dafs sie 
aus der Prakriti entspringen . . . Wer einsieht, dafs die Werke 
allerwärts nur durch die Prakriti vollbracht werden, und dafs 
der Atman Nicht -Täter ist, der ist wahrhaft sehend." Die 
Verschiedenheit und zugleich das Verbundensein von Purusha 
und Prakriti werden durch einige häufig wiederkehrende Bil- 
der erläutert, XII, 194,38 — 40 S. 184: „Zwischen dem Sattvam 
und dem Kshetrajha, zwischen diesen beiden schwer erkenn- 
baren besteht der Unterschied, dafs ersteres die Qualitäten aus 
sich hervorgehen läfst, letzterer aber nicht. Gleichwie die Mücke 
und der Feigenbaum immerfort verbunden zu sein scheinen, 
so ist auch die Verbindung von Sattvam und Kshetrajfia; 
denn wiewohl sie ihrer Natur nach verschieden sind, so sind 
sie doch allezeit verbunden ; wie der Fisch und das Wasser, 
so sind avich diese beiden verbunden"; vgl. XII, 308,23 fg. 
S. 635 fg., XIV, 48,11 fg. S. 983 und XII,"315,13 fg. S. 654. 
0. Der Purnslia von der Prakriti isoliert. 
Schon in den altern Upanishad's kommt der Gedanke zum 
Durchbruche, dafs der Atman allem Objektiven als das reme 
Subjekt des Erkennens gegenüberstellt. Er ist nach Brih. 
Up. 2,4,14. 3,4,2 der Erkenner des Erkennens, der Seher des 
Sehens, der Hörer des Hörens, der Versteher des Verstehens; 
„Diesem Geiste haftet nichts an" (asaficjo lii ayum purusltali^ 
Brih. Up. 4,3,15); „Es iindet keine Berührung desselben mit 
der Materie mehr statt" (mafrä-asamsarg(i.<t in asya hhavati^ 
Brih. Up. 4,5,14 M, vgl. unsere Anmerkung dort). Er besteht 
nach Maitr. Up. 3,2 „unvermischt fort, wie der Wassertropfen 
5. Der Turuslia von der l'rakriti isoliert. 27 
Hilf (1er Lotosblüte". Dieser Gedanke^ von der Isoliertheit des 
Puriishii wird in den epischen Texten aufgenommen und bis 
zur äufsersten Konsequenz gesteigert. Zwar ist auch nach 
ilmen der Purusha „mit allen (Juna's verflochten, wird aber 
doch von ihnen nicht befleckt'', sondern ist, wie es mit Wie- 
deraufnahme des eben aus Maitr. Up. o,2 angeführten Bildes 
heilst, „wie der bewegliche Wassertropfen, der auf einem 
Lotosblatte sich befindet" (XIV, 50,12 S. 987). Er ist nach 
den unmittelbar vorhergehenden Worten das von allem Ob- 
jektiven freie Subjekt des Erkennens: „Das Objekt- und das 
Subjektsein, das wird die Verbindung genannt; das Subjekt 
ist immer nur der Purusha, und das Sattvam [als oberster 
Guna und Vertreter der Prakriti] wird das Objekt genannt" 
(Vers 8). Es folgt dann das Bild von der Mücke und dem 
Feigenblatt, und weiter heifst es Vers 10: „Das Sattvam ist 
allezeit mit den Gegensätzen behaftet, so sagen die Weisen; 
ohne Gegensätze, ohne Teile, ewig und seinem Wesen nach 
frei von Guna s ist der Kshetrajna." So wie an dieser Stelle 
wird auch anderw^eit der Purusha mit Vorliebe bezeichnet als 
der Kshetrajna, der Ortskenner, im Gegensatze zu KsJietram, 
dem Orte, d. h. dem Körper. VI, 37,1 S. 86: „Dieser Körper, 
o Kuntisohn, wird als der Ort (hshetram) bezeichnet; den, der 
sich desselben bewufst ist, nennen die Kundigen den Orts- 
kenner (l-shctrajüa)."- Als solcher vermischt er sich niemals, 
wie es XII, 194,44 S. 184 heifst, mit Sattvam, Manas und 
allen Qualitäten. „Das Sattvam nämlich läfst die Qualitäten 
aus sich hervorgehen, und der Kshetrajna schaut sie an, das 
ist die beständige Verbindung dieser beiden, des Sattvam und 
des Kshetrajna" (ib. Vers 43). Daher ist, wie im vorher- 
gehenden geschildert wird, im Gegensatze zu Auge, Manas 
und Buddlii als den Organen des Erkennens, der Kshetrajna 
der durch sie erkennende Zuschauer (Vers 13), welcher un- 
sichtbar über den Sinnesorganen thront (Vers 21): er ist „von 
Natur erkennend (jnah) und sich von Ewigkeit her bewaifst, 
dafs es nichts Höheres gibt als ihn". Im Gegensatze zu den 
vierundzwanzig, aus der Prakriti und ihren Produkten be- 
stehenden Prinzipien der objektiven Weh heifst der Kshe- 
trajna oft der Fünfundzw^anzigste; Xll, 30ß,39 — 40 
28 II- ontologie und Theologie. 
S. G27fg. : „Ein anderes ist das Kshetram, ein anderes der 
Kshetrajna; als Kshetram bezeichnen sie das Unentfaltete, als 
den, der es erkennt, den Fünfundzwanzigsten, Ein anderes 
ist das Objekt, ein anderes das Subjekt der Erkenntnis; Er- 
kenntnisobjekt (jnänam!) ist die Prakriti, Erkenntnissubjekt 
(jheya'.l) ist der Fünfundzwanzigste." Über die Verbindung 
dieses Fünfundzwanzigsten mit der Prakriti äufsert sieh das 
Epos nur gleichnisweise; der Purusha ist mit der Prakriti 
verbunden, in sie verstrickt, mit ihr verflochten, vermischt; 
er bedient sich des Sattvam als einer Lampe, mit der er im 
Dunkeln geht (XIV, 50,14 S. 987); beide sind verbunden und 
doch verschieden, wie der Fisch und das Wasser, wie die 
Fliege und das Feigenblatt, aber eine genauere Untersuchung 
dieser Verbindung ist, soweit wir sehen, im Mahäbhäratam 
noch nicht zu finden. Nur so viel ergibt sich, dafs diese Ver- 
bindung gelöst wird, sobald die Erkenntnis der Verschieden- 
heit des Purusha von allem Objektiven erlangt wird; XII, 
307,20 fg. S. 630 fg. : ,,Dann wird er zu einem reinen, weil er 
sich von der Prakriti lossae-t, wenn er als ein Erweckter zu 
dem Bewufstsein gelangt: 'ein anderer bin ich und eine andere 
ist sie'. Dann gelangt er zu seiner wahren Wesenheit und 
geht keine Mischung mehr ein." In diesem Stande der Er- 
wecktheit wird der Fünfundzwanzigste zum Sechsundzwan- 
zigsten; XII, 308,9 fg. S. 634: „Aber wenn er [der Fünf- 
undzwanzigstej, erwachend, von sich selbst weifs: 'ich bin ein 
anderer', dann wird er von der Prakriti frei und durchschaut 
das unentfaltete. Und wenn er zu dieser höchsten, flecken- 
losen, reinen Erkenntnis erwacht ist, dann gelangt er so, o 
Königstiger, als Sechsundzwanzigster zur Erwecktheit; . . . als 
Gunaloser erkennt er die Prakriti als gunahaft und ungoistig und 
wird zum AbsoluttMi, weil er das Unentfaltete durchschaut hat. 
Mit dem Absoluten eins geworden und erlöst, gelangt er zu 
seinem wahren Selbste. Das ist die Wesenheit, welche man 
als das Wesenlose, Alterlose, Unsterbliche bezeichnet." In 
diesem Zustande der Erwecktheit hat der Purusha die Wesen- 
heit abgestreift und ist von da an wesenlos (Vers 15). „Ist 
er aber durch den wachen Sechsundzwanzigsten erweckt 
worden, so ist er weiter erkenntnislos, denn dieses [das 
5. Der l'urusba von der l'rakriti isoliert. 29 
Gegenüborstohon von Subjekt und ( )bj«>kt beim Erkennen] 
wird noc'li für eine X'ielheit erklärt, nach Anschauung der 
Safdchya's und der Schrift" (Vers 17). \'on diesem Gesichts- 
punkte aus wird XIF, o50 — 351 S. 856 fg. auch die Frage 
nach der Einheit und Vielheit des Purusha beantwortet; 
im Stande des Gebundenseins bestellt er als eine Vielheit, 
im Stande der Erlösung als Einer. „Allerdings gibt es die 
vielen Purusha's, welche von dir erwähnt wurden; in diesem 
Sinne ist jene Einheit als aufgehoben anzusehen und auch 
wiederum als nicht aufgehoben. Ich will dir aber den Be- 
reich jenes einen Purusha erklären, inwiefern er als der ein- 
zige Ursprung der vielen Purusha's zu bezeichnen ist" (XII, 
350,25 — 26) ; „Dieser Purusha kann nicht von dir geschaut 
werden, o Bester, noch auch von mir oder von andern, sofern 
sie gunahaft sind. Nur von Gunafreien kann der Allbefassende 
mit dem Auge der Erkenntnis geschaut werden. Körperlos 
wohnt Er in allen Körpern, und obgleich er in den Körpern 
wohnt, wird er doch nicht durch die Werke befleckt. Er 
ist meine innere Seele und die deine und aller, die das Merk- 
mal der Körperlichkeit an sich tragen, er ist der Zuschauer 
(sähshin) in allen und kann daher von keinem irgendwo 
geschaut werden" (XII, 351.2—4). 
G. Theologische Fortentwicklungen. 
Es ist die ursprüngliche Bestimmung des Intellektes, ein 
Diener des ^^'i]lens zu sein und ihm die Motive für das Han- 
deln zu übermitteln. Auf dieser Naturbestimmung des In- 
tellektes beruht die dem Menschen angeborene Neigung zum 
Realismus, welche auch in der Philosophie aller Länder und 
Zeiten sich bemerkbar macht als die Neigung, metaphysische 
Wahrheiten mit empirischen Formen zu umkleiden und da- 
durch zu entstellen und mehr oder weniger zu verderben. 
Diese realistische Tendenz war es, welche in Indien aus dem 
einen Purusha eine Vielheit, aus der ihn blendenden Mäyä 
eine ihm als selbständige Potenz gegenüberstehende Prakriti 
machte; und eben diese Neigung, das Metaphysische in em- 
pirische Vorstellungsformen zu fassen, machte sich gleichzeitig 
30 ^^- ontologie und Theologie. 
nach einer ganz andern Richtung hin bemerkbar in der Sucht, 
das Götthclie, welches seiner Natur nach ein Metaphysisches 
ist, zu personifizieren und dadurch zu einem Physischen zu 
machen. 
Das Brahman, wie es sich im Geiste der altern Upani- 
shadphilosophen ausgestaltet hatte, war als das Prinzip, auf 
welchem Entstehen, Bestehen und Vergehen der Wesen be- 
ruhen, ein rein philosophischer Begriff. Aber schon in den 
Jüngern Upanishad's, wie Käthaka, I^ä und namentlich Qye- 
taQvatara, tritt das Bestreben hervor, dieses unpersönliche 
Brahman zu personifizieren und so als den Gott Brahman dem 
Verständnis der Menge und ihrem Verehrungsbedürfnis näher 
zu bringen. Dieser Prozefs mufs sich schon vor dem Auf- 
treten des Buddhismus vollzogen haben, in dessen ältesten 
Denkmälern oft genug von dem Gott Brahman die Rede ist, 
welcher dort mit einem schwer zu deutenden Beiworte als 
J3rahmä Sahapatih oder BraJtmä Sahämpatih, etwa : „der mäch- 
tige Herr, der Herr der Kräfte" (gen. plur. von der Wurzel 
saJf, analog gebildet, wie Brihaspati von der Wurzel brih) 
erscheint. 
ungeachtet dieser Bemühungen, den philosophischen Be- 
griff des Brahman zu personifizieren und dadurch dem Ver- 
ständnis der Menge näher zu bringen, hat der persönliche 
Gott Brahman doch nie im Herzen des Volkes rechte Wurzeln 
gefafst. Diesem standen zwei andere Götter näher, welche 
sich aus bescheidenen Anfängen im Rigveda zu so grofser 
Bedeutung fortentwickelt haben, dafs der Grieche Megasthenes 
um 315 a. C. sagen konnte, zwei Götter würden von den 
Indern vor allen andern verehrt, Herakles in der Ebene und 
Dionysos im Gebirge.* Dafs hier unter Herakles Mshnu und 
unter Dionysos Qiva zu verstehen sei, ist wohl allgemein 
anerkannt und bedarf keiner weitern Ausführung. 
Vishnu ist im Rigveda der Sonnengott als der „Wirkende" 
(von visJi , wirken), und seine drei Schritte, welche öfter 
* Strabo XV, p. 711. llepl 81 tw\» 9tXoc76cpwv Xs^wv (sc. MeyaffjevTf]?) 
8'.7.aiou? Tov 'HpaxXea Tqj.av. 
6. Theologische Fortentwickhingen. ;jl 
iTNvälint wi'idtMi, sind .Vur<i"aiig, Kulminntioii (der höchste 
Schritt des Vislinu, risJnioh paramam pudum) und l'ntergaiig'. 
So sehen im übrigen von ihm im Rigveda die Rede ist, so 
mächtig hat er sich doch in der Folgezeit entwickelt; andere 
Güttergestalten wie Hari, Xürdydna, Jaiiärdana verschmolzen 
mit ilim nnd wurdmi zu seinen Beinamen, und so erschemt 
er in der epischen Periode Aieli'ach als der oberste Gott, von 
dem alle andern abhängig sind, ja, sogar monotheistisch als 
der einzige Gott. 
Der Gottesname Qiva (der Gütige) ist eine erst in der 
Brahmanazeit aufkommende euphemistische Bezeichnung für 
den altvedischen Budra, den am meisten gefürchteten Gott, 
urs})rünglich wohl (vgl. oben I, 1 S. 87 und „Sechzig Upa- 
nishad's" S. 730) eine Personifikation des fallenden und zün- 
denden, aber auch die Luft von Miasmen reinigenden Blitzes. 
Auch dieser Gott entwickelte sich in der Folgezeit durch 
xVusstattung mit Zügen des altvedischen Agni sowie durch 
Einverleibung anderer Göttertypen von unbestimmter Be- 
deutung wie Haict, Bhava, Carva zu einem mächtigen Allgotte, 
und es mag wohl sein, dafs er, worauf manche seiner Bei- 
namen und ^lytlien hindeuten, vorwiegend im Himälaya, wie 
\'ishnu in der Gangesebene, zur Zeit des Megasthenes ver- 
ehrt wurde. 
Die genannten drei Götter, Brahman, Vishnu und (^^iva, 
sind es, welche im grofsen Epos vor allen andern hervor- 
treten, wobei bald der eine, bald der andere als der höchste, 
den beiden andern überlegene erscheint. Dafs hier eine histo- 
rische Entwicklung und eine ihr sich anschliefsende wieder- 
holte Umarbeitung des epischen Stoffes vorliegt, ist wohl nicht 
zu bezweifeln, und man kann geradezu ein Kriterium für das 
Alter der einzelnen Stücke aus der Art entnehmen, wie sie 
bald Brahman, bald Vishnu, bald (^iva an die Spitze des 
Pantheons stellen. Zu den ältesten Partien des Epos dürften 
diejenigen gehören, in welchen noch in der Weise der üpa- 
nishad's der Gott Brahman als höchstes Prinzip, als das per- 
sonifizierte Brahman auftritt. In diesem Sinne sagt er von 
sich III, 187,52 = 12797: „Ich bin Brahman, der Herr der 
Geschöpfe, hrdier als welchen (j/atparani) es nichts gibt", und 
32 W- ontologie und Theologie. 
V, 97,2 = 3502 lieifst er „Brahmän, der imvernichtbare und 
unvergängliche Urvater der Welt", und noch im Mokshadharma 
XII, 208,3 S. 237 unserer l'bersetzung wird von ihm gesagt: 
„Als erster war der eine Heilige, durch sich selbst Seiende, 
der ewige Gott Brahmän." Auf dieser Superiorität des Brah- 
man beruht es, dafs er (wie Holtzmann Z. D. M. G. XXXVIII, 
167 fg. ausgeführt hat) im Mahäbhäratam als Lehrer und 
Herr der Götter auftritt, welcher als Kenner des Vergangenen, 
Gegenwärtigen und Zukünftigen den Göttern in ihren Ver- 
legenheiten seinen Rat erteilt, ohne übrigens tätig einzugreifen, 
dafs er als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt gefeiert 
wird, der die Schicksale der Menschen von Ewigkeit her 
vorausbestimmt hat. Diesem Primate des Brahman entspricht 
es, wenn sowohl Vishnu als auch Qiva als abhängig von ihm 
bezeichnet w^erden. So befiehlt Brahman dem Vishnu bei der 
Quirlung des Ozeans, I, 18,21 ~ 1140, die von der Arbeit 
ermüdeten Götter zu stärken; III, 276,5=15933 gebietet er 
ihm, als Räma sich zu verkörpern, und noch XVIII, 5,23 = 170 
heifst es, dafs Näräyana (Vishnu) auf Befehl (niyoga) des 
Urvaters Brahman die Erde trage. 
In gleicher Weise erscheint auch Qiva in manchen Stellen 
noch als von Brahmän abhängig: Nach XII, 350,11 = 13723 
S, 857 ist Qiva der aus Brahmän's Stirn entsprungene Sohn; 
bei der Ouirlung des Milchmeers I, 18,42=1153 verschluckt 
er auf Befehl des Brahmän das Gift Kälaküta, um die Welt 
davor zu schützen; nach XII, 257,11 = 9175 S. 407 (vgL 
VII, 53,13 = 2061) ist Qiva von Brahmän mit der Fürsorge 
für die Wesen betraut; und IX, 44,43 = 2492 naht ^iva, von 
seiner Gattin Umä und seinem Sohne Skanda begleitet, dem 
Gott Brahmän, fällt vor ihm nieder und erbittet für seinen 
Sohn eine Gnade. 
Sehr verschieden von dieser Stellung des Brahmän ist 
das Verhältnis, welches er in den Jüngern Partien des Epos 
gegenüber den Göttern Vishnu und Qiva einnimmt, indem er 
mehr und mehr in eine Abhängigkeit von ihnen gerät. Viel- 
fach wird in ihnen Brahmän als ein Sohn Vishnu's bezeichnet. 
XII, 339,60 S. 775 spricht Näräyana (Vishnu): „Von mir ist 
vordem Gott Brahmän geschaften worden, und mir zu Ehren 
G. Tlieologisclio Fortenlwickluugen. ;J3 
hat (M- selbst ein 0[)rer g-efordert*', und Braliman «elobt ilim 
in den Iblgonden Versen: „Dir, o Heiliger, will ich gehorsam 
sein und von dir mich lenken lassen wie ein Sohn.'' Nach 
XII, ;U1,12 S. 79(; und XII, 342,128 S. 817 ist Brahman aus 
der Gnade uiul riva aus dem Zorne des Vishnu entsprungen. 
Näher werden Xll, :U7,40 fg. S. 836 und XII, 348,i;:i fg. 
S. 842 fg. die sieben Geburten des Brahman aus Manas, 
Augen, Rede, Ohren, Nase des Vishnu sowie aus dem von 
ilnn gesehaftenen AVeltei und der aus seinem Nabel hervor- 
wachsenden Lotosblume beschrieben. Auch die Schöpfer- 
tätigkeit (k^s Brahman gerät auf dieser Stufe der Entwicklung 
in Abhängigkeit von Vishnu. So bekennt XII, 349,20 ig. 
S. 851 fg. Brahman gesenkten Hauptes und sorgenerfüllten 
Antlitzes vor Vishnu seine Ohnmacht: „Welche Kraft hätte 
ich. die Geschöpfe zu schaffen, o Gottherr, mir fehlt die nötige 
lunsicht, o Gott, bestimme, was geschehen soll." Hierauf 
zieht sich Vishnu in die Verborgenheit zurück, erdenkt die 
IhuldJii (die schöjjferische Weisheit) und befiehlt ihr, die in 
leibhaftiger Gestalt vor ihm steht: „Gehe ein in den Gott 
l>rahmän, damit der Zw^eck der Weltschöpfung erreicht w^erde." 
(Vergleiche die personifizierte Weisheit, Weisheit Salomonis 
Cap. G— 8.) 
Aber auch Qiva wird in den spätem, wahrscheinlich 
spätesten Teilen des Mahäbhäratam über Brahman und alle 
andern Götter erhoben: VII, 202,97 -= 9588 fg. erklärt Gott 
Brahman selbst den Qiva für den weltschafienden und weit- 
durchdringenden Herrn des Vergangenen und Zukünftigen; 
Xül, 14,4:= 591 fg. wird er als Schöpfer und Herr des Brah- 
man und Vishnu, als erhaben über Prakiiti und Purusha, als 
das unvergängliche, höchste Brahman gefeiert, und auch im 
(^ivasahasranäman XII, 284,78 fg. S. 523 heilst es von ihm, 
er sei der hundertkräftige Gott Brahman, und die Stelle 
Atharvaveda 11,8,32: „Alle jene Götter sind in ihm, wie im 
Kuhstall die Kühe sind" wird mifsverständlich (vgl. oben 
1. 1 S. 277) auf Qiva bezogen. 
Der Kampf der verschiedenen religiösen Parteien, von 
denen jede iliren (Jott für den höchsten erklärte und diese 
Anschauung in das ^lahäbhäratam hineinverarbeitete, endete 
Beupsi-k, (iescliichtc der Pliüosopliie, I,iii. 3 
34 ^f- ontologie und Theologie. 
schlierslich mit einer Identifikation der drei als oberste an- 
erkannten Götter. Mythisch wird dieser Vorgang geschildert 
in dem XII, 342,118 fg. S. 816 fg. mit poetischen Farben aus- 
gemalten Kampfe zwischen Vishnu und Qiva, welcher (Vers 
131^^^ = 13293) zu einer Versöhnung führt, indem Vishnu 
zum Schlüsse dem Qiva erklärt: ,,Wer dich kennt, der kennt 
mich, wer dir anhängt, der hängt mir an; kein Unterschied 
ist zwischen uns beiden, mögest du nie anders denken" (S. 817). 
Endlich wird auch Gott Brahman in dieser Identität mit be- 
fafst und es kommt zu einer Art von Dreieinigkeit, welche 
mit der christlichen nichts als den Namen gemein hat und 
in dem bemerkenswerten Verse Harivanga 10662 ihren Aus- 
druck findet: 
yo vai Visknith sa vai Bitdro yo Budrah sa Pitämahah 
ekä mürtis trayo devä Budra-VisJmu-Pitäniahäh. 
,, Fürwahr, der welcher Vishnu ist, der ist der Rudra, und 
der Rudra ist, der ist der Urvater der Welt; ein Wesen ist 
es und drei Götter, Rudra, Vishnu und der Urvater." 
7. Monotheistische Bestrebmigen. 
Wenn auch im Epos je nach dem Alter seiner Teile jeder 
der drei grofsen Götter Brahman, Vishnu und ^iva abwech- 
selnd für den höchsten erklärt wird, so tritt doch in der ganz 
überwiegenden Mehrzahl der vorliegenden Texte Vishnu so 
bedeutsam hervor, dafs man ihn als den eigentlichen Haupt- 
gott der epischen Periode bezeichnen kann, welcher gelegent- 
hch alle Prädikate in sich vereinigt, die in der Upanishadlehre 
dem allgegenwärtigen, ewigen, die Welt schaffenden und er- 
haltenden Atman zugesprochen zu werden pflegten. Von den 
zahlreichen Stellen, welche den Vishnu als Allgott feiern, 
wollen wir nur eine herausheben. XII, 280,7 fg. S. 490 fg. 
heifst es unter anderm von ihm : „In Vishnu ruht diese ganze 
Welt. Er ist es, der die Schar der beweglichen und un- 
bewegUchen Wesen schafft, der sie im Laufe der Zeit wieder 
in sich hereinreifst und sie abermals schafft . . . Der anfang- 
lose und endlose, glückselige Ilari Närayana, der Herr, schafft 
7. Monotheistische Bestrebungen. 35 
als Gott, die Woslmi, dir uiil)e\veglichen und beweglichen . . . 
Seine Fül'se sind dir Krde und sein Haupt ist der Himmel, 
seine Arme sind dir llinnnelsgegenden, sein Gehör ist der 
Äther . . . Viele Standorte hat er und viele Angesichter, 
Dharma wohnt in seinem Herzen, er ist das Brahman, ist die 
höchste Gerechtigkeit, ist Askese, ist das Seiende und Nicht- 
seiende." Vishnu ist Schöpfer und Erhalter der Welt, und. 
wenn diese in Not gerät, so steigt er aus seinem Himmel 
N'aikuntha herab und verkörpert sich in irgend einer Gestalt 
zum Heile der Welt. VI , 28,6 u. 7 S. 50 fg. spricht er : 
,.lngeboren bin ich und unvergänglichen Wesens, bin der 
Gottherr f/Qrara) der Geschöpfe; aber indem ich eingehe in 
meine eigene Natur (pralrit/), entstehe ich durch meine Zauber- 
kunst (niäi/d). Denn jedesmal, wenn die Gesetzlichkeit welk 
üeworden ist und Ungesetzlichkeit überwaltet, dann erschafie 
ich selbst mich selbst." Dies sind die Avatära's, „die Herab- 
steigungen" des \'ishnu, deren die spätere Zeit zehn zu zählen 
pflegt, als Schildkröte, Fisch, Eber, Mannlöwe, Zwerg, Para^u- 
Hama, Rama, Krishna, Buddha und Kalki. Diese werden 
schon im Epos XH, 3o9,10;>fg. S. 779 aufgezählt, nur dafs 
Buddha fehlt und dafür an die erste Stelle Hansa tritt. 
Im Gegensatze zu den altvedischen Naturgöttern erscheint 
\'ishnu vor allem als Hüter und Wiederhersteller des Dharma, 
der Gerechtigkeit. Das moralische Element überwiegt in der 
Vorstellunc; von ihm, und hieraus dürfte sich die Neiguns; 
erklären, den Vishnu nicht nur als den alle andern über- 
ragenden, sondern sogar als den einzigen Gott aufzufassen; 
liier wie auf biblischem und griechischem Boden strebt die 
Heligion in dem Mafse, in welchem die Gottheit als Quelle des 
Sittlichen aufgefafst wird, zum Monotheismus hin, denn das 
Sittengesetz kann nur einer Einheit entfliefsen. So sehen wir 
schon im Mahal)haratam eine Richtung emporkommen, deren 
Gegensatz gegen die vedische Vielheit der Götter deutlich 
empfunden wird und deren Vertreter als Bhärjavata's (Verehrer 
dt's Hhagavan -Vishnu), Fäncarätra's (vielleicht Beobachter der 
täglich fünfmal zu verrichtenden Zeremonien, vgl. XH, o3ß,4() 
S. 702), Säfraia's (eigentlich das Volk des Krislina) oder als 
F.känti)rs (Monotheisten) gekennzeichnet werden. 
3* 
36 II. Oiitologie und Theologie. 
Das älteste Denkmal dieser monottieistisclien Richtung 
ist die BhagavadgUä, „die von dem Heiligen (hlmgavän) ge- 
sungene" Belehrung (VI, 25 — 42 S. 33—107), in welcher 
Krishna, der Wagenlenker des Arjuua, diesen zum Kampfe 
ermutigt und sich im Verlaufe seiner Belehrungen als eine 
Inkarnation des Allgottes Vishnu zu erkennen gibt. An die 
Bhagavadgitä schliefst sich deuthch an der Abschnitt im 
Mokshadharma, XII, 334—348 S. 748 — 849, welcher unter 
vielen Abschweifungen von der Reise des Narada zu den auf 
Qvetadvipa, einer Insel nordwestlich vom Himälaya wohnenden, 
den Närayana allein verehrenden weifsen Männern berichtet 
und dabei die ,, Satzung der Ekäntin's, die in Närayana das 
Höchste sehen", d. h. die „Päficarätralehre" (S. 848 Vers 82) 
oder die „Sätvatasatzung" (Vers 84) verkündigt. Schon 
diese letzte Bezeichnung weist auf Krishna zurück wie auch 
der mit Vorliebe für das höchste Wesen gebrauchte Name 
Väsudeva. Ausdrücklich beruft sich auf die Ereignisse der 
Bhagavadgitä der Vers XII, 348,8 S. 842, und allem Anscheine 
nach ist sie unter der S. 831 Vers 11 und S. 846 Vers 53 
erwähnten Harigitä zu verstehen. Dem Inhalte nach ist die 
Päficarätralehre, wie sie in diesen Texten dargestellt wird, 
eine Verschmelzung der Lehre von Vishnu -Krishna mit den 
Prinzipien der Sähkhyalehre, welche hier unvollständig, mit 
Fremdartigem untermischt und noch ohne die spätere Rang- 
ordnung erscheinen, woraus wohl ein Schlufs auf ihr relativ 
höheres Alter berechtigt ist. Väsudeva ist der Atman, dieser 
aber entfaltet aus sich die psychischen Faktoren. Aus dem 
Purusha oder Kshetrajna emaniert nach Sähkhyaweise der 
Jlva, aus diesem das 3Ianas, aus diesem der Aliaühara. Dies 
sind die vier Vi/{iha''s oder Zerlegungen der Wesenheit des 
Vishnu, welche dann wiederum im engen Anschlufs an die 
Krishnalegende nach diesem selbst, sowie nach seinem Bruder, 
Sohn und Enkel benannt werden, wie folgendes Schema zeigt : 
1. Väsudeva =: Kshetrajna, der höchste Purusha. 
2. Sanharshana = Jiva, die individuelle Seele. 
3. Pradyunina = 3Ianas, Verstand. 
4. Aniruddha = ÄlianMra, das Ichbewufstsein. 
Aniruddha wird S. 775 Vers 62 als identisch mit Gott 
7. Müiiothcistisclie Bestrebungen. 37 
Braliuuin, S. 776 Vers 74 als Vater des Brahinan Ix'zeicli- 
net : ,,Aus Aniriuldha entspringt weiter Gott Braliman, indem 
IT aus dem in dessen Nabel wurzelnden Lotos hervortritt, 
aus Gott Brahmau endlich entstehen alle Wesen, die be- 
weglichen und die unbeweglichen. Das, wisse, ist die 
Schöpfung, welche immer wieder und wieder zu Anfang 
eines Kalpa erfolgt, wie Aufgang und Untergang der Sonne 
im llimmelsraum.'' Den genannten vier Evolutionen ent- 
spricht ein stufenweises Eingehen derer, welche den Väsu- 
deva in gläubiger Verehrung (hhaldi) geliebt haben; S. 825 
Vers 13 fg.: „Die nun, welche in dieser Welt fleckenlos, frei 
von Gutem und Bösem leben, für diese den Weg des Friedens 
(lebenden ist der die Finsternis in aller Welt verscheuchende 
Sonnengott die Eingangspforte. Nachdem dort ihr ganzer 
Körper von der Sonne verzehrt ist, gehen sie unsichtbar für 
J(MltMi überall und atomklein geworden zu jenem Gotte ein. 
lud auch von ihm entlassen, nachdem sie in ihm, dem 
Aniruddlia geweilt hatten, gehen sie, zum Manas geworden, 
in Pradyumna ein: und auch von Pradyumna freigelassen, 
gehen sie sodann in den Jiva, d. i. Sahkarshana, ein, sie die 
vorzüglichsten Brahmanen, tlie Sänkhya's mitsamt den Bha- 
gavata's. Und sodann gehen sie, von dem Dreigunawerk be- 
freit, unmittelbar in den höchsten Atman ein, die besten der 
Z wiegeborenen, zu dem gunalosen Kshetrajüa. Dieser Kslie- 
trajna ist in Wahrheit Väsudeva, der Befasser (äväsa) des 
Weltalls." 
Bemerkenswert ist die Aufserung S. 846 Vers 62, dafs 
Anhänger dieser Lehre „nicht leicht in gröfserer Zahl zu lin- 
den seien", sowie die Ausführung S. 842 fg., wonach diese 
ewige Satzung siebenmal aus der Welt geschwunden und 
jedesmal wiederhergestellt worden sei. Wenn auch diese 
siebenmalige Wiederherstellung dort mit den sieben Geburten 
des Braliman in Verbindung gesetzt wird, so dürfen wir doch 
wohl auch in ihr ein Anzeichen dafür finden, dafs diese 
monotheistische Sekte sich im. Zeitalter des Mahäbhäratam 
keiner grofsen Popularität erfreute. Diese hat ihr erst Ramä- 
nuja mn 1200 p. C. gesichert. 
38 III. Kosmologie und Psychologie. 
111. Kosmologie und Psychologie. 
1. Vorbeinerkung-en. 
Die auffallende Erscheinung, dafs im spätem Sänkhyam 
aus der Prakriti zunächst eine Reihe psychischer Organe, wie 
BiiddJd, AhanMra, Manas usw., und aus diesen erst die ma- 
terielle Natur hervorwächst, findet ihre Erklärung in dem 
Umstände, dafs in der Vedaphilosophie das weltschaffende 
Prinzip vielfach als eine menschenähnliche Persönlichkeit mit 
psychischen und physischen Organen vorgestellt wurde. Nach- 
dem dieser Weltschöpfer sich zum Purusha, dem Suhjekte 
des Erkennens, verflüchtigt hatte, und die ganze Weltent- 
wicklung aus der ungeistigen Prakriti abgeleitet wurde, ging 
es nicht mehr an, ihr wie vordem dem Weltschöpfer, die als 
kosmische Potenzen aufgefafsten intellektuellen Kräfte bei- 
zulegen, und so wurden Buddhi, Ahankära und Manas des 
kosmischen Charakters, den sie als die geistigen Kräfte des 
Weltschöpfers gehabt hatten, entkleidet, und es blieb nur 
noch ihre Bedeutung als individuelle Funktionen übrig. Diese 
aber, da sie der ungeistigen Prakriti nicht als Eigenschaften, 
wie vordem dem Schöpfer, beigelegt werden konnten, wurden, 
nunmehr als eine stufenweise aus ihr erfolgende Emanation, 
oder Evolution abgeleitet. 
Wir wollen diesen ihren Übergang von kosmisch-psychi- 
schen Eigenschaften des Weltschöpfers zu individuell-psychi- 
schen Produkten der Prakriti an der Hand von Beispielen 
kurz skizzieren. 
2. Die psychisch-kosmischen Organe des Weltschöpfers. 
Schon der Purushahymnus Rigveda 10,90 schildert, wie 
wir oben I, 1 S. 150 fg. gesehen haben, den Weltschöpfer als 
ein menschenartiges Wesen, aus dessen Organen die Dinge 
entspringen, Vers 13 — 14: 
Aus seinem Manas ist der Mond geworden, 
Das Auge ist als Sonne jetzt zu sehn, 
Aus seinem Mund entstand Indra und Agni, 
Vayu, der Wind, aus seines Odems Wehn. 
t?. l^io psyihisdi-kosmischon Orffuno dos Weltscliöpfers. 39 
Das Reich des Luftraums ward aus seinem Nabel, 
Der Himmel aus dem Haupt liervorgebracht, 
Die Erde aus den Füfsen, aus dem Ohre 
Die Pole, so die Welten sind gemacht. 
Im Anschlufs an diese Anschauung schihlcrt die Aitarcya- 
Upanishad 1,1, wie der Atman aus den Wassern einen Purusha 
(Mann) liervorholt und formt, und wie aus dessen Mund, 
Nase, Augen, Ohren, Haut und Herz die Naturerscheinungen 
von Feuer, Wind, Sonne, Himmelsgegenden, Pflanzen und 
Nfond hervorgehen. 
Auf einer ähnHchen Anschauung beruht Mundaka-Upa- 
nishad 2,1,3—4: 
Aus ihm entsteht der Odem, der Verstand und alle Sinne, 
Aus ihm entstehen Äther, Wind und Feuer, 
Das Wasser und, alltragende, die Erde. 
Sein Haupt ist Feuer, seine Augen Mond und Sonne, 
Die Himmelsgegenden die Ohren, 
Seine Stimme ist des Veda Offenbarung. 
Wind ist sein Hauch, sein Herz die Welt, aus seinen Füfsen Erde : 
Er ist das inn're Selbst in allen Wesen. 
Hier sind Odem, Verstand und Sinne nicht mehr Eigen- 
schaften des Weltschöpfers, sondern sie werden von ihm er- 
zeugt, könnten also schon die individuellen Organe sein, welche 
jedoch hier vor den Elementen Äther, Wind, Feuer, Wasser 
und Erde entstehen, so dafs die Stelle schon den Übergang 
zu der spätem Safikhya-Anschauung bildet. 
Auch in die epische Zeit reicht der psychische und zu- 
gleich kosmische Charakter der Organe noch hinein, und das 
bedeutendste Denkmal dieser Ansschauung ist der Schöpfungs- 
bericht bei Manu I, f) — 20. 27, der wegen seiner Wichtigkeit 
und besondern Schwierigkeit ein näheres Eingehen erfordert 
und verdient. 
•i. Der Schögffuiitrsbericht des Mann. 
Der Gedankengang im allgemeinen ist der, dafs Svayam- 
bhü, der durch sich selbst Seiende, zunächst die Wasser 
40 III- Kosmologie und Psychologie. 
schafft, in welche er sich als goldener Keim senkt, um aus 
ihnen als der persönliche Brahmän (Vers 9) oder Purusha 
(Vers 11) hervorzugehen, ^^^ir hahen also hier dieselbe Drei- 
heit der aus einander entstehenden Prinzipien als Urwesen, 
Urmaterie und Erstgeborener, der wir schon oben in den I, 2 
S. 165 gesammelten Stellen begegnet sind. Weiter wird er- 
zählt, wie Brahmän (Purusha) aus den Schalen des Welteis 
Himmel und Erde bildet und sodann (Vers 14 — 15) aus seinem 
Selbste das Mfoias, den ÄhanJcära und den Maliän Aimä 
(=. Buddld)^ sowie alles Dreigunahafte und die fünf Sinnes- 
organe herausreifst. Hier sind Manas, Ahankära und Mahän 
offenbar als kosmische Kräfte des Weltschöpfers zu fassen, 
denn im folgenden schliefst er feine Teilchen seines Manas 
und seiner Sinnesorgane in die Körperelemente seines Selbstes 
(ätma-mäträsu) ein und bildet dadurch die individuellen Ge- 
schöpfe (vgl. Vers 18 imd 27). Der ganze Bericht lautet 
wie folgt. 
Manu I, ■i—20. 27. 
5. Diese Welt war fmsternisartig, unwahrnehm])ar, ohne 
Merkmale, unerschliefsbar, unerkennbar, gleichsam im Schlafe 
allerwärts. 
6. Da geschah es, dafs der durch sich selbst Seiende, 
Heilige, Unoffenbare, indem er diese aus den grofsen Elemen- 
ten und dem übrigen bestehende Welt offenbar machte, er 
der Kraftvolle in die Erscheinung trat, die Finsternis ver- 
scheuchend. 
7. Er, der über das Wahrnehmbare Erhabene, der Ver- 
borgene, Unoffenbare, Emge, alle Wesen Befassende, Undenk- 
l)are, dieser leuchtete von selbst auf, 
8. Er meditierte und beschlol's, aus seinem Leibe die 
mannigfachen Geschöpfe zu schaflen ; da schuf er zu Anfang 
die Wasser, in diese ergofs er seine Manneskraft. 
9. Diese ward zu einem goldenen Ei, an Glanz der 
tausendstrahligen (Sonne) vergleichbar [vgl. zum folgenden 
die oben I, 2 S. 109 übersetzte Stelle aus Chänd. Up. 3,19]; 
in ihm wurde er selbst geboren als der Gott Brahmän, der 
Urvater der ranzen Welt. 
'S. Der Scliüiituiigsboriclit des Manu. 41 
10. Die Wasser werden genannt Näruh , denn die 
Wasser sind Kind(M' des Nara [des weltschaflenden Pu- 
rushaj; weil sie einst sein Aufenthalt (ai/a»am) waren, darum 
heilst er Narayana. [Vgl. Mahabh. XTl, 341,40 S. 798 wie 
auch TU, 12052. 15 BIO.) 
11. ^^^^s Jone unollenbare, ewige, seiende und nieht- 
seiende rrsache ist, aus dieser umgeschaflen wird jener 
Purusha in der M'elt als der Brahman bezeichnet. 
12. Jener Heilige, nachdem er in jenem Ei ein Jahr lang- 
geweilt hatte, machte selbst durch die Meditation seiner selbst 
jenes Ei entzwei. 
13. Aus seinen beiden Schalen bildete er den Himmel 
und die Erde, den Himmelsraum dazwischen, die acht Him- 
melsgegenden und den ewigen Sitz der Wasser. 
14. Auch rrfs er aus seinem Selbst heraus das seinem 
AVesen nach seiende und nichtseiende Ilauas, und aus dem 
Manas den AJiailJcara, den ichbewufsten, herrischen. 
15. Ferner den MaJiän Atmä (den grofsen Atman) und 
alles was aus den drei Guna's besteht, sowie auch als die 
Ergreifer der Sinnendinge nach einander die fünf Sinnes- 
organe. 
16. Indem er von allen diesen sechs unermefslich Kräf- 
tigen [den fünf Indriya's und dem Manas] feine Teilchen ein- 
schlol's in die Körperelemente seines Selbstes, schuf er alle 
^^'esen. 
17. Weil die sechs feinen Teilchen seiner Gestalt in jenen 
jWesen) ihren A\'ohnsitz nehmen ( a(;rm/auti ) , darum nennen 
die Weisen seine Gestalt seinen Körper (gar/ram). 
18. In diesen (kosmischen Körper) gehen ein die grofsen 
Elemente mitsamt ihren Verrichtungen und auch sein ewiges 
Manas, welches mittels kleiner Teilchen (seiner selbst) alle 
Wesen bild(^t. 
19. Aber di(^se vergängliche Welt entsteht aus dem Un- 
vergänglichen, nämlich aus den feinen Bestandteilen jener 
sieben unermefslich kräftigen Purusha's [des Manas, der In- 
driya's und der fünf grofsen Elemente, anders oben I, 1 wS. 199]. 
20. Von diesen [fünf Elementen, Äther, Wind, Feuer, 
Wasser, Erde] erlangt das jedesmal folgende die Qualität des 
42 iJ^I- Kosmologie und Psychologie. 
jedesmal vorhergehenden [der Äther den Ton, der Wind Ton 
und (Jefühl, das Feuer Ton, Getühl und Gestalt, das Wasser 
Ton, Gefühl, Gestalt und Geschmack, die Erde Ton, Gefühl, 
(li estalt, Geschmack und Geruch]; der wievielte einer von 
ihnen ist, so viele (Jvialitäten hesitzt or. [Über die Akkumu- 
lationstheorie, wie \\ ir sie nennen wollen, siehe weiter unten.] 
27. Was aber jene verschwindend kleinen Quanta der 
Halbzehne (der fünf Elemente) sind, mittels derer entsteht diese 
ganze Welt nach der Ordnung. 
4. Allmälilichcr Übergang: der Schöpfertiitigkeit vom Itman anf die 
Prakriti. 
• 
Zahlreich, aber meist nur kurz und wenig zusammen- 
stimmend sind die im Mahabhäratam vorkommenden Aufse- 
rungen über die Entstehung der Welt. Ihre Widersprüche 
erklären sich, abgesehen davon, dafs wir es mit Dichtern 
und nicht mit Philosophen zu tun haben, hauptsächlich daraus, 
dafs auf religiösem Gebiete, wie schon oben I, 1 S. 180 aus- 
einandergesetzt wurde, das Neue nie mit dem durch geheiligte 
Traditionen geschützten Alten aufräumen darf, vielmehr ge- 
nötigt ist, sich zwischen den noch fortbestehenden Ruinen 
anzubauen, wodurch dann das Ganze, je länger je mehr, ein 
immer buntscheckigeres Aussehen gewinnt. Im allgemeinen 
läfst sich beobachten, wie im Mahabhäratam die Rolle des 
Weltschöpfers mehr luid mehr von dem Purusha auf die Pra- 
kriti übertragen wird, aber w4r dürfen uns nicht wundern, wenn 
gelegentlich nahe neben einander und wohl gar in demselben 
Adhyäya die Entstehung der Welt ganz aus der Prakriti ab- 
geleitet wird vmd daneben dann plötzlich und unvermittelt die 
alte, zur abgestorbenen Phrase gewordene Behauptung der 
Weltschöpfung durch den Atman als Brahman, Vishnu, 
Krislina, Närayana, zum Durchbruche kommt. Wir w'ollen 
versuchen, den Übergang vom Alten zum Neuen, von dem 
weltschaflenden Atman zur weltschafienden Prakriti an der 
Hand der Texte kurz zvi skizzieren. 
In nahem Anschlufs an den Schöpfungsbericht des Manu 
schildert Xll, IUI, 3 fg. S. 644 fg. wie der Urschöpfer aus 
4. Übergang der Schöpfertätigkoit vom Atmaii auf die Prakriti. 43 
einoni e;olrlenen Ei den Gott Brahnian schafft: „Nachdem er 
ein Jahr lang in dem Ei geweilt hatte, trat der grol'se Weise 
aus ihm hervor und fügte [die Schalen als] die ganze Erde 
und den Uimmel droben zusammen . . . und zwischen diesen 
beiden Schalen bildete der Herr den Luftraum/' Nicht recht 
dazu stimmen will es, wenn Vers 7 fg. geschildert wird, wie 
der l'rschöpfer nach der grofsen Brahmannacht den Ahankara 
als ein Geschöpf von göttlicher Wesenheit sowie vier weitere 
Söhne schafft, unter denen nach dem Kommentar Manas, 
Buddhi, Ahankara und Cittam als vi/nshfi, d. h. als psychische 
Prinzipien zu verstehen sein sollen. Von diesen als Vätern 
stammen dann, wie der Kommentar erklärt, die Indriya's, vom 
Ahankara aber die fünf Elemente mit ihren spezifischen 
Oualitäten. 
In ähnlicher Weise schildert XII, 233,2 fg. S. 33G fg., 
wie das glanzreiche, reine Brahman am Anfange des Welt- 
tages vermöge der Avidyä (des Nichtwissens) die Welt, und 
zwar zu Anfang den Mahän Atmä und daneben das Manas 
schafft, mittels dessen er sodann die fünf Elemente hervor- 
bringt, welche mit Mahän und Manas zu den sieben Manas- 
artigen (Vers 3), oder zu den siebenfach vorhandenen Atman's 
(Vers 10) zusammen addiert werden. 
XU, 182,11 fg. S. 145 nimmt drei Anläufe, um aus dem 
Mänaaa (Vers 11) oder dem Svaija»ihhü (Vers 15) oder dem 
Atman — Vishnu (Vers 19 fg.) zunächst, das erstemal durch 
die Zwischenstufe des Mahän, die beiden andern Male direkt 
den Ahankara zu schaffen, welcher hier wie öfter mit dem 
aus dem Lotos entsprungenen Brahman identifiziert wird, und 
weiter die Vers 14 noch nicht in der richtigen Reihenfolge 
genannten Elemente hervorgehen läfst. 
Eine etwas andere Anschauung bekundet XII, 207,8 fg. 
S. 233 fg. , wo der höchste Purusha zunächst die fünf Ele- 
mente schafft, sodann seine Wohnung in den Wassern nimmt 
und aus ihnen als Sahkarshana (nach dem Kommentar = 
Ahankara) hervortritt, welcher aus seinem Nabel eine himm- 
lische Lotosblume und aus dieser den heiligen Gott Brahman 
hervorgehen läfst. 
44 III- Kosmologie und Psychologie. 
Schon erwähnt wurde die Erzählung XII, 349,20 fg. 
S. 851, nach welcher Näräyana aus dem Lotos den Gott 
Brahman hervorgehen läfst, der, unfähig, die Welten zu 
schaffen, demütig vor seinen Vater tritt und die von diesem 
erdachte Buddhi empfängt, um mittels derselben die AVeiten 
zu schaffen. 
Während die bisher zitierten Stellen die Welt aus dem 
höchsten Wesen in irgend einer seiner Formen ableiten, so 
tritt in einer Reihe anderer Zeugnisse immer bestimmter neben 
den Purusha als zeugendes die Prakriti als gebärendes Prin- 
zip, bleibt aber dabei immer noch vom Purusha abhängig. 
Diese Anschauung findet sich besonders in der Bhagavadgitä 
vertreten. VI, 33,4 S. 69 sagt der Heilige: „Von mir in der 
Gestalt des ünentfalteten (avi/aMcwi) ist diese ganze Welt 
ausgebreitet worden." Vers 8 schafft der höchste Geist die 
Schar der Wesen, indem er sich „auf seine eigene Natur 
(prahriiim svätn) stützt", und nach Vers 10 „gebiert die Pra- 
kriti das Bewegliche und Unbewegliche", indem sie durch 
den Purusha als Aufseher dazu angetrieben wird. 
VI, 31,4 — 7 S. 63 unterscheidet der Gott an sich zwei 
Naturen (praliriti), eine niedere, achtfache, bestehend aus den 
Elementen nebst Manas, Buddhi und Ahankära, und eine 
höhere, „von der diese ganze Welt getragen wird", und wie 
hier die Weltschüpfung, so werden VI, 29,14 S. 56 das Täter- 
sein und die W'erke im einzelnen vom Purusha auf die eigene 
Natur (svahliäva = praJcriU) der Wesen übertragen. 
Härter treten oft im Mokshadharma vermöge der Inkon- 
zinnität dieses Werkes die AVidersprüche neben einander. Als 
Beispiel möge es genügen, auf XII, 210 hinzuweisen, wo 
Vers 10 Väsudeva als der Purusha, als Vishnu, als das un- 
offenbare, ewige Brahman, der Urheber von Schöpfung und 
Vergang ist, der nach Vers 15 Väter, Götter und Rishi's, die 
Menschen und die Dämonen, das Gute wie das Böse schafft, 
während es Vers 25 fg. heifst, dafs die Prakriti die vom Pu- 
rusha verwalteten Zustände gebäre ; „dann entwickelt sich die 
durch sie (die Prakriti oder die Zustände, atas) vorher mit 
den Ursachen ihrer Entstehung ausgestattete Welt. Wie an 
einer Fackel andre Fackeln tausendfach sich entzünden, so 
4. ( bi'igaug der Öcliöpfertätigkeit vom Ätmaii auf die l'rakiiti. 45 
gebiert di(> Prakriti und wird dücli wegen ihrer Unerscliöpf- 
lichkeit nicht vermindert. Aus dem Unentlalteten (der Pra- 
kriti) entsteht die werkbedingte Buddlii. und sie erzeugt den 
Ahafikara: aus dem Ahankära [entspringt] der Äther, aus 
dem Äther entsteht der A\ ind, aus dem \\lnd das Feuer, aus 
diesem das Wasser und aus dem Wasser geht die Erde her- 
vor; diese acht sind die Grundnaturen und in ihnen ist die 
AVeit gegründet". An dieser Stelle haben wir den Übergang 
der Tpanishadlehre zum spätem orthodoxen Sänkhyam un- 
mittelbar vor Augen. 
Deutlicli tritt die Scheidung zwischen Prakriti und Pu- 
rusha hervor in Stellen wie XII, 237,32 S. 353: „Das Ent- 
faltete und das Unentlaltete [die Prakriti] wird aufgefafst als 
ein Ungeistiges, und auch das [noch zur Prakriti gehörige] 
Sattvam und der Kshetrajna [Purusha] werden als zwei ver- 
schiedene aufgezeigt." Vgl. XII, 211,15 S. 250: „So soll der 
Weise diesen Unterschied erfassen zwischen dem Sattvam 
[als Vertreter der Prakriti] und dem Kshetrajna; w^enn er 
mit Fleil's sich dieser Sache hingibt, wird er nicht wieder in 
die Prakriti verfallen." XII, 310,10 u. 11 S. 642: „Als die 
acht schöpferischen Potenzen bezeichnen die Kenner des innern 
Selbstes: das Unentlaltete, den Maliän und den Ahahkära, 
dazu kommen Erde, Wind, Äther, Wasser und Feuer als 
fünftes." 
5. Wcitperioden und Weltvernichtung. 
Metaphysisch ist die von jeher dunkel gefühlte Abhängig- 
keit der sichtbaren Welt von einem Unsichtbaren, Unerkenn- 
baren. Diese Abhängigkeit ist es im Grunde, welche in der 
physischen, unserm Intellekte allein zu Gebote stehenden Vor- 
stellungsforni der Kausalität als eine Schöpfung der Welt 
durch das Urwesen oder aus ihm erscheint. Daher sehen wir 
wie bei andern Völkern so auch bei den Indern im Veda zahl- 
reiche Schöpfungsmythen aufkommen. Diese Schöpfung der 
Welt ist in den Upanishad's, mit Ausnahme der spätesten, 
ohne Zweifel als ein einmaliger, zu einer bestimmten Zeit 
stattfindender Akt zu denken. Eine solche Vorstellung war 
46 ni. Kosmologie und Psychologie. 
aber nicht mehr aufrecht zu halten, nachdem der Seelen- 
wanderungsglauhe aufgekommen war, welcher jedes Leben 
als die notwendige Frucht eines zeitlich vorhergegangenen 
Daseins auffafst, wodurch dann der Sansära, die Kette der 
Lebensläufe keinen Anfang haben kann, sondern ins Unend- 
liche zurückreicht. Diese Anfanglosigkeit des Sansara ver- 
knüpfte sich nun mit der Theorie von der Weltschöpfung in 
der Weise, dafs die Schöpfung nicht als ein einmaliger, son- 
dern als ein in grofsen Perioden sich wiederholender Vorgang 
aufgefafst wird, wodurch dann die Anfanglosigkeit der Seelen- 
wanderung gewahrt bleibt. Schon in der ^Jvetä§vatara- und 
Maiträyaniya-Upanishad sahen wir (oben I, 2 S. 201 fg.) die 
Lehre von der periodisch wiederkehrenden Weltschöpfuug und 
Weltvernichtung auftauchen. In der epischen Zeit hat sich 
diese Vorstellung zu der Theorie der Kalpa's oder Welt- 
perioden fortgebildet, welcher wir Manu I, 52 — 57. 65 — 86 
und in nahem Anschlüsse daran Mahabh. XII, 232 S. 333 fg. 
sowie an manchen andern Stellen des grofsen Epos begegnen. 
Die Grundzüge der Lehre sind nach den beiden genannten 
Stellen folgende. 
Wie die Griechen ihr goldenes, silbernes, ehernes und 
eisernes Zeitalter haben, so unterscheiden in bemerkenswerter 
Analogie die Inder innerhalb des Kalpa, der zwischen Welt- 
schöpfung und Weltvergang liegenden Periode, vier Yiu/a 
genannte Weltalter, Kritam, Tretä, Bväpara und Kali mit 
zunehmendem Verfall der physischen und moralischen Kraft 
des Menschen. Vgl. Manu I, 81 fg. (fast wörtlich überein- 
stimmend mit Mahabh. XII, 232,23 fg. S. 334 fg.): „In dem 
Weltalter Kritam ist die Gerechtia-keit vierfüfsio; und ebenso 
die Wahrheit; in diesem Zeitalter gibt es keine Bereicherung, 
die den Menschen durch Ungerechtigkeit erwüchse. In den 
folgenden Weltaltern wird die Gerechtio-keit infolo-e der Be- 
reicherung je um einen Fufs verringert, und die Gerechtigkeit 
entweicht durch Diebstahl, Unwahrheit und Trug je um einen 
Fufs. Im Kritam sind die Menschen ohne Krankheiten, bringen 
alle ihre Pläne zum Gelingen und leben vierhundert Jahre, 
in der Tretä und den folgenden Weltaltern nimmt ihre Lebens- 
dauer je um ein Viertel ab ... Askese gilt für die höchste 
f). Wi'ltperioden uiul Weltveriiichtiing. 47 
Aufgabe im WeltixUcr Kritam, Erkenntnis in der Trcta, Opfer 
im Dviipara und nur das Geben im Woltalter Kali." Auch 
die Dauer der Zeitalter ist an beiden Stellen die gleiche. Sie 
ist für Kritam 4000, für Treta 3000, für Dväpara 2000, für 
Kali 1000 Jahre. Jedes Zeitalter hat seine Morgendämmerung 
und Abenddämmerung, deren Jede ein Zehntel der Dauer des 
Zeitalters beträgt, so dafs in Summa 4800 h o600 + 2400 -\- 1200 
= 12000 Jahre herauskommen. (Zweifelhaft bleibt, ob dabei 
Menschenjahre zu oGO Tagen, oder, nach Ilarivanga 515, 
Initterjahre zu 1)60x360 Tagen zu verstehen sind.) Diese vier 
Menschen -Yuga's machen zusammen ein Götter -Yugam aus, 
und tausend solcher Götter -Yuga's bilden einen Brahmantag, 
von der Schöpfung bis zur Vernichtung reichend, auf welchen 
eine ebenso lange Brahmannacht von der Vernichtung bis 
zur abermahgen Schöpfung folgt. Hiernach würde ein Kalpa, 
d. h. ein Brahmantag zwölf Millionen Jahre dauern. An seinem 
Ende werden alle V^esen in Brahman resorbiert, um bei der 
Neuschöpfung wieder aus ihm hervorzugehen ; in diesem Sinne 
sagt Krishna in der Bhagavadgitä VI, 33,7 S. 70 : „Alle Wesen, 
o Sohn der Kunti, gehen zurück in meine Natur (pralqiti), 
wenn ein Kalpa zu Ende geht, und wiederum bin ich es, der 
sie am Anfang des nächsten Kalpa erschafft." 
Über die jedesmalige Weltvernichtung bietet der Moksha- 
dharma zwei phantastisch ausgemalte Berichte, XIl, 234,1 — 19 
S. 340 fg. und XII, 312,1—17 S. 646 fg. Das Wesentliche 
derselben findet sich kurz zusammengefafst an einer dritten 
Stelle, XII, 339,29—31 S. 773: „Die Erde, dieser Stand- 
ort der Lebewelt, zergeht im Wasser, das Wasser im Feuer, 
das Feuer im Winde, der Wind zergeht im Äther, der Äther 
im [kosmischen] Manas, das Manas als höchstes Element 
zergeht im Unentfalteten, das Unentfaltete zergeht im taten- 
losen Purusha, über ihm gibt es keinen höhern, über dem 
ewigen Purusha." 
fi. Die Prakriti und ihre drei Guna's. 
Alles in der Natur, alles Psychische und alles Physische 
ist nach Anschauung des Sänkhyasystems das Produkt dreier 
Faktoren, welche daher Gnna, Faktor (r/fnja von gnvayati 
48 ill- Kosmologie iiml Psj^cliologie. 
multiplizieren, nicht umgekehrt) heifsen. Ihre Namen sind: 
Satti-ani, Güte, Bajus, Leidenschaft, Tamas, Finsternis. "Während 
alles Entfaltete das Produkt dieser Faktoren ist, so bildet 
die Summe derselben das Unentfaltete, d. h. die Prakriti. 
Sie ist nur der „Gleichgewichtszustand" (sämijävastliä) der 
drei Guna's, welche, aus dem Gleichgewichte gebracht, durch 
Verschlingung mit einander die Dinge hervorbringen. Somit 
sind die drei Guna's die Prakriti selbst (vgl. z. B. XIV, 39,24 
S. 957), und es ist nur ein unvorsichtiger Ausdruck, wenn 
an Stelle dieser Identität die Kausalität tritt und gesagt wird, 
die Prakriti bringe die Guna's hervor wie die Spinne den 
Faden, XII, 194,49 S. 185 und XII, 249,2 S. .'^,90. Vgl. VI, 
37,19 S. 88 u. ö. 
Wir haben oben I, 2 S. 226 fg. den Ursprung der Guna- 
lehre auf Chand. Up. 6,4 zurückgeführt, und der dabei als 
Mittelglied dienende Vers von der Ziege und ihren drei Jungen 
^vet. Up. 4,5 läfst wohl kaum einen Zweifel darüber auf- 
kommen, dafs es die Chänd. Up. 6,4 genannten drei Grund- 
Stoffe Tejas, AjMS und Ännam sind, welche sich im Säfikhyam 
zu den drei Grund kr äften im Menschen wie in der Natur 
fortentwickelt haben. 
Die Namen der drei Guna's, w^elche unseres Wissens zuerst 
Maitr. Up. 4,3 und 5,2, sowie bei Manu und im Mahabhäratam 
vorkommen, weisen darauf hin, dafs die Guna's ursprünglich 
als psychische Phänomene gefafst und erst sekundär auf die 
diese hervorrufenden Naturverhältnisse übertragen worden 
sind. Mojas (Dunst, Staub, Leidenschaft) bedeutet ursprünglich 
das von Leidenschaft erregte Innere des ]\Iensclien. Im Gegen- 
satze dazu ist Sattvam (Wesenheit, Güte) der intellektuelle, 
von Leidenschaft freie und daher schlechthin gute Teil der 
Innennatur, während Tamas (Finsternis, Dumpfheit) nach der 
andern Seite hin die noch durch keine Leidenschaft erregte, 
in träger Stagnation verharrende Seite unseres Wesens be- 
deutet, welche vermöge der ihr eigenen Trübe und Ver- 
blendung des Bewufstseins zum zügellosen Sinnengenusse fort- 
reifsen kann. So sind Sattvam, Eajas und Tamas ursprünglich 
Bestimmungen der Buddhi, d. h. des Bewufstseins; XII, 194, 
22 — 23 S. 182 fg. : „Die Buddhi, wenn sie im Menschen wohnt, 
(■>. l)i(' l'nikriti und iliio drei (iuna's. 49 
beliiuU't sich in drei Zustäiulcn; manchmal empfäno;t sie Lust 
[durch das !Sattvamj, manchmal wird sie in Leid versetzt 
|ihn'cli das Kajas], manchmal beihidet sie sich so, dafs sie 
weder von Lust, noch von Unlust berührt wird [vermöge des 
Tamasj." Vgl. Manu XII, 26: „Das Sattvam ist Wissen, das 
Tamas Nichtwissen, das Rajas ist Liebe und Ilafs; so ist die 
Xaturbeschaffenheit dieser drei, welche alldurchdringend in 
allen Wesen ihren Sitz hat." 
Weiter nun aber und in sekundärem Sinne werden diese 
drei subjektiven Gemütszustände übertragen auf alle sie ver- 
anlassenden Dinge und Verhältnisse der Aui'senwelt, und in 
diesem Sinne ist alles, w^as eine rein intiellektuelle Freude 
hervorruft, Sattvam, alles, was das Gefühl der Unlust er- 
weckt und somit zum Handeln treibt, ist Rajas, und alles, 
w as weder Lust noch l'nlust erregt, und daher den Menschen 
veranlafst, in träger Gleichgültigkeit zu verharren, ist 
Tamas; XII, 194,27 fg. S. 183: „Das Sattvam ist Lust, das 
Rajas ist Leid, das Tamas ist Dumpfheit, so sind diese drei; 
alle in der Welt herrschenden Zustände bestehen aus diesen 
dreien im Verein. Sattvam, Rajas und Tamas sind bei den 
Lebenden allezeit zusammenhängend, und dementsprechend ist 
in den Wesen eine dreifache Empfindung [von Lust, Leid und 
Gleichgültigkeit] vorhanden . . . Wenn nun etwas als an- 
genehm im Körper oder im Geiste sich kundgibt, so mufs man 
(lies daraus erklären, dafs die Empfindung für das Sattvam 
sich geltend macht. Wenn hingegen etwas als unangenehm 
uns berührt, indem es Unlust erregt, so soll man denken, das 
Kajas macht sich geltend, und es nicht beachten oder sich 
darum kümmern. Und endlich, wenn etwas als Dumpfheit 
undeuthch in das Bewufstsein tritt, ohne recht erschlossen 
oder erkannt werden zu können, das soll man als Tamas 
auffassen." Ähnlich (entwickelt die Bhagavadgitä VI, 38,5 fg. 
S. 90, ohne deutliche Scheidung des subjektiven und objek- 
tiven Momentes, wie das Sattvam erhellend und leidlos sei, 
•las Rajas die Leidenschaft errege und das Tamas betäubend 
wirke. In gleicher Weise laufen die subjektiven Zustände 
und die sie veranlassenden objektiven Verhältnisse durch 
einander an den zahlreichen Stellen, welche die Wirkungen 
Beussf.n, Geschiclite der Philosophie. I, iii. -4 
50 ^^1- Kosmologie und Psychologie. 
von Sattvam. Rajas und Tamas im einzelnen schildern; die 
ausführlichsten dürften XII, 313,17—28, übersetzt S. 649 fg. 
sowie XIV, 36 — 38 Ö. 949 fg. sein : andere linden sich Maitr. 
Up. 3,5 S. 324 unserer Übersetzung. Manu XII, 31 — 33, 
Mahäbh. XII, 212.22—23 S. 253. XIT, 248,20—25 S. 387. 
Als eine kürzere Probe solcher Aufzählungen mag hier noch 
XII, 194,34—36 S. 183 fg. stehen: „Freude, Befriedigung, 
Wonne und Freiheit von Sorgen, wo diese auftreten, da sagt 
man. dafs die Ouahtäten des Sattvam sich so oder so be- 
tätigen. Unbefriedigung, Oual, Kummer, Begierde und Un- 
geduld, diese, mag man ihre Gründe kennen oder nicht, 
Averden angesehen als Merkmale des Rajas. Als Dünkel, Ver- 
blendung, Unbesonnenheit, Schlaf und Trägheit, als eines oder 
das andere von diesen, machen sich die verschiedenen Eigen- 
schaften des Tamas geltend." 
Über das Zusammenwirken der drei Guna's gibt die 
Anugitä XIV, 39 S. 955 fg. einigen Aufschlufs. Danach 
stützen sie sich alle gegenseitig und richten sich nach ein- 
ander (Vers 2), reichen über einander hinaus und überbieten 
sich (Vers 5). Alle di'ei Gunas sind in allem vorhanden: 
„Soweit das Sattvam sich erstreckt, reicht auch das Rajas, 
soweit das Tamas und das Sattvam sich erstrecken, soweit 
wird auch das Rajas anerkannt" (Vers 3); als Beispiel wird 
(Vers 13 fg.) die Sonne angefülu't , welche vermöge ihres 
Sattvam erhellt, vermöge ihres Rajas erhitzt und vermöge 
ihres Tamas den Bösewicht in Bestürzung versetzt. Durch- 
führbar ist diese Scheidung freilich nicht, denn es sind nicht 
zwei Elemente in der Sonne, sondern ein und dasselbe Ele- 
ment des Lichts, welches den Guten erfreut und den Bösen 
schreckt; ebenso ist es ein und derselbe Spielgewinn, welcher 
vermöge der gleichen Eigenschaften den Gewinnenden mit 
Lust (Sattvam) und den Verlierenden mit Unlust (Rajas) 
erfüllt. 
Da es die Prakiiti ist, welche den Purusha bindet und 
von welcher er durch die Erlösung befreit wird, so wird 
vielfach diese Bindung und Erlösung auf die Guna's zurück- 
geführt, wobei die Bedeutung von fiuna = Strick spielend 
verwendet wird. So schildert Bhagavadgita XIV (VI, 38,5 fg. 
(j. Die Prakriti luul ihre drei Guiia's. 51 
S. 90 ig.), wie das Sattvani durch die Borülirung mit der Lust, 
das Kajas durch die Berührung; mit der Begierde und das 
Tamas durch Unhesonnenheit. Schhitl'lieit und Schhif den 
Puruslm in der Prakriti gehunden hiüt. Die Anugita be- 
schreil)t XIV, .'51 S. 935 fg., wie die drei Guna's die wahren 
Feinde des Menschen sind, welclie mit allen Waft'en hcdvämpl't 
werden müssen, und XII, 249 S. o90 fordert dazu auf, dii' 
(Juna's durch Erkenntnis abzuschütteln, wobei es als eine 
otl'ene Frage behandelt \\ird, ob hierdurch die (nma's ver- 
nichtet oder blofs im Menschen latent w^erden. Dieselbe Alter- 
native findet sich XII, 285,41 S. 538. 
Dementsprechend werden die moralischen Qualitäten des 
Menschen vielfach aus dem Überwiegen des einen oder andern 
Guna erklärt ; so unterscheidet XII, 348,68 fg. S. 847 fg. drei 
Klassen von Menschen, die Sättvil'as, denen die Erlösung 
gewifs ist, die Vyiunirras, bei denen die rajas- und tamashafte 
Xatur dem Sattvam beigemischt ist, und die V((ll-ariJi-as, die 
Anhänger des Umgewandelten, in welchem von der Buddhi 
bis zu den Elementen herab, je ferner dem Ursprung, um so 
mehr ein Überwiegen des Tamas angenommen wird. ^Venn 
es freilich Vers 79 von diesen Vaikärika's heifst, dafs sie das 
Sattvam ganz entbehren, so widerspricht das der oben er- 
wähnten Annahme, dafs alle Guna's in allem vorhanden sind. 
Allgemein ist die Anschauung, dafs in der Götterwelt das 
Sattvam, in der Menschenwelt das Eajas, in der Tier- und 
Pflanzenwelt das Tamas überwiegt, und in grofsem Stile 
schildert die Anugita XIV, 3(3—38 S. 948—954, M^ie die Auf- 
Avärtsströmenden (iirdhvasrotas) vermöge des Sattvam der 
Götterwelt zustreben, die Herwärtsströmenden (arralvsrotas) 
vermöge des Kajas unserm Erdendasein anheimfallen, und 
die Abwärtsströmenden (avül'srotas), weil das Tamas in 
ihnen überwiegt, einem Dasein in Tierleibern und Pflanzen- 
leibern sowie in der Hölle entgegengehen. 
7. Die Prakriti und ihre Entfaltungen. 
Auf keinem Punkte der epischen Philosophie tritt der 
unsichere, gärende, nach neuen Formen suchende und immer 
4* 
52 III- Kosmologie und Psychologie. 
wieder in das Alte zurückfallende Charakter derselben so 
deutlich zutage, wie bei der Lehre von den aus der Prakritl 
sich entfaltenden psychischen Organen und kosmischen Ele- 
menten. Es bedurfte offenbar längerer Zeit, um von dem 
Weltschöpfer, welcher aus seinem Leibe die Körper, aus seinen 
Organen die Einzelorgane der Wesen schaft't, den Übergang 
zu gewinnen zu der Prakriti des spätem Sänkhyam, welche, 
selbst unbewufst, aus ihrem Schofse die gleichfalls unbewufsten 
vmd vom Purusha mit Geist zu durchleuchtenden psychischen 
Organe schafft, zunächst die Buddhi (= Mahän), aus dieser 
den AlmnMra, aus diesem einerseits das Manas und die 
zehn Indriya's, andererseits die fünf Tamnätra''^, aus welchen 
letztern die fünf groben Elemente hervorgehen. Als Beispiel 
für dieses unsichere Tasten und Suchen kann Anugitä 35 
(XIV, 35 S. 942 fg.) dienen, wo Vers 16 der in allen Wesen 
weilende Atman als die unwiderlegliche Realität bezeichnet 
wird, weiter aber Buddhi, Ahahkära, Lidriya's, die grofsen 
Elemente und ihre spezifischen Qualitäten Vers 20 aus dem 
Avyaktam, Vers 22 aus dem Brahman, Vers 34 aus dem Satyam 
abgeleitet werden und endlich am Schlüsse Vers 47 — 48 die 
fünfundzwanzig Prinzipien der Sänkhyalehre mit deutlicher 
Gegenüberstellung des Purusha und der übrigen vierund- 
zwanzig aufgezählt werden. 
Manche Stellen lassen noch ganz in der Weise der alten 
Upanishad's, wohl mit besonderer Bezugnahme auf Taitt. 
Up. 2,1 die fünf Elemente unmittelbar aus dem Atman her- 
vorgehen, XII, 247, n S. 385: „Fünf grofse Elemente also 
gibt es, und aus ihnen stellte der Wesensschöpfer in allen 
Wesen eine Mannigfaltigkeit her, je nachdem er diesen oder 
Jenen im Auge hatte." In ähnlicher Weise schildert XII, 183 
S. 148 fg., wie aus dem Munasa, dem als Urwesen wir schon 
oben begegneten, durch Vermittlung des Äthers (wie es nach 
Vers 9 scheint) das Wasser, aus diesem der Wind, aus Wind 
und Feuer die Sonne und aus Verdichtung des zurückbleiben- 
den Wassers die Erde entsteht. Noch mehr an Taitt. Up. 2,1 
schliefst sich die Stelle XII, 202,1 S. 218 an: „Aus dem Un- 
vergänghchen (vgl. Brih. Up. 3,8,9) ist der Äther entstanden, 
aus diesem der Wind, aus diesem das Feuer, aus diesem das 
7. Dil' l'rakriti und ihre Entfultuiigeii. i);^ 
Wasser, uiis dem ^^'assol■ die Erde, aul" der Erde entsteht die 
AVeit der Lebenden." Auch nach XII, 275,6 fg. S. 479 sind 
die fünf Elemente nebst Kala, der Zeit, als sechstem „ewige, 
unwandelbare, beständige Anhäufungen der grofsen Energie 
[Ujds, d. h. des Atman)'*. 
Allmählich aber löst sich der Ätman als Purusha von 
dem Objektiven los und wird darüber erhoben; so wenn es 
in Anlehnung au Kath. Ip. ;»,10 — 13 ( Anugitä 50,04 fg. 
S. 9901 heilst: „Der Äther ist das oberste Element, über ihm 
steht der Ahailkära, über dem Ahahkära die Buddhi, über der 
Buddlii der fMahänj Ätraa, über diesem das Unent faltete, 
ül)er dem Inentfalteten der Purusha." Öfter wird der Puru- 
sha als Kslairajna zu den objektiven Wesenheiten als achter 
hinzuaddiert. Nach XII, 248,17 S. 387 gibt es im Menschen 
die fünf Sinne, das Manas, die Buddhi und den Kshetrajna 
als achten. Dieselbe Aufzählung linden wir VI, 31,4 S. 63; 
Xil, 285,15 S. 535; XII, 194,12 S. 181. Für die Beliebtheit 
■der Achtzahl bei solchen Aufzählungen spricht auch XII, 275,9 
S. 479, wo die Elemente mit Zeit, Entstehen und Vergehen 
zu achten zusammengezählt werden. Ohne den Kshetrajna 
werden XII, 275,18 S. 480 Sinne, Cittam, Manas und Buddhi 
als acht gezählt, zu welchen der Kshetrajna Vers 16 als 
neunter tritt. A\'enig konsequent und an Gedankenlosigkeit 
streifend ist es, wenn XII, 205,24 S. 228 als der Komplex, 
welcher ein Wesen (hhuiam) genannt wird, der Purusha, die 
Prakriti, die Buddhi, die Sinnesobjekte und die Sinnesorgane, 
der Ahafikära und das hier noch neben ihm erscheinende 
Ichbewufstsein (ahhimäna), also im ganzen fünfzehn aufgezählt 
werden, dann aber dieser ganze Komplex einschliefslich des 
Purusha aus der Prakriti abgeleitet wird. Zu einer Aufzäh- 
lung von zwanzig im Körper vorhandenen Bestandteilen kommt 
es XII, 275. wo Vers 28 fg. die fünf Erkenntnisorgane, das 
Manas. die fünf Tatorgane, nebst Balam, Cittam und Buddhi 
mit Zurechnung der drei Guna's als siebzehn summiert werden, 
zu welchen als achtzehntes die Seele (dchin), als neunzehntes 
der Kshetrajna und endlich als zwanzigstes Element seltsamer- 
weise die Körperwärme gerechnet wird. Näher kommt der 
Evolutionslehre des spätem Sankhyam die Aufzählung XII, 
54 Ifl- Kosmologie und Psychologie. 
.•U3,l— 13 S. 648 fg., wo als Entfaltungen der Prakriti die 
fünf Tatorgane, die fünf Erkenntnisorgane, nebst Manas, Aliail- 
kära und Buddhi aufgezählt werden. Bei diesen und andern 
Aufzählungen ähnlicher Art, wie sie noch an vielen Stellen 
vorkommen, handelt es sich meist nur um ein Aneinander- 
reihen der physischen und psychischen Elemente und allen- 
falls um eine Rangordnung unter ihnen; seltener sind im 
Mahähharatam die Stellen, wo ein systematisches, stufenweises 
Hervorgehen dieser Entfaltungen aus der Prakriti in der Weise 
des spätem Sänkhyam gelehrt wird. Eine solche finden wir 
in der Anugitä XIV, 40 — 42 S. 957 fg., aus der wir das 
Wesentliche herausheben; 40,1: „Aus dem Unentfalteten 
(avyaldcun) ist zuerst hervorgegangen der Mahän Atmä (die 
grofse Seele, die Weltseele), der grofse Weisheit Besitzende; 
er wird als der Anfang aller Bestimmungen (gmia) und als 
die erste Emanation bezeichnet"; 41,1: ,, Jener zuerst ent- 
standene Mahän wird weiterhin, wenn er sich zu dem Be- 
wufstsein, ein Ich zu sein, fortentwickelt, Ahankära genannt, 
und heifst die zweite Emanation"; 42,1: „Aus dem Ahan- 
kära sind erzeugt worden die fünf grofsen Elemente, die Erde, 
der Wind, der Äther, die Wasser und das Licht als fünftes." 
Nachdem sodann Vers 6 Ton, Gefühl, Gestalt, Geschmack und 
Geruch und Vers 8 die fünf Präna's, beide Male, wie es scheint, 
als Produkte der Elemente genannt worden sind, geht Vers 
12 fg. zu den elf Sinnesorganen über, „welche aus dem Ahan- 
kära erzeugt sind", und die dann weiter im einzelnen be- 
sprochen werden. Hier haben wir im ganzen und grofsen die 
Emanationslehre in der Form vor uns, wie sie für das spätere 
Sänkhyam mafsgebend geworden ist. Hand in Hand mit dieser 
Klärung der Verhältnisse geht die schon oben besprochene, 
immer deutlicher hervortretende Scheidung des Kshetrajna 
(Purusha) von der Prakriti oder von dem Sattvam als ihrem 
höchsten Vertreter vor sich. XII, 194,44 fg. S. 184: „Das 
Sattvam und der Kshetrajna haben keine gemeinschaftliche 
Basis, der letztere vermischt sich niemals mit Sattvam, Manas 
und allen Qualitäten." XII, 285,o3— 35 S. 537 : „Dieses sollst 
du begreifen als den Unterschied zwischen Sattvam und Kshe- 
trajna, den schwer unterscheidbaren: das eine schafli't die 
7. Dio l'iakriti und üul' Eiitfaltungon. 55 
Eigousclial'toii, das andere schafl't sie iiiclit. Von Natur sind 
beide verschieden und doch jederzeit verbunden, ähnhch wie 
der Fiscli von dorn Wasser verschieden und doch an (hissell)e 
<j;ebun(kMi ist. Die Guna's kennen den Atman nicht, er aber 
kennt die Guna's von alk^i Seiten, er ist aber nur ein Bc;- 
schauer der (nina's, ^^ ährend man ihn für iliren Schöpfer häk." 
Nacli dieser allgemeinen Übersicht haben wir nun <lie 
psychischen Organe, Buddhi, Aliankara, Manas und Indriya's, 
sowie die Elemente und ihre spezifischen Oualitäten im ein- 
zelnen ins Auge zu fassen. 
8. Die Buddhi (der Mahän itmä). 
Die erste Evolution aus dem Unentfalteten ist nach der 
schon beigebrachten Stelle XIV, 40,1 S. 957 der Mahän Ätmä, 
die grofse Seele, die Weltseele, mit welchem Ausdrucke, wie 
die folgenden Verse besagen, Buddhi, das Bewufstsein, syno- 
nym ist. Unterschieden wurden beide nach Kath. Up. 3,10 
und im Anschlufs an diese Stelle gelegentlich im Mahäbhära- 
tam XII, 204,11 S. 225 wie auch XIV, 50,55 S. 991; in der 
Regel aber sind beide vollkommen gleichbedeutend und weisen 
(kirauf hin, dafs wir, wie ja auch der Name Mahän, der 
<Trolse, zu verstehen gibt, unter ihm, unter der Buddhi, das 
kosmische Bewufstsein, das BewuJ'stsein als Träger der 
Welt zu verstehen haben ; XIV, 40,6 S. 958 : „Durch ihn (den 
Mahän Atmä) sind mit Bewufstsein (huddhi) begabt die Wel- 
ten"; XII, 194,18 S. 182: „Somit ist diese ganze Welt des Un- 
beweglichen und Beweglichen aus ihr [der BuddhiJ bestehend; 
[mit ihr] vergeht sie und entsteht, somit erweist sie sich als so 
(durch die Buddhi] bedingt." Diese auch noch Manu I, 15, 
oben S. 41 hervortretende kosmische Bedeutung, welche die 
Ikiddhi als Erbteil des vedischen Hiranyagarbha oder persön- 
lichen Brahmän besitzt, tritt schon im Mahäbhäratam sehr 
zurück gegen ihre Funktion als psychisches Organ im 
Innern des Menschen. Hier erfüllt sie den ganzen Körper 
vom Scheitel bis zur Sohle (XII, 248,15 S. 38(5 und XU, 285,14 
S. 535); sie ist es, welche den drei Guna's entsprechend im 
Körper die Lust, den Schmerz und die Gleichgültigkeit gegen 
56 III. Kosmologie und Psychologie. 
beides empfindet (XII, 194,22 S. 182 und XII, 285,22 S. 536); 
sie führt das Manas und die Indriya's wie auch die Eigen- 
schaften der Elemente an (XII, 194,17 S. 182; XII, 248,10 
S. 386; XII, 285,18 S. 536); sie ist es, welche mit dem Auge 
sieht, mit dem Ohre hört usw. (XII, 285,19 S. 536): sie streckt 
die Sinnesorgane aus sich heraus, wie die Schildkröte ihre 
Glieder (XII, 248,14 S. 386); sie bedient sich der Sinnes- 
organe wie einer Lampe, welche nicht selbst sieht, sondern 
nur das Sehen vermittelt (XII, 285,38 S. 538); aber sie tritt 
erst in Tätigkeit, nachdem das Manas den Stoff der Sinne 
bearbeitet hat (XII, 205,9 S. 227) : „Zuerst nimmt ein Mensch 
mittels der Sinne die einzelnen Objekte wahr (cdw/atc), so- 
dann erwägt er mittels des Manas und dann entscheidet er 
mittels der Buddhi" (XII, 275,17 S. 480), oder, wie es an drei 
Stellen in wörtlicher Übereinstimmung heilst: „Das Auge dient 
nur zum Sehen, das Manas erhebt den Zweifel, die Buddhi 
entscheidet ihn, der Kshetrajna ist der Zuschauer (sakshiny' 
(XII, 248,18 S. 387; XII, 285,17 S. 536; XII, 194,13 S. 182). 
Zwar heilst es XII, 248,13 S. 386 von der Buddhi, dafs sie 
nicht, wie die Elemente „zu Eigenschaften ausschlage", doch 
hindert dies nicht, ihr XII, 255,10 S. 403 als fünf Qualitäten 
„Vergessenmachen des Erwihischten und Unerwünschten, Ent- 
scheidung, Vertiefung, Zweifel und Zustimmung" beizulegen; 
zwei Verse weiter ist sogar die Rede von sechzig Qualitäten 
der Buddhi, welche jedoch nicht näher bezeichnet werden. 
9. Der Aliauksira. 
„Am Anfang war diese Welt allein der Atman, in Ge- 
stalt eines Menschen. Der blickte um sich: da sah er nichts 
anderes als sich selbst. Da rief er zu Anfang aus: «Das bin 
ich!» Daraus entstand der Name Ich." (Brih. Up. 1,4,1.) 
Diese Upanishadstelle oder doch der ihr zugrunde liegende 
Gedankt dürfte der erste Keim für den Begriff des Ahankära 
gewesen sein; ursprünglich bedeutet dieses Wort nur soviel 
wie ,,der Laut Ich" (in dieser Bedeutung noch Brahmasütra 
1,1,28 p. 157,5), dann „der Begriff Ich", „das Ichbewufstsein", 
zunäclist das Ichbewufstsein des Weltschöpfers. Diese kos- 
'J. Der Ahankära. 57 
mische Bedeutung iiat das Wort auch Chän<l. l'p. 7/25,1 
(Übersetzung S. 185) und so auch noch Manu 1,14 (oben 
S. 41) und an viekMi Stellen des Mahabhäratam. Xil, 302,21 
und 22 S. 611: ,,In die Umwandlung übergehend, schaut er 
(Gott Brahmän) sich selbst durch sich selbst als den Ahan- 
kära, den ichbeAvulsten Schöpferherrn. Aus ihm, dem Unent- 
falteten, ist das Entfaltete hervorgegangen: als Ouelle des 
\\'issens bezeichnen sie ihn und als den Mahan, als Quelle 
des Nichtwissens heifst er Ahankära." Nach dieser Stelle 
scheint der Mahau die bewufste, intellektuelle, der Ahankära 
die un bewufste, dem Willen verwandte Seite des Weltschöpfers 
zu vertreten. Daher wird der Ahankära oft geradezu mit dem 
Weltschöpfer identiliziert; er ist Aniruddha (XII, 339,41 
S. 774), istPrajäpati (XIV, 41,2 S. 959), und das Wort Ahan- 
kära wird für synonym mit Brahmän erklärt (XII, 339,62 
S. 775 und XII, 347,21 S. 834). Dieser kosmische Ahankära 
ist es. welcher mittels des Manas die Welten schafl't (XIV, 
41,3 S. 959), vermöge des ihm innewohnenden Rajas die Welt 
belebt (XIV, 41,5 S. 959): er ist der Grund der ^^^elt (XII, 
212.19 S. 253), ist der Ursprung der Elemente (XII, 302,24 
S. 611: XTV. 40,9 S. 958; XIV, 41,2 S. 959; XII, 182,13 und 
14 S. 145j. Dieses bleibt er auch, indem er sich im weitern 
^'erlaufe zu einem psychischen Faktor fortentwickelt, welcher 
als solcher das willensartige Element in den Wesen bildet; 
er wh'd ,.die Seele von allen Wesen'" genannt (XII, 182,16 
S. 146): er betört den Menschen, so dafs dieser wähnt: „Ich 
bin der Handelnde-' (VI, 27,27 S. 48); und eine sehr merk- 
würdige Stelle schildert, wie die Körperorgane aus dem Ahan- 
kära durch den vom Geschlechtstrieb erfüllten Willen ent- 
stehen, XII, 213,15 — 16 S. 256: „Jedes Organ, welches aus 
dorn Werke als Samen zum Aufkeimen gebracht wird, das 
wird aus dem Ahankära durch den vom Geschlechtstrieb (räfja) 
erfüllten Willen geboren. Aus dem Verlangen nach dem Ton 
entsteht das Ohr bei der sich gestaltenden Seele und aus dem 
\ erlangen nach Gestalten das Auge, aus dem A\'unsche zu 
riechen das Geruchsorgan ; und ebenso verhält sich zum Be- 
rühren die Haut." Dieser Stellung des Ahankära im psy- 
chischen Organismus entspricht es, wenn ihm z. B. Manu 1,14 
58 111- Kosmologie untl Psychologie. 
und weiterhin allgemein als Funktion der cibJnnuma, das Rich- 
ten seiner Absieht auf etwas, oder kurz gesagt, die Absicht 
zugesprochen wird, und nur ausnahmsweise erscheint in der 
Aufzählung XII, 205,24 S. 228 der Abhimana noch neben dem 
Ahankara, mit welchem er im übrigen als die sein Wesen 
ausmachende Funktion identisch ist. 
10. Das Manas und die Indriya's. 
In der auso'ebildeten ISankhva- und Vedäntalehre versteht 
man unter den Indriya's die fünf Erkenntnisorgane (jnäna- 
indrit/äni, Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack und Geruch) 
und die fünf Tatorgane (Jcarma-indr/ijäiil. Hände, Füfse, Rede, 
Zeugungs- und Entleerungsorgan), zu welchen als elftes In- 
driyam das beide Arten der Organe beherrschende Manas tritt: 
es entspricht, sofern es die Eindrücke der Erkenntnissinne zu 
Vorstellungen verarbeitet, unserm „Verstand", und sofern 
es die aus diesen Vorstellungen resultierenden Entschlüsse 
durch die Tatorgane zm* Ausführung bringt, dem, was wir den 
„bewufsten Willen" nennen. 
Neben dieser psychischen steht schon in alter Zeit die 
kosmische Bedeutung des Manas als eines Organs des Welt- 
schöpfers, sofern es dessen weltschaflenden Willen repräsen- 
tiert. So schon im Schöpfungshymnus, Rigveda X, 129,4, 
mag man nun die Stelle so auffassen, dafs das Manas aas 
dem Käma oder dafs der Käma aus dem Manas entspringt; 
ebenso im Purushaliede Rigveda X, 90,13, wo aus dem Manas 
des Weltschöpfers der Mond entsteht. Weitere Belege für 
den kosmischen Charakter des Manas haben wir oben I, 1 
S. 202 fg. und I, 2 S. 244 fg. kennen gelernt. Diese kosmische 
Bedeutung besteht teilweise auch noch in der epischen Zeit 
fort. ^lanu I, 14: „Auch rifs er (der Weltschöpfer) aus seinem 
Selbste heraus das seinem Wesen nach seiende und nicht- 
seiende [d. h. wohl: auf das Seiende, Gegenwärtige und das 
Nochnicht- oder Nichtmehrseiende, Zukünftige und Ver- 
gangene sowie auf blofs Geträumtes, vgl. Mahabh. XII, 216,14 
S. 265, sich erstreckende] Manas und aus dem Manas den 
Ahankara, den ichbewufsten, herrischen; ferner den grofsen 
lU. Das Maiius iiml die Irnlriya's. 59 
|M;iliaii| Atinan." W't'nii die KoinniontatonMi liirr alknloi 
Künsteleien aufwenden, um die später übliclic Genealogie 
Mahan — Ahankara — Manas herauszubringen, so wollen wir 
liebrr aus der Stelle den Schlufs ziehen, dal's diese (Genealogie 
noch nieht feststand, dafs somit die Stelle einen relativ alter- 
(üniliclKMi Charakter an sich trägt. Dasselbe gilt von ], 74 — 75, 
\\(» Hrahnian, nachdem beim Weltende sein Manas welk ge- 
wdrdiMi war (Vers ö))), l)eim Wiedererwachen zu einer neuen 
Weltschöpfung das Manas und aus ihm, entgegen der spä- 
tem \'orstellung, die Elemente schafft. Dieselbe Vorstellung- 
linden wir auch im ^lahäbharatam, ^venn XIV, 41,8 S. 959 
\ om Ahankara gesagt wird, dafs er „als Ursprung des Manas 
der Schöpfer der Welten" sei (vgl. auch XIl, 211,6 S. 249), 
oder wenn unter den vier Vyüha's des Vishnu, oben S, oG, 
der dritte, Pradyunma mit dem Manas und erst der vierte, 
Aniruddha mit dem Ahankara identiliziert wird. 
Neben dieser kosmischen Bedeutung des Manas und 
immermehr gegen dieselbe hervortretend steht die psychische. 
In diesem Sinne ist das Manas das hinter den zehn Indriya's 
stehende und sie regierende Zentralorgan; XII, oll, 16— 18 
S. (146: .,Das Manas schaltet, indem es ganz und gar hinter 
den Indriya's versteckt bleibt. Und doch sind es nicht die 
Indriya's, welche das Sehen vollbringen, sondern das Manas 
vollbringt das Sehen. Das Auge sieht die Gestalten vermöge 
des Manas und nicht vermöge des Auges. Wenn das Manas 
getrübt ist, so sieht das Auge und sieht doch nicht, und 
ebenso steht es mit dem Sehen aller Sinnesorgane, so lehren 
die ^Veisen" (Brih. Up. 1,0,0). Näher ausgeführt wird dieses 
N'erhältnis in dem Rangstreite zwischen Manas und Indriya's 
XIW 22,13 fg. S. 912 fg., wo das Manas die von ihm ver- 
lassenen Sinnesorgane mit verödeten Behausungen, mit er- 
loschener Feuersglut vergleicht (Vers 16), während die Sinnes- 
organe dem Manas entgegenhalten, dafs es ohne ihre Hilfe 
^\<'der zum Wahrnehmen noch zum Geniefsen fähig sei. Im 
übrigen herrscht über die Funktionen des Manas noch ziem- 
liche Unsicherheit; so wird XII, 275,17 S. 4S0 die Wahr- 
nehmung den Sinnesorganen und das Erwägen dem Manas 
zugeschrieben; ebenso wird in drei gleichlautenden Stellen 
60 ni. Kosmologie und Psychologie. 
(XII, 194,1'''> S. 182; XII, 248,18 S. 387; XII, 285,17 S. 536) 
das Sehen dem Auge und das Erheben des Zweifels dem 
Manas beigelegt; während XII, 252,11 S. 398 als seine Auf- 
gabe das Zerlegen, Analysieren (vyälzaranam) bezeichnet wird. 
Häufig begegnen wir dem aus Käth. Up. 3,3 fg. bekannten 
Bilde von der Buddhi als AVagenlenker, den Indriya's als 
Rossen und dem Manas als Zügel, welches nicht immer mit 
Glück variiert wird, so wenn XIV, 51 S. 991 Vers 3 und 5 
das Manas der Wagenlenker, Vers 4 die Buddhi der Wagen- 
lenker und Vers 5 ebendieselbe der Zügel ist. XII, 255,9 
S. 403 werden dem Manas neun Qualitäten zuerkannt : „Festig- 
keit und Überlegen, Verdeutlichung, Ausbreitung, Vorstellung 
und Nachgiebigkeit, Güte und Nichtgüte sowie Schnelligkeit, 
das sind die neun Qualitäten des Manas." 
Wie die Bestimmung der Funktion des Manas im Epos 
noch eine schwankende ist, so herrscht auch über seine 
Stellung zu den Indriyas noch keine volle Sicherheit. Stellen 
wie XII, 313,1 — 11 S. 648 fg., wo nach den zehn Indriya's 
das Manas als elftes aufgezählt wird, weisen darauf hin, dafs 
dasselbe schon, wie in späterer Zeit, sowohl als Verstand die 
Erkenntnisorgane, wie auch als bewufster Wille die Tatorgane 
regiert; aber unter diesen beiden Beziehungen ist doch das 
Bewufstsein von dem Manas als Regierer der Erkenntnisorgane 
bei weitem stärker hervortretend; daher die oben S. 53 er- 
wähnte Zusammenfassung von Erkenntnissinnen, Manas, Ahan- 
kära und Buddhi zu einer Achtheit. Noch bestimmter wird 
das Manas als blofses Erkenntnisorgan bezeichnet XII, 275,17 
S. 480: ,, Zuerst nimmt ein Mensch mittels der Sinne die ein- 
zelnen Objekte wahr ( cetayate ) , sodann erwägt er mittels 
des Manas und dann entscheidet er mittels der Buddhi, 
denn über die durch die Sinne wahrgenommenen Dinge 
entscheidet der mit Buddhi Begabte. Das Cittani (hier: «die 
Wahrnehmung», vgl. das vorhergehende cetayate) mit dem 
Komplex der Sinnesorgane, das Manas und die Buddhi als 
achte, diese acht bezeichnen als die Erkenntnisorgane (jnäna- 
indriyäni) die, welche über die innere Seele nachdenken." 
Im folgenden Averden dann „Hände und Füfse, Entleerungs- 
imd Zeugungsorgane und als fünftes der Mund" als die fünf 
10. Das Manas und die Indriya's. 61 
Tatorgano ( larnia-iiKlr/i/uni ) aiifoezälilt und ihnen (Vers 22) 
als sechstes Or^an die Kraft (balain) überiieordnet ; ebenso 
gesellt sich XII, 219,20 S. 278 zu den fünf Erkenntnisorganen 
Manas als sechstes und zu den fünf Tatorganen die Kraft 
fhalant) als sechste, welche sich somit hier noch zu den Tat- 
organen verhält wie das Manas zu den Erkenntnisorganen, im 
weitern \'erlaufe aber ihre Funktion an das Manas abgegeben 
hat und nicht mehr genannt wird. 
(her die Funktion des Manas in Wachen, Schlaf und Traum 
äulsern sich die folgenden Stellen: „Bei dem Wachenden 
entsteht in dem durch Tätigkeit [der Sinnesorgane] in An- 
spruch genommenen Manas die Vorstellung" (XII, 216,7 
S. 2()4). ,,^^'cnn wegen Ermüdung der Sinnesorgane ein 
Ausruhen von ihrer Tätigkeit eintritt, dann fällt zufolge des 
Versagens der Sinnesorgane der Mensch in Schlaf. Wenn 
beim Kuben der Sinnesorgane das Manas nicht ruht, sondern 
sich mit den Objekten beschäftigt, so heifst das ein Traum- 
gesicht" (XII, 275,23—24 S. 480). „In dem Manas ist eine 
verborgene Pforte, und in ihm schlummert, in den Menschen- 
leib eingehend, alles Seiende, Nichtseiende und Unentfaltete 
als Traumgesicht" (XII, 216,14 S. 265, daher wohl auch das 
Manas bei Manu 1,14 und 1,74, oben S. 41 sad-asad-äimaha 
heilst). „Diese beiden Zustände aber [Wachen und Traum] 
haben einen wahrnehmbaren Zugang zu dem ewigen Ziele 
der Sehnsucht" (XII, 275,27 S. 481). Mit den letzten Worten 
wird nach Xilakantha's annehmbarer Erklärung auf den Tief- 
schlaf hingedeutet, in welchem (vgl. oben I, 2 S. 274 fg.) 
ein vorübergehender Eingang in Brahman stattfindet. 
Unermüdlich sind die Dichter des Epos, wo es sich darum 
handelt, die Erkenntnisorgane und Tatorgane aufzuzählen, und 
mit ihren Funktionen, Schutzgottheiten oder auch den ent- 
sprechenden Eigenschaften der fünf Elemente in Parallele zu 
stellen. Wir begnügen uns auf XII, 313 S. 648 fg. als eine 
llauptstelle hinzuweisen und das dort sich ergebende Schema 
zusammenzustellen : 
G2 
III. Kosmologie und Psycliologie. 
Organe: 
Funktionen: 
Scluitzgottbeiten: 
1. 
Füfse 
Gehen 
Vishnu 
2. 
Entleerung; 
jorgan 
Entleerung- 
Mitra 
3. 
Zeuo'uno'soi 
•gan 
Zeugung 
Prajapati 
4. 
Hände 
Handeln 
Indra 
5. 
Rede 
Reden 
Agni 
6. 
Auge 
Sehen 
Sürva 
r^ 
<. 
Ohr 
Ton 
Himmelsgegenden 
8. 
Zunge 
Schmecken 
Wasser 
9. 
Geruchsorg 
au 
Geruch 
Erde 
10. 
Haut 
Berührung 
Wind. 
In einer nicht sehr durchsichtigen Allegorie wird in der Anu- 
gitä der Prozefs der ^^^ahrnehmung• mit einer Opferhandlung 
verglichen, bei welcher die zehn Organe als Opferpriester 
funktionieren: ihre Aufzählung nebst den entsprechenden 
Funktionen und Schutzgottheiten ist bis auf einzelne Ab- 
weichungen dieselbe, wie die im obigen Schema mitgeteilte. 
(XIV, 21,2—5 S. 908; vgl XIV, 22,1—3 S. 911, wo die fünf 
Erkenntnissinne mit Manas und Buddhi in ähnlicher Weise 
als sieben Opferpriester behandelt werden.) 
Als Curiosum sei noch erwähnt, dafs den Pflanzen, welche 
ebenso wie Götter, Menschen und Tiere Verkörperungen wan- 
dernder Seelen sind, überkonsequenterweise auch die Funk- 
tionen der fünf Sinne beigelegt werden, XII, 184,11 — 15 
S. 151: „Vermöge der Wärme verwelkt das Blatt, die Rinde, 
die Frucht und die Blüte, sie verwelkt und fällt ab, folglich 
ist im Baume Gefühl (■'^parra) vorhanden. Durch den 
Lärm, welchen der Wind, das Feuer [beim Waldbrande] und 
der Donner machen, werden Früchte und Blüten zerstört ; der 
Lärm wird durch das Gehör wahrgenommen, folglich hören 
die Bäume. Die Schlingpflanze umwindet den Baum und 
kriecht nach allen Seiten ; ohne Gesicht aber kann man seinen 
W^eg nicht finden, folglich sehen die Pflanzen. Ferner, 
durch gute und schlechte Gerüche und durch mancherlei Aus- 
räucherung werden die Pflanzen gesund und blühend, folg- 
lich haben sie Geruchssinn. Da er mit seinen Wurzeln 
das ^^"asser trinkt, da er [durch unmäfsigen Genufs] krank 
10. Das Maiias und dit; liidriya's. (;;j 
wird und in der Krankheit durcli Arznei gelieilt wird, so 
niufs der Baum aucli Gesclimacksvermöo;en besitzen." 
11. Der feine Leib (Bhütätinan, Lin^am). 
Buddhi, Aliankära, ]\Ianas und indriya's nebst den fünl' 
Tanmatra's und den Feinteilen der ElemiMite bilden im spätem 
Sanklivam das T^ino-am, den feinen Leib, welcher die Seele 
«( Cr* 
\imhüllt und von Ewigkeit her auf ihren Wanderungen bis zur 
Erlösung begleitet. Diese Vorstellung entwickelt sich in der 
epischen Zeit an der Hand der Begrifle Blu'daiman und Linriam, 
welche, wie es scheint, identisch oder nahezu identisch sind, 
wie folgende Zusammenstellung ersehen läfst. 
Der Bhütatman weilt unsichtbar im Körper und enthält 
den Erkenntnisätman in sich (XII, 203,7 S. 222), er ist nur 
dem Yogin sichtbar und enthält das Manas in sich (XIV, 28,3 
S. 926, denn der dort sprechende Brahmane ist das Manas 
XIV, 34,12 S. 942), er wohnt im Herzen und schirrt das 
Manas, wie dieses die Sinnesorgane an (XII, 240,11 S. 360), 
er besteigt als Wagenfahrer den aus Buddlii, ]\Ianas und 
Indriya's bestehenden Wagen (XIV, 51,4 S. 991j, ist Schieds- 
richter zwischen Manas und Vac (XIV, 21,14 S. 909). Xach 
dem Tode schweift er wie eine grofse Wolke am Himmel und 
wird erst wiedergeboren, nachdem er einen Stützpunkt ge- 
funden hat (XII, 297,18 S. 578) ; alsdann kehrt der Bhütatman 
des Nichterlösten zu den Sinnendingen zurück (XII, 204,5 
S. 224). Dafs die Vorstellung noch nicht konsequent durch- 
gebildet ist, zeigt XII, 302,35 S. 612, wo der Bhütatman als 
hinfäUig wie alles Entfaltete bezeichnet wird, und XII, 240,21 
S. 361, wo er sogar mit dem Kshetrajna verwechselt wird. 
Xach XII, 253,7 S. 399 ist der Bhütatman „immer und un- 
aufhörlich behaftet mit sieben feinen Oualitäteu" ; welche diese 
sind, wird nicht gesagt: Xilakantha denkt an Mahän, Alian- 
kära und die fünf Tanmatra's, aber die Tanmäfras (oder Rein- 
stoffe, welche im spätem Sänkhyam die fünf groben Elemente 
aus sich erzeugen) kommen in dieser Bedeutung, soweit wir 
sehen, im Epos nicht vor: die wenigen Stellen, wo das Wort 
erscheint, erlauben keine sichere Bezugnahme auf den spätem 
64 III- Kosmologie und Psycliologie. 
Säükhyabegriir, und die Tanmatra's müfston im Mahäbliäratam 
ganz anders hervortreten, wenn sie schon hier, wie im klas- 
sischen Sankhyam, ein wesentliches Element des Systems 
bildeten. Hingegen wird vom Bhütätman XII, 194,7 — 8 S. 181 
gesagt: „Wie eine Schildkröte ihre Glieder aus sich heraus- 
streckt und wieder in sich hereinzieht, so schafft der Bhüt- 
ätman die Wesen und zieht sie wieder ein. Er, der Wesens- 
schöpfer, ist es, welcher die in allen Wesen vorhandenen 
fünf grofsen Elemente geschaffen hat." Nach dieser 
Stelle gehen die Mahähhütäni direkt und nicht erst durch 
Vermittlung der Tanmätra's aus dem Bhütätman hervor. Aus 
diesen Zeugnissen dürfte sich ergeben, dafs der Bhütätman 
im wesentlichen dasselbe ist, was später und so auch schon 
stellenweise im Epos Liiigam oder auch Retah^ariram, der 
Samenleib genannt wird. Nach XIV, 21,7 S. 908 ist der 
Körper der Träger des Retah^-anram. (jtanz in der Weise des 
spätem Sankhyam wird dieser die Seele auf ihren Wanderungen 
begleitende psychische Komplex, das lingam, geschildert in 
Stellen wie XII, 224,49 S. 297, wo es vom Purusha heifst, dafs 
er, an sich lingalos, eingehe in das Lifigam, oder V, 46,15 S. 27, 
wo vom Purusha gesagt wird, dafs er durch Verbindung mit 
dem Lingam immerfort wandere. Im Zustande des Yoga wird 
nach XII, 316,6—7 S. 655 der grobe Leib abgestreift, und 
der Yoo'in schweift mit dem die acht Vollkommenheiten be- 
O 
sitzenden feinen Leibe (sühshmam) nach den zehn Himmels- 
richtungen hinaus. Freilich heifst es auch dann wieder vom 
Yogin XII, 306,18 S. 625, dafs er frei von seinem Lingam 
wie eine Lampe nach oben strebe. An dieser Stelle scheint 
Lifigam den Leib überhaupt zu bedeuten, wie dies jedenfalls 
XII, 202,14 S. 220 und XII, 203,17 S. 223 der Fail ist, wo 
gesagt wird, dafs beim Tode die mit Sinnesorganen, Manas 
und Buddhi (also mit dem, was die spätere Sprache Lingam 
nennt) behaftete Seele aus dem einen Lingam (hier soviel als 
Körper) in ein anderes Lingam übergehe. Diese letzten Stellen 
beweisen, dafs auch der Begriff des Liügam im Epos noch nicht 
feststeht, sondern erst auf dem Wege ist, zur Bezeichnung des 
die Seele auf ihren Wanderungen begleitenden feinen Leibes 
zu werden. 
11. Der leine Leili (Bhütätuuin, i^ingaiu). C)5 
Aul' dio schwierige Frage, Avie sich die eine Pmkriti zu 
(h'ii Nielen Linga's vervieHaHigt, sclieint sich der Vers XII, 
;)l;»,l(i y. G49 zu bezichen: „Wie die Menschen wenige Lichter 
zu tausend Lichtern vervielfähigen, so vervielfäUigt die Pra- 
kriti ihre Guna's für den Puruslia." 
!•_». Die Klomonfe (bhiita) und ihre spezifischen (Qualitäten (vi(-eshaj. 
Die gröfste Abweichung, welche das System des Mahä- 
hharatam, wenn von einem solchen die Rede sein kann, von 
dem in der Sänkhya-Kärikä vorliegenden spätem Sähkhya- 
system zeigt, besteht in der Art, wie die materielle Welt aus 
dem Ahankara hervorgeht. Nach der Sähkhya-Kärikä ent- 
springen aus dem Ahankara die fünf Tanmätras, die reinen, 
ohne Beimischung der andern Elemente bestehenden Urele- 
mente, welche daher auch avlrcsltas „keine Verschiedenheiten 
rnthaltend'' heifsen, und erst aus diesen gehen durch Ver- 
setzung jedes Elementes mit Teilen der vier übrigen die 
grofsen Elemente (mahabhutäni) hervor, welche daher viccsJias 
heifsen, ein Wort, welches hier nicht „Verschiedenheiten'', 
sondern „Verschiedenheiten enthaltend" bedeuten mufs und 
daher mit Beziehung auf avicesha ähnlich gebildet ist, wie 
sura aus asiira, sita aus asita. Anders steht es im Mahäbhära- 
tam: hier gehen aus dem Ahankara direkt die grofsen Ele- 
mente hervor und aus diesen ihre Vi^esha's, welches Wort 
hier nicht in der künstlichen Bedeutung der Sähkhya-Kärikä, 
sondern in seiner natürlichen Bedeutung steht und „die Be- 
stimmtheiten", d. h. „die spezifischen Qualitäten der 
fünf Elemente" bezeichnet. So heifst es z. B. XII, 806, 
27 — 29 S. 626: „Als das ünentfaltete bezeichnen die oberste 
Prakriti die, welche die Prakriti verstehen. Aus diesem ist als 
zweites das grofse Prinzip (JSIuliat) hervorgegangen, o Bester 
der Könige, aus dem grofsen Prinzip als drittes der ÄhafiMra, 
wie wir aus der Schrift wissen, aus dem Ahahlvära die fünf 
Elemente, wie die des Sähkhyam kundigen Meister lehren. 
Dieses sind die acht schöpferischen Prinzipien (prahritaijah), 
und zu ilinen kommen sechzehn, welche blofs Umwandlungen 
sind , nämlich die fünf [aus den Elementen stammenden] 
Deusses, Geschichte der Philosophie. I, iii. ö 
(ii] in. Kosmologie und Psychologie. 
Vigesha^ sowie die l'üui' Siniio [nebst den fünf Tatorganen 
und Manas]." ^li, 302,24 S. Gll: „Die Schöiifung der Ele- 
mente (hlmta) aus dem Ahaükara wisse als die dritte, o Erde- 
herr, und als vierte wisse das, was, von allen Ahankära 
[-Produkten] stammend, Umwandlung des schon Umgewandel- 
ten ist [nämlich die Yiccshas].'-^ XII, 311,12 — lo S. 645: 
„Ton, Berührung, Gestalt, Geschmack und Geruch, diese sind 
in den fünf grofsen Elementen ihre spezifischen Qualitäten 
(viresha), mit welchen die Elemente fort und fort erfüllt sind." 
XII, 310,14 S. (!43 : „Jene [Ton usw.J sind die spezifischen 
Oualitäten (vigesliäh) in den fünf grofsen Elementen (mahä- 
hlwi äni ).'■'■ 
Auch diese Genealogie, nach welcher aus dem Ahankära 
die Bhüta's und aus diesen ihre Vigesha's stammen, hat sich 
in der epischen Zeit aus altern Anschauungen heraus gebildet, 
die wir noch hin imd wieder durchblicken sehen; so wenn 
im Anschlufs an Taitt. Up. 2,1 die Elemente direkt aus dem 
Urwesen (dem aksliaram, wie es XII, 211,1 S. 249 genannt 
wird) oder aus dem Manas (XII, 310,19 S. 643) entspringen. 
Immerhin stehen derartige Aufserungen vereinzelt da, und die 
Regel ist, dafs die grofsen Elemente direkt aus dem Ahankära 
hervorgehen (vgl. in unserer Übersetzung die Stellen S. 145,13. 
146,16. 253,19^ 775,62. 958,9. 959,2). Über ihre Namen 
äufsert sich XII, 184,3 S. 150: „Nur auf jene unmef'sbar 
grofsen bezieht sich das Wort (( grofs » ; die übrigen Wesen 
(hlmtäni) gelangen [durch die Mahäbhütäni] zur Entstehung, 
daher ist nur für jene [fünfj das Wort inMaliähhfda» zutreffend"; 
XII, 285,3 S. 534: „Erde, Wind, Äther, Wasser und Feuer 
als fünftes, diese sind als die grofsen Elemente der Ursprung 
und das Ende aller Wesen" : aus ihnen ist alles Unbewegliche 
(Pflanzen) und Bewegliche (Tiere und Menschen) zusammen- 
gesetzt (XII, 184,5 S. 150). Wie eine Schildkröte ihre Glieder, 
so strecken sie ihre Produkte aus sich heraus und ziehen sie 
wieder ein (XU, 248,4 S. 385 und XII, 285,6 S. 535). Über 
die Verteilung der Elemente in allen Körpern äufsert sich 
XII, 285,7 und 8 S. 535: „Aus dem Äther stammt, was [in 
den Körpern] an Ton vorhanden ist, ihre Kompaktheit ist eine 
von der Erde stammende Eigenschaft, aus dem Winde stammt 
li'. Die Elcinciitf iiml iliro spezitischen Qualitäten. 67 
ilir OdtMii, aus den AN'asserii ihr Geschmack, aus dem Feuer 
(l.icht) ihre Sichtharkeit. So besteht aus jenem |^^aterial| 
alles l'nbewegliche und Bewegliche, geht bei der Vernichtung 
in dasselbe zurück und wird aus ihm wiederum herausgesetzt." 
\\'i<' die Wellen aus dem Ozean gehen die Wesen aus den 
KitMurnten hervor und wieder in sie zurück (XII, 285,5 S. 5o4 
uiul Xll, 194,() S. 181. l'mgekehrt und weniger gut ist das 
Bild XII, L>48,3 S. 385). 
Der Gedanke, dafs der Intidlekt den fünf Elementen (oder, 
wie wir sagen würden, Aggregatzuständen) sich anpafst und 
ihnen die Sinnesorgane gleichsam als Fühlhörner entgegen- 
streckt, lindet seinen Ausdruck in dem durchgängigen Paral- 
lelismus zwischen den Elementen und ihren spezifischen 
»Jualitäten einerseits und den Sinnesorganen und ihren Funk- 
tionen andererseits, wie ihn folgendes Schema vor Augen stellt 
(vgl. dazu auch XII. 104,0—11 S. 181): 
Elemente: 
Qualitäten: 
Funktionen: 
Sinnesorg 
1. Äther 
Ton 
Gehör 
Ohr 
2. Wind 
Berührung 
(}efühl 
Haut 
3. Feuer 
(iestalt 
Gesicht 
Auge 
4. \\'asser 
Geschmack 
Schmecken 
Zunge 
5. Erde 
Geruch 
Riechen 
Nase. 
Nach der für alle Zukunft grundlegenden Upanishadstelle 
laitt. Up. 2,1 ist aus dem Atman der Äther, aus diesem der 
Wind, aus diesem das Feuer, aus diesem das Wasser, aus 
iliesem die Erde hervorgegangen. Auf diese Stelle, so dürfen 
wir wohl annehmen, gründet sich eine Theorie, die wir hier 
und weiterhin als Akkumulationstheorie bezeichnen wollen, 
und nach welcher jedes Element die Oualitäten des Elementes 
mit übernimmt, aus dem es hervorging, so dafs die Erde alle 
fünf Grundqualitäten der Erde in sich vereinigt. Diese Theorie 
lindet sich sowohl bei Manu als auch im Mahäbhäratam. 
Manu 1,20: „Von diesen [Elementen] erlangt das jedesmal 
folgende die Qualität des jedesmal vorhergehenden [der Äther 
<len Ton, der Wind Ton undCiefühl; das Feuer Ton, Gefühl, 
Gestalt; das Wasser Ton, Gefühl, Gestalt, Geschmack; die 
5* 
(38 III. Kosmologie und Psychologie. 
Erde Ton, Gefühl, Gestalt, Geschmack und Geruch]. Der wie- 
vielte einer von ihnen ist, so viele Qualitäten besitzt er.'' 
Mahäbh. XII, 233,8 S. 337: „Die Qualitäten jedes vorher- 
gehenden [Elements] gehen ein in jedes nachfolgende, und 
die wievielte Stelle ein jedes einnimmt, so viele Qualitäten 
werden ihm zugeschrieben." XIV, 50,38 S. 989 : „Hierbei hat 
der Äther eine Qualität (guna), der Wind zwei (Qualitäten, 
das Feuer drei Qualitäten, das Wasser vier Qualitäten, fünf 
Qualitäten hat die Erde." Eine andere Theorie, welche, auf 
Chänd. Up. 6,3 — 4 zurückgehend, jedem Element Bestandteile 
der übrigen beigemischt sein läfst, und die wir als Mischungs- 
theorie bezeichnen wollen, findet sich andeutungsweise XII, 
252,2 S. 397: „Äther, Wind, Feuer, Wasser und als fünftes 
die Erde nebst Entstehen und Vere;ehen und der Zeit sind 
in allen fünf Elementen enthalten." Nach XII, 255,3 fg. 
S. 402 werden die Elemente nebst ihren Qualitäten als fünfzig 
[genauer neunundvierzig] zusammengerechnet, wie folgende 
Übersicht zeigt: 
1) Erde: Unerschütterlichkeit, Schwere, Festigkeit, Pro- 
duktivität, Geruch, Schwere [bis], Kraft, Kompaktheit, Fähig- 
keit zu stützen und Ausdauer. 
2) Wasser: Kälte, Geschmack, Nässe, Flüssigkeit, An- 
haftung und Geschmeidigkeit, Geschmacksorgan, Tropfbarkeit 
und Garmachung fester Stoffe. 
3) Feuer: Schwerbezwinghchkeit, Licht, Hitze, Kochung, 
Helle, Glut, leichte Erregbarkeit, Heftigkeit und beständiges 
Nach-oben-flammen. 
4) Wind: Unbestimmtes Gefühl [nicht warm noch kalt, 
Nil.], Tragen der Rede, Freiheit, Stärke, Geschwindigkeit, 
Bewirken der Entleerung, Fähigkeit zu bewegen und Sich- 
erheben. 
5) Äther: Ton, Alldurchdringung, Widerstandslosigkeit, 
ohne Träger und Stütze zu sein, Unwahrnehmbark eit, Un- 
wandelbarkeit sowie Durchlässigkeit. 
In anderer Weise und mehr nach ihren physiologischen 
Wirkungen werden den fünf Elementen entsprechend XII^ 
184,27—40 S. 153 fg. fünfzig Quahtäten aufgezählt: 
\'2. Dio Elemente und ihre speziüsdien Qualitäten. (19 
]) Gerüche: Angenehm, unangenehm, süfs, stechend, 
muftig, stickig, ölig, kratzend, rein. 
•J) Geschmäcke: Suis, salzig, bitter, herh, sauer, stechend. 
3) Gestalten: Kurz, lang, dick, viereckig, rund, weifs, 
schwarz, rot, gelb, dunkelrot, fest, glatt, geschmeidig, schlüpf- 
rig, weich, hart. 
4) Fühlbarkeiten: Warm, kalt, angenehm, unange- 
nehm, feucht, rein, hart, weich, rauh, leicht, schwer, durch- 
dringend. 
5) Töne: SJtadja, RisJiahlia, Gäridhära, Madlnjama, DJiai- 
raid. Pdiicama, Sishädavän. 
13. Die fünf Prana's und der Jiva. 
Zum Schlüsse unserer psychologischen Betrachtung müssen 
wir noch kurz zweier Lehrbegrifie gedenken, welche vom 
spätem Sähkhyasystem beseitigt w^urden und auch schon im 
epischen Sankhyam in den Hintergrund treten, während der 
Vedtinta bis in die spätesten Zeiten an ihnen festhielt. Es 
sind dies die Begriffe von den fünf Pränas oder Lebens- 
hauchen und von dem Jlia, der individuellen Seele. 
Wenn der spätere Vedänta den durch Manas und In- 
driya's vertretenen, bewufsten, willkürlichen Funktionen die 
fünf Prana's als Träger des unbewufsten, der Respiration, 
Blutzirkulation und Nutrition dienenden Systems im Organis- 
mus gegenüberstellt, so beruht dies auf einer richtigen Auf- 
fassung der tatsächlichen Verhältnisse, und das spätere Säii- 
khyasystem hat nicht wohl daran getan, die Prana's, weil sie 
in den Evolutionsstufen nicht unterzubringen waren, zu be- 
seitigen und die Funktionen von Atmung, Blutumlauf und 
Verdauung dem Manas und den zehn Indriya's aufzubürden, 
welche nach dem Verse Säfikhya-Kärikä 29 
,, Gemeinschaftliche Wirkung der Organe 
Sind die fünf Winde, Präna an der Spitze" 
das Leben tragen sollen wde elf in einem Käfig eingesperrte 
Vögel durch gemeinschaftliches Auffliegen diesen zu heben 
70 III- Kosmologie und Psychologie. 
vermögen, wogegen sich (^ankara zu Brahmasütram II, 4,9 
p. 718 (S. 455 unserer Übersetzung) mit Recht wendet. 
Freihch war es schwer, aus den fünf Präna's hei der 
Unsicherheit, mit welcher schon in den üpanishad's die Funk- 
tionen des vegetativen Lebens an sie verteilt werden, etwas 
Brauchbares zu gestalten. Im allgemeinen stehen sich, wie 
oben I, 2 S. 248 fg. entwickelt wurde, zwei Auffassungen der- 
selben gegenüber. Nach der einen, durch (^aükara vertretenen, 
ist Präna der Aushauch, Apäna der Einhauch, Vyäna der 
Zwischenhauch, welcher das Leben trägt während man weder 
einatmet noch ausatmet, Samäna der Allhauch, auf dem die 
Ernährung beruht, und Udäna, der Auf hauch, welcher beim 
Tode die Seele aus dem Körper treibt. Nach einer andern, 
gleichfalls schon in den Upanishad's und ihren Kommentaren 
vorkommenden Zurechtlegung bewirkt der Prana die Respi- 
ration (Ausatmen und Einatmen), der Vyäna den Blutumlauf, 
der Samäna die Ernährung, der Apäna die Sekretion und 
der Udäna den Auszug der Seele aus dem Körper. Dieser 
letztern Auffassung scheinen auch die unbestimmten und viel- 
fach widersprechenden Aufserungen des Epos zuzuneigen. 
AVir begnügen uns, zwei Stellen hier vorzuführen. XII, 184, 
24 — 25 S. 152: „Durch den Präna wird der Lebende in Be- 
wegung gesetzt (pmnii/ate), durch den Vyäna strengt er sich 
an (vyäyacchate), der Apäna geht nach unten, der Samäna hat 
seinen Sitz im Herzen, durch den Udäna haucht er seine Seele 
aus." Nur teilweise stimmt damit überein, was derselbe 
Unterredner (Bl/ngu) im folgenden Adhyäya XII, 185,5 — 9 
S. 155 vorträgt. Hier wird Vers 5 der Präna in unklarer 
Weise mit dem gleichnamigen allgemeinen Lebensprinzip ver- 
mengt, und dann heilst es weiter: „Indem er sich stützt auf 
die Blasenöffnung und den Darm und sich anschliefst an das 
Verdauungsfeuer, bewegt er sich, auch sofern er Harn und 
Kot abführt, als der Apäna (dieselbe Auffassung auch XIV, 
42,25 S. 962). Denjenigen aber, welcher sich bei Anstrengung, 
Tätigkeit und Kraft in diesen dreien als einer betätigt, den 
nennen die des Innern Selbstes kundigen Menschen den Udäna 
(welchem also hier eine ganz andere Funktion zugewiesen 
wird), derjenige Wind hingegen, welcher in alle Gelenke ein- 
13. Die t'iint l'rana's und der Jiva. 7 1 
o-eüauücii ist in den Leibern iler Mensclien, der wird bf- 
zeichnet als Vyiina. AN'iederuni wird das in den KörperstofVen 
verbreitete Feuer (das Verdaiuino-sleuer) angelaclit durch den 
Saniana : darin, dafs er die Säfte, die Körperstod'e und die 
FUissigkeiten (doslia) in Bewe,i>;un,<2; versetzt, liat er seine Aul- 
gabe." Neben diesen fünf Winden wird XJJ, 301,27 S. (500 als 
sechster noch ,,der nach unten strömende" und als siebenter 
„der eniporführende" Wind erwälmt, ohne dafs etwas Nälieres 
zu ihrer Erklärung bcngebraeht würde. Ebensowenig läfst 
sich aus der XII, 328,32 — 35 S. 724 eingeschobenen (5enea- 
losie der fünf Lebenshauche oder aus dem in der Anugita 
(XIV, 24 — 2;') S. 917 fg.) berichteten Rangstreit der Lebens- 
liauche und der nachfolgenden allegorischen Verquickung mit 
dem Opferkultus gewinnen, und nur wie durch einen Nebel 
hindurch glaubt man die vielleicht angestrebte, aber nicht 
vollständig erreichte Erkenntnis durchschimmern zu sehen, 
dafs der Prana die Respiration, der Vyana die Blutzirkulation, 
der Samäna die Nutrition und der Apäna die Sekretion im 
menschlichen Organismus bewirke. 
Wie die Lehre von den fünf Prana's, so ist noch eine 
andere aus der Upanishadphilosophie überkommene Vorstellung 
in der epischen Zeit im Schwinden begriffen, nämlich die des 
Jh'd. der individuellen Seele, w^elche nichts anderes als der 
mit den physischen Organen verbundene Atman, oder wie die 
Sankhya's sagen, der vom Lihgam umhüllte Purusha ist. Das 
Überflüssige eines solchen Jiva macht sich an den Stellen, wo 
von ihm die Rede ist, deutlich bemerkbar. Mit Recht be- 
hauptet P)haradvaja Xll, 186 S. 156 fg., dafs das ganze Leben 
des Menschen sich aus dem Zusammenwirken der fünf Prana's 
und des Verdauungsfeuers, der Organe und Elemente erkläre, 
und dafs man neben diesen einen Jiva weder im Leben wahr- 
nehme, noch sein Herausfahren aus dem Leibe beim Tode. 
A\'as dem gegenüber im folgenden Adhyaya XII, 187 S. 158 fg. 
Bhrigu vorbringt, spricht nur für die Existenz des Ätman, 
nicht aber eines aufser ihm noch anzunehmenden Jiva, welcher, 
wie Vers 7 anzudeuten scheint, nur der von den Lebens- 
hauchen umgebene Atman selbst ist. Auf dasselbe läuft die 
Äufserung XII, 242,19 S. 368 hinaus: „Tamas, Rajas und 
72 IIL Kosmologie und Psychologie. 
Sattvam wisse als die Gimawesenheit des Jiva, den Jiva be- 
greife man als blofse Qualität (giina) des Selbstes, den Atman 
als das Höchste an dem Selbste (param Cämanah).'-^ Dem- 
gegenüber macht die Stelle XTI, 339,3() S. 773 in dem theo- 
logischen Interesse, den Jiva als zweiten Vyüha, vgl. oben 
S. 36, des Vishnu aufrecht zu halten, geltend, dafs die 
Präna's ohne einen Jiva den Leib nicht würden bewegen 
können, und XIV, 17,25 S. 892 wird die Aufsenwahrnehmung 
den Siimesorganen , die Innenwahrnehmung dem Jiva zuge- 
schrieben, welches im Grunde auf seine Identifikation mit dem 
Atman hinausläuft und damit zu verstehen gibt, dafs neben 
diesem das Festhalten an einem Jiva überflüssig sein dürfte. 
14. Tfachträgrliches zur Kosmologie und Psychologie. 
Die fünf Elemente, aus denen die Welt des Unorganischen, 
die Erde mit ihren vier, sieben oder dreizehn, um den Götter- 
berg Meru wie die Blätter der Lotosblume um ihre Samen- 
kapsel gelagerten, Inseln (cMjia) besteht (vgl. XII, 182,38 
S. 148 und die nähern Ausführungen VI, ß — 12), bilden nur 
den Schauplatz für die zur Vergeltung ihrer Werke der Wan- 
derung unterworfenen Seelen. Alle Organismen, alle Pflanzen, 
Tiere, Menschen und Götter sind wandernde Seelen; auch die 
Pflanzen besitzen demnach eine Seele XII, 184,17 S. 152, und 
die unmittelbar vorhergehenden Verse schreiben ihnen, wie 
schon oben S. 62 fg. beigebracht wurde, in übertreibender 
Weise Gefühl, Gehör, Gesicht, Geruch und (jeschmack zu. 
Die schon in den Upanishad's vorkommende Einteilung 
der auf der Erde lebenden organischen Wesen in die vier 
Klassen der Lebendgeborenen, Eigeborenen, Schweifsgebore- 
nen (Insekten usw.) und Keimgeborenen wird wie von Manu 
1,43 fg. so auch vom Mahäbhäratam übernommen, XII, 238,11 
S. 355: „Die Entstehung aller der mannigfachen Wesen ist 
als vierfach, nämlich als Lebendgeborenes, Eigeborenes, 
Sprofsgeborenes und Schweifsgeborenes zu betrachteü." Die 
Leiber aller dieser als Organismen Aerkörperten Seelen stam- 
men aus den fünf Elementen; XII, 285,9—12 S. 535: „Die 
fünf grofsen Elemente bestimmte der Welteiischöpfer in allen 
14. Nacbträgliclics zur Kosmologie und rsychologie. 73 
W i'scii /MV Objektivation, je iiaclidoni er für das eine dieses, 
für das andere jenes ersah. Der Ton, das Cehör und die 
Iloldriunne, diese drei stammen aus dem jUher; Geschmack, 
Feuchtigkeit und Znn2;e, diese gelten als die Eigenschaften 
des ^^'assers; Sichtbarkeit, Auge und Verdauung, diese drei 
gehören zum Feuer; Geruch, Geruchssinn und Körperlichkeit 
sielten als Eigenschaften der Erde. Odem, Gefühl und Be- 
wegung sind Eigenschaften, die aus dem Winde stammen; 
(himit ist bewiesen, dafs alle Eigenschaften [der Wesen] von 
den fünf Elementen herrühren." Was hier von allen Wesen 
gesagt Avird, gilt auch von dem menschlichen Leibe; XIV, 
42,55 — 57 S. 9G5 : „Seine Sichtbarkeit ist Feuer, sein Fliefsen- 
des ist Wasser, seine Fühlbarkeit ist Wind, sein scheufsliches 
Schmutztragendes ist Erde und sein Hörbares ist Äther; von 
Krankheit und Leid ist er erfüllt, von den fünf Strompforten 
[tlen fünf Sinnen] umgeben, aus den fünf Elementen zusammen- 
getlochten, mit neun Toren, von zwei Göttern [der höchsten 
und der individuellen Seele] bewohnt, unsauber, unansehnlich, 
dreigunahaft, dreigrundstotfhaft [Schleim, Galle, Wind], be- 
rührungssüchtig und voll Torheit, — das ist der Leib, das 
ist gewifs." Ahnliche Schilderungen des Leibes, bei denen 
die pessimistische Färbung noch greller hervortritt, linden sich 
XII, 297,14— L5 S. 578. XII, 301,33—34 S. 601. XII, 329, 
42 — 43 S. 730. Die Ernährung des Leibes geschieht aus dem 
den ganzen Körper durchziehenden Adernetze, wie die des 
Ozeans aus den Flüssen, Xll, 214,16 S. 259; „Den AVind, die 
<ialle, den Schleim, das Blut, die Haut, das Fleisch, die Sehne 
und den Knochen, das Mark und den ganzen Körper ernähren 
<lie Säfte der Menschen vermittelst des Adernetzes." Über 
den Anteil des Vaters und der Mutter an den Eigenschaften 
des Kindes spricht sich XII, 305,5 — 6 S. 620 aus; „Was nun 
die Eigenschaften des Vaters und der Mutter betrifft, so wissen 
wir, dafs Knochen, Sehnen und Mark vom Vater, hingegen 
Haut, Fleisch und Blut von der Mutter stammen." Neben 
Stellen, welche wie XII, 266 S. 437 fg. die Liebe zur Mutter 
und die Achtung vor der Frau mit der zartesten Emplindung 
schildern, stehen sehr harte Aufserungen über das Weib; 
Xli, 213,7 — 9 S. 255 fg. ; „Die Weiber sind es, w(dclie das 
74 W. Kosmologie und Psychologie. 
Gewebe des Sansara fortsetzen. Sie sind von Natur das 
Ackerland (hsliciram), die Männer sind ihrem Wesen nach di& 
Ksheti'ojria's (Kenner des Ackerlandes). Darum soll der Mann 
sie ohne Unterschied ganz besonders meiden. Denn ver- 
schmitzt sind sie und von schrecklicher Art und betören den 
Unkundigen : sie sind ganz in Eajas versunken und eine ewige 
Verkörperung der Sinnlichkeit (hKiriy Cm dm ).'■'■ Derartigen 
herben l'rteilen über die Frauen, Avie sie im Epos und in der 
ganzen indischen Literatur nicht selten vorkommen und sich 
aus der sozialen Stellung des Weibes in Indien erklären, 
stehen zahlreiche, die Achtung vor dem weiblichen Geschlechto 
bekundende Aufserungen gegenüber, von denen wir nur einige 
der bekanntesten erwähnen wollen. So sagt Damayanti zu 
Nala, Mahäbh. III, 61,29 (III, 2o2r)): „Nicht gibt es, so meinen 
die Arzte, irgendein Heilkraut für alle Leiden, welches der 
Gattin gleichkäme", und Manu 3,56 heilst es übereinstimmend 
mit Mahabh. XIII, 46,5—6 (XIII, 2458): „Wo die Frauen 
geehrt werden, da freuen sich die Götter, und wo sie nicht 
geehrt werden, da sind alle Opferhandlungen vergeblich." 
IV. Ethik und Eschatologie. 
1. Unfreiheit des Willens und Moralität. 
Wie überall, so kommt auch in Indien die auf dem Be- 
wufstsein von der Unverbrüchlichkeit des Kausalitätsgesetzes 
beruhende Erkenntnis von der Unfreiheit des menschlichen 
Handelns zum Durchbruche, und wenn ihr gegenüber gleich- 
wohl die Forderungen der Moralität aufrecht erhalten werden, 
so erklärt sich dieser scheinbare Widerspruch aus der mehr 
gefühlten als erkannten Wahrheit, dafs der Determinismus 
nur für die empirische Betrachtungsweise zu Rechte besteht, 
und dafs derselbe, so klar er auch erkannt werden mag, nicht 
imstande ist, die Überzeugung von der Freiheit und Verant- 
wortlichkeit und damit von der Berechtigung der Forderung 
eines moralischen Lebenswandels zu unterdrücken. 
1. riifrcilicit des Willens und Moralität. 75 
Die Erkoiiiilni< von der Notwendiji-keit alles Geschehens 
kdinint schon in ilcr epischen Zeit in Lehren wie in Krziih- 
liin,ij;en zum deutlichen Ausdruck. So heil'st es ^Mahahh. 
3,.'K),24 (=1140): ,,Dem Kaume gleich alle Wesen durch- 
dringend, o Bharata, verleiht Gott auf dieser Welt das Gute 
und das Böse." Manu 1, 28 — 30: ,,Zu welchem Werke aber 
von AnianiA" <iii der Herr irgendeinen bestimmte, dieses Werk 
hetriel) derselbe von selbst, indem er immer wieder und wieder 
geboren wurde. Lust zu schaden und Lust zu schonen, Milde 
und Härte, tierechtigkeit und Ungerechtigkeit, Wahrheit und 
rnwahrheit, was aucli innner von dem allem der Schöpfer 
einem bei der Schöpfung auferlegte, das machte derselbe von 
selbst sich zu (ngen. Wie in dem Umlauf der Jahreszeiten 
die Jahreszeiten aus sich selbst hervorbringen, was für sie 
charakteristisch ist, so auch die verkörperten Seelen ihre 
Werke" (vgl. Mahäbh. XIl, 233,17 S. 337 und XII, 181,12 
S. 143). Dieselbe Wahrheit von der Notwendigkeit alles Ge- 
schehens tritt hervor in den Erzählungen von dem gestürzten 
Bah XII, 223—224, Namuci XII, 226 und Vritra XII, 280, 
welche alle in ihrem Unglück Trost finden in dem Gedanken 
\on der Unabwendbarkeit ihres durch Kala (die Zeit) über 
sie verhängten Schicksals. XII, 224,25 S. 295: „Kala ist es, 
der alles nimmt, Kala, welcher alles gibt, durch Kala wird 
alles verhängt'*: Vers 36 S. 296: „Nicht ist dieses Werk von 
dir gewirkt worden, oder meines; sei es Glück oder sei es 
Unglück, es wird gewirkt durch den Umschwung [der Zeit]"; 
\'ers 45 S. 207: „Nicht ich bin der Täter und nicht du bist 
es, vmd auch kein anderer ist der Täter, o Gemahl der Qaci; 
durch den Zeitumschwung w^erden die Welten beherrscht, 
o gakra. wie es der Zufall lugt." XII, 226,8. 10. 11. 13. 22 
S. 304 fg.): „Ein Gebieter ist, es gibt keinen zweiten, ihm 
gleichen Gebieter; dem Menschen, schon wenn er noch im 
Mutterleibe liegt, gebietet dieser Gebieter; von ihm getrieben 
ströme ich wie Wasser den Abhang herab, je nachdem er 
mich antreibt. — Je nachdem einer dazu bestimmt ist, etwas 
zu erlangen, dementsprechend erlangt er es, und wie etwas 
bestimmt ist, zu geschehen, dementsprechend gescliieht es 
auch. — Und wozu einer immer vom Schöpfer schon im 
7G IV. Ethik und Eschatologie. 
Mutterleibe immer wieder [Lei jeder neuen Geburt] bestimmt 
ist, darin verharrt er, und nicht in dem, was er selbst wünscht. 
— Durch die Zeitläufte werden die Menschen herumgestofsen, 
und keiner ist, der sie beschuldigen könnte; aber darin be- 
steht das Leid, dal's der Unzufriedene wähnt, er selbst sei der 
Täter. — Man empfängt nur was man emi)fangen sollte, man 
geht nur, wohin man gehen sollte, man kommt nur zu dem, 
wozu man kommen sollte, mag es Leid oder Lust sein." XI 1, 
279,8 und 20 S. 487 fg. : „Diese verkörperte Seele ist niemals 
Herr über Gutes und Böses: — dafs die Lebewesen in dieser 
Weise um wandern riiüssen, hatte ich vordem nicht erkannt; 
aber die Schrift lehrt: wie die Werke, so ist auch die Ver- 
geltung." 
Schon diese letzten Worte deuten an, worauf die Not- 
w^endigkeit alles Geschehens beruht; es sind die in einer 
frühern Geburt begangenen Werke, die durch Tun und Leiden 
der nächsten Geburt gebüfst werden müssen. Seinen vormals 
begangenen Werken kann der Täter nicht entrinnen; XIII, 
7,22 = XIII, MG (vgl. XII, 181,10 S. 143): „Wie ein Kalb 
unter tausend Kühen seine Mutter herausfindet, so folgt die 
vormals begangene Tat ihrem Täter nach." In lebendiger 
Weise wird diese Wahrheit illustriert durch die Erzählung 
Xlli, 1 von der Schlange, welche einen Knaben getötet hat 
und dafür bestraft wa^rden soll. Sie schiebt die Schuld auf 
Mrityu, den Todesgott, dieser auf Kala, den Gott der Zeit, des 
Verhängnisses und dieser wiederum auf das Karmnii, das in 
einer frühern Geburt von dem Knaben wie von seiner Mutter 
begangene Werk; Kala spricht (Vers 70): „Nicht ich bin 
schuld an dem Tode des Knaben, noch auch der Mrityu hier, 
noch auch diese Schlanu-e, o Jäü'er; denn wir sind nicht die 
Veranlasser, sondern das Werk, welches er begangen hat, 
das ist für uns der Veranlasser, o Arjunaka; keine andere als 
diese ist die Irsache seines Todes; getötet wurde er 
durch sein eigenes Werk." 
Wie schon aus den angeführten Stellen ersichtlich, w^erden 
die Werke der frühern Geburt nicht nur durch das Leiden, 
sondern auch durch das Tun des nachfolgenden Lebenslaufes 
gesühnt: aber diese Erkenntnis wird immer wieder durch- 
1. Unfroilicit dos Willens und Morulitiit. 77 
Ijrufhou durch das imvcrsicgliche JicwuCstsein ^()ll der Freiheit 
(lo!? nionscliliclicn liaiididns. Beide, das Schicksal fdaivam) 
und dir nionschhche Tat ( pKrushakära) wirken bei jeder 
1 landhing zusammen. Diese Wahrheit wird <'ing(diend erörtert 
in dem gedankenreichen Abschnitte XIII, (i: Vers 7: „Wie 
(Um* ausgestreute Same oline das Ackerfeld keine Frucht 
liringt, so kann (his Schicksal ohne di*^ Meiischentat nicht 
wirken: das Ackerland ist die Menschentat und das Schicksal 
ist der Same." Vers 43 (=337): „Wie ein Feuer, auch wenn 
es klein ist, sehr grol's wird, wenn der Wind es anfacht, so 
wächst die Macht des Schicksals gewaltig, wenn die Menschen- 
tat hinzutritt." Hier ist das Schicksal der Same, das Feuer, 
und die Menschentat nur das Ackerland, der Wind; treffender 
würde für unser Gefühl das umgekehrte Gleichnis sein, wie 
es sich auch in dem Vergleich der Tat mit dem Manne, des 
Schicksals mit dem Weibe gestaltet, Vers 20 (=314): „Wer 
ohne (He ^lenschentat zu vollbringen sich auf das Schicksal 
verläfst, der müht sich vergebens ab, wie ein Weib, welches 
als Gatten einen Eunuchen erlangt hat"; und das ganze 
Schwergewicht der Handlung und der Verantwortlichkeit für 
dieselbe wird auf den Täter gewälzt in dem schönen (auch 
XI, 2,35 = XI, 80 vorkommenden) Verse 27 (=321): „Ein 
jeder ist sein eigener Bundesgenosse, ein jeder ist sein eigener 
Feind, ein jeder ist sein eigener Zeuge von dem, w^as er getan 
und nicht getan hat." Vgl. VI, 30,5 — 6 S. 58: „Man reifse 
heraus das Selbst durch das Selbst [aus dem Ozean des SansäraJ, 
nicht lasse man das Selbst [in ihm] versinken, denn ein jeder 
ist der Bundesgenosse seiner selbst, und ein jeder ist auch ein 
Feind seiner selbst. Ein Bundesgenosse seiner selbst ist er 
dann, wenn er sein Selbst durch das Selbst überwunden hat; 
solange aber noch die Feindschaft besteht dessen, was [an ihm] 
nicht Selbst ist, so lange ist einer ein Feind seiner selbst." 
In Stellen wie diesen spricht sich das Bewufstsein aus, 
dafs die guten wie die bösen Handlungen das ureigenste Werk 
des Menschen sind, und dafs über 1)eiden der innere Zeuge, 
das Gewissen zu Gerichte sitzt, und auf diesem Bewufstsein 
beruhen alle moralischen Forderungen, die wir an den Men- 
schen stellen und welche im grofsen Epos in überreicher Fülle 
78 IV. Ethik und Eschatologie. 
vorliegen. Freilich fehlt es auch nicht an skeptischen Ein- 
wendungen, welche alle Moralität in Frage stellen. „Wer 
hilft in dieser WeU dem andern?" lieifst es XII, 292,1 S. 561, 
„wer hat für den andern etwas übrig? Der Mensch, wie er 
ist, tut, was er tut, durch sich seihst und für sich selbst." 
XIV, 49,14 S. 985: „«Dies ist das Beste!» «Nein, dies ist 
das Beste ! » mit solchen Behauptungen stehen sich die Leute 
gegenüber, und jeder schätzt jedesmal dasjenige als Pflicht, 
woran er gerade sein Gefallen findet." Es gäbe, heifst es 
XII, 260,17 S. 417, abgesehen vom Staatsgesetze, keinen 
Lebenswandel, der für alle verbindlich wäre, die moralischen 
Gesetze seien nur durch den Usus der Vorfahren entstanden, 
XII, 2()0,20 S. 418: „Vor Zeiten wurde ein von langher über- 
kommener Wandel für die Pflicht erklärt, und nun ist sie 
durch jenen frühern Wandel zu einer ewigen Norm geworden." 
Man glaubt den Kallikles des platonischen Gorgias oder einen 
der modernen Immoralisten zu hören, wenn man XII, 259,13. 
18. S. 414 von den Starken und Reichen liest, welche be- 
haupten, dafs die sittliche Forderung der Gerechtigkeit nur eine 
Erfindung der Schwachen, die der Mildtätigkeit nur eine solche 
der Bedürftigen sei. Demgegenüber macht der Dichter Vers 20 
als allo-emeine Norm o-eltend: „Was ein Mensch sich nicht 
von andern angetan wünscht, das füge er auch nicht andern 
zu, da er an sich, selbst erfahren hat, was unangenehm ist." 
Es gibt, nach XII, 287,12 S. 542 vier verschiedene Lebens- 
richtungen (nach dem Kommentar sind der Materialismus, der 
Buddhismus, der brahmanische Opferkultus und die Atman- 
lelire der Upanishad's gemeint), aber die allgemeinen mora- 
lischen Gesetze, namentlich wie Vers 17 hervorhebt, ,,das 
Mitleid mit allen Wesen, die Rechtschaffenheit in Handel und 
Wandel" sind für alle ohne Unterschied verbindlich. Un- 
abhängig von der jedesmaligen philosophischen Richtung sind 
die Forderungen des Gewissens sowie Scham und Reue über 
das Böse; XII, 292,18 S. 563: „Nicht aber soll man in dieser 
Welt durch etwas emporzukommen suchen, dessen man sich 
zu schämen hat. Zwecke, die mit Rechtschaffenheit verfolgt 
werden, sind gut, die aber mit Ungerechtigkeit verfolgt werden, 
pfui über die"; XII, 287,48 S. 546: „Ein Werk, infolgedessen 
1. l utrcihrit des W illi'Uh iiiul Moialitiit. 7*.> 
man auf dein Sti'ibi'lagcr IkCiic enipündet, das soll man von 
vornherein nicht unternehmen, wenn man sich selbst Gedeihen 
wünscht"; XU, 201,8 S. 559: „[Fragt man aber:] Wo sehe 
ich denn eine üble Folge meiner bösen Tat? — Zunächst 
schon darin, dal's der Seele, siübst wenn man Reue empfunden 
hat, nicht wohl danach wird. Wer aber ein solcher Tor ist, 
dal's ihm keine Reue über seine Tat kommt, den erwartet, 
wenn er davon nuil's, grofse Pein," XII, liOO,! S. (539: „0 du 
Genul'ssüchtiger ! warum strebst du nicht danach, zur Be- 
gierdelosigkeit zu gelangen? Den Honig am Abgrunde siehst 
du Tor, aber den Abgrund siehst du nicht." Frinclpris ohsfa! 
oder in den Worten des Epos, XII, 309, 17 S. G40: „Wie man 
leicht wie im Spiel einen kleinen Staubflecken von seinem 
Körper wegwischt, einen grolsen aber nur mit Mühe, so ist 
es auch mit der Reinigung vom Bösen." Die erste Veran- 
lassung dazu gibt die Berührung der Sinne mit der sinnlichen 
^^'elt; aus ihr entspringen, wie XII, 273 entwickelt wird, Liebe 
und Ilal's; diese wachsen zur Leidenschaft, zu Habgier und 
Verblendung an; „wer aber von Habgier und Verblendung 
beherrscht, von Liebe und Hafs erfüllt ist, dessen Sinn richtet 
sich nicht auf die Pflicht, und nur aus Falschheit tut er die 
Pflicht." XII, 251,1—6 S. 394 fg.: „Man gebe den Gerüchen, 
den Geschmäcken, gebe der Lust keine Folge . . . Man 
trachte auch nicht nach Ehre, Ruf oder Ruhm; das ist das 
\ erhalten eines sehenden Brahmanen. Man mag alle Veden 
studieren und keusch sein, aber damit, dafs man den Rig- 
veda, Yajurveda und Sämaveda kennt, ist man noch kein 
wahrer Zwiegeborener . . . Auch wenn einer mancherlei Opfer 
aufzuweisen hat und heilige mit Opfergaben verbundene 
Werke, so erlangt er dadurch noch keineswegs die wahre 
Brahmanschaft. weil er noch nicht in sich gesetzt ist. Aber 
wenn ebenderselbe nicht mehr fürchtet, und wenn man sich 
vor ihm nicht mehr fürchtet, wenn er nicht mehr wünscht 
und nicht mehr liafst, dann erlangt er das Brahman. Wenn 
er gegen alle Wesen keine böse Gesinnung betätigt in Werken, 
Gedanken oder Worten, dann geht er in das Brahman 
em." Xir, 189,4 S. 165: „Der, bei welchem Wahrhaftigkeit, 
Freigebigkeit, Treue, Wohlwollen, Schamhaftigkeit , Barm- 
30 I^'- J^thik und Escliatologie. 
herzigkeit und Askese gesehen werden, der gilt für einen 
Brahmanen." XII, 309,14 S. 640: „Wohlwollend, lauter, 
bezähmt, AVahrheit redend, in Rechtschaffenheit beharrend 
und durch Geburt und Werke rein, als solcher ist der veda- 
kundige Zwiegeborene ein Würdiger." XII, 299,29 S. 590: 
„Wer Wahrhaftigkeit, Bezähmung, Rechtschaffenheit, Wohl- 
wollen, Festigkeit und Ausdauer überaus eifrig pflegt, wer 
beharrlich im Studium, neidlos gegen andere und von unwandel- 
barer Charakterstärk<> ist, der geht den Weg nach oben." 
Noch weit ausführlichere Aufzählungen der Tugenden und der 
ihnen entgegenstehenden Fehler finden sich V, 45 S. 23 fg., 
VI, 40 S. 94 fg. und an manchen andern Orten. Als W^urzel 
alles Guten wird die gute Gesinnung bezeichnet, XII, 193,31 
S. 180: ,,Die Weisen erklären, dafs das Gute aller Wesen auf 
Gesinnung beruhend (mCmasa) sei, darum soll man bei allen 
Wesen der Gesinnung nach Wohlwollen walten lassen." Daher 
kommt es nicht auf die Gröfse der Wohltat an, sondern auf die 
Gesinnung, aus der sie entsprang; XII, 292,6 S. 561: „Wenn 
man mit frommem Sinne auch nur kaltes oder warmes Wasser, 
so gut man es vermag, dem Gaste darreicht, so ist das ebenso 
verdienstlich, als wenn man einen Hungrigen speiste." 
Drei Tugenden sind es, welche bei den Aufzählungen 
derselben vor allem hervortreten, Gerechtigkeit, Mitleid 
und Entsagung. Unermüdlich wird das Gesetz eingeschärft, 
kein Wesen zu schädigen und einem jeden in seiner Not bei- 
zustehen; daher die beständig wiederholte Charakterisierung 
des guten Menschen durch das schöne Kompositum: sarva- 
hMda-hik'-raia „am Wohlsein aller Wesen sich erfreuend !" Nicht 
durch Werke allein, auch mit Worten soll man sich hüten, 
den andern zu verletzen; XII, 299,9 S. 588: „Die Pfeile der 
Rede werden aus dem Munde geschossen, und wen sie treffen, 
der jammert Tag und Nacht, sie verfehlen nicht die verwund- 
baren Stellen des andern, der Weise soll sie nicht auf andre 
schleudern." Vers 16: „Wird man geschmäht, so schmähe 
man nicht wieder, sein Zorn verbrennt ihn, den Schmähenden, 
wenn man dabei geduldig bleibt, und man gewinnt des 
andern gute Werke." Vers 38: ,, Schweigen ist besser als 
Reden; Wahrheit zu reden in dem Avas man spricht, ist das 
1. riifri'ilu'it (los Willens iiml Moralität. 81 
zwM'ito, (Jerocliticki'it zu roden ist das dritte, Liebreiches zu 
reden ist das vierte." \II, 287,29—32 S. 544: „Ohne von 
sich zu reden, streiclit der reine Duft der Blumen dahin, und 
ohne sieh zu rühmen, glänzt die wolk«^nlose Sonne am Himmel. 
Der Tor wird nicht darum schon in der AVeit glänzen, weil 
er sich selbst rühmt, aber der Weise glänzt hervor, auch 
wenn er in einer Höhle verborgen ist. Auch der laut er- 
schallende Ton fällt in das Nichts zui'ück, aber das gute 
Wort, auch wenn es leise gesprochen wurde, leuchtet durch 
die AVeit." 
Mehr noch als Gerechtigkeit und Wohlwollen gegen alle 
Wesen wird in allen Teilen des Epos als Gipfel, ja als In- 
begritf aller Tugend die Entsagung gepriesen. So heifst es 
VI, 3ß,12 S. 85: „Höher als die Übung steht das Erkennen, 
hitluT als das Erkennen die Meditation, höher als die Medi- 
tation die Entsao-ung in betreff des Lohnes der Werke, der 
Entsagung folgt der Friede auf dem Fufse." Allerdings gibt 
es neben der echten Entsagung auch eine unechte, wie VI, 
42.7 fg. S. 100 ausführt, eine tamasartige, welche auf blofsem 
Wahne, und eine rajasartige, welche auf Scheu vor der Arbeit 
des Lebens beruht : ,,Wenn hingegen, o Arjuna, ein notwendiges 
Werk nur in dem Bewufstsein, dafs es Pflicht sei, vollbracht 
wird, indem man dabei der Anhänglichkeit und dem Lohne 
entsagt, so heifst diese Entsagung eine sattvahafte." XIV, 
47.8 S. 981 : „Wer nichts mehr begehrt und nichts mehr 
verachtet, der ist schon während er in dieser Welt weilt, zur 
Brahmanwerdung tauglich." Der Mokshadharma, welcher sich 
durch die letzten 7000 Verse des zwölften Buches des Epos 
(S. 109 — 882 unserer l bersetzung) hindurchzieht, und der bei 
aller Buntheit des Inhaltes, wie schon der Name besagt, als 
Hauptzweck verfolgt, den Weg zur Erlösung zu zeigen, spricht 
gleicli am Eingange den Gedanken aus, dafs die ganze Welt 
und ihre Beschatfenheit uns zur Entsagung auffordere; XII, 
174,4 S. 111: „In welcher Weise man auch immer das morsche 
Gewebe dieser Welt überschauen mag, auf jede Weise ent- 
springt daraus Abwendung von ihr, daran ist kein Zweifel." 
Auf diesen Gedanken folgt eine ganze Reihe lebendig aus- 
geführter, anmutiger Erzählungen, welche sämtlich den Zweck 
Dbussen, Gcscliiclite der Pliilosopliie. I, iii. b 
15(^736 
32 ^^ ■ Ethik und EscLatologic. 
haben zu zeigen, dafs der Seelenfriede und damit das höchste 
Glück auf dieser Welt durch Entsagung erreicht wird. XII, 
174 findet der König Senajit über den Verlust seines Sohnes, 
die Hetäre Pingalä über den Verlust ihres Geliebten Trost in 
der Entsagung; XII, 175 preist ein Sohn seinem Vater gegen- 
über, der das Einhalten der Lebensstadien empfiehlt, die 
Entsagung als das höchste Glück: „Kein Auge kommt der 
Wissenschaft gleich, keine Askese der Wahrheit, kein Unglück 
kommt der Leidenschaft, kein Glück der Entsagung gleich" 
(Vers 35). XII, 17(1 weist der „von einem bösen Weibe, von 
schlechter Kleidung und Hunger geplagte" (^^ampäka auf die 
Gefahren des Reichtums, auf den aus ihm entspringenden 
Hochmut hin, welcher spricht: „Ich bin hochgeboren, ich bin 
vollkommen, ich bin ein Übermensch (näsmi kevalaiitäimsJtah)''' 
und preist demgegenüber die Entsagung als das höchste Glück: 
„Wer nicht entsagt hat, kommt nicht zum Glück, wer nicht 
entsagt hat, kommt nicht zum Höchsten, wer nicht entsagt 
hat, schläft nicht in sicherer Ruhe, entsage allem und sei 
^•lücklich" (Vers 22). XII, 177 beruhigt sich Manki über den 
Verlust seiner von einem Kamel mitgeschleiften und erwürgten 
( )chslein bei dem Gedanken, dafs die Erlangung aller Wünsche 
nicht so sicher zum Glücke führt, wie der Verzicht auf alle 
Wünsche. XII, 178,2 versichert der zur Entsagung gelangte 
Janaka, König von Mithilä: „Selbst wenn Mithilä in Flammen 
avifgeht, gibt es nichts mehr, was mir verbrennen könnte", 
und dasselbe Thema wird variiert XII, 276 und XIV, 32, 
wo der entsagende Janaka spricht Vers 11: ,, Nunmehr glaube 
ich, dafs ich überhaupt kein Reich habe, oder dafs mein 
Reich allumfassend ist: auch mein eigener Leib ist nicht 
mein, oder auch die ganze Erde ist mein, und wie sie mir 
gehört, so auch den andern." XII, 179 weist Ajagara auf 
die Wertlosigkeit und Nichtigkeit alles Irdischen hin, und 
XII, 180 naht sich dem armen, von einem Reichen beleidigten 
Kägyapa der Gott Indra in Gestalt eines Schakals und belehrt 
ihn darüber, dafs durch ein Nachjagen nach den Gütern dieses 
Lebens niemals der Frieden erreicht wird: „Durch Erlangung 
von Wünschen ist keine Sättigung zu finden, der Durst 
(irislirid) ist durch kein Wasser zu stillen, er wird nur um so 
1. riüVeihi'it des Willens iiiul Moralilät. g^ 
o 
brenueiulcr, wio das I'nu'r durch Holzschoite." Dasselbe 
Thema wird uoeii an vieU^n andern Stellen hehandelt, wie 
XIL '2m S. 327 fg., Xll. i>70 S. 401 fg., XII, 276 S. 482 fg., 
XII, 2US S. fjSl fo-., und besonders eindringlich durch die 
Sclilurserzählung des Mokshadharma XII, i]b'2 — ^>()5 S. 862 fg. 
von dem Hrahmanen, welcher nach der höchsten Pfhcht forscht 
und von einem Xaga (Schlangenfürsten) durch die Erzählung 
von dem Eingange des auf alle Wünsche verzichtenden und 
nur vom Ährenlesen lebenden Muni in die , Sonne darüber 
belehrt wird, dafs die höchste aller Pflichten die Entsagung 
sei. So führt denn Entsagung zum höchsten Glück, Weltliebe 
zu Leiden ohne Ende; XII, 329,8. 31. 32 S. 727 und 729: 
„\\ er das Unglück hat, Mensch geworden zu sein und daran 
hängt, der ist ein Tor; nicht vermag er sich vom Leid zu 
befreien. Kleben an der Welt heifst Leiden . . , Wie Fische 
in einem grofsen Netz gefangen und aufs Trockne gezogen 
werden, so lassen sich die Menschen in dem Netz der Welt- 
liebe fangen und geraten dadurch in grofses Leid. I'amilie. 
Kinder, Weiber, Leil) und Vermögen wisse alles als dir fremd 
und unbeständig. Was ist dein? Das gute und das böse 
Werk." 
Es ist begreiflich, wie bei dem friedfertigen und kon- 
templativen Sinn der Inder ihre Ethik eine Vorliebe für das 
quietistische Verhalten zeigt, welches mehr durch Dulden und 
Entsagen, als durch tatkräftiges Handeln die Schuld des 
Daseins abträgt. Letzteres ist der Weg der Aktivität (jjra- 
nitii), ersteres der der Passivität (nivriiti), ein Gegensatz, 
der im Epos vielfach erörtert wird. Der Schöpfer hat beide 
Satzungen, die der Passivität und Aktivität, verordnet (XII, 
:;40,99 S. 792j. Die Aktivität führt zur Wiederkehr ins Erden- 
dasein, die Passivität zu einem Scheiden ohne Wiederkehr 
(XII, 340,76 S. 790 und XII, 347,82. 83 S. 839, wo der Ausdruck 
fiKnaravritti - ih(rlahliah seltsamerweise in entgegengesetztem 
Sinne verwendet wird); „darum kleben nicht mehr an den 
^^'erken alle die, welche das jenseitige Ufer schauen; aus 
Wissen bestehend ist jener Purusha, nicht ab(T aus Werken 
bestehend" (XIV, 51,32 S. 994); „denn als Auslöschung 
iu'nvämm) aller Pllichten ist die Passivität das Höchste, daher, 
6* 
g4 IV. Ethik und Eschatologie. 
wer sich der Passivität ergibt, als ein durch und durch 
Besehgter (nirvrita) dahinwandelt" (XII, ;>o9,67 S. 776). 
In hewufstem Gegensatze zu diesem dem indischen Geiste 
vorwiegend gemäfsen ethischen Verhalten steht der Gedanke, 
welcher das eigentliche Grundthema der Bhagavadgitä bildet, 
dafs man nicht den Werken, sondern nur dem Lohn der 
Werke entsagen soll (VI, 36,12 S. 85). Den Arjuna, welcher 
beim Anblick so vieler Freunde und Verwandten im feind- 
lichen Heere sich nicht entschliefsen kann, gegen sie zu 
kämpfen (VI, 25 S. 33 fg.), belehrt der als sein Freund und 
Wagenlenker Krishna verkörperte, höchste Gott Vishnu nicht 
nur darüber, dafs Leben und Tod das wahre Wesen des 
Atman nicht berühren, sondern weiter auch darüber, dafs 
er als Kshatriya der Pflicht seiner Kaste nachkommen und 
kämpfen mufs (VI, 26 S. 38 fg.), dafs es nicht die Aufgabe 
ist, vom Handeln abzulassen, da die Werke doch einmal 
unvermeidlich und zum Bestände der Welt notwendig sind, 
dafs es vielmehr die höchste Aufgabe ist, das pflichtmäfsig 
obliegende Werk um seiner selbst willen und ohne Hoffnung 
auf Lohn, ohne egoistisches Interesse zu vollbringen; VI, 
27,19 S. 47: „Darum betreibe allezeit die obliegende Pflicht 
ohne Anhänglichkeit; denn wer ohne Anhänglichkeit seine 
Pflicht erfüllt, der Mann erlangt das Höchste." 
2. Kasten und Iqrama's. 
Die Weisen des alten Indiens haben sich nicht darauf 
beschränkt, Moral zu predigen, sondern waren ernstlich 
bestrebt, das ganze Leben des Volkes durch sittliche Gesetze 
zu regeln und mit ihnen alle Verhältnisse des Lebens zu 
durchdringen. Nicht nur, dafs sie durch die Einteilung des 
gesamten Volkstums in die vier Kasten der Brähmana's, 
Kshatriya's, Vai^ya's und Qüdra's (Priester, Krieger, 
Kolonisten und Diener) in ihrer Art eine Lösung des sozialen 
Problems, nach der wir immer noch suchen, gefunden haben, 
sie waren weiter auch bemüht, durch die vier Arramas 
(Lebensstadien) das ganze Leben der drei obern Kasten als 
2. Kasten und Arraiiia's. g5 
fine Vorbereitung auf das Jenseits zu regeln und zu einer 
rid saUdis zu gestalten. 
i'ber die hii^toriselie Entstehung der Kasten und Ä(^ra- 
ina's haben wir oben 1, 1 S. 159 — 172 zur Einleitung unserer 
Bespreeluuig der Brahnianazeit ausführlich gehandelt, und 
\\ erden hier, da die \'erhältnisse in der epischen und der ihr 
iKU'li feigenden Periode in allem wesentlichen dieselben ge- 
blieben sind, nur einige zur nähern Charakteristik geeignete 
Züse aus ]\hinu und Mahabharatam nachzutragen haben. 
Beide Urkunden schreiben den vier Kasten auf Grund des 
Purushaliedes Rigveda X, 90 einen götthchen Ursprung zu, 
indem sie dieselben aus Mund, Armen, Schenkeln und Füfsen 
des Urmenschen hervorgehen lassen. Manu 1,31 : ,,Aber zum 
Gedeihen der Welten liefs er aus seinem Munde, seinen Armen, 
seinen Schenkeln und seinen Füfsen den Brahmanen, den 
Kshatriya, den Vai^ya und den Qüdra hervorgehen." Mahäbh. 
XI 1, 296,6 S. 573: „Aus seinem Munde gingen die Brahmanen 
hervor, o Freund, aus seinen Armen die Kshatriya's, aus seinen 
Schenkeln di»^ reichen [Vai^ya's], o König, aus seinen Füfsen 
die dienenden [Qüdra's]." 
Dieser Anschauung steht eine andere entgegen, nach 
welcher Kshatriya's, Vai^ya's und ^üdra's aus der Brahmanen- 
kaste durch Abfall von ihrer Lebensordnung hervorgegangen 
sein sollen; ^lahäbh. XII, 188,10 — 13 S. 163: „Ursprünglich 
besteht keine Verschiedenheit der Kasten, brahmisch ist diese 
ganze Welt der Lebenden, aber das, was ursprünglich von 
Gott Brahman geschaffen war, das ist infolge der ^^"erke in 
das Kastenwesen auseinandergegangen. Sie, welche Lust und 
Genufs lieben, scharf, zornmütig und Freunde von Gewalttat 
sind, ihre ursprüngliche Pflicht vergessen und ihre Glieder 
mit Blut befleckt haben, das sind Brahmanen, welche in das 
Kshatriyatum herabgesunken sind. Jene andern, welche aus 
der Viehzucht ihren Unterhalt gewinnen, von gelber Farbe*, 
* Die aus der Anwendung des Wortes rurna, Farbe, Kaste, um auch 
den Unterschied zwischen Brähmana's, Ksliatriya's und Vai(;ya's zu bezeich- 
nen, sich erkhirende Fiktion, als wenn die drei arisclien Kasten {.4n/«'s) nicht 
nur von den Cüdra's, sondern auch untereinander durch die Hautfarbe 
g(3 IV. Ethik und Eschatologie. 
vom Ackerbau lebend, auch sie betreiben nicht mehr ihre ur- 
sprünghche Obhegenheit, sondern sind Brahmanen, welche in 
das Vaigyatum herabgesunken sind. Und endlich jene, welche 
an Schädigung und Lüge sich freuen, liabgierig sind und alle 
Geschäfte zu ihrem Unterhalt betreiben, die schwarzen, von 
der Reinheit abgefallenen, das sind Brahmanen, welche in das 
^üdratum herabgesunken sind." 
Über die PfHchten der Kasten begegnen wir liäufigen Er- 
örterungen, welche im wesentlichen übereinstimmen, sowohl 
im Epos als auch im Gesetzbuche des Manu: ist doch letz- 
teres seiner ganzen Anlage nach eine Darstellung der in Kasten 
und A^-rama's zu übenden Pflichten, sofern Buch II vom 
Brahmacärin, III — V vom Grihastha, VI vom Yänaprastha 
und Sannyäsin, VII — VIII vom Kshatriya und die übrigen 
Bücher nachtragsweise vom Vai^ya und Qüdra, von der Ehe, 
den Mischkasten, Subsistenzmitteln und ähnlichem handeln. 
Eine kurze Charakteristik der Kastenpflichten findet sich 
Mahabh. XII, 296,20 S. 574 fg.: „Annehmen von Gaben, für 
andere opfern und den Veda lehren, das sind die besondern 
Pflichten der Brahmanen, die Beschützung ziert den Kshatriya, 
Ackerbau, Viehzucht und Handel liegen dem Vai^ya ob, die 
Zwiegeborenen zu bedienen ist die Pflicht des Qüdra." Ein- 
gehender wird dasselbe Thema Manu 1,88 fg., Mahabh. VI, 
42,42—44 S. 104, XII, 189,2—7 S. 1G5 und an manchen 
andern Orten behandelt. Die Beschäftigungen, welche den 
verschiedenen Kasten erlaubt oder verboten sind, werden XII, 
294,3— G S. 5(36 besprochen. Die eigentlichen Träger des 
geistigen Lebens, wenn dasselbe auch vielfache Anregungen 
aus den Kreisen der Kshatriya's empfangen haben mag, sind 
doch vor allen andern die Brahmanen, und da es im Grunde 
die geistigen Strömungen sind, welche jedes Zeitalter be- 
herrschen und ihm das Gepräge aufdrücken, so finden wir es 
begreiflich, wenn der Brahmane (Manu 1.93 und 99 und an 
vielen andern Orten) als der eigentliche Herr der Schöpfung 
unterschieden wären (oben I, 1 S. 164), findet sicli auch ausgesprochen 
Mahabh. XII, 188,5 S. 162: „Die Farbe der Brahmanen ist weifs, die der 
Kshatriya's rot, die der Vai^ya's gelb und die Farbe der Qüdra's schwarz.'^ 
2. Kasten mul A^-rama's. 87 
gefeiert wird, und von der l'bormaclit der Bnvhmanen, von 
<ler furclitbaron AVirkunii;, don ihr Flucli auf (Jötter wie auf 
Monsohcn ausübt, exorbitante Beispiele berichtet werden, von 
denen eine sehr lesenswerte Sammluns; ^[ahabh. XII, 342, 
•22 — (J3 S. 803 — 811 unserer Übersetzung zu finden ist. 
Im (Gegensätze zu den Brahmanen als den geistigen Füll- 
rem der Nation, zu den Kshatriya's, denen die Beschützung, 
und den Vaic^ya's, denen der Erwerb als göttlich befohlene 
Pflicht unermüdlich eingeschärft wird, ist der CJüdra nach wie 
vor vom Opferkultus und vom Vedastudium ausgeschlossen 
und. mag er Sklave oder frei, gekauft oder nicht gekauft 
sein (Manu \'III, 413), auf das Verharren im Dienste der 
obern Klassen angewiesen. Ist er hierin treu, so eröffnet sich 
auch ihm der A\ eg zur Seligkeit (uaihpryasam)^ Manu IX, 
334, und er kann bei der nächsten Geburt zu einer hiiliern 
Kaste gelangen. „Auch ein (^'üdra", heifst es Mahäbh. XI f, 
1^)3,15 S. 505, „der mit bezähmten Sinnen immer gehorsam 
ist, wird mit Recht dafür geehrt." XII, 293,1 S. 563 wird 
,,ein wohlanständiges, von Liebe geleitetes Betragen von Seiten 
der drei Kasten gegenüber dem Kastenlosen [Qüdra]" als 
Vorschrift aufgestellt. Schon die Berührung mit den obern 
Kasten veredelt ihn : „A\ ie ein Köri}er auf dem Berge des 
Sonnenaufgangs durch seine Nähe [von der Sonne] erglänzt, 
so erglänzt der Kastenlose durch die Nähe der Edlen. Denn 
wie ein weifses Kleid durch irgend eine Farbe gefärbt wird, 
so nimmt auch er [der Cüdra] die Farbe [der Umgebung] 
an, das kannst du mir glauben." Auch die Behandlung der 
:Mischkasten, deren eine grofse Zahl Xli, 296,8—9 S. 573 auf- 
gezählt wird, war, so sehr auch VI, 25,43 fg. S. 37 vor einer 
Vermengung der Kasten als der Wurzel alles Übels gewarnt 
wird, in der Regel eine milde, und die Kinder wurden dann 
wohl, \vie schon oben I, 1 S. 162 erwähnt wurde, einfach der 
Kaste des Vaters zugerechnet; XII, 29(),13 S. 574: „Wenn 
die Muni's Söhne hier und da ii/atr(( taira, d. h, mit Weibern 
niederer Kasten) gezeugt haben, so haben sie ihnen doch durch 
ihre Askese den Rang der Rishi's wiedererworben." Über- 
haupt sind die moralischen Pflichten für alle Kasten gleich- 
mäi'sig verbindlich (XII, 296.23 fg. S. 575) : „Der Mensch vei- 
88 IV. Ethik und Eschatologie. 
dient weder um seiner Geburt noch um seiner Werke willen 
Tadel, welcher, wenn auch durch seine Gehurt befleckt, kein 
böses Werk tut" (XU, 296,33 S. 576) ; „Alle Kasten, o Könio-, 
wofern sie pflichtmäfsige Werke geübt, wahrer. Reden sich 
l)eflissen und pflichtwidrige Härte gegen alles Lebende ge- 
mieden haben,, gehen in den Himmel ein, daran darf nicht 
gezweifelt werden" (XII, 296,39 S. 576); „Denn die, welche 
auf mich vertrauen", spricht Krishna als Allgott VI, 33,32 
S. 72, „auch wenn sie von schlechter Geburt sind, auch wenn 
sie Weiber, oder Vai^ya's oder, (^üdra's sind, auch solche 
gehen den höchsten Gang." Wie schon das Urchristentum 
die Unterschiede von Rasse, Stand und Geschlecht aufhob, 
weil sie alle eins in Christo sind, so führt hier die Upani- 
shaderkenntnis von der Einheit des in allem Lebenden ver- 
körperten Atman zur Durchbrechung der Kastenvorurteile, und 
wie diese im Prinzip ausgesprochene Gleichheit aller in der 
christlichen Welt die Abschafiung der Sklaverei und die 
soziale Gleichstellung von Mann und Weib zur Folge gehabt 
hat, so war es auf indischem Boden dem Buddhismus vor- 
behalten, die Konsequenz der Vedäntaanschauungen zu ziehen, 
sich mit seiner Predigt an alle zu wenden und dadurch zu 
einer dem Christentume ebenbürtigen und an Anzahl der Bc- 
kenner noch üljerlegeuen Weltreligion zu werden. 
Jedes lebende Wesen „von Gott Brahman an bis zum 
Grashalm hinab", wie die häutige Formel lautet, ist eine Ver- 
körperung des Atman, und so auch jeder Angehörige der 
^üdrakaste, wie der Vers besagt: 
Brahman die Fischer und Knechte, 
Brahman sogar die Spieler sind, 
und es ist nicht abzusehen, warum nicht auch ein Qüdra sich 
der grofsen beseligenden Wahrheit: aliani hrulmia asmi, „Ich 
l)in Brahman" bewufst werden sollte, zumal sich mit der von 
Käthaka-LIpanishad ab hervortretenden theistischen Auffassung 
des Atman als notwendige Begleiterscheinung wie im Christen- 
tum, so auch in Indien, das Dogma von der Gnadenwahl ein- 
gestellt hatte (Kathaka-Up. 2,23): 
'2. Kasten iiiul Arramu's. 3<) 
Nicht durch Belehrung whd crhuigt ilt-r Atniaii, 
Nicht durch Verstund und viele Schriftgelehrtheit; 
Nur wen er wählt, von dem wird er hegrift'en : 
Ihm macht der Atman offenbar sein Wesen. 
Abrr der Hrahiiiaiiisnius war zu sehr in den Fesseln geheiligter 
Traditionen befangen, um diesem Gedanken praktische Folge 
zu geben, und so l)lieb nach wie vor der r^Cidra von allem 
hidiern (Geistesleben, und so auch von der Teilnahme an der 
Relioion ausgeschlossen. Um so lebendiüer war die Sorge 
für das Seelenheil der drei obern Kasten. Ihr ganzes Leben 
sollte sich zu einer Stufenfolge von ^Igramas, Lebensstadien, 
wörtlich: l'bungsstadien, gestalten, in welchen der Zwie- 
geborene (dv/ja, d. h. der durch Aufnalime bei einem Lehrer 
und Lmgürtung mit der heiligen Opferschnur zum zweiten- 
mal geborene) in allmählicher Läuterimg vom \\'elthange 
seiner «nvigen Bestimmmig entgegenreifen sollte. Jeder Bräh- 
mana, Kshatriya und Vaiyya sollte zunächst 1) als Bralima- 
cäriu (Brahmanschüler) bei einem Lehrer eintreten, in gehor- 
samer Ptlichterfüllung, Mäfsigkeit und Keuschheit verharren 
und durch Lernen des Veda das geistige Gepräge für sein 
ganzes künftiges Leben empfangen. Nach beendigter Lehr- 
zeit sollte er sodann 2) als Grihasiha (Hausvater) eine Ehe 
seliliefsen, Nachkommen erzeugen, die sechs Pflichten des 
Lehrens und Lernens, Opferns und Opfernlassens, Gebens und 
Nehmens ausüben und die fünf täglichen Pflichten gegen die 
Götter, Rishi's, ]\Ianen, Menschen und Tiere, durch Opfern, 
Vedastudium, Totenspende, Almosengeben und Fürsorge für 
<lie Tiere erfüllen. Wenn aber das Alter herannaht, wenn, 
wie es übereinstimmend Manu 6,2 und Mahabh. Nil, 245,4 
S. o75 heilst, ..der Hausvater an sich Runzeln und graue 
Haare 1)emerkt und die Kinder seiner Kinder sieht, dann soll 
er in den Wald übersiedeln", um 3) als Vünaprastha (Wald- 
einsiedler) sich durch mehr und mehr gesteigerte Askese von 
den Schlacken der Welt liebe zu reinigen. „In der Regenzeit 
geben sie sich dem Regen preis, im Winter begeben sie sich 
ins Wasser, im Sommer setzen sie sich den fünf Gluten [der 
Sonne und vier angezündeten Feuern] aus, und zu jeder Zeit 
90 i^''- Etliik und Escliatologie. 
bescliriinken ^ic ihre Ernährung" (Mahäbh. XII, 245,10 
S. 37(3 fast Avörthcli wie Manu VI, 23). — „Nachdem er (XII, 
246,3 S. 379) in den drei gesellschaftlichen Stadien sich als- 
bald von dem Sündenschrautze gereinigt hat, soll er auf das 
höchste Ziel mit unvergleichlicher Pilgerschaft hinpilgern. "^ 
Dann wird er 4) ein Sainu/äsin, „einer, der alles von sich ge- 
worfen hat" und daher, weil ohne Heimat, Farivrajalm, Pilger, 
weil ohne Besitz, Blühslin, Bettler heifst. In diesem letzten 
Lebensstadium soll der Greis, der als solcher nach unserm 
Gefühl l'remder Hilfe ganz besonders bedürftig sein würde, 
allein und schweigend, ohne Wohnsitz und ohne Subsistenz- 
mittel umherpilgern, „sich vor der Volksmenge wie vor einer 
Schlange, vor dem Wohlbehagen wie vor der Hölle und vor 
den Weibern wie vor einem Kadaver scheuend" (XII, 246,13 
S. 380) und frei von Begehren, gelassen und in alles ergeben, 
seine Auflösung abwarten. „Er freue sich nicht auf den Tod, 
er freue sich nicht auf das Leben, sondern warte auf seine 
Zeit, wie der Diener auf den Befehl" (iinlcram, wie Mahäbh. 
XII, 246,15 = 8929, beide Ausgaben und Manu VI, 45 mehrere 
Handschriften lesen). 
Neben der ausführlichen Behandlung der vier Agrama's 
bei Manu II — VI stehen zaldreiche Besprechungen derselben 
im Epos, von denen namentlich die XII, 243—246 (S. 368—382 
unserer Übersetzung) vielfach mit Manu wörtlich überein- 
stimmt. Eine kürzere Darstellung aus XII, 191 — 192 S. 169 — 
176, welche ein besonderes Interesse hat, weil sie in Prosa 
vorliegt und vermutlich aus einem Dharmasütram herüber- 
genommen ist, wollen wir hier unter Weglassung einiges Un- 
wesentlichen mitteilen. 
1) Der Brahmacärin. ,,Vor Zeiten wurden von dem 
erhabenen Gotte Bralimän, da er das Heil der Welt im Auge 
hatte, um der Erhaltung der Pflicht willen die vier Lebens- 
stadien vorgezeichnet. Hierbei bezeichnet man als das erste 
Lebensstadium das Wohnen in der Familie eines Lehrers. Es 
besteht darin, dafs man sein Selbst vollständig durch Rein- 
heit, Weihen, Bezähmung und Gelübde bändigt, beide Dämme- 
rungen und in ihnen die Gottheiten der Sonne und des Feuers 
verehrt, Trägheit und Schlaffheit fahren läfst, durch Begrüfsung 
2. Kasteu und A(;rama's. 91 
des Lehrers sowie durdi Studieren und Hören des Veda sein 
inneres Wesen läutert, die drei liigliclien Waschungen be- 
treibt, durch Pflege des Brahniacaryaleuers, durch (Jehorsam 
gegen den Lehrer und durch beharrliches Betteln und p]r- 
nährung durch Erbetteltes vollständig zum Bewul'stsein seiner 
innern Seele gekommen ist, ohne Widerstreben W^ort und 
l^efehl des Lehrers befolgt und das dafür durch die Gnade 
des Lehrers empfangene Vedawissen als das Höchste schätzt." 
2) Der Grihastha. „Für solche, welche aus der Schüler- 
schaft zurückkehren, sich eines guten Lebenswandels be- 
fleifsigen und nach der Frucht eines gemeinschaftlichen Wandels 
in der [Ehe-jPflicht verlangen, wird der Wandel als Haus- 
vater vorgeschrieben. Denn in ihm wird das Gute, Nützliche 
oder Angenelime erlangt. Indem man mit Rücksicht auf die 
Erlangung dieser Dreiheit in vorwurfsfreier Tätigkeit zu Reich- 
tum gelangt, soll man mittels dieses Reichtums — mag er 
vorwiegend durch Unterricht im Veda gewonnen sein oder 
durch einen Brahmanweisen erzaubert, oder aus den Schätzen 
der Berge erworben, oder infolge Opferns an Götter und Manen 
und Betreibens der Bezähmung durch die Gnade der Götter 
verliehen sein — als Hausvater den Hausvaterstand antreten. 
Denn diesen erklärt man für die Wurzel aller Lebensstadien. 
Denn auch für diejenigen, welche in der Familie des Lehrers 
wohnen bleiben, und für die andern, welche als Pilger umher- 
ziehen und der zwangsmäfsigen Pflicht eines unternommenen 
Gelübdes obliegen, auch für diese werden die Zuteilungen von 
Almosen und Spenden aus dem Hausvaterstande bestritten, 
lud auch für die Waldeinsiedler ist eine Beisteuer von Sachen 
[durch den HausvaterJ angebracht, denn so wenigstens pflegen 
meist diese Guten, mit guter W^egekost versehen und nur 
mit Vedastudium beschäftigt, zum Besuche von heiligen Bade- 
plätzen und zur Besichtigung der Gegenden die Erde zu durch- 
streifen, und ihnen gebührt gastliche Aufnahme durch Auf- 
stehen, Entgegengehen, Begrüfsen, nichtverdriefsliches Spenden 
von Worten und Anbieten eines angenehmen, stärkenden 
Sitzes und eines angenehmen Lagers nebst Verpflegung." 
3) Der Vänaprastha. „Die W^aldeinsiedler nun aber 
sind diejenigen, welche ihre Pflicht dadurch betreiben, dafs 
92 IV. Ethik und Eschatologie. 
sie heilige Badeplätze und Fliifsmündimgen besuchen, während 
sie in abgelegenen, von Antilopen, Bütteln, Ebern, Tigern und 
Waldelefanten belebten Wäldern Askese üben, und indem sie 
den Genufs der im Dorfe üblichen Nahrung und Kleidung auf- 
geben, auf wildwachsende Kräuter, Früchte, Wurzeln und 
Blätter beschränkt, mancherlei kärgliche Nahrung Ihiden, hin- 
gegen, an einem Orte weilend, auf Erde, Steinen, Kies, Ge- 
röll, Sand und Asche sich lagern, ihren Körper in Gräser, 
Binsen, Felle und Baumbast kleiden, Kopfhaare, Bart, Nägel 
und Körperhaare wachsen lassen, zu bestimmter Zeit die Ab- 
waschungen vornehmen, in nicht zu versäumenden Zeiten 
Spenden und Opfer darbringen, übrigens vor Brennholz, vor 
Darbringung von KuQagras und Blumen, sowie vor Ab- 
waschung der Opfergeräte Ruhe haben, durch den Widerstand 
gegen Kälte, Hitze, Regen und Wind die ganze Haut voll 
Risse haben, durch die mannigfachen Askesen, Observanzen, 
W^anderungen , Befolgungen und Obliegenheiten ganz ausge- 
trocknet an Fleisch, Blut, Haut und Knochen sind, und, die 
Standhaftigkeit über alles schätzend, der ewigen Realität er- 
geben, ihren Körper dahinschleppen. Wer aber mit Strenge 
diesen von den Brahmanweisen vorgeschriebenen Wandel 
einhält, der verbrennt wie ein Feuer seine Sünden und erobert 
schwer zu erobernde Welten." 
4) Der Sannyäsin (Bltilsltu, Parivn\jalxa). „Was nun 
endlich den Lebenswandel der Parivräjaka's betrifi't, so steht 
es damit folgendermafsen : Indem sie Opferfeuer, Habe, Weil) 
und Anhang im Stich lassen und in Anhänglichkeit an den 
Ätman die Fesseln der Neigung abschütteln, wandern sie 
heimatlos umher, und während sie Erdschollen, Steine und 
Gold für gleich achten, ihren Geist nicht mehr an die Pro- 
dukte der Dreiheit [des Guten, Nützlichen, Angenehmen] 
hängen, mit gleicher Gesinnung auf Feinde, Freunde und 
Gleichgültige blicken, gegen Pflanzen, Lebendgeborenes, Ei- 
geborenes, Schweil'sgeborenes und Keimgeborenes, gegen alle 
diese Wesen in Gedanken, Worten und Werken ohne Falsch 
sind und ohne eigene Behausung Berge, Sandbänke, Baum- 
wurzeln oder (Jöttertempel als Aufenthalt wählen, so mögen 
sie um des Luterkommens willen zwar eine Stadt oder ein 
2. Kasten und Ai^rama's. 93 
Dorf aufsuchen, so jedoch, dafs sie in einer Stadt nur fünf 
Nächic, in einem Dorfe nur eine Nacht verweilen, und wenn 
sie, um ihr Leben zu fristen, einkehren, so sollen sie nur die 
Häuser von unbescholtenen Zwiegeborenen besuchen, um von 
dem in die Ahnosenschale gelegten, nichtgeforderten Almosen 
zu leben, abstehend von Liebe, Zorn, Stolz, Habgier, Ver- 
blendung, Lamentieren, Trug, Nachrede, Hochmut und Schä- 
digung.'" — 
So gewifs der Schwerpunkt unseres Seins nicht in dem 
Erdendasein, sondern in dem der Erkenntnis verschlossenen 
Gebiet jenseits desselben liegt,' so gewifs verdient der Ver- 
such, wie er in den vier A9rama's vorliegt, das ganze Erden- 
leben zu einer Vorschule für die Ewigkeit zu gestalten, auch 
von der höchsten Kulturstufe aus, Anerkennung und Bewunde- 
rung. Das indische System verlangt nicht das Unmögliche, 
den Menschen schroff und unvermittelt von dem uns an- 
geborenen \Velthange loszureifsen. Es gibt ihm auf der Stufe 
des Grihastha Gelegenheit, sich auszuleben und durch den 
Genufs der Erdengüter deren innere Wertlosigkeit inne zu 
werden, um erst dann in vorgerücktem! Alter als Vanaprastha 
sich der systematischen Abtötung der Sinnlichkeit hinzugeben 
und endlich, nachdem diese erreicht ist, als Sannyäsin im 
höchsten Alter völlig losgelöst von allen Erdenbanden schon 
gar nicht mehr der V^elt anzugehören und so, auf das beste 
vorberöitet, aus dem Leben zu scheiden. Man wird somit von 
den vier Ägrama's dasselbe sagen dürfen, wie von so manchen 
Vorschriften des Evangeliums, dafs sie zwar keineswegs direkt 
nachahmenswert , aber doch in gewissem Sinne vorbildlich 
sind, sofern die Gesinnung, welche sich in ihnen ausspricht, 
in andere Form gekleidet, für jedes Zeitalter ihren Wert 
behalten wird. 
Übrigens sclieint auch von den A^rama's zu gelten, was 
auf jede menschliche Einrichtung zutriH't, dafs mit der Zeit 
der Geist, aus dem sie entsprungen waren, erstirbt und nur 
noch die leere Form übrig bleibt, welche dann zu neuen, 
lebendigem Bildungen fortdrängt. Schon die Qveta^vatara- 
Upanishad wendet sich mit ihren Belehrungen an einen Kreis 
von Ati/ärramin's, d. h. von solchen, welche über die A^rama's 
94 IV. Ethik und Escliatologie. 
erhaben sind, und im Epos erheben sich manche Stimmen, 
wek'he diese feste Lebenseinrichtung mifsbilhgen. 
Zunächst nahm man Anstols an der dem Grihastha ob- 
liegenden Pflicht des Opferns, weil sie mit Tiertötung ver- 
bunden ist, und stellte ihr die Forderung der ah/itsä, der 
NichtSchädigung alles Lebenden entgegen, und wenn die 
Bhagavadgitä VI, 27,14 fg. S. 47 die Opferwerke zum Bestände 
der Welt für notwendig erklärt und nur verlangt, dafs sie 
ohne Wunsch nach Lohn gebracht werden, wenn XII, 268 
S. 449 fg. Syümaragmi dem Kapila gegenüber den Opferkultus 
verteidigt durch den Hinweis darauf, dafs der Veda ihn gebiete 
und für seine Befolgung himmlischen Lohn in Aussicht stelle, 
so erklärt sich XII, 265 S. 436 der König Vicakhyu gegen 
die Tiertötung und will nur Opfer von Milch und Blumen 
zulassen. Ebenso sprechen sich XII, 272,20 S. 473 der als 
Gazelle erscheinende Gott Dharma, XIV, 28,16 S. 928 derYati 
im Gespräch mit einem Opferpriester und XIV, 50,2 S. 986 
Gott Brahmän einstimmig dahin aus, dafs NichtSchädigung 
aller Wesen das gröfste und oberste aller Gebote sei. Von 
Interesse ist in diesem Zusammenhange auch das Gespräch 
XII, 267 S. 445 fg., in welchem Dyumatsena die Unentbehrlich- 
keit der Todesstrafe zur Zügelung der Verbrecher behauptet, 
während Satyavant ihre Abschaffung oder doch möglichste 
Einschränkung empfiehlt. 
Aber nicht nur das Opfer als Pflicht des Grihasth^a, auch 
das dem Vänaprastha als wesentliche Beschäftigang obliegende 
Tapas, die Askese, wird an vielen Stellen der Kritik unter- 
zogen. Allerdings wird XII, 295 die Askese zur A])tötung 
des beim Grihastha sich entwickelnden Egoismus empfohlen 
(Vers 2) und als der Weg zum Himmel gepriesen. Allerdings 
heifst es XII, 298,25 S. 584: „Wie in einem Tongefäfse, wenn 
es nicht gebrannt ist, das Wasser sich verläuft, so verliert 
sich der Körper in die Sinnen weit, wenn er nicht durch 
Askese gebrannt ist." Aber an andern Stellen wird zwischen 
einem sündhaften und einem sündlosen Tapas unterschieden 
(V, 43,14 S. 12), und XII, 221,4—5 S. 284 heifst es: „Was 
die Leute für Tapas halten, indem man einen Halbmonat 
durch fastet, das ist vielmehr nur eine Schädigung des Leibes- 
2. Küsten und Arraunis. <)5 
ht'standes iiml wird noii guten Menschen niclit als l'apas 
angesehen. Entsagung und Demut, diese gelten als höchstes 
Tapas; [wi'i- sie hat], der hat das fortwährende Fasten, der 
hat die beständige Keuschheit"; ebenso XH, 217,17 S. 267 : 
„Der Brahmanwandel und die Nichtschädigung heifst das 
körpcn'liche 'l'apas, die Bezähmung von Rede und Gedanke 
wird zutrelfend das geistige 'l'apas genannt." Tn treffender 
Weise wird diese Wahrheit illustriert durch die schöne Er- 
zählung XII, 2G1 — 264 von dem Asketen Jäjali, welcher im 
A\'alde wie ein Baumstamm stehen bleibt, bis die Vögel auf 
seinem Kopfe nisten und brüten, und der von Tuladhära, 
einem einfachen Krämer in Benares, der niemanden über- 
vorteilt, darüber belehrt wird, dafs alle Askesen, Opfer und 
(jiaben nicht so hoch zu schätzen sind wie Gerechtigkeit und 
ISchonung aller lebenden Wesen. Wie ein Fortschritt von einer 
(Generation zur andern erscheint es, wenn XII, 175 S. 118 fg. 
der Vater seinem Sohne die vier A(;rama's empfiehlt und dieser, 
auf che Nichtigkeit des Daseins hinweisend, die Entsagung 
als das Höchste preist. Und so heifst es auch XII, 326,26 — 27 
IS. 713 fg.: „Wenn aber durch viele Geburten im Sansära die 
(Jrgane zubereitet worden sind, kann einer, der reinen Geistes 
ist, die Erlösung schon im ersten Lebensstadium erlangen. 
Hat aber einer diese erreicht, so fragt sich, welchen Zweck 
die drei übrigen Lebensstadien noch haben können für einen, 
der erlöst, wahrheitschauend, weise und nach dem Höchsten 
strebend ist." 
o. Krkenntuis und Yoga als W'eg-e zum Heil. 
Alles moralische Verhalten, alle Gerechtigkeit, Liebe und 
Entsagung hat für den Täter nach indischer Anschauung mu- 
<hMi Wert, ihn von den Fesseln der Weltliebe zu befreien 
und so die Erreichung des höchsten Zieles vorzubereiten. 
Dieses höchste Ziel und mit ihm die Erlösung vom empiri- 
schen Dasein besteht in der Innewerdung des Atman, welcher 
ringsum in der unendlichen Welt und el)enso voll und ganz 
in dem eigenen Innern zu linden ist. Wim- des Atman iime 
geworden ist und sich infolgedessen als identisch mit alhnn 
96 iV. Ethik und Eschatologie. 
Lebenden weil's, der wird kein Wesen schädigen, denn er 
wird nicht, wie der schöne schon oben S. 16 zitierte Vers 
der Bhag■a^'adgltä lautet, „sich selbst durch sich selbst ver- 
letzen wollen". Er wird aber auch von allem Begehren, von 
dem ganzen Dürsten nach Dasein sich frei fühlen, denn weil 
er sich als alles weil's, bleibt nichts übrig, w^as er noch begehren 
könnte : üptalcäniasya lai, sprihä, „was kann wünschen, wer alles 
hat", wie es in der Mcindükya-Kärikä 1,9 (Sechzig Upanishad's 
S, 579) heilst. Dieses höchste Ziel, die Ergreifmig des Ätman, 
kann, wie schon oben S. 15 fg. vorgreifend auseinandergesetzt 
wurde, auf zwei Wegen erreicht werden, einmal durch die 
Keflexion (säriJcliyam), dai's alles mit dem eigenen Atman 
identisch, oder nach späterer, schon vom Sankhyarealismus 
beherrschter Anschauung, dafs alles objektive Sein und mit 
ihm der eigene Leib nicht das wahre Ich, der Purusha ist, 
sondern nur aus der Prakriti stammt, andererseits aber kann 
der Ätman, der Purusha durch Abkehr von der ganzen Aufsen- 
welt und jene Vertiefung in das eigene Innere gefunden 
werden, welche Yof/a heilst, schon den Upanishad's bekannt 
ist, im Epos immer wieder als der kürzeste Weg zur Erlösung- 
gefeiert wird und späterhin, wie wir sehen werden, zu einem 
eigenen philosophischen Systeme ausgebildet wurde. Säii- 
khyam und Yoga, Reflexion und Verinner lichung , sind somit 
zwei verschiedene Wege, welche zu demselben Ziele, der Er- 
fassung des Ätman führen; daher Bhishma XII, 300,7—8 
S. 593 sagt: „Beide Lehrmeinungen halte ich für wahr, Freund 
Yudhishthira. Für einen, der diese beiden von Kundigen 
angenommenen Lehren kennen gelernt hat und ihnen Vor- 
schrift smäfsig nachlebt, o Fürst, können sie beide die Führer 
zum höchsten Ziele werden." Wir haben, im Anschlufs an 
das oben S. 15 fg. Beigebrachte, diese beiden Wege zur Er- 
lösung noch etwas näher zu erläutern. 
„Aus der Erkenntnis entspringt die Erlösung", jncmad 
molishah, XII, 318,87 S. 668; dieser Satz 'ist gleichmäfsig für 
die Atmanlehre der Upanishad's wie für das spätere Sähkhya- 
system in Gültigkeit (vgl. Qankara ad Brahmasütra p. 438,2 
und 916,11, Sankhyasütra 3,23): das Epos, zwischen beiden 
in d(>r Glitte stehend, schillert in seinen Aufserungen nach 
3. Erkenntnis und Voj^a als Woge zum Heil. <)7 
beiden iSoitoii liiiuibcr. ( )!'( ist unter der Eikt^nntnis die alte 
Ipanisliadlelire von der Einheit alles Seienden zu verstehen; 
sie ist naeh Xli, 238,2 Ö. 3ö4 „das Wissen, durch welches 
man die Zweiheit überschreitet": Vers 3: „Durch die Erkennt- 
nis bringt man alle zum (iedeiheii, welche nach der Erlösunü; 
streben"; Vers 10: „Das Höchste und Tiefste wird durch 
die Erkenntnis vou den Wesen erlani>;t, durch das Wissen, 
Freund, wird es von den Geschöpfen erlangt, das Wissen 
ist das höchste Zieh" XIV, 19,12. 19 S. 899: „Durch die 
Erkenntnis alle Wünsche, die körperlichen wie die geistigen 
aufgebend, erlangt er nach und nach das Nirvänam (Er- 
löschen) wie das Feuer, dessen Brenidiolz verbrannt ist . . . 
Wenn er dann als ein solcher Tüchtiger es vermag, sich 
seilest in sich selbst zu vertiefen, dann wird er, einzig dessen 
beflissen, das [höchste] Selbst in seinem Selbste schauen." 
l'nter dieser erlösenden Erkenntnis wird, entsprechend der 
1 bergangsperiode, in der wir uns befinden, im Verlaufe mehr 
imd mehr eine Erkenntnis der fünfundzwanzig Sänkhya- 
prinzipien und der Verschiedenheit des Purusha als des Fünf- 
undzwanzigsten von der Prakriti (dem avyaldam) und ihren 
Evolutionen verstanden. XII, 300,44 S. 628: „Der Fünfund- 
zwanzigste, prakritifreien Wesens, ist derjenige, welcher er- 
weckt wird, und wenn er sich selbst erweckt, so wird er 
al)s<)lut und erlöst." XII, 307,41 S. 632 : „Wer erkennt, wie 
das Unentfaltete zum Entfalteten und das Gunalose zum 
(lunahaften wird, und wer dabei das Gunalose als das Höhere 
erkennt, der wird zu ihm, o Fürst von Mithilä." XIV, 35,48 — 
äO S. 947 : „Als vierundzwanzig und eins, als so viel wird die 
Zahl der Prinzipien gelehrt. Wer nun Entstehen und Vergehen 
aller dieser Prinzipien versteht, der allein unter allen W^esen 
ist weise und gerät nicht in Betörung. W^er nach der Wahr- 
heit alle die Prinzipien, alle die Eigenschaften und alle Götter 
kennt, der schüttelt die Sünde ab und löst die Bindung, der 
geht ein in alle reinen Welten." Er weifs sich als Purusha, 
als blofsen Zuschauer und blickt auf die Schmerzen des 
figenen Leibes wie auf ein Fremdes hin, XII, 286,18 S. 541: 
„Diese Kummer, Furcht und Übermut nach sich ziehenden 
Verblendungen der Lust und des Schmerzes in der Welt 
Deussek, Geschichte der Philosophie. I, iii. ' 
(j^ IV. Ethik und Escliatologie. 
betrachte ich wie ein Zuschauer, da es nur dieser Körper ist, 
der sich in ihnen bewegt." XII, 307,20 S. 680: „Dann wird 
(M- zu einem Reinen, weil er sich von der Prakriti lossagt, 
wenn er als ein Erweckter zu dem Bewufstsein gelangt : « ein 
ander(T bin ich und eine andere ist sie»." Dementsprechend 
wird XII, 301,73 fg. S. 004 fg. geschildert, wie die Sänkhya's 
nach dem Tode durch die Durchgangsstationen von Sonne, 
Wind, Äther, Rajas, Sattvam und Näräyana zum höchsten 
Ätman eingehen; „Den höchsten Atman erreicht habend, zu 
ihm geworden und in ihm sich gründend, fleckenlos werden 
sie der Unsterblichkeit teilhaft und kehren nicht mehr zurück." 
Dieser Methode, durch Reflexion (sänJihyam) zur Erkenntnis 
der Einheit mit dem Atman zu gelangen, steht eine andere, 
A 
nämlich die Ergreifung des Atman durch Abkehr von der 
Aufsenwelt und Einkehr in das eigene Innere mittels des 
Yoga als unmittelbarer und daher besser gegenüber; VI, 30,46 
S. 62: „Der Yogin steht höher als die, welche das Tapas 
üben, höher als die, welche der Erkenntnis leben; der Yogin 
steht auch höher als die, welche die Werke betreiben; darum 
w^erde ein Yogin, o Arjuna." Dieser Hochschätzung des Yoga 
als des kürzesten Weges zur Innewerdung des Atman und 
somit der Erlösung entspricht es, dafs das Epos immer wieder 
auf den Yoga zurückkommt und unermüdlich die Übung von 
Zucht und Selbstzucht als seiner Vorbedingungen, sowie weiter 
als die Mittel seiner Ausführung die rechte Körperhaltung, die 
Regelung des Atmens, die Zurückziehung der Sinnesorgane 
A^on den Aufsendingen, die Fesselung des Manas im eigenen 
Innern sowie endlich die Meditation und die Versenkung in 
das eigene Selbst empfiehlt. Wie in der oben I, 2 S. 343 — 354 
dargestellten Yogatheorie der l'panishad's, so fehlt auch im 
Epos noch die systematische Durchbildung der Yogapraxis. 
Dieser werden wir erst unten in den Yogasütra's begegnen, 
und bescliränken uns daher hier darauf, einige für das Epos 
charakteristische Züge hervorzuheben. Nur kräftige Naturen 
können ohne Schaden den Yoga üben (XII, 300,15 — 19 S. 594), 
und die zu ihm erforderliclie Kraft wird nach XII, 300,43 fg. 
S. 596, vgl. XII, 303,16 fg. S. 615, nur durch eine besondere Art 
der Ernährung sowie durch Überwindung von Zorn, Begierde 
3. Krk(>Miitiiis und Vi){;a als Woffc /um lloil. 99 
1111(1 Eni])lin(lliclikoit in hotreft' der Goo'ensätzo des Lebens 
erliiiigt. \'<)ii <l<Mi zjililreicheu 8chil(leruii,t!;en der Yof>'apraxis 
mijgen einige Proben folgen. \'I, 30,10 lg. S. 59: „Als Yogin 
scliicke er sich an, immerwährend in der Einsamkeit ver- 
harrend, alleinstehend, die Ivegungen seines Herzens bändigend, 
ohne Hofl'nung, ohne umgeben zu sein von den Seinen. An 
einem reinen Orte errichte er für sich einen festen Sitz, nicht 
zu hoch und nicht zu niedrig, überdeckt mit Gewand, Anti- 
lopenfell und Ku^^agras. Daselbst konztmtriere er sein Manas 
auf einen Punkt, unterdrücke die Tätigkeiten des Denkens 
und der Sinne, setze sich nieder auf den Sitz und spanne den 
Yoga an zur Läuterung seines Selbstes. In gleichmäfsiger 
Eichtung Kumpf, Kopf und Hals unbeweglich haltend, bhcke 
or unentwegt auf seine Nasenspitze, ohne nach den Seiten 
hinzusehen . . . Indem man auf alle aus dem Wunsch ent- 
springenden Lüste ohne Unterschied Verzicht leistet, indem 
man durch das Manas die Rotte der Sinnesorgane von allen 
Seiten her niederkämpft, soll man vermittels der mit Festig- 
keit ergriffenen Buddhi mehr und mehr zur Ruhe kommen, 
das Manas in dem Atman zum Stillstande brine-en und o-ar 
nichts mehr denken. \\^>hin auch immer das Manas, das 
wankelmütige, unbeständige ausschwärmen möchte, von über- 
allher möge man es zwangsweise in dem Atman wieder zum 
<iehorsam zurückführen ... In dieser Weise allezeit sich 
semem Atman hingebend, wird der Yogin, von Sünde frei, 
mit Lust die in der Einswerdung mit Brahman bestehende, 
unendliche Wonne erlangen. Er schaut sein eigenes Selbst 
in allen W(>sen und alle Wesen in dem eigenen Selbst, mit 
seinem Selbst dem Yoga hingegeben, erblickt er überall das 
gleiche Wesen." XIV, 19,17—19 S. 899: „Die Sinnesorgane 
in sich hineinziehend, soll man das Manas in sich selbst fest- 
stellen, und nachdem man vorher scharfe Askese geübt hat, 
den zur l'rlösung führenden Yoga betreiben. Wenn er dann 
als ein solcher Tüchtiger es vermag, sich selbst in sich selbst 
zu vertiefen, dann wird er, einzig dessen beflissen, das [höchste] 
Selbst in seinem Selbste schauen." Das Schauen des Atman, 
^velches in diesen und \'ielen andern Stellen der Anschauung 
der Upanishad's entsprechend als das Ziel der Yogapraxis 
7* 
200 iV- Etliik und Escliatologie. 
erscheint, wird im weitern Verlaufe der Entwicklung und in 
dem Mafse, wie die Prakriti dem Purusha gegenüber eine selb- 
ständige Stellung gewinnt, zu einer Isolierung des Purusha 
von der Prakriti und allen ihren Produkten; XII, 3 IG, 14 fg. 
S. 656 : „Indem er die ganze Schar der Sinnesorgane im Manas 
einschliefst, das Manas im Ahahkära zum Stillstand bringt, 
den Ahankära in der Buddhi, die Buddhi in der Prakriti, — 
nachdem er sie in dieser Weise abgefertigt hat, meditiert er 
den absoluten, staublosen, fleckenlosen, ewigen, unendlichen, 
reinen, unverwamdbaren , feststehenden Purusha"; XII, 306, 
16 — 17 S. 625: „Dann hört er nicht, dann riecht er nicht, 
dann schmeckt er nicht und sieht er nicht, dann fühlt er 
keine Berührung mehr und sein Manas stellt nicht mehr vor, 
dann begehrt er nicht nach irgend etwas und denkt so wenig 
wie ein Stück Holz, dann nennen ihn die Weisen einen [mit 
seiner Körperlichkeit] in die Prakriti Zurückgekehrten, einen 
im Yoga Begriffenen." Weitere Annäherungen an das spätere 
Yogasystem kann man darin erblicken, dafs XII, 300,3 S. 592 
das Festhalten an einem persönlichen (jott (h;vam) als Vor- 
zug des Yoga vor dem Sankhyam anerkannt wird, dafs XII, 
316,8 S. 655 zwischen einem qualitäthaften und einem qualität- 
losen Yoga (entsprechend dem sah/ja = aamprajnäta und dem 
nirh'ija = asamprajnäta des Yogasystems) unterschieden wird, 
und dafs an Stellen wie XII, 237,14 S. 351 sieben voll- 
ständige Fixierungen des Manas sowie deren noch weitere, 
teils auf die Aufsenwelt, teils auf den eigenen Leib bezug- 
nehmende unterschieden werden. Vgl. auch die „Antriebe" 
codanäh XII, 316,11 und „Reizmittel" samcodariäh XII, 306,11. 
Auch die durch den Yoga erlangbaren, übernatürlichen Kräfte 
werden im Epos schon in exorbitanter Weise gefeiert. XII, 
316,6 S. 655: „Während [der grobe Leib] dahinfällt, o Freund, 
wird unter Abstreifung desselben der Yogin zu einem, der 
vermöge des achtfache Vollkommenheit [Atomkleinheit, Leich- 
tigkeit, Gröfse, Allberührung, Wunschverwirklichung, All- 
beherrschung, Schöpferkraft, Alldurchdringung] verleihenden 
Yoga die Welten mit Lust durchschweift" (vgl. XIV, 38,12 
S. 954), XII, 300,26—28 S. 594 fg.: „Der Yoga, welcher zu 
Kraft gekommen ist, kann sein Selbst tausendfältig verviel- 
3. Erkenntnis und Yoga als Woge zum Heil. ly[ 
fachoii, o Bliaralastior, und in allen diesen Gestalten die Erde 
durchwandeln. Als der eine kann er die Sinnendinae o-e- 
niel'siMu und zuii-Uuch als ein anderer furchtbare Askese ülxm, 
und wiederum, o Freund, [alle seine Selbste] in eins zu- 
sammenfassen, wie die Sonne ihre Lichtfülle. Denn der in 
Vollkraft stehende Yoga ist Herr über die Bindung und besitzt 
auch die Herrschaft über die Erlösung, das ist gewifs, o Fürst"; 
Vers 41 : „Dann wird er alsbald seine guten und bösen Werke 
verbrennen, den höchsten, als unerschütterlich gerühmten Yoga 
erreichen und, falls er es wünscht, zur Erlösung eingehen." 
4. Seelen« anderun^- und Verg-eltung-. 
Von den Zeiten der Upanishad's an bis auf die Gegen- 
wart hin und somit auch in der epischen Periode wurde das 
Denken der Inder beherrscht von der Vorstellung der Seelen- 
wanderung, des Sansära, nach w-elcher jeder Lebenslauf die 
notwendige Frucht der Werke eines frühern Daseins ist und 
seinerseits vermöge seiner Werke ein künftiges Dasein mit 
Notwendigkeit bedingt, so dafs der Saiisära ohne Anfang und, 
von der Erlösung abgesehen, ohne Ende ist. Der Tod ist 
somit nur das Fallen des Vorhangs zwischen zwei Akten. 
„Nie war die Zeit", spricht Krishna zu Arjuna VI, 26,12 fg. 
S. 39, „da ich nicht war, da du nicht warst und alle diese 
Fürsten, und nie in Zukunft wird die Zeit kommen, da wir 
allesamt nicht sind. Wie für den Träger eines Leibes in 
diesem seinem Leibe Kindheit, Mannheit und Greisenalter ist, 
so ist für ihn auch die Erlangung eines neuen Leibes; das 
ist dem Weisen klar . . . Gleichwie ein Mann die alten Klei- 
der ablegt und andere neue anzieht, so legt der Träger des 
Leibes (die Seele) die alten Leiber ab und geht in andere 
neue ein." V, 42,4 S. 5: „Nur aus Verblendung wird der 
Tod von den Sängern für wahr gehalten. Ich aber erkläre den 
Tod für eine Täuschung, und für die Nichttäuschung erkläre 
ich das Unsterblichsein." XII, 297,12 S. 578: „Je nachdem 
es durch Ursachen bedingt ist, geht man aus einem Leib in 
den andern über ; ein A\'anderer ist man auf dem Wege [der 
Erlösung] und kehrt dabei von Haus zu Haus (mu": \'1I, 321,54 
102 I^^- i^^thik und Eschatologie. 
S. 697: ,AVer ins Jenseits hinübergeht, mufs seinen Leib wie 
ein Kleid ablegen, und dann ist seine Seele für das durch- 
dringende Auge der Erkenntnis von überallher sichtbar" [vgl. 
Piaton, Gorgias, p. 523 E.]. XII, 297,1(3 S. 578: „Von der 
Seele verlassen, ohne Bewegung und Bewufstsein, versinkt er 
vermöge der in die Prakriti zurückgehenden Elemente in die 
Erde. Und gestaltet entsprechend seinen Werken, wird er 
hier und dort wiedergeboren, wo auch immer dieser Leib ge- 
storben sein mag." XII, 321,85—89 S. 700: „Tausende von 
Müttern nnd Vätern, Hunderte von Söhnen und Weibern 
werden uns noch angehören und haben uns schon angehört; 
wem könnten sie, wem könnten wir in Wahrheit angehören ! . . . 
Du hast nichts mit ihnen, sie haben nichts mit dir zu tun; 
diese Wesen entstehen durch ihre eigenen Werke, und auch 
du wirst den Weg deiner Werke gehen . . . Der Mensch häuft 
um des Weibes willen böse Werke auf [vgl. : Oit est la fciiiine:']^ 
dafür mufs er Pein erdulden im Jenseits und schon hienieden"; 
XII, 321,46—51 S. 696 fg.: „Den Schatz, von dem du nicht 
zu fürchten hast, dafs dir ein König oder Dieb ihn raubt, und 
der dich nicht beim Tod verläfst, diesen Schatz mögest du 
dir erwerben [vgl. Ev. Matth. 6, 20j. Dort wird einer nicht 
von seinen Werken getrennt, nicht werden diese gegenseitig 
verwechselt; was jedem eigen angehört, das wird dort drüben 
an ihm vergolten. Wovon man drüben leben will, das mufs, 
Sohn, hier weggegeben w^erden. Den Schatz, der unver- 
gänglich, unverlierbar ist, den mufst du selber dir erwerben. 
Noch ehe du als reicher Mann dein Gerstengericht gekocht 
hast, noch ehe dein Gerstengericht gar ist, wirst du eilig von 
dannen müssen [vgl. Ev. Luk. XII, 20J. Nicht Mutter, Söhne 
und Verwandte, nicht der vertraute, liebe Freund wandeln 
einem nach, wenn man einsam auf dem engen Wege dahin- 
wandelt. Nur das vormals begangene gute und böse Werk,. 
nur dieses allein ist von Bedeutung, o Sohn, für den ins Jen- 
seits Hinübergehenden"; XII, 181,8 — 9 S. 143: „Auch wenn 
einer sehr schnell läuft, holt ihn sein Schicksal ein, es liegt 
neben ihm, wenn er schläft, wer er auch sei, entsprechend 
seinen Taten. Es steht neben ihm, wenn er steht, und wenn 
er geht, so geht es ihm nach, es vollbringt das Werk des 
■4. Seoli-nwanderung und Vergeltung. lO.-i 
\Virk(Mi(loiu wie sein Schatten beirleitet es ihn." XII, 291,11 
S. 559: „Wenn einer auch aus freien Stücken, naclidcni er 
das Böse getan hat, sich dem (Juten zuwendet und Üulse tut, 
so trilt't ihn doch [die VergeUunü; für| beides gesondert." 
So wird (ku'cli die ^Verke des gegenwärtigen Daseins die 
Beschaffenheit des nächsti'olgenden Lebens bedingt, XII, 329,25 
S. 728: „Durch gute Werke erlangt man das Gottsein, durch 
gemischte eine Geburt als ^Mensch, durch böse Werke ver- 
fällt man einer Geburt als Tier, man mag wollen oder nicht." 
In diesen, den ganzen Vorstellungskreis des Inders beherr- 
schenden Gedanken liegt ein starker Ansporn zum sittlichen 
Verhalten, und hierauf gründet sich die Erwartung, dal's die 
Seele von Geburt zu (»eburt mehr und mehr geläutert und. 
der Erlösung näher geführt wird; XII, 321,80 S. 700: „Hat 
man als die zum Himmel führende Leiter das schwer zu er- 
langende Dasein als Mensch erreicht, so soll man sich wohl 
in acht nehmen, dafs man nicht wieder herabfalle"; XII,. 
297,13 S. 578: „Für diese Wanderung gibt es keine andere, 
keine zweite Ursache [als diese, dafs] dieser mit der Seele 
verbundene Leib für zur Erlösung bestimmte Wesen vorhan- 
den ist [den Zwecken der Erlösmig dient, anders Nil.]"; VI, 
30,45 S. 82 : „Durch mancherlei Geburt geläutert, geht endlich 
er den höchsten Gang." Somit ist der Sahsära eine Anstalt, 
welche zum ewigen Heil führt. Hierauf beruht die Verwerfung 
des Selbstmordes; der Selbstmörder beraubt sich des Lebens, 
welches bestimmt war, ihn zu läutern und dadurch der Er- 
lösung näher zu bringen. XII, 297,31—32 S. 580: „Nicht 
soll der Mensch, auch wenn er von allen Genüssen entblöfst 
ist, sich selbst umbringen; Mensch zu sein, o Freund, und 
wäre man ein Candala, ist immerhin eine schöne Sache. Denn 
dieses [das Menschsein], o Weltbeherrscher, ist die erste Ge- 
burt, in welcher der Atman durch edle Werke Rettung 
finden kann." 
Von den mannigfachen Schilderungen des Sahsiira und 
seiner Schrecknisse, wie sie Manu Xll. Mahäbh. 1, 90. III, 
209. XIV, 27 (der Sansära als Wildnis imd Brahman als 
Wald) und an andern Orten zu fmden sind, möge als Probe 
nur die eine XI L 230,13 — 17 S. 347 fg. mitgeteilt werden: 
X04 ^^- Ktbik und Eschatologie. 
„Durcli die grofse, vom Schicksal ausersehene, unwidersteh- 
Hche Gewalt, durch den Strom der Natur, wh'd die gewordene 
Welt unaufhörlich fortgerissen. Durch diesen Strom, dessen 
Wasser die Zeit ist, den grofsen, dessen Strudel fort und fort 
die Jahre sind, der die Monate als Wellen, die Jahreszeiten 
als Stromschnellen, die Monatshälften als Buschwerk und 
Gräser hat, dessen Schaum die auf blitzenden Augenblicke, 
dessen Wasser die Tage und Nächte sind, der furchtbar ist 
durch das Krokodil der Lust, auf dem Veda und Opfer als 
Schiffe dienen, auf dem das Gute die Rettungsinsel für die 
Wesen bildet, dessen Wasser das Nützliche und Angenehme 
sind, der die ^^"ahrheit, das heilige Wort und die Erlösung 
als Ufer hat, der die Schädigungen als Baumstämme mit sich 
führt, in dessen Mitte die Weltalter die Fluten eines Sees 
bilden, dessen Vergang und Entstehen aus Brahman ist, — 
durch diesen Strom werden die von dem Schöpfer geschaffenen 
Wesen fortgeführt in die Behausung des Yama." 
5. Tod uutl Scbicksale nach dorn Tode. 
Das Leben ist die nach Qualität wie nach Quantität 
genau abgemessene Frucht der Werke des vorhergehenden 
Daseins; sobald sie abgebüfst sind, tritt der Tod ein, solange 
von ihnen noch ein Rest bleibt, kann der Tod nicht erfolgen. 
XII, 297,8. 22 S. 577 fg. : „Keiner kann einen retten, o König, 
der seinem Schicksal verfallen ist, und keiner kann einen 
wegraffen, dem noch länger zu leben bestimmt ist . . . Jeden 
Menschen, der geboren ist, erreicht der Tod, das ist gewil's, 
denn ein Ende habend sind die [das Dasein bedingenden] 
Werke, welche die Menschen auf Grund der Guna's voll- 
bringen." Wenn die Zeit herannaht, in welcher die Vergel- 
tung der Werke abläuft, so verfällt der Mensch auf allerlei 
schädliche Handlungen, die sein Ende herbeiführen, wie dies 
in naiver Weise XIV, 17,6 — 14 S. 890 fg. geschildert wird: 
,,Wenn die Werke, die ein Mensch als Leben und Ruhm 
fördernde während der Innehabung eines bestimmten Körpers 
betrieben hat, wenn diese vollständig abgetan sind, dann legt 
er sich, da mm sein Selbst von der Vernichtung des Lebens 
i). Tod und Schicksale nach dem Tode. l(j;") 
übt'nvältigt wird, auf ontgogcngesotzte jdcin Loben schädlii-liej 
Handliingon, und aiicli sein Verstand läCst ihn im Stich, wenn 
der l'ntergang l^evorsteht [vgl. quem cIcks pcnlere vidi, j)rius 
dctnoifai]. lud während or [eliedem] in dieser Weise seine 
Natur und seine Kraft und die reelite Zeit wolil verstanden 
hatte, so gestattet er sich, wo er niclit mehr Herr seiner selbst 
ist, Dinge, die ihm [seinem Wohlsein] zuwider sind. Wenn 
er sich dann alles mögliche erlaubt, was ihm sehr schädlich 
ist , wenn er [zum Beispiel] übermäfsig ifst oder aber ganz 
und gar nichts ifst, wenn er Speisen, Fleisch und Getränke 
geniefst, die verdorben sind oder sich nicht mit einander ver- 
trao-en. oder wenn er Schwerverdauliches allzu reichlich a"e- 
niefst, oder ehe er noch vollständig verdaut hat, oder wenn 
er in Körperanstrengungen oder in [geschlechtlichen] Drauf- 
losgehen nicht Mafs hält, oder gewohnheitsmäfsig im Eifer 
der Arbeit den natürlichen Drang zurückhält, oder wenn er 
ein Freund scharf gewürzter Speisen oder des Schlafens am 
Tage ist und dadurch, ehe noch seine Zeit reif und gekommen 
ist, selbsttätig die Körpersäfte (dosha) in Störung versetzt, 
dann zieht er sich durch die Störung seiner Körpersäfte eine 
Krankheit zu, die zum Tode führt, oder auch er entschliefst 
sich zu widerwärtigen Handlungen, z. B. indem er sich auf- 
hängt. Durch diese Trsachen verfällt bei einem lebenden 
Wesen der Körper und sodann auch das Leben." 
Dem herannahenden Tode gehen gewisse Vorzeichen 
(arlslifäm) voraus, welche XH, ol7,8 — 17 S. 658 fg. beschrie- 
ben werden: das Nichtsehen oder Verkehrtsehen gewisser 
Sterne, das Nichtniehrsehen des eigenen Spiegelbildes im 
fremden Auge, plötzliche Gedächtnisschwäche, fahle Gesichts- 
farbe, Wahrnehmung eines Leichengeruchs in Tempeln, schlaf- 
fes Herabhängen von Ohr und Nase, Entfärben von Zahn- 
fleisch und Augen, Schwund des Bewufstseins und Verlust 
der Wärme, Tränen des linken Auges ohne l'rsache und 
Dampfen des Kopfes sind Vorzeichen, dafs der Betreffende 
früher oder später binnen Jahresfrist sterben wird. 
Beim Eintritt des Todes verfällt der Leib der Erde, 
während die Seele aus ihm auszieht; XIV, 17,32 — 33 S. 893: 
,,Wie einen im Dunkel hier und da verschwindenden Leucht- 
lOG IV- Ethik und Eschatologie. 
käfer diejenigen, welche guten Augen haben, noch erkennen,, 
so ist es auch mit denen, welche das Auge des Geistes be- 
sitzen. Die Vollendeten schauen mit göttlichem Auge die 
Seele in dieser Lage, sowohl wenn sie aus dem Körper fällt, 
als auch wenn sie, um geboren zu werden, in einen Mutter- 
schofs eingeht." Im Anschlufs an Chänd. Up. 8,6,6, Käth. 
Up. 6,16 wird die Vorstellung von den verschiedenen Aus- 
gangspforten der Seele weiter ausgebildet. XII, 297,27 S. 579: 
„Die Lebensgeister der (Juten verlassen den Leib, indem sie 
nach oben durchbrechen, o König, während die Mittelmäfsigen 
aus dem mittlem Leibe und die Bösen nach unten zu ent- 
weichen." Ausführlich wird XII, 317,1 — 7 S. 657 fg. geschil- 
dert, wie die Seele, je nachdem sie durch Füfse, Lnterschenkel, 
Kniee usw. ausfährt, zu verschiedenen Göttern gelangt, während 
nur der Weg durch die Schädoldecke zu dem allgegenw^ärtigen 
Gotte Brahman führt. 
Übernommen wird aus Chänd. Up. 5,3- — 10 und Brih. üp. 
6,2 die Lehre vom Pifrlyäna (sc. pantJulh) und Dcvayäna, dem 
zur Erde zurückleitenden Väterwege und dem zur Erlösung 
ohne Rückkehr führenden Götterwege. XIV, 35,44 — 45 
S. 947: „Die Pflicht hat als Merkmal den «Glauben», so ver- 
künden die Weisen [Chänd. Up. 5,10,1; Brih. Up. 6,2,15], 
mit diesem Worte werden euch die Wege des Devayäna ge- 
priesen, welche von Guten und Weisen betreten werden und 
durch die Werke als Brücke zur Pflicht überleiten. Wer 
aber, verschieden von diesen, mit scharfem Gelübde der 
Pflicht [des Opferns] ol)liegt, der bekommt [auf dem Pitriyäna] 
nach langer Zeit immer wieder Entstehung und Vergang der 
Wesen zu schauen"; XII, 175,32 S. 121: ,,An der Beruhigung 
als Darbringung mich erfreuend, bezähmt, in der Verehrung 
des Brahman beharrend, als ein Muni Rede, (üedanken und 
Werke als Opfer darbringend, so werde ich auf dem Nord- 
wege der Sonne [dem Devayäna] dahingehen." Seltsam aber 
ist das Mifsverständnis des Upanishadtextes, welchem wir im 
Epos begegnen. Nach den ITpanishad's führt der Pitriyäna 
durch die Stationen von Rauch, Nacht, dunkler Monatshälfte, 
dunkler Jahreshälfte, Väterwelt und Äther in den Mond, von 
welchem nach Verbrauch der Werkfrucht eine Rückkehr zur 
5. Tod und Schicksale nadi dem Tode. I(j7 
Erde stattlindot, ^vähRMl(l der Devayanu durch Flamme, Tag, 
lichte ^loiiatshält'te, lichte Jahreshälfte, Jahr. Sonne, Mond und 
Blitz zu Brahman ohne Wiederkehr führt. Die Motive zu dieser 
Konstruktion wurden oben 1, 2 S. oOl fg. eingehend entwickelt. 
Hier wollen wir nur daran erinnern, dafs unter Rauch, Nacht, 
dunkler Monatshälfte und Winterhalbjahr sowie andererseits 
imter Flamme, Tag, heller Monatshälfte und Sommerhalbjahr 
oti'enbar nicht Zeitabschnitte, sondern örtliche Stationen, gleich- 
sam räumlich über einander liegende Schichten verstanden 
werden müssen. Denn die Auffassung dieser Stationen als zeit- 
licher Perioden würde zu dem Widersinn führen, dafs die- 
jenigen, welche beim Nordgange der Sonne, aber zur Nachtzeit, 
oder beim Südgange der Sonne, aber am Tage sterben, gleich- 
zeitig auf dem Devayäna und Pitriyäna sich betinden müfsten. 
Dieses Widersinnes und offenbaren Mifsverständnisses macht 
sich das Epos an verschiedenen Stellen schuldig. So heifst 
es sogar in der Bhagavadgitä VI, 32,23—26 S. GS fg.: „Zu 
welcher Zeit aber hinscheidend die Yogin's zur Nichtwieder- 
kehr oder aber zur Wiederkehr gelangen, die Zeit, o Stier 
der Bharata's, will ich dir sagen. Das Feuer als Licht, der 
Tag, die helle Monatshälfte, die sechs Monate, da die Sonne 
nach Norden geht, — auf diesem Wege [dem Gotterwege] 
fortziehend, gehen die brahmanwissenden Menschen zu Brah- 
man ein. Der Rauch, die Nacht, die dunkle Monatshälfte, die 
sechs Monate, da die Sonne nach Süden geht, — auf diesem 
^^'ege [dem Väterw^ege] gelangt der Yogin zu dem Licht- 
reiche des Mondes und nuifs wieder zurückkehren. Diese 
beiden Wege, der helle und der dunkle, bestehen ewig für 
die Welt der Lebenden, auf dem einen gelangt man zur Nicht- 
wiederkehr, auf dem andern kehrt man wieder zurück.'" Ebenso 
heilst es im Mokshadliarma XII, 297.23 S. 579: „Wer nun 
stirbt, wenn die Sonne sich zum Nordgange gewendet hat, 
unter einem guten Stern und zur günstigen Stunde, o König, 
der war ein Vollbringer guter "Werke." Dieses Mifsverständ- 
nis des l'panishadtextes ist um so befremdlicher, als es nicht 
nur an einzelnen Stellen auftritt, sondern schon dem ganzen 
Plan des Epos zu Grunde liegt. Dem Bhishma ist es be- 
schieden, die Stunde seines Todes zu wählen. P> wird VI, 
IQQ IV. Ethik und Eschatologie. 
119 tödlich verwundet, verschiebt aber seinen Tod bis zur 
Zeit, wo die Sonne nordwärts zieht, und so erteiU er, von 
Pfeilen durchbohrt und auf ihnen wie auf einem B^tt liegend, 
alle die Belehrungen in Buch XII und XIII, um die Sonnen- 
wende abzuwarten. Yudhishthira spricht zu ihm XII, 302,4 
S. 609: „Nur wenige Tage bleiben dir noch zu leben übrig, 
solange die Sonne nach Süden geht, und wenn der heilige 
Sonnengott sich nordwärts wendet, wirst du ja den höchsten 
Gang antreten." 
Überhaupt scheinen die Vorstellungen von Pitriyäna und 
Devayäna noch keineswegs allgemein durchgedrungen zu sein. 
So wird XII, 297,18 S. 578 geschildert, wie die Seele nach 
dem Tode eine gewisse Zeit lang noch nicht wiedergeboren 
wird, sondern umherschweift wie eine grofse Wolke, und erst 
nachdem sie hienieden einen Stützpunkt gefunden hat, zu 
einem neuen Dasein gelangt. Nach der schon angeführten 
Stelle XII, 301,73 fg. S. 604 fg. gehen die rechtschaffenen 
Sänkhya's durch Sonne, Wind, Äther, Rajas, Sattvam und 
Narayana zum höchsten Atman ein, und XIV, 17,34 fg. 
S. 893 fg. werden Erde, Hölle und Himmel als Stätten der 
Vergeltung geschildert, und zum Schlufs heilst es: „Aber 
nachdem ihre Werke verbraucht sind, müssen sie alle immer 
wieder aufs neue herabsinken." 
Der in den Upanishad's als Aufenthalt für die Bösen nur 
dunkel angedeutete „dritte Ort" hat sich im Epos zur Vor- 
stellung von der Hölle fortentwickelt, von der wir eine kurze 
Schilderung aus XII, 321,31—32 S. 695 hier aufnehmen: 
,,Ein Mensch, welcher, von heftiger Begierde getrieben, un- 
redlich gegen seine Freunde ist, immerfort an niederträchtigen 
Reden sein Gefallen findet und mit anvertrautem Gute Unheil 
stiftet, ein solcher Bösewicht fährt in die tiefste Hölle und 
mufs schweres Leid erdulden. Hineinstürzend in den heifsen, 
grofsen Höllenflufs Vaitaram, den Körper zerfleischt in dem 
Walde, dessen Blätter Schwerter sind, hingestreckt auf ein 
Lager von Beilen, schmachtet er unter schweren Leiden in 
der grofsen Hölle." Einer geistigern Auffassung der Höllen 
begegnen wir XII, 198,3—6 S. 193 fg.: „Jene Orte der Götter 
von höchster ^^''esenheit mit mancherlei Standorten und Farben, 
5. Tod und Schicksale iiacli dem Todo. IQ\) 
mit inaiu'lu'rlci (u'stalton und Früelitoii, jene hinimlisclien, 
nach Beli('l)iMi zu durcliwaiuleliulon Paläste und Ilallen, jene 
nianni<i:{aclien Spi(>lplätze, o Koni«;-, und goldenen Lotosteiche 
der vier Welthüter, des Veniisplaneten und des Jupiter, der 
\\'inde und der Gesamtgötter, der Vollendeten und der A^vin's, 
der Ivudra's, Aditya's, Vasu's und der andern Ifimmels- 
bewohner, das sind eben, o Freund, die Höllen, die Ver- 
hülluno'en des (^rtes des höchsten Atman." 
Im Gegensatze zu dem wieder zur Erde zurückführenden 
Pitriyäna, sowie zu dem „dritten Orte", unter dem eine 
\\'iedergeburt als Tier oder Pflanze zu verstehen ist und 
welcher erst später mit den noch nicht in den altern Upani- 
shad's vorkommenden und nur künstlich von Qankara aus 
Käth. Up. 2,0 herausgelesenen Höllen zu einem dritten Wege 
verbunden wurde, führt der Devayäna zu Brahman, und es 
heifst von ihm Brih. Up. 6,2,15: „Dort in den Brahmanwelten 
bewohnen sie die höchsten Fernen. Für solche ist keine 
^^'iederkehr." Nach der spätem Vedäntalehre ist dies noch 
keine vollständige Erlösung, da eine solche nur durch das 
Wissen erreichbar ist. Man mufs also annehmen, sagt (^'ahkara, 
dafs den auf dem Devayäna in die Brahmanwelt Gelangten dort 
das vollkommene Wissen und damit die absolute Erlösuno; 
zu teil wird. Dies ist die Kramamuldl oder Stufenerlösung, 
und sie glaul)t der Kommentator Nilakantha auch schon im 
Epos Xn, 195,63 S. 186 angedeutet zu finden, wo von einem 
„zweifachen Wege der Guten" die Rede ist und unter dem 
einen die Erlösung durch Erkenntnis, unter dem andern die 
Ivramamukti des Devayäna zu verstehen sein soll. 
6. Die Erlösung'. 
Über den wunderbaren Gedanlven der Erlösung, über 
seinen Ursprung und seine hohe, philosophische Bedeutung 
haben wir bei Darstellung der Upanishadlehre oben I, 2 
S. 305 — 325 eingehend gehandelt. Wir sahen, dafs dieser 
Gedanke nirgendwo reiner als in der indischen Philosophie 
erscheint, nach welcher die Erlösung nicht etwas ist, was zu 
bewirken oder zu erreichen wäre. Denn sie besteht in der 
XIO IV- Ethik und Eschatologie. 
Erkenntnis der Identität des eigenen Ich mit dem Ätman oder 
Brahman; diese Identität aber ist von jeher tatsächhch vor- 
handen, braucht somit nicht erst bewirkt, sondern nur erkannt 
zu werden. Auf diesem Standpunkte stehen im allgemeinen 
auch die Texte des Mahäbhäratam. In ihnen tritt uns schon 
XII, 318,87 S. 668 das grofse Wort entgegen: jhäuäd mohshah, 
„avis der Erkenntnis entspringt die Erlösung". Es gibt zwei 
Wege, den der AVerke, welcher zu Lust und Leid, und den 
des Wissens, welcher zur Erlösung führt; XII, 242,11 — 12 
S. 367: „Durch das Werk erlangt man als Frucht Lust und 
Leid, Entstehen und Vergehen; durch das Wissen erlangt 
man jenes, zu welchem gelangt einer keinen Kummer mehr 
empfindet, wohin gelangt einer nicht mehr stirbt, wohin gelangt 
er nicht mehr geboren wird, wo er nicht wiedergeboren wird, 
von wo er nicht mehr zurückkehrt." Mit dieser Erkenntnis 
ist eine Abkehr von der Welt verbunden, der nirveda, d. h. 
die Weltverdrossenheit, XIl, 273,19 fg. S. 475: „Unbefriedigt 
erfafst er mit dem Auge der Erkenntnis die Weltverdrossen- 
heit. Und wenn das Auge der Erkenntnis keinen Gefallen 
mehr findet an Begierde, an Geschmack und Geruch, und er 
auf Ton, Gefühl und Gestalt nicht mehr seinen Geist lenkt, 
dann kommt er los von der Begierde, aber die Rechtschaffen- 
heit läfst er nicht los . . . Nach und nach ergreift er die 
Weltverdrossenheit und läfst das böse W^erk fahren, dann 
wird er von Gerechtigkeit erfüllt und erlangt die höchste 
Erlösung" ; XIV, 51,35 fg. S. 994 : „Alle Lebenseindrücke über- 
wältigend und sich selbst in sich selbst ergreifend, erkennt 
er jenes schöne Brahman, über welches hinaus nichts mehr 
zu wissen bleibt." Eine eingehende Schilderung der Erlösung 
und des von Gleichmut, Leidenschaftslosigkeit und Mitleid mit 
allen Wesen begleiteten Atmanwissens, in dem sie wurzelt, 
findet sich XIV, 19,1—14 S. 898 fg.: „Wer beharrt, in das 
einzige Ziel vertieft, schweigend, nicht denkend woran es auch 
immer sei, und alles Frühere hinter sich lassend, der ist über 
die Bindung hinausgeschritten. Wer allen Freund ist, alles 
duldend, der Ruhe ergeben, die Sinne besiegt habend, frei 
von Furcht und Zorn und Herr seiner selbst, der Mann wird 
erlöst . . . Wer den unriechbaren, unschmeckbaren, unfühlbaren. 
(). [)ic Krliisiiujf. l\\ 
imliörbaron, unlarsbaron, unsichtbaren, unorkennbaron Atman 
schaut, der wird erlöst . . . ])urcli die Erkenntnis alle Wünsche, 
die körperlichen wie die geistigen aufgebend, erlangt er nach 
1111(1 nach das Xircänam (das Erlöschen), wie das Feuer, dessen 
lirennholz verbrannt ist." 
In den letzten Worten begegnen wir einem Begriffe, 
der durch den Ruddhismus weiterhin eine grofse Bedeutung 
gewonnen hat, dem Hegritl'e des XIrvänam, welches AVort 
,, Erlöschen" und zugleich „Seligkeit" bedeutet, und wie kein 
anderes geeignet ist, um einen Zustand zu bezeichnen, welcher 
seinem \\'esen nach positiver als die ganze Welt mit ihrem 
Inhalte ist und doch, wegen der seine Erfassung ausschliefsen- 
den (Organisation unseres Erkenntnisvermögens , nur negativ 
bezeichnet werden kann und darf. Der Ursprung des Nir- 
vanagedankens listet uns auf die I panishad's zurück, wo es 
Brih. Up. 4,4,6 von dem Zustande der Erlösung heifst: „Wer 
ohne Verlangen, frei von Verlangen, gestillten Verlangens, 
selbst sein Verlangen ist, dessen Lebensgeister ziehen nicht 
aus, sondern Brahman ist er und in Brahman geht er auf 
fhraJima eva san hrahma ajri/eti)^^. Man vergleiche die weitern 
oben I, 2 S. 3i:-3— 320 beigebrachten Stellen. Dieses „Auf- 
gehen in Brahman" wird nach einer dem Inder geläuügen 
N'orstellung von dem Feuer, welches erlischt, nachdem das 
[Brennholz verzehrt ist, zu einem „Erlöschen in Brahman", 
hrfduna-mrvänam, VI, 26,72 S. 45: „Dieses ist das Feststehen 
in Brahman, o Sohn der Prithä; wer es erlangt, wird frei 
vom Wahn, und in ihm beharrend, erreicht er zur Zeit des 
Endes das Erlöschen Oiirväimm) in Brahman." VI, 29,24 — 26 
S. 57: „Wer in sich die Freude, in sich das Ergötzen findet 
und in sich das Licht, der ist ein Yogin, und zu Brahman 
geworden, gelangt er zum Erlöschen in Brahman (hmhnia- 
nirvümni). Dieses Erlöschen in Brahman erlangen die Kishi's, 
wenn die Sünde vernichtet, die Zweiheit abgeworfen, das Selbst 
bezäiimt ist, sie, welche sich am Wohle aller Wesen erfreuen. 
Für die von Lust und Zorn befreiten Selbstbezwinger, die ihre 
(Jedanken im Zaume halten und den Atman erkannt haben, 
tritt ganz und vollständig das Erlöschen in Brahman ein." 
Da die individuelle Seele nach indischer Anschauung nicht 
112 IV. Ethik und Escliatologie. 
ein blofser Tropfen, der im Ozean versinkt, oder ein Funke, 
der in das grol'se Weltleuer eingeht, sondern vielmehr dieses 
ganze Feuer, dieser ganze Ozean ist und ewig war, so ist dieses 
Erloschensein in Brahman identisch mit einem Gewordensein 
der Seele zu dem, was sie von jeher war und nur bis dahin 
nicht erkannte, zu dem ganzen, ungeteilten, ewigen Brahman 
selbst. Daher wird der Ausdruck Nirvänam geradezu identisch 
mit Brahman oder der Brahmanwelt gebraucht. XII, 342,81 
S.i812: „Das Nirvänam ist das höchste Brahman und wird 
als die höchste Satzung bezeichnet." Vgl. XII, 189,17 S. 166: 
„Aus Weltverdrossenheit wende man sich dem Nirvänam zu, 
und nicht sorge man sich über irgend etwas, denn als ein 
Glück erlangt der Brahmane durch die Weltverdrossenheit 
das Brahman", und XII, 192,6 S. 174: ,,Wer in der genannten 
Weise das Lebensstadium der Erlösung betreibt, indem er 
rein und wohlbereiteten und befreiten Geistes ist, der Mensch 
gelangt zur Brahmanwelt, wie ein Feuer, welches aus Mangel 
an Brennholz erloschen ist [d. h. er gelangt zum Nirvänam]." 
Obgleich dieser Zustand des Nirvänam ebenso wie das Brah- 
man selbst, der Erkenntnis verschlossen bleibt, und daher 
nur negativ als ein Erlöschen der uns von Brahman tren- 
nenden Individualität bezeichnet wird, so ist er doch zu 
denken als ein Zustand höchster Seligkeit; XII, 340,8 S. 784: 
„0 Brahmane, du hast erklärt, dafs die Erlösung als ein 
Erlöschen die höchste Seligkeit sei (nirvänam paramam 
sukliam).^'- Wie das Brahman, der Atman selbst, so ist auch 
das mit ihm identische Nirvänam schwer zu erlangen, XII, 
21,17 (= Calc. 631): „Denn das Nirvänam ist sehr schwer zu 
erlangen und von vielen Hindernissen umgeben, so behaupte 
ich." Der sicherste Weg, um es zu erreichen, ist die Ver- 
tiefung in das eigene Innere, welche wir oben als den Yoga 
kennen gelernt haben. Daher heilst es von dem über die 
Vergänglichkeit des himmlischen Lohnes belehrten und auf 
ihn verzichtenden Mudgala III, 261,47 (= Calc. 15487) : „Nach- 
dem er durch den in der Meditation bestehenden Yoga die 
Kraft erlangt und die unübertreffliche Erkenntnis gewonnen 
hatte, ging er ein in die ewige, höchste Vollendung, welche 
Nirvänam heilst." Dem entsprechend richtet der Yogin seinen 
G. Die Erlösung. 1 1.'] 
Oist auf (las Nirvanam (XII, 195,2 S. 187) und XII, 195,22 
S. 1S9 lioilst es: „In dieser Seligkeit begriH'en, wird er die 
Ausübung der Meditation geniei'sen, und so gehen die Yogin's 
ein in das von Kranklieit freie Nirvanam'', und VI , oü,15 
S. 59 sagt dtM- in Krishna verkörperte, höchste Gott: „In 
dieser ^^'eise allezeit sich selbst anschickend und seine Ge- 
danken bändigend, erlangt der Yogin den in mir wurzelnden 
Fri(Mlen, dessen letztes Ende das Nirvanam ist." 
W ie der Yoga selbst, so läuft auch die Erlösung, welche 
ursprünglich nur ein Innewerden des Atman war, in dem 
Mafse, wie die Sänkhyaprinzii)ien im Epos an Boden ge- 
winnen, mehr und mehr auf eine Isolation des Purusha von 
der Prakriti hinaus. Beide Anschauungen verfliefsen häufig 
in einander, XII, 194,46 S. 185: „Wer nun die aus der 
Prakriti stammende Tätigkeit aufgibt und als Einsiedler alle- 
zeit am Atman seine Freude hat, der wird zum Atman aller 
Wesen, darum geht er den höchsten Gang." Ganz auf dem 
Standpunkte des spätem Sänkhyam stehen schon die folgenden 
Stellen, XIV, 47,9 fg. S. 981: „Wer die Prakriti, die Gunas 
und die Prinzipien kennt, wer die Prakriti in allen Wesen 
weil's, der ist selbstlos, ohne Ichbewufstsein und wird erlöst, 
daran ist kein Zweifel ... Er löst sich von den Stricken 
der Weltanhänglichkeit, welche aus Geburt, Tod und Alter 
stammen, und selbstlos und ohne Ichbewufstsein wird er 
erlöst, daran ist kein Zweifel" XII, 307,20 fg. S. 630 fg. : 
„Dann wird er zu einem Reinen, weil er sich von der Prakriti 
lossagt, wenn er als ein Erweckter zu dem Bewufstsein ge- 
lano;t: «ein anderer bin ich und eine andere ist sie». Dann 
gelangt er zu seiner wahren Wesenheit und geht keine 
Mischung mehr ein, denn im andern Falle zeigt er sich als 
vermischt mit der Prakriti. Wenn er aber das ganze aus 
der Prakriti stammende Netz der Guna's verabscheut und den 
höchsten Schauenden [den Atman] schaut, dann wird er nicht 
satt des Schauens." Dann spricht er, wie es an derselben Stelle 
Vers 35 — 37 heilst: „Durch den aus der Prakriti stammenden 
Egoismus in diese und jene Mutterschöfse eingehend, was hatte 
ich, der Ichlose, mit der Ichheit in ihnen allen zu schallen, 
dafs ich in diesen Mutterschöfsen verlorenen Bewufstseins 
Secbsen, Gescbiclite der Philosophie. I, iii. ö 
114 I^ • Ktliik und Eschatologie. 
weilte? Ich habe nichts mehr zu schaffen mit ihr, die den 
Ahankära (Egoismus) zu ihrem Wesen hat, und die, sich 
selbst vervielheitlichend , auch mich abermals zu unterjochen 
strebt; nunmehr bin ich erweckt, frei von Selbstsucht, frei 
vom Ichbewufstsein." Damit ist die Stätte erreicht, welche 
XII, 198,7 — 10 S. 194 im Gegensatze zu allen vorher als die 
Höllen bezeichneten irdischen und himmlischen Daseinsformen 
geschildert wird als der wahre Himmel : „Dieser Ort aber ist 
furchtlos, kausalitätlos, nicht von Plagen erfüllt, frei von den 
zweien [Lust und Unlust], frei von den dreien [den Guna's], 
frei von den achten [Sinne, Manas, Buddhi, Avidyä] und den 
andern dreien [Objekt, Subjekt und Tätigkeit des Erkennens], 
frei von den vier Merkmalen [der Sichtl)arkeit, Hörbarkeit, 
Denkbarkeit, Erkennljarkeit], frei von den vier Ursachen, frei 
von den vier Erkenntnisgründen [Wahrnehmung, Folgei'ung, 
Tradition und Vergleich], ohne Freude, ohne Wonne, ohne 
Kummer und ohne Ermüdung. Eine Zeit gibt es dort, und 
doch ist die Zeit nicht Herr, sondern Er ist der Herr über 
die Zeit, o König, und der Gebieter des Himmels. Wer die 
Absolutheit des Atman erlangt hat, der geht dorthin und 
trauert nicht. Von dieser Art ist die höchste Stätte." 
So schildert das Epos die Erlösung, deren Pforten im 
Gegensatze zu der engherzigen Anschauung früherer Zeit 
jedem offen stehen, welcher die Erkenntnis erlangt; XIV, 
19,61 S. 904: „Die, welche dieser Lehre 'sich zuwenden, auch 
wenn sie einem schlechten Mutterschofse entsprossen, auch 
wenn sie Weiber, Vai^ya's oder (Jüdra's sind, auch diese gehen 
den höchsten Wes;." 
Anliaiig zur Philosophie des epischen Zeitalters: 
Der Buddhismus. 
I. Vorbemerkungen. 
1. Religion und Philosophie. 
Die Berechtigung, auch di(^ religiösen Systeme ihren 
"wesenthchen Anschauungen nacli in den Kreis unserer Be- 
trac'htuno'en zu ziehen, wurde schon in der Vorrede zur ersten 
Ahteihmg (ohen F, 1 S. viii) hervorgehoben. Es gibt nur eine 
ewige Wahrheit, und alle Systeme, mögen sie religiöser 
oder philosophischer Art sein, sind mannigfache Wege zu 
diesem einen Ziele hin. Auch besteht nur im Abendlande 
jener Gegensatz und so oft hervortretende Konflikt zwischen 
religiöser und philosophischer Erkenntnis. Er ist ein Symptom 
der Ungesundheit unseres geistigen Lebens, und wir hoffen 
auf eine Zeit , wo der Gegensatz verschwinden und alle 
echten religiösen vmd ])hilos()phischen Errungenschaften des 
Mt'nschengeistes zur organischen Einheit der allem empirischen 
Erkennen zum Trotze sich behauptenden Metaphysik zu- 
sammenwachsen werden. Oder will man den Gegensatz 
zwischen Philosophie und Religion dahin verstehen, dafs die 
erstere dem Bereiche des Erkennens, die letztere dem (Jefiihls- 
leben angehört? Dem müssen wir entgegenhalten, dafs es 
8* 
llß I. Vorbemerkungen. 
schlecht um eine Rehgion bestellt ist, welche nicht mit allen 
wirklichen Ergehnissen der Wissenschaft in vollem Einklänge 
sich weifs, und schlecht um eine Philosophie, welche nur 
beim kalten Erkennen stehen bleibt und nicht den ganzen 
Menschen ergreift, Kopf und Herz gleichmäfsig befriedigt und 
in ihrem moralischen Teile in einer religiösen Spitze ausläuft. 
Im Orient, und speziell in Indien ist denn auch ein solcher 
Gegensatz zwischen Religion und Philosophie, wie er unserm 
Bewufstsein leider geläufig ist, gar nicht vorhanden; die 
Upanishad's wie der Vedänta, der Buddhismus wie das 
Sähkhyasystem haben gleichen Anspruch darauf, als Religion 
und als Philosophie zu gelten, und in diesem Sinne gehen 
wir dazu über, zunächst ein Bild von der grofsen religiösen 
Bewegung, welche sich in Indien seit dem sechsten vorchrist- 
lichen Jahrhundert vollzog, anhangsweise und in ihren all- 
gemeinen Grundzügen unserer Darstellung einzuflechten. 
2. Jainismus und Baddhismns. 
Das sechste Jahrhundert a. C ist, wie kaum ein anderes, 
für die Gestaltung des geistigen Lebens der Menschheit von 
grundlegender Bedeutung geworden. Es war als wenn ein 
frischer Frühlingshauch die AVeit durchwehte und überall auf 
das Leben der Völker weckend und fördernd einwirkte. In 
diesem so fruchtbaren Jahrhundert finden wir gleichzeitig oder 
nahezu gleichzeitig im fernen Osten Lao-tse und Kon-fu-tse, 
in deren Bahnen heute noch China wandelt, in Westasien die 
Hochblüte des Prophetismus unter Jeremias, Ezechiel und dem 
zweiten Jesaias, in Griechenland das erste Aufkeimen der 
Philosophie und in Indien das Auftreten religiöser Lehrer, 
welche die überkommenen Ileilswahrheiten von den bis dahin 
bestehenden engen Schranken befreiten und aller ^^'elt zu- 
gänglich machten. 
Schon die Upanishad's hatten gelehrt, dafs jeder Mensch 
eine Verkörperung des Ätman sei, und dafs die Erkenntnis 
dieser Wahrheit zur Erlösung führe, hatten aber ihre Mit- 
teilung auf die drei obern Kasten beschränkt und den ^üdra 
von dem religiösen Leben ausgeschlossen. Es war aber nicht 
2. Jainismus und Buddhismus. 1 17 
al)zusohtMi, waiuin iiiclit iuicli in dem ^'üdra das erlösende 
liewul'stsein, der Atnian zu sein, erwachen sollte, l'nd dieser 
Anspruch der bis daliin verstofsenen Kaste auf das Heil wurde 
in dem Mal'se di'inulicher, als die Anzahl der CJüdra's durch 
die zunehmende Ausbreitung der brahmanisch(m Kultm* über 
das ganze Indien ins l'ngemessene angewachsen war, da alle 
nicht als Arier (Geborene, wenn auch nicht immer in der 
Praxis, so doch im Prinzip, der Qüdrakaste zugerechnet werden 
nuifsten, ^^^iederholt schon begegneten wir auf unserm Wege 
mehr oder weniger schüchternen Versuchen, die Schranken, 
welche durch altererbte Vorurteile gezogen waren, zu durch- 
brechen (vgl. oben S. 88. 114), und es ist nur ein weiterer Schritt 
in derselben Richtung, wenn seit dem sechsten Jahrhundert 
vor Christo in Indien Religionslehrer auftraten, welche die 
Vorurteile der Kasten und mit ihnen die Autorität des Veda 
umstürzten und sich mit ihrer Predigt an das ganze Volk 
wandten. Zwei dieser Volkslehrer sind uns näher bekannt, 
Jina, der Stifter des Jainismus, einer Religionssekte, welche 
noch heute in Indien eine und eine halbe Million Bekenner 
zählt, und Bnddlui, der Begründer des Buddhismus, der zwar 
aus Indien, ähnhch wie das Christentum aus Palästina, ver- 
drängt wurde, aber so wie dieses für den Verlust des Mutter- 
landes überreichen Ersatz fand, indem er sich als südliche 
Kirche über Ceylon, Birma, Siam und Annam, als nördliche 
über Tibet, China, Japan, die Mandschurei und Mongolei aus- 
breitete, somit unter allen Bekenntnissen der Erde die gröfste 
Zahl der Anhänger aufweist, wie folgende Übersicht ersehen 
läfst*, bei welcher freilich zu berücksichtigen ist, dafs jeder 
Chinese je nach Bedarf nicht nur zum Buddhismus, sondern 
auch zu den beiden nationalen Religionen seine Zuflucht 
nimmt. Unter diesem Vorbehalte würde die Gesamtzahl der 
auf der Erde lebenden Menschen, welche nach ungefährer 
Schätzung auf 1050 — 1700 Millionen veranschlagt werden 
kann, sich auf die Religionen in folgender Weise verteilen: 
* Dieselbe ist den sorgfältigen Zusammenstellungen der „Religions- 
statistik"' entnommen, welche als Textbeilage im Supplementbande von 
Brockhaus' Konversations-Lexikon vom Jahre 1907 enthalten ist. 
118 
I. Vorbemerkimgen. 
Christen 
572000000 
Parsi's 94000 
8ikh\s 2195000 
Juden IIOOOOOO 
Griechisch-Katholische 120 000 000 
Römisch-Katholische 245 000 000 
Evangelische . . . 200000000 
. Andere 7 000000, 
TTindu's 220000000 
Mohammedaner 200000000 
Buddhisten 450000000 
Naturvölker 170000000 
Summa 1685289000 
3. Einiges über die Jaina's. 
Während der Buddhismus den tiefeingewurzelten Vor- 
urteilen der brahmanischen Welt allzusehr widerstrebte, um 
sich im Mutterlande halten zu können, hat der Jainismus so 
weit ein national -indisches Gepräge bewahrt, dafs er heute 
noch neben den brahmanischen Kasten etwa wde eine be- 
sondere Kaste und in ähnlicher Abschliersung wie eine solche 
im Westen Indiens, namentlich in Gujerat, Rajputana und im 
Penjab fortbesteht, seine eigenen, zum Teil prachtvollen Tempel 
hat, und viele einflufsreiche, namentlich dem begüterten Kauf- 
mannsstande angehörige Bekenner zählt. 
Der Jainismus zeigt in seinen Traditionen über das Leben 
des Stifters, in seinen Lehren und seinen moralischen Vor- 
schriften eine so weitgehende Analogie mit dem Buddhismus, 
dafs man vorzeiten geneigt w^ar, ihn für eine blofse Abart 
dieses letzteren zu halten. Diese Annahme wurde durch die 
verdienstlichen Untersuchungen von Bühler, Jacobi, Leu- 
mann u. a. hinfällig; es hat wirklich einen Zeitgenossen und 
Rivalen Buddha's gegeben, welcher in Kundcqntram, einem 
Vororte der nördlich vom untern Laufe des Ganges gelegenen 
Stadt Vairäli als Sohn einer begüterten Kshatriyafamilie geboren, 
den Namen Vardlumiäua erhielt und als Jüatipidra (der Familie 
der Jnäti's angehörig) in den heiligen Schriften der Buddhisten 
"wiederholt erwähnt und bekämpft wird. In seinem einund- 
dreifsigsten Jahre wandte er sich nach dem Tode seiner Eltern 
3. Einiges über die Jaina's. 119 
von dem W'cltleben ah. Avandorte zwölf -Jahre lang unter 
maiiniglacluMi Anl'oinduuücii als Asket umher und predigte nach 
Erlaiiiiuiiir der vollkommenen ErkiMintnis noch weitere neunund- 
zwanzig Jahre hindurch in denselben Gegenden wie Buddha 
seine Lehre, bis er, zweiundsiebzig Jahre alt, noch zu Lebzeiten 
LUuldha's in Fard starb. Nach erlangter Erkenntnis hatte er 
sich den Namen Ji)m (der Sieger) und Mahdr'nrt (der grol'se 
Held) beigelegt. Seine Anhänger nennen ihn liäuiig den 
Thiliahna (den Bahnbrecher); andere Benennungen wie 
Tathiu/ata, Buddha usw. sind ihm mit dem Stifter des Bud- 
dhismus gemein. Zwei Sekten gingen von ihm aus, die ^ve- 
iämbavas (Weifsbekleideten) und die Diijambaras (Luft- 
bekleideten), welche letztere nach dem Vorgange des Meisters 
völlig nackt gingen. Wie Buddha unter seinen Anhängern den 
engern Kreis der BJiikslm (Bettler, Mönche) von dem weitern 
Kreise der Uj'^isoJcas (Verehrer) unterschied, so ist auch bei 
den Jaina's der engere Kreis der Xinjruidha's (Fessellosen), 
welche im (Jegensatze zum Buddhismus strengen asketischen 
Übungen obliegen, von dem weitern Kreise der Upäscika^ 
unterschieden. Wie dem Buddha vierundzwanzig frühere 
Buddha's, so sind dem Jina dreiundzwanzig Jina's vorher- 
gegangen. Beide Religionsstifter verkünden als die Erlösung 
aus dem Saiisara, dem Wanderungslaufe der Seelen, das 
Xirvänam (von den Buddhisten in Päli Xibhäiiani, von den 
Jaina's, deren kanonische Sprache das Prakrit ist, Nivvänani 
genannt), und wenn die Jaina's dieses vorwiegend als posi- 
tive Seligkeit schildern, während die Buddhisten mehr die 
negative Seite, die Auslöschung aller Leiden betonen, so ist 
auch dieser Unterschied nicht wesentlich, da auch den Bud- 
dhisten das Nirvanam mehr als ein blofses, schmerzloses Nichts 
bedeutet. 
Auch der weitere Lehrinhalt beider Beligionen zeigt eine 
weitgehende Verwandtschaft. Wie das buddhistische Bekennt- 
nis in dem IVirarcmam, der dreifachen Zuflucht zum Buddha, 
zur Lehre und zur Gemeinde besteht, so gliedert sich die 
Dogmatik der Jaina's in das Trimtnam, die drei Kleinodien, 
nämlich, den rechten Glauben an die \\^orte des Meisters 
(snnii/ag-darraiiamj, die rechte Erkenntnis (samijag-ji'iänam) und 
-[ 20 I- Vorbemerkungen. 
den rechten Wandel (sanijjalc-carifram). Weitere Überein- 
stimmungen und Unterschiede beider Lehrsysteme werden sich 
weiter unten bei der Besprechung des Buddhismus und Jai- 
nismus als philosophischer Systeme ergeben ; im folgenden be- 
schränken wir uns auf eine Darstellung des Buddhismus als 
der innerlich bedeutendem und äufserlich erfolgreichern Er- 
scheinung und bemerken nur noch im voraus, dafs seine 
weitgehenden Übereinstimmungen mit dem Jainismus wesent- 
lich darauf beruhen, dafs beide Richtungen aus demselben 
durch die Upanishad's vorbereiteten Gedankenboden und aus 
denselben Zeitbedürfnissen erklärt werden müssen und können. 
4. Über die Quellen des Buddhismus. 
Wie Sokrates und Jesus, so hat auch Buddha seine Ge- 
danken nicht aufgezeichnet, sondern sie den Zufälligkeiten 
ausgesetzt, welche bei einer blofs mündlichen Mitteilung der 
Lehren im Schülerkreise unvermeidlich sind. 
In dem ersten Jahre nach Buddha's Tode, welcher nach 
Oldenbergs Berechnung kurz vor oder nach 480 a. C. erfolgte, 
sollen sich seine Anhänger zur Peststellung der Lehre unter 
dem Protektorate des Königs AjätaQatru von Magadha unweit 
von dessen Hauptstadt Bäjagriha (südlich vom untern Laufe 
des Ganges) zu einem Konzil versammelt haben. Diesem 
ersten Konzil von Räjagriha (ca. 480 a. C.) folgte hundert 
Jahre später das zweite Konzil zu Vaigäli (nördlich vom 
untern Laufe des Ganges) unter König Kälägoka um 380 a. C. 
Ein drittes Konzil zu Pätaliputram (Patna) fand im acht- 
zehnten Jahre der Regierung des Königs A^oka (259 — 222 a. C.) 
statt; ein viertes Konzil im Kloster Jalandhara in 
Kaschmir wurde unter der Regierung des Qakakönigs Ka- 
nishka (wohl seit 78 p. C.) berufen. Die südlichen Buddhisten 
in Ceylon und Hinderindien scheinen das vierte Konzil, die 
nördlichen in Tibet und China das dritte Konzil nicht zu 
kennen oder nicht anzuerkennen: nach dem zweiten Konzil 
und vielleicht in Zusammenhang mit ihm mag sich also jenes 
Schisma vollzogen haben, welches zu einer Spaltung des Bud- 
dhismus in eine nördliche und südliche Kirche geführt hat, 
von denen jede ihre eigene heilige Literatur besitzt. 
4. i'ber die (Quellen dos Buddhismus. ]21 
T)i(' Schriften der nördlichen Kirche wären iiacli einijien 
nie zu einem Kanon zusammengef'afst worden: nach Olden- 
berg soll ein solcher Kanon beistanden haben, aber im weitern 
Verlaufe wieder zerfallen sein. Vertreten ist diese Literatur 
der nitrdlichen Kirche durch Sanskritschriften wie den Lalita- 
vistara, eine ])hantastisch ausi»;eschn\ückte l]ioü;raphie Bud- 
dha's, von seiner Geburt bis zum lieginn seiner Lehrtätigkeit 
reichend, teils in X'ersen, teils in Prosa, welche aus ungewisser 
Zeit und mehr für die Fortentwicklung des Gemeindelebens 
als für das Leben des Stifters von Bedeutung ist. Hierzu 
kommen Sanskritwerko wie das Divyävadänam, das Ma- 
havastu und andere, nur aus tibetanischen und chinesischen 
Bearbeitungen bekannte, Schriften. Alle diese Denkmäler d(M- 
nördlichen Kirche zeigen den Buddhismus nur in seiner spä- 
tem, vielfach schon entarteten Gestalt. 
Die heiligen Schriften der südlichen Buddhisten liegen in 
Fäll (einem Avahrscheinlich dem Süden Indiens angehörigen 
Dialekte) vor, zusanimengefafst zu einem Kanon, welcher nach 
einer ungefähren Berechnung das Doppelte des Umfangs 
unserer biblischen Bücher betragen soll. Die einzelnen Teile 
führen in der Regel den Namen SiUrcoii. „Faden", ein Wort, 
welches hier nicht wie in der brahmanischen Literatur die 
als Leitfaden dienenden kurzen „Lehrsprüche'% sondern das 
wie ein Faden Zusammenhängende, d. h. den heiligen ,,Text" 
bezeichnet, im Gegensatze zu den ihn erläuternden Kommen- 
taren: die Sütra's sind teilweise vereinigt zu XiJcäya^s, 
„Gruppen", und das Ganze schliefslich ist zusammengefafst 
in drei Fifalias oder „Körben": alle diese Ausdrücke deuten 
auf grofse Sammlertätigkeit hin, welche, vom Kleinen zum 
Gröfsern fortschreitend, endlich ihren Abschlufs in dem ganzen 
Komplexe des Trij)/(aht))i, d. h. ,,der drei Körbe-* fand, welche 
als ViiKoja-pitakam namentlich die Ordensregeln, als Sfttra- 
pifaJcam die Dialoge Buddha's und vieles andere und als 
Abliidharma-pikilcion i)sychologische und ethische Fragen, kon- 
troverse Punkte und manches andere behandeln. Die Ab- 
fassung des Vinaya- und Sütrapitakam fällt nach Oldenbergs 
Untersuchungen (Zeitsclir. d. D. Morgenland. Gesellschaft 
LTI S. 6B5 fg.j in die Zeit teils vor, teils nach dem zweiten 
122 I- Vorbemerkungen. 
Konzil, über welches schon im Vinayapitakam berichtet wird. 
Einzelne Teile des Kanon, wie namentlich das Kathävastu^ 
reichen bis in die Zeit des Ayoka (250 a. C.) herab. Zur all- 
gemeinen Orientierung möge der Inhalt des Tripitakam nach 
Rhys Davids (Buddhism p. 18 sq. und American Lectures 
p. 44 sq.) kurz mitgeteilt werden. 
A , Vinay a - Pi t akam . 
1) Pdrdjikal-amki, unver- ] ,, , , ,. ^^ . ■, ,. -, 
■ -IT 1 'ö- ] enthaltend die IJeichtiormel 
zeihliche bunden ^,,. ,^, .^ ^ 
^. ,,. .j. . , , ; Fatrmokklia mit Kommen- 
ZI rucdtniakcmaa, ver- , i . i 
^ ., /. , ■^;.. , taren und Anmerkungen. 
zeihhche feunden J ® 
3) MoJiäragga 
(Mahävarga) Regeln über das tägliche Leben der 
4j Cfdavagga [ Mönche und Nonnen u. a. 
(Kshullavarga) , 
5) FarifärcqjäfJia, kurze Rekapitulation der vorhergehen- 
den Bücher. 
B. Sütra-Pitakam. 
1) 7)/^/«a»?M?/a (Dirghanikäya), 34 
längere Stücke, unter ihnen 
das Mahä-Parinibbäna-Suttam 
(^lahaparinirvana-sütram). 
2) Miijjhinmnikäga (Madhyamani- 
käya), 152 Stücke von mitt- 
lerer Länge. 
Unterredungen Bud- 
dha's mit seinen 
Jüngern über 
mancherlei Gegen- 
stände , unsystema- 
tisch nach der Länge 
der Stücke geordnet. 
3) Samguttanikäya, enthält in 55 Samyulcta's (Gruppen) 
den Gesamtinhalt der Lehre, an Begebenheiten in 
Buddha's Leben angeknüpft. 
4) ATtguttaranikäya (Angottaranikäya), mancherlei psycho- 
logische und ethische Lehren nach der Anzahl der 
besprochenen Gegenstände in Klassen zusammen- 
gefafst. 
1. (bor die l^uellen des Buddhismus. ]23 
öl Klu(<l<l(iJi(iiiiJii(i/a (Ksliudrakauikriya), Sammlunf>; kleine- 
rer Werke, 0111111111 lö Soliriften, welche dem Sutra- 
pitakam oder von andern dem Abhidharmapitakam 
als Anhang zugerechnet werden. 
1. Khuihlalapätha (Ksluuh'akai)atha, kurze Ahsclinitte), 
enthaltend die Zufluchtsformel, eine Aufzählung 
der Bestandteile d(\s Körpers und eine Sammlung 
von Gedichten, wahrscheinlich für den Gebrauch 
der Novizen bestimmt. 
'2. Dhammaimdam (Dharmapadam, ,,das AVort der 
Pflicht"), eine Sammlung von 423 Lehrsprüchen 
in 26 Abschnitten und verschiedenen Versmafsen, 
welche nach Weber ,,zu den ältesten und kost- 
barsten Dokumenten der buddhistischen Literatur 
gehören". 
0. UdäiHim (,, Erhebung'*). 82 begeisterte Aussprüche 
in metrischer Form, welche Buddha bei besondern 
Veranlassungen getan haben soll. 
4. Iticuttalcam, 112 Aussprüche Buddha's, welche jedes- 
mal durch die Worte „So ist von dem Erhabenen 
gesagt worden" (viiitam = uMam) eingeleitet werden. 
5. Suttampcda, eine Sammlung von 71 didaktischen, an 
bestimmte Anlässe sich anschliefsenden Stücken. 
6. Vtmunavattliu, „A'^on den himmlischen Stätten han- 
delnd", 
7. Pct((ccdt]iu, ,,von den abgeschiedenen Geistern (prda) 
handelnd". 
8. Theragäthä, „Lieder der Mönche", wörtlich ,,der 
Alten" (tlicra = sthavira). 
9. TlnngcWiä, „Lieder der Nonnen" (stliavin). 
10. Jätalaui, Erzählungen aus den 550 frühern Geburten 
(Jutulca) des Buddha, eine wertvolle Sammlung 
alter ^[ärchen und Fabeln mit ethischer Nutz- 
anwendung, deren Held in der Eegel mit Buddha 
in einer frühern Geburt identifiziert wird. 
11. Xidilesa, ein Kommentar (nirdcra) zu 33 Sütra's des 
Suttanipäta (oben Nr. 5) durch Buddha's Jünger, 
^'äriputra. 
124 I- Vorbemerkungen. 
12. Fatisamhliidd (bei den nördlichen Buddhisten xwa- 
tisamvid, innere Einsicht). Über die intuitive Er- 
kenntnis der buddhistischen Heihgen. 
13. Äpadüu(Cs^ Legenden {avadäna's) aus dem Leben 
buddhistischer Heihgen. 
14. Huddhavamsa (Buddhavaüga), kurze Lebensgeschich- 
ten des Buddha und seiner vierundzwanzio- Vor- 
'Ö 
ganger. 
15. Cariyäpitahani (Caryapitaham), eine Bearbeitung in 
Versen von 35 Jätaka's. 
C. Abhidharma-Pitakam. 
(Dieses Pitakam enthiüt nicht, wie man früher annahm, 
eine Metaphysik, sondern, wie der Name besagt, ein nach- 
träghches Gesetz, gleichsam ein Deuteronomium, welches die 
Gesetzesbestimmungen kurz rekapituliert und auf streitige 
Punkte näher eingeht. Seine sieben Teile sind:) 
1) DhammasaTigani [Dliarmasamgcmauu , Aufzählung der 
Bestimmungen), psychologische Begriffe und Zu- 
stände betreffend. 
2) Vihlimiya (,, Einteilung, Erörterung"). Li 18 Teilen 
verschiedene Gegenstände behandelnd. 
3) KaihävaWiit , streitige Punkte als ,, Gegenstand der 
Diskussion" {l'ailiävasiu) behandelnd. 
4) FuggalapanhatU ( Fudgalaprajnapti), „Charakteristik 
der Lidividualitäten". 
5) Dhätuladhü , Diskussion der Grundbestandteile der 
Charaktere. 
6) Yamakaiii, paarweise Behandlung von Gegensätzen. 
7) Patfliaimni (PrastJiänam), von den Ursachen des Ent- 
stehens handelnd. (Nach Childers.)* 
* Von neuem Schriften über den Buddhismus erwähnen wir nur das 
grundlegende Werk von Oldenberg: Buddlia, sein Leben, seine Lehre, seine 
Gemeinde. 5. Auii. Stuttgart 190G, neben welchem das kurze, praktische 
Kompendium von Rhys Davids, Buddhism (in den Json-Christian Religious 
Sj'Stems) mit Nutzen gebraucht werden kann. Wertvolle Übersetzungen 
5. Die buddhistische Ziifluchtsforftiol. 125 
5. Die buddhistische /nnuolitsformel. 
Der Eintritt in die buddliistische Gemeinde erfolgt durch 
dreimaliges Bekenntnis des Triraranani, der dreifachen Zu- 
tluchtsformel. Sie lautet: 
Buddham raranam gaccltanii 
DJiannani garanam f/äccJiämi 
SarigJtam ^aranam gacchämi, 
„Ich nehme meine Zuflucht zu dem Buddha; 
Ich nehme meine Zuflucht zu der Lehre; 
Ich nehme meine Zuflucht zu der Gemeinde." 
Hiernach wird unsere Darstellung zu handeln haben: 
1) von dem Lehen des Buddha, 2} von der durch ihn offen- 
barten Lehre, 3) von der durch ihn gestifteten Gemeinschaft. 
IL Buddha's Leben. 
1. Ton der Geburt bis /um ^rofsen Auszuge aus der Heimat. 
Wie das Leben des Homer, Pythagoras, Piaton und 
anderer grofser Männer, so ist auch das Leben des Buddha 
von seinen Verehrern so früh mit Sagen umwoben und durch- 
flochten worden, dafs es unmöglich sein dürfte, den historischen 
Kern rein herauszulösen. Es wird richtiger sein, ihn in seiner 
mythischen Schale zu belassen, da diese Zeugnis ablegt, wenn 
auch nicht von dem was Buddha war, so doch von dem, was 
er in den Augen seiner Verehrer schon in verhältnismäfsig 
kurzer Zeit, schon vor der Abfassung des Tripitakam geworden 
ist, auf welches wir, von den noch phantastischeren Aus- 
führungen der spätem Zeit absehend, unsere Mitteihmgen 
beschränken wollen. 
aus den Pitakatexten lieferten für Buddha"s Leben Dutoit, Das Leben des 
Buddha, Leipzig 190G, und liir seine Lehre K. E. Neumann, Buddhistische 
Anthologie, Leiden 181)2; Die Beden Gotamo Buddho's aus dem Majjhimani- 
käya, Leipzig 1896 fg.; Die Lieder der Mönche und Nonnen, Berlin 1899; 
Die Reden (iotamo Buddlio's aus der Sammlang der Bruchstücke Suttanipäto, 
Leipzig 1905; aus der längeren Sammlung Dighanikäyo, München 1907 fg. 
Die letzten Tage Gotamo Buddho's, München 1911. 
126 H^- Buddha's Leben. 
Tatsache ist jedenfalls, dafs Buddha als Sohn eines kleinen 
Fürsten Cuddhodana aus dem Geschlechte der Cähja, der sich 
nach damaligem Brauche den Beinamen Gmitama, eines alt- 
vedischen Rishi, l)eilegte, in dem an den Abhängen des 
Himälaya südlich von Nepal liegenden Lande Kapilavastu mit 
gleichnamiger Hauptstadt geboren ist. Seine Mutter 3Iäyä 
soll sieben Tage nach seiner Geburt gestorben sein. Er selbst 
erhielt den bedeutsamen, aber nicht ungewöhnlichen Namen 
SlddhcuiJia („der sein Ziel erreicht hat"). Bei seinen Verehrern 
heifst er Bhagavän („der Heilige"), (■äh/amwii („der Weise 
aus dem Qäkyastamme") , Sugata („der den guten Gang ge- 
gangen ist") usw. Er selbst scheint sich mit YorHebe den 
Tafhägafa („den, dem es ebenso ergeht") genannt zu haben, 
ein Name, der, wenn unsere Auffassung die richtige ist, eine 
merkwürdige Analogie mit der Benennung zeigt, welche Jesus, 
zunächst allerdings mit Anlehnung an Daniel 7,13 von sich 
gebrauchte, wenn er sich als dVo^ toO dv'ä^poTco'j, „des Menschen 
Sohn", bezeichnete. Solche Übermenschen, wie Buddha und 
Jesus, fanden es bemerkenswert, ja auffallend, dafs sie, die 
so hoch über ihrer Umgebung standen, doch ebenso wie 
alle gewöhnlichen Menschen essen und trinken, leben, leiden 
und sterben mufsten, und darum vielleicht nannte sich der 
eine Tathägata, der andere u'.öi; toO dv'ä^poTtou. Den Namen 
Buddha, „der Erweckte", „der Erleuchtete", legte sich Buddha 
erst nach Erlangung der vollkommenen Erkenntnis (hodlii, 
samhodhi) bei; bis dahin war er ein Bodhisattva, einer, der die 
Erkenntnis als sein Wesen (sattvam), wenn auch erst keim- 
artig, besitzt, d. h. einer, der in seinem gegenwärtigen Lebens- 
laufe ein Buddha oder Arhant werden wird, im Gegensatze 
zu den drei untern Stufen, des Srota'-cqmmm, der in den zum 
Nirvänam führenden Strom eingetreten ist, des Salrid-ägämin, 
der nur noch einmal als Mensch, und des Än-ägäm/n, der 
nicht mehr als Mensch, sondern nur in der Brahmanwelt 
wiedergeboren zu werden braucht, bis er endlich als Bodhi- 
sattva im Verlaufe des Lebens die SamhodJu' erlangt und ein 
Buddha, ein Arhant wird. 
Wunderbar sind die Begebenheiten vor und nach der 
Geburt des Buddhaknaben. Seine Mutter Mayä träumt, sie 
1. Von der (lohurt bis /.um grol'soii Aiis/.Uf^c iius der Heimat. ]27 
hcliiulc sicli ;mf den lliUion dos Ilimahiya und dort sei ein 
woifser Elefant in ihre Seite eingeo;aii<i;en. Der Fürst Quddlio- 
daua versammelt vioriindsechzig Brahmaneii, speist sie, be- 
schenkt sie und fordert sie auf, den Traum zu deuten, Sie 
erklären, dafs Mayä einem Sohne das Leben geben wird, der 
entweder ein AVeltbeherrscher (('ahravartin) oder ein Welt- 
überwind er, ein Jiuddha, werden wird. Der Vater wünscht 
das erstere, und nimmt sich vor, alles von dem Sohne fern 
zu halt(Mi, was ihn an das Elend des Daseins, an Alter, 
Xrankli(>it und l\)d erinnern könnte. Vor der Geburt ver- 
langt die Muttrr von Kapilavastu nach Devadaha zu reisen, 
wo ihre Familie wohnt. Sie gelangt bis zu dem zwischen 
beiden Orten gelegenen Haine Lmnhin'i, und hier gebiert sie 
unter einem Qalabaume zehn Monate nach der Empfängnis 
den Knaben, welcher von Göttern in Empfang genommen 
sofort auf den Füfs(>n steht, sieben Schritte nach Norden tut 
und in den Löwenruf (sihlianäda) ausbricht : „Ich bin der Erste 
d<^r \A'elt; dies ist meine letzte Geburt, es gibt für mich keine 
"Wiedergeburt mehr." Alle Welten erbeben, ein wunderbarer 
Glanz durchdringt die Welträume, Blumen regnen von allen 
Seiten, zwei Wolken eilen herbei und spenden warmes und 
kaltes Wasser zum Bade für Mutter und Kind; Blinde werden 
seilend, Taube hörend. Lahme können gehen; alle Instrumente 
erklingen, ohne dafs sie jemand berührt, die Tiere lassen 
liebliche Töne hören und die im Tushitahimmel versammelten 
Götter jubeln, singen und tanzen. Von ihnen erfährt der 
Seher Asita die Ursache ihrer Freude und eilt hin, den Knaben 
zu sehen. Er nimmt ihn in seine Arme und spricht: „Dieser 
ist unvergleichlich, der höchste unter den Menschen." Er 
bricht in Tränen aus, weil er zu alt ist, um die Predigt des 
Meisters noch zu erleben, und l)eauftragt seinen Neffen NälaJca, 
dereinst, wenn die Kunde von Buddha sich verbreiten wird, 
von ihm sich belehren zu lassen und in seinen Wegen zu 
wandeln. 
Der junge Fürstensohn wird in W'ohllelx'U und Genüssen 
aller Art erzogen. Drei Paläste für die kalte, die heifse und 
die regnerische Zeit des Jahres st<^hen zu seiner Verfügung; 
er ist umgeben von schönen Mädchen, die ilm mit Saiten- 
128 II- Biuldlia's Leben. 
spiel, Gesang mul Tanz unterhalten; er wird vermählt mit 
Yarodharu und sieht der Freude entgegen, Vater zu werden. 
In dieser Zeit des höchsten Glückes senden die Götter ihm, 
von dem der Vater alle Eindrücke, welche an Alter, Krank- 
heit und Tod erinnern konnten, fernzuhalten bemüht gewesen 
ist, nach einander vier Visionen, welche seinen weitern Lebens- 
weg bestimmen sollten. Hören wir, was darüber das Tripita- 
kam (in der Nidänakathä) berichtet: „Eines Tages bekam der 
Bodhisattva Lust, in seinen Park zu fahren, bestieg den 
einem Göttersitze gleichenden Wagen und fuhr fort in der 
Kichtung nach dem Parke. Da dachten die Götter: die Zeit 
ist gekommen, dafs der Prinz Siddhärtha zur Erleuchtung 
gelangen soll; wir wollen ihm ein Vorzeichen vor Augen 
stellen! Und sie machten einen Göttersohn zu einem hinfälligen 
Greise mit schadhaften Zügen und grauen Haaren, krumm, in 
gebeugter Haltung, mit einem Stabe in der Hand, zitternd, 
und zeigten ilim diesen. Nur der Bodhisattva und sein 
Wagenlenker bemerkten ihn. Da fragte der Bodhisattva den 
Wagenlenker: Freund, was ist das für ein Mensch? Als er 
dessen Antwort vernommen hatte, rief er aus: Wehe über 
die Geburt, da sich bei den Geborenen der Verfall zeigt! 
Erschüttert im Herzen kehrte er um und stieg in seinen 
Palast hinauf. Der König fragt nach der Ursache der eiligen 
Rückkehr seines Sohnes und erhält zur Antwort: Er hat 
einen alten Mann gesehen, o Fürst; weil er den alten Mann 
gesehen hat, will er die Welt verlassen. Der König rief: 
Warum wollt ihr mich zugrunde richten! Holt rasch Tänze- 
rinnen für meinen Sohn; wenn er angenehme Eindrücke er- 
hält, wird er den Gedanken an die Weltflucht verlieren!" 
Bei einer zweiten Ausfahrt sieht der Prinz am W'ege einen 
Kranken liegen, von Aussatz bedeckt, von Fieber geschüttelt. 
Bei einer dritten Fahrt erblickt er einen Leichnam, auf- 
gedunsen und von Würmern angenagt. Jedesmal wiederholt 
sich die Frage an den Wagenlenker, die Erschütterung des 
Prinzen, die Beunruhigung des Vaters. Bei einer vierten 
Ausfahrt in den Park senden ihm die Götter die Erscheinung 
eines Mönches mit dem Ausdrucke des tiefsten Friedens, aus 
dessen Angesicht das Bewufstsein sprach : „Ich habe die Welt 
1. \oii der (Jil)iirt bis zum grorseu Auszüge aus der Heimat. 121) 
iHxMw imden." Jetzt wufste Siddhartlui seinen Weg. Er kehrt 
zurück und wird nocli einmal mit allem königlichen Schmucke 
angetim. Da bringt man ihm die Nachriclit, dals seine Gattin 
ihm eiuen Sohn Hitlnda geboren hat, und er ruft aus : ,,Rahula 
ist gehoreu, eine Fessel ist mir geschmiedet!" Die Tochter 
eines Edlen, mit Namen Kriraf/a/ttamK erblickt ilin auf seinem 
Wngen in königlicher Pracht und ruft aus: ,.Selig der Vater, 
selig die ^lütter, selig die Gattin eines solchen Mannes!"' 
Siddhartha aber spricht zu sich: „Selig ist nur der, dessen 
Herz den Frieden gefunden hat; nur wenn das Feuer der 
Lust, der Sünde, des Irrtums und des Stolzes erloschen ist, 
wenn all«' Leidenschaften und Sünden erloschen sind, ist 
Friede. Ein 2;utes Wort hat diese mir gesagt, denn ich bin 
ja im Suchen nach dem Frieden begriffen. Heute ist die 
Zf'it für mich gekommen, das Haus zu verlassen, Mönch zu 
worden und das Sirvänam zu suchen." Er beschenkt das 
Mädchen und steigt in seinen Palast hinauf, wo ihn ge- 
schmückte Frauen mit Tanz und Gelang zerstreuen. Er 
schläft ein, erwacht nach kurzer Zeit w^ieder und sieht beim 
Schein der herabgebrannten Lampen die eingeschlafen en 
Frauen rings umher liegen, mit ungeordneten Kleidern und 
in widerlicher Lage. Ekel ergreift ihn, der herrliche Palast 
kommt ihm vor wie ein Leichenhaus, alle drei Welten der 
beseelten Wesen, die sinnliche, die körperliche und die un- 
körperliche, erscheinen ihm wie brennende Gebäude. Und er 
ruft aus : „Wehe über das Elend, wehe über das Verderben ! " 
Er steigt hinauf in das Gemach seiner Gattin, um seinen Sohn 
zu sehen. Sie hält schlafend ihre Hand über dem Kopfe 
des Knaben, und er wagt nicht, die Hand zu entfernen aus 
Furcht, sie zu wecken und in seinem Entschlüsse wankend 
zu werden. Er besteigt sein Kofs Kanijtal'a^ und, begleitet 
von seinem Diener Cltaudala., stürmt er durch die von Götter- 
hand geöffneten Tore der Stadt in die Nacht hinaus, durch- 
zieht in der einen Nacht drei Königreiche, bis zu dem Flusse 
Anavamä und spricht : „ Anavamä, der ungemeine, heifst dieser 
Flufs, und ungemein ist mein Vorhaben," Er setzt mit Rofs 
und Diener über den Flufs, schneidet mit seinem Schwerte 
-eine Haare ab, welche mitsamt dem sie schmückenden Diadem 
Dkusses, Geschichte der Pliilosophie. I,in. 9 
K)0 11. Buddha's Leben. 
(yergleiehl)ar dem Haare der Berenike) von Indra an den 
Himmel versetzt werden, und beschliefst, das gelbe Asketen- 
gewand anzulegen. Ein himmlischer Genius reicht ihm die 
acht Stücke dar, welche der buddhistische Bhikshu besitzen 
darf, die drei Stücke des Gewandes, den Gürtel, das Sclier- 
messer, die Nadel, die Almosenschale zum Betteln und die 
das Verschlucken lebender Wesen verhindernde Seihe zum 
Wassertrinken. Der Diener Chandaka wird mit den könig- 
lichen Kleidern zurückgesandt, dem Rosse Kanthaka, welches 
weifs, dafs es seinen Herrn zum letztenmal getragen hat, 
bricht vor Kummer das Herz. Der künftige Buddha verweilt 
sieben Tage lang in der Einsamkeit eines Mangowaldes, ehe 
er sich nach Eäjagriha begibt. 
Dieser phantastisch ausgeschmückten Erzählung stehen 
andere und wohl ältere Berichte des Tripitakam entgegen, 
nach welchen Siddhartha, wie es scheint, nicht heimlich, 
sondern gegen Wunsch und Bitten seiner Eltern aus der 
Heimat in die Heimatlosigkeit entwichen wäre. Er spricht 
(Anguttara-Nikäya HI, 38) zu seinen Jüngern : ,,Ich war vor- 
nehm, ihr Mönche, ich war sehr vornehm. Für mich waren 
bei dem Palaste meines Vaters Teiche gegraben, auf denen 
Wasserlilien, Wasserrosen und Lotosblumen blühten. Mein 
•Gewand und mein Turban waren aus feiner Baumwolle. Bei 
Tag und Nacht wurde über mir ein weifser Sonnenschirm 
gehalten, um mich gegen Kälte, Hitze und Staub zu schützen. 
Ich besafs drei Paläste für den Winter, den Sommer und die 
Eegenzeit, und selbst den Dienern meines Vaters wurde Reis, 
Fleisch und Brei als Nahrung gegeben. In dieser Pracht, in 
diesem Wohlleben kam mir folgender Gedanke: Wenn ein 
unwissender Weltmensch, der doch selbst dem Altern, der 
Krankheit, dem Tode unterworfen ist, einen andern sieht, der 
altert, krank oder tot ist, so fühlt er sich abgestofsen und 
empfindet Ekel, indem er gewissermafsen dabei gegen sich 
selbst Widerwillen empfindet. Nun bin auch ich dem Altern, 
der Krankheit, dem Tode vmterworfen. Würde nun auch ich, 
wenn ich einen andern sähe, der alt, krank oder tot ist, mich 
abgestofsen fühlen und Ekel empfinden ? Das wäre nicht recht 
von mir! Während ich so iSei mir erwog, schwand gänzlich 
1. \\)n tlVr Geburt liis /.um groläcu Auszüge aus der Heimat. 131 
meine Freude an Juiiend, Gesundheit und lieben dahin."' 
Alinlieh äuCs^ert sich Buddha an einer andern Stelle (Majjhiraa- 
Xikaya '26): „Vor der Krlangung der Erleuchtun,i>;, als ich 
nocli Rodhisattva war, forschte ich, der ich der Geburt, dem 
Alter und der Krankheit, dem Tode, dem Kummer und der 
l'nreinheit unterworl'en war, nach d(Mn, was Geburt, Alter, 
Kränkln it und Tod herbeiführt. Und der Gedanke kam mir: 
^^'ie wäre es, wenn ich, der ich dem Geboren werden, Altern, 
Kranksein und Sterben unterworfen bin, nachdem ich ein- 
U'esehen, welches Übel in Geburt, Alter, Krankheit und Tod 
lieot, nach dem unübertrefflichen Glück der Beschauung, das 
frei von diesem allen ist, wenn ich nach dem Nirvänam suchen 
würde? l'nd ich. der ich jung war, ein Knabe mit schwarzem 
Haar, der ich in glücklicher Jugend lebte, sclior mir, obwohl 
^'ater und ^lutter damit nicht einverstanden waren, sondern 
Tränen im Antlitz hatten und weinten, Haare und Bart, zog 
gelbe (üewänder an und begab mich aus der Heimat in die 
Heimatlosigkeit"; und an einer verwandten Stelle (Majjhima- 
Nikäya 36) sagt Buddha: „Bedrängnis ist das Weilen im 
Hause, eine Stätte der Unreinheit; unter freiem Himmel ist 
(las Leben des Mönches; nicht leicht ist es für einen das 
Haus Bewohnenden, den ganz reinen, vollkommenen ^^^andel 
der Heiligkeit zu führen." Wie so häufig im Leben, mögen 
auch hier mancherlei Motive zusammengewirkt haben, um den 
jungen Fürstensolm zu seinem Entschlüsse zu bestimmen. 
Tretfend sagt auch llhys Davids: „Er war wahrscheinlich 
niclit der erste, und ist sicherlich nicht der letzte gewesen, 
der mitten im Reichtum und Wohlleben eine Unbefriedigtheit 
und iimere Leere empfand, die durch nichts auszufüllen war, 
und welche alle irdischen Genüsse und Hoffnungen ihres 
Zaubers beraubte. Dieses unbestimmte Gefühl der Unzufrieden- 
heit vertiefte sich mit jedem neuen Beweise von der Eitelkeit 
aller Genüsse und von der Nichtigkeit des ganzen Daseins, 
und wurde nur noch verstärkt, wenn nicht sowohl eigenes 
Ungemach als das Mitgi^fühl mit den Leiden anderer die 
Quelle dieser Empfindung war, wie es bei Gautama der Fall 
gewesen zu sein scheint." 
q* 
132 II. Buddha's Leben. 
2. Vom Aiisziig'e aus der Heimat bis zur Erlaiig:uBg: der Buddliascliaft. 
Neunundzwanzig Jahre soll Buddha alt geworden sein, 
als er aus der Heimat in die Heimatlosigkeit zog. Er begab 
sich zunächst nach Taijagrilia (südlich vom untern Laufe des 
Ganges), der damaligen Hauptstadt des Reiches Magadha, und 
trat in die Lehre bei einem brahmanischen Meister Aräda 
Käläma. Unbefriedigt von dem, was dieser zu bieten ver- 
mochte, wandte er sich an einen zweiten Lehrer, UdraJca, den 
Sohn des Räma, aber auch dieser war nicht imstande, die 
Sehnsucht seines Herzens nach dem Nirvänam zu stillen. Nach 
den Aufserungen Buddha's im Majjhima-Nikäya 06 scheint er 
bei beiden Lehrern die innere Einsicht in das, was sie lehrten, 
vermifst zu haben: ,,Ich redete nur mit den Bewegungen der 
Lippen, mit den Lauten der Sprache das Wort der Erkenntnis." 
Über den Inhalt der Lehre erfahren wir, dafs ihn der erste 
Lehrer in die „Sphäre des Nicht- Seins", der zweite in die 
„Sphäre des Weder-sich-Bewufstseins-noch-Nichtbewairstseins" 
emporführte. Hiernach scheinen es die damals unter den 
Brahmanen sehr verbreiteten Übungen der Yogapraxis gewesen 
zu sein, welche diese Lehrer auf Grund einer schon festen 
Tradition und ohne tieferes Verstehen und Empfinden mit 
ihren Schülern betrieben. „Diese Lehre, so dachte ich, führt 
nicht zum Verlieren des Gefallens, nicht zum Verlieren der 
Lust, nicht zum Aufhören, nicht zur Beruhigung, nicht zur 
Einsicht, nicht zur Erkenntnis, nicht zum Nirvänam." 
Zwei Stunden südlich von dem noch jetzt bestehenden 
Landstädtchen Gayu liegt unweit des alten Uriibilvä in frucht- 
barer Gegend zwischen Waldungen und Feldern der nur aus 
wenigen Häusern bestehende Flecken JJuddhagayä am l fer 
des Flüfschen Nairanjanä (Päli: Neranjarä), dessen Dasein 
ich, als ich im Februar 1893 unter Führung eines brah- 
manischen Klosterbruders (denn Buddhisten waren hier wie 
im ganzen Indien nicht aufzutreiben) den Ort besuchte, erst 
dann bemerkte, als ich mitten darin stand, da er nur Stein 
und Geröll, aber keinen Tropfen Wasser enthielt. Zur Linken 
der Landstrafse, wenn man von Gayä kommt, liegt ein grofses 
Kloster brahmanischer Sädhu's, in dessen Hof von den Mönchen 
2. Vom Auszuge bis zur Erlaiignng dor Hiiildliascluitt. l;;;} 
ein solnvuni2;]inft(M- Haiulcl mit Korn und Ol botrieben wird; 
in blauer Ferne siebt man Ivaiaürilia an ein(Mi Berürücken 
o-elelmt : zur Reebten der Landstrafse liegt in einer weiten, 
von d(Mn umiiebenden Kultursebutt der Jabrbunderte frei- 
gebalt enen \'ertiefung der Tempel Ibuldba's, mebrere Stock- 
werke boeb; in ibm eine vergoldete Kolossalstatue des mit 
luitergeseblagenen Beinen sitzenden Buddba; binter dem 
lUicken der Statue an der äufsern Seite des Tempels stellt 
ein mäfsig grol'ser Feigenbaum, der wobl ein Abkömmling 
desjenigen sein mag, unter welebem Buddba seine Often- 
barungen liattc. Kings um den Tempel in weitem Umkreise 
stellen Denkmäler mit Weihinscbriften cbinesiscber, japa- 
niscber und anderer Pilger. Dies ist w^obl obne Zweifel die 
Stätte, auf weleber dem Buddha und durcb ihn der ostasia- 
tischen ^lenscbheit die grofse Belehrung geworden ist; denn 
Buddba lebte lange genug und kehrte oft genug zu dieser 
Stelle zurück, um sie seinen Jüngern zeigen zu können, die 
sie dann als de^i für sie heiligsten Ort der Welt in treuer 
Erinnerung bewahrt haben werden. Über diese Gegend sagt 
Buddha (Majjhima-Nikäya 36): „Indem ich nun so forschte, 
wo das Glück sei, und nach dem unübertrefi'lichen Wege zum 
Frieden suchte, da kam ich, während ich im Lande Magadha 
von Ort zu Ort wandelte, nach Uruvela (= Urubilvä), der 
Ileerstadt. Da dachte ich: Reizend ist dies Fleckchen Erde, 
lieblich der Wald und klar tbefst der Flufs, gute Badegelegen- 
heit bietend, ganz entzückend, und auf allen Seiten ^^ iesen 
und Dörfer. Passend ist dies als Stätte des Strebens für einen 
edlen Jüngling, der sich des Ringens befleifsigen will; und 
ich liefs mich dort nieder." 
Hier suchte der pilgernde Fürstensohn den Frieden, 
welchen er im Yoga durch jene beiden Lehrer nicht gefunden 
hatte, auf anderm Wege zu erreichen, indem er sich dem in 
jener Zeit nicht weniger verbreiteten Tapas hingab, und (ähn- 
lich wie Luther LJOö in seiner Klosterzelle zu Erfurt) durch 
mehr und mehr gesteigerte asketische Übungen nach dem 
Heile des Nirvanam strebte. Er bifs die Zähne zusammen 
und prefste die Zunge gegen den Gaumen, und suchte so, wie 
er selbst erzählt, ,,mit dem Willen den Verstand zu unter- 
134 II- Buddha's Leben. 
werfen, zu unterdrücken und zu zermartern." Er hielt den 
Atem an, bis ihm der Kopf schmerzte, der Leib schmerzte, 
der ganze Körper in Ghithitze geriet. Er fastete, bis er mir 
noch Knochen und Haut an sich zu fühlen glaubte, und unter- 
hielt sein Leben durch die kärglichste und abstofsendste 
Nahrung. Fünf andere Asketen sammelten sich um ihn und 
bewunderten die Bravour seiner Leistungen. ..Durch diese 
Lebensführung", erzählt er, „durch diese Abtötung aber gelangte 
ich nicht zu dem höchsten, von ^Menschen erreichbaren Zu- 
stand, zur völligen Erkenntnis edlen Wissens, zum gänzlichen 
Aufhören des Leidens. Und ich dachte: Welche Asketen und 
Brahmanen auch immer in der vergangenen oder zukünftigen 
Zeit unangenehme, stechende, beifsende Gefühle empfunden 
haben oder empfinden werden, dies ist das äufserste und es 
gibt nichts darüber. Und doch gelangte ich mit dieser 
schmerzlichen Betätigung schwerer Abtötungen nicht zu dem 
Bereich der ausreichenden edlen Erkenntnis und Einsicht, die 
alle menschliche Lehre übertrifft; könnte es nicht noch einen 
andern Weg zur Erleuchtung geben?" Die Erinnerung an 
einen seligen Moment der Ekstase, der ihm schon im Hause 
seines Vaters zuteil geworden war, zeigte ihm diesen andern 
Weg. ,,Und ich dachte: Dies Glück ist nicht leicht zu er- 
reichen für einen, dessen Körper zu so übermäfsiger Abmage- 
rung gekommen ist. Und ich nahm wieder reichliche Speise 
zu mir, Reisbrei und sauren Schleim. Zu der Zeit aber waren 
fünf Mönche mir beigesellt, die dachten: Wenn der Asket 
Gautama zur Wahrheit gelangen wird, wird er sie uns mit- 
teilen. Als ich aber reichliche Speise zu mir nahm, Reisbrei 
und sauren Schleim, da verloren die fünf Mönche den Ge- 
fallen an mir und verliefsen mich, indem sie sagten: Im Uber- 
flul's lebt der Asket Gautama : vom Ringen hat er abgelassen 
und sich zum Uberflufs gewandt." Dies Verkanntwerden A^on 
Seiten derer, die ihn bis dahin hochgeschätzt und bewundert 
hatten, mag wohl eine der bittersten Erfahrungen im Leben 
des Weisen gewesen sein, und er mag etwas Ähnliches em- 
pfunden haben wie Jesus in dem Augenblicke, über welchen 
der lakonische Bericht Matth. 26,56 lautet: tcts c'. [j.a^'/]Tal 
2. Vom Aiisziige liis zur Erlangung der HmliUiasoliaft. l;}5 
Sit'lx'ii Jahr»' seit (1<mii X'criiissoii der Heimat waren iiiiler 
vornvhliclicn l{oniühuni»;t'n. durcli die dem Zeitalter <;-eläuli<i-eii 
Ibun^oii von Yoga und Tapas zum Heile zu gelangen, im 
Lohen des Kleisters verstrichen, als jene grofse Nacht heran- 
hrach, w(dche ihm und durch ihn di'r W'idt dii- \'olle Erkennt- 
nis hringen sollte. Wir sehen nach spätem lierichten den 
(^akyasohn. wie er, unig(d)en \()n den wildanstürmenden 
Scharen des X'ersuchers Mära ^ unter dem A(;vattliabaumo 
(ßcns relifjiosa), der seitdem ,,der liaum der Erkenntnis" 
(hodhi-titru) genannt wurde, dasitzt, nur auf sich selbst ge- 
stellt, erhahen, unbekümmert, nur seinen Gedanken nach- 
gehend. Er ringt um die ewige ^^^lhrheit, und die ganze 
Natur umher in wildem Aui'ruhr scheint an seinem Ringen 
teilzunehmen. .,Als der Kampf begann zwischen dem Retter 
der Welt und dem Fürsten der Finsternis, da stürzten Tau- 
sende von glühenden Meteoren vom Himmel nieder; finstere 
Wolken umhüllten die Gegend, und die Erde selbst mit ihren 
Ozeanen und Gebirgen erbebte, wie ein lebendes W^esen, wie 
eine Braut, di(> man von ihrem Bräutigam losreifsen will, wie 
das Laub • unter dem Brausen des Windes. Das Meer über- 
flutete seine l'fer: Flüsse strömten zu ihren Ouellen zurück; 
hohe Berggipfel brachen in Trümmer zusammen ; wilde Stürme 
durchbrausten die Luft, die Sonne selbst hüllte sich in furcht- 
bare Finsternis, und eine Heerschar mifsgestalteter Gespenster 
erfüllte den Luftraum." (^fadhnrartha- Viläsini bei Rhys 
Davids p. 36.) 
Schlichter sind die Berichte im Tripitakam, wiewohl auch 
hier genugsam von dem Versucher Mara und seinen Scharen, 
von seinen drei Töchtern Trishua (Begierde), liaii (Wollust) 
und dem weiblich gedachten Faiga (Leidenschaft) und ihren 
verführerischen Gestalten die Rede ist. Im ^h^jjllima-Nikäya 36 
scliildert Buddha, was während der drei Nachtwachen der 
grofsen Nacht in seinem Iiniern vorging. Zunächst erhebt er 
sich zu der „auf l'berlegung und Selbstprüfung beruhenden" 
ersten, von dieser zu der „von Nachdenken und Selbstprüfung 
freien" zweiten Stufe der Ekstase. Er ersteigt A-on dort die 
dritte Stufe der Iiulitt'erenz und endlich die vierte der Samm- 
lung und Vollendung. • Von dieser Ilidir^ aus durchschaut er 
136 n. Buddha's Leben. 
während der ersten Naelitwache alle seine zahllosen frühern 
Geburten; während der zweiten glaubt er, nach Oldenbergs 
glücklichem Ausdrucke, „in visionärer Intuition den Welt- 
zusammenhang zu durchdringen" und die Geburten und 
AVanderungen aller Wesen durch Himmel, Erde und Hölle zu 
überblicken, und in der dritten Nachtwache endlich mit dem 
Herannahen des Morgenlichtes stellt sich auch in seinem 
Innern das volle Licht ein, und er erkennt die (wie er glaubt, 
nie vorher dagewesenen, aber doch möglicherweise auf einer 
unbewufsten Reminiszenz von Stellen wie Brih. Up. 4,4,G be- 
ruhenden) „vier heiligen ^^^ahrheiten" (catväri äri/äni satijäm), 
welche seitdem der kurze Inbegriff der buddhistischen Heils- 
lehre geworden und geblieben sind, die heilige Wahrheit vom 
Leiden, von der Ursache des Leidens, von der Aufhebung 
des Leidens und von dem Wege zur Aufhebung des Leidens, 
die w'ir weiter unten näher kennen lernen werden. 
Dürfen wir an diesen Bericht einen andern aus Maha- 
vagga I, 1 — 4 schlief sen, nach welchem Buddha nach Er- 
langung der Buddhaschaft noch viermal sieben Tage in der 
Einsamkeit verblieben wäre, um zu weitern Aufschlüssen, wie 
namentlich zum Durchschauen der zwölffachen Kausalitäts- 
kette zu gelangen, so würden wir an dieser schon in der 
Tradition vorliegenden Scheidung der vier heiligen Wahr- 
heiten von der zwölffachen Kausalitätsreihe eine Stütze finden 
für die Auffassung, welche sich uns weiter unten aus sach- 
lichen Gründen ergeben wird, dafs die Kausalitätsreihe nichts 
anderes ist, als eine spätere Erweiterung des jedenfalls auf 
Buddha selbst zurückgehenden Grundgedankens, der sich in 
den vier heiligen Wahrheiten ausspricht. 
Vier verschiedene Bäume sind es, unter welchen Buddha 
die vier erwähnten Wochen zubringt. In der ersten weilt er 
noch unter dem jB'r^fZ/;/- Baume und überdenkt in jeder der 
drei Nachtwachen, also, wie wir schliefsen müssen, einimd- 
zwanzigmal hinter einander die zwölffache Kausalitätskette 
vom Ende zum Anfang und vom Antang zum Ende. Die 
zweite Woche verbringt er unter dem Äjapäla-Baume, v>o ein 
Brahmane ihn anspricht und von Buddha die treffende, aber 
keineswegs neue Antwort erhält, dnfs das wahre Brahmanen- 
2. Vom Auszuge Ins zur Krlaiigung der liuildliascbaft. l;J7 
tiiin iiitlii iiul" der (Jeburt, soiuliTii auf Mondilät und Veda- 
studiuni beruhe. Die drifte Woehe verbringt Buiblha unter 
dorn naeh dem Schlangeiulänion Mucilindd benannten Baume. 
Ein Unwetter erhebt sich, und der Sehlangendämon umgil)t 
mit ^;einen Ikiugehuigen den Leib des Erhabenen, um ihn 
gegen Regen, Wind und KiUte zu schützen. Eine vierte 
\V(X'he hing weilt Buddha unter dem I'dj(h/afai/a-Bc\uim\ Zwei 
Kaut'k'ute, Trcqxisha und BJiaUiJca, ziehen vorüber und werden 
von den GiJttern angewiesen, den Heihgen mit Speise und 
Trank zu erquicken. Sie huhligen ihm, nehmen ihre Zufkicht 
zu dem Buddha und seiner Lehre und werden so die ersten 
Laienbrüder der noch nicht bestehenden Buddhagemeinde. 
Buddha zaudert, dasjenige, was ihn innerHch erfüllt, der 
>tumi)fen, in Sinnlichkeit versunkenen Menschheit mitzuteilen, 
und erst auf wiederliolte Bitten des schnell wie man einen 
Arm krümmt vom Himmel zu ihm herabsteigenden Gottes 
Bnihmä Sahümpaiih entschlierst er sich, „das Rad der Lehre 
ins Bollen zu bringen"' (dharniacahyon pra'cartayitmn)^ d. h. ein 
geistiger Caliravartin (Weltbeherrscher) zu werden. Er möchte 
zunächst seinen beiden brahmanischen Lehrern Aräda und 
Idraka die frohe Botschaft verkünden, aber es wird ihm 
ott'enbart, dafs beide gestorben sind, ein Zug der Legende, 
A\(>lcher wohl auf der Tatsache beruhen mag, dafs Buddha 
sich mit seiner Predigt zunächst nicht an die Brahmanen ge- 
wendet hat, welche doch in erster Linie berufen gewesen 
\\ären, ihn zu hören. Er gedenkt sodann der fünf Asketen, 
\\ eiche ihn bewundcn-nd umgeben hatten, solange er Tapas 
übte, und ihn verliefsen, als er von seinen fruchtlosen Kasteiun- 
gen abstand. ^lit dem Auge des Geistes erkennt er, dafs 
sie im Wildparke Rishipataiia bei Benares weilen, und dort- 
hin bf!gil>t er sich, um ihnen die Lehn^ zu predigen. Sie 
sehen ihn von ferne kommen und bcschliefsen, ihn nicht zu 
beachten, aber die Majestät sf^iner Erscheinung stimmt sie 
um; sie empfangen ihn mit Ehrfurcht und vernehmen mit 
Andacht seine Worte: ,,Zwei Extreme, ihr Mönche, sind von 
drin, der die A\'elt verlassen will, zu meiden. Das erste be- 
steht in der Betätigung von Lust und Freude, von Neigungen 
und Vergnügungen; es ist niedrig, gemein, unedel und füliit 
138 n. Rucldlia's Leben. 
zum \'er(U'ibeii. Das zwoiti^ besteht in der Betätigunti; über- 
raäfsiger Selbstanstrengimg: es ist leidvoll, unedel und führt 
auch zum Verderben. Der mittlere Wandel aber, wie er von 
dem Vollendeten erkannt wurde, l)ringt Einsicht und führt 
zur Euhe, zur Erleuchtung, zum Nirvanam." Als diesen mitt- 
leren Wandel bezeichnet dann Buddha den „heiligen, acht- 
teiligen Pfad", der den übrigen drei heiligen Wahrheiten als 
vierte angeschlossen zu werden pflegt. Und weiter teilt ihn cm, 
wie die Legende berichtet, Buddha alle vier heiligen Wahr- 
heiten mit, welche als die Summe der buddhistischen Doktrin 
den Inhalt seiner Ersthngspredigt in Benares bilden, ähnlich 
wie man Jesu die schönsten Aussprüche, die er hier und da 
während seiner kurzen Lehrzeit getan hat, als eine vom Berge 
gehaltene Erstlingspredigt (Matth. 5 — 7} in den Mund gelegt 
hat. Die fünf Asketen bekehren sich und werden die ersten 
Bhikshu's; die Buddhagemeinde ist gegründet. 
3. Von der Erlangung der Buddhaschaft bis zum Tode. 
Während Sokrates und Jesus, der eine nach siebzig, der 
andere schon nach dreifsig Jahren eines gewaltsamen Todes 
starben und, mit der Glorie des Märtyrertums umkleidet, in 
idealer Vorklärung im Andenken ihrer Jünger fortlebten, so 
war es dem Buddha beschieden, bis zum Alter von achtzig 
Jahren für die Ausbreitung seiner Lehre zu wirken und dann 
im Kreise seiner Anhänger nach dem natürlichen Ablauf des 
Lebensprozesses an einer Krankheit zu sterben, ohne dafs doch 
die Eindrücke der allmählichen Abnahme seiner Kräfte, seines 
Alterns, Krankens und Hinsterbens imstande gewesen wären,, 
den ihn umgebenden Nimbus zu zerstören und der über- 
menschlichen, ja auch übergöttlichen Verehrung seiner Person 
Abbruch zu tun. i'l)ergöttlich war diese Verehrung, sofern 
der Buddliismus nur in dem Sinne eine atheistische Religion 
genannt werd(>n kann, als er an dem Dasein der altvedischen 
Götter, wie deren häuliges Eingreifen in die Lebensgeschichte 
Buddha"s beweist, zwar keineswegs zweifelte, aber ebenso, 
wie später der Vedänta, alle Götter für Seelen erklärte, welche 
dem- Fluche der Seelenwanderung unterliegen und ebenso wie^ 
3. Von der Krlangnng der Biiddliascliaft bis zinii Tode. 139 
der Mcnsrli des Ein<;iiiigos in das Xirvanani hodürfen, /.u 
\v(d(_'liem den Wog für alle zu" üflnen der Buddha gekom- 
nicii ist. 
(bor das AVirken Buddlia's von der Erlangung der 
Kuddhaschai't bis zu seinem Tode, von seinem siebenuiid- 
dreil'sic'sten bis zu seinem einundaehtzigsten Jahre ist uns 
kein zusammenhängender Berieht erhalten. Nur der Anfang 
seiner Lehrtätigkeit und der Ausgang seines Lebens werden, 
der eine in den ersten Kapiteln des Mahavagga, der andere 
im Araha])arinibbana-Suttam des Digha-Nikäya im Zusammen- 
hanir mit jener Breite und fast unerträi2;hehen Häufuns; von 
AViederholun2;en ö-esehildert, Avelehe die Lektüre der buddhi- 
stischen heiligen Texte für den europäischen Leser zu einer 
so harten Geduldprobe machen. Für die zwischenliegende 
Zeit sind uns nur einzelne Episoden erhalten, welche indes 
hinreichen, um über Buddha s Lehrtätigkeit, seine Jünger und 
Gegner, sowie die Ausbreitung seiner Lehre im nordöstlichen 
Indien ein liinreichendes Bild zu gewinnen. 
Auf jene Erstlingspredigt in Benares und die an sie sich 
schliefsende Gewinnung der ersten fünf Jünger folgte noch 
in Benares eine Eeihe weiterer Bekehrungen, wie namentlich 
die eines vornehmen und reichen Jünglings, der in den 
Palitexten Yasa genannt wird. Während ein Teil seiner 
Familie sich zur Laiengemeinde bekennt, wird er selbst Mönch 
und ihm folgend eine Anzahl aou Jüno-lingen aus der besten 
Gesellschaft, so dafs die Zahl der Alönchsgemeinde auf sech- 
zig anwächst. Sofort sendet Buddha diese aus, um der Welt 
das Heil zu predigen, während er selbst zum gleichen Zwecke 
sich wieder nach Vrubilva. begibt. Bemerkenswert sind die 
Worte, mit denen er seine Jünger in die Welt hinaussendet : 
„Lir Jüngtu-, von allen Banden bin ich gelöst, von den gött- 
lichen und menschlichen, und so seid auch ihr von allen 
Banden gelöst, von den göttlichen und menschlichen. Ziehet 
aus, ihr Jünger, und wandert, zum Heile, zur Freude für viel 
Volk, aus Erbarmen für die Welt, zum Segen, zum Heile, 
zur Freude für Götter und Menschen. Geht nicht zu zweien 
denselben Weg (vgl. Marc. 6,7). Predigt, ihr Jünger, die 
Lehre, deren Anfang, Mitte und Ende herrlich sind, im Geiste 
140 I^- l^iKldha's Leben. 
und im Buchstabon, verkündet den reinen Wandel der Heilig- 
keit; ich aber werde nach Urubilvä gehen, die Lehre zu 
predigen." 
In Urubilvä angelangt, findet Buddha gastliche Aufnahme 
bei einer Gesellschaft von tausend Jafilas, d. h. Flechten 
tragenden Asketen, welche unter Führung dreier Brüder aus 
der Familie der Käcyapa dem Kultus der Feueropfer obhegen, 
und es gelingt ihm, sie durch unerhörte Leistungen seiner 
magischen AYunderkraft zum Glauben an ihn zu bekehren. 
An ihrer Spitze zieht er auf das benachbarte linjagrilia, die 
Flauptstadt des Magadhareiches zu; der König Bimhisära mit 
einem Gefolge von zwölf „Myriaden" (nahuta) von Brahmanen 
und Hausvätern kommt ihm huldigend entgegen und bekennt 
sich mit grofsen Scharen seines Volkes als Laienbruder zu 
Buddha's Gemeinde, nachdem ihnen Buddha durch seine 
Predigt, welche sich bei den folgenden Bekehrungen in ste- 
reotyper Form zu wiederholen pflegt, zunächst die fünf vor- 
bereitenden Lehren von Almosengeben, Moralität, Himmel, 
Sündlichkeit und Entsagung, und sodann als Kern seiner 
Lehre die vier heiligen Wahrheiten mitgeteilt hat. Einen 
weitern Zuwachs erhält die I'vlönchsgemeinde durch die Be- 
kehruno; von zweihundertundfünfzig Asketen, welche u.nter 
Fülirung von drei Häuptern Saujai/a, ^äriputra und Maud- 
(jahjäyuna 1)is dahin bemüht gewesen waren, durch Kasteiungen 
die Erlösung vom Tode zu finden. Saiijaya, von Ehrgeiz er- 
füllt, will sich dem Buddha nicht beugen und endet durch 
einen Blutsturz (bei den Buddhisten die übliche Strafe für 
Widersacher, wie in den Brähmana's das Zerspringen des 
Kopfes). Cärijmira und MandgaJiiäyana gehen mit ihrem An- 
hang zu Buddha über und gelten seitdem als die hervor- 
ragendsten Jünger der Ihuldhagemeinde. Sie bleiben treue 
Nachfolger des Meisters bis zu ihrem noch vor Buddha's 
Tode erfolgten Hinscheiden. Aufser ihnen tritt noch beson- 
ders Ananda hervor, ein naher Verwandter Buddha's aus dem 
adligen Geschlechte der (^äkya's, dem insbesondere die Für- 
sorge für die Person des Meisters oblag, wie er denn auch 
diesem in seinen letzten Stunden Beistand leistete. Ein un- 
o-etreuer Jüno-er war der ü;l(Mchfalls dem Buddha verwandte 
C_J CT' 'TT* 
'3. \'uii der iOrlaugiiiig der IJiuhUiascliait bis /.um Tudc. 14) 
Divadüiia. Nach doin l-tcriclit im (uliivaggii VI hätte Deva- 
datta, voll Ehrgeiz angostacheh, iiacli der Führerschaft <h'r 
Cüenieinde getrachtet. Er Avaiidte sicli, so heilst es, zunächst 
an lUiddha. um ihn unter Ilinwiüs auf sein höheres Alter 
zum Rücktritt zu bewegen, wurde aber von diesem abgewiesen. 
Er benutzte sodann die Abwesenheit des Meisters, der im 
i'ernen Ka/irdnihl ^\•eilte, um in Räjagriha den Ajdtaratrii, den 
Sohn des Königs Bimbisära, für sich zu gewinnen. Ajäta- 
c^atru soll sogar auf Anstiften des Devadatta seinem Vater 
nach dem Leben getrachtet haben, und von diesem nicht nur 
Verzeihung, sondern auch die Königsherrschaft, nach der er 
so sehr begehrte, erhalten haben. Seines Einflusses bei dem 
nunmehrigen Herrscher sicher, suchte Devadatta den Buddha 
des Lebens zu berauben. Ein ausgesandter Mörder wird 
durch die majestätische Erscheinung des Buddha umgestimmt 
und von diesem bekehrt. Ein Felsblock, den Devadatta 
herabstürzen läfst, um den Buddha zu zermalmen, wird von 
zwei sich gegen einander neigenden Bergspitzen aufgefangen, 
und nur ein abgebröckelter Stein verwundet den Buddha am 
Fui'se. Ein wütender, Menschen tötender Elefant, auf Deva- 
datta's Betreiben gegen den Buddha losgelassen, wird durch 
dessen Anblick besänftigt und kehrt zahm in seinen Stall 
zurück. Nun sucht Devadatta eine Spaltung der Gemeinde 
dadurch hervorzurufen, dafs er bei Buddha beantragt, die 
Anforderungen an die Mönche zu verschärfen; er helft damit 
Anklang zu ünden : „denn den Menschen gefällt das Strenge". 
Als er mit seinen fünf Anforderungen (dafs die Mönche nur 
im AValde, nicht im Dorfe leben dürfen, nur Almosen, keine 
Einladungen annehmen sollen, nur in Lumpen, nicht in ge- 
schenkte (jewänder sich kleiden sollen, nur unter Bäumen, 
nicht unter einem Deiche wohnen sollen und endlich niemals 
Fischfleisch verzelu'en dürfen) von Buddha abgewiesen wird, 
maclit er diesem einen Teil seiner Anhängerschaft, angelflich 
fünfhundert jüngere und unerfahrene Mitglieder des Mönchs- 
ordens, abspenstig. Es gelingt Jedoch dem ^'äriputra und 
Maudgalväyana. die abtrünnigen Mönche zu JUiddha zurück- 
Ott-'' ~ 
zuführen. „Da stürzte dem Devadatta heifses Blut aus dem 
Munde." 
142 n. Buddha's Leben. 
Nicht weniger schwierig mochte gelegenthch die Stellung 
des Buddha und seiner Gemeinde gegenüber den verschiedenen 
Sekten sein, welche ähnliche Ziele wie er verfolgten, wie 
namentlich gegenüber dem zur selben Zeit und in derselben 
Gegend wirkenden Jüättp/itra, dem Stifter der Jainareligion, 
und oft genug mögen sie bestrebt gewesen sein, sich die 
Anhänger gegenseitig abzujagen. So wird erzählt, wie in 
Vaiyali der angesehene und mächtige Feldherr Sinha, der 
dem Jnätiputra anhing, auch gegen dessen Erlaubnis den 
Buddha besuchte und durch den Eindruck von dessen Predigt 
Itir seine Lehre gewonnen wurde. Sinha ladet darauf den 
Buddha zu einem Mahle ein, bei welchem auch Rindfleisch 
genossen wird, und die Anhänger des Jnätiputra verbreiten 
in der Stadt die Verleumdung, dafs Buddha von einem Rinde 
gegessen habe, welches für ihn geschlachtet worden sei; 
denn die Buddhisten dürfen nur dann Fleisch essen, wenn 
sie keinen Verdacht haben, dafs das Tier um ihretwillen den 
Tod erlitten hat. Sinha, dem diese Nachrede über Buddha 
hinterbracht wird, ruft aus: ,,Es ist genug, Freund, schon 
lange sind diese ehrwürdigen (Anhänger des Jnätiputra) be- 
müht, den Buddha, die Lehre und die Gemeinde herabzu- 
setzen ; diese Ehrwürdigen werden nicht müde, den Erhabenen 
unwahr, grundlos, fälschlich, lügenhaft zu verleumden; denn 
nicht für unser Leben möchten wir absichtlich ein lebendes 
\\'esen des Lebens berauben." 
Offenbar aus späterer Zeit als diese aus Mahävagga VI, ol 
entnommene Erzählung stammt die Jätaka II sich findende 
Geschichte, welche voraussetzt, dafs die Buddhagemeinde 
zu Ehre und Ansehen gelangt war, und dafs die Lehrer der 
andern Sekten ihren Ruhm eingebüfst hatten und „glanzlos 
geworden waren wie Leuchtkäfer zur Zeit des Sonnenaufgangs". 
Darauf schmieden die ,, Irrgläubigen", wie sie hier ganz un- 
bestimmt genannt werden, einen Plan, den Buddha zu ver- 
derben, indem sie die Buhlerin Sundarl in ^rävasti anstiften, 
in der Stadt auszubreiten, dafs sie mit Buddha verbotenen 
Umgang pflege. Darauf dingen sie Mörder, welche die Sundari 
töten und in der Nähe von Buddha's Aufenthaltsort in einem 
Kehrichthaufen verscharren. Dort wird die Leiche gefunden 
3. \(>n der Erlaiiynng der Buddliasclialt bis /iiiii Tode. ]^y, 
und dvv \ i-rdacht . das \ eibrcchcii l)('<;aii,<2;(Mi zu luilx'ii. lallt 
auf Buddha und i?oine Jün^-er, welche nur dadurch von ihm 
entlastet werden, dafs die Mörder in der Trunkenheit den 
waliren Sacliverhah ausplaudern. 
Unter diesen und andern Schwierigkeiten sehen wir den 
Buddha ein lanues Leben hindurch, mehr als vierzig Jahre 
lanii" hemülit, iui nordöstlichen Indien — denn nach dem 
^^'esten und Süden des weiten Landes ist er nicht gekommen 
— für die \'erhreitung seiner Lehre als wandernder Prediger 
zu wirken. Nur während der Regenmonate von Mitte Juni 
bis Mitte September ruhte er, die übrige Zeit des Jahres 
unternahm er in einem Bezirke, der dem Deutschen Keiclie 
an Ausdehnung gleichkommen mag, weite Wanderungen, im 
Süden bis Bäjagrihd, im \\'esten bis zu dem westlich von 
Allahabad gelegenen KauräniM, im Norden bis nach CrävasU 
imd seiner Heimatstadt KapiJavastu , wo er seine Familie 
wiedersah, einen Teil derselben für seine Lehre gewann und 
seinen Sohn Rähula als Novizen in den Älönchsorden auf- 
nahm. Die Palitexte zeigen ihn in der Regel auf seinen 
A\'anderungen, wie er mit einem Gefolge von dreihundert oder 
fünfhundert Mönchen einherzieht, eine Ziffer, welche wohl 
Aveit über den wirklichen Tatbestand hinausgreift, wenn man 
die Schwierigkeit der Verpflegung so grofser Massen in kleinen 
Dörfern und entlegenen Gegenden bedenkt, wenn auch, wie 
<'rzählt wird, gelegentlicli fromme Verehrer mit Proviantwagen 
dem Zuge folgten oder Verehrerinnen, wie die dem Buddha 
ergebene Virälihä in ^'ravasti um die Gnade bat, ein für alle- 
mal für Unterkunft, Speisung und Kleidung der wandernden 
Mönche die Sorge übernehmen zu dih'fen. 
Am liebsten verweilte* Buddha auf seinen Reisen in den 
parkartigen Anlagen in der Nähe der Städte, nicht so nahe, 
dafs Geräusch und andere; Störungen lästig wurden, und doch 
nahe genug, um es den Volksmassen möglich zu machen, zu 
ihm zu strömen und seine Predigt zu h(>ren. Am häufigsten 
werden in den Texten erwähnt der von König Bimbisära dem 
Buddha geschenkte Bambushain (venuvanani, Pali : vch(vanam) 
in . der Nähe von Räjagriha, das bei Qrävasti durch den 
reichen N'erehrer Änätltaplinll/ca („den Speiser der Armen") 
144 II- Buddha's Leben. 
für die Buddhagomoindo von dem Prinzen Jetar erworbene 
Jctavanam, sowie der von der Kurtisane AmrapäU gestiftete 
Mangowald bei Vai^ali. 
Der Aufnahme von Nonnen in den von ihm gestifteten 
Orden setzte Buddha, trotz der dringenden und wiederhohen 
Bitten seiner Tante und Pflegemutter Malmprajapaü und deren 
Befürwortung durch Änanda lange Zeit beharrlichen Wider- 
stand entgegen ; ungern und mit der Prophezeiung, dafs es in 
künftigen Zeiten der Gemeinde zum grofsen Schaden gereichen 
werde, gestattete er endlich die Zulassung von Nonnen unter 
acht Bedingungen, welche im wesentlichen auf eine völhge 
Unterordnung der Nonnen (Bhikshuni) unter die Mönche 
(Bhikshu) hinauslaufen. 
Achtzig Jahre war Buddha alt geworden, als er in Pävä, 
wohin er sich allein zurückgezogen hatte, um die Regenzeit 
zu verbringen, von einer heftigen Krankheit befallen wurde. 
Er überwand sie durch Willenskraft, denn er wollte nicht 
sterben, ohne von seinen Mönchen Abschied genommen zu 
haben. Sein nahes Ende voraussehend, wanderte er von 
Änanda geleitet bis in die Nähe von Iyucina<jaram, der Haupt- 
stadt der Malla's, wo ihn einer seiner Verehrer, der Schmied- 
sohn Clinda zum Mahle einlud und ihm getrocknetes Schweine- 
fleisch vorsetzte. (Strenggläubige Buddhisten und C. E. Neu- 
mann behaupten, dafs an der betreffenden Stelle unter suhara- 
maddavam „ Schweinegenufs ", nicht Schweinefleisch, sondern 
das, was die Schweine geniefsen, also etwa Trüffeln zu ver- 
stehen seien.) Nach dem Mahle erkrankte der Meister, wurde 
von Änanda unter zwei (^älabäumen gebettet, welche sich 
über und über mit Blüten bedeckten, obgleich es nicht die 
Zeit des Blühens war, und während Blumen vom Himmel 
herunterregneten und himmlische Instrumente ertönten, ging 
unter Donner und Erdbeben der Erhabene in das Nirvänam 
ein. Seine letzten Worte waren: „Alles ist ohne Dauer, ihr 
Jünger, ringet ohne Unterlafs." 
Unter Gebräuchen, wie sie beim Tode eines Welt- 
beherrschers üblich sind, wurde der Leichnam des Vollendeten 
von den Malla's vor den Toren von Kuginagaram feierlich 
verbrannt; die Gebeine aber wurden in acht gleiche Teile 
3. Von ilcr Erlangung der Buddhaschat't bis zum Tode. 145 
geteilt und denjenigen Städten überwiesen, welche am meisten 
Anspnu-h darauf" hatten, um Grabniäler über ihnen zu er- 
richten. 
IH. Dharma, die Lehre. 
1. Vorbereitendes. 
Wie Jesus ist auch Buddha dem Schicksal nicht ent- 
gangen, für einen sozialen Reformator gehalten zu werden, 
da doch beide Eeligionsstifter zu sehr auf das Ewige ihren 
Sinn richteten, um das Zeitliche und seine Interessen sehr 
ernst zu nehmen. Beiden lag es fern, für das soziale Elend 
der Massen Abhilfe zu Schäften, und. dem Buddha noch ferner 
als Jesu. Denn während, dieser von Mitleid fin* das zer- 
stol'sene Rohr, den glimmenden Docht erfüllt und stets bereit 
war, den Leidenden, Schwachen und Kranken seinen Beistand. 
zu leisten, der sich weiterhin zu Wundertaten verdichtete, so 
tritt dergleichen bei Buddha weniger hervor; auch er tut 
\\'under, aber es handelt sich dabei gewöhnlich um magische 
Leistungen, durch die Luft zu fliegen, fünflmndert Feuer auf 
einmal anzuzünden und wieder auszulöschen u. dgl. Seinem 
Auftreten haftet ein aristokratischer Zug an, und, ohne die 
unterdrückten Schichten der Bevölkerung auszuschliefsen, 
wendet er sich doch vorwiegend mit seiner Predigt an die 
obern Klassen der Gesellschaft, an die Fürsten, die Vor- 
nehmen, die Reichen. Es war, wie mit Recht bemerkt worden 
ist, nicht sowohl das Elend des Einzelnen, als vielmehr das 
grofse, allem Menschendasein gemeinsame Elend, welches sein 
Herz bewegte und für welches er Heilung, Auslöschung, Nir- 
vänam suchte. Aber von diesem Wege zum Heile schlofs er 
doch niemanden aus; er predigte nicht im Sanskrit, der 
Sprache der Vedalohrer, sondern in der Mundart des Volkes, 
für jeden verständlich; und wenn er auch nicht der einzige 
(^Wamana oder Asket war, der die bestehenden Schranken 
zwischen Arya's und (^'üdra's aufhob, so war er doch der 
erste, der mit diesen Bestrebungen einen tiefgreifenden, die 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, ni. 10 
146 ni. Dharma, die Lehre. 
sozialen Verhältnisse verschiebenden Erfolg hatte. Das Kasten- 
wesen tastete er nicht an, aber soweit es sich um die ewigen 
Ziele der Menschheit handelte, galten ihm alle Menschen 
gleich. „Wie, ihr Jünger", sagt er mit einem an Chänd. 
Up. 6,10,1 (S. 166 unserer Übersetzung) angelehnten Bilde, 
„die grofsen Ströme, so viel ihrer sind, die Gangä, die Yamunä, 
wenn sie den grofsen Ozean erreichen, ihren alten Namen 
und ihr altes Geschlecht verlieren und nur den einen Namen 
des grofsen Ozeans führen, so auch, ihr Jünger, diese vier 
Kasten, Kshatriya's und Brähmana's, Vai^ya's und ^üdra's; 
wenn sie nach der Lehre und dem Gesetz, das der Tathägata 
verkündet hat, ihrer Heimat entsagen und in die Heimatlosig- 
keit gehen, verlieren sie den alten Namen und das alte Ge- 
schlecht und führen nur den einen Namen der Asketen, die 
dem ^äkyasohne anhangen" (bei Oldenberg, Buddha, 5. Aufl. 
S. 174). 
So wenig wir daher in erster Linie den sozialen Refor- 
mator in Buddha sehen möchten, so liegt doch in dieser 
Eröffnung des Zugangs zum Heile für alle das eigentlich Neue 
der von ihm ausgehenden Bewegung ; viel weniger liegt es in 
dem Inhalte seiner Lehren, welche sich nach wie vor um die 
beiden Angelpunkte alles indischen Denkens, um die Seelen- 
wanderung und die Erlösung drehen, und auch diese Ge- 
danken zieht er nur in den Kreis seiner Betrachtung, sofern 
sie von unmittelbarer praktischer Bedeutung sind. Alle wei- 
tern metaphysischen Erörterungen, an denen die Upanishad's 
so reich sind, lehnt er ab, den im Veda durch die Jahr- 
hunderte aufgehäuften Schatz der Weisheit läfst er beiseite 
liegen, gründet sich nur auf die eigene persönliche Erfahrung, 
und diese Verachtung der historischen Überlieferung ist es, 
welche seinen Reden den Charakter der Einförmigkeit und 
Dürftigkeit aufprägt. Es sind im Grunde nur drei Lehrstücke, 
welche in unermüdlicher Wiederholung das Thema der dem 
Buddha in den Mund gelegten Predigten bilden: die vier 
heiligen Wahrheiten, die fünf Skandha's und die zwölf Ni- 
däna's. Von diesen haben wir im folgenden zu handeln. 
2. Die vier lieiligeu Wahrheiten. 14' 
*i. Die vier heiligren Wahrheiten. 
Im Gegensätze zum Brahmanismus und Judentum, welche, 
ihrem Prinzip entsprechend, keine Mission treiben, sind Bud- 
dhismus, Christentum und Islam missionierende Religionen 
und daher bemüht gewesen, den Hauptinbegriff ihrer Lehren 
auf eine kurze Formel zu bringen; und wie das Christentum 
seine drei Artikcd des christlichen Glaubens und der Islam 
seine fünf Grundpfeiler (die beiden Grunddogmen, Gebet, Al- 
mosengeben, Fasten und Wallfahrt nach Mekka) hat, so ist 
das eificentliche Credo des Buddhisten zusammensrefafst in den 
vier heiligen M'ahrheiten (catväri äryäni satycmi), nämlich 
der heiligen Wahrheit 1. vom Leiden, 2. von der Entstehung 
des Leidens, 3. von der Aufhebung des Leidens, 4. vom Wege 
zur Aufhebung des Leidens. Sie finden sich an vielen Stellen 
sowohl des Pälikanons als auch der Denkmäler der nördlichen 
Kirche, in aUem wesentlichen übereinstimmend. Wir teilen 
sie zunächst in wörtlicher Übersetzung mit, der wir zur Ver- 
gleichimg das Original in der die Formen klarer hervortreten 
lassenden Sanskritfassung (aus dem Laiita Vistara p. 541 der 
Kalkuttaer Ausgabe) gegenüberstellen. 
Catväri imäni, hhiJcshava\ Dieses, ihr Mönche, sind die 
ärya-satijäni. vier heiligen Wahrheiten. 
Icatamäni catväri? Welche vier? 
1. (Iithlham, 1. Das Leiden, 
3. duhMia-samiidaijo, 2. die Entstehung des Leidens, 
3. duhJilia-nirodho, 3. die Aufhebung des Leidens, 
4. duhl^ha-nirodha- 4. der Weg zur Aufhebung 
(ja mim pratipat des Leidens. 
Befremdlich für den an abendländischen Begriffen Grofs- 
gezogenen mag es sein, liier einer Religion zu begegnen, 
welche in ihrem Credo nicht von Gott oder Göttern, von Welt- 
schöpfung, Seele und Unsterblichkeit handelt, sondern einzig 
und allein von dem sehr realen Phänomen des Leidens. Nicht 
zum wenigsten dieser Tatsache verdankte der Buddhismus 
10* 
148 
in. Dharma, die Lehre. 
lind A'erdankt er noch heute die Anziehungskraft, wek'he er 
auf weite Kreise übt. Denn die Menschen hören es gern, 
wenn man von ihren Leiden redet und Befreiung von den- 
selben verheilst. Ahnlich wie in der griechisch-römischen 
Philosophie nach Ai'istoteles die Philosophie zu einem Mittel 
zum Zweck, zu einem remedium äoloris wird, so ist auch für 
den Buddhismus und das ihm verwandte Sänkhyasystem das 
Leiden der Ausgangspunkt des Philosophierens. Ursprünglich 
aber ist es vielmehr der Drang nach Erkenntnis, das Ver- 
langen, eine Lösung der Kätsel des Daseins zu finden, in 
welchem bei den Indern wie bei den Griechen die Pliilosopliie 
wurzelt, und erst in einer spätem Periode, in welcher dieser 
Drang nach Erkenntnis nachzulassen beginnt, wird sie zu 
einem Mittel, in den Leiden des Daseins Trost und Beruhigung 
zu finden. 
L 
tatra Icatamad duliMiam? 
jätir api duMham, jarä api, 
vyädhir api, maranam api. 
apriya-samprayogo ' pi, 
priya-viprayogo 'pi duliMiam. 
yad api icclian paryesliamäno 
na labliate, tad api dulikliam. 
sariTisliepatali : 
panca - upädäna - skan dhä * 
duMliaw. 
idam ucyate duhliham. 
Was ist das Leiden? 
Die Geburt ist Leiden, das 
Alter auch, 
die Krankheit auch, der Tod 
auch. 
Auch das Verbundensein mit 
Nichtliebem und das Ge- 
trenntsein von Liebem ist 
Leiden. 
Und dafs man wünscht und 
trachtet und nicht erlangt, 
auch das ist Leiden. 
In Summa: 
Die fünf Verzweigungen des 
Anklammerns an das Ir- 
dische sind Leiden. 
Dies ist das Leiden. 
* Statt skandho im Laiita- Vistara entnehmen wir aus dem Mahävastu 
die bessere Lesart sl-andhä (= skandhdh). — Zum Vergleich mag hier der 
2. Die vier lioiligi'u Wahrheiten. 149 
Auffallcud ist die Form, in welchor hier die einfache 
W^ihrheit von dein niil alliin I^h'denihisein verhundenen Leiden 
entwickeh wiiJ. \)ir xlrv Abschnitte, in welclie der Text 
sich zerlegt, eutliahen nicht eine h:»gische Zergliedernng des 
Begritl'es des Leidens, etwa in der Art, wie sie den Aus- 
gangspunkt der Sahkhyaidiilosophie bildet, wenn sie als die 
drei Arten <los Leidens das durch uns selbst, durch die 
andern Wesen und durch das Schicksal über uns verhängte 
Leiden bezeichnet; vielmehr bringt jeder der vier Abschnitte 
in seiner Weise die A\'ahrheit vom Leiden zum Ausdruck, so 
dal's im Grunde viermal hinter einander dasselbe gesagt wird. 
Zunächst \\erden im Anschlufs an die mythische Lebens- 
geschichte des Buddha als die vier grofsen Quellen des Leidens 
(leburt, Alter, Krankheit und Tod genannt; durch sie ist der 
ganze Begriff des Leidens umschrieben. Edenso wieder durch 
die dann folo-ende, alles Leiden befassende Zerlegung des 
Begriffes in die Verbindung mit dem, was man nicht liebt, 
und Trennung von dem, was man liebt, da z. B. ^Alter und 
Krankheit eine Trennung von Jugend und Gesundheit und 
eine Verbindung mit den entgegengesetzten, unerwünschten 
Zuständen sind. Zum dritten Mal wird dann alles Leiden als 
ein Verlangen nach dem, was man wünscht und nicht er- 
reichen kann, charakterisiert. Endlich wird nochmals das 
ganze AVesen des Leidens darin gefunden, dafs der Mensch 
sich mittels der fünf physischen und psychischen Verzw^ei- 
gungen, deren Komplex sein Dasein ausmacht, an die Ver- 
hältnisse der Welt anklammert. Diese fünf Verzweigungen 
(shuidhäh), von denen weiter unten die Rede sein wird, sind : 
Pidi-Text der ersten heiligen Wahrheit (mit Aiissililiifs der ersten und letzten 
Zeile) aus Mahävagga I, 6,li»— 22 stehen: 
jäti pi dukkhä, jaräpi dukkhä, 
vyädlii pi dukkhä, inaranam pi dukkhain, 
appiijelii sampayogo diikkho, 
jiiyehi vippayoyo ditkkho, 
yam pHccham na labhati, 
tarn pi dukkham, 
samkhittena : 
panc'upädändkkhandhäpi dukkhä. 
150 Ili- Dliarma, die Lehre. 
Körperlichkeit, Gefühl, \\ ahrnehmung, Strebimgen und zu- 
sammenfassende Erkenntnis. 
iatriiTiatamodiihkha-samudaijah'^ Was ist die Entstehung des 
Leidens ? 
yä iyam trishnä paunarhhaviTu, Es ist jener Durst, der von 
nandi-rdga-süliagatä, Wiedergeburt zu Wieder- 
tatra iaira ahhhmndim, geburt führende, von Freude 
und Leidenschaft begleitete, 
hier und dort seine Freude 
findende, 
\]iäma-tris]ind, bJiava-irishnä, [der Durst nach Lust,, der Durst 
vihhava-frishnä]. nach Werden, der Durst 
nach Macht]. 
ayain iicyatc duhliha-samudayah. Dies ist die Entstehung des 
Leidens. 
Wie in der ersten Wahrheit der Begriff des Leidens, so 
wird in der zweiten die Trishnä, der Durst, als Ursache des 
Leidens nicht sowohl logisch analysiert als vielmehr rhe- 
torisch paraphrasiert, wobei jedoch Bestimmungen von grofser 
Bedeutung vorkommen. Die Trishnä ist zunächst paunar- 
hhaviM, mit dem pimarbhava, der abermaligen Geburt, zu- 
sammenhängend, d. h. hier: eine abermalige Geburt veranlassend. 
Denn in der ersten Wahrheit wird unter anderm auch die 
Geburt unter den Begriff des Leidens subsumiert, nach der 
zweiten Wahrheit entspringt alles Leiden, mithin auch die 
Geburt, aus dem Durste. Der Durst ist also das meta- 
physische Prinzip, welches schon vor der Geburt da war und 
nach dem Tode fortbestehen wird, und auf welchem das gegen- 
wärtige und jedes künftige Dasein seinem ganzen Inhalte 
nach beruht. Eben dieser Durst aber manifestiert sich auch 
physisch innerhalb des Daseins, wie die folgenden Be- 
stimmungen besagen. Er ist in diesem Sinne „von Freude 
und Leidenschaft begleitet" (jeder Genufs weckt neues Ver- 
langen), er ist nicht dauernd beglückend, sondern nur ver- 
einzelt „hier und dort seine Freude findend". Dasselbe 
2. Die vier heiligen Wahrheiten. 151 
besagen die drei folgenden Hestimmiin2;en, die im Lalita- Vistara 
fehlen und aus dem Pali -Kanon von uns eingesetzt worden 
sind. 8ie interpretieren den Durst, wie er innerhalb des 
Lebens auftritt, nach drei Richtungen hin, als Durst nach 
Lust, nach Werden (nach fortschreitender Entwicklung) und 
nach Machtentfaltung (als letztes Resultat dieser Entwicklung ; 
rihhava dürfte in ähnlichem Sinne zu verstehen sein wie die 
ribJmti im Yogasystem ; weniger nahe liegt es , hier an vibJiava 
im Sinne von Vernichtung zu (hinken). Somit ist der Durst 
einerseits metaphysisch der Grund dc^ Daseins und anderer- 
seits physisch die innerhalb des Daseins zur Erscheinung 
kommende Begierde, und hierin liegt der grofse und wahre 
Gedanke, dafs eben das, was während des Lebens sich als 
niebefriedigtes AVollen manifestiert, als metaphysischer Wille 
der letzte Grund des ganzen Daseins ist. Übrigens ist dieser 
Gedanke keineswegs neu, denn schon Brih. üp. 4,4,5 heifst 
es: „Der Mensch ist ganz und gar gebildet aus Begierde 
( Jcamamai/a) ; je nachdem seine Begierde ist, danach ist seine 
Einsicht, je nachdem seine Einsicht ist, danach tut er das 
Werk, je nachdem er das Werk tut, danach ergehet es ihm." 
3. 
fatm katamo dulikha-nirodhah? Was ist die Aufhebung des 
Leidens ? 
ijo asycVeva trislinäifäh paunar- Es ist eben jenes Durstes, des 
hhavihjä nandi-räga-sahaga- von Wiedergeburt zu Wie- 
täija.!^ tatra tcdra ahlimamlimjä, dergeburt führenden , von 
Freude und Leidenschaft be- 
gleiteten, hier und dort seine 
Freude lindenden, 
janiJcäyä, nivartiMgä', des in der Geburt hervortreten- 
den und beim Tode zurück- 
kehrenden, 
aresho virägo nirodJio. restlose Unterdrückung und 
Aufhebung. 
agam dxhlha-xirodhah. Dies ist die Aufhebung des 
Leidens. 
152 III- Dliarma, die Lehre. 
Nochmals wird der Durst mit denselben Ausdrücken wie 
in der vorigen A\^ahrheit charakterisiert. Hierzu kommen 
zwei (in der Päliversion, die dafür eine paraphrastische Er- 
w^eiterung des ulrodha bietet, fehlende) bedeutsame Bestim- 
mungen : die Trishnä ist janilai und vivartil'a, mit der Geburt 
hervortretend und mit dem Tode aus dem physischen in das 
metaphysische Reich zurückkehrend. 
Diese dritte Wahrheit enthält den eigentlichen Kern- 
gedanken des Buddhismus, welcher in kürzester Fassung lauten 
würde: Das Leiden des Daseins wird vernichtet, wenn 
die Wurzel, aus der es entspringt, jener Durst, ver- 
nichtet wird. Auch dieser Gedanke findet sich schon in 
den Upanishad's. Brih. üp. 4,4,(i heilst es: „Wer ohne Ver- 
langen, frei von Verlangen, gestillten Verlangens, selbst sein 
Verlangen ist, dessen Lebensgeister ziehen nicht aus ; sondern 
Brahman ist er und in Brahman geht er auf." 
Dieses Aufgehen in Brahman haben wir schon oben bei 
Behandlung der Mahabhäratatexte (S. 111 — 113) als das 
Braltmanirvänam oder kurzweg das Nirvänam kennen gelernt, 
und dieses Nirvänam schwebte dem ganzen Zeitalter und so 
auch dem Buddha als das zu erstrebende Ziel vor, um dessen- 
willen er aus der Heimat in die Heimatlosigkeit zog, und 
welches er nach mehrern vergeblichen Versuchen in jener 
Nacht unter dem heiligen Feigenbaum erlangte. Wie schon 
oben bemerkt wurde, bedeutet Nirvänam einerseits „Erlöschen", 
andererseits „Seligkeit", und es ist eine vielverhandelte 
Frage, ob das Nirvänam der Buddhisten das eine oder das 
andere, ob es ein blofses schmerzloses Nichts oder ein Zu- 
stand unüberbietbarer höchster Seligkeit ist. Die orthodoxe 
Kirchenlehre des Buddhismus antwortet darauf: Darüber hat 
der Meister nichts offenbart, danach zu forschen hat der 
Meister verboten. In den Gesprächen Buddha's, welche diese 
Frage berühren, tritt besonders der Gedanke hervor, dafs, 
wie man den Sand am Meere nicht zählen könne, so auch 
das letzte und tiefste ^^"esen der Seele unerforschbar bleibe. 
Wir vermögen nicht zu sagen, inwieweit es auch moralische 
Gründe waren, welche den Buddha bestimmten, über das 
Wesen des Nirvänam jede Auskunft zu verweigern. Sollte 
2. Die vier heiligen Wahrheiten. 
15n 
OS der Fall soin, so würde sich in dem \'<Tl)o1e, nach dem 
Nirvanani zu forschen, ein grol'ser sittlicher Takt bekunden. 
Denn in dem ^lafse, in welchem man das -Jenseits als einen 
Zustand positiver Seliükeit vorstellt, läuft es Gefahr, ebenso 
wie alle irdischen Güter ein Ziel des Strebens für den Egois- 
mus zu werden, dessen viUlige Aufhebung gerade das ist, 
was ]iM\o IvN'liuion anstrebt oder anstreben sollte. 
tatra Icatamä duhUia-virodlui- Welches ist der zur .Aufhebung 
(ßmi)u pratipat':! des Leidens führende Weg? 
vsJicu'vaärya-(ishta-aTiga-märgah, Es ist dieser heilige, achtteilige 
Pfad, 
tml yatlui: 
sa nii/ag-drish f ih , 
sanujak-samhalpah, 
samyag-väk, 
samgalc-lMrmäntalj , 
sanigag-cijlvah^ 
samgag-vyägäniah, 
samyalc-smritih, 
samyaJi-sainäcUiir, - 
iti. 
der da heifst: 
rechtes Glauben, 
rechtes Denken, 
rechtes Reden, 
rechtes Handeln, 
rechtes Leben, 
rechtes Streben, 
rechtes Gedenken, 
rechtes Sichversenken. 
In jener Predigt von Benares (oben S. 137 fg.), deren Haupt- 
inhalt in der Mitteilung der vier heiligen Wahrheiten besteht, 
warnt Buddha vor den beiden Extremen eines Lebens in 
Lüsten und eines Lebens der Selbstpeinigung. Von diesen 
beiden Extremen gleich weit entfernt, fährt er fort, sei der in 
der Mitte liegende Weg, und als diesen mittlem \A eg zwischen 
den genannten Extremen bezeichnet er den heiligen, acht- 
teiligen Pfad, zählt dessen acht (Jlieder in der obigen Weise 
auf und schliefst mit den Worten: „Dies, ihr Mönche, ist der 
Weg in der Mitte, den der Vollendete erkannt hat, der 
das Auge auftut und <len Geist auftut, der zur Ridie, zur 
154 m- üliiu'iua, die Lelire. 
Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirvänam führt." Nachdem 
er sodann die Wahrheit vom Leiden, seiner Entstehung und 
seiner Aufhebung in der übUchen Formulierung entwickelt 
hat, stellt er ihnen als vierte und letzte der heiligen Wahr- 
lieiten nochmals mit denselben Worten den heiligen, acht- 
teiligen Pfad vor Augen, der somit als Anfang und Ende die 
drei übrigen Wahrheiten einsehliefst. Bei dieser Bedeutung, 
welche der Buddhismus dem achtteiligen Pfade als dem Wege 
zum Nirvänam beimifst, ist befremdlich, was Oldenberg 
S. 339^ mitteilt: „Die naheliegende Erwartung, dafs für die 
Behandlung dieses Gebiets in den heiligen Texten vor allem 
die achtfache Gliederung des heiligen achtteiligen Pfades 
mafsgebend zu sein hätte, bestätigt sich nicht." So sehr es 
unter diesen Umständen gerechtfertigt sein mag, wenn der 
genannte Forscher seiner Darstellung der buddhistischen 
Ethik eine andere Einteilung nach den Kategorien von nJam^ 
mmädlü und prajnä, Fechtschatfenheit, Sichversenken und 
Weisheit, zugrunde legt, so dürfen wir doch in Überein- 
stimmung mit ihm (vgl. seine Bemerkung gegen Koppen, 
S. 244, Anmerkung) für den achtteiligen Pfad das Vorrecht der 
Ursprünglichkeit in Anspruch nehmen und müssen versuchen, 
die in ihm vorliegende via salutis uns zu deuten. Der erste 
Schritt auf derselben ist selbstverständlich samijag-clri.shtih, das 
gläubige Annehmen der Lehren des Meisters. Diese Lehren 
werden sich dann in dreifacher Richtung fruchtbar erweisen, 
nämlich als sami/aJi-samkalpah, sami/acj-väk, sam>iak-li'armäntah^ 
d. h, in Gedanken, Worten und Werken, eine Dreiheit, welche 
sich in bemerkenswerter Übereinstimmung im Vedänta, im 
Buddhismus, in der iranischen und in der christlichen Religion 
wiederfindet, ^\'eniger deutlich ist, was wir unter samyag- 
äjivah und samyag-vi/di/ämah zu verstehen haben. Ersteres ist 
vielleicht nicht blofs die rechte Art, für den Lebensunterhalt 
zu sorgen, sondern in weiterm Sinne eine Zusammenfassung 
der drei vorhergehenden Punkte, eine Betätigung des mora- 
lischen Wandels in allen Sphären des Lebens, und unter 
samijcuj-i'fiüyämdh konnte man die Forderung verstehen, dafs 
das moralische Verhalten auch aus der rechten Gesinnung 
hervorgehe, wenn nicht damit vielmehr gewisse, an das 
2. Die vier heiligen Walirheiten. 155 
Asketische streifende l'biingen und selbstauferlegte Ent- 
sas»ii£<'ii ironieint s(Mn sollten. Unter samiiah-smritih dürfte 
dann die täglich aufzufrischende Erinnerung an das Leben 
des Meisters zu verstehen sein, welcher als ewiges Vorbild 
in der Öeele jedes Buddhisten gegenwärtig sein soll. Mit 
dem xtuiii/ak-sanidilliih wird sodann die höchste Stufe erreicht. 
Sie besteht in jenen Zuständen der Ekstase, welche dem Bud- 
dhismus mit dem Yoga gemeinsam sind, und deren sich ohne 
Grund zu rühmen als eine der vier Todsünden der bud- 
dhistischen ^lönche angesehen wurde (vgl. unten 8. 172 und 
Oldenberg, S. 408^). 
Die zahlreichen Bekehrungsgeschichten pflegen sich in 
stereotyper Form so abzuspielen, dafs der Erhabene zunächst 
als Vorbereitung die Lehre vom Almosengeben, von den 
moralischen Vorschriften, vom Himmel, von der Sündlichkeit 
der Begierden und von dem Vorteil, der in dem Aufgeben 
der Begierden liege, mitteilt. Darauf legt er die vier heiligen 
\\'alirheiten dar, und zum Schlufs heifst es z. B. bei der Be- 
kehrung des Feldherrn Sinha" (Mahävagga VI, 31) und in 
analoger Weise bei vielen andern Bekehrungen: „Und wie 
ein weifses Gewand, von dem die schwarzen Flecken entfernt 
sind, vollständig seine Farbe wieder bekommt, so erlangte 
der Feldherr Siiiha bei dieser Gelegenheit das leidenschafts- 
lose, reine Erkennen der Lehre, dafs nämlich, was immer ein 
Entstellen hat, auch dem Vergehen unterworfen ist." Die An- 
knüpfung dieser Worte an die Mitteilung der vier heiligen 
Walirheiten wiederholt sich in den heiligen Texten so häufig, 
dafs Asir auf einen innern Zusammenhang der vier W^ahrheiten 
mit der Lehre von der Vergänglichkeit alles Entstandenen 
schliefsen müssen. Dieser Zusammenhang dürfte darin zu 
linden sein, dafs die Leiden des Daseins im letzten Grunde 
auf der Vergänglichkeit alles Gewordenen beruhen und mit 
der Nichtigkeit des ganzen Daseins, dem innersten Wesen 
nach, identisch sind. In der Erkenntnis dieser Nichtigkeit 
besteht eben die Erlösung. 
'■' Vergleiche oben S. 142. 
156 m- Pharma, die Lehre. 
3. Die Predigt von Benares und die Bergprcdisrt. 
Bei Buddha wie bei Jesu, diesen beiden grölsten Religions- 
lehrern der Menschheit, hat man die Hauptgedanken ihrer Lehre 
zusammengefafst und sie ihnen als eine Art Antrittspredigt ihres 
Lehramtes in den Mund gelegt. Diese Form ist bei beiden 
ohne Zweifel iingiert. Denn niemals ist eine solche Fülle 
neuer und lebensvoller Gedanken, wie sie die Bergpredigt 
enthält, in dem kurzen Zeiträume einer Stunde dem Munde 
eines Menschen entflossen, und wäre dies möglich, so würde 
doch niemand imstande gewesen sein, einen solchen Reichtum 
aufzufassen und der Nachwelt aufzubewahren. Es sind viel- 
mehr die goldenen Aussprüche, welche Jesus hier und da 
während der kurzen Zeit seines Wirkens getan hat, die der 
mehr als die andern Jünger des Schreibens kundige, ehe- 
malige Zollbeamte Matthäus als die Aoyta toü Kupiou gesam- 
melt haben mag, und welche dann in der Bergpredigt und 
einigen spätem Kapiteln dem nach ihm benannten Evangelium 
eingewoben sein werden. Auf der andern Seite verrät die 
Form der Erstlingspredigt Buddha's zu Benares, dafs man dem 
ersten, möglicherweise historischen Teile derselben die vier 
heiligen Wahrheiten unorganisch angeheftet hat. So passend 
nämlich jenen fünf Askese treibenden Mönchen gegenüber die 
Warnung vor den beiden Extremen der Genufssucht und der 
Askese und der Hinweis auf den durch den heiligen acht- 
teiligen Pfad vorgezeichneten mittlem Weg des moralischen 
Wandels war, so unvermittelt und unmotiviert schliefst sich 
an diese Betrachtung die Lehre vom Leiden, seiner Entstehung 
und seiner Aufhebung, und ganz naiv verrät sich dieser 
spätere Zusatz dadurch, dafs ihm nochmals mit denselben 
Worten die Lehre von dem achtteiligen Pfade als vierte heilige 
Wahrheit angeschlossen wird. Wie es aber auch immer mit 
der Form stehen mag, sicherlich befassen diese beiden An- 
trittspredigten gleichsam das Lehrprogramm einerseits des 
Buddhismus, andererseits des Christentums. 
Die Bergpredigt hat, Avenigstens ihrem ersten Teile nach, 
die Form einer wirklichen Predigt, als deren Text nach den ein- 
leitenden Betrachtungen Jesus die Worte hinstellt (Matth. 5,17): 
3. Die Predigt von Üfiiarcs uinl ilio Bergpredigt. lf)7 
.,Ihr sollt nicht wähiK'n, (hds ich o;e]<ommen hin, das Gesetz und 
die Prciphoten aul'zulöson. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, 
sondern zu erfüllen." Dies w ird dann durch Beispiele erläutert. 
Zu den Alten ist gesagt, du sollst nicht töten, sollst nicht 
ehebrechen; Jesus aber erklärt den, welcher gegen seinen 
Rruder Zorn und llafs im Kerzen trägt, welcher ein Weib 
ansieht, ihrer zu begehren, für einen Mörder, einen Ehe- 
brecher. \'on tler äulsern b(>sen Tat geht er zurück auf ihre 
innere Wurzel, auf die böse Gesinnung, die Begierde, aus 
welcher sie entspringt. In ähnlicher Weise geht Buddha von 
der äufsern Tatsache des Leidens zurück auf die Trishnä, aus 
welcher es hervorgeht und mit deren Aufhebung allein es 
aufgehoben wird. 
Beide grofsen Lehrer der Menschheit gehen aus von einem 
äufsern Symptome, Buddha vom Leiden, Jesus A^on der Sünde. 
Beide verfolgen dieses Symptom, um gründliche Heilung 
zu schaffen, auf seine innere Wurzel zurück, und in dieser 
treuen sie beide zusammen ; denn es ist im wesentlichen das- 
selbe, was Buddha als Trishnä für den Grund des Leidens, 
und was Jesus als die ext'^'j^xia, die böse Begierde, für den 
(irund der Sünde erklärt. Beide haben in ihrer Art recht; 
die TrisJiyä, die em'^Djjia oder, wie wir sagen würden, der 
^^'ille zum Leben, ist die tiefliegende Quelle, aus welcher 
sowohl die Leiden wie die Sünden des Daseins entspringen 
und mit deren Aufhebung beide aufgehoben sind. Besser als 
alle Bekehrungsversuche von der einen oder andern Seite dürfte 
die Erkenntnis sein, dafs die beiden grofsen Weltreligionen in 
ihrer Grundanschauung übereinstimmen und sich gegenseitig 
in schöner Weise ergänzen. 
4. Die fünf Skandha's. 
Es gehört wohl mit zu dem sichersten, was wir von 
Buddha wissen, dafs er die Beantwortung metaphysischer 
Fragen beharrlich ablehnte. Oft genug sind ihm von Jüngern 
wie von Gegnern Fragen vorgelegt worden, wie die, ob die 
Welt ewig oder nicht ewig, ob sie räumlich begrenzt oder 
unendlich grofs sei, ob die Seele vom Körper verschieden 
oder nicht verschieden sei, ob der Vollendete nach dem Tode 
158 III' Dharma, die Lehre. 
lebe oder nicht lebe. Alle diese Fragen und alle sich daraus 
<irgebenden Dilemmata weist Buddha zurück. Es ist nach 
ihm z. B. un/Aitreffend, dafs die Seele 1) vom Körper ver- 
schieden, 2) von ihm nicht verschieden, 3) sowohl verschieden 
als auch nicht verschieden, 4) weder verschieden noch nicht 
verschieden sei, und nach demselben Schema behandelt er 
alle die erwähnten Fragen nach Ewigkeit und Unendlichkeit 
•der Welt, nach der Existenz und dem Fortleben der Seele. 
So unmöglich es ist, die Sandkörner am Ganges, die Tropfen 
des Ozeans zu zählen, so unmöglich ist es, wie er erklärt, die 
Natur der Seele, das Ich zu ergründen. „Von dem, was den 
Körper ausmacht, ist der Vollendete befreit; er ist tief, un- 
ermefslich, unergründlich wie das grofse Meer. Dafs er 
Aviedergeboren wird, stimmt nicht, dafs er nicht wiedergeboren 
wird, stimmt nicht, dafs er sowohl wiedergeboren als auch 
nicht wiedergeboren wird, stimmt nicht; und dafs er weder 
wiedergeboren noch nicht wiedergeboren wird, stimmt nicht" 
(Majjhima-Nikäya 72,5). 
Nach Aufserungen wie diesen dürfen wir annehmen, dafs 
■das für den spätem Buddhismus so charakteristische Dogma 
von der Leugnung der Seele von Buddha selbst noch nicht 
aufgestellt wurde, so oft auch diese wie alle andern bud- 
dhistischen Lehrmeinungen dem Meister selbst in den Mund 
gelegt werden. Wie dem auch sei, jedenfalls leugnet der 
spätere Buddhismus die Existenz der Seele und erklärt in 
scharfer Opposition gegen den Brahmanismus die svakdya- 
ilrishfi, die Annahme einer Individualität, und den ätmo-vdda, 
-die Behauptung der Existenz eines Ätman, für verwerfliche 
Ketzereien. Der Mensch ist nichts weiter, als eine Verbindung 
der fünf Sland]ia''s oder Zweige, welche sich bei seiner Ent- 
stehung zu einem Komplexe verschlingen, der mit dem Tode 
auseinandergeht und zunichte wird. Diese fünf Skandha's 
sind: 
1. rupam, die Körperlichkeit, 
2. vcdand, das Gefühl, 
3. satnjnä, die Wahrnehmung, 
4. samsMrdh die Strebungen oder Triebe, 
5. vijndnam, das Bewufstsein. 
4. Die füllt Skandha's. 159 
Die Erklärunjivii dieser fünf He^rifto in den buddhistischen 
Schriften stimmen so wenig- zusammen, die Unterarten, deren 
l'ür rftpam 28, für veduna 18, für sdmjria (5, für die saui- 
skaras 52 und für vijuüuam 89 aufgezählt werden (vgl. Rliys 
Davids, Buddhism, p. 00 — 93), sind so widersprechend und 
verworren, dafs wir sie nur teilweise für das Verständnis der 
l)ud<lhistischen Psvchologie verwerten können und versuchen 
müssen, uns an der Natur zu orientieren, welche als cnne und 
dieselbe den Buddhisten vorlag und uns vorliegt. 
Das Wesen des Menschen tritt uns auf zwei Wegen 
i'ntgegen, sofern es ein Gegenstand einerseits der äufsern, 
andererseits der Innern Erfahrung ist. Was wir an dem 
Menschen von aufsen erfassen, seine Körperlichkeit mit ihren 
Organen und Funktionen, das alles zusammen befafst der 
Buddhismus unter rüpam, der Gestalt. Die ^'ier übrigen Kate- 
gorien umspannen das Gebiet der Innern Erfahrung, deren 
Erscheinungen sich sämtHch ungesucht und von selbst zer- 
legen in die Grundfunktionen des Erkennens und Wollens, 
zwischen welchen als ein drittes Vermögen, ob mit Recht, 
kann fraghch bleiben, das des Fühle ns gestellt zu werden 
pflegt. Das p]rkennen ist im Buddliismus vertreten durch die 
beiden Skandha's der samjM und des vijiiänam, und nach 
der überwiegenden Zahl der Stellen, in denen diese Begriffe 
behandelt werden, dürfte unter samjna die Wahrnehmung 
(des Blauen, des Süfsen, des Baumes usw.), unter vijnänam 
die zusammenfassende Erkenntnis oder das Bewufstsein 
als das alle andern befassende und daher auch die letzte 
Stelle einnehmende Zentralvermögen zu verstehen sein. Der 
Begriff der vedanä kann nach seiner allgemein indischen 
Bedeutung wie nach seiner Dreiteilung in Angenehmes, Un- 
angenehmes und Gleichgültiges nur unserm Gefühl ent- 
sprechen. Am schwierigsten ist die Bestimmung der Sam- 
.s/.-«;-rt"s, in deren Auffassung die Forscher auseinandergehen. 
Davids übersetzt es mit iMmtialities , tendencics, exertions : 
Oldenberg ersetzt es gewöhnlich durch „Gestaltungen", ver- 
steht aber darunter vorwiegend „Dispositionen oder Tendenzen 
des körperlichen oder geistigen Mechanismus, die irgendeine 
Wirkung hervorbringen" (S. 280^), ,, Dispositionen des Wollens 
160 III- Dharma, die Lehre. 
und Handelns" (S. 288^), „so dafs die Gleichwertigkeit des 
«er will» mit der Kategorie der Sankhara sich augenfällig 
hestätigt" (S. 289 ^ Anmerkung). Nach allem diesen und nach 
der überwiegenden Zahl seiner zweiundfünfzig Unterarten 
(Davids p. 91 sq.) dürfen wir die Samskdras für das dem 
Inder wie uns als Gegenstand der Innern Erfahrung entgegen- 
tretende Gebiet des Wollens in Anspruch nehmen. 
Die Verwandtschaft der buddhistischen Skandha's mit 
dem, was wir im Sankhyasystem als die Evolutionen der Pra- 
kriti schon mehrfach kennen gelernt haben (oben I, 2, S. 218. 
225; I, 3 S. 51 fg.), ist nicht zu verkennen, sofern im all- 
gemeinen das vijnänam der hnddlii, die samsMra''s einerseits 
dem ahankära, andererseits den Jcarma-iiidriyäni, die samjüä 
den jnäna-indrii/äni und das rnpani den fanniäfra's und hJmta's 
entsprechen, während die vedanä im Sankhyasystem nicht so 
sehr wie in dem weichmütigen Buddhismus hervortritt, aber 
doch in der weiter unten zu besprechenden Lehre von den 
fünfzig l>]iäva''s ihr Gegenstück hat. Auf die Unterschiede im 
einzelnen kommt es hier nicht an; das wesentliche der Sache 
ist, dafs der Buddhismus den Fnruslia leugnet, um dessen- 
willen alle Evolutionen der Prakriti statthaben; er treibt den 
Geist heraus und behält nur die Teile in der Hand, die bei 
der Gebm't zusammenfahren, man weifs nicht wie, und beim 
Tode sich zerstreuen, man weifs nicht wohin. In diesem 
Sinne kann man den Buddhismus als letztes Glied der langen 
Entwicklungsreihe betrachten, welche (oben I, 2, S. 356 — 365) 
mit dem hohen und kühnen Idealismus der ältesten Upani- 
shad's beginnend, durch die Zwischenstufen des Pantheismus 
und Kosmogonismus zu dem Theismus führt, welcher den 
Atman in einen persönlichen Gott und eine Vielheit von 
individuellen Purusha's spaltet und neben beiden die Welt als 
real bestehen läfst. Es wurde oben gezeigt, wie diese Spaltung 
des Atman zunächst zu einem Absterben des einen Zweiges, 
nämlich des persönlichen Gottes führte, so dafs der Prakriti 
als Vertreterin der materiellen Natur nur noch eine Vielheit 
von PdrusJm's gegenüber steht, welche mit äiifserster Zu- 
spitzung der Abstraktion von allen physischen und psychischen 
Organen unterschieden als reine Subjekte des Erkennens nur 
4. Die fünf Skandha's. IG] 
iiocli ein quasi-roales Dasein i'ühren. Der letzte mogliclK^ 
Schritt, auch noch die durch keine objektive Erfahrung be- 
ghuibigten Purusha's zu hnignen, fülirte dann endhch vom 
Atheismus der Sankhyak^lire zum Apsychismus der Buddhisten 
imd Carvaka's. 
Dal's der ^fensch keinen Atman, keinen Purusha, kein 
Ich besitze, sondern nur ein Komplex der fünf Skandha's sei, 
wurde vielleicht noch nicht von Buddha, wohl aber von seiner 
Kirche zum Dogma erhoben und tritt uns in dem Milinda- 
panha, einem romanhaft ausgeschmückten Gespräche zwischen 
dem griechisch -indischen Könige Milinda (= iMevavSpo?, um 
100 a. C.) und dem buddhistischen Weisen Nägasena in kras- 
sester Form entgegen. Der Wagen, auf dem der König ge- 
kommen ist, besteht in der Verbindung von Deichsel, Achse, 
Eädern, Gestell, Riemen, Joch und Speichen. Es gibt keinen 
Wagen, der aufser diesen Teilen und ihrer Verbindung 
existierte. So gibt es auch im Menschen nichts, was aufser 
den in fortwährendem A\^echsel sich erneuernden fünf Skan- 
dha's und ihrer Verbindung zu einem Ganzen existierte. Eine 
Seele, ein Ich gibt es nicht. 
Durch diese Leugnung der Seele verstrickt sich der 
Buddhismus in grofse, unlösbare Schwierigkeiten, da er gleich- 
wohl den allgemein indischen Glauben an die Seelenwanderung 
festhält und festhalten mufs, wenn nicht seine ganze Lehre 
von der Erlösung und dem Eingang in das Nirvänam haltlos 
werden sollte. Schon nach den vier heihgen Wahrheiten ist 
es die Trishnä, welche von Wiedergeburt zu Wiedergeburt 
führt, und im Jätakam werden die fünfhundertundfünfzig 
frühern Geburten des Buddha behandelt, welche die Identität 
der Person in allen jenen frühern Existenzen voraussetzen. 
Aber worin liegt diese Identität? Das ist die schwer zu be- 
antwortende Frage. 
In dieser Verlegenheit greift der Buddhismus zu der alten 
Upanishad -Anschauung vom Jcarman, dem Werke, welches 
nach jedem Lebenslaufe zu seiner Sühnung einen neuen Lebens- 
lauf erfordert. Beim Tode trennen sich die fünf Skandha's, 
und mit ihnen ist das ganze Wesen des Menschen aufgelöst. 
Nichts bleibt von ihm übrig als harman, das von ihm begangene 
Decssen, Geschiclife der Philosophie. I, in. 11 
162 ni. Dharma, die Lehre. 
Werk, und dieses zieht zum Zwecke seiner Vergeltung einen 
neuen Komplex der Skandha's zusammen. Dieser Ausweg 
aus den bestehenden Schwierigkeiten ist völlig imgenügend, 
Soll der Begriff der Vergeltung nicht ganz illusorisch werden, 
so mul's eine Identität bestehen zwischen dem, der das Werk 
begangen hat, und dem, an welchem das Werk vergolten 
wird. Diese Identität kann nicht in den begangenen Werken 
selbst liegen, denn eben weil sie dasjenige sind, was ver- 
golten wird, können sie nicht der sein, an welchem sie 
vergolten werden. Das grofse Mysterium, mit dem der 
Buddhist seinen Begriff des karman umgibt, dient nur zur 
Verhüllung des greisen Widerspruches, in welchen er sich 
durch die Leugnung der Seele und das Festhalten an einer 
jenseitigen Vergeltung verwickelt. 
Einen bemerkenswerten Zusatz hat Oldenberg der 5. Auf- 
lage seines „Buddha" eingefügt, in der es S. 305 Anmerkg. 
heilst: „Der Prozefs des beständig fliefsenden Geschehens 
verknüpft Vergangenes mit Gegenwart und Zukunft. Er führt, 
wenn sich jetzt in diesen Daseinselementen eine Schuld ver- 
wirklicht hat, später für die Daseinselemente, die sich aus 
jenen entwickelt haben, die Strafe herbei." Diese Bemerkung 
scheint vorauszusetzen, dafs die Daseinselemente (Skandha's), 
an welchen die Schuld vergolten wird, sich aus eben jenen 
Daseinselementen entwickeln, welche die Schuld begangen 
haben, so dafs die Daseinselemente selbst die zum Begriff 
der Vergeltung geforderte, mit sich identische Individualität 
enthalten würden. Wir vermissen die Belegstellen, auf welche 
sich diese Anschauung stützt; vielmehr werden wir das, was 
Buddha in seinem Gespräch mit Vacchagotta (Majjhima- 
Nikaya 72,5) von dem Fortleben des Vollendeten lehrt, in 
dem hier in Betracht kommenden Punkte auf alle beziehen 
können. Der Körper, die Empfindung, die Wahrnehmung, die 
Strebungen und das Bewufstsein „sind aufgehoben, von Grund 
aus zerstört, wie eine Fächerpalme ausgerottet wird, und ver- 
nichtet, so dafs sie in Zukunft nicht wiederkehren können". 
Wir werden wohl annehmen müssen, und schon der unaufliör- 
liche Wechsel alles Seienden weist darauf hin, dafs die 
Skandha's, welche von dem Irirman zur Konstituierung eines 
i. Die fünf Skantllia's. 1G3 
neuen Lebenslaufes zusammengezoi>;en werden, nicht dieselben 
sind, welche den vorhergehenden Lebenslauf l)edingten, so 
dafs die shoulJiafi ebensowenig wie das karnian geeignet sind, 
als Träo-er der Vero-eltunosidee verwendet zu werden. 
5. Die zwölf Nidäna's. 
Es bleibt uns nur noch eine llauptlehre des Buddhismus 
zu behandeln übrig, welche wegen ihrer Kompliziertheit das 
besondere Interesse der Forscher erregt hat, und der man 
vielfach eine Bedeutung zugeschrieben hat, welche sie nach 
ihrem Innern AVert keineswegs verdient. Es ist dies die Lehre 
von den zwölf Xidäncis (von nidänam, „Band, Ursache"), oder, 
wie man gewöhnlich sagt, die zwölfteilige Kausalitäts- 
formel, im Sanskrit der pratUya samutpäda genannt, wörtlich 
,,das Entstehen [der \Mrkung], nachdem etwas [die Ursache] 
eingetreten ist", welche die Leiden des Daseins als Wirkung 
durch eine Reihe von Zwischengliedern auf die trisJmä und 
diese weiter auf die avidyä als ihre letzte Ursache zurück- 
führt. Diese Kette der Mdänas, in der jedes folgende Glied 
durch das vorhergehende verursacht oder bedingt sein 
soll, ist folgende: 
1. avidyd, das Nichtwissen, 
2. samsJvärali, die Strebungen, 
3. vijnänam, das Bewufstsein, 
4. nämurüpam^ Name und Gestalt, 
5. s]t((d-dyafanam, die sechs Sitze, 
ß. spar^a, die Berührung, 
7. vedanä, das Gefühl, 
8. trishnä, der Durst, 
9. tqmdänam, das Anklammern, 
10. hhava, das Werden, 
IL jäti, die Geburt, 
12. jardmaranam, colxdli, paridcvanä, durmanasfd, upäydsdh 
Alter und Tod, Kummer, Jammern, Trübsinn und 
Verzweiflung. 
11* 
1(34 ni. Dharma, die Lehre. 
Wie alle Lehren des Buddhismus, so wird auch die von 
den zwölf Nidana's auf Buddha seihst zurückgeführt. Sie soll 
sich ihm, nachdem er in jener grofsen Nacht zu den vier 
heiligen Wahrheiten gelangt war, in der darauffolgenden 
Woche, während er noch unter dem Bodhi-Baume verweilte, 
offenbart haben; sieben Nächte hindurch soll er in jeder der 
drei Nachtwachen, also im ganzen einundzwanzigmal, die 
Kausalitätsreihe vorwärts und rückwärts durchdacht haben 
(oben S. 136). Wir können in ihr nur ein späteres Dogma 
der Schule erkennen, da sie mit dem Geiste der vier heiligen 
Wahrheiten, diesem echtesten aller buddhistischen Lehrstücke, 
nicht in Einklang stehen dürfte. Prüfen wir diese Kausalitäts- 
reihe, indem wir von dem letzten Glied anfangend auf das 
jedesmal vorhergehende als seine Ursache zurückgehen, so 
ergibt sich folgendes : 
12. jarämaranam, ^okali^ parldevanä, chirmanastä, updyäsali. 
Hier haben wir eine rhetorische Häufung von Ausdrücken, 
welche ohne innere logische Gliederung den Begriff des 
duMJiam, des Leidens, paraphrasieren. Die Ursache aller 
hier aufgezählten Leiden des Daseins ist begreiflicherweise 
11. jäti, 
„die Geburt". Diese hat ihren Grund in 
10. hhava, 
„dem Werden", worunter hier am einfachsten die Bildung des 
Embryo im Mutterleibe verstanden wird. Die beiden vorher- 
gehenden Kategorien 
9. npädmnim und 
8. trishnä 
führen uns aus dem physischen Leben in das Gebiet des 
Metaphysischen, und ihr einfacher Sinn ist dieser, dafs Werden 
und Geburt ihren Grund darin haben, dafs der Durst (trishnä), 
der das metaphysische Wesen des Menschen ausmacht, ver- 
möge des Anklammerns an das Dasein (upädänam) oder, in 
5. Die /.wölf Nidäua's. Ißf) 
modorner Kodeweise, vermöge der Bejahung des Daseins, sich 
eine enipiriselie Existenzform schatTt. 
Bis dahin ist alh^s kkir, und die bisher besprochenen 
GHeder sind nur eine weitere Ausführung des Grundgedankens 
(It-r heiüo-en Wahrheiten, (hil's aUe Leiden ihren letzten Grund 
in der das ganze Dasein bedingenden trishnü haben. Um die 
Leiden zu heben, müssen wir ihre letzte Ursache heben, und 
diese ist trisJnja, der Durst. Wäre er es nicht, so würde mit 
seiner Ausrottune; das (bei immer noch nicht in seiner letzten 
Wurzel ausiierottet sein, welches doch offenbar der Zweck 
ist, der dem Urheber der vier heihgen Wahrheiten vor- 
sch^^•ebte. Für ihn war mit der irishnä die tiefste Wurzel des 
Übels erfafst, mit ihrer Vernichtung das ganze Übel ver- 
nichtet. 
So verstand es Buddha, aber so verstand es nicht der, 
welcher die Irishnä durch eine weitere Reihe von Zwischen- 
gliedern bis auf die avidyä zurück verfolgte, die nach der 
Lehre der Upanishad's und des spätem Vedänta der letzte 
Grund des Daseins mit allen seinen Übeln ist, der avidyä, 
welche, strenggenommen, mit der Illusion (mäyä) des Daseins 
selbst identisch ist. 
Ist schon die Verfolgung der tri.shnä auf eine weitere 
Ursache dem Sinn der vier heiligen Wahrheiten zuwider, so 
ist es noch mehr die Art, wie dieses geschieht. Die trishnä 
soll ihren Grund haben in 
7. vedanä, 
worunter hier das „Gefühl" im physischen Sinne verstanden 
AVerden mufs, denn sie entspringt aus 
6. sparca, 
„der Berührung", wie sie hervorgeht aus 
5. shad-äycdanam, 
„den sechs Sitzen", d. h. den sechs Sinnesorganen (Auge, 
Uhr, Geruch, Geschmack, Tastsinn und Manas) nebst den 
sechs ihnen entsprechenden Objekten (indem schematisierend 
auch dem Manas ein korrespondierendes Objekt gegenüber- 
\QQ III. Dbarma, die Lehre. 
gestellt wird). Die sechs Sinnesorgane und die entsprechen- 
den Sinnesobjekte entspringen natürlich aus 
4. nämarüpam, 
„Namen und Gestalt", worunter hier wie schon in den Upa- 
nishad's die Sinnenwelt, der Inbegriff des empirischen Daseins 
zu verstehen ist. 
Hier haben wir den grofsen Fehler der Kausalitätsformel 
deutlich vor Augen. Während von 12. Leiden durch die 
Zwischenstufen von Geburt und Werden auf 8. Trishrx'i als 
deren metaphysisches Substrat zurückgegangen wurde, wird 
dann weiter Trishnä durch die Stufen von Gefühl, Berührung 
und Sinnesorganen aus 4. nämarüpani, d. li. der Sinnenwelt, 
abgeleitet und grobphysisch als die innerhalb des empirischen 
Daseins in die Erscheinung tretende Begierde verstanden. 
Wohl hat auch in den heiligen Wahrheiten die Trishna diesen 
zw^eifachen Sinn; sie ist -Aii paiinarhhavih'i metaphysisch und als 
naiidi-ruga-sahagatä, tatra tatra ahhinandirn physisch, und der 
hohe Sinn dieser Wahrheit ist, dafs eben das, was im Leben 
als die Begierde zur Erscheinung kommt, dem ganzen Dasein 
als metaphysisches Substrat zugrunde liegt. Hingegen wird 
in der Kausalitätsreihe ebendieselbe Trishnä als Ursache der 
folgenden Glieder metaphysisch und wiederum als Wirkung 
der ihr vorhergehenden Glieder physisch verstanden, worin 
eine kolossale [xeraßacric zic, ocXao ^svoc; liegt. 
Wenn dann weiter uämarupam, die Sinnenwelt, auf 
3. vijücmam, 
„das Bewufstsein", zurückgeführt wird, so kann hierin nur 
der alte Vedäntagedanke gefunden werden, dafs die ganze 
materielle Welt vom Bewufstsein getragen, ein blofses Be- 
wufstseinsphänomen ist. Dieses Bewufstsein ist, wie früher 
gezeigt wurde, ursprünglich das kosmische Bewufstsein des 
Weltschöpfers, und als dieser eliminiert wurde, blieb es im 
Sänkhyasystem als die kosmische Buddhi und so auch hier 
bei den Buddhisten als welttragendes Vijnänam bestehen. 
Weniger allgemein verbreitet ist in Lidien der Gedanke, dafs 
der tragende Grund dieses kosmischen Bewufstseins 
5. T>\c zwölf Nidäna's. If37 
2. die sanisb'(ra''s, 
,,(li(' Strebungen", also willensartige Potenzen, sind. Doch 
heilst es schon Kigveda 10,129,4, dafs aus dem Urwesen Jaima 
und aus diesem das intellektuelle Prinzip als maiias hervor- 
gegangen sei, und äliTilichen Anschauungen sind wir schon 
wiederholt aul' unserm Wege begegnet. 
^^'enn endlich als Grund der Samskara's und somit als 
letzter (Jrund aller Gründe 
1. die (iriihja, 
„das Nichtwissen", bezeichnet wird, so ist dies der alte, aus 
dem Vorstellungskreis der Upanishad's überkommene Gedanke, 
dai's die ganze empirische Realität eine blofse Illusion, ein 
Blendwerk, eine Mäyä ist. 
Nach dieser Analysis dürfte die Kausalitätsformel an- 
zusehen sein als ein die vier heiligen Wahrheiten nebst den 
fünf Skandha's bereits voraussetzender und, wie die Zwölfzahl 
zeigt, gekünstelter Versuch, das buddhistische Dogma, dafs 
alles Leiden aus der Trishnä entspringt, zu vereinigen mit der 
Vedäntalehre, nach welcher die Avidya der letzte Grund der 
ganzen Erscheinungswelt ist. Zu diesem Zweck geht die 
Formel von 12. duhJcliani auf 8. trishud zurück, wobei durch 
Auseinanderziehen der trisJnjä in trishnä und upadätiani, des 
dnhUiuin in hJtava, jdii und jarämaninam fünf Glieder ge- 
wonnen werden, ohne dafs damit irgend etwas gesagt würde, 
was nicht schon in den beiden ersten heiligen Wahrheiten 
enthalten wäre. Weiter nimmt der Verfasser der Formel, 
ohne der erwähnten !J.£Taßac'.? de ocaag ^[hoc, inne zu werden, 
die trislinä in empirischem Sinne und führt sie durch Ein- 
schiebung der fünf Skandha's auf die Avidya zurück, wobei 
rdpam durch udmarupam vertreten ist, und das zur Erreichung 
der Zwölfzahl noch mangelnde Glied durch Zerdehnung der 
Wahrnehmung, samjüd in s]ifnj-diiafaiiai)i und sparni gewon- 
nen wird.* 
* Gelegentlich wird auch mmjhä an zweiter Stelle eingeschoben und dafür 
hhava an elfter Stelle weggelassen (De la Vallee-Poussin, Sur le Pratitya- 
Samutpäda in den Akten des Orientalistenkongresscs von 1H05, I, p. 198). 
168 III- Dharma, die Lehre. 
Auffallend ist in der Kausalitätskette das Fehlen von 
l-arnu(ii, welches doch nach weitverbreiteter buddhistischer 
Ansicht der eigentliche Grund der Leiden des Lebens ist. 
Nur künstlich läfst es sich der Kausalitätsreihe einflechten, 
und es ist vielleicht vorzuziehen, verschiedene Strömungen in 
der Buddhagemeinde anzunehmen, indem bei der von Buddha 
angeregten Frage nach dem letzten Grunde aller Leiden die 
einen bei der von Buddha selbst dafür erklärten trisJmä stehen 
blieben, andere diese auf die avidi/a zurückführten, und wieder 
andere als solchen das Jcarman erklärten, bis schliefslich alle 
drei Richtungen in einem trüben Gemisch zusammenflössen. 
G. Siinkli.vnphilosophie und Buddhismus. 
Nach Beendigung unserer Darstellung der Grundlehren 
des Buddhismus werden wir, auf sie sowie auf die oben in 
ihren Haupt zügen verfolgte Philosophie der epischen Zeit 
zurückblickend, uns ein Urteil bilden können über die viel 
erörterte Frage der Abhängigkeit des Buddhismus von der 
Sähkhyaphilosophie, welche von einer Reihe von Forschern 
mit Bestimmtheit behauptet worden ist, während andere sie 
mehr oder weniger entschieden in Abrede stellen. Dafs der 
Buddhismus von dem Sähkhyasystem der klassischen Periode, 
wie wir es unten aus der Sänkhya-Kärika kennen lernen 
werden, abhängig sei, davon kann natürlich keine Rede sein, 
da er ihm jahrhundertelang vorausging. Und auch die 
ältere Säfikhyalehre, deren Entstehung aus dem Vedänta wir 
in den Texten des Mahäbhäratam schrittweise verfolgt haben, 
kann nicht als die Mutter des Buddhismus, wohl aber als 
dessen Schwester angesehen werden. Beide, der Buddhismus 
und die epische Philosophie, sind ihrer ersten Entstehung 
nach gleichzeitig, und wie die überraschende Ähnlichkeit 
zwischen dem Buddhismus und dem gleichzeitigen Jainismus 
(vgl. oben S. 118 fg.), so erklärt sich auch die Verwandtschaft 
beider mit der Sänkhvalehre des Mahäbhäratam daraus, dafs 
alle drei derselben Zeitströmung angehören, einem und dem- 
selben geistigen Boden entsprossen sind, wie er sich aus dem 
Idealismus der altern Upanishad's durch das immer üppigere 
6, Sänkliyaphilosophie und Buddhismus. 169 
Fortwucherii realistischer Tendenzen vorbereitet hatte. Ge- 
meinsam isl aHeii philosophischen Strömungen dieses Zeit- 
alters der Pessimismus, welchem die Leiden des Daseins 
Motiv und Ausgangspunkt der philosopiiischen Forschung sind, 
gemeinsam ist ihnen die schon aus den Upanishad's über- 
kommene Ansicht, dafs der Grund aller Leiden der Welthang, 
<ler Durst nach Dasein, die Begierde (sailf/a, Jcamn, lohha, 
tri.'^lnjä usw.) ist, gemeinsam endlich die Sehnsucht nach dem 
Aufgehen in Brahman, dem BraJinianirvänam, oder kurz ge- 
sagt, dem Nirvänam, welches als höchstes Ziel dem (^äkya- 
sühne wie seinen Zeitgenossen vorschwebte, schon als er 
noc-h im X'aterhause von Fülle und Glanz umgeben war, und 
w elches zu linden er aus der Heimat in die Heimatlosig- 
keit ging. 
Wie diese Grundanschauungen von äuhldiam, trisimä und 
nirvänam^ so sind auch manche einzelne Züge dem Buddhis- 
mus mit der Sankhyalehre des Epos gemeinsam. Für beide 
ist der ganze objektive Bestand, welcher das Wesen des 
Menschen ausmacht, mitsamt allen physischen und psychischen 
Organen und ihren Fvmktionen ein Nicht -Ich, welches nur 
irrtümlich für das Ich gehalten wird. Allen diesen Evolutionen 
der Prakriti, diesem Komplex der Skandha's, stellen die 
Sahkhya's das Subjekt des Erkennens als Purusha gegen- 
über, während der Buddhismus die Realität eines solchen 
Purusha in Frage stellt und schliefslich geradezu leugnet. 
Auch im einzelnen zeigen die Skandha's mit den Evohitionen 
der Prakriti manche Analogien, sofern dem vijnanam die 
hmhlJii, den samsläras der (ilamiMni und die harma-iudriya's^ 
der sanijna das manas und die jnäna-indrit/as, der vedanä die 
hhävas, dem riipani die tarnnäfra^ und bJmtas vergleichbar 
sind, und so wenig durchführbar auch dieser Vergleich im 
einzelnen sein mag, so vollkommen stimmen doch beide Rich- 
tungen darin überein, den ganzen Komplex der Skandha's, 
des Vyaktam, als ein Kommendes und Gehendes, Fluktuieren- 
des, nur scheinbar uns Angehöriges zu betrachten, von wel- 
chem sich loszulösen beiden Richtungen als die höchste und 
letzte Aufo-abe des Menschen erscheint. 
170 ^^^- Sangha, die Gemeinde. 
IV. Sangha, die Gemeinde. 
1. Die Organisation der Buddhagemeinde. 
Das Auftreten von Männern, welche die Upanisliadlehre 
von der Weltentsagung in die Praxis umsetzten und von allen 
Erdenbanden gelöst heimatlos und besitzlos als Bettler umher- 
pilgerten, war in Indien zu Buddha's Zeit nichts Neues. Auch 
der Brahmanismus hatte die Forderung aufgestellt, dafs man 
in höherm Alter den Stand des Hausvaters aufgeben sollte, 
um als Vänaprasthd und schliefslich als Sanni/äsin, ParrvrdjoJca, 
Bltilcshu den Rest des Lebens verrinnen zu lassen (oben S. 89 fg.), 
und schon in den Upanishad's finden sich Anzeichen dafür, 
dafs manche nach beendeter Lehrzeit die Zwischenstufen über- 
sprangen und als umherstreifende, heimatlose Bettler ein be- 
schauliches, in Indien keineswegs gering geachtetes Dasein 
führten.* Eine solche Gesellschaft heimatloser Bettler ist ur- 
sprünglich auch die Buddhagemeinde gewesen, nur dafs sie 
in diesem Falle von einer übermächtigen Persönlichkeit an- 
geführt und geleitet wurde, welche schon durch ihr Aufgel)en 
einer glänzenden Lebensstellung die Kraft ihres Wollens be- 
kundet hatte und diese Kraft auch weiterhin in Leben und 
Lelire betätigt haben wird. 
Aber wie die Bettelpilger des Brahmanismus einen sie 
anerkennenden und für ihren l'nterhalt sorgenden Hausvater- 
stand nicht entbehren konnten, so lag es in der Natur der 
Sache, dafs auch die buddhistischen Bhikshu''s, Bettler, oder, 
wie man sich, nicht ganz passend, zu sagen gewöhnt hat. die 
buddhistischen Mönche, von einem weitern Kreise von Upä- 
saJcas und Upäsilias,, Verehrern und Verehrerinnen, umgeben 
waren, welche bereit waren, die Sorge für Ernährung, Klei- 
dung und Unterkunft der Mönche zu übernehmen und dafür 
von ihrer Seite geistlichen Zuspruch, ja wohl auch geistige 
Anregungen zu empfangen. Diese Zweiteilung der Buddha- 
gemeinde in BJiiksJi a's, Bettler, und UpäsaJias, Laienbrüder, 
* Vgl. Jäbäla-Up. 4. (Sechzig Upanishad's S. 708 fg.) 
1. Die Oigauisution der Buddhagemeiude. 17 1 
erinnert ;tn den niittclalterlichen {j!ei>;en.satz von Klerus und 
Laien, entspricht ihm aber insofern niclit, als die lihiksliu's 
keinen anitliclien, priesterliehen Charakter, keine hierarchische 
Organisation hatten und nur durch die Macht der Idee, deren 
Träger sie waren, zusammengehiilten wurden. 
Auch die I'pasaka's wurden durch dreimaliges Sprechen 
(U'r Zutluchtsibrmel (ohen S. 12;")) der buddhistischen Gemeinde 
feierlich ungegliedert, konnten aber im übrigen in ihrer ge- 
wohnten LebenslÜhrung beharren und waren der Hauptsache 
mich nur zu der .,fiinfiaclien Rechtschaffenheit", den fünf 
grol'sen Geboten verptliclitet : 
1. nicht zu töten, 
2. nicht zu stehlen, 
o. nicht zu lügen, 
4. keine berauschenden Getränke zu trinken, 
5. nicht zu ehebrechen. 
Eine genauere Organisation und strengere Disziplin hielt 
die Gemeinde der IJJiiJisJius zusammen. Die Aufnahme in 
ihren Verband stand jedem frei, der nicht mit schwerern 
Ivrankheiten wie Aussatz, Schwindsucht, Epilepsie usw. be- 
haftet war und nicht als Soldat, Diener oder minderjähriger 
Sohn unter der Botmäfsigkeit eines andern stand. Der Auf- 
nahme ging für solche, welche noch nicht das zwanzigste 
Jahr erreicht hatten, ein Noviziat, für die, welche vorher einer 
andern Sekte angehört hatten, eine viermonatliche Probezeit 
vorher. Der Eintritt in den Orden erfolgte durch zwei Akte, 
zunächst die vor dem Noviziat oder der genannten Probezeit 
liegende Frafraji/d („den Auszug aus der Heimat"), welche 
einfacli darin bestand, dafs der Kandidat das gelbe Gewand, 
anlegte, Haar und Bart schor und unter Sprechung der Zu- 
tluchtsformel vor irgendeinem altern Mönche die Erklärung 
abgab, in den Verband der Bhikshu's eintreten zu wollen. 
Waren Noviziat und Probezeit überstanden oder nicht er- 
forderlich, so erfolgte vor der Versammlung der aus den um- 
wohnenden Bhikshu's bestehenden Gemeinde die Upasampadu., 
d. h. der förmliche „Eintritt" in den Orden. Nachdem der 
Kandi(hit in einem Verhör die Erklärung abgegeben hatte, 
172 . i^ • Sangha, die Gemeinde. 
nicht durch Krankheit, Schulden, Dienstharkeit oder Minder- 
jährigkeit am Eintritte verhindert zu sein, und die Gemeinde 
ihre Zustimmung durch Schweigen gegeben hatte, erfolgte zur 
Feststellung seiner Anciennität in der Rangordnung der 
Mönche die Konstatierung des Tages und (durch Messung des 
Schattens) der Stunde seiner Aufnahme, w orauf ihm die vier 
Regeln und die vier grofsen Verbote eingeschärft wurden. 
Nach den erstem sollte der Bhikshu nur von Erbetteltem 
leben, in Lumpen sich kleiden, unter Bäumen wohnen und 
keine künstlichen Arzneien benutzen; doch war es daneben 
gestattet, Einladungen zum Mahl, Gewänder, Obdach und 
Arznei von frommen Laienbrüdern anzunehmen. Strenger 
mufsten die vier grofsen Gebote beobachtet werden, 
1. sich jedes geschlechtlichen Verkehrs zu enthalten, 
2. sich auch im kleinsten nicht an fremdem Gute zu ver- 
greifen, 
3. kein lebendes Wesen, und wäre es ein Wurm oder 
eine Ameise, des Lebens zu berauben, 
4. sich keiner übernatürlichen Vollkommenheiten, wie 
ekstatischer Zustände usw., zu rühmen, \^enn man 
sie nicht wirklich besafs. 
Die Übertretung eines dieser grofsen Gebote hatte Aus- 
schliefsung aus der Gemeinde zur Folge, übrigens stand es 
jedem Bhikshu frei, jederzeit aus dem Orden auszutreten und 
in das Weltleben zurückzukehren, ^^'ährend der fünf ersten 
Jahre war der Neueingetretene der Leitung zweier älterer 
Mönche unterstellt, von denen, nach dem Namen zu schliefsen, 
dem UpudJti/ai/a mehr die Belehrung, dem Acari/a die sittliche 
Leitung des Schülers oblag, welcher dafür, nach einem aus 
den Brahmanenschulen überkommeneu Brauche, zu gewissen 
Dienstleistungen seinen Lehrern gegenüber verpflichtet war. 
Von den drei Gelübden, welche das christliche Mönchtum 
charakterisieren, Keuschheit, Armut und Gehorsam, kommt 
das letzte für den Buddhismus bei dem Fehlen einer einheit- 
lichen Zentralgewalt in Wegfall, und nur auf die Unterordnung 
der Jüngern Mitglieder unter die Autorität der altern wurde 
gehalten. Um so strenger w^urde auf der völligen Besitz- 
1. Die Organisation der Buddliagemcinde. 173 
losigkeit der Mönche bestanden. Die Gemeinde als solche ist 
reich ^enug mit Schenkungen von Klöstern, Parkanlagen in 
der Nähe der Städte u. dgl. bedacht worden; der einzelne 
Mönch als solcher aber darf nur acht Stücke sein eigen 
nennen. Es sind: 1. — o. die drei Stücke, aus denen das 
Gewand besteht ; dasselbe soll von gelber Farbe und aus 
Lumpen zusammengenäht sein, wenn auch die Annahme eines 
geschenkten Gewandes zulässig ist; 4. der Gürtel, um das 
(iewand zusammenzuhalten; 5. eine Nadel, um es zu flicken; 
6. ein Schermesser, mit welchem Bart und Kopfhaare völlig 
kahl abgeschoren werden; 7. die Almosenschale, ein mäfsig 
grol'ses irdenes Gefäfs mit bauchiger Rundung; 8. ein Sieb 
zum Filtrieren des Wassers, um keine Tiere zu verschlucken 
und dadurch ihren Tod zu Verschulden. 
Alle Nahrung des Bhikshu mufs erbettelt sein; als Woh- 
nung dient ihm eine Baumwurzel, eine Höhle oder eine aus 
Reisig und Moos gebildete Waldhütte. Das Wohnen als 
Waldeinsiedler ist zulässig, doch pflegt in der Regel eine 
gröfsere Anzahl zusammenzuwohnen, vielfach in klösterlichen 
Gebäuden, Vihäras genannt, von deren zahlreichem Vor- 
kommen noch heute die Provinz Behar ihren Namen hat. 
Die Buddliistenklöster, welche man heutzutage bei Kandy, 
der alten Hauptstadt von Ceylon auf der andern Seite des 
Sees erblickt und ohne Schwierigkeit besuchen kann, bestehen 
in einem mit Gras bestandenen und von einer Mauer um- 
schlossenen Hofraume, in welche die einzelnen Zellen eingelegt 
sind. Sie sind kaum grofs genug, um einem harten Lager 
und einem Gestell mit daraufstehendem Wasserkruge Platz zu 
geben, und werden an Ärmlichkeit der Ausstattung von einer 
noch so dürftigen Zelle abendländischer Klöster nicht über- 
boten. In ihnen spielt sich das tägUche Leben der Mönche 
in der gröfsten Einförmigkeit ab. Sie sollen mit der Morgen- 
röte aufstehen, für Reinigung der Zellen und des Klosters 
sorgen und vor dem Standbilde des Buddha oder dem heiligen 
Feigenbäume, der den Buddhisten in ähnlicher Weise als 
Symbol dient wie den christlichen Mönchen das Kreuz, die 
ersten Morgenstunden in andächtiger Betrachtung verbringen. 
Dann greifen sie zu Obergewand und Almosenschale und 
174 IV. Saiigha, die Gemeinde. 
machen, gewöhnlich zwei oder drei zusammen, ihren Bettel- 
gang durch die benachbarte vStadt oder Dorfschaft. Schweigend 
stehen sie vor den Häusern, bis ihnen eine milde Hand eine 
Gabe, meist wohl einige Reisklöfse, in den vom Obergewand 
überdeckt getragenen Almosentopf legt. Kein Haus sollen sie 
übergehen, nur solche Bewohner, die zu arm sind, um irgend 
etwas abzugeben, sollen geschont werden. In das Kloster 
zurückkehrend, bereiten sie aus dem Mitgebrachten das gemein- 
same Mahl, das einzige, welches sie in vierundzw^anzig Stunden 
zu sich nehmen, und welches vor zwölf Uhr mittags beendet 
sein mufs. Den ganzen übrigen Tag darf keine feste Speise 
mehr genossen werden; auch ist es verboten, ohne dringende 
Not vor der nächsten Morgenröte das Dorf oder die Stadt zu 
betreten. Der Rest des Tages verfliefst in stiller Meditation, 
Unterredung über geistliche Dinge oder sogenanntem Studieren, 
namentlich bestehend in dem Abschreiben von Handschriften 
auf zugeschnittenen, länglichen Palmblattstreifen, eine Be- 
schäftigung, in welcher die buddhistischen Mönche an Fleifs 
und Virtuosität das Unglaubliche geleistet haben. Eine Ab- 
wechslung in dieses einförmige Leben bringen die weiten 
"Wanderungen, welche nach Ablauf der Regenzeit von den 
buddhistischen Mönchen nach dem Vorbild des Meisters unter- 
nommen zu werden pflegten. 
Der Kultus des ältesten Buddhismus ist der Hauptsache 
nach auf den Upavasatlta beschränkt, eine alle vierzehn Tage 
bei Neumond und Vollmond stattfindende Beichtfeier, zu 
welcher alle Mönche der umliegenden Diözese sich einfinden 
müssen. Zur Verlesung kommt der Prätinio/islia, ein Register 
schwerer und leichterer Vergehen. Bei jedem Punkte werden 
die Anwesenden gefragt, ob sie sich einer Schuld bewufst 
sind, und nachdem diese bekannt und durch Auferlegung einer 
Bufse gesühnt worden ist, erfolgt die Absolution (irratimoksha). 
Eine gröfsere Feier ähnlicher Art findet alljährlicli am Schlüsse 
der Regenzeit statt. Sie heifst Pravdramm, angeblich „Ein- 
ladung", vielleicht als „Abwehr" zu deuten, da hierbei um- 
gekehrt wie im Upavasatha jeder Mönch, vom ältesten bis 
zum jüngsten herab, die anwesenden Brüder bittet, zu sagen, 
ob ihnen etwas Böses von ihm bekannt geworden sei. 
1. Die Organisation der liuddhagenieiude. 175 
Diese goineiiiscliai'tlicluMi Feste setzen voraus, dafs die iu 
einem bestimmten l iiikreise wolmenden Buddliisten sich zu 
einer Diözese zusammenii'eschlossen hatten. Die Gesamtheit 
aller dieser Kreise maehte dann den nur durch die Gemein- 
schaft der Literaturdenkmäler zusammenhäno;enden allsieraeinen 
ScoIiiJki, „die Gemeinde der vier \¥eltgegenden" aus. 
Der Zulassung von lihiksluotf'A oder Nonnen hat, wie 
schon oben bemerkt wurde, Buddha sich lange Zeit wider- 
setzt und sie endlidi nur unter strengen Vorbehalten seinem 
Mönchsorden angegliedert. Folgende acht Verhaltungsmafs- 
regeln wurden dabei nach Cullavagga x den Nonnen zur Pflicht 
gemacht : 
1. Eine schon hundert Jahre geweihte Nonne mufs einen 
Mönch, der erst an diesem Tage geweiht wurde, ehrfurchts- 
voll grüfsen, sie mufs vor ihm aufstehen, die Hände gegen 
ihn falten und ihn nach Gebühr ehren. 
2. Eine Nonne darf die Regenzeit nicht in einer Gegend 
zubringen, wo keine Mönche sind. 
1]. Die Nonnen haben in betreff ihrer halbmonatlichen 
Beichtfeier jedesmal den Rat der Mönche einzuholen und ihren 
^y eisungen zu folgen. 
4. Bei ihrer Pravarana-Feier müssen die Nonnen bei den 
Mönchen anfragen, ob diese Beschuldigungen gegen eine 
Nonne vorzubringen haben, während eine entsprechende An- 
frage der Mönche bei den Nonnen unstatthaft ist. 
5. Bei schwerern Vero-ehen mufs eine Nonne von dem 
versammelten Kreise der Mönche und Nonnen sich eine Bufse 
auflegen lassen. 
G. Eine Nonne kann erst von den versammelten Mönchen 
und Noimen ordiniert werden, nachdem sie sich zwei Jahre 
hindurch in den sechs Tugenden (nicht zu töten, nicht zu 
stehlen, nicht unkeusch zu leben, nicht zu lügen, keine 
geistigen Getränke zu geni eisen und nicht mehr nach Mittag 
zu essen) bewährt hat. 
7. Eine Nonne darf niemals einen Mönch schmähen oder 
sonstwie beleidigen. 
8. Die Mönche dürfen den Nonnen Vorhaltungen machen, 
nicht aber die Nonnen den Mönchen. 
17G IV. Sangha, die Gemeinde. 
Im übrigen war das Leben der Nonnen ähnlich geregelt 
Avie das der Mönche, nur dal's sie nicht im Walde, sondern 
nur innerhalb der Ortschaften, auch nie einzeln, sondern immer 
nur zu zweien oder mehrern zusammenwohnen durften. Das 
Betreten der Nonnenklöster war, von Krankenbesuchen ab- 
gesehen, den Mönchen untersagt. 
2. Einiges zur Geschichte des Buddhismus. 
Über zwölfhundert Jahre hat der Buddhismus in Indien 
bestanden, bis er für immer aus seinem Mutterlande vertrieben 
wurde. In diesem langen Zeiträume hat er manche innere 
Wandlungen durchgemacht und, je nach der Gunst der poh- 
tischen Lage, manche äufsere Schickungen erfahren. Nach 
den buddhistischen Darstellungen scheint seine Macht in ein- 
zelnen Zeiten so gewaltig angewachsen zu sein, dafs der Brali- 
manismus, die Religion der Väter, mit ihm um seine Existenz 
zu ringen hatte. Auffallend ist nur, dafs in der brahmanischen 
Literatur so wenig vom Buddhismus die Rede ist. In der 
Philosophie werden wir ihn als eines der untergeordneten 
Systeme antreffen, welches von (^ankhara leidenschaftlich be- 
kämpft und gänzlich verworfen w ird ; aber man sollte denken, 
auch in den übrigen Zweigen der brahmanischen Literatur, 
im Epos, im Drama, im Roman, müfste er ganz anders zur 
Geltung kommen, wenn er wirklich im indischen Kulturleben 
eine Rolle gespielt hätte, wie die buddhistischen Iberlieferungen 
sie ihm beimessen. 
Wie dem auch sei, jedenfalls war schon das erste Auf- 
blühen des Buddhismus durch die pohtischen Verhältnisse 
begünstigt. Über das mächtige Reich Magadha herrschte 
beim Auftreten Buddha's die Dynastie der fJaigunäga, und 
wir sahen bereits, wie der König Binibisära aus seiner Haupt- 
stadt Räjagriha an der Spitze von zwölf Myriaden Brahmanen 
dem Buddha huldigend entgegengezogen sein und sich als 
Laienbruder zu seiner Lehre bekannt haben soll. Sein Sohn 
und Nachfolger Äjätagatru soll zuerst als ein Saulus die neue 
Sekte bekämpft haben und dann durch ein Wunder in einen 
Paulus umgewandelt worden sein. Unter seinem Protektorat 
"2. Hiniges zur (leschiclite dos Buddliismus. 177 
fand in dem .laliro nach liuddha's Tode unweit von Jlajngriha 
jene X'ersaniniliing \on l'ünfhundcrt Mönchen statt, welche 
man als das erste Konzil (ca. 48U a. C.) zu bezeichnen 
ptlefi;t. liier «ialt es, die Lehren und Satzungen des Meisters 
festzustellen nnd mancherlei Meinungsverschiedenheiten aus- 
zugleichen. Zu demselben Zwecke fand hundert Jahre später 
(ca. 380 a. C.\ unter Käläroka. dem vorletzten König der 
Qai^unaga- Dynastie, das zweite Konzil zu Vairjäli statt, 
und im Zusammenhang mit ihm sollen die altern Teile der 
Pitaka's entstanden sein. Kalägoka's Sohn wurde von dem 
Usurpator Ntunla der Herrschaft beraubt, und es folgte eine 
Zeit der Wirren, welche der jungen Gemeinde schwerlich 
günstig gewesen sein w^ird. Auch als 315 CamlrcKjupta die 
Dynastie der Mannja's und ein grofses, das ganze nördliche 
Indien umfassendes Reich begründet hatte, scheinen sich die 
Verhältnisse für den Buddhismus zunächst nicht günstiger 
gestaltet zu haben, denn noch der Enkel Candragupta's, der 
mächtige König Arolici (259 — 222 a. C), soll dem Buddhismus 
zu Anfang nicht hold gewesen sein, wurde aber weiterhin 
der eifrigste Förderer des buddhistischen Glaubens. Im acht- 
zehnten Jahre seiner Regierung fand das von tausend Mönchen 
beschickte dritte Konzil zu Pafalipntm statt, und der König 
wünscht in einem noch inschriftlieh erhaltenen Edikt der Ver- 
sammlung der Ehrwürdigen zu ihrer Arbeit Glück, empfiehlt 
aber zugleich Toleranz und verspricht, Buddhisten wie Brah- 
manen in ihrem Glauben zu schützen. 
^lächtig blühte unter der weisen und toleranten Regierung 
A^oka's der Buddhismus empor. Apostel der neuen Lehre 
wurden nach allen Teilen des weiten Reiches und darüber 
liinaus gesandt, und Mahendra, ein Solin des Königs Äi'oJca, 
der selbst Mönch geworden war, wirkte für die Ausbreitung 
des Buddhismus auf der Insel Ceylon, welche seitdem die 
treueste Bewahrerin des altern, reinem Buddhismus gew^orden 
und bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Das Päli, die 
Kirchensprache des südlichen Buddhismus, soll nach einigen 
der Dialekt von Ujjayini, wo Mahendra seine Jugend ver- 
brachte, nach andern eine südindische Mundart gewesen sein. 
Nach dem Tode A^oka's wurde sein grofses Reich unter seine 
Deussen, Geecliichte der Philosophie. I, iii. ^^ 
178 IV- Sanglia, die Gemeinde. 
Söhne geteilt und geriet in Verfall. Eine neue Dynastie, die 
der Qnngas, mit der Hauptstadt Vidi^ä (Bilsa), gelangte im 
Dekhan seit 178 a. C. zur Herrschaft. Hire Könige, Pushya- 
mitra, Agnim'dra und Vasumitra, sollen zum Brahmanismus 
gehalten und den Buddhismus bedrückt haben, welcher für 
die Verluste im Süden reichen Ersatz im Nordwesten Indiens 
fand. Dort hatten sich in rascher Folge das Griechisch- 
baktrische Reich unter Eidliydemos vmd Demetrios (um 
200 a. C), das Griechisch-indische Reich, dessen be- 
deutendster Herrscher Ilenandros (um 100 a. C), ein aus 
dem oben erwähnten Milindapanha bekannter Freund und 
Förderer des Buddhismus war, und das aus der Invasion der 
C!akas (Skythen) hervorgegangene Indo-skythische Reich 
abgelöst. Sein gröfster Herrscher, KanisJdia, mit, dem die 
Ära der ^aka's seit 78 p. C. anhebt, wird neben Agoka als 
einer der eifrigsten Verehrer Buddha's gefeiert. Unter ihm 
fand in einem Kloster bei Jalandhara in Kashmir ein viertes 
Konzil statt, welches von den südlichen Buddhisten nicht 
anerkannt wird, wie das dritte, in Pätaliputra abgehaltene, 
nicht von den nördlichen. Der Umstand, dafs dieses vierte 
Konzil so fern von den Ursprungsorten des Buddhismus ab- 
gehalten wurde, legt Zeugnis dafür ab, dafs sich dessen 
Schwerpunkt mit der Zeit von dem östlichen Indien nach 
dem fernen Nordwesten verschoben hatte. Wechselnd waren 
seine Schicksale in Indien in den folgenden Jahrhunderten. 
Namentlich war es die Dynastie der Gupta's (von 319 bis 
gegen 500 p. C), unter welcher der Brahmanismus neu erstarkte 
und der Buddhismus stetig zurückgegangen zu sein scheint. 
Während der chinesische Pilger Fa Hian (um 400 p. C.) auf 
seiner Reise durch Indien Brahmanismus und Buddhismus 
noch in gleichem Ansehen bei der Bevölkerung vorfand, traf 
der Pilger Hiouen Thsang, welcher Indien von 629 — 648 
durchzog, vielfach verlassene Klöster und zerstörte Heilig- 
tümer der Buddhisten an, und es scheint, dafs zu seiner Zeit 
der Buddhismus nur noch da in Blüte stand, wo er von der 
Gunst der Fürsten unterstützt wurde, während die Bevölkerung 
sich mehr und mehr wieder dem Opferkultus der brahmani- 
schen Religion zugewendet hatte. 
2. Einiges zur Gescliichte dos Buddhismus. 179 
InzM'ischen liatte der Biidtlhismiis für den Verfall im 
Heimatlande reichen Ersatz im Auslande oefunden. Im Westen 
verbreitete er sich über Baktrien, im Süden wurde er von 
Ceylon nach Birma, Siam und Annam getragen, und im Osten 
eroberte er sich Tibet, China und Japan. Es ist ein merk- 
würdiges Zusammentreffen, dafs im Jahre 61 p. C, vielleicht 
in demselben Jahre, in welchem der Apostel Paulus nach 
Kom gelangte, um in dem weiten Römischen Reiche für die 
Verl)reituno; des Christentums zu wirken, der chinesische 
Kaiser Miuij-ti, angeblich infolge eines Traumes, dem Bud- 
dhismus Eingang in China verschaffte. Von hier wurde er 
552 in Japan eingeführt, entsprechend dem ungefähr gleich- 
zeitigen Vordringen des im Römischen Reiche erstarkten 
Christentums unter den germanischen Völkern des nördlichen 
Europas. 
Der internationale Charakter des Buddhismus, welcher 
seine Eroberungen fremder Länder begünstigte, war seinem 
Bestehen in dem an altererbte nationale Vorurteile gebundenen 
Indien hinderlich. Daneben aber w^aren es innere Gründe, 
welche schliefslich zu seiner Vertreibung aus Indien führten. 
Seiner schon seit dem dritten Konzil erfolgenden Spaltung in 
eine südliche und nördliche Kirche w^urde bereits wiederholt 
gedacht; nicht weniger als achtzehn verschiedene Sekten 
sollen schon zu dieser Zeit bestanden haben, aber verderb- 
licher als alle diese Zwiespältigkeiten im einzelnen w^ar seit 
dem 1. Jahrhundert p. C. das Auflcommen zweier Richtungen 
innerhalb des Buddhismus, welche sich gegenseitig bitter 
befehdeten, der einen, welche den verhältnismäfsig schlichten 
Traditionen des altern Buddhismus treu blieb und daher von 
den (üegnern verächtlich als Hhiai/änam, „das kleine (mangel- 
hafte) Fahrzeug", bezeichnet w^urde, und einer andern, unter 
den nördlichen Buddhisten seit 100 p. C. entstandenen, welche 
sich Mahäyänam, „das grofse Fahrzeug", nannte und die über- 
kommene schlichte Lehre mit einer aus dem Brahmanismus 
herübergenommenen Mythologie und mit einem ins Absurde 
gesteigerten Kultus göttlicher und dämonischer Wesen ver- 
brämte. Schon Buddha sollte von seinen frühem Geburten 
erzählt und einen künftigen Buddha, den Maitreya., in Aussicht 
12* 
180 IV. Sangha, die Gemeinde. 
gestellt haben. Hieraus entwickelte sich die Theorie von 
den unzähligen BodJiisattvas, ein Wort, welches ursprünglich 
einen Buddha in seinem Leben bis zur Erlangung der Buddha- 
schaft, hier aber, mit Erweiterung des Begriffes, einen in 
einer höhern Welt weilenden und zur spätem Buddhaschaft 
auf der Erde bestimmten Genius bezeichnet, der jetzt schon 
seinen Einflufs auf die Welt ausübt und durch Gebete an- 
gerufen werden kann. Im Saddharma-pundariTiam, dem „Lotus 
des rechten Glaubens", einem Hauptwerke der Mahayänalehre, 
treten zwei solcher Bodhisattva's hervor, Mcrnjugri^ der 
mythische Autor des W^erkes, welcher die göttliche Weis- 
heit, und Ävahhitegvara , der die Vorsehung repräsentiert, 
zu welchen sich weiterhin Vajrapäni als Personifikation der 
göttlichen Macht gesellte. Immer komplizierter wurde das 
System dieser Bodhisattva's, welches schliefslich seine Spitze 
fand in einem Adi-Bitddha, dessen Emanationen alle himm- 
hschen und irdischen Bodhisattva's sind. Dieser neuen Götter- 
welt gegenüber wurde die dem ursprünglichen Buddhismus 
allein mögliche Meditation zu Anrufungen, zu Gebeten, welche 
in zunehmender Entartung mechanisch mit Abzahlung am 
Kosenkranz oder durch Gebetsmühlen verrichtet wurden, 
kleinen, vmsern Kinderrasseln ähnlichen Instrumenten, welche 
geschriebene Gebete enthielten und in Drehung versetzt 
wurden. Jede Umdrehung kam dann, wie man mit gutem 
Grunde annahm, an Wert dem gesprochenen Gebete gleich 
und enthob den Frommen jeder weitern Mühe. 
So wurde der Buddhismus mit der Zeit zu einem äufser- 
lichen Kultus, ohne Kraft und inneres Leben, und in dieser 
Entartung konnte er dem von einer grofsen Tradition ge- 
tragenen Brahmanismus gegenüber seine Stellung nicht mehr 
behaupten und mvifste aus Indien weichen. Das Verschwinden 
des Buddhismus aus seinem Heimatlande scheint sich etwa 
zwischen 800 und 1000 p. C. nach und nach vollzogen zu 
haben. In der Rückerinnerung, welche längere historische 
Vorgänge zu einem einmaligen Ereignisse zu kondensieren 
pflegt, erschien diese Vertreibung des Buddhismus als Resul- 
tat einer furchtbaren Verfolgung, in welcher alle Buddhisten 
„von der Brücke bis zu den Schneebergen", d. h. von Ceylon 
2. Einiges zur Geschiclite des limldliisnins. \!^'\ 
bis zum lliinalayu, ausoorottet wurden. l her diese ßud- 
dhistt'uvori'olguiig haben wir in dem angeblich von Mädhava. 
(um 1350 p. C.) verfafsten (Janh(radi(jvij(i}ia Kap. 1, 20 — 98 
(S. If) — 29 der Puna-Ausgabe), einen mythischen Bericht, den 
wir hier ül)ersetzen wollen, nicht als wenn er irgendeinen 
historischen Wert beanspruchen könnte, sondern weil er für 
die feindselige Stellung der Brahmanen gegen die Buddhisten 
zur Zeit ihrer Austreibung ein charakteristisches Zeugnis ab- 
legt. Der nicht weiter bekannte König SKclhai/va», der die 
Vernichtung der Buddhisten befohlen haben soll, erscheint als 
eine Inkarnation des Gottes ludra. In KaDiürilubltafta, dem 
bekannten Kommentator der Jaimini-Sütra's, der in hervor- 
ragender \\'eise an der Vertreibung der Buddhisten beteiligt 
gewesen sein soll, ist der Kriegsgott Kumära (Skanda), ein 
Sohn (^iva's, Mensch geworden, während in Caülcara (geb. 
788 p. C), dem berühmten Kommentator der Brahma-Sütra's, 
der, wie der Titel des Werkes besagt, dem Brahmanismus die 
Weltgegenden wiedereroberte und jedenfalls für dessen Re- 
generation durch sein ausgebreitetes Wirken wesentlich bei- 
getragen hat, der höchste Gott ( Vr« selbst auf die Erde herab- 
gestiegen ist. 
'J. Mythischer Bericht über die Ausrottung des Buddhismus. 
(Nach dem Cankaradigvijaya cap. 1, Verszahlung und Lesarten nach Gikle- 
meisters Ausgabe in Lassens Anthologie S. 86—92.) 
1. Einstmals nahten sich die Götter dem auf dem Silber- 
berg (Meru) weilenden Göttergott ((j'iva), welcher dem Kalt- 
strahligen (Monde) vergleichbar war, wie er über dem Ost- 
gebirge sich erhebt. 
2. Vor ihm, durch dessen Gnade die Erfüllung ihres 
Zweckes bedingt war, fielen sie nieder, falteten die LotosWüten 
ihrer Hände zu Kelchen zusammen und trugen ihm mit Be- 
scheidenheit folgendes vor: 
?). „Es ist dir, o Heihger, ja schon bewufst, was zu 
unserm Besten dient: um die Sugata's (Buddhisten) zu ver- 
füliren, hat der Heimsucher (Vishnu) die Gestalt des Buddha 
angenommen. 
182 IV- Saiiglia, die Gemeinde. 
4. Auf die von ihm aufgebrachten Lehrmeinungen sich 
stützend und die philosophischen Systeme herabwürdigend, 
erfüllen die Buddhisten gegenwärtig die Erde, wie Finsternisse 
die Nacht. 
5. Die Kasten, Lebensstadien uml der fromme Wandel 
W' erden von ihnen, den Brahmanhassern, gehafst; sie behaup- 
ten von den Worten der heiligen Texte, dafs sie nur dem 
Zwecke des Lebensunterhaltes dienten, o Herr. 
6. Die Abendandacht und die übrigen Werke sowie die 
religiöse Tätowierung der Glieder werden von keinem Men- 
schen jemals mehr betrieben; sie sind alle in die Ketzerei 
verfallen. 
7. Vor dem Anhören der Schrift verschliefsen sie die 
Ohren und ebenso vor den beiden Silben, die da lauten 
„Opfer". Wie können dabei die Opferwerke gedeihen, und 
wie können wir die Opfer geniefsen? 
8. Die Lehren des ^iva und Vishnu als das Höchste 
schätzend* und Liiigam oder Diskus u. dgl. als Abzeichen 
tragend, werfen die Ketzer das Opferwerk von sich gleichwie 
schlechte Menschen das Mitleid. 
9. Mit einer nichts anderes anerkennenden Verehrung 
wenden sie sich an ihren höchsten Geist; welche heilsame 
Schriftstelle gibt es wohl, die nicht von diesen rausch- 
trunkenen Anhängern der (^'akti (schöpferischen Naturkraft) 
herabgewürdigt würde ? 
10. Tagtäglich ehren sie ihren Bhairava (^iva), indem 
sie [als Blümenspende für ihn] die Lotosblumen der Köpfe 
der Zwiegeborenen abschneiden; ja, welche Weltordnung gibt 
es, die von diesen niederträchtigen Schädelträgern nicht er- 
schüttert worden wäre? 
11. Und auch noch viele andere, mit Schwierigkeiten be- 
haftete Wege gibt es auf der Welt, auf welchen die Men- 
schen, sie betretend, in schlimmes Leid sich verstricken. 
I 
* Hier wird der Buddhismus mit den Ketzereien der vom Yedänta 
gleichfalls nicht anerkannten ^ivaitischen und vishnuitischen Sekten ver- 
mengt, von denen wir mehrere im folgenden Abschnitt kennen lernen werden. 
3. Mythischer Bericht über die Ausiuttung des Buddhismus. 1§3 
12. Darum mixest du, o Herr, zur Errettung der Welt 
die Bösewichter insgesamt ausrotten und den schriftgemäfsen 
Weg wiederherstellen, so dal's die Welt mit Lust auf ihm 
wandeln kann." 
13. 8o sprachen die Götter und schwiegen; da sagte 
|riva] der Geliebte der Bergbewohnenden [DurgaJ zu ihnen: 
„Euren Wunsch werde ich erfüllen, indem ich Menschen- 
gestalt annehme 
14. und zur Vernichtung der Übeltäter sowie zur Auf- 
richtung des Gesetzes einen Kommentar verfasse, welcher den 
Sinn des Inhalts der Brahmasütras klarlegen soll. 
15. Als Mittagssonnen in dem verwirrenden Dunkel des 
Prakriti-Dualismus werden die vier [behenden] Schüler leuch- 
ten, mit denen ich versehen sein werde, wie Hari (Vishnu) 
mit seinen [vier] behenden Armen. 
16. Als ein Fürst unter den Asketen mit Namen ^ahkara 
werde ich auf der Erde weilen, und wie ich, so sollt auch ihr 
in einen Menschenleib eingehen 
17. und mir nachfolgen, alle ihr Bewohner des dreifachen 
Himmels. Dann wird euer Wunsch in Erfüllung gehen, daran 
ist kein Zweifel." 
18. So sprach er zu den Himmelsbewohnern und richtete 
seine Seitenblicke, wie sie andern nicht leicht zu Gebote 
stehen, auf den Kumära (den Kriegsgott), wie die, Sonne ihre 
Strahlen auf eine Lotosblume. 
19. Als Guha (der Kriegsgott) diese Seitenblicke, welche 
schon [bei der Ouirlung des Amritam] auf den Wellen des 
Milchozeans geruht hatten, empfing, da freute er sich, wie die 
Lotosblume über die Strahlen des Mondes sich freut. 
20. Da sprach zu seinem lieben Sohne Skanda (dem 
Kriegsgotte) alsbald der den Mond als Stirnschmuck tragende 
Gott ((^'iva), er, der mit seinen schönen Augen-Rebhühnern 
des elfenbeingleichen Mondlichtes sich erfreut [die Augen 
heifsen Rebhühner, weil sie, wie diese, das Mondlicht 
trinken] : 
21. „Vernimm, o Trauter, das heilsame, die Rettung der 
Welt betreffende Wort: wird der aus drei Teilen bestehende 
Veda gerettet, so sind damit die Zwiegeborenen gerettet. 
184 iV. Sangha, die Gemeinde. 
22. Mit seiner Rettung ist die Rettung des ganzen Erd- 
kreises vollbracht, darum weil von ihm die Ordnung der 
Kasten, Lebensstadien und Pflichten abhängig ist. 
23. Nun sind, nachdem schon längst in mir der Entschlul's 
gereift war, diese Rettung zu vollbringen, als Mitwisser meines 
geheimen Ratschlusses Vishnu und ^esha (die Schlange des 
Vishnu) zu mir getreten 
24. und von mir ermächtigt worden, den mittlem Teil 
des Veda zu retten, indem sie mit einem Teile ihres Wesens 
als Sankarshana und Patanjali auf die Erde herabstiegen. 
25. Da weilen sie nun, zu zwei Weisen geworden, welche 
den Verehrungsteil und den Yogateil bearbeiten (oben I, 1 
S. 56): aber den höchsten Teil, den Erkenntnisteil (den Ve- 
dänta), will ich selbst retten, so, o ihr Götter, 
26. habe ich mir jetzt vorgenommen, und auch du [mein 
Sohn Skanda] weifst es nunmehr. 
Werde du zum Monde der Herbstvollmondnacht für den 
Ozean der Regeln des Jaimini (der Mimafisä-Sütra's) ; 
27. rette du um des Brahman (des Veda) willen den be- 
sondern, von den Werken handelnden Teil; du wirst dir da- 
durch den Ruhm erwerben, ein Brahmanfreund (Suhralimanya) 
zu heifsen. 
28. Schafie eine Bestimmung des schriftgemäfsen Wan- 
dels, indem du auf die Erde hinabsteigst und alle die An- 
hänger des Sugata [die Buddhisten] besiegst, welche dem 
Inhalt der heiligen Überlieferung zuwider sind, 
29. Auch Gott Brahman wird zu deiner Unterstützung als 
ein Fürst mit Namen Mandana, und auch der grofse Indra 
als ein grofser Erdbeherrscher mit Namen Sudhanvan ge- 
boren werden." — 
30. „So sei es ! " Mit diesen Worten nahm der Anführer 
des Heeres der Götter [Skanda] die selbst für den Welt- 
schöpfer Gebot seiende Rede seines Gebieters, gleich als wäre 
sie ein Nektarstrom, entgegen. 
31. Da wurde auch Indra zu einem Menschenfürsten und 
indem er [als König Sudhanvan] seine Untertanen mit Ge- 
rechtigkeit beschützte, machte er die Erde zum Himmel und 
seine Residenz zu einer Amarävati (Stadt des Indra). 
3. Mythischer Beritlit über die Ausrottung des Buddhismus. Ig5 
32. Von allem Kenntnis nehmend, hatte er auch einen 
vüri>ebliclien Glauben an die Lehre der Bösewichter ange- 
nommen, und während er den Durchbohrer des Berges 
Kraunca |den Skandaj erwartete, hel's er die Anhänger des 
Sugata (die Buddhisten] zu einer Versammlung einberufen. 
33. \\'eiter war aber auch der (jiegner des Täraka [Skanda, 
auch Kumara genannt] auf der Erde geboren worden, und 
seine Benennung als Bhattapada (Fül'se des Meisters, d. h. 
Kinnarila-Bhatta] war zur Zierde der schönen [Genien] der 
Himmelsgegenden geworden. 
34. Und indem er das den Hauptinhalt des Veda ent- 
haltende Sütrawerk des Jaimini erschlol's, glänzte er wie die 
tausendstrahlige Sonne, wenn sie die durch [ihren Wagen- 
lenker] Anüru offenbar gemachte Welt erleuchtet. 
35. Indem er die Welträume eroberte, kam er auch zur 
Stadt des Königs Sudhanvan, und der Herr des Landes kam 
ihm entgegen und ehrte ihn nach Gebühr. 
^ 36. Er aber begrüfste den Landesherrn mit einem Segens- 
wunsche und schmückte sodann, auf einem goldenen Throne 
sitzend, jene Versammlung, wie die Himmelskuh den Göt- 
terhain. 
37. Und als er den Gesang eines auf einem Baume in 
der Nähe der Versammlung sitzenden Kokila (Kuckuck) hörte, 
da sprach er, der oberste der Gelehrten mit Anspielung auf 
ihn zum Könige: 
38. „Wenn du, o Kuckuck, keine Gemeinschaft hättest 
mit schmutzigen, gemeinen Krähenscharen, welche vernehmen 
lassen, was die Qruti (das Gehör und die heilige Schrift) ver- 
letzt, dann wärest du zu preisen." 
39. Als die Anhänger des sich die sechs Zauberkräfte 
zuschreibenden [Buddhaj diese inhaltschwangere Kede ver- 
nahmen, da zürnten sie noch mehr als die Schlangen, wenn 
sie mit dem Fufse getreten werden. 
40. Er aber fällte mit dem Beil seiner Argumente den 
Baum der Buddhalehren und vermehrte mit dem aufgeschich- 
teten (cirna), aus ihren Lehrschriften entnommenen Brennholze 
die Flammen ihres Zornes. 
186 IV. Sanglia, die Gemeinde. 
41. Von ihren Gesichtern, welche den roten Glanz des 
Zornes zeigten, erglänzte die Versammlung wie ein Lotosteich 
von Lotosblumen, welche durch das junge Sonnenlicht an- 
gerötet sind. 
42. Und indem man sich gegenseitig mit Schmähungen 
bewarf und verkleinerte, entstand ein Lärm, welcher gleich- 
sam bis zur tiefsten Unterwelt drang. 
43. Da geschah es, dafs die Buddhisten, den Bergen ver- 
gleichbar [welchen Indra vorzeiten die Flügel abgeschnitten 
hatte], von dem indragleichen Weisen mit der einem gezück- 
ten Schwerte gleichen Widerlegung an den Flügeln ihrer 
Lehrmeinungen getroffen, augenblicklich zu Boden stürzten. 
44. Er, der [wahrhaft] Wissende, den [vermeintlichen] 
Allwissenheitsstandpunkt der Feinde nicht duldend, machte 
sie zu solchen, welche wie Gemälde aufgetragen und mit 
Stillschweigen geziert waren. 
45. Nachdem nun die Buddhisten in ihrem Stolze ge- 
demütigt waren, verkündigte er, den Erdeherrn zu belehren, 
in vielfacher Weise die Aussprüche des Veda. 
46. Da sprach des Landes Oberherr: „Erfolg und Mifs- 
erfolg seien abhängig vom Wissen ; wer sich von dem Gipfel 
dieses Felsens herabstürzt und dabei unversehrt ])leibt, dessen 
Wissenschaft ist die wahre." 
47. Als dies die andern hörten, sahen sie sich [betroffen] 
gegenseitig an, aber er, der oberste der Zwiegeborenen, stieg, 
der Veden gedenkend, zum Felsengipfel hinauf. 
48. „So wahr, wie die Veden die Richtschnur sind, möge 
mir keinerlei Schaden geschehen!" so rief er aus und stürzte 
sich mit hoher Gesinnung hinab. 
49. ,Jst es wohl Yayäti, welcher wieder aus dem Himmel 
herunterfällt, nachdem auch der von seinem Enkel auf ihn 
übertragene Schatz der guten Werke verbraucht ist?" — so 
sprachen die Leute. 
50. Und der Lehrer der Welten fiel von dem Berge 
herunter [unversehrt] wie eine Baumwollenmasse. — Welches 
Unheil hält der Veda nicht von denen fern, die sich in seinen 
Schutz begeben? 
15. Mytliischer Bericlit übor dio. Ausrottung des I»u(l(lliismus. 187 
51. Als die Zwiegeborenen (Bralimanen) diese wundor- 
l)an' Tat vernahmen, eilten sie aus allen Gegenden herbei 
wie die Pfauen aus dem Waldesdickicht, wenn sie den Donner 
der ^\'olke hören. 
02. Als der König ihn unverletzt erblickte, da schenkte 
er der heilio;en Schrift Glauben und machte sich selbst dar- 
Über viele Vorwürfe, dafs er sich durch den Verkehr mit den 
Bösewichtern liatte veri'ühren lassen. 
53. Aber die Buddhisten sprachen : „Dies ist kein Beweis 
für die Richtigkeit ihrer Lehre ; auch durch Amulette, Zauber- 
sprüche vmd Elixiere kann in solcher Weise die Beschützung 
des Körpers bewirkt werden." 
54. Als von den Schurken sogar diese offenbare Tatsache 
verdreht wurde, da stellte der Erdeherr mit einer durch 
Stirnrunzeln Furcht einflöfsenden Miene eine gefährliche 
Probe an. 
55. „Ich werde euch eine Frage vorlegen, und diejenigen, 
welche sie nicht zu beantworten vermögen, werde ich unfehl- 
bar unter Mühlsteinen zermalmen lassen." 
5(3. Nach dieser Drohung liefs der Landesherr einen Krug, 
in dem sich eine Giftschlange befand, herbeibringen, und 
richtete an die Bralimanen und die Buddhisten die Frage, was 
darin sei. 
57. „^^ ir wollen darüber unsere Erklärung lieber morgen 
früh abgeben"; mit diesen Worten den König vertröstend, 
gingen die Bralimanen und die Buddhisten weg. 
58. Da übten, wie Lotosblumen bis an den Hals im 
Wasser stehend, die Bralimanen, dem Sonnengotte zugewandt, 
Askese, und dieser oflenbarte sich ihnen darauf. 
59. Und als der Sonnengott, nachdem er sie angewiesen 
hatte, was sie sagen sollten, verschwunden war, kamen die 
Brahmanen herbei; so auch die Buddhisten, nachdem sie sich 
über den Inh^ilt des Kruges vergewissert hatten. 
60. Darauf sprachen die Buddhisten alle: „Es ist eine 
Schlange!" Die Bralimanen aber sprachen: „Es ist der auf 
seinem Schlangenlustlager liegende Ileihge [Vislinu]". 
61. Als der Landesfürst die Rede der Bralimanen ver- 
nommen hatte, da nahm sein Angesicht das Aussehen einer 
188 I^ • Sangha, die Gemeinde. 
durch Austrocknung ihres Teiches hinwelkenden Lotos- 
blume an. 
62. Da sprach zum Könige eine himmlische, körperlose 
Stimme, welche seinen Zweifel und den aller Hörenden ver- 
scheuchte : 
63. „Es ist walir, o grofser König, was die Brahmanen 
gesprochen haben ; zweifle nicht daran und mache dein Ver- 
sprechen wahr!" 
64. Als der Erdeherr die körperlose Stimme vernommen 
hatte, da sah er in den Krug und erblickte in ihm die Ge- 
stalt des Madhutöters (Vishnu), [so erfreut] wie der Götter- 
herr über den Unsterblichkeitstrank. 
65. Als der König [in dem Krug] etwas anderes erblickte 
als das, was hineingelegt worden war, da liefs er alle Zweifel 
[an der Wahrheit der Vedalehre] fahren und gab Befehl zur 
Ermordung der Vedafeinde. 
66. „Von der Brücke [des Räma bei Ceylon] an 
bis zu dem Schneegebirge [dem Himalaya] hin, wer 
die Buddhisten mitsamt Greisen und Kindern nicht 
erschlägt, soll erschlagen werden!" so gebot der Fürst 
seinen Leuten. 
67. Auch wenn er geliebt wird, mufs einer, wenn man 
ihn sündigen sieht [lies drishta], von Hochherzigen getötet 
werden. Hat nicht der Nachkomme des Bhrigu [Paragu- 
Räma] sogar seine eigene Mutter [auf Befehl seines Vaters 
Jamadagni] vor aller Augen getötet? 
68. So wurden von dem dem Skanda ergebenen Könige 
die pflichthassenden Jaina's (Buddhisten) getötet, sie die yoga- 
zerstörenden Hindernisse, von ihm, dem Fürsten der Yogin's, 
der sich auf die Wahrheit stützte. 
69. Nachdem diese Bösewichter vernichtet worden waren, 
breitete der Hochweise [Skanda als Kumarila-Bhatta] den Weg 
der heiligen Schrift aus, wie die Sonne ihre Herrlichkeit nach 
Verscheuchung der Finsternis. 
70. Nachdem von dem Kumärila-Löwen die Jina-Elefanten 
getötet worden waren, gediehen allerwärts die Vedaschulen 
ohne Hindernis. 
3. Mythischer Bericht über die Ausrottung des Buddhismus. 189 
71. Xachdem zuvor in dieser "Weise von dem Feuer- 
geborenen |Skan(laJ als dem alleswissenden Kumarila dieser 
Wec; der OplVrwerke geebnet worden war [durch seinen 
Kommentar zur Mimansä], so unternalim es der Monddiadem- 
träger l^'iva als QafikaraJ, der ein Ozean von Mitleid war, 
diese in das Meer der Existenz versunkene Welt zu retten 
(durch den Kommentar zu den Vedäntasütra's]. 
So lautet in dem vom erlauchten Mädhava als Exzerpt abgefafsten Qaükarasiege 
dieser, dessen Eiugangserziililunn enthaltende, erste Abschnitt. — 
Der nachvedischen Periode zweiter Abschnitt: 
Die philosopliisclien Systeme. 
Vorbemerkungen und Übersicht. 
Aus den in den Upanishad's aufkeimenden und in der 
epischen Zeit nach der religiösen wie nach der philosophischen 
Seite fortentwickelten Gedanken haben sich in der darauf- 
folgenden Periode des klassischen Sanskrit, also etwa von 
200 a. C. an, eine Reihe philosophischer Systeme ausgebildet, 
über deren historische Abfolge nach dem heutigen Stande 
unseres Wissens noch nichts Sicheres zu sagen ist. In der 
Form, in welcher uns diese Systeme vorliegen, scheinen sie 
sich alle gegenseitig zu kennen und bekämpfen sich gelegent- 
lich unter einander; sie setzen offenbar einen jahrhunderte- 
lang währenden, eifrigen Betrieb der philosophischen Schulen 
voraus, von dem uns in den vorliegenden Schriften in der 
Regel nur die letzten Resultate erhalten sind. Diese liegen 
uns für die sechs orthodoxen Systeme, Vaigeshikam und 
Nyäya, Sänkhj^am und Yoga, Mimänsä und Vedanta, in der 
schon oben (S. 4 fg.) charakterisierten Form von Sütra's oder 
Lehrsprüchen vor, welche, abgesehen vom Sähkhyasystem, 
die älteste uns erreichbare Gestalt dieser Systeme repräsen- 
tieren, und auf die mit Zuziehung der Kommentare die Dar- 
stellung sich gründen mufs. 
Vorbemerkungen und Übersicht. ]91 
Daneben besitzen wir unter dem Titel Sarva-darrana- 
sdiiuiniha, d. li. „Zusammenfassung aller Systeme", eine vor- 
ziiiiliche Darstellung von der Hand des Madhava-äcarya, 
welcher nach ("owells Angaben im Jahre 1331 p. C. zum Vor- 
sieher der von dem grofsen ^ankara gegründeten Kloster- 
schule zu (^ringagiri in Mysore (vgl. mein „System des Ve- 
dänta", S. 36) erwählt wurde und als ein überzeugter Anhänger 
die Advaitalehre des ^aiikara vertritt. Von diesem Stand- 
])unkte aus, den auch wir als den höchsten in der indischen 
Philosophie erreichten ansehen müssen, gibt der Sarva- 
dar^ana-samgraha, und zwar, wie dieser Titel besagt, mit 
dem Ansprüche auf Vollständigkeit, eine von geistvoller Kritik 
getragene Übersicht über sechzehn philosophische Systeme 
(deren Verzeichnis man oben S. 4 nachsehen wolle), welche 
von dem am niedrigsten stehenden System der Cärväka's 
(Materialisten) bis hinauf zur Advaitalehre des Qankara im 
ganzen und grofsen nach ihrem Innern Werte geordnet sind. 
Die unterste Stelle nehmen die Materialisten, Buddhisten und 
Jaina's ein. Ihnen folgen zwei vishnuitische und sodann vier 
givai tische Systeme, d. h. solche, welche die Atmanlehre der 
l'panishad's mit der Volksreligion des Vishnu oder des ^iva 
zu verschmelzen suchten. Auf diese neun heterodoxen Systeme 
folgen von den sechs orthodoxen Systemen zunächst diejenigen 
drei, Vai^eshikam, Nyaya und Mimänsä, welche einen natur- 
wissenschaftlichen, logischen und rituellen Charakter an sich 
tragen und nur nebenbei metaphysische Fragen behandeln. 
An sie schliefst sich das Päninisystem, welches im Studium 
der Grammatik den besten Weg zur Erlösung sieht. Den 
Abschlufs bilden die drei im eigentlichen Sinne metaphysischen 
Systeme, das Sänkhyam, der Yoga und der von ^ahkara ver- 
tretene streng monistische Vedänta. Über den letztern findet 
sich in der Ausgabe der Bibliotheca Indica keine Darstellung, 
sondern nur die Bemerkung: „Das diese überragende, die 
Krone aller Systeme bildende System des ^aükara ist anderweit 
dargestellt w^orden, daher wir hier von demselben absehen." 
Diese „ander weite Darstellung" glaubt Apte aufgefunden zu 
haben und hat sie seiner neuen Ausgabe des Sarva-dar^ana- 
sarngraha (Puna 1900) p. 145 — 174 beigefügt. 
192 Die philosophischen Systeme. 
Für unsere Kenntnis der neun heterodoxen Systeme ist 
der Sarva-dar^ana-samgraha des Mädhava eine vorzügliche, 
in vielen Fällen die einzige Quelle, und wir glauben dem 
Zwecke, unsere Leser nicht nur mit dem Lehrinhalt der 
Systeme, sondern auch mit der Methode des indischen Philo- 
sophierens bekannt zu machen, nicht besser dienen zu können, 
als indem wir diesen ersten Teil des Sarva-dargana-samgraha, 
von dem bisher nur eine englische, nicht überall das volle 
Verständnis ermöglichende Übersetzung vorliegt, in möglichst 
wortgetreuer, nur durch die nötigen Einschaltungen und über 
den Inhalt orientierenden Randglossen das Verständnis er- 
leichternden Übersetzung unserer Geschichte der indischen 
Philosophie einverleiben. Sind auch die dabei vorkommen- 
den Argumentationen vielfach scholastisch und hin und wieder 
sophistisch, so entschädigen sie doch für ihr nicht ganz leichtes 
Studium durch den unmittelbaren Einblick, den sie in die Werk- 
stätte des indischen Philosophierens und Disputierens gewähren. 
Wir schicken unserer Übersetzung die Verse voraus, mit 
welchen Mädhava sein Werk einleitet, und in welchen er sich 
als den Schüler des Sarvajna-VisJinu und mit Anspielung auf 
die Erzählung von der Quirlung des Amritam als den Juwel- 
stein Kaustiibha in dem Milchmeere Sdyana, d. h. wohl, als 
ein hervorragendes Mitglied aus der Familie der Säyana's, be- 
zeichnet. 
Vorwort des Mädhava-Acärya zum Sarya-dar(^ana-samgraha. 
C p. 1. P p. 1* 
Dem Qiva, der der Weisheit ewiger Schacht, 
Der Seligkeiten Hort ist, sei Verehrung ! 
Er, der die Welt und was auf ihr, gemacht, 
Sei Beistand mir bei folgender Belehrung! 
* Hier und im folgenden bedeutet C die Ausgabe in der Bibliotheca 
Indica (Calcutta 1858), welche unserer Übersetzung zugrunde liegt, P. die 
nur gelegentlich verglichene Ausgabe der Anandägrama-Series (Puna 1906). 
Die Seitenzahlen links beziehen sich auf C, die rechts auf P. 
Vorwort des Mädhava-Acärya zum Sarva-dargaua-samgraha. 193 
Auch ihn, der der Systeme Ozean 
Durclischiffend, kam am andern Ufer an, 
Und fand den richtigen Begriff der Seele, 
Dafs alle Welt des Zieles nicht verfehle, 
Des (Jarngapani Sohn, vor welchem klar 
Der Inhalt aller Lehrbegrift'e lag, 
Sarvajna-Vishnu, der mein Lehrer war. 
Ihn trag ich in Gedanken Tag für Tag. 
In dem erlauchten Milchmeer Säyana 
Erschien als der Juwelstein Kaustubha 
Der hehre Mädhava und hat voll Macht 
Aller Systeme Umrifs hier erbracht. 
Der Alten vielverschlungene Lehrgebäude 
Durchforschend, hat zu aller Edlen Freude 
Der Lehrraeinungen Inbegriff der Held 
Säyana-Madhava hier aufgestellt. 
Wer edel ist, wird fern von Eifersucht 
Und Neid geniefsen seiner Arbeit Frucht. 
Wer wäre auch, der Freude nicht empfindet, 
Wenn einen bunten Blumenkranz man windet. 
Deusses, Geschichte der Philosophie. I, iii. 1" 
Die Cärväka's oder Materialisten. 
C p. 1—7. P p. 1—5. 
Popularität Und zunächst, wie konnten wir [S. 192] behaupten, dafs 
* lismus!'* der höchste Gott die Sehgkeiten verleihe , so hxnge der Cär- 
väka, welcher in den Meinungen des Brihaspati wandelt und 
der Kronstein aller Nihilisten ist, diese Behauptung weit von 
sich abweist? Ist doch das Gebaren des Cärvaka ein solches, 
welches schwer auszurotten ist! Denn in der Regel halten 
sich alle lebenden Wesen an das Volkssprüchlein: 
„So lang du lebest, magst du lustig leben, 
„Denn vor dem Tode hält ja doch nichts Stand. 
2 „Wenn erst der Leib zu Asche ist verbrannt, 
„Kann es ein Wiederkommen nimmer geben", 
folgen den Regeln der Weltklugheit und des Genusses, halten 
das Nützliche und das Angenehme für die höchsten Ziele des 
Menschen und leugnen, dafs es ein jenseitiges Ziel gebe, 
womit sie offenbar nichts anderes tun, als dafs sie die Theorie 
der Carväka's praktisch verwirklichen. Darum ist es auch 
ganz sachgemäfs, wenn die Theorie der Carväka's den Bei- 
namen Lokäyatam (die nach der Welt sich streckende) führt. 
Grtind- Nach dieser Theorie sind die vier Elemente, die Erde usw., 
die einzigen Wesenheiten. Aus ihnen entsteht, wenn sie sich 
in die Gestalt des Leibes umwandeln, das Geistige, ähnUch, 
wie aus den Gärungsstoffen die berauschende Kraft, und 
begriffe. 
I. Die Ciirväka's oder Materialisten. 195 
wenn sie zugrunde gelien, so geht dasselbe gleichfalls mit 
zugrunde. Darum gilt hier [der Ausspruch des Veda, Brih. 3 
Up. 2,4,12] „das aus lauter Erkenntnis bestehende Wesen er- 
hebt sich aus diesen Elementen und geht in sie wieder unter; 
nach dem Tode ist kein Bewul'stsein", Somit ist das Selbst 
Idic Seele, äf)na>/) nur der mit Geistigkeit ausgestattete Leib, 
und eine den Leib überdauernde Seele ist unerweislich. Da 
sie nämlich die Wahrnehmung für das einzige Erkenntnis- 
mittel erklären, so sprechen sie den übrigen Erkenntnismitteln, 
der Folgerung usw., indem sie dieselben nicht anerkennen, 
die Beweiskraft ab. 
Das höchste Ziel des Menschen ist also die Lust, wie sie Lust au 
aus der Umarmung von schönen Frauen usw. entsteht, und "liei.^'^ 
man mufs nicht glauben, dafs die Lust nicht das Ziel des 
Menschen sein könne, weil sie mit Schmerz durchflochten ist ; 
denn die Kunst bestellt eben darin, dafs man den unvermeid- 
lich sich einstellenden Schmerz beiseite läfst und die Lust für 
sich allein geniefst. Es ist damit, wie wenn einer, der Fische 
essen will, dieselben mitsamt ihren Schuppen und Gräten 
vornimmt, davon geniefst, soviel w4e geniefsbar ist, und damit 
aufhört. Oder wie wenn einer, der Körner essen will, die 
Körner mitsamt ihren Halmen ergreift, davon geniefst, soviel 
wie geniefsbar ist, und damit aufhört. Es ist also nicht recht, 
dafs man aus Furcht vor dem Schmerze auch die als an- 
genehm in der Empfindung sich erweisende Lust im Stiche 
läfst. Denn man unterläfst es doch nicht, die Reiskörner zu 
säen, weil es Wild gibt, und man unterläfst es nicht, den 
Topf aufs Feuer zu setzen, weil es Bettelleute gibt. Wer 
wirklich aus solcher Furcht eine ins Auge gefafste Lust im 
Stiche läfst, der mufs doch dumm sein wie ein Vieh! Darum 
heifst es: 
„Dafs mau die Lust, die aus der Sinnendinge 
„Berührung für den Sterblichen entspringt, 
„Aufgeben mufs, weil sie mit Schmerz gemischt ist, 
„Ein solch Bedenken kann ein Narr nur haben, 
„Wer, der auf seinen Vorteil sich versteht, 
„Verschmäht den Reis, so weifser Körner voll, 
,,Weil mit ein wenig Hülse er behaftet?" 
13* 
196 Die philosophischen Systeme. 
Verwerfung Man könnte einwenden: «Wie wäre es möglich, dafs so 
«hochgelahrte Leute sich mit den kostspiehgen und mühsamen 
«Feueropfern usw. befassen, gäbe es nicht eine Lust im Jen- 
«seits [die dadurch erstrebt wirdj?» — Auch dieser Einwand 
verträgt nicht die Zuspitzung zu einem Beweise, weil er mit 
den Mängeln der Unwahrheit, des Widerspruches und des 
blofsen Nachschwätzens behaftet ist. Sind es doch die Veda- 
dünkler und Schelmfüchse selbst, welche sich gegenseitig an- 
feinden, sofern die auf den Werkteil Schwörenden den Er- 
kenntnisteil, und die auf den Erkenntnisteil Schwörenden den 
Werkteil beschmeifsen und damit beweisen, dafs die erhabene 
Dreiheit [der Veden] nichts weiter ist, als Schurkengeschwätz, 
und dafs ihre Feueropfer usw. blofs den Zweck haben, ihnen 
den Lebensunterhalt zu sichern. Daher auch das Sprüchlein: 
,, Durch Feueropfei* und der Veden Dreiheit, 
,,Des Büfsers Dreistab und mit Asche Schmieren, 
„Durch diese wird, so lehrt Brihaspati, 
,,Von Leuten, welchen Geist und Mannheit mangelt, 
,,Nach ihrem Lebensunterhalt geangelt." 
Hieraus folgt, dafs nur der Schmei-z, wie er aus den 
Fischgräten usw. entspringt, unter der Hölle zu verstehen ist, 
nur ein weltbekannter König unter dem höchsten Gotte, nur 
des Leibes Vernichtung unter der Erlösung. Auch haben nur 
Der Leib ist dann, wenn der Leib das Selbst (ätman) ist, solche Satzver- 
bindungen wie „ich bin mager" oder ,,ich bin schwarz''- einen 
Sirin. Hingegen solche Ausdrücke wie ,,mein Leib" sind in 
bildlichem Sinne zu verstehen, ähnlich, wie man von einem 
„Kopfe des Rahu" [welcher selbst nur Kopf ist] redet. 
Alles dies ist zusammengefafst in den Versen: 
'ö^ 
„Vier Elemente gibt es: Erde, Wasser, 
,, Feuer und Luft, aus diesen vieren geht 
„Der Geist hervor, wie aus den Gärungsstoffen, 
„Wenn sie verbunden sind, des Rausches Kraft. 
„Weil man denn: «ich bin mager», «ich bin dick» 
„Zur Einheit eines Satzes kann verbinden, 
„Und weil die Magerkeit am Leibe haftet, 
I. Die Cärväkas oder Materialisten. 197 
„So ist der Leib die Seele und nichts andres. 
„Sagt man hingegen: «dieser Leib ist mein», 
„So ist der Ausdruck bildlich nur zu nehmen." 
«Dem möchte ja so sein«, könnte man einwenden, "und Die Kr- 
«es möchte sich so verliahen, wie ihr wünscht, wenn die mütoi." 
«übrigen Erkenntnismittel, die Folgerung (anumdnam) usw., 
«keine Beweiskraft hätten. Nun haben dieselben aber Beweis- 
(I kraft. Denn wie wäre es sonst möglich, dafs sofort nach 
«der Perzeption des Kauches der verständige Mensch [mittels 
«der Folgerung, couiDiänani] das Vorhandensein von Feuer 
«annimmt, oder dafs, sobald es heifst: ,,am Ufer des Flusses 
«stehen Früchte", diejenigen, welche Früchte wünschen [im 
«Vertrauen auf das „Mitteilung", rahcla genannte Erkenntnis- 
« mittel], sich nach dem Ufer des Flusses begeben?« — Alles anumdnam 
dieses sind Ausgeburten, welche in das Reich der Phantasie besfrttten^ 
gehören. Nämlich die Verteidiger der Folgerung als Erkenntnis- 
mittel geben selbst zu, dafs dabei [z. B. in der Folgerung: 
wo Rauch ist, ist Feuer; der Hügel raucht; folglich ist auf 
dem Hügel Feuer] das Merkmal [Hiügam, d. h. der terminus 
medius, z. B. Rauch] nur dann beweiskräftig ist, wenn es 
nicht nur von dem Subjekte [paJcsha, z. B. Hügel] prädiziert 
wird, sondern auch der Durchdringung [durch den terminus 
major] teilhaftig ist, [So ist im angeführten Beispiele das 
Feuer vyäpaliam. „durchdringend"; der Rauch vi/äpyam, 
„durchdrungen"; denn wo Rauch ist, ist stets auch Feuer; i»<,- 
ihre Verbindung heifst ryapfi, die „Durchdringung".] Die drinsung). 
Durchdringung aber ist eine Verbindung, welche von Be- 
dingungen (upädhi) beider Art [möglichen und wirklichen] 
frei sein mufs. Eine solche Verl)indung kann nicht durch 
ihre Wirklichkeit, wie die Eindrücke des Auges usw., zu 
einem Gliede der Schlufskette werden, sondern nur dadurch, 
dafs sie erkannt wird. Welches Mittel aber wäre imstande, 
diese Erkenntnis [der Durchdringvmg, z. B. von Feuer und 
Rauch] zu bewirken? Zunächst nicht die Wahrnehmung vyapuuicht 
(praii/aJcsJiant), wie sie teils eine äufsere, teils eine innere ist, durchwahr- 
Die erstere nicht; denn wenn dieselbe auch durch die Vater- °^''""°8- 
Schaft des Objektes und der Erkenntnis, wenn sie sich ver- 
198 I^ie philosophischen Systeme. 
binden, vonstatten gelien kann, so ist doch für das Ver- 
gangene und Zukünftige eine solche nicht mügKch ; die Durch- 
dringung aber geht ihrer Natur nach auf das Ganze [mit 
Einschlufs des Vergangenen und Zukünftigen], dürfte mitliin 
auf diesem Wege wohl schwerlich zu erkennen sein. Auch 
hilft es nichts, zu behaupten, dafs die Erkenntnis der Durch- 
dringung die Allgemeinheit betreffe [ihren Grund in dem Ver- 
hältnis der allgemeinen Begriffe zu einander habe], denn da 
könnte es vorkommen, dafs bei den beiden Einzelwesen 
[z, B. bei demjenigen Feuer und Bauche, von welchem gerade 
die Rede ist] die untrennbare Verbindung einmal nicht statt 
hätte. Aber auch die zweite Art der Wahrnehmung [die 
innere] kann jene Erkenntnis der Durchdringung nicht be- 
wirken, denn das Innenorgan ist nach aufsen hin an die Sinne 
gebunden und kann unabhängig von denselben in einer der 
Aufsenwelt angehörigen Sache nichts bestimmen. Daher es 
heifst: 
„Abhängig ist nacli aufsen der Verstand, 
,,Da er nur weifs, was Aug' und Ohr ihm sagen." 
vyäpti nicht Ebensowenig kann weiter die Folgerung (ammiänam) 
^^^^^r'^r das Mittel zur Erkenntnis der Durchdringung sein, denn da 
Folgerung, ^g y^^:^ jl^j, g^^j^ jcdesuial cbcnso verhalten würde [indem diese 
Folgerung wieder auf einer Durchdringung, und diese wieder 
auf einer Folgerung beruhen würde, und so fort], so würde der 
Ubelstand eines regressus in iußnihmi nicht zu vermeiden sein, 
nicht durch Ferner kann auch nicht die Mitteilung (gabda) das 
Mitteilung, ^ij^^gj (jgp Erkenntnis der Durchdringung sein ; denn nach der 
Lehre des Kanada ist dieselbe schon in der Folgerung ein- 
begriffen; oder soll sie nicht in ihr einbegriffen sein, so setzt 
dabei die Erkenntnis der Durchdringung [auf welcher die 
Gültigkeit des Merkmales oder Medius beruht] die Erkenntnis 
des Merkmales in Gestalt des Sprachgebrauches der Alten 
schon voraus, und daher ist auch diese Annahme nicht 
behende genug, um über den vorerwähnten Einwand hinweg- 
zuhüpfen. Hierzu kommt, dafs eine solche blofse Behauptung, 
zwischen Rauch und Feuer bestehe eine untrennbare Verbin- 
dung, uns ebensowenig Vertrauen einflöfsen würde, als wenn 
erkennbar. 
I. Die Cärväka's oder Materialisten. 199 
!Nraiiu selbst es sagte. Ferner: wenn, oline dafs man über die 
l'ntrennbarkeit eine Belelining erhalten hätte, es nicht raög- 
5 lieh sein soll, aus dem Anblicke der einen Sache das Dasein 
einer andern Sache zu folgern, so bleibt das Gerede von 4 
einer um ihrer selbst willen bestehenden Erkenntnisnorm der 
Folgerung eben nur ein blofses Gerede. — Was endlich die nicht durch 
noch übrigen Erkenntnismittel, die Vergleichung (upa- Erkennuüs- 
mänam) usw. betrift't, so sind dieselben hier gänzlich un- "^^ 
brauchbar; denn da dieselben nur über solche Verbindungen 
wie die von Benennung und Benanntem Aufschlufs geben, so 
sind sie gänzlich aufserstande, über eine von allen Bedingungen 
(upädhi) freie Verbindung [wie die der Durchdringung sein 
mufsj Belehrung zu erteilen. 
Hierzu kommt, dafs jene erforderliche Abwesenheit aller nie unbe- 
Bedingungen sich wohl kaum feststellen lassen dürfte, da oüitllkeu 
diese Bedingungen sich nicht auf den Bereich der Wahr- ^tlt IfchV^ 
nehmung einschränken lassen; und wenn auch das Nichtvor- 
handensein wahrnehmbarer Bedingungen sich aus der Wahr- 
nehmung ergeben mag, so ist doch das Nichtvorhandensein 
nichtwalirnehmbarer Bedingungen jedenfalls nicht aus der 
AValirnehmung zu erkennen, mufs folghch sich auf die Folge- 
rung usw. gründen und unterliegt insofern der bereits er- 
wähnten Bemängelung [eines regressits in infinitum]. 
Aber noch mehr: als Merkmale der Bedingung mufs man 
festhalten 1. sie darf das Beweismittel [den Medius] nicht 
durchdringen ; sie mufs sodann 2. von gleicher Durchdringung 
sein wie das Beweisobjekt [der Major], [worin liegt, dafs 
2a. die Bedingung den Major und 2b. der Major die Be- 
dingung durchdringen mufs]. Darum heifst es: „Bedingung 
wird dasjenige genannt, was, ohne den Beweisgrund zu durch- 
dringen, mit dem Beweisobjekte von gleicher Durchdringung 
ist." Zum Beispiel: wenn es sich in betreff des Veda darum 
handelt, seine Nichtewigkeit zu erweisen [welches von dem 
Nyäya bewerkstelligt wird durch den Syllogismus: 
Aller Ton ist nicht ewig, 
Das Vedawort ist Ton, 
Das Vedawort ist nicht ewig, 
200 I^iß philosophischen Systeme. 
und die Mimänsä die Gültigkeit des Schlusses bestreitet, in- 
dem sie den Medius im Obersatze durch eine Bedingung 
einschränkt, welche die Suhsumption des Vedawortes unter 
denselben nicht mehr zuläfst; etwa indem sie sagt, nichtewig 
ist nur derjenige Ton, welcher bewirkbar ist, oder: welcher 
krugartig (zerstörbar), oder: welcher wahrnehmbarmachbar 
ist], so dienen [um die Unzulässigkeit dieser drei Bedingungen 
zu erweisen] der Reihe nach die drei [obigen] Bestimmungen 
und genügen so, um die Bewirkbarkeit, die Krugartigkeit und 
die Wahrnehmbarmachbarkeit (lies grävanatam) abzuweisen. 
[1. Die Bewirkbarkeit: denn in dem Satze: „der Ton, sofern 
bewirkbar, ist nichtewig", wird der Medius ganz von der 
Bedingung durchdrungen, da aller Ton bewirkbar ist, welches 
unzulässig ist; — 2a. die Krugartigkeit: denn in dem Satze: 
„der Ton, soweit er krugartig ist, ist nichtewig", liegt der 
Fehler, dafs zwar der Medius von dem Major, nicht aber 
der Major von der Bedingung durchdrungen wird; — endlich 
2b. die Wahrnehmbarmachbarkeit: denn in dem Satze: „der 
Ton, soweit er wahrnehmbarmachbar ist, ist nichtewig", liegt 
der Fehler, dafs zwar der Medius von dem Major, nicht aber 
die Bedingung von dem Major durchdrungen wird, da nicht 
alles Wahrnehmbarmachbare nichtewig ist, indem z. B. der 
Äther durch den Ton wahrnehmbarmachbar und doch ewig 
ist.] Darum ist es unanfechtbar, wenn der Lehrer sagt: 
„Wo gegenseitig und nichtgegenseitig 
„Zwei Inhärenzen sich auf eins beziehen, 
„Da ist die letztere nicht zu verwenden, 
„Bis gegenseitig sie durchdrungen wird;" 
z. B.: Gegenseitige Inhärenz: Rauch und Feuchtholzfeuer [wo 
Rauch ist, ist Feuchtholzfeuer, wo Feuchtholzfeuer ist, ist 
Rauch] ; — nichtgegenseitige Inhärenz : Rauch und Feuer [wo 
Rauch ist, ist Feuer, aber wo Feuer ist, braucht kein Rauch 
zu sein, z. B. bei glühendem Eisen. Diese letztere Inhärenz 
wird erst verwendbar, wenn wir die gegenseitige Durch- 
dringung herstellen, indem wir statt Feuer mit Zufügung einer 
Bedingung sagen Feuchtholzfeuer]. 
I. Die Cärväka's oder Materialisten. 201 
(Xur dann also würde, wie gesagt, die Folgerung zulässig 
sein, wenn der Mittelbegrift' von keiner Bedingung begleitet, 
ist.] Hierbei aber ergibt es sich, da die positive Erkenntnis 
von dem Vorhandensein einer Sache der negativen Erkenntnis 
von ihrem Nichtvorhandensein vorhergehen mufs, dafs nur, 
nachdem die Erkenntnis der Bedingung erfolgt ist, jene andere 
Erkenntnis der Durchdringung als einer durch die Abwesen- 
heit aller Bedingungen ausgezeichneten Verbindung stattfinden 
kann, während doch andererseits wiederum die Erkenntnis 
der Bedingung erst durch die vorhergehende Erkenntnis der 
Durchdringung möglich wird, so dafs der euch niederdonnernde 
Vorwurf eines circulns viiiosns so fest wie der Donnermörtel 
an euch haften bleibt. 
Aus diesem allen ergibt sich, dafs die Inhärenz zweier 
Begriflie unerkennbar ist, und dafs folglich zur Annahme der 
auf ihr beruhenden Erkenntnismittel der Folo-eruno- usw. keine 
Veranlassung ist. Wenn wir aber sofort nach der Erkenntnis 
des Hauches usw. die Erkenntnis des Feuers usw. fassen und 
betätigen, so erklärt sich dies daraus, dafs die Sache ihren 
Grund in der Wahrnehmung hat, soweit sie nicht etwa auf 
einem Irrtume beruht. Zuweilen freilich mag auch das Erlangen 
eines Erfolges auf diesem Wege ähnlich wie bei Amuletten, 
Zaubersprüchen und Arzeneikräutern ein rein zufälliges sein. 
Daher auch das nur durch die Mittel der Folgerung usw. Verwerfung 
erweisbare Ädrishfam (das unsichtbare, erst im Jenseits sich Adrishum. 
verwirklichende moralische Verdienst der Werke) nicht an- 
erkannt werden kann. — «Aber wenn man das Adrishtam 
«nicht annimmt, so läfst sich doch die Verschiedenheit der 
«Lebensschicksale [welche nur eine Folge der Werke in einer 
«frühern Geburt sein kann] nicht erklären!» ■ — Auch diese 
Einwendung ist nicht glücklich, indem diese Beschaffenheit 
der Dinge auch in deren eigner Natur ihren Grund haben 
kann. Darum heifst es: 
„Das Feuer brennt, das Wasser külilt, 
„Der Lufthauch auch sich kalt anfühlt; 
„Woher rührt diese Mannigfaltigkeit? 
,,Nur aus der eigenen Naturbeschaffenheit." 
202 I^i^ philosoi)hisclien Systeme. 
Summa der Alles dicscs Sagt aucli schon Brihaspati : 
Lehre. 
„Wir glauben nicht an Himmel und Erlösung, 
„Nicht an die Seele in der andern Welt, 
,,Aucli nicht, dafs die von Kasten und von Oi'den 
,, Geübten Werke ihre Früchte bringen. 
„Durch Feueropfer und durch die drei Veden, 
„Des Büfsers Dreistab und mit Asche Schmieren, 
„Durch diese wird, — für alle sorgt der Schöpfer! 
,,Von Leuten, denen Geist und Mannheit mangelt, 
„Nach ihrem Lebensunterhalt geangelt. 
„Wenn bei dem Jyotishtoma das Stück Vieh, 
,,Das man geschlachtet, in den Himmel eingeht, 
,, Warum befördert nicht der Opferer auch 
..Den eieenen Vater in die bessre Welt? 
„Wenn bei der Totenspende Sättigung 
,,Die Abgeschiedenen finden, warum gibt man 
,,Den Reisenden noch Zehrung auf den Weg? 
,,Wenn die hienieden dargebrachten Spenden 
,, Denen im Himmel droben Labung bringen, 
„Warum nicht denen auf dem Speicher auch? 
„Schlürfe Fett und mache Schulden, 
„Lebe froh die kurze Frist, 
„Wo das Leben 
„Dir gegeben, 
,,Mufst du erst den Tod erdulden, 
,, Wiederkommen nimmer ist. ' 
,,Wenn einer aus dem Leib heraus 
,, Hinzöge in des Himmels Haus, 
,, Warum kommt er 
„Nicht wieder her, 
,, Sehnsüchtig mit den Seinigen 
,,Sich manchmal zu vereinigen ? 
„Nichts andres sind die Spenden an die Ahnen, 
,,Als ein Erwerbsquell unserer Brahmanen. 
,,Die die drei Veda's ausgesonnen haben, 
„Nachtschleicher sind es, Schurken, Possenreifser, 
„Mit ihrem jarhJiari und turphari, 
„Womit sich die gelahrten Herren brüsten, 
I. Die Cürväka's oder Materialisten. 203 
„Mit ihren Bräuchen, wo die Königin 
„Den Pferdezieraer muls in Händen halten, — 
„Das andere Possenspiel niclit zu vergessen, 
„Nachtsclileicher sind's und lehren Fleisch zu fressen." 
Darum soll man dem willfahren, was so viele Lebewesen 
erstreben, und die Lehre der Carväka's annehmen; so lautet 
die frohe Botschaft. 
II. Die Bauddha's oder Buddhisten. 
C p. 7—24. P p. 5—20. 
Erweisung Hlerauf [auf obige Bestreitung des Anumänam oder der 
mänanü Folgerung] wird von den Bauddha's folgendes entgegnet. 
Wenn behauptet wurde, dafs es keine Möglichkeit gebe, 
die untrennbare Zusammengehörigkeit [zweier Begriffe bei der 
Vyäpti, Durchdringung] zu erkennen, so ist das durchaus 
nicht richtig; vielmehr ist jenes Nichtohneeinandersein so- 
wohl durch Identität als auch durch Kausalität sehr wohl zu 
erkennen möglich. Denn es heifst: 
„Daraus, dafs etwas Wirkung ist und Ursacli', 
,,Wie aus dem Zwang der eignen Wesensgleichheit, 
,,Wird ein Nichtohneinandersein notwendig, 
,, Indem man andres sieht durch das, was man sieht." 
a) Aniimä- Wcr freüich aus dem blofsen Zusammensein [z. B. wo a ist, e 
K*a™saiität. ist b] odor Ausgeschlossen sein [z. B. wo a nicht ist, ist b 
nicht] das Nichtohneeinandersein erweisen wollte, dem dürfte 
es wolil schwerlich gelingen, die Unfehlbarkeit des Zusammen- 
gehörens von Beweisobjekt (Major) und Beweismittel (Medius) 
zu erweisen, indem sich für das Vergangene und Zukünftige 
sowie auch fih" das Gegenwärtige, sofern es nicht in die 
Wahrnehmung fällt, der Verdacht einer möglichen Abweichung 
auf diesem Wege nicht abwehren läfst. — «Aber wo es sich 
«um derartiges handelt, da ist doch auch bei deiner Auf- 
II. Die Bauddha's oder IJuddbisteu. 205 
«fassiing (lor Verdacht einer möglichen Abweichung nicht 
«wohl zu beseitigen.» — Keineswegs! denn dafs z. B. die 
Wirkung auch einmal ohne Ursache entstehen könne, ein 
solcher Verdacht ist ganz nichtig, weil er das Non plus ultra 
eines Widerspruches sein würde. Man darf aber den Zweifel 
nur so weit treiben, als dabei keine Widersprüche und sonstige 
Unmöglichkeiten sich einstellen, daher es heilst: „Der Zweifel 
hat an dem W^iderspruche seine Grenze." Wenn es also fest- 
steht, dafs eine Sache aus einer andern entspringt, so steht 
damit das Nichtohneeinandersein beider fest, und diese Gewifs- 
heit des Kausalnexus zerlegt sich, je nachdem sie in der 
Wahrnehmung perzipiert oder nicht perzipiert werden, für 
die \\'irkung und ihre Ursache in folgende fünf Glieder; 
nämlich 1. die Wirkung wird A^or ihrem Ursprünge nicht wahr- 
genommen; nachdem aber hierauf 2. die Ursache zur Per- 
zeption gekommen, so folgt 3. auch die Perzeption der Wir- 
kung; sobald, aber nachdem sie perzipiert worden, 4. eine 
Nichtperzeption der Ursache eintritt, so folgt 5. auch die 
8 Nichtperzeption der Wirkung; aus dieser fünfghedrigen Argu- 
mentation folgt mit Gewifsheit, dafs z. B. das Feuer und der 
Rauch [nicht nur auf einander folgen, sondern] als Ursache 
und Wirkung mit einander verbunden [und somit ein Beispiel 
des Nichtohneeinanderseins] sind. 
Weiter folgt ein Nichtohneeinandersein mit Gewifsheit b)Anumä- 
aus der Gewifsheit der Identität; und wenn z. B. der Qirn- wTntüät. 
^apäbaum [welcher nach dem Satze der Identität der Summe 
seiner Merkmale gleicJi ist, eines dieser Merkmale, z. B.] die 
Baumheit, verlieren würde, so w^ürde er damit sein eigenes 
Selbst aufgeben; dieses Argument hat bei der Gegenbehaup- 
tung [dafs es kein Ohneeinandersein gebe] die Kraft, dieselbe 
niederzuschlagen. Wo aber diese Kraft fehlt, da kann, selbst 
wenn das Zusammensein noch so oft perzipiert wurde, dem 
Zweifel, dafs es auch Ausnahmen erleiden könne, niemand 
wehren. Dafs aber bei (^.Imgapä und Baum das Verhältnis 
der Identität statt hat, ergibt sich daraus, dafs man in dem 
Satze „dieser Baum [d. h. dieser Gegenstand, welcher unter 
andern das Merkmal des Baumes hat] ist eine Qimgapä", 
beide grammatisch koordinieren kann. Diese Koordination als 
selbst. 
206 I^ie philosophischen Systeme. 
Subjekt und Prädikat ist weder bei völliger Nichtverschieden- 
heit statthaft, denn bei blofser Synonymität zweier Begriffe 
hat ein gleichzeitiges Gebrauchen derselben keinen Sinn, noch 
auch bei völliger Verschiedenheit, z. B. nicht bei Ochs und 
Pferd [sondern nur da, wo der Prädikatsbegriff unter der 
Summe der Merkmale sich findet, mit welcher der Subjekts- 
begriff nach dem Satze der Identität identisch istj. 
Somit ist erwiesen, dafs die Folgerung (anumänam) von 
der Wirkung auf die Ursache [nach dem Leitfaden der 
Kausalität] und von dem Selbste auf das Selbst [nach dem 
Leitfaden der Identität] allerdings berechtigt ist. 
Der Gegner Wolltc cincr die Bowciskraft der Folgerung immer noch 
spricht sich nicht anerkennen, so kann man ihm zu Leibe gehen wie 
folgt: Du behauptest also nur, dafs die Folgerung kein Er- 
kenntnismittel sei. Hierbei führst du entweder keinen Grund 
(sädhanatn, Medius) an, oder du führst einen Grund an. 
Ersteres geht nicht, denn eine blofse Behauptung genügt 
noch nicht, das Behauptete zu erweisen. Aber auch letzteres 
geht nicht; denn wenn du [auf einen Grund dich stützend] 
sagst, die Folgerung ist kein Beweismittel, so führst du eine 
kopflose Rede und verrennst dich [in deinem Unternehmen, 
beweisen zu wollen, dafs es keinen Beweis gibt] in einen 
ähnlichen Widerspruch, als wenn du sagtest: meine Mutter 
war unfruchtbar [indem du deine Behauptung das eine Mal 
durch deine eigenen Worte, wie das andere Mal durch deine 
eigene Person widerlegst]. 
Ferner: wenn du einen Beweis und einen Scheinbeweis 
unterscheidest, indem du unter dieselben zwei einzelne, ihnen 
als Gattungsbegriffen unterliegende Fälle subsumierst, so hast t 
du damit von der Folgerung aus Identität Gebrauch gemacht 
[denn die Subsumption eines Begriffes unter einen andern als 
sein Merkmal beruht auf der Identität des Begriffes mit der 
Summe seiner Merkmale]. — Und wiederum: wenn du deine 
Übereinstimmung mit einem andern an der Übereinstimmung 
eurer Worte als Merkmal erkennst, so hast du aus der Wir- 
kung [den Worten] als Beweisgrund auf die Ursache [den 
Sinn] eine Folgerung gezogen. — Und endlich : wenn du eine 
Sache, weil sie nicht perzipiert wird, bestreitest, so hast du 
11. Die Bauddha's oder Buddhisten. 207 
von der Niolitpcrzipierbiirkeit als ße\veis<2;rund [auf die Nicht- 
existenz] eine Folgerung gezogen. Und in diesem Sinne sagen 
die Jünger des Tathagata (lUiddha): 
„Der andoreu JJeweisnorni Allgenieinlieit 
„Folgt daraus, dafs man andrer Sinn vernimmt; 
„Der anderen Beweisnorm Wirklichkeit 
„Folgt daraus, dafs man etwas leugnen kann." 
Auch haben in dieser Frage die Heroen des Denkens schon 
so viele Heldentaten vorrichtet, dafs wir hier, aus Furcht, unser 
Buch über Gebühr anzuschwellen, von weitern Erörterungen 
Abstand nehmen wollen. 
9 Diese Bauddha's nun pflegen durch eine vierfältige Vor- 
stellungsweise das höchste Ziel des Menschen darzulegen. — 
Andererseits zerfallen dieselben in vier Sekten, von denen die vier sekteu 
MädJujamilio' s die Allnichtigkeit (Nihilismus), die Yogäcära's des Bud- 
die Aufsenweltnichtigkeit (den dogmatischen Idealismus), die 
Sauträntika's die Erschliefsbarkeit der Aufsendinge durch 
Folgerung (den problematischen Idealismus) und die Vaibhu- 
skiJca's die Wahrnehmbarkeit der xVufsendinge (den Realismus) 
vertreten. Denn wenn auch der erhabene Buddha der alleinige 
Lehrer für alle Mar, so bilden doch die von ihm Belehrten 
infolge der Verschiedenheit der Auffassung diese Vierheit, 
ähnlich wie nach dem Untergange der Sonne die Buhler, 
Diebe, Vedaschüler usw., ihrem eigenen Triebe folgend, die 
Zeit für gekommen halten, sich zum Stelldichein zu begeben, 
fremdes Eigentum zu rauben, ihren sittlichen Wandel zu 
führen usw. 
Was aber die obige Vierfachheit der Vorstellungsweise Die vier 
betrifft, so hegt sie ausgedrückt in der Lehre, dafs alles 
dauerlos und nur dauerlos, Schmerz und nur Schmerz, 
individuell und nur individuell, leer und nur leer sei. 
Was nun zunächst die Dauerlosigkeit der Augenblicks- AUes ist 
eindrücke des Blauen usw. betrifi't, so ist dieselbe aus dem 
Begriffe der Existenz selbst zu folgern. Denn alles, was 
Existenz hat, ist dauerlos wie der Schatten einer Wolke; nun 
208 Die philosophischen Systeme. 
haben alle hier vorhandenen Wesen Existenz, folglich usw. 
l'nd dieser Beweisgrund ist nicht unzulänglich; denn durch 
die Walirnehmung wird erwiesen, dafs die Augenblicks- 
eindrücke des Blauen usw. die als Zweck, Tat und Täterschaft 
sich charakterisierende Existenz haben; dafs aber alle Existenz 
dauerlos ist, wird nach der Regel, dafs, wo das Durchdringende 
nicht ist, auch das Durchdrungene nicht ist [qtiidquid repngnat 
(jencri, repngnat etiam specic{\, daraus geschlossen, dafs Suc- 
cession und Nicht-Succession (Simultaneität), und folglich auch 
der von ihnen durchdrungene [unter ihnen zu subsumierende] 
Begriff der Existenz, von dem Begriffe der Nichtdauerlosig- 
keit ausgeschlossen werden. Es werden also Zweck, Tat und 
Täterschaft von Succession und Nicht-Succession (Simultaneität) 
durchdrungen; Succession und Nicht-Succession aber lassen 
keine Möglichkeit aufser sich zu; denn eine solche wäre ein 
eklatanter Widerspruch nach der Regel: 
,,Wo gegenseitige Ausschliefsung besteht, 
,,Ist keine Möglichkeit mehr aufser beiden; 
,,Auch keine Einheit dessen, was sich ausschliefst, 
„Weil es im blofsen Ausdruck schon [d. li. kontradiktorisch] sich 
ausschliefst." 
Indem also Succession und Nicht-Succession [Simultaneität] 
aufserhalb der Sphäre des Beharrlichen liegen, schliefsen sie 
auch die bezweckende Tat von dieser Sphäre aus und ver- 
legen somit die Existenz in den Bereich des Dauerlosen, was 
Täforschaft ZU bcweisen war. — « Aber » , so könnte man einwenden, s 
dßs BgTi ärr~ 
liehen uner- «warum soll doun nicht auch in dem Bereiche des Nicht- 
r^nter « daucrloscn die Täterschaft einer etwas bezweckenden Tat 
setzung^der «möglicli sclu ? )) — Eine solche Annahme ist ungereimt, weil 
Succession. g|^ folgendes Dilemma nicht aushält. Nämhch : soll das Be- 
harrliche zur Zeit des Verrichtens der bezweckenden Tat in der 
Gegenwart imstande sein, vergangene oder zukünftige Zweck- 
10 taten zu verrichten (A) oder nicht (B) '? Im erstem Falle (A) 
können beide gar nicht unterbleiben, weil was zu etwas fähig 
ist, sich dieser Fähigkeit nicht entheben läfst, indem wir dann 
die Eventual- Folgerung ziehen: was zu einer Zeit fähig ist, 
etwas zu vollbringen, das mufs es zu dieser Zeit vollbringen, 
II. Die Bauddha's oder Biuldhisteii. 209 
wie z. B. die Vollsländijükoit [der ursächlichen Bedin,i2;uni>on] 
die ihr entsprechende Wirkung; nun ist die in Rede stehende 
Wesenheit (Uizu fähig, folghcli usw. — Bei der zweiten An- 
nahnu' hingegen (B) kann (his Beharrhclie die Zwecktat über- 
haupt niemals verrichten, da das Vollbringen einer bezwecken- 
den Tat nur von der vollständigen Fähigkeit dazu abhängt; 
und wenn etwas zu irgendeiner Zeit eine bestimmte Wirkung 
nicht vollbringt, so war es dazu zu dieser Zeit und an diesem 
Orte eben nicht imstande, wie z. B. ein gesätes Steinkörnchen 
keine Ptlanze hervorbringen kann. Somit folgt, dafs jene Wesen- 
heit unmöglich in der gegenwärtigen Zeit des Vollbringens 
zweckmäfsiger Taten vergangene oder zukünftige Zwecktaten 
vollbringen kann (A) und umgekehrt (B). — «Aber vielleicht 
«kann das Beharrliche durch der Succession teilhafte Hilfs- 
« mittel im Verlaufe des Vergangenen und Zukünftigen die [zum 
«Handeln] erforderliche Bedingung erfüllen?» — Hier müssen 
wir den Herrn Opponenten bitten, sich darüber auszusprechen, 
ob die gedachten Hilfsmittel dabei jener Wesenheit Hilfe leisten 
sollen (A) oder nicht (B). Wenn nicht (B), so kommen sie 
überhaupt nicht in Betracht, denn wenn sie nichts wirken, so 
kann auch eine bestimmte Wesenheit ihnen nicht zugesprochen 
werden. Sollen hingegen (A) die Hilfsmittel Mithilfe gewähren, 
so fragt sich weiter, ob jene Mithilfe von der Wesenheit ver- 
schieden ist (a) oder nicht (b). Ist sie (a) verschieden, nun, so 
ist jenes Hinzukommende die Ursache und nicht die Wesenheit 
in ihrer Nichtdauerlosigkeit , indem die Wirkung nach dem 
Sein oder Nichtsein jenes hinzukommenden Überschusses sich 
richtet. Darum heifst es: 
„Des Himmels Regen und Sonnenschein 
„Kommt zur Wirkung erst auf der Haut allein ; 
„Ist die Seele der Haut gleich, so ist sie vergänglich, 
„Ist dem Himmel sie gleich, nicht für Wirkung empfänglich." 
Oder ist die Wesenheit so geartet, dafs sie nur zusammen 
mit jenen Hilfsmitteln ihre Wirkung vollbringt, nun dann 
braucht man ja nur jene Hilfsmittel recht fest zu halten und 
ihnen, falls sie fort wollen, einen Strick um den Hals zu 
binden, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, denn die 
Deusses, Gcscliichlc der Philosopliie. I,iii. 1* 
210 I*ie philosophischen Systeme. 
eigene Natur läuft ja doch nicht weg [d, h. auch in diesem 
Falle wird der Ausschlag allein durch die Hilfsmittel gegehen]. 
Ferner: soll der durch die Hilfsmittel gebildete Uberschufs 
seinerseits wieder zur Annahme eines andern Überschusses 
[als seiner Ursache] Anlafs geben (a) oder nicht (ß)? In 
beiden Fällen hageln die erwähnten Einwürfe [eines rcfjrcssus 
in infinitnnf] wie ein Steinregen auf euch herab. Nämlich, 
soll (a) der l'berschufs wieder einen andern Uberschufs ver- 
anlassen, nun so tritt der Ubelstand eines vielköpfigen rr- 
11 gressus in infinitmn ein. Denn wenn, damit der l berschufs 
produziert werde, ein weiteres Hilfsmittel vorausgesetzt werden 
mufs, so bilden die sich gegenseitig voraussetzenden Über- 
schüsse und Hilfsmittel eine unendliche Reihe, und dieses ist 
der erste regrcssus in infinitmn, den ihr anzutreten habt. So 
kann z. B. nur dann, wenn ein durch Wasser, ^^'ind und 
viele andere Dinge als Hilfsmittel gebildeter Uberschufs zu 
dem Samen hinzugenommen wird, der Same als AWrkungs- 
kräftig betrachtet werden, denn sonst würde auch ohne die 
Hilfsmittel der erforderliche Uberschufs sich einstellen können; 
indem also der Same den Uberschufs sich zugesellt, gesellt 
er ihn sich nur so zu, dafs der tl)erschufs von jenen Hilfs- 
mitteln abhängt; denn im andern Falle würde die Hilfeleistung 9 
jederzeit gegenwärtig sein, mithin auch das Aufgehen der 
Pflanze aus dem Samen jederzeit erfolgen. Die Hilfsmittel 
also, indem sie den Uberschufs als Zweck verfolgen, bringen 
eben dadurch einen zweiten l^berschufs zu dem Samen herbei. 
Da aber, auch wenn diese Hilfereichung besteht, der Same 
erst dann keimen kann, nach obiger Regel, wenn noch ein 
Hilfsmittel an ihn herantritt, so bilden die durch die Hilfs- 
mittel hervorzubringenden und auf den Samen bezüglichen 
Überschüsse einen regresms in infinihim,, welchen wir hiermit 
als den ersten konstatieren, in den ihr verfallt. — Was ferner 
die Mithilfe [iqyahära jener Hilfsmittel, saJml^ärin], wie sie um 
der Wirkung willen erforderlich ist, betrifft, so erzeugt die- 
selbe entweder unabhängig von dem Samen usw. oder in Zu- 
sammenhang mit demselben die Wirkung. Im erstem Falle 
würde sich ergeben, dafs der Same usw. gar nicht Ursache 
wäre. Im letztern Falle mufs der Mithilfe ein Uberschufs 
II. Die Rauddha's oder Buddhisten. 211 
zusjfsellt worden durch den als Bedinf>;ung erforderlichen Samen, 
ebenso diesem wieder durch ein anderes und wieder anderes 
und so fort, wodurch eine unendliche Reihe der <lurch den 
Samen als l berschufs begründeten Überschüsse entsteht, und. 
dies ist der zweite rr(frrsstis ni i))fiu/hini, dem ihr unweiger- 
lich anheimfallt. — In derselben Weise ist es endlich [drittens, 
aufser Hilfsmittel und Samen] die bei dem Samen als Sub- 
jekte erforderliche Mithilfe, welche sich ihrerseits wieder auf 
eine andere Mithilfe stützen nuifs, woraus sich ebenfalls eine 
unendliche Reihe der auf dem zur Mithilfe dem Samen zu- 
zugesellenden i berschüsse beruhenden Überschüsse ergibt, 
worin der dritte rcgressus iu irifimtum besteht, der euer Bestehen 
bedrängt. — (ß fehlt.) — Oder, wenn ihr in dieser Bedrängnis 
zu jener andern Alternative (b) greift, indem ihr annehmt, 
dafs der durch die Hilfsmittel gebildete Überschufs von der 
Wesenheit selbst nicht verschieden ist, nun, dann ist jene 
ganze frühere, [starre] des Überschusses nicht fähige Wesen- 
heit verschwunden, und eine andere, des Überschusses fähige 
Wesenheit ist an ihre Stelle getreten, welche wirklich unsere 
[die Dauerlosigkeit aller Dinge bezeichnenden] Ausdrücke wie 
,, wirkungskräftig" (htirvadrüpa) usw. verdient, damit aber hat 
dann auch mein Wunschbaum seine Frucht gebracht [d. h. die 
Dauerlosigkeit aller Dinge ist zugestanden]. 
Es ist also somit eine bezweckende Tat des Nichtdauer-2.unterVor- 
losen nicht zu begreifen, und ebensowenig läfst sich die- dT/simuf- 
selbe auf dem Wege der Nicht-Succession (Simultaneität) be- 
greiflich machen, indem die Sache an folgendem Dilemma 
scheitert. Nämlich, jene gleichzeitig die ganze Wirkung zu 
vollbringen fähige Wesenheit bleibt als solche entweder auch 
in der darauffolgenden Zeit bestehen oder nicht. Im erstem 
Falle mufs ebensogut wie in der gegenwärtigen Zeit auch zu 
12 jeder künftigen Zeit ein ebenso grofses Vollbringen der 
Wirkung sich einstellen. Im zweiten Falle würde die Hoff- 
nung auf ein Funktionieren des Beharrlichen ein ebenso ver- 
lorenes Liebesmühen sein, wie das Erzielen einer Pflanze aus 
einem Samen, welchen die Mäuse gefressen haben. Nein! 
alles, was entgegengesetzten Zuständen unterworfen ist, das 
ist ein von .sich verschiedenes, sowie Kälte und Wärme; nun 
14* 
212 I^ie philosophischen Systeme. 
ist dieses Ding hier entgegengesetzten Zuständen unter- 
worfen; folglich usw. Mit dieser Argumentation läfst sich an 
[allem z. B.J der Wolke die Unzulässigkeit [eines beharrUchen 
Wesens] erweisen. Dieser Beweisgrund findet seine Anwendung 
auch auf euer Beharrliches [auch dieses ist in Wahrheit ein 
Wechselndes]. Denn zunächst steht fest, dafs hei ihm im 
Laufe der Zeit der Fall und Gegenfall eintreten müssen, dafs 
es befähigt ist, etwas zu bewirken oder nicht zu bewirken, 
und dafs es nicht befähigt ist, etwas zu bewirken oder nicht 
zu bewirken. Von diesen vier Möglichkeiten sind zwei, nämlich 
der Fall und Gegenfall, welche die Unfähigkeit zu wirken 
[und nicht zu wirken] erweisen, soeben besprochen worden 
[kann es jetzt wirken, so mufs es jederzeit wirken (Gegen- 
fall); — kann es künftig nicht wirken, so kann es auch jetzt 
nicht wirken (Fall)]. Es bleiben noch Fall und Gegenfall zu 
erörtern, inwieweit ihm die Fähigkeit [nicht zu wirken und 
zu wirken] zugesprochen werden kann. Nämlich: wenn etwas 
zu einer Zeit zur Hervorbringung von etwas nicht lahig ist, 
so bringt es dasselbe zu dieser Zeit nicht hervor, so wenig 
wie das Steinkörnchen die Pflanze; nun ist dieses Ding hier 
[welches ihr für ein Beharrliches anseht] nicht befähigt, zur 
Zeit des gegenwärtigen Bewirkcns der bezweckenden Tat die 
vergangenen oder zukünftigen Zwecktaten zu bewirken; folg- 
lich usw.; dieses ist der Fall. Und weiter: wenn etwas zu 
einer Zeit etwas bewirkt, so ist es zu dieser Zeit und an 
diesem Orte fähig es zu bewirken, wie z. B. die vollständige 
Ursache ihre Wirkung; nun bewirkt dieses Ding liier in der lo 
vergangenen und zukünftigen Zeit die jenen Zeiten ent- 
sprechenden Zwecktaten als die Wesenheit [zu welcher es 
dann geworden sein wird] ; folglich usw. Dies ist der dem 
Falle entgegengesetzte Gegenfall. 
In Summa also : da bei der gegnerischen Ansicht die von 
ihnen vertretene Beharrlichkeit aus dem Bereiche der Suc- 
cession und Simultaneität ausgeschlossen ist, und somit für 
diese beiden alle Existenz durchdringenden und befassenden 
Sphären keine Berechtigung hat, so folgt, dafs alle Existenz, 
da ihr Durchdrungensein von dem aus dem Kreise des Be- 
harrlichen Ausgeschlossenen sich herausstellt und folglich, 
11. Die Baiidilho's tulor Biuklhisten. 1>1:; 
\vv'\\ (loch dit' eine odtT andere Eventualität statthaben mufs, 
ihr Durchdrungensein von dem Kreise des Xichtbeharrhchen 
sich ergibt, nur und allein bestehen kann bei der Annahme 
der Dauerlosigkeit aller Dinge. Dieses Ergebnis wird von 
Jnanayri zusammengefaist, wie folgt : 
,,Wiis immer existiert, ist dauerlos. 
„Gleichwie die Wolke; existierend aber 
„Sind alle diese Wesen, die wir kennen. 
.,Die Kraft des Existierens aber zeigt sich 
„Nur an der Zwecktat hier, woraus zu folgern, 
„Dafs für Beharrliches sie nicht erweislich. 
„Auch sind zwei Dinge nie auf eine Weise, 
,,Weil nie des einen Werk dem andern zukommt; 
„Aus beiden aber [Folge und Zugleichsein] 
„Ergibt die Augenblicksvernichtung sich 
„Und ruht in des Beweises Yollgewifsheit." 
Übrigens darf man nicht mit Kauahhalsliu (Kanada) und Realität des 
Alsliacaraua (Gotama) und andern annehmen, dafs die Existenz be^tHttTn.'' 
bedingt sei durch Teilnahme an der Allgemeinheit (säunhujam^ 
der allgemeinen Wesenheit) des Existierens, weil dann die 
Kategorien der Allgemeinheit (sänuhu/ani), des Unterschiedes 
(joiresha) und der Inhärenz (saniavat/a) selber keine Existenz 
haben würden. Auch hilft es nichts anzunehmen, dafs dabei 
das A\'ort „Existieren" eine eigentümhche Art des Existierens 
bedeute, weil erstens bei dieser Annahme eine zu grofse 
13 Kompliziertheit der bewirkenden Gründe eintreten würde, 
weil zweitens die Sache an dem Dilemma scheitert, dafs 
das Allgemeine in dem Einzelnen weder enthalten noch 
nicht enthalten sein kann, und weil endlich drittens die An- 
nahme, dafs eine allgemeine Existenzform {ulcdra, zlhoi) durch 
alle die verschiedenen Momentanwesen, durch Senfkörner, 
Berge usw. sich hindurch erstrecke wie die Schnur durch die 
Perlen und die Qualität durch die Minimalteile der Wesen, 
nichts Einleuchtendes hat, — Und wie? Soll jene Allgemein- 
heit alloresrenwärtio; oder nur in ihren eigenen Substraten all- 
gegenwärtig sein? Im erstem Falle würde eine Vermengung 
aller Substanzen die Folge sein sowie das Verfallen in einen 
214 I^ie pbilosophisclien Systeme. 
vom Systeme verworfenen Satz, denn Pragastapäda lehrt, dal's 
sie nur in ihren eigenen Objekten allgegenwärtig sei. Aber 
wie weiter, wenn das der Fall V Wenn die Allgemeinheit, wie 
sie in dem vorhandenen Kruge vorliegt, sich mit einem 
anderswo entstehenden Kruge verbindet, tut sie dieses dann, 
indem sie aus jenem in diesen hineinfährt oder nicht hinein- 
fährt V Im erstem Falle w ird sie zu einer Substanz, im letztern 
wird es unmöglich, dafs sie sich mit dem Dinge verbindet. 
— l'nd weiter: wenn der Krug vergeht, was wird dann aus 
der Allgemeinheit ? Bleibt sie bestehen, oder vergeht sie, oder 
geht sie an einen andern OrtV Soll sie bestehen bleiben, so 
verfällt sie in Substratlosigkeit : soll sie vergehen, so verliert 
die Behauptung ihrer Ewigkeit allen Grund der Begründung; 
soll sie an einen andern Ort gehen, so verfallt ihr darein, 
dieselbe als eine Substanz zu betrachten. In dieser Weise 
von dem Untiere Kritik verschlungen, verliert die Allgemein- 
heit alle Beweiskraft. Darum heifst es: 
„Indem am einen Ort sie weilt, entspringt sie 
„An einem andern, der von ihm verschieden, 
„Und geht dabei doch nicht von jenem fort; 
,,Ein solches Treiben grenzt an Zauberkunst! 
,,Wo sie als Wesen in dem Dinge weilt, 
„Da ist sie mit dem Ding verbunden nicht, 
„Und doch durchdringt den Raum sie, den es ausfüllt. 
,,Ein grofses Wunder, das sie da verrichtet! 
„Sie wandert nicht und war doch nicht vorhanden 
,,Wo jetzt sie ist und künftig nicht mehr ist; 
„Auch ist sie nicht der Teilung unterworfen 
,,Und flieht doch nicht das vorige Substrat, — 
,,0, welche Kette von Verlegenheiten." — 
«Aber worauf gründet sich denn die Vorstellung von ihrem Ent- u 
«haltensein in den Dingen?» — Sie gründet sich nur auf die 
Ausschliefsung dessen, was von ihr ^•erschieden ist, womit 
sich Ew. Wohlgeboren beruhigen mag. Der Worte sind genug 
gewechselt!* 
* alam atiprasaTuienn ist, wie es scheint, der im Prologe der Dramen 
üblichen Schlulsphrase alam. athistarenu nachgebildet, welche dem Sinne 
IL Die Bauddha's oder Buddhisten. 215 
Dal's der üaiize S<inisäru seinem Wesen nach Schmerz Aiies ist ' 
ist, ist die ,ij:emenisclialthche Anschauung aller Autoritäten; 
denn sonst wäre es ja nicht denkhar, dafs alle seine Auf- 
hehung verlangten und mit diMi Mitteln dieser Aufhebung sich 
l)eschäi'tigteii. Man hat somit anzunehmen, dafs alles Schmerz 
und nichts als Schmerz ist. 
«Alles ist Schmerz, sagt ihr. wie z. B. was? gebt uns 
14 idoch ein Beispiel, welches die Sache erläutert!» — l'nmög- Aiies ist 
' 111 individuell. 
hell! denn die individuellen Augenblickswesen haben eben 
wegen dieser ihrer Augenblicklichkeit keinerlei Wesens- 
gemeinschaft, daher man nicht sagen kann, dieses sei jenem 
ähnlich. Man hat daher anzunehmen, dafs alles individuell 
und nur individuell ist. 
Ebenso hat man ferner anzunehmen, dafs alles leer und -viies ist 
leer. 
nur leer sei. Denn [wenn ich z. B. Perlmutter für Silber 
halte], so habe ich weder im Traume noch im Wachen dieses 
Silber gesehen, und wenn ich es gleichwohl perzipiere, so 
perzipiere ich eine entschiedene Negation. [Und so ist in 
allen Fällen die Perzeption des Dauerlosen als ein Seiendes 
nur Perzeption eines Negativen.] Wäre nun das Gesehene 
real, dann müfsten auch [alle dabei in Betracht kommenden 
Momente, nämlich] das vom Gesehenen verschiedene Sehen, 
ferner die Hocceität des Substrates, ferner das darauf über- 
tragene Silbersein usw. und endlich die in ihrer Verbindung 
sich betätigende Inhärenz real sein, und das hat doch noch 
nie jemand behauptet. Man darf aber nicht sein Essen nur 
halb verdauen, und es geht nicht an, den einen Teil des Huhnes 
zum Braten und den andern zum Eierlegen zu bestimmen. Ist 
also von den fünf Momenten des Übertragenen, des Substrates, 
ihrer Verbindung, der Handlung des Sehens und des sehenden 
Subjektes [besser vielleicht: des gesehenen Objektes, drislitä- 
itdin zu lesen] eines oder mehr als eines nicht real, ist es ein 
blofs Negatives, so folgt unweigerlich, dafs das Ganze nicht 
real ist. So hat schon der verehrungswürdige Buddha ge- 
lehrt. Nun aber kommen seine Schüler. 
nach obigem Verse aus dem Vorspiele des Goetheschen Faustes ungetähr 
entspricht. 
216 Die philosophischen Systeme. 
Schule der Und da sind zunächst die höchst scharfsinnigen 3Iädhya- 
mika's' on/ka's (NihiHsten), welche folgendermafsen argumentieren. 
(Nihilisten), ^y^^ ^^^ Bettler seine Füfse allmählich immer weiter vorsetzt 
[immer mehr verlangt, je mehr man ihm gibt], so müssen wir 
auf Grund der Augenhlicksvernichtung und der andern Zu- 
geständnisse darauf dringen, dafs auch die der Objektwelt 
analoge Empfmdungswelt, dafs ferner der auf ihr beruhende 
gesamte Inbegriff der ^^"ahrheit als eine Täuschung abzu- 
weisen ist, und dafs nur Ruhe zu finden ist in der Erkenntnis, 
dafs alles leer und nichtig ist. Die Wahrheit besteht somit 
in dem von dem ganzen Vierecke (Tetralemma) des Seins, 
Nichtseins, Beidesseins und Keinsvonbeidenseins befreiten 
Nichts. Ein Beispiel mag dies erläutern. Wenn das Wesen 
des Kruges in der Eealität bestünde, so würde die Bemühung, 
ihn erst hervorzubringen, zwecklos sein [denn er hätte ja 
schon Realität]. Bestünde hingegen das Wesen des Kruges 
in der Nichtrealität, so würde derselbe Einwand zu machen 
sein [keine Bemühung könnte ihm dann Realität geben]. Denn 
es heifst: 
„Das Seiende hat Ursach' nicht auf Erden, 
„Es ist dem Kaum und Ahnlichem vergleichbar; 
„Das Nichtseiende kann nie Wirkung werden, 
,,Es bleibt wie Atherblumen unerreichbar." 
Was hingegen die beiden andern Möglichkeiten des Tetra- 
lemmas betrifft, so sind dieselben als in sich widersprechend 
unzulässig. Darum sagt der Verehrungswürdige (Buddha) im 
Älaril'äravatära : i? 
,,Was die Erkenntnis als Bestimmung gibt 
,,Den Dingen, das ist nicht ihr eigenes Wesen; 
15 rjihr Wechseln ist in Worten unausdrückbar 
,,Und zeigt, dafs eigenen Wesens sie ermangeln." 
Und ferner: 
„Das überzeugt mit Wirklichkeitsbeweiskraft, 
,,Was uns die Weisen von den Dingen sagen: 
,,Im Augenblicke, wo wir sie erkennen, 
„In diesem Augenblick sind sie zerronnen"; 
I]. i)io Batuldha's oder Bnddliisten. 217 
(I. li. in keiner der obigen Mögliehkeiten kann man Fufs 
fassen. Und doch erfolgt die Beschäftigung mit den ge- 
sehenen Dingen niclit so, wie die Beschäftigung mit den 
Traumbildern, durch eine blofse Einkehr in uns selbst. Darum 
heifst es auch: 
„Verscliieden ist die Auffassung gar sehr 
„Von eines holden Weibes schönem Leibe, 
,,Bei einem Büfser. Liebhaber und Hunde. 
„Der Büfser deidct: sie ist ein Leichnam blofs, 
„Der Liebende : sie ist der Liebe wert, 
„Der Hund: sie wäre wohl ein gutes Fressen." 
Wenn in dieser \\'eise auf Grund jener vier Grundvorstellungen 
[von der Dauerlosigkeit, Schmerzartigkeit, Individuellheit und 
Leerheit der Dingej alle Wahngebilde zerflossen sind, so ist 
damit das absolute, nichtsgestaltige Kirvdnam vollbracht, das 
Ziel erreicht, und jede weitere Belehrung überflüssig. 
Zweierlei liegt dem Schüler ob: die Hingebung (yoga) 
und die Nachfolge (äcära); die Hingebung besteht in der hin- 
gebenden Befragung des Meisters, um dadurch das Unerkannte 
zu erkennen; die Nachfolge besteht in der Verwirklichung 
der Lehren des Meisters. Sofern nun die eben besprochene 
Richtung in der \'erwirklichung der Lehren des Meisters das 
Höchste leistet, hingegen in der hingebenden Befrao-uno-, die 
ihnen überflüssig erscheint, das Geringste, werden sie Mudhua- 
7niJcas (die Mittlern, das Zentrum) genannt. 
Eine andere Kichtung der Buddhisten, welche der vom schuie der 
Meister gelehrten Vierheit der Annahmen [der Dauerlosigkeit, 'dogma'-^ 
Schmerzartigkeit, Lidividuellheit und Leerheit der Dingej laeaiisre'^ii) 
sowie der Nichtigkeit der Aufsenwelt zustimmen, was hingegen 
die Nichtigkeit der Innenwelt betrift't, die Frage aufwerfen, 
wie es nur möglich sei, ihr zuzustimmen, die Buddhisten dieser 
Bichtung werden um dieser Frage (paryanuyof/a) willen all- 
gemein bezeichnet als die Yoyäcäras. Ihre Argumentation 
ist nämlich wie folgt. Die Empfindung selbst mul's man doch 
als wahr anerkimnen, denn sonst würde A\'eltblindheit die 
Folge sein. Daher sich DliarnHik'irti vernehmen lälst: 
218 Die philosophischen Systeme. 
„Wer nicht zugibt Walirnehmungs-Innewerdung, 
„Kann nicht dei' Dinge Anschauung begreifen." 
Eine Erkenntnis von Aufsendingen ist freilich unmöglich, da 
sie an folgendem Dilemma scheitert. Die Sache, welche von 
der Erkenntnis aufgefafst wird, ist entweder aus einem Sein 
hervorgegangen oder nicht hervorgegangen ; das erstere nicht, 
weil, was hervorgegangen [wegen der Dauerlosigkeit der 
Dinge] keinen Bestand hat; das letztere nicht, weil, was nicht 
hervorgegangen, auch keine Existenz besitzt. Oder meinst 
du vielleicht, dafs die schon vergangene Sache von der Er- 
kenntnis, indem sie dieselbe erzeuge, erkannt werden könne? 
Auch das ist Kindergeschwätz, weil es der Tatsache wider- 
16 spricht, dafs das \'orgestellte gegenwärtig vorhanden zu sein 
scheint; ferner weil dann auch die Sinnesorgane [da auch sie 
bei der erwähnten Erzeugung der Erkenntnis beteiligt sind] 
zugleich mit vorgestellt werden müfsten. Ferner : welcher Art 
ist das, was man auffafst? Fafst man Atome auf oder etwas, 
was noch aus Teilen besteht? Letzteres ist nicht möglich, 
weil es, von anderem zu schweigen, durch das Dilemma von 
dem Ganzen und den einzelnen Teilen ausgeschlossen wird 
[das Ganze kann nicht aufgefafst werden, weil seiner Teile 
unendlich viele sind, und einzelne Teile desselben nicht, weil 
dieses keine Auffassung des Ganzen geben würde. Eine andere 
Erklärung läfst sich aus (JärrralM-Mimäusä p. 529 S. 335 
unserer Übersetzung entnehmen]. Aber auch ersteres ist nicht 13 
möglich, weil die Atome übersinnlich sind, und weil die gleich- 
zeitige Verlnndung des Atomes mit der Sechsheit seiner Seiten 
[oben, unten, vorn, hinten, links, rechts] seine Atomnatur 
aufheben würde. Denn es heifst: 
„Zugleich verbunden mit der Seiten Sechsheit, 
„Zerlegt sich in sechs Teile das Atom. 
„Meint ihr, dafs alle sechs an einem Orte? 
„Dann als Atom kann jeder Klumpen gelten." 
Somit ist ein über das Bewufstsein hinausliegendes auf- 
zufassendes Objekt nicht vorhanden, und es ist vielmehr das 
aus den Objekten als seinem \¥esen bestehende Bewufstsein, 
II. Die Haudillias uilor Hiidilhisten. 21*J 
welches aus sich selbst heraus, wie ein Licht, sem eigenes 
Wesen t»fl'enbait. Darum lieifst es: 
„Nichts aiuleros, vom Bewufstseiii wahrnelimbaies, 
,,Noch Wahriielimuiig iribt's, die von ihm verschieden. 
„Ergreiter und ErgriH'enes niangehi beide; 
„Drum leuchtet das Bewulstsein aus sich selbst." 
Auch läl'st sich die Wesenseinheit des ergriffenen Objektes 
und des ergreifenden Subjektes diu'ch Folgerung erweisen. 
Denn was durch irgendeine Empfindung empfunden wird, 
das ist von dieser selbst nicht verschieden, wie z. B. das 
Selbst nicht von dem Bewulstsein ; nun werden alle Eindrücke 
des Blauen usw. durch Emplindung empfunden ; folglich usw. 
Wäre nämlich ein Unterschied zwischen dem Dinge und 
seiner Vorstellung, so wäre nicht zu begreifen, warum gerade 
jetzt dieses Ding und diese Vorstellung verbunden sein sollen, 
da eine W'esensidentität als Ursache dieser Notwendigkeit 
nicht vorläge, somit ein zwingender Grund für das Entstehen 
der Vorstellung nicht vorhanden sein würde. Es ist also ein 
blofser Schein, als ol) die Innewerdungen von Objekt und 
Subjekt getrennt wären, welcher ähnlich dem Scheine, als ob 
zwei Monde wären, wo nur einer ist, auf einem blofsen Irr- 
tume beruht, und auch die Anschauung der Aufsendinge hat 
ihren Grund nur in den anfanglosen, in ununterbrochener 
Reihenfolge verlaufenden und vom Bewulstsein unabtrenn- 
baren Vorstellungen. Darum heifst es: 
„Weil mit einander perzipiert sie werden, 
„Sind untrennbar das Blau und Blaubewufstsein ; 
„Dafs sie verschieden, ist nur ii-rige Meinung, 
„Wie bei dem Mond, der nicht zweifach vorhanden. 
„Unteilbar bleibt doch des Bewufstseins Selbst 
„Bei allem Wechselspiel der Anschauungen, 
„Und Schein nur ist's, als läge eine Trennung 
,,In des Objekts, in des Subjekts Auffassung." 
Übrigens darf man nicht denken, als wären darum an Würze, 
Kraft und Mürbigkeit ein eingebildetes Zuckergebäck und ein 
17 gekauftes Zuckergebäck mit einander gleich; denn wenn auch 
220 I^if! philosophischen Systeme. 
in Wirklichkeit das Bewufstsein von jener Gestaltung zu 
Objekt und Subjekt frei ist, so geschieht es doch infolge einer 
Anbequemung an das praktische Erkennen, dafs innerhalb 
desselben eine Gestaltung zu den entgegengesetzten Formen 
des Aufgefafsten und des Auffassenden stattfindet, und dafs 
diese, ähnlich wie die Erscheinungen von ringförmigen und 
röhrenförmigen Bildungen vor den geschlossenen Augen der 
mit der Krankheit Timira Behafteten, infolge der von Ewig- 
keit her einströmenden Vorstellungsbilder, ein Auseinander- 
treten von Subjekt und Objekt erwirken, welche sich über 
ihre Realität nicht weiter befragen lassen. Darum heifst es : u 
,,Wie das von des Subjekts und Objekts Formen 
„Freie Bewufstsein irrtümlich erscheint, 
„Als war' es übex'strömt von den verschiedenen 
„Gebilden des Ergreifers und Ergriffenen, 
,,So ist, wenn einmal diese Unterscheidung 
„Gemacht ward, gleich der Vielheit bei dem Haarschopf, 
„Die Unterscheidung von Objekt und Subjekt 
„Nicht mehr als luiberechtigt zu bestreiten." 
Es ist somit das Bewufstsein selbst, welches auf Grund der 
anfanglosen Vorstellungsbilder als die vielgestaltige Objekt- 
welt erscheint ; das steht fest ; darum besteht der einzige Weg 
zum Heile darin, dafs man durch häufiges Vergegenwärtigen 
der oben genannten vier Grundanschauungen die gesamte 
Welt der Vorstellung ausrottet, dadurch den Strom der 
mannigfachen Objektgestalten zum Zerrinnen bringt und auf 
diesem Wege in sich jenen Aufgang der reinen Erkenntnis 
erlebt, welcher der grofse Aufgang (»lalioilai/a) genannt wird. 
Schule der Hiergegen bemerken die Buddhisten der andern Richtung 
<aa's7pio- [die SaufrantiJiü's]: die Behauptung, dafs es kein äufseres 
schinTdea- Objekt gcbc, ist unzulässig, da sie des Beweises ermangelt. 
listen). j)gjjj^ [Yi der Notwendigkeit, Objekt und Subjekt zugleich zu 
perzij)ieren, läfst sich ein Beweis nicht erkennen. Was ihr 
nämlich als beweiskräftig erachtet für die Wesenseinheit von 
Subjekt und Objekt, das ist dazu unbrauchbar, weil es zu 
weit geht, indem es zweifelhafte und entgegenstehende Fälle 
[wo die gleichzeitige Perzeption von Objekt und Subjekt nicht 
II. Die Baiuldha's oder IJuddliisten. 221 
stattliiulotl ausschlicfsen würde. — «Aber wären beide ver- 
«scliiedeu, so wäre doch die Notwendigkeit, beide zusammen 
nzu perzipieren, unerklärlich!« — Doch nicht! Denn es ist 
der Erkenntnis vermöge ihres Eingehens in uns an sich selbst 
wesentlich, als die Zweiheit von Subjekt und Objekt zu er- 
scheinen, und hieraus läl'st sich daher ein zwingender Beweis 
für das Zusammenbestehen beider am selben Orte und zur 
selben Zeit nicht entnehmen: auch müfsten die Objekte des 
Blauen usw., wenn sie eine blofse ^lodiükation des Bewufst- 
seins wären, uns als „Ich" erscheinen, nicht aber als „dieses 
Ding da" aui'gefafst werden, indem sie über die Vorstellung 
nicht hinausliegen würden. — Man könnte einwenden: «ob- 
« gleich der Eindruck des Blauen seinem Wesen nach nur 
«im Bewufstsein vorhanden ist, so erscheint er doch vermöge 
«einer Täuschung, als wäre er draufsen und von uns ver- 
(< schieden, und darum tritt in ihm das Ich nicht hervor. 
«Darum heilst es: 
«„Der Teil von uns, der durch gesonderte 
«„Bestimmung draufsen gleichsam vor uns steht, 
IS «„Ist, wenn auch scheinbar abgetrennt, doch nur 
«„Ein Eindruck des unteilbaren Bewufstseins, 
«,,Ünd was nur innerlich erkannt in Wahrheit, 
«,,Das scheint, als wäre draufsen es vorhanden."» 
Dieser Einwand ist ungereimt; denn wenn es wirklich keine 
Aufsendinge gibt, so kann auch das, was dieses Ursprunges 
entbehrt, nicht bezeichnet werden durch den Vergleichungs- 
ausdruck: „als wäre es draufsen". Denn kein Verständiger 
wird sagen : „Vasumitra sieht aus, als wäre er der Sohn einer 
I'nfruchtbaren." Ferner würde es ein Zirkelschlufs sein, auf 
die Irrtümlichkeit der Verschiedenheit von Subjekt und Objekt 
den Beweis ihrer Nichtverschiedenheit, und auf diesen Beweis 
wiederum die Irrtümlichkeit ihrer Verschiedenheit zu gründen. 
Der Unterschied beider erhellt schon daraus,2dafs im täglichen 
Leben die Menschen, wenn sie sich des Blauen usw. bewufst 
werden, ohne Widerspruch das Vorhandensein eines Aufsen- ' 
dinges annehmen, hingegen über das es vermittelnde [Vor- 
stellungsbild 1 hinweggehen. Und somit hat euer Beweis für ir. 
222 Die philosophischen Systeme. 
die Einheit des Dino-es und der Vorstelluno; dieselbe Wahr- 
scheinlichkeit, als wenn ihr [weil die Milchspeise von der 
Kuh stammt] den Kuhdünger für eine Milchspeise ansehen 
wolltet. [Das Objekt stammt aus dem Subjekte, ist aber 
darum nicht blols subjektiv.] Und indem ihr sagt: „Das Ob- 
jekt erscheint als wäre es draufsen", setzt ihr das Draufsen 
als Gegenstand der AVahrnehmung immer schon voraus. So 
trefft ihr mit eurem Pfeile euch selber. — «Aber [die Sache 
«und die Vorstellung von ihr könnten doch nur nach einander, 
«nicht aber gleichzeitig sein, und] es ist doch ungereimt, dafs 
«die Sache, welche mit dem Bewufstsein zu gleicher Zeit be- 
« steht, aufser uns sei [da das Dogma von der Dauerlosigkeit 
«ein unverändertes Fortbestehen von Moment zu Moment nicht 
«zuläfstj.« — Es ist vielmehr dieser Einwurf, welcher un- 
gereimt ist; denn man kann sehr wohl annehmen, dafs das 
mit den Sinnesorganen in Berührung kommende Objekt in der 
darauf entstehenden Erkenntnis seine Form zum Ausdruck 
bringt, und dafs mittels der zum Ausdruck gebrachten Form 
auf die entsprechende Sache mittels Folgerung geschlossen 
wird. Die Frage und ihre Erledigung finden sich daher auch 
zusammengefafst in folgenden Versen: 
„Wie ist, was zeitlich vorhergeht, wahrnehmbar'? — 
„So fragend, gebt ihr zu Wahrnehmbarkeit! 
„Das Aufsending ist die Ursache eben, 
,,Die im Bewufstsein ihren Abdruck wirkt." 
Wie wir daher aus Wohlbeleibtheit auf gute Ernährung, 
aus der Sprache auf die Heimat, aus der Verwirrung auf 
Liebe schliefsen, so schliefsen wir mittels Folgerung aus 
dem Erkenntniseindrucke auf das Erkenntnisobjekt. Darum 
heifst es: 
„Mit einer Hälfte wirkt es die Idee, 
,,Und wird doch nicht um diese Hälfte ärmer; 
,, Daher für die Erkenntnis des Objekts 
„Beweisgrund ist seine Erschliefsbarkeit." 
19 Es ist nämlich nicht möglich anzunehmen, dafs unser Wissen 
von den Dingen seinem Wesen nach aus dem Bewufstsein 
stamme, weil letzteres allerwärts sich selbst gleich ist, und 
II. Die Haiuldha's oder IJiuldhisten. 223 
weil mithin alles, was zur Wesensgleichheit mit ihm ('inoino-e, 
sich seinem A\'esen gleich gestalten mül'ste. M'ir köimen 
daher auch die Realität der Aufsendinge durch folgende 
SchluCsform erweisen. Alles was, während eine Sache fort- 
besteht, nur zeitweise an derselben auftritt, das mul's seinen 
(irund aufserhall) der Sache haben: z.B.: die ^'orstellung des 
Ivedens und Gehens, welche ich habe, während ich doch selbst 
nicht rede oder gehe, mufs ihren (jirund in der Kontinuität 
eines andern redenden oder gehenden Menschen haben : nun 
haben die in Rede stehenden Vorstellungen der Aufsentätio- 
keiten dieses Eigentümliche, dals sie, während das Innen- 
bewufstsein fortbesteht, nur zeitweise die Eindrücke des Blauen 
usw. hervorbringen : folglich usw. Hierbei bedeutet das Wort 
„Innenbewufstsein'' (alai/a-vijnch)am) dasjenige Bewufstsein, 
welches seinen Sitz in dem Ich hat, während dasjenige, 
welches die Eindrücke des Blauen usw. verzeichnet, das 
„ Aufsenbewufstsein " (pravrifti-rijüiOKtm) heifst. Darum wird 
gesagt : 
,,Innenbewufstsein heifst dasjenige, 
„Was seinen Wohnsitz hat im eignen Ich; 
„Aufsenbewufstsein heifst dasjenige, 
„Was Eindrücke wie Blau in uns verzeichnet." 
Somit mufs man eine über die Kontinuität des Innenbewufst- is 
Seins hinausreichende, nur gelegentlich auftretende Ursache 
des Aufsenbewufstseins annehmen, und diese ist das Aufsen- 
ding; denn es läfst sich nicht annehmen, dafs es nur die 
Vorstellung des Reifwerdens der subjektiven Erscheinungen 
sei. auf deren Gelegentlichkeit jenes gelegentliche Entstehen 
beruhe. Nach der Theorie der Idealisten nämlich sind es nur 
die in einer Kontinuität verlaufenden subjektiven Erschei- 
nungen, und somit Gebilde des Innenbewufstseins, welche die 
Kraft besitzen, bald diese, bald jene Aufsenheit zu erzeugen; 
wenn sich diese Kraft dazu anschickt, die ihr eigentümliche 
Wirkung zu erzeugen, so heifst dies das Reifwerden der 
Wirkung, und als Ursache derselben wird nur eine Vor- 
stellung, nämlich der in ihrer eigenen [subjektiven] Kon- 
tiimität unmittelbar vorhergehende Augenblick angenommen, 
224 Die philosophischen Systeme. 
indem sie ihre Verknüpfung mit einer andern [objektiven] 
Kontinuität nicht zugeben. Aber was folgt hieraus '? Offenbar, 
dafs zur Reifmachung jener das Aufsenbewufstsein erzeugen- 
den, aus dem Innenbewufstsein stammenden objektiven Er- 
scheinungen alle dem Innenbewufstsein angehörenden Augen- 
blicke gleich sehr befähigt sind, oder, wenn nicht, dafs sie 
alle dazu gleich sehr unfähig sind, da sie sich als Glieder 
der Kontinuität des Innenbewufstseins nicht von einander 
unterscheiden. Wollte man nun [um der letztern Alternative 
zu entgehen] annehmen, sie seien dazu gleich sehr befähigt, 
so würde kein Aufschub irgendeiner Wirkung möglich sein 
[es würde sich, mit Leibniz zu reden, die ganze in der Mo- 
nade eingewickelte Vorstellungswelt in einem Augenblicke 
entfalten, welches zu verhindern Leibniz ein retardierendes 
Prinzip, die sogenannte materia prima ^ einführen mufste]. — 
Um daher die Gelegentlichkeit herauszubekommen, mufs man 
die Objekte des Gehörs, Getastes, Gesichts, Geschmacks und 
Geruches sowie der gemeinen Gefühle der Lust usw. als sechs 
20 [objektive] Bedingungen voraussetzen, welche, indem sie sich 
mit den vier [subjektiven] Bedingungen verknüpfen, zum Be- 
wufstsein kommen, und diesen Bestimmungen wird jeder reg- 
same Geist auch wider Willen, wenn er nur klar zu denken 
vermag und sich nicht gegen seine eigenen Wahrnehmungen 
verschliefst, beipflichten müssen. Die vier erwähnten [sub- 
jektiven] Bedingungen sind: das Fundamentale, das Ver- 
mittelnde, das Mitwirkende und das Regierende. Wenn es 
sich z. B. um das mit dem Worte Erkenntnis zu bezeichnende, 
als das Blau usw. erscheinende Bewufstwerden handelt, so ist 
die fundamentale Bedingung [die Sinnlichkeit] dasjenige, auf 
w^elches das Blau sich stützt, so dafs daraus die Blaugestaltung 
entsteht; die vermittelnde Bedingung [etwa die Einbildungs- 
kraft] ist diejenige, auf welcher das Bewufstwerden einer vor- 
maligen Erkenntnis beruht; hierzu kommen als mitwirkende 
Bedingung das Sehen und als regierende Bedingung das Auge, 
auf welchen die Einschränkung im Auffassen der Objekte be- 
ruht. Das Auge nämlich ist hierbei dasjenige, welches die 
in Rede stehende Erkenntnis gegenüber dem Erlangen der 
Allgemeinheit von Geschmack usw. einschränkt und daher 
II. Die Bauddlia's oder Buddhisten. 225 
auf (l(^n Namen des Regierenden Anspruch hat, indem, wie 
die Eii'ahrunf;; zeigt, das Regierende sich im Einschränken 
betätigt. Dieses also sind die vier ursächhchen Bedingungen, 
auf (kMien alles, was geistig und aus Geistigem entsprungen 
ist, wie z, B. die Lust usw., beruht. — In dieser Weise kommt uie fünf 
dann weiter für alles, was geistig und aus Geistigem ent- 
sprungen ist, jene fünffache Verzweigung zustande, welche 
unter den Namen Gestaltung, Bewufstsein, Empfindung, 
Wahrnehmung und Bestrebung bekannt ist. Der Zweig 
der Gestaltung (rnpa-sJia}idha) besteht in den mit den Dingen 
in Verbindung tretenden Sinnesorganen, sofern durch diese 
erst die Sinnendinge vorgestellt werden (nqjyantc), oder, wie 
die Etymologie dieses Wortes besagt, gestaltet werden. Der 
Zweig des Bewufstseins (viJHäna-skandJia) besteht in der 
Vorstellungsreihe, welche das Aufsenbewufstsein und Innen- 
bewufstsein ausmacht. Der Zweig der Empfindung (vedanä- 
skamlha) besteht in der Vorstelkmgsreihe von Lust, Schmerz usw., 
wie sie aus der Verbindung der beiden vorher erwähnten Zweige 
hervorgeht. Der Zweig der Wahrnehmung (scünjuä-shandha) 
besteht in der Reihe der zusammenfassenden Bewufstwerdungen, 
wie sie sich in den Worten Kuh usw. abzeichnen. Die durch n 
den Zweig der Empfindungen bedingten Plagen, wie Liebe 
und Ilafs, und Nebenplagen, wie Hochmut, Eitelkeit usw. 
nebst Pflicht und Pflichtübertretung bilden den Zweig der 
Bestrebungen (sanisMra-sJcandJta). 
Nachdem man nun diesen ganzen Inbegriff der Welt er- Die vier 
kannt hat als Leiden, als die Grundlage vom Leiden, als das wahrhiiten. 
Mittel zum Leiden, so soll man als das Mittel zur Aufhebunir 
dieses Leidens die Erkenntnis der Grundwahrheiten bewerk- 
stelligen. Darum heilst es: „Der Schmerz, sein ursäch- 
liches Aggregat, dessen Aufhebung und der Weg zu ihr, 
das sind für den Arya [den überzeugimgstreuen Buddhisten] die 
vier von Buddha erkannten Grundwahrheiten." — Was nun 
1. den Schmerz betrifft, so ist er bekannt. — 2. Das ursäch- 
liche Aggregat ist die Ursache des Schmerzes; dasselbe ist 
zweifach : a) die Verknüpfung mit den Einflüssen, h) die Ver- 
knüpfung mit der Ursache. Was a) die Verknüpfung mit den 
1 Einflüssen betrifft, so whd sie befafst in folgendem Sütram: 
Deusses, Geschichte der Philosophie. 1, m. lO 
226 Die philosophischen Systeme. 
„Was die übrigen Ursachen [aufser dem Substrate] betrifft, 
welche auf die Wirkung einfliefsen", — d. h. mit einwirken ; 
das Sein dieser einfliefsen den Ursachen besteht eben in ihrem 
Einfhisse, — „so ist der Komplex der Ursache lediglich eine 
Frucht von ihnen", nicht aber von irgendeinem Geistigen, 
das ist der Sinn des Sütram. Es ist damit ähnlich wie mit 
der aus dem Samen als Ursache hervorgehenden Pflanze, 
welche aus dem Komplexe von sechs Elementen besteht, 
indem auf dem Elemente der Erde ihre Festigkeit und ihr 
Geruch beruht, auf dem Elemente des Wassers ihre Klebrig- 
keit und ihr Geschmack, auf dem Elemente des Feuers ihre 
Sichtbarkeit und Wärme, auf dem Elemente des Windes ihre 
Fühlbarkeit und Bewegung, auf dem Elemente des Äthers ilire 
Kaumerfüllung und Hörbarkeit, auf dem Elemente der Jahres- 
zeit die richtige Verbindung mit dem Erdboden usw. Was 
ferner b) die Verknüpfung mit der Ursache betrifft, so wird 
sie befafst in folgendem Sütram: „Mögen sie nun entstanden 
sein, so lehren die TatJtägatas, oder nicht entstanden sein, 
jedenfalls steht fest von diesen Qualitäten ihr Qualitätsem, 
und dieser Zustand des Feststehens der Qualitäten wird, 
wenn das Einschränken durch andere Qualitäten einfliefst, 
zu dem entsprechenden Zustande des gemeinschaftlichen Pro- 
duktes." Das heifst nach der Meinung der TatJmgafa's, d. i. der 
Buddha's, steht in betreft' der als Ursache und Wirkung auf- 
tretenden Qualitäten ihr als Ursache und Wirkung auftretendes 
Qualitätsein fest; es steht fest, mögen sie nun entstanden 
oder nicht entstanden sein. Wenn wir festhalten, dafs das- 
jenige, welches entsteht, während ein anderes bleibt, als die 
Wirkung von jenem als Ursache anzusehen ist, so ist die Er- 
klärung des Wortes Qualitätsein wie folgt: sofern die Quahtät 
der Wirkung, ohne die Ursache zu überschreiten, ihr Fest- 
stehen oder, wie das pleonastische Suffix tä in dharmatä be- 
sagt, ihren Zustand des Feststehens behauptet, kommt der 
Qualität der Ursache in betreff der Wirkung ein Einschränken 
zu. Um die Einwendung abzuschneiden, dafs ein Verhältnis 
von Wirkung und Ursache ohne ein Geistiges nicht möglich 
sei, heifst es dann weiter: von jenem entsprechenden oder 
analogen Zustande in dem Produkte, während die Ursache 
IL Die IJaiiddhu's oder Buddhisten. 227 
besteht und Jene Einschränkung einfliefst oder hinzutritt, steht 
jedenfalls, mögen nun die Oualitäten entstanden oder nicht 
entstanden sein, fest das blofse (Jualitätsein, und von einem 
geistigen Vorsteher ist hierbei nichts zu merken, <las ist der 
Sinn des Sütram, So z. B. entsteht an dem Produkte unter 
jenem Einflüsse und in Anknüpfung an die Ursache aus dem 
Samen der Stengel, aus dem Stengel das Rohr, aus dem 
Rolire das Schilf, aus dem Schilfe der Fruchtknoten, aus 
diesem die Knospe, hieraus die Blume, und hieraus die Frucht; 
es kommt aber nicht vor, dafs hierbei in einem äufsern ur- 
sächlichen Aggregate die Ursache, z. B. der Samen, oder die 
Wirkung, z. B. die Ptlanze, sich als ein Denkendes gerierte 
!2 (ccthjaie) und sich bewufst wäre, „ich bringe die Pflanze her- 
vor", oder „ich bin von dem Samen hervorgebracht worden". 
Dasselbe nun gilt, wo es sich um die Verhältnisse des eigenen 
Selbstes handelt; auch hier hat man jene beiden ursächlichen is 
Faktoren [die Einflüsse und die Ursache] anzuerkennen. Vor 
uns liegt in dieser Sache noch ein Ozean von Erwägungen, 
aber wir übergehen ihn aus Furcht, unsere Arbeit zu weit 
auszudehnen. — Auf jene beiden bezieht sich dann 3. die 
Aufhebung [der Ursache des Leidens], auf welche sofort 
oder als der Aufgang der unbefleckten Erkenntnis die Erlösung 
erfolgt. — Das Mittel zu jener Aufhebung endlich ist 4. der 
Weg, welcher in der Erkenntnis der Wahrheit besteht, wie 
sie aus der Einprägung alles Bisherigen hervorgeht. „Dieses 
ist das höchste Geheimnis; ich habe es euch verkündet, da 
ihr mich nach dem Endziel des Sütram befragtet; ihr aber, die 
ihr mich nach des Sütram Endziel befragt habt, sollt Sütra- 
Endzielende {SctutrantiJias) heifsenl" so sprach der verehrungs- 
würdige Buddha, und daraus entstand der Name Sautrantika. 
Eine andere Klasse von Buddhisten sagt : „Wenn be- schuie der 
hauptet wird, dafs der Meister den Aufsendingen, den Ge- /,/,ästika'a 
rüchen usw., und den Innendingen, nämlich den Skandha's der f^^'^'*''®*'^"'- 
Gestalt usw., zwar die Realität nicht abgesprochen habe, jedoch, 
um ihre Unzuverlässigkeit zu bekunden, alles für leer erklärt 
und in diesem Sinne seine ursprünglichen Jünger belelu't 
habe, dafs er dann weiter einer zweiten Klasse, da er sie von 
dem Dämon, alles für Vorstellung zu halten, besessen sah, 
15* 
228 1*^6 philosophischen Systeme. 
zugestanden habe, die Vorstellung allein sei das Seiende, und 
dafs er endlich vor einer dritten Klasse, welche beides für 
real hielt, das Erschliersbare als das Erkennbare bezeichnet 
habe, so ist das alles ein widersprechendes Gerede (virnddhä 
hhäshä )'■'••, — weil sie diese Bezeichnung gebrauchen, sind sie 
selbst mit dem Namen VaihhäshiJcas benannt worden. Ihre 
eigene Erklärungsweise hingegen schlägt folgen dermafsen die 
Augen auf. Es geht nicht an zu behaupten, dafs nur das 
Erschliefsbare das Erkennbare sei, weil dann nicht nur alles 
und jedes Wahrnehmbare ohne Realität wäre, sondern auch 
die Folgerung selbst nicht möglich wäre, da dem Bewufstsein 
der Durchdringung [auf welcher die Folgerung beruht] damit 
die Basis entzogen sein würde. Und nun noch der Wider- 
spruch gegen die tatsächlich von aller Welt geübte Wahr- 
nehmung! Es gibt also vielmehr zwei Arten von Dingen, 
durch Wahrnehmung erkannte und durch Denken erkannte; 
von diesen ist das Wahrnehmen seiner Natur nach unzweifel- 
haft und Beweisnorm, da es die Willkür ausschliefst; das 
Denken hingegen ist seiner Natur nach zweifelhaft und keine 
Beweisnorm, da es ein Erkennen durch Willkür ist. Darum 
heilst es: 
„Die Wahrnehmung, da sie die Willkür ausschliefst 
„Sowie den Irrtum, ist unzweifelhaft; 
„Die Willkür fufst nur auf dem Schein der Dinge, 
„Daher sie ohne Widerrede täuscht. 
„Das Ding ist aufzufassen, und die Richtschnur 
„Ist das Auffassen; was hiervon verschieden, 
,,Däs ist nicht Ding noch Richtschnur, mag es auch 
„Mitteilung, Folgerung, Sinn zum Ursprung haben." 
23 — «Aber wenn das Zweifelhafte keine Beweiskraft haben soll, 
«wie kann dann überhaupt irgend jemand auf Grund desselben 
«eine Sache erkennen, und wie ist eine Verständigung unter 
«mehrern [durch Mitteilung) möglich?» — Dieser Einwurf 
ist nicht glücklich, da eine Erkenntnis durch Folgerung 
möghch ist ähnlich wie bei dem Zweifel, ob ein Ding, wenn 
es wie ein Edelstein glänzt, wirklich ein Edelstein ist, und 
eine Erkenntnis durch Mitteilung möglich ist, sofern sie 
11. T>ie I?;nitl(llia's oder BuddliistfMi. 229 
für «Miir indirekt«', duicli die Roiho der Mitteih'ndcn erfolf^jondo 
P«»rzeption gelten kiinn. Das l'brige, was diese Kichtung 
betrifft, ist schon hei Hosprccluing der Sautrantika's vor- 
gekommen, dalier wir uns liier nicht noch einmal darüber 
verbreiten wollen. 
Man darf ii])ngens nicht behaupten, dafs eine solche auf Akkommo- 
Akkommodation an die Fassungskraft der Schüler beruhende ''Kasrun^gs!* 
Verschiedenheit der Unterweisung nicht auf richtiü'er Tradition '"'*"■ 
beruhen könne. Denn es heifst in der Auslegun»; des l>odha- 
cittain: 
..Die Unterweisungen der Welterleuchter, 19 
j.Akkommodierend sich an Sinn und Wille 
„Der Leute auf verschied'ne Art und Weise, 
„Erscheinen vielfach in der Welt gespalten. 
„Verschieden sind die Tiefen und die Flachen, 
,, Daher mitunter, beiden Rechnung tragend, 
„Verschieden sind die Lehren, ja sogar 
„Das Dogma von dem zweiheitlosen Nichts." 
Dafs ferner nach der Lehre der liuddhisten die Verehrung Die zwölf 
der zwölf Innensitze die Seligkeit befördert, ist bekannt. ii^ensitze. 
„Durch die so viele Güter wir gewinnen, 
„Der Innensitze Zwölf heit ist es wert, 
,,Dafs man sie allerseits verehrt, was bliebe 
,,Auch sonst hienieden zu verehren übrig ! 
,,Es sind die fünf Organe des Erkennens, 
,,Wozu des Handelns fünf Organe kommen, 
„Dazu Manas und Buddhi, diese gelten 
„Als die zwölf Innensitze bei den Weisen." 
\Vir schlici'scn mit der Darstellung, welche der V i vcJm- sammi der 
Mh'isa (der Zeitvertreib der Urteilskraft) von der Lehre der ^^^^^' 
Buddhisten gibt: 
„Buddha ist Gott nach Lehre der Buddhisten, 
„Und alles wird im Augenblick vernichtet. — 
„Als heiige Wahrheiten bezeichnen sie 
,,Vier Grundwahrlieiten. nämlich folgende: 
,, Zuerst den Schmerz, hierauf die Innensitze; 
230 Die philosophischen Systeme. 
„Sodann folgt was das Aggregat sie nennen, 
„Und endlich noch der sogenannte Weg. 
„Wir wollen sie der Reihe nach erklären. 
„Schmerz ist das Schicksal aller im Samsära, 
„Und folgende fünf Skandha's ihr Bestand : 
„Bewufstsein nebst Empfindung und Wahrnehmung, 
,, Sodann noch die Bestrebung und Gestaltung. 
24 5, Der Innensitze gibt es zwölf wie folgt: 
,,Fünf Sinnenkräfte und fünf Sinnendinge, 
„Ton usw., hierzu der Verstand 
,,Und endlich noch der Innensitz der PÜicht. 
,,Wenn Liebe und die andern Leidenschaften 
,,Sich aggregieren in der Menschen Herzen 
„Und als das Selbst und zu dem Selbst gehörig 
„Auftreten, so heifst dies das Aggregat. 
,,Wenn die Vergänglichkeit von allem Streben 
„Als feste Meinung Wurzel in uns schlägt, 
,,Das ist der Weg, den man ausfinden mufs, 
„Den auch als die Erlösung sie bezeichnen. — 
,,Die W^ahrnehmung und Folgerung lassen sie 
„Als die zwei Normen des Erkennens gelten. — 
„Vier Sekten der Buddhisten sind vorhanden, 
,,Die der Vaibhäshika"s und die drei andern. 
,,Das Ding, durch die Erkenntnis aufgefafst, 
,, Stellt beim Vaibhäshika in hohen Ehren. 
„Das Ding ist, so sagt der Sauträ-ntika, 
„Durch Wahrnehmung nur fafsbar, nicht da draufsen. 
..Der Yo^äcära kennt allein die Buddhi. 
,,In welcher die Gestaltungen auftreten. 
..Die Madhyama's hingegen nehmen an, 
„Dafs nichts Bestand hat, als nur die Empfindung. — 20 
,,Doch hierin sind sie einig alle vier, 
,,Dafs die Erlösung nur darin besteht, 
„Dafs alle Leidenschaft wird ausgerottet, 
,, Nebst des Bewufstseins Strom und allem Wahne. — 
,,Die Regel der Buddhistenmönche ist : 
„Der Lederschurz, der Wassertopf, der Kahlkopf, 
,.Das Lumpenkleid, die Mahlzeit vormittags, 
„Das Konventikel und die rote Tracht." 
r "V 
III. Die Arhata's oder Jaina's. 
C p. 24—44. P p. 20—36. 
Ge^'en diese Lehrmeinimg der Schleppkleiderträger (Bud- wider- 
dhisten) erheben sich die Kleiderlosen (Jaina's), indem sie, "D^u^er-^' 
in gewissem Grade bei der Beharrlichkeit der Dinge be- ^'^^'^ ^^*' 
harrend, die Lehre von der Dauerlosigkeit angreifen. Wenn 
nämlich, so sagen sie, nicht irgendein beharrliches Selbst an- 
genommen würde, so würde doch auch schon das Betreiben 
der Mittel zu irgendeinem irdischen Erfolge erfolglos bleiben. 
Denn dals dabei ein anderer die Arbeit täte und ein anderer 
ihren Erfolg genösse, das läfst sich doch nicht annehmen. 
25 Da nun vielmehr ich ebenderselbe bin, der ich vorher das 
Werk vollbrachte und jetzt die Frucht desselben geniefse, so 
ist damit für dieses Ich offenbar der Beweis erbracht, dafs 
es ein in der frühern und spätem Zeit Bestehendes und folg- 
lich Beharrliches ist; und somit kann die Theorie von der 
Dauerlosigkeit als einem blofsen Bestehen während des gegen 
die frühern und spätem Zeitteile isolierten Zeitmomentes bei 
besonnenen Jainagläubigen keinen Glauben finden. — Aber 
vielleicht wirst du dich folgendermafsen verteidigen: '< Einem 
«Strome, der [wie unser Flufs aller DingeJ von Beweiskraft 
«getrieben wird, kann doch niemand Halt gebieten, das steht 
-als Regel fest. Nun haben wir oben in der Argumentation: 
'., alles was Existenz hat, ist dauerlos" usw. (oben S. 207 fg.) 
'die Dauerlosigkeit bewiesen; und hieraus folgt weiter, dafs 
«es nur auf der Zugehörigkeit zu einer und derselben 
('Kontinuitätsreihe beruht, wenn ein früheres Bewufstsein 
«der Täter des Werkes, und ein späteres Bewufstsein der 
232 I^ic philosophischen Systeme. 
«Geniefser der Frucht ist. Dieser Satz aber beweist nicht 
«zuviel [nämhch, dafs jedes Spätere die Wirkung von jedem 
«Frühem sein könne], weil er eingeschränkt wird durch das 
«Gesetz des Zusammenhanges der Ursache mit ihrer Wirkung. 
«Dieses geht so weit, dafs, wenn man Mango-Kerne in süfsem 
«Safte einweicht und sie dann in den gepflegten Boden sät, 
«bei der Entwicklung zu Staude, Stamm, Ast, Zweig und 
«Schöfsling durch diese Reihe als Vermittelndes die Frucht 
«jene Süfsigkeit zeigen mufs; oder dafs, wenn man den Samen 
«der Baumwollenstaude mit rotem Lack übergiefst, durch 
«Vermittelung der Staude usw., die Baumwolle jene Röte an 
«sich zeigen mufs. Daher es heifst: 
«,,Da, wo in der Verkettung der Momente 
«„Ein Eindruck ist der Werke eingedrungen, 
«,,Da mufs er sich bis hin zur Frucht entwickehi, 
«„Wie bei der Baumwolle die rote Farbe. 
«„Wenn in die Blüte des Zitronenbaumes 
«„Der Saft von rotem Lack geträufelt wird, 
«„So wird dort eine Kraft von ihr empfangen; 
«„Du siehst ja, wie sie in der Frucht sich zeigt."» 
— Auch diese Einwendung ist nur dem Ergreifen eines Stroh- 21 
halmes ähnlich und geht an folgendem Dilemma zugrunde. 
Oben, wo ihr das Beispiel von der Wolke gebrauchtet (oben 
S. 207 fg.), sollte da die Dauerlosigkeit durch jenen Beweis 
allein bewiesen werden, oder zum Teil auch durch andere 
Beweise? Ersteres geht nicht; denn da die von dir beliebte 
Dauerlosigkeit mitunter auch unmerklich besteht, so pafst auf 
solche Fälle dein Beispiel nicht, und kann folglich auf sie 
auch jene Argumentation keine Anwendung linden. Aber auch 
letzteres geht nicht an: denn wenn die Dauerlosigkeit nicht 
allerwärts auf eine und dieselbe Weise bewiesen wird (lies: 
JcshaniJ:atva-asid(üia/i), so wird deine auf die Existenz im 
ganzen sich erstreckende Folgerung damit hinfällig: wozu 
noch kommt, dafs, wenn wir mit dir das Wiesen der Existenz 
in das Vollbringen einer bezweckenden Tat legen, auch z. B. der 
Bifs einer geträumten Schlange, sofern er eine bezweckende 
26 Tat [nämlich die Beängstigung] vollbringt, Existenz haben 
III. Dio Arhata's oder .laina's. 233 
mufs. Darum ist mit Koelit gesagt wordon, Existenz hat nur, 
was Entstehen, Vergelum und Bestehen hesitzt [nicht aber das 
Dauer] ose |. — Mau könnte einwenden-: "Die Dauerlosigkeit 
«läfst sich doch auch daraus erweisen, dafs im andern Falle 
«das Ding die [der Erfahrung! widersprechenden Oualitäten 
«der Fähigkeit [jederzeit zu vollbringen, was es jetzt vollbringt) 
«und der l niahigkeit [jemals zu vollbringen, was es jetzt 
«nicht vollbringt, vgl. oben S. 208| besitzen müfste.» — Aber 
auch dieser Einwand ist nicht stichhaltig; denn da wir nach 
unserer Relativitätstheorie {St/adrada, unten S. 255 fg.) die Lehre 
von der Relativität (atmikautaitY) alles Seienden ausdrücklich 
aufstellen, so fällt der Widerspruch weg. Wenn ferner oben 
geredet wurde von dem Beispiele der Baumwolle usw. [bei 
der die Färbung des Samens sich in der Frucht wieder zeigen 
soll wegen Zugehörigkeit beider zur selben Kontinuitätsreihe], 
so ist das eben ein blofses Gerede, da eine Begründung fehlte, 
und wir auch in solchen Fällen die Vernichtung des gegen 
das Vorhergehende und Nachfolgende isolierten Augenblicks 
nicht zuzugeben brauchen. Hierzu kommt, dafs eine Kon- 
tinuität ohne einen Träger dieser Kontinuität den Weg des 
Beweises nicht betreten kann. Daher es heifst: 
„Nur, wo gleichartige und aus einander 
„Entsprungene, durch der Verwandtschaft Band 
„Verknüpfte Individuen sich finden. 
„Da, und nur da, ist Kontinuität.'' 
Auch kann dabei die Einschränkung auf das Kausalitäts- 
verhältnis nicht hindern, dafs daraus zu viel folgen würde. 
So würde z. B. für Lehrer und Schüler [da sie als Ursache 
und Wirkung mit einander A'erbunden sind] folgen müssen, 
dafs der Scliülor mit seinem Bewufstsein die in dem Bewufst- 
sein des Lehrers entstandenen Gedanken durch Erinnerung 
wieder erweckte [gleich als hätten beide nur ein Bewufstsein), 
und dafs er die Frucht geniefsen müfste von den Werken, die 
jener vollbracht hätte. Somit würde aus eurer Theorie folgen, 
dafs Getanes un vergolten bliel^e und l ngetanes vergolten 
würde. Darum sagt HiddJKisena-vahya-Mra (der Verfasser der 
Reden des Siddhasena): 
234 D^6 philosophischen Systeme. 
„Schuldnichtbestrafung und Unschuldbestrafung, 
„Seiusauflösung, Erinnerungsvernichtung, 
„Das alles übersieht der gute Mann 
,,Und hält all diesen Mängeln gegenüber 
,,An seiner Augenblicksvernichtung fest. 
„Das ist denn doch der Willkür höchster Gipfel!" 
Aber noch mehr. Nach der Theorie von der Dauerlosig- 
keit besteht zur Zeit des Erkennens das Erkannte nicht mehr, 
und zur Zeit des Erkannten das Erkennen noch nicht, so dafs 
das Verhältnis zwischen Auffassendem und Aufgefafstem zur 
Unmögliclikeit wird, und wir nur dem ganzen Wehlaufe gute 
Nacht sagen können. Denn es ist doch nicht daran zu 
denken, dafs beide gleichzeitig wie das hnke und das rechte 
Hörn vorhanden wären, da sie dann so wenig wie diese als 
Ursache und Wirkung mit einander verbunden sein könnten, 
und folglich bei dem Aufzufassenden (lies: gräJitjasya) die 
fundamentale Bedingung (oben S. 224) nicht statthaben würde. 
Oder meint ihr vielleicht, dafs auch bei Verschiedenheit der 
Zeit eine Auffassung stattiinden könne, indem das Objekt sein 
Abbild in das Bewufstsein überträgt? Auch das ist kein guter 
Ausweg. Denn wie das Dauerlose die Grundlage bilden soll 
für die Eintragung eines Abbildes in das Bewufstsein, ist i'2 
schwer zu sagen, so dafs ihr bei der Theorie des Erkennens 
mittels des Abbildes eine Abweisung erfahrt, während auch 
bei der Theorie des Erkennens ohne Abbild, soll die Sache 
überhaupt zustande kommen, ein Stillehalten während der 
Prozedur des Erkennens unumgänglich ist. Nämlich die Wahr- 
nehmung ist ein Prozefs, durch welchen das vorher ohne Ab- 
bild des Objekts gewesene Bewufstsein nachher individuell von 
der jedesmaligen Ichheit als das Bewufstsein des Kruges usw. 
durchgenossen, nicht aber wie bei dem Spiegel von einem 
blofsen Spiegelbilde überflogen wird. Soll ferner der Prozefs 
darin bestehen, dafs das Bewufstsein nur in passiver Weise 
von dem Abbilde des Objektes in Besitz genommen wird, 
nun, dann können wir den Bezeichnungsweisen des Dinges 
als fern, nahe usw. ein rcquiescat in iKtce zurufen (jalänjalir 
viHri/cta). Und tut nur nicht, als ob dies Wasser auf eure 
Mühle wäre, denn die Tatsache, dafs wir den Berg als ferner 
III. Die Arhata's oder Jaina's. 230 
odor niUier, al.s lang, breit usw. bezeichnen, bleibt unanfecht- 
bar und läl'st sich nicht in Schlaf lullen. Und es hilft auch 
nichts zu sagen, dal's derartige Bezeichnungen möglich sind, 
weil das Bewirkende des Abbildes Jene Ferne usw. als Eigen- 
schaft besitze, da dieselben in einem blofsen Spiegelbilde doch 
nicht zum Ausdrucke kommen können. 
Aber noch mehr! Soll die durch die Sache erzeugte 
Erkenntnis deren Gestaltetsein als Blau usw. reproduzieren, 
nun so mufs sie auch deren l)ewufstlosigkeit reproduzieren 
und somit konsequenterweise selbst bewufstlos sein. Ja, du 
möchtest gerne die Pflanze haben und willst doch ihre Wurzel 
nicht, das ist dein grofses Unglück. Oder wkst du vielleicht, 
um jenem Fehler zu entgehen, die Behauptung aufstellen, das 
Bewiifstsein reproduziere jene Bewufstlosigkeit des Objektes 
nicht; nun, dann würde sie überhaupt nicht erkannt werden; 
und so gilt von dir der Spruch, dafs, während du das eine 
aufbauest, ein anderes einstürzt. Aber vielleicht sagst du: 
«Gut! es braucht ja gar keine Auffassung der Bewufstlosig- 
«keit stattzufinden, und unser Streit ist geschlichtet; und wenn 
«wir dieselbe nicht auffassen, während wir die Gestaltung als 
«Blau usw. auffassen, so mag das daran liegen, dafs beide 
'«verschiedenartig oder doch nicht ganz o-leicharti"; sind.» 
Also die Gestaltung als Blau wird aufgefafst, und die Bewufst- 
losigkeit wird nicht aufgefafst; nun, dann kann letztere auch 
nicht der erstem als Bestimmung anhaften, oder du mufst 
annehmen, dafs es genügt eine einzige Säule aufzufassen, um 
alle drei Welten, so unbekannt sie dir bleiben, aufgefafst zu 
haben, indem sie jenen ja als Bestimmung anhaften können. 
Alle diese erkenntnistheoretischen Fragen sind von Pratä- 
pacandra und andern Nachfolgern des xVrhant in Werken wie 
dem PmntryakaDialauiäytauda (der Sonne für die Lotosblüte 
der Erkenntnistheorie) ausführlich erörtert worden; daher wir 
ihnen hier aus Furcht, dafs unser Buch zu umfangreich werde, 
nicht weiter nacho-ehen. 
■•t5^ 
Wer also nach dem höchsten Ziele des Menschen Besehren 
o^ 
trägt , der mufs nicht den Weg des Sugata einschlagen, 
sondern dem des Arhant den Vorzug geben. Was nun zu- 
236 
Die philosophischen Systeme. 
Allwissen- 
lieitdes Jina. 
2S 
nächst das Wesen des Arhant betrifft, so ist dasselbe von 
Arliaccandrasiiri im Aptanircayahinlmra (dem Schmuck des, 
der die Gewifsheit erlangt hat) folgendermafsen ausgeprägt 
worden : 
„Allwissend ist er und hat überwunden 23 
„Die Leidenschaften, ihn ehrt alle Welt, 
„Er legt die Dinge aus nach ihrem Wesen, 
,,Ein Gott ist Arhant, ja der höchste Herrgott." 
— «Aber kein Mensch, und wäre er noch so vortrefflich, 
«kann doch mit dem Prädikate allwissend eine Zulassung in 
«die Schranken des Beweisbaren erlangen, da er innerhalb 
«der fünf der Erkenntnis der Wahrheit dienenden Beweismittel 
<i(in'atyaksliam, ammiänam, rabda. npammmm, arilmpatii) nicht 
«aufzeigbar ist. Und in diesem Sinne sagen die Anhänger 
«des Tutata [d.h. des Mimänsä-Lehrers Kumärila]: 
«,,!) Zunächst wird nicht durch Wahrnehmung erkannt 
«,, Allwissenheit zur Zeit von unsres Gleichen. 
«„2) Auch zeigt sich nicht ein Teil derselben oder 
,Ein Merkmal, daraus sie zu folgern wäre. 
,3) Auch kein Gebot der Y ed aoffen bar ung 
, Nennt einen ewig alles Wissenden, 
,Und auch die Sacherklärungen des Veda 
jSind nirgends diesem Gegenstand gewidmet. 
,Auch Abhandlungen, deren Zweck ein andrer, 
,Erwähnen nirgendwo sie nebenbei. ■ 
,Auch Wiederholungsstellen zeigen nirgends 
, Allwissenheit, da sie vorher nicht vorkam. 
,Auch ist als zeitlich der Allwissende 
,Nicht Inhalt der zeitlosen Vedalehre. 
,Durch künstliche, unwahre Rede aber 
,Kann er uns doch nicht aufgeheftet werden. 
,Und wird vielleicht er durch sein eigen Wort 
,Von andern als allwissend angenommen ? 
,Was hilft, dafs zur Bewährung seiner Worte 
.Er auf sein eigen Zeugnis sich beruft ? 
,Sein Wort ist wahr, weil er allwissend ist, 
, Allwissend ist er, weil er selbst es sagt! 
,Wie kann sich beides gegenseitig stützen, 
,Wenn nicht ein andrer Grund Gewähr uns leistet? 
III. Die Arhata's oder Jaina's. 237 
«„Wer aber auf die grundlose Bezeugung 
«„Von solchen, welche nicht allwissend sind, 
«,,Ihn als «allwissend» sich empfehlen läfst, — 
«„Der weifs wohl nicht, was dieses Wort bedeutet. 
«,,4) Und ferner durch Vergleich vermöchten wir 
«„Nur dann ihn als allwissend zu erkennen, 
«,,Wenn ii'gend etwas, was ihm ähnlich sähe, 
«„Uns zu beobachten hier möglich wäre. 
«„5) [Wollt endlich die Allwissenheit des Meisters 
«„Durch Selbstverständlichkeit ihr uns erweisen, 
«„Weil so nur ein Allwissender kann lehren, 
«„So läfst sich sagen mit demselben Rechte:] 
«„Auch Buddha's Unterweisung, die er gibt 
«„Betreffend das, was Recht und Unrecht ist, 
«„Auch sie scheint unbegreiflich seinen Schülern, 
«,,Besäfse er nicht die Allwissenheit."» 
29 Hierauf erwidern wir. Wenn behauptet wurde, dafs die 
fünf der Erkenntnis der Wahrheit dienenden Beweismittel 
in dieser Frage uns im Stiche liefsen, so ist das nicht walir; 
vielmehr ist z. B. eine Folgerung vorhanden, welche das 
wirkliche Vorhandensein jener Allwissenheit beweist (lies: 
tairsadbhdia-Cwedakasya). Nämlich irgendeine Seele wird alle 
Dinge offenbaren müssen, vorausgesetzt, dafs es in ihrer 
Natur liegt dieselben zu erkennen, wofern sie die Überzeugung 24 
gewährt, dafs die Hindernisse des Erkennens beseitigt sind. 
Beweis: alles, vorausgesetzt, dafs es in seiner Natur liegt 
etwas zu erkennen, mufs, wenn es die Überzeugung gewährt, 
dafs die Hindernisse des Erkennens beseitigt sind, die be- 
treffende Sache offenbaren; wie z. B. die Erkenntnis durch 
das Sehen, vorausgesetzt, dafs die Hindernisse der Augen- 
krankheit usw. beseitigt sind, die Gestalten off'enbaren mafs. 
Nun gibt es eine gewisse Seele, welche, immer vorausgesetzt, 
dafs es in ihrer Natur liegt, die Dinge zu erkennen, die 
Überzeugung gewährt, dafs die Hindernisse des Erkennens 
beseitigt sind. Folglich mufs diese Seele alle Dinge zur Offen- 
barung bringen. — Was zunächst unsere Voraussetzung 
betrifft, dafs es in der Natur der Seele liege, den ganzen 
Inbegriff' aller Dinge zu erkennen, so können wir diese Voraus- 
238 Die philosophischen Systeme. 
Setzung beweisen. Denn erstlich folgt es aus ihrer Kraft, 
Gesetze des Handelns zu geben, da dieselbe nicht möglich 
sein würde ohne die gewonnene Erkenntnis aller Zwecke. 
Zweitens folgt es auch daraus, dafs wir in unserer Lehre den 
alle Existenz durchdringenden Lehrsatz aufstellen können, 
dafs alles seinem Wesen nach die Relativität besitzt, weil es 
Existenz besitzt. [Aber, da der zweite Grund die Anerkennung 
unserer Lehre voraussetzt, so halten wir uns, um euch An- 
hänger der Mimansä zu widerlegen, an den ersten Grund, 
welcher aus euerm eigenen Lehrgebäude geschöpft ist.] 
Nämlich die Vorschrift des Handelns betrifft, und erkennt 
folglich, alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige, alles 
Feine, Verborgene und Entlegene; wer in dieser Weise, wie 
die Lehrer der Zeremonien -Mimänsa es tun, eine auf allen 
gebotenen und verbotenen Wandel bezügliche Kenntnis der 
Objekte aller Zwecke voraussetzt, der beweist damit, dafs er 
der Seele die Naturfähigkeit zuerkennt, den Inbegriff aller 
Dinge zu erkennen. — Ferner aber ist die Möglichkeit nicht 
zu bestreiten, dafs die der Erkenntnis aller Dinge entgegen- 
stehenden Hindernisse beseitigt werden können, da wir selbst 
in der Dreiheit der vollkommenen Erkenntnis usw. einen 
besondern Apparat besitzen, welcher die Beseitigung jener 
Hindernisse zu bewirken imstande ist. — Mit dieser Scheuche 
kann man dann auch schüchternere Angriffs versuche ver- 
scheuchen. 
Man könnte uns entgegenhalten: «Hir sagtet, dafs ver- 
«möge der Vernichtung der Hindernisse eine alles befassende, 
«deutliche und im vollen Sinne anschauliche Erkenntnis ent- 
((Stehe; dieses aber ist ungereimt, da ein allwissendes Wesen, 
«weil es [seinem Wesen nach und folglich] von jeher erlöst 
«sein müfste, jene Hindernisse gar nicht an sich haben kann.» 
— Aber dem ist nicht so, weil ein von jeher Erlöster über- 
haupt ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der Allwissende kann 
nicht ein von jeher Erlöster sein, eben weil er so gut wie 
alle andern Erlösten, erlöst worden ist. Von einem Erlösten 
nämlich kann man nur reden, sofern es einen Gebundenen 
gibt; wer nie ein Gebundener war, wie z. B. der Raum, kann 
auch kein Erlöster sein. — «Aber ein anfangloses Wesen 
III. Die Ärhata's oder Jalna's. 239 
«läl'st sich (loch daraus erweisen, dal's es für die Reihenfolge Poion.iu 
50 «der geschallenen Dinge, wie die Erde usw., einen Schö]>fer T^hcumus! 
«sehen mufs. Denn die Erde usw. setzt doch eine bewirkende 
«Ursache voraus, weil sie, ebenso wie z. B. der Krug, eine 
«Wirkung sein mufs.» — Auch das ist nicht durchschlagend, 
weil es sich eben nicht beweisen läl'st, dafs die Welt eine 
Wirkung sei. Denn ihr könnt nicht behaupten, dafs sie es 
sein müsse, weil sie aus Teilen zusammengesetzt sei, da diese 
Behauptung sich in folgendem Polylemmanetze verfängt. 
Nämlich wenn ihr behauptet, das Ganze bestehe aus den 
Teilen, soll dieses 1. eine \'erbindung des Ganzen mit den 
Teilen oder 2. eine Inhärenz des Ganzen in den Teilen oder 
3. ein Entstandensein des Ganzen aus den Teilen oder 4. eine 
Inhärenz des Ganzen in den Teilen als Substanz oder 5. das 
Objektsein der die Teile enthaltenden Vorstellung bedeuten? 
Alle diese Annahmen sind unzulässig aus folgenden ( iründen. 
1. Das Entstaudensein des Ganzen läfst sich nicht daraus 
folgern, dafs es mit den Teilen verbunden ist, w^eil dies nicht 
allgemein gilt, indem z. B. der Äther (Raum) zwar mit den 
Dingen verbunden, darum aber doch nicht entstanden ist; 
2. auch nicht daraus, dafs das (ianze den Teilen inhäriert, 
indem dieses scheitert an der Allgemeinheit (sämänyani) und 
ähnlichen Kategorien, welche den Dingen inhärieren ohne doch 
entstanden zu sein: 3. auch nicht daraus, dafs es aus den 
Teilen entstanden ist, weil das eben ist, was wir beweisen 
wollten; 4. auch nicht daraus, dafs das Ganze den Teilen als 
Substanz inhäriert, weil ihr damit nicht durchschlüpft ohne 
mit dem Halse an einem der beiden Riegelhaken des folgenden 
Dilemmas hängen zu bleiben. Soll nämlich die Inhärenz 
in den Teilen als Substanz eine Substanzialität bedeuten, 
welche blofs mit der Inhärenz eine Verbindung eingeht, oder 
soll damit ein Substanzsein, welches einem andern inhäriert, 
[als Grund der Inhärenz] bezeichnet werden? Ersteres schei- 
tert wiederum z. B. an dem Äther (Raum), indem dieser 
auch eine Substanz ist und doch seinen Qualitäten inhäriert. 
Letzteres hingegen ist wiederum das, w^as eben zu beweisen 
ist. Denn eben was ihr als „jenes andere" bezeichnet, das 
ist die Ursache der Inhärenz und somit die Summe der Teile, 
240 I^ic philosophischen Systeme. 
und wie aus diesen das Ganze entsteht dadurch, dafs es 
ihnen inhärierend wird, das eben solltet ihr uns begreiflich 
machen. Wir sagen dies nur, sofern wir uns eurer Meinung 
akkommodieren , denn in Wahrheit gibt es überhaupt keine 
Inhärenz, da kein Beweis dafür zu erbringen ist; 5. auch nicht 
daraus, dafs das Ganze das Objekt der die Teile enthaltenden 
Vorstellung sei, indem dies nicht allgemein gilt, z. B. nicht 
von der Seele, welche zwar das Objekt der die Teile ent- 
haltenden Vorstellung [von ihren verschiedenen Qualitäten], 
darum aber doch nicht als Wirkung entstanden ist. Ihr könnt 
aber auch nicht annehmen, dafs die Seele in Wahrheit ohne 
Teile sei, und dafs sie nur vermöge ihrer Verbindung mit den 
aus Teilen bestehenden Dingen in uneigentlichem Sinne das 
Objekt der die Teile enthaltenden Vorstellung genannt werde: 
denn wäre die Seele wirklich ohne Teile, wie z. B. das Atom, 
so könnte sie nicht allgegenwärtig sein. 
Ferner: ist es ein einziger Schöpfer, den ihr beweisen 
wollt, oder ist derselbe von andern Ursachen nicht unabhängig 
(lies : asvatantra) ? Im erstem Falle setzt ihr euch in Wider- 
spruch mit der Erfahrung, welche zeigt, dafs z. B. ein Palast oder 
dergleichen das Werk vieler Menschen, des Baumeisters usw., 
zu sein pflegt. Im andern Falle ist zu bemerken, dafs, wenn, 
wie ihr behauptet, die Entstehung der ganzen Welt von ihm 
herrührt, andere Ursachen anzunehmen überflüssig ist. Darum 
heifst es in der Vita-räga-stuÜ (Lobpreis des von Leidenschaft 
Befreiten, d. h. des Arhant) : 
„Dafs es uui" einen ewigen Weltenschöpfer, 
„Allgegenwärtig, frei und wahrhaft gebe, 
yi „Ist eitle Lüge, die nur solche blendet, 
„Die deine Unterweisung nicht genossen," 
Und an einer andern Stelle heifst es : 
„Wenn einen Schöpfer es aus freiem Willen gäbe, 
„Dann liefse sich auch ohne Stroh die Matte schaffen. 
,,Was kannst du schafi'en oder auch die Zimmerleute ? 
„Und doch schuf peremptorisch diese Welt ein Geist!" 
Edelsteine. 
111. Die Ärhata's oder Jaina's. 241 
Es ist somit richtig, wenn wir oben behaupteten, dafs, 
indem kraft der schon erwähnten Dreiheit d(T Ursachen die 
Hindernisse zunichte werden, die Allwissenheit sich einstellt. 
Man darf aber nicht meinen, als wenn jene Dreiheit der voll- 
kommenen Schauung usw. nicht möglich sei, weil doch kein 
anderer, der sie lehren könne, vorhanden sei; denn jene Er- 
kenntnis aller Dinge mittels der Dreiheit entspringt aus der 
von einem frühern Allwissenden überkommenen Lehre. Wenn 
hierbei der Allwissende auf der Dreiheit, und die Dreiheit 
wiederum auf dem Allwissenden beruht, so ist hierin kein 
Zirkelschlufs oder ähnlicher Fehler zu linden, denn wir selbst 
lehren, dafs die Keihe der auf einander folgenden und einander 
bedingenden Lehren und Allwissenden ähnlich wie bei Samen 
und Pflanze eine anfanglose ist. Doch genug davon. 
Was jene unter dem Namen ,yder drei Edelsteine" be- Die drei 
kannte Dreiheit der vollkommenen Schauung usw. betrifft, so 
wird dieselbe in dem Paratnägamasära (dem Inbegriff der 
höchsten l'berlieferung), welcher hauptsächlich eine Samm- 
lung der Aussprüche des Arhant enthält, mit den Worten 
geschildert: „Vollkommene Schauung, vollkommene 
Erkenntnis, vollkommener Wandel sind der Weg zur 
Erlösung." Dies wird von Yogadeva folgen dermafsen ausgelegt: 
A. Die vollkommene Schauung. samyag- 
darganam. 
Wenn so wie der Begriff der Seele usw. in Wirklichkeit 
ist, von einem Arhant der Begriff dieser Prinzipien dargelegt 
worden ist, und man dieser Darlegung einen von entgegen- 
gesetzten Neigungen freien und keines Wechsels mehr fähigen 
Glauben schenkt, so heifst dieser Glaube das vollkommene 
Schauen. Und so sagt auch das Taftvärfha-sntram : „Der die 
Prinzipien als Inhalt habende Glaube ist die vollkommene 
Schauung." Und anderweit heifst es: 
„Die Lust an den Prinzipien, wie der Jina sie 26 
,, Verkündigte, heifst der vollkommene Glaube; 
,, Entstellen kann er aus Naturanlage, 
„Wie auch durch Übermittlung eines Lehrers." 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, iii. IG 
242 Die pliilosophischen Systeme. 
Unter „Naturanlage" ist das zu verstehen, was der Seele 
ohne fremde Unterweisung eigen ist; hingegen „die Über- 
mittlung" betrifft diejenige Erkenntnis, welche durch fremde 
Unterweisung in Gestalt von Erläuterung usw. erzeugt wird. 
samyar,- B. Die vollkommcne Erkenntnis. 
jndnain. 
Wenn die Kategorien der Seele usw. in der Beschaffen- 
32 heit, wie sie wirklich bestehen, ungestört durch Verblendung 
und Zweifel erfafst werden, so ist das die vollkommene Er- 
kenntnis. Denn es halfst: 
„Wenn die Prinzipien, wie in Wii'klichkeit 
,,Sie sind, sei's in der Kürze, sei's ausführlich, 
,, Erkannt sind worden, so bezeichnen dies 
„Die Weisen als vollkommene Erkenntnis." 
Diese Erkenntnis ist fünffach, indem sie zerfällt in: Ver- 
ständnis, Offenbarheit, Bestimmtheit, Seelenaus- 
tausch und Absolutheit. Darum heifst es: „Verständnis, 
Offenbarheit, Bestimmtheit, Seelenaustausch und Absolutheit 
bilden das Erkennen." Ihre Bedeutung ist wie folgt. Das 
Verständnis (mati) ist dasjenige, wodurch man, nach voll- 
brachter Vernichtung der Hindernisse des Erkennens, mit 
Sinnen und Verstand tätig die Dinge versteht. — Offenbar- 
lieit (rridam) ist die nach vollbrachter Vernichtung der 
Hindernisse des Erkennens mittels des Verständnisses erzeugte 
offenbare Erkenntnis. — Bestimmtheit (avadlii) ist das 
auf Grund der vollbrachten Vernichtung dessen, was durch 
die Eigenschaften der unvollkommenen Erkenntnis usw. be- 
dingt wird, auf ein bestimmtes Objekt gerichtete Erkennen. — 
Der Seelenaustausch (manaliparyäya) ist das nach voll- 
brachter Vernichtung des Neidesschleiers als eines Hinder- 
nisses des Erkennens klare und deutliche Erkennen dessen, 
was die Seele eines andern bewegt. — Die Absolutheit 
(liev(üam) ist die mit anderer Erkenntnis unvermischte Er- 
kenntnis desjenigen Wesens, um dessen willen die Büfser die 
besondern Werke der Bufse betreiben. Hierbei erfolgt zuerst 
das Glauben, sodann aber das Schauen. Darum heifst es: 
1]1. Die Ärhata's oder Jaina's. 243 
,,T)ie sicli und andere durchleuchtende 
„Erkenntnis ist unwiderlegl)ar Richtmafs: 
„Sie ist ein Schauen oder auch ein Glauben, 
„Zwiefach nach der Gewifsheit des Erkannten." 
Was im übris-eii die l'ntembteiliiiio;*'!! bei dieser Einteiluna; 
betritVt, so sind dieselben des weitem in dem erwähnten Lehr- 
kanon selbst naehzuselien. 
C. Der vollkommene Wandel. 
Wenn in seinem Bemühen, das die Seelen Wanderung be- 
dingende ^^'e^k auszurotten, der mit Glauben und Erkenntnis 
Ausgerüstete alle ein Verfallen ins Böse bewirkenden Taten 
meidet, so heifst dies der vollkommene Wandel. Ausführlieh 
schildert denselben der Arhant wie folgt: 
„Dafs alle Werke niedrigen Antriebes 
„Man stets vermeide, heifst der gute Wandel. 
,, Sofern er das Nichttöten usw. 
„Befafst, zerlegt er sich in fünf Gelübde: 
„Sie sind: Nichttöten, Wahrhaftsein, Nicht stehlen, 
„Enthaltsamkeit und auf Besitz Yerzichtung. 
„Dafs man sich hütet aus Fahrlässigkeit 
„Irgendein lebend Wesen umzubringen, 
,,Es sei beweglich oder unbeweglich, 
,,Dies nennt man das Gelübde des Nichttöten s. 
„Dafs freundlich, heilsam sei und w'ahr die Rede, 
„Darin besteht des Wahrhaftseins Gelübde. 
,,Das unfreundliche, ungütige Wort 
„Kann, wenn auch wahr, doch nicht für wahrhaft gelten. 
„Dafs man nicht nimmt, was einem nicht geschenkt ward, 
„Macht das Gelübde des Nichtstehlens aus. 
„Besitz ist Leben in den Aufsendingen; 
„Wer ihn uns raubt, schlägt unser Leben nieder. 
„Dafs man bei Himmels- und bei Fleischeslust 
„Auf Tun, Erlauben und Vollbringenlassen 
„Verzichtet in Gedanken, Wort und Werken, 
„Macht aus achtzehnfach die Enthaltsamkeit. 
„Dafs man nicht blind nach dem, was nicht ist, trachtet, 
„Ist erst die völlige Besitzverzichtung: 
16* 
Samyak- 
caritram. 
244 Diß philosophischen Systeme. 
,,Denn auch das, was nicht ist, vermag den Geist, 
,,Wenn blind wir nach ihm trachten, zu verwirren. 
,,Dies ist die Summa der fünf Hauptgelübde, 
,,Die, wenn sie durch die fünf Verwirklichungen 
,,Der Reihe nach fünffach verwirklicht werden, 
„Uns einen ewigen Platz im Himmel sichern." 
Auch diese fünf Verwirklichungen werden des weitern aus- 
führhch durchgegangen, wobei es z. B. [mit Bezug auf das 
zweite Gelübde] heifst: 
„Wer los sich sagt von Spott, Begierde, Furcht 
„Und Zorn und dabei ohne Unterlafs 
,,Vor Augen hat des Wahrhaftseins Gelübde, 
,,Wird es verwirklichen auch durch die Rede." 
Das also sind die drei Edelsteine des vollkommenen 
Schauens, Erkennens und Wandeins, welche nur in ihrer Ver- 
einigung, nicht aber vereinzelt die Erlösung vollbringen, ähn- 
lich wie die Kenntnis eines Elixiers, der Glaube daran und 
die Anwendung desselben [wir lesen mit Cowell: rasäyana- 
jnäna-graddJiä-avacäranäni] nur zusammengenommen, nicht aber 
vereinzelt, die Wirkung des Elixiers vollbringen. 
jiva und Bei dcu Jaina's werden zunächst in summarischer Weise 
unrNieht- zwei Prinzipien aufgestellt unter den Namen Seele und Nicht- 
^®®^®' seele, wobei die Seele als wesentlich bewufst, die Nichtseele 
als wesentlich unbewufst gilt. Daher sagt Padmauandin: 
„Die beiden obersten Prinzipien sind 
,, Geist und Nichtgeist, wer sie trennt, der hat Einsicht, 
,,Denn er begehrt, was zu begehren ist, 
,,Und was zu meiden ist, weifs er zu meiden. 
34 „Zu meiden ist die Leidenschaft des Handelns 
,,Und ihre Wirkung, als das Reich des Toren. 
,,Was zu begehren, ist das höchste Licht, 
„Mit Energie als höchstem Ideale." 
Die ,, Energie" besteht in der intellektuellen Anschauung, 
welche die Umwandlung in die angeborene Geistwesenheit 
III. I>ie Arhata's oder Jaina's. 240 
sich zu einen macht. Solern jedoch die Seele infolge der 
auf gegenseitiii'er Lokalisation beruhenden Bindung an die 
Räumlichkeit mit ihrem empirischen Handeln eins geworden 
ist, erscheint diese Energie als das den Übergang in ein 
Anderssein bewirkende Ideal. Nämlich die Geistigkeit ist 2s 
allen Seelen ohne Ausnahme gemeinsam; und wenn man daher 
auch, — sofern, kraft der Bin-uhigung, Vernichtung und Ver- 
nichtung mit Beruhigung verbunden, die Seele zu einer be- 
ruhigten, vernichtungbesitzenden, Vernichtung- und beruhigung- 
besitzenden wird, und sofern sie kraft des Emporstrebens [in 
der Seelenwanderung] zu einer anders als befleckt gestalteten 
wird, — von einer umgewandelten Seele und einer umwandel- 
baren Seele zu reden sich genötigt sieht, so bleibt doch jene 
Geistigkeit ihre eigene Natur. Daher sagt VäcaJca Acärya (der 
doctor mellitluus): „Der beruhigungsreiche und vernich- 
tungsreiche Zustand und der gemischte sind die Exi- 
stenz der Seele, sowie auch der aufstrebende und 
wandelhafte." Derjenige Zustand der Seele, welcher ent- 
steht, wenn eine kein Aufsteigen mehr in der Seelenwanderung 
verschaffende Beruhigung von den A\'erken eintritt, heifst der 
beruhigungsreiche, vergleichbar der Klärung des Wassers, 
nachdem der dasselbe trübende Schlamm durch Zusetzung von 
Kataka-Nufs fStrychnus potatorum) und ähnlichen Stoffen zu 
Boden geschlagen worden ist. Der Zustand, welcher entsteht, 
wenn die Vernichtung der Werke vollbracht worden ist, heifst 
der vernichtungsreiche, wie z. B. die Erlösung. Der beider 
Wesen an sich tragende Zustand heifst der gemischte, wie 
z. B. das zur Hälfte Geklärtsein des Wassers. [Nach diesem 
Beispiele scheint der dritte, gemischte Zustand in einer Mischung 
des ersten und zweiten mit dem vierten und fünften zu be- 
stehen, während er oben als eine Mischung des ersten mit dem 
zweiten erschien.) Der Zustand, welcher durch das Aufstreben 
in der Seelenwanderung mittels der Werke entsteht, heifst der 
aufstrebende. Der die Beruhigung von den Werken usw. 
noch nicht kennende, der Seele von Natur an eigene Zustand 
der Geistigkeit usw. heifst der wand el hafte. In diesen Zu- 
ständen liegt die „Existenz" der je nach Umständen glück- 
lichen oder unglücklichen Seele, d. h. ihre Wesenheit, ihre 
246 Die philosophischen Systeme. 
Natiirbeschatfenheit beschlossen; das ist der Sinn des obigen 
Sütram. Darum lieifst es in dem Svarapa-sainbodhanam (der 
Belehrung über die Naturbeschaffenheit) : 
„Getrennt vom Wissen und doch nicht getrennt, 
„Getrennt und nicht getrennt gewissermafsen,. 
„Ursprünglich Wissen und letztendlich Wissen, — 
,,So wird die Seele in uns hier beschrieben." 
— «Aber von den Zuständen des Getrenntseins und Nicht- 
«getrenntseins, welche sich gegenseitig ausschliefsen, kann 
«doch nur der eine oder andere der wirkliche sein, und es 
«geht nicht, der Seele beide als wesentlich zuzuerkennen.» — 
Diese Einwendung trilit nicht zu, weil eurer Bestreitung der 
35 Beweis fehlt. Denn nur die Wahrnehmung, dafs dem nicht 
so sei, würde einen triftigen Einwurf bilden, eine solche aber 
gibt es nicht; dafs vielmehr alle Substanzen aus mancherlei 
Essenzen bestehen, ist nach unserer Relativitätstheorie eine 
ausgemachte Sache. Doch genug davon. 
Die fünf Andere Anhänger dieser Schule wiederum lehren eine 
Enti- . . - 
täten, andere Einteilung als die in Seele und Nichtseele, indem sie 
die fünf Entitäten (astiJcaya) der Seele, des Raumes, des 
Verdienstes, des NichtVerdienstes und der Korpuskeln 
unterscheiden. Sofern diese fünf Prinzipien mit den drei Zeiten 
[Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft] in Verbindung treten, 
kommt ihnen ein Bestehen zu, und sofern sie ähnlich wie der 
Leib an verschiedene Ortliehkeiten gebunden sind, kommt 
ihnen ein Körper zu. 
1. Seele. Was uun zunäclist 1. die Seelen betrifft, so gibt es zwei 
Arten derselben, solche, welche wandern und solche, welche 
erlöst sind. Wandernde Seelen sind diejenigen, welche dem 
Gesetze unterhegen, aus einem Dasein immer in ein anderes 
überzugehen. Dieselben sind von zweierlei Art, verstandhafte 29 
und verstandlose; die verstandhaften sind solche, welche Be- 
wufstsein, d. h. die Fähigkeit des Lernens, Handelns, Redens 
und Nehmens besitzen; die, welche dasselbe entbehren, heifsen 
die verstandlosen. Diese verstandlosen sind von zweierlei 
Art, je nachdem sie beweglich oder unbeweglich sind. Die 
beweglichen sind solche, welche nur zwei Sinne, wie die 
III. Die Arhatii's mhn- Jaina's. 247 
Sclialtioio, \\'ürmer usw., oder deren mehrere haben, und zer- 
fallen [je nachdem sie zwei, drei, vier oder fünf Sinne habenj 
in vier Klassen; die unbeweglichen Seelen sind Erde, 
Wasser, Feuer, lAift luid Bäume. Dieses ist jedoch so zu 
verstehen: Der Stral'senstaub ist Erde; die aus ihm bestehen- 
den Backsteine usw. sind Erdkörper; diejenige Seele [der 
Pflanzen] , welche aus dem Erdstofi' ihren Körper gebildet hat, 
ist eine erd verkörperte, während diejenige Seele, welche [nach 
deren Tode( den Erdstoff als Körper an sich nehmen wird, 
die Erdseele heifst. Dieselbe vierfache Unterscheidung ist 
auch bei dem Wasser usw. zu machen. Hierbei sind, um bei 
der Erde als Beispiel stehen zu bleiben, nur diejenigen als 
unbewegliche Seelen zu rechnen, welche [als Pflanzen] den 
Erdstotr usw. als Körper angenommen haben, sowie auch die, 
welche ihn [nach deren Tode] wieder an sich reifsen wird, 
nicht aber z. B. der Erdstoff und der Erdkörper, weil nur jene 
Seelen sind. Sie sind unbeweglich und auf den einzigen Sinn 
des Gefühles beschränkt. — Unter den erlösten Seelen sind 
solche zu verstehen, welche nicht mehr in eine andere Existenz 
einzugehen brauchen. 
Nunmehr von den Entitäten 2. des Verdienstes, 3. des 2—4. vcr- 
NichtVerdienstes und 4. des Raumes; diese drei besitzen [im xichtve'r- 
Gegensatze zu den Seelen] Einheit und Werklosigkeit und KaJJm! 
sind die Ursache der Ortsveränderung. Die Rolle des Ver- 
dienstes und NichtVerdienstes ist bekannt; wenn nämlich in 
dem für den Ausblick unbegrenzten Räume, welcher den Namen 
Weltraum führt, [die individuellen Wesen] allerwärts eines 
Feststehens (wie die Pflanzen] oder einer Bewegung und Ruhe 
[wie die Tiere und Menschen] habhaft werden können, so 
beruht dies auf der Mitwirkung des [moralischen] Verdienstes 
und NichtVerdienstes, daher auch aus jeder Veränderung sich 
auf das Vorhandensein der Entität des Verdienstes schliefsen 
Jäfst, und aus jedem Beharren auf das Vorhandensein der 
Entität des NichtVerdienstes [d. h. jede Veränderung des Zu- 
standes ist eine verdiente durch die Werke in einer frühem 
Geburt]. — Wenn ferner in den Ort. welchen das eine Wesen 
36 einnimmt, ein anderes Wesen eingehen und ihn ausfüllen 
kann, so ist dieses eine Wii'kung des Raumes. 
248 Die philosopliischen Systeme. 
5. Kor- 5. Die Korpuskeln sind fühlbar, schmeckbar und sicht- 
^"^ ^^' bar; dieselben sind von zweierlei Art, nämlich Atome und 
Komplexe. Die Atome lassen sich nicht erfahren. Gebilde 
aus zwei oder mehr Atomen heifsen Komplexe. Durch Teilung 
der aus zwei oder mehrern Atomen bestehenden Komplexe 
kann zuletzt das Atom entstehen; durch Aggregation der 
Atome usw. entsteht das Doppelatom usw.; mitunter kann ein 
Komplex auch dadurch entstehen, dafs gleichzeitig Teilung 
und Aggregation stattfinden. Daher der Name xmägdla (Kor- 
puskeln), weil dieselben die Zunahme bedingen (pürmjmüi) 
und in Abgang kommen (galanti). 
6. Zeit. 6, Was weiter die Zeit anbetrifft, so kann dieselbe, da 
sie keine Eaumerfüllung besitzt, zwar nicht eine Entität ge- 
nannt werden, jedoch ist dieselbe eine Substanz, da sie die 
Merkmale einer solchen an sich trägt. Denn es heifst : „Sub- 
stanz ist dasjenige, w^as Wandelbarkeit der Qualitäten besitzt." 
Die Qualitäten inhärieren der Substanz und sind daher selbst 
qualitätlos. Solche Qualitäten sind z. B. an der Seele die all- 
gemeinen Bestimmungen des Erkenntnisseins usw., an dem 
Korpuskel die allgemeinen Beschaffenheiten des Gestaltseins 
usw., an den Materien des Verdienstes, Nichtverdienstes und 
Raumes beziehungsweise die allgemeinen Eigenschaften Ur- 
sache zu sein der Veränderung, des Beharrens und des Er- 
füllens. Eine solche Substanz nun erfährt an sich in der 
erwähnten Weise [d. h. in betreff ihrer Qualitäten] ein Werden, 
nämlich ein Entstehen, ein bestimmtes Dasein und dessen so 
Änderung oder Umwandlung, daher diese Prozesse Umwand- 
lungen genannt werden. Solche sind an der Seele das Er- 
kennen, z. B. des Kruges, die Lust, die Anfechtungen usw., 
an dem Korpuskel die Gestaltung als Tonklumpen, Krug usw., 
an dem Verdienst usw. die bestimmte Ortsveränderung usw. 
Somit steht es fest, dafs es im ganzen sechs Sub- 
stanzen gibt. 
Sieben Einige hinwiederum nehmen sieben Prinzipien an; daher 
rinzipien. ^^ i^eifst : „Soclc, Niclitscele, Hinströmung, Bindung, 
Eindämmung, Aufreibung und Erlösung sind die Prin- 
zipien. 
I.Seele. Über 1. Seele und 2. Nichtseele haben wir gesprochen. 
2. Nicht- ^ ^ 
Seele. 
111. Die Arhata's oder Jaina's. 249 
3. NuniiU'hr also nou der llinströmung. Woiin iiifol;ne x Kin- 
der Erregung des groben usw. Leibes usw. die Seele erregt ' '"™""k- 
wird, so heilst diese durch das Wort Neigung (i/ocfa) bezeicli- 
nete Erregung die llinströmung (dsrava). Wie nämlich ein 
unter Wasser l)etindliches Ventil, weil es die Ursache des 
Ausströraens der Flüssigkeit ist, llinströmung heifst, so wird, 
wenn durch den Kanal der Neigung das Werk auf uns ein- 
strömt, diese Neigung selbst llinströmung genannt. Denn 
gleichwie ein feuchtes Gewand überall den vom Winde an- 
gewehten Staub annimmt, so ergreift die von dem ^\'asse^ der 
Leidenschaft (kashdi/a) feuchte Seele das von der Neigung 
angewehte Werk mit allen Teilen [in welchen sie verkörpert 
ist); oder wie, wenn eine glühende Eisenkugel ins Wasser 
geworfen wird, dieselbe von allen Seiten die Nässe annimmt? 
so nimmt die von Leidenschaft erhitzte Seele das von der 
37 Neigung herbeigeführte Werk überall an. Die Leidenschaft 
lieifst so, weil sie die Seele leiden macht, schädigt, auf einen 
Übeln Weg bringt, und zerfällt in Zorn, Hochmut, Wahn und 
Habgier. Die Hinströmung ist zweifach und zerfällt in edle 
und unedle, indem z, B. das Nichttöten eine edle Werkneigung, 
das wahrhafte, malsvolle und wohlwollende Reden eine edle 
Wortneigung ist. Alle diese Einteilungen und Unterein- 
teilungen der Hinströmung, sofern sie eine Neigung zum Tun 
in Werken, Worten und Gedanken ist, sofern es eine edle 
llmströmung zum Guten und eine unedle zum Bösen gibt usw., 
ist in einer Handvoll Sütra's in fafslicher Weise dargelegt 
worden. — Einige wiederum meinen, dafs unter Hinströmung 
die Tätigkeit der Sinnesorgane zu verstehen sei, sofern diese 
den Geist zu den Sinnendingen hinströmen lasse, indem es 
das Licht des Geistes sei, welches durch die Pforte der Sinne 
zu den Dingen hinströme und sich dadurch in die Erkenntnis- 
form der Gestalt usw. umwandle. 
4. Wenn auf (irund der falsch(?n Erkenntnis, der Nicht- 4. Bindunsf. 
beruhigung, der Unbesonnenheit und der Leidenschaft, sowie 
auf Grund der Neigung, von der Seele die in jeden Teil des 
feinen Leibes einzudringen fähigen, den unendlichen Raum 
ausfüllenden Korpuskeln, welche die Verbindung der Seele 
mit den Werken vermitteln , an sich gerissen und ihrem 
250 I^ie philosophischen Systeme. 
Bestände eingeflochten werden, so ist das die Bindung. Damm 
heilst es: „Wenn die Seele zufolge ihrer Behaftung mit der 
Leidenschaft die das Entstehen der Werke vermittelnden Kor- 
puskeln an sich reifst, so ist das die Bindung." Wenn hier 
nur die Leidenschaft erwähnt wird, so sind darunter doch alle 
die andern Ursachen der Bindung mitzuverstehen. Als solche 
Ursachen der Bindung bezeichnet der Väcahi Acärya folgende : 
„Die falsche Erkenntnis, die Nichtberuhigung, die Unbesonnen- 
heit und die Leidenschaft", so sagt er, „sind die Ursachen 
der Bindung." Die falsche Erkenntnis ist zweifach; die eine 
besteht in dem zufolge falscher Werke die Unterweisung si 
durch andere ablehnenden Unglauben an die Prinzipien und 
ist eine angeborene; die andere entsteht aus Unterweisung 
durch andere. Die Nichtberuhigung besteht in der Nicht- 
bezähmung der sechs aus den sechs Elementen der Erde usw. 
entspringenden Sinnesorgane. Die Unbesonnenheit besteht 
in dem Nichtdurchhalten in den fünf Gesammeltheiten und 
der Behutsamkeit. Die Leidenschaft besteht in Zorn, Hoch- 
mut, Wahn und Habgier. Hierbei sind die Leidenschaft und 
was vor ihr genannt wurde die Ursachen der Bindung durch 
Beharren und durch Kraft, während hingegen die Neigung die 
Ursache der Bindung durch Natur und durch Ort ist. Näm- 
lich die ganze Bindung ist, wie gelehrt wird, vierfach, sofern 
ihre Modi die Natur, das Beharren, die Kraft und der Ort 
sind. — a) Die Bindung durch Natur. Gleichwie die Natur- 
beschatfenheit der Nimba-Frucht und des Zuckersaftes in der 
Bitterkeit und Süfsigkeit besteht, so besteht die Naturbeschaffen- 
38 heit des Verhüllungsartigen darin, dafs es 1) die Erkenntnis 
und 2) das Schauen verhüllt, wie die Wolke den Sonnen- 
glanz verdeckt, oder wie der Topf den Glanz der Lampe 
verbirgt; 3) die Naturbesehafienheit des vorhandenen oder 
nicht vorhandenen Emplindungsartigen darin, dafs es Lust und 
Schmerz hervorbringt wie das Ablecken des Honigs auf der 
Schneide des Schwertes; 4) die des Verblendungsartigen in 
betreff des Schauens darin, dafs es den Unglauben an den 
Inhalt der Prinzipien bewirkt, gleichwie der Umgang mit 
bösen Menschen, und des Verblendungsartigen in betreff des 
Wandels darin, dafs es Zügellosigkeit bewirkt, wie der Rausch 
111. Die Arhata's oder .Taina's. 251 
des Rauschtrankcs ; öl dio des Lebens darin, dafs sie die 
Hindung in dem Leibe bewirkt, wie das Netz; G) die des 
Namens darin, dais sie mannio-fache Nami'n bewirkt, wie der 
Maler [die Uilder]: 7) die der Herkunft darin, dal's sie Hohes 
und Niedrig(^s bewirkt, wie der Töpfer; 8) endlicli besteht die 
Naturbeschatfenheit des Hemmens darin, dafs es der Frei- 
giebigkeit usw\ Hindernisse bereitet, wie der Schatzaufseher. 
Dieses ist die Bindung durch die Natur mit ihren acht Arten, 
welche mitsamt ihren Unterabteilungen je nach Wesen und 
Wirken die A\'urzelnaturen heifsen. Darum sagt UmasväU, 
der V('icaJia Acdnja: „Die erste [d. h. die Bindung durch die 
Natur] besteht aus Verhüllung des Erkennens und Schauens, 
Emplindungsartigem, Verblendungsartigern, Leben, Namen, Her- 
kunft und Hemmen", und auch ihre Unterabteilungen befafst 
er mit den Worten: „Fünf, neun, achtundzwanzig, vier, zwei, 
vierzig, zwei und fünfzehn sind ihre Unterarten der Reihe 
nach." Aber das alles ist ja von Mih/änanda und andern 
dargelegt worden, daher wir es hier, um nicht weitschweifig 
zu werden, übergehen. — bj Die Bindung durch das Be- 
harren. Gleichw'ie bei der Milch der Ziegen, Kühe oder Büttel 
eine bestimmte Zeit lang das Beharren im Nichtaufgeben der 
süfsen Beschafienheit stattfindet, so findet unter den W^u'zel- 
naturen, dem Verhüllen des Erkennens usw., bei den ersten 
dreien und bei dem Hemmen ein Beharren in dem Nichtauf- 
geben ihrer eigenen Beschafienheit statt, w^elches, wenn man 
die höchste Dauer auf dreifsig Ozeanmafse mal zehn Millionen 
mal zehn Millionen berechnet, über diese Zeitdauer noch hinaus- 
besteht (wir lesen mit Cowell : ity-cuhi-ulda-liäläd-m'dlivam api). 
— c) Die Bindung durch di(^ Kraft. Wie bei der Milch der 
Ziegen. Kühe oder Büffel je nach ihrer schärfern oder mildern 
Natur eine besondere Befähigung besteht, bestimmte Wirkungen 
hervorzubringen, welche Kraft heifst, so besteht auch bei den 
wirkenden Korpuskeln ihre Kraft in der besondern Fähigkeit, 
die ihnen entsprechenden Wirkungen hervorzubringen. — 
d) Die Bindung durch den Ort endlich besteht darin, dafs 
die den unendlichen Raum ausfüllenden Korpuskel-Komplexe, 
indem sie sich zu dem Sein der Werke umwandeln, in den 
Ort der Seele eindringen. 
252 Die philosophischen Systeme. 
5. Ein- 5. Die Eindämmung, welche der Hinströmung entgegen- 
ammung. g^^j^^^ ^^^ duicli welclie dus Werk von seinem Eindringen in 
die Seele abgehalten wird, besteht namentlich in der Behut- 
samkeit und Gesammeltheit. Dafs man die Seele vor der den 
39 Samsära bewirkenden Neigung behütet, ist die Behutsamkeit. 
. Dieselbe ist dreifach je nach der Zügelung in Werken, Wor- 
ten vmd Gedanken. Das Gesammeltsein besteht in dem ge- 
sammelten Wandel, welcher sich davor hütet, irgendeinem 
lebenden Wesen Schmerz zu bereiten. Dasselbe ist fünffach, 
je nach seiner Betätigung im rechten Gehen, Reden usw., wie 
es der Lehrer Hemacandra schildert : 
,,Wenn man auf einer viel befahrenen Strafse, 
„Die von der Sonne Strahlen wird geküfst, 
,, Aufmerkt, um keine Tiere zu beschädigen, 
„So nennen Gute dies das rechte Gehen firi/ü). 
„Befleifsige dich, wenn du darauf dich einläfst, 
„Vor allen Leuten wohlgemessener Rede I 
,,Das ist den schweigsamen Asketen lieb 
„Und heifset das Gesammeltsein im Reden. 
,,Wenn, von den zweiundvierzig Fehlern, die man 
„Beim Betteln kann begehen, allzeit frei, 
,,Der Weise sich die Speise weifs zu fordern, 
„So heifst dies das Gesammeltsein im Betteln. 
„Dafs man nach einem Sitze rings sich umschaut, 
,,Dafs man zu ihm sich mit Bedacht verfügt, 
,,Ihn nimmt, sich niederläfst und meditiert, 
,,Das nennt man das Gesammeltsein im Sitzen. 
,,Dafs man von Schleim, Harn, Unrat und dei'gleichen 
,,Auf einem Erdgrund, der von Tieren fi'ei ist, 
,,Als edler Mensch bedachtsam sich entleert, 
„Heifst das Gesammeltsein bei dem Entleeren." 
Weil man durch diese Mittel die Pforte, durch welche das 
Einströmen des Stromes stattfindet, eindämmt, darum werden 
sie als die Eindämmung bezeichnet. Darum sagen die Sach- 
kundigen : 
,,Des Daseins Grund liegt in der Hinströmung, 
,,Die Eindämmung ist der Erlösung Grund ; 
111. Die Arbata's oder Jaina's. 253 
„Das ist in einer Handvoll Arhant's Lehre, 
„Das andre ist aus diesem abgeleitet." 
6. AVenn man das selbstorworbene Werk mittels der c Auf- 
Askese und anderer Mittel aufreibt, so ist dies das Prinzip, 
welches die Aufreibung genannt wird. So nämlich heifst, 
weil sie den lang aufgehäuften Leidenschaftskomplex sowie 
das gute Werk samt Lust und Schmerz durch Aufreibung des 
Leibes aufreibt und vernichtet, die im Haarausreifsen und 33 
anderm bestehende Askese. Diese Aufreibung ist zweifach und 
zerfällt in die gelegentliche und die auf Initiative beruhende. 
Die erstere besteht darin, dafs, wenn zu irgendeiner Zeit in- 
folge eines Werkes eine bestimmte Frucht gehofft wurde, zu 
dieser Zeit infolge des Eintreffens der Frucht die Aufreibung 
40 [jenes Wunsches] bewirkt wird, welche als entspringend aus 
dem Heranreifen der Begierde usw. allgemein bekannt ist. 
Wenn hingegen jemand durch die Kraft der Askese ein W^erk, 
indem er es in die Keihe der durch Selbstliebe bedingten Be- 
strebungen einführt, in Angriff nimmt, so ist dieses Werk eine 
Aufreibung. Darum heifst es: 
^ö* 
,, Durch Aufreiben der Werke, die hienieden 
,,Der Seelenwanderung als Same dienen, 
„Entspringt die Aufreibung, die zweifach ist, 
,,Als absichtliche und von Absicht freie. 
„Die absichtliche kommt den Büfsern zu, 
„Den andern Sterblichen die absichtslose." 
7. \\"enn die Ursachen der Bindung, nämlich das falsche 7. Erlösung. 
Schauen usw., unterdrückt werden, so kann ein neues Werk 
nicht mehr entstehen. Hierdurch sowie durch die Vernich- 
tung des bereits erworbenen Werkes durch das Vorhanden- 
sein der Aufreibung als Ursache tritt die definitive Loslösung 
von den Werken ein, welche die Erlösung genannt wird. 
Denn es heifst : „Durch Aufreibung der Bindungsursache und 
Entstehungsursache tritt als Loslösung von allen Werken die 
Erlösung ein." Sobald dieselbe eintritt, steigt die Seele empor 
bis zu der Welt Ende. Gleichwie nämhch das durch Drehung 
mit Hand oder Stab umgetriebene Töpferrad, auch nachdem 
254 Die philosophischen Systeme. 
die. Hand nicht mehr wirkt, doch noch durch ihre Kraft 
his zum Aufhören des Eindruckes sich weiter dreht, ebenso 
steht es mit der zum Zwecke der Befreiung der Seele im 
Werdestande vielfach betriebenen Meditation; besteht dieselbe 
auch bei dem Erlösten nicht mehr fort, so erfolgt doch in- 
folge des früher erhaltenen Eindruckes das Emporsteigen bis 
zu der Welt Ende. Oder: wie eine einzelne Flaschengurke, 
wenn sie mit Erde behaftet ist, im Wasser untersinkt und 
wiederum, sobald die Bindung an die Erde aufgehört hat, 
emporsteigt, so steigt auch die von Werken befreite Seele, 
weil ihr nichts mehr anhaftet, empor; denn einerseits bricht 
sie ihre Fesseln wie der Same des Eranda, und andererseits 
strebt sie von Natur empor wie die Feuerflamme. Hierbei 
bedeutet die Bindung ein durch Eindringen in den gegen- 
seitigen Raum bewirktes ungeteiltes Bestehen, während die 
Anhaftung nur eine gegenseitige Berührung bedeutet. Darum 
heifst es: „Unwidersprechlich ist dies wegen der vormaligen 
Bemühung wie beim Töpferrade, wegen der Nichtanhaftung 
wie bei der von der Anklebung befreiten Flaschengurke, wegen 
Durchbrechung der Bindung wie bei dem Eranda-Samen, sowie 
endlich wegen Entgegengesetztheit ihres Ganges wie bei der 
Feuerflamme." Darum rezitieren sie auch den Spruch: 
„Auch heute noch ziehn hin und kehren wieder 
,,Mond, Sonne und die andern Wandelstei'ne; 
„Die Seele aber steigt nicht mehr hernieder, 
„Wenn sie entrückt ward in des Weltraums Ferne." 
41 Einige hinwiederum definieren die Erlösung als das Ver- 
weilen der von allen Beschwerden und ihrer Vorstellung be- 
freiten, ungehemmt erkennenden, nur in Lust beharrenden 
Seele in den höhern Regionen. 
Neun [Anmerkung.] Einige nehmen neun Grundbegriffe an, 
Prinzipien, n^ij-jjic]^ (jjg sicbeu erwähnten nebst dem guten und bösen 34 
Werke als Bewirkungsmittel von Lust und Leid. Dies wird 
ausgesprochen in dem Lehrsatze: „Seele und Nichtseele nebst 
gutem und bösem Werke, Hinströmung, Eindämmung, Auf- 
reiben, Bindung und Erlösung sind die neun Prinzipien." — 
III. Die Arliata's oder Jaina's. 255 
Boi unseriii summarischen Verfahren wollen wir darauf weiter 
nicht einijehen. 
Bei diesen Betrachtungen machen die Jaina's überall siebca 
Gebrauch von einer Methode, welche sie „die Regel der sieben ^''^''''' 
Tropen" nennen. Dieselben sind: 1. gewissermafsen ist es 
seiend, 2. gewissermafsen ist es nicht seiend, 3. gewisser- 
mafsen ist es seiend und nicht seiend, 4. gewissermafsen ist 
es nichtaussprechbar, 5. gewissermafsen ist es seiend und 
nichtaussprechbar, ß. gewissermafsen ist es nicht seiend und 
nichtaussprechbar, 7. gewissermafsen ist es seiend und nicht 
seiend und nichtaussprechbar. Die ganze Sache legt Ävanta- 
vmja in folgender Weise dar: 
„Willst du aussagen, dafs etwas vorhanden, 
„So sage nur: es ist gewissermafsen; 
,, Willst du von etwas sagen, dafs es nicht sei, 
„So sprich : es ist gewisserraalsen nicht. 
„Willst du, dafs beides auf einander folge, 
,.So brauche beide Formeln im Vereine ; 
„Willst beides du zugleich, weil dies unmöglich ist, 
„Nenn' es : gewissermafsen unaussprechbar. 
„Soll ersteres sein nebst Unaussprechbarkeit, 
„So ist der fünfte Tropxis zu verwenden; 
„Soll letzteres sein nebst Unaussprechbarkeit, 
„So geht daraus hervor der sechste Tropus; 
„Wer endlich alle diese Elemente 
„Zusammenfafst, der hat den siebenten Tropus." 
Hierbei ist nämlich das Wort syät (gewissermafsen, w^örtlich: 
„es sei") eine Partikel in der Form eines Verbum fmitum und 
bedeutet, dafs die Aussage nur eine relative sei. Denn es 
heifst : 
„Im Urteil Relativität anzeigend 
„Betreffs der mitzuteilenden Bestimmung, 
„Wird syät, zu diesem Zweck gebraucht, Partikel, 
„Wenn auch Verbum finitum nach der Form." 
^^'enn nämlich hierbei das Wort siiid (gewissermafsen) eine 
assertorische Gewäfsheit auszudrücken diente, so würde in dem 
256 I^ie philosopliisclien Systeme. 
42 Satze: „ gewissermafsen ist es seiend" das Wort „gewisser- 
mafsen" keinen Zweck haben; dient es aber, um die Aussage 
als eine relative zu bezeichnen, so dafs ,, gewissermafsen ist 
es seiend" bedeutet, dafs die Sache nur in gewissem Sinne 
als seiend bezeichnet wird, so bedeutet das Wort „gewisser- 
mafsen" soviel wie in „gewissem Sinne" und hat seinen guten 
Zweck. Darum helft es: 
„Der Syädväda in seinen sieben Tropen, 
„Vei'zichtend allerwärts auf festes Dasein, 
,,Da, was man wählte, dieser Regel folgt, 
,, Bestimmt was zu erwählen, was zu meiden." 
Wenn nämlich ein Ding nicht blofs relativ wäre, so würde 35 
es in jeder Weise, zu jeder Zeit und an jedem Orte nach 
seinem ganzen Wesen sein müssen; dann aber könnte es nie, 
nirgend und auf keine Weise durch ein Trachten darnach 
oder ein Fliehen davon hervorgebracht oder beseitigt werden, 
denn es ist unmöglich zu erlangen, was man schon hat und 
zu meiden, was doch unvermeidhch ist. Nur wenn die Rela- 
tivitätstheorie Recht hat und die Dinge irgendwie und irgendwo 
zu einem gewissen Sein gelangen, ist es für den Verständigen 
möglich, dieselben zu meiden oder zu erstreben. — Ferner: 
wenn wir fragen, ob es in der Natur der Dinge liege zu sein 
oder nicht zu sein, so kann erstens die Natur der Dinge nicht 
darin bestehen zu sein, denn dann wären in dem Satze „der 
Krug ist" die beiden Begriffe ,,Krug" und „seiend" Wechsel- 
begriffe und könnten nicht mit einander zu einem Urteil ver- 
bunden werden, während der Satz „der Krug ist nicht" einen 
Widerspruch enthalten würde; dieselbe Argumentation aber 
läfst sich zweitens auf das Gegenteil anwenden [indem dann 
das Nichtsein des Kruges eine Tautologie, das Sein des Kruges 
einen Widerspruch involvieren würde]. Darum heifst es: 
,,((Der Krug ist seiend» könnte man nicht sagen, 
,,Weil ja an sich der Krug nicht seiend wäre ; 
,,Auch dafs er nicht sei, liefse sich nicht sagen, 
,,Weil Sein und Nichtsein widersprechend wären," 
und wie es weiter heifst. 
111. Die Arhata's oder Jaina's. 257 
Darum ist die Sache folgendermafsen zu fassen. Man 
kann vier Klassen von Gegnern unterscheiden, je nachdem 
dieselben als Prinzip ein Seiendes oder ein Nichtseiendes, 
oder ein Seiendes und Nichtseiendes oder ein Nichtaussprech- 
bares aufstellen ; ferner entstehen drei weitere Klassen, indem 
man jene Aufstellungen des Seienden, Nichtseienden usw. mit 
dem Gedanken der l'naussprechharkeit in Verbindung bringt. 
Wenn sich nun diesen gegenüber die Frage erhebt, ob das 
Ding seiend usw. ist, und wir darauf erwidern können : es ist 
gewissermafsen seiend usw., so werden alle jene Gegner den 
Mut sinken lassen und nichts mehr vorzubringen wissen, so 
»Ulfs der die volle Wahrheit aufstellende Anhänger der Rela- 
tivitätstheorie überall den Sieg behält, und alles in Ordnung 
ist. Dieses drückt der Lehrer in der Syädväda- Manjari 
folgendermafsen aus : 
„Nur eine relative Existenz ist 
„Objekt für den Allwissenden, den Jaina, 
„In der ein eindeutig bestimmtes Ding 
„Nieraals als Gegenstand gegeben ist. 
„Wenn die allein gesicherten Methoden 
„Auftreten im Gebiet der OÖenbarung, 
„So heifst, was aufgestellt nach voller Wahrheit, 
„Ein schriftgemäfs Gewisserraafsen-Ding. 
„Indessen bei andern entgegensteht beides, 
„Behauptung und Gegenbehauptung voll Neides, 
,,Gibt allen zugleich die gebühi'ende Ehre 
,, Parteilos der Arhant, — das ist seine Lehre!" 
Die Lehrmeinung des Jina wird von Jinadattasüri folgender- Rekapitu- 
mafsen zusammengefafst : 
,,Der Stärke, des Genusses und des Niefsbrauchs, 
,,Des Gebens und des Nehmens Hinderung, 
,,Der Schlaf, die Furcht, Nichtwissen, Sichverbergen, 
„Spott (häsa), Lust und Unlust, Leidenschaft und Hafs, 36 
,,Das Nichtabiassen (aiirati) und verliebtes Sehnen, 
,, Bekümmernis, Verkehrtheit, — dieses sind 
,,Nach unserem System die achtzehn Fehler. — 
„Jina ibt Gott, ist Lehrer, der vollständig 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, in. 1* 
lation. 
258 I^ic philosophischen Systeme. 
„Uns unterweist in der Prinzipien Kenntnis. — 
„Vollkommenes Erkennen, Schauen, Wandeln, 
„Das ist die Bahn (vartanih), die zur Erlösung führt. 
„Zwei Normen des Erkennens hält für richtig, 
,,Die Wahrnehmung und Folgerung, der Syädväda. — 
„Teils ewig, teils nichtewig gilt ihm alles. — 
„Neun oder sieben der Pi'inzipien gibt's : 
,, Seele, Nichtseele, nebst Verdienst und Schuld, 
,, Hinströmung, Eindämmung sodann und Bindung, 
,, Aufreibung und Erlösung; lafst uns jetzt 
,,Allhier von diesen die Erklärung geben. 
„Was Geist ist seinem Wesen nach, heifst Seele, 
,, Nichtseele, was von anderer Natur. 
,, Korpuskeln, die von guten Werken stammen, 
,,Sind das Verdienst, vom Gegenteil, die Schuld. 
,, Hinströmung zu dem Werk bewii'kt die Bindung, 
,, Aufreibung heifst die Lostrennung von ihm. 
,, Vernichtung der acht Werke bringt Erlösung. 
,, Hingegen wird von manchen einbegriffen 
„Unter der Eindämmung auch das Verdienst 
„Und unter der Hinströmung auch die Schuld. — 
44 „Wer sich erwarb die vier Unendlichkeiten, 
„Wer seine Seele vor der Welt verbarg, 
,, Vernichtend die acht Werke, dem verhelfst 
,, Erlösung ohne Wiederkehr der Meister. — 
,, Staubbesen tragend und vom Bettel lebend, 
„Ausraufend sich die liauptentsprossenen Haare, 
,,Im Dulden stark und ohne Welthang sind 
„Die Jaina-Heiligen, weifse Kleider tragend. 
„Die Kleiderlosen aber, haarausraufend, 
„Pfaufedern tragend, aus den Händen trinkend, 
„Im Stehen essend in des Gebers Hause, 
„Als Jaina -Weise stehn in zweiter Reihe. 
,,Die Kleiderlosen lehren, dafs das Weib 
„Nicht zum Genufs der Absolutheit kommt, 
„Noch zur Erlösung geht, und sind darüber 
„Mit den Weifskleidrigen in grofsem Zwiespalt." 
IV. Die Lehre des Rämänuja, 
als Vertreters der Päncarätya's (Bhägavata's). 
C p. 44—61. P p. 36—50. 
Die besprochene Lehrmeinung der würdigen Ärhata's ist wider- 
würdig, von dem Kritiker herabgewürdigt zu werden. Denn jaina's. 
wenn es überliaupt eine Substanz gibt, die mit absoluter Reali- 
tät existiert, so können als absolut real die Eigenschaften, zu- 
gleich zu sein und nicht zu sein, derselben nicht zugeschrieben 
werden. Auch könnt ihr euch nicht damit helfen, dafs ihr 
sagt, die Eigenschaften des Seins und Nichtseins, da sie als 
widersprechend nicht zusammenbestehen könnten, möchten 
vielleicht als Alternativen einander gegenüber bestehen. Denn 
diese Ausflucht wäre gegen die Regel, dafs eine die Wahl 
lassende Alternative zwar wohl bei Handlungen, nicht aber 
bei Substanzen möglich ist. Auch könnt ihr euch, um die 
Relativität der ganzen Welt zu beweisen, nicht auf das Bei- 
spiel berufen, dafs dieselbe zu denken sein möge wie bei 
Heramha [d. i. Ganeqa, welcher gewissermafsen als Mensch 
und gewissermafsen als Elefant, sofern er einen Elefantenkopf 
trägt, vorgestellt wird] oder wie bei Narasinha [d. i. Vishnu, 
sofern er halb Mensch halb Löwe ist]. Denn diese sind einem 
Teile nach Elefant oder Löwe und einem andern Teile nach 
Mensch, so dafs durch Unterscheidung der Teile der Wider- 
spruch wegfällt, und in eurem Falle, wo eine Relativität des 
Seins, Nichtseins usw. an einem und demselben Teile be- 
hauptet wird, das Beispiel nicht anwendbar ist. — «Aber läfst 
17* 
260 l^JG philosopliischen Systeme. 
«sich nicht beides so halten, dafs man einer Sache hinsicht- 
«Hch ihrer Substanz ein Sein und hinsichthch des an ihr vor- 
«gehenden Wechsels ein Nichtsein zuschreibt?» — Keines- 
wegs! Denn dafs etwas die Natur habe in verschiedenen 
Zeiten zu sein und wiederum nicht zu sein, dagegen ist ganz 
und gar nichts einzuwenden. Ferner läfst sich auch die 
Relativität der Welt nicht so denken wie bei einem Ding, 
45 welches zugleich kurz und lang ist, denn hier löst sich der 
Widerspruch durch die Verschiedenheit dessen, was man damit 
vergleicht. Ihr könnt somit für eure Behauptung keinen 
Beweis aufbringen, und es ist unmöglich, dafs das Sein und 
Nichtsein, da sie einander widersprechen, zugleich bei dem- 
selben Dinge zusammen wohnen können. In derselben Weise 
lassen sich auch die andern Tropen oder Wendungen zur 
Wendung und Flucht nötigen. 
Aber noch mehr. Wie steht es mit der ganzen euch als 
Grundlage der Relativitätslehre dienenden Regel der sieben 
Tropen? Ist diese selbst nicht relativ, oder soll auch sie 
relativ sein? Im erstem Falle widersprecht ihr eurer eigenen 
Behauptung, dafs alles relativ sei; im letztern Falle erreicht 
ihr nicht was ihr wollt, da ihr auf Grund der Relativität 
nichts beweisen könnt; und so verstrickt sich der Anhänger 
der Syädvädalehre nach beiden Seiten hin in eine Schlinge. 
Ferner auch bei der Behauptung der Neunzahl, Siebenzahl 
[der Prinzipien] als Resultat, bei dem so etwas Behauptenden 
als Erkenner und bei dem so etwas bewirkenden Erkenntnis- 
verfahren, wobei das Produkt der Erkenntnis, die Neun- 
zahl usw. als nicht notwendig bestimmt hingestellt wird, — 
bei allen diesen Dingen hat sich ja der gottgeliebte Ver- 
breiter der Arhatalehre in seinem Berufe zur Systemmacherei 
vortrefflich bewährt ! 
Nicht anders steht es mit seiner Annahme, dafs die Seele 
ihrer Gröfse nach dem Leibe entspreche ! Dann soll man wohl 
annehmen, dafs bei der durch die Kraft des Yoga in ver- 
schiedene Leiber fahrenden Seele des Yogin je nach dem Leibe 
eine Beschneidung der Seele erfolgt, und dafs die Seele, welche 
den Umfang eines menschlichen Leibes hat, den Leib eines 
Elefanten nicht ganz zu erfüllen vermag. Ja, was soll wohl 
IV. Die Lehre des Räinänuja. 261 
hiornach aus einer Seele werden, wenn sie etwa den Leib 
eines Elefanten verläfst, und in einen Ameisenleib eingeht? 
Notwendigerweise mufs doch dabei die Vernichtuns; ihrer 
dem vorherigen Körper entsprechenden Gestalt die Folge sein. 
Denn daran ist doch nicht zu denken, dafs es mit der in die 
Leiber von Menschen, Elefanten usw. fahrenden Seele bestellt 
sei wie mit einer Fackel von gewisser Lichtstärke, welche 
sich, je nachdem sie den Hohlraum einer Hütte oder eines 
Palastes auszufüllen hat, zusammenzieht und wieder ausbreitet. 
Stünde es so mit der Seele, so müfste dieselbe ebensogut 
wie die Fackel wandelbar und folglich vergänglich sein, und 
eine Vernichtung der begangenen Werke sowie ein Betrotfen- 
werden von nichtbegangenen würde die Folge sein. 
Hiermit wird, nach der Regel, dafs man nur den stärksten 38 
Kinger zu werfen braucht, zunächst nur die Kategorie der Seele 
als unhaltbar erwiesen, so jedoch, dafs man von dem, der dies 
zu leisten vermag, auch eine Widerlegung der andern Punkte 
erwarten kann. Somit ist dieses System, da es überdies mit 
der ewigen und unfehlbaren Schriftotfenbarung in Widerspruch 
steht, nicht annehmbar. Dies spricht auch der verehrungs- 
würdige Anordner der Sütra's in den Worten aus: „Nicht, 
weil sie unmöglich bei dem was Eines ist" (Vedänta-sütra 
2,2,33 S. 365 fg. unserer Übersetzung), und dieses Sütram 
wurde dann von Rämänuja kommentiert, welcher sich die 
^Mderlegung der Jainalehre ganz besonders angelegen sein läfst. 
Was nun weiter die Grundanschauung des Rämänuja Grundan- 
64 selbst betrifft, so besteht dieselbe darin, dafs es drei Kate- ' des^^*^ 
gorien gebe, Seele, Nichtseele und Gott, welche sich als °'"*°'*J*- 
Geniefser, zu Geniefsendes und Vergelter zu einander ver- 
halten. Daher es heifst: 
,,Gott, Geist und Nichtgeist, dieses ist die Dreiheit 
,,Der Wesenheiten, welche Hari lehrt ; 
,,Gott, dann die Geister, — also heifst die Seele, — 
,,Und als Nichtgeist die Welt des Sichtbaren." 
Andere hingegen [die Advaita's, d. h. die Anhänger des Poiemik 
^ahkara] lehren folgendermafsen : Die höchste Realität liegt cankara. 
262 Die philosophischen Systeme. 
nur und allein in dem alle Unterschiede ausschliefsenden, rein 
geistigen Brahman; obwohl dasselbe aber seiner Natur nach 
ewig, rein, weise und erlöst ist, so wird es doch auf Grund 
von Satzverbindungen wie ,,das bist du" (Chänd. Up. 6,8,7) als 
identisch mit der Seele erkannt, und als solche ist es gebunden 
und wird erlöst. Was hingegen die aufserhalb des Brahman 
liegende, in mannigfachen Genie fsern und Zugenief senden sich 
ausbreitende Vielheit betrift't, so wird dieselbe ganz und gar 
dem Brahman nur angedichtet durch das Nichtwissen ; und 
der Beweis hierfür liegt in einer Menge von Schriftstellen, 
wie z. B. : „Seiend nur, o Teurer, war dieses am Anfang, eines 
nur und ohne zweites" (Chänd. 6,2,2). Dieses behaupten sie, 
und auf Grund von hundert Schriftanfängen, wie: „Wer den 
Ätman kennt, überschreitet den Kummer" (Chänd. 7,1,3) nehmen 
sie an, dafs durch das Wissen von der Einheit der Seele mit 
dem unterschiedlosen Brahman das anfanglose Nichtwissen 
vernichtet wird, indem sie auf Grund solcher die Vielheit 
verwerfenden Schriftstellen wie: „Von Tod zu Tode wird ver- 
strickt, wer eine Vielheit hier erblickt" (Brih. 4,4,19) eine 
Vielheit im Sinne der höchsten Kealität mit selbstbewufster 
Beredsamkeit in Abrede stellen und demgemäfs die von uns 
aufgestellte Einteilung nicht anerkennen. 
Das Nicht- Hiergegen ist als Erwiderung folgendes zu bemerken. 
unbeweis- Dcm möclite vielleicht so sein, wenn es für jenes Nichtwissen 
einen Beweis gäbe. Dem aber ist nicht so. Denn ein anfang- 
loses , seiend gestaltetes , durch das Wissen aufzuhebendes 
Nichtwissen läfst sich durch keine Wahrnehmung erweisen, 
so dafs man etwa die Wahrnehmung hätte: ich bin nicht- 
wissend, ich kenne weder mich noch einen andern. Zwar 
heilst es: 
„Was anfanglos und als ein Seiendes 
„Gestaltet durch das Wissen wird vernichtet, 
„Das ist das Nichtwissen, und alle Weisen 
„Erklären einstimmig dies als sein Merkmal." 
Aber diese Stelle darf nicht so aufgefafst werden, als wenn 
sie das Vorhandensein des Wissens leugnete. Denn wer 
könnte dann etwas sagen und zu wem, mag er sich nun auf 
bar. 
IV. Die Lehre des Rämäniija. 263 
den Arm des Prabliakara stützen oder auch dem |luiraarila-j 
Hhatta die Hand reichen V Nicht der erstere, denn Prabha- 
kara sagt: 
,,Als eignes Wesen oder fremdes Wesen 
„Wird an der sein-und-nichtsein-artigen 
47 „Substanz stets irgend etwas als Gestalt 
„Von irgendwem und irgendwann erkannt. 
„Denn allemal ist's nur ein anderes Sein, 
„Was in gewissem Sinne Niclitsein heilst; 
„Ein Nichtsein, welches nicht ein anderes Sein ist, 
„Ist nicht vorhanden, denn es ist undenkbar." 
Aus diesen Worten erliellt, dafs er ein über das Sein hinaus- 
hegendes Nichtsein nicht annimmt. Und wenn [im Gegen- 
satze zu ihm (vgl. Colebrooke, Mise. Essays p. 304 ) Bhatta] 
das Nichtsein in den Bereich eines sechsten Erkenntnismittels 
verweist und die Kenntnis davon stets durch Folgerung ge- 
winnen lälst, so folgt auch hieraus, dafs jenes Nichtsein 
unmöglich ein Gegenstand der Wahrnehmung werden kann. 
Sollte aber doch der Behaupter eines wahrnehmbaren Nicht- 
seins diese seine Thesis aufrecht erhalten wollen, so kann 
man ihm folgendermafsen begegnen: In der Wahrnehmung 
„ich bin nichtwissend'', auf welche du dich stützest, liegt in 
dieser eine Erkenntnis des Ich, d. h. der Seele als des Sub- 
jektes eines Nichtseins und seiner Ausgeschlossenheit vom 
Wissen, oder nicht? Liegt sie darin, so kannst du ohne 
Widerspruch nicht annehmen, dafs dabei das Nichtsein des 
Wissens wahrgenommen werde. Liegt sie nicht darin, so ist 
eine Wahrnehmung des Nichtseins eines Wissens, welche sich 
auf ein dem Subjekte entgegengesetztes Wissen bezöge, noch 
viel weniger möglich. — «Aber wenn man annimmt, dafs 
«jenes Nichtwissen als ein Sein gestaltet ist, so fallen doch 
«die eben vorgebrachten Einwendungen weg, und somit mufs 
«man annehmen, dafs sich jene Wahrnehmung „ich bin nicht- 
« wissend'' auf ein als Sein gestaltetes Nichtwissen bezieht.« — 
Alles das ist ein blofses Wiederkäuen von Luft: denn ein 
als seiend gestaltetes Nichtwissen wird auf demselben Wege 
gewonnen und erhalten wie das vorher besprochene Nichtsein 
264 I^i^ philosophisclien Systeme. 
des Wissens. Ebenso wie dort gilt auch hier, dafs durch die 
Ausschliefsung des Wissens, sei es nach der objektiven oder 
subjektiven Seite hin, entweder eine vorschwebende Sache 
erkannt wird oder nicht erkannt wird. Wird sie erkannt, so 
dafs man von ihr sagen kann, das ist das durch Erkenntnis 
der wahren Wesenheit aufzuhebende Nichtwissen, wie kann 
dann, nachdem dies erkannt worden, das Nichtwissen noch 
fortbestehen; wird liingegen dabei keine Sache erkannt, wie 
kann dann das des von ihm ausgeschlossenen Subjektes und 
Objektes entbehrende Nichtwissen überhaupt in das Bewufst- 
sein treten? — «Aber man kann sich doch sagen: ein klares 
«Erscheinen der wahren Wesenheit werde nur durch das dem 
«Nichtwissen entgegengesetzte Wissen zutage gefördert, und 
«insofern ein Bewufstsein des Objektes und Subjektes wirklich 
«haben, ohne dafs damit das Bewufstsein des eigenen Nicht- 
« Wissens unmöglich wurde.» — Nun, das kommt auf einem 
andern Wege wieder auf dasselbe hinaus, was wir vorher 
hatten, wo das Wissen definiert wurde als das Nichtsein des 
Wissens. Es ist also in beiden Fällen ein Nichtsein des 
Wissens, welches nach eurer Annahme als der Gedanke: ich 
bin nichtwissend, ich erkenne weder mich noch den andern, 
in den Bereich der unmittelbaren Wahrnehmung treten soll. 
— «Aber vielleicht ist die Erkenntnisnorm [durch die wir 
«das Nichtwissen kennen, undj, um die wir streiten, die Folge- 
4s «rung, und vielleicht steht es so, das das Wissen (lies p. 48,1 
cq)raniäna')ji , jnänam) eine andere Wesenheit voraussetzt, die 
«von seinem eigenen Nichtsein verschieden, ihm sein Objekt 
"Verdeckt, von ihm aufzuheben ist und seinen Platz ein- 
"genommen hat, und dafs es sodann, indem es die nicht offen- 
«bare Sache offenbar macht, eine ähnliche Wirkung übt, wie 
«der in der Finsternis zum ersten Male auftretende Glanz einer 
«Fackel." — Auch diese Ansicht hält dem Stofse der Kritik 
nicht Stand; denn entweder mufs dabei das [objektive] Nicht- 
wissen noch ein anderes, von euch selbst nicht angenommenes 
[subjektives] Nichtwissen hervorbringen, wodurch ihr in eine 
für euch selbst unannehmbare Meinung verfallt; oder soll 
es dasselbe nicht hervorbringen, so bleibt eure Auffassung 
von dem Nichtwissen eine zweideutige, und euer Beispiel 4o 
IV. Die Lehre des Riimäiuija. 265 
beweist nicht was es soll; denn der Tilanz der Fackel ist gar 
nicht imstande, eine unoilenbare Sache offenbar zu machen, 
sondern das Wissen ist es, welches sie offenbar macht, und 
naclidem auch die Fackel schon da ist, kann erst durch das 
Wissen die Oirenbarung des Objektes stattfinden, was aber 
den (^lanz der Fackel betrifft, so kann er nur zum Wissen 
uiitbehili'lieh sein, sofern er die dem Gesichtssinne, welcher 
die Erkenntnis bewirkt, entgegenstehende Finsternis beseitigt. 
Der Worte sind genug gewechselt. 
Unsere Gegenaufstellung aber ist folgende. Das Nicht- 
wissen, um welches wir streiten, kann nicht in dem aus 
blofsem Wissen bestehenden Brahman beruhen, eben weil es 
ein Nichtwissen von Brahman ist, ähnlich dem Nichtwissen 
von der Perlmutter [wenn man sie für Silber hält]. — «Aber 
u dasjenige, worauf sich das Nichtwissen von der Perlmutter usw. 
«bezieht, ist doch ein blofses \\'issen um die gerade vor- 
«liegende Sache [nicht aber das Wissen überhaupt].» — 
Daran ist hier nicht zu denken; sondern wir wollen darauf 
hinaus, dafs die Perzeption durch ihr blofses Vorhandensein 
schon ihrer Natur nach imstande ist, von irgendeiner Sub- 
stanz ein der Erkenntnistätigkeit entsprechendes Sein zu lehren, 
und jedenfalls, mag man sie nun Erkenntnis, Begreifen, Auf- 
fassen, Wissen oder sonstwie benennen, des dabei tätigen 
Perzipierens Selbstsein und Wissensein zu beweisen. — «Aber 
«wenn das Selbst, der Atman, seinem Wesen nach Erkenntnis 
«ist, wie kann er dann die Erkenntnis als Eigenschaft an 
«sich tragen?» — Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Denn 
wenn ein Edelstein, die Sonne oder sonst eine Lichtsubstanz, 
während sie in ihrer lichtartigen Natur besteht, zugleich das 
Substrat der lichtartigen Eigenschaften sein kann, indem das 
Licht dadurch, dafs es auch aufserhalb seines Substrates sich 
betätigt und sein Wesen zeigt, obgleich es substantiell geartet 
ist, doch in den als Ausflufs an sie gebundenen Qualitäten 
sich verwirklichen kann, so kann in derselben Weise unsere 
Seele, indem sie ihrem Wesen nach selbstleuchtender Geist 
ist, zugleich die Geistigkeit als Qualität an sich haben. Und 
so sagt die Schrift: „Mit diesem ist es (Hes: sa yatliä) wde 
mit einem Salzklumpen, der kein [unterschiedliches] Innere 
266 I^ie philosophischen Systeme. 
oder Aufsere hat, sondern durch und durch ganz aus Ge- 
schmack besteht, — also fürwahr hat auch dieser Atman kein 
[unterschiedhches] Inneres oder Aufseres, sondern besteht 
durch und durch ganz aus Erkenntnis" (Brih. 4,5,13); — 
„dann dient dieser Geist sich selbst als Licht" (Brih. 4,3,9) ; 
49 — „denn für den Erkennenden ist keine Unterbrechung des 
Erkennens" (Brih. 4,3,30) ; — „aber derjenige, welcher weifs, 
ich will dieses riechen, das ist der Atman" (Chänd. 8,12,4); 
— „es ist unter den Lebensorganen der aus Erkenntnis be- 
stehende, in dem Herzen innerlich leuchtende Geist" (Brih. 
4,3,7); — „denn er ist der Sehende, Hörende, Schmeckende, 
Riechende, Denkende, Erkennende, Handelnde, das Erkenntnis- 
selbst, der Geist" (Pragna 4,9). Und wenn auch die Schrift 
sagt „[ebenso linden alle diese Kreaturen diese Brahmanwelt 
nicht, obwohl sie tagtäglich in sie eingehen] denn durch die 
Unwahrheit werden sie abgedrängt" (Chand. 8,3,2), so kann 
man nicht behaupten, dafs hierin ein Beweis für eine Unter- 
brechung des Wissens liege*; denn das Wort ariritam (die 
Unwahrheit) bedeutet das, was dem ritam (Wahrheit, Erfüllung) 
entgegengesetzt ist. Das Wort ritam aber bedeutet das Objekt 
einer Tätigkeit, denn es heifst: „Erfüllung (ritam) trinkend" n 
(Kath. 3,1), und Erfüllung bedeutet ein Werk, welches von 
der Absicht auf Belohnung frei zur Erfreuung des höchsten 
Geistes allein unternommen wird und seine Erlangung als 
Frucht hat; im Gegensatze dazu bedeutet anritam ein Werk, 
welches nur auf den Samsära bezügliche, geringe Frucht 
bringt, und der Erlangung des Brahman entgegensteht, denn 
es heifst „sie finden diese Brahmanwelt nicht, denn durch 
die Unwahrheit werden sie abgedrängt" (Chänd. 8,3,2). — 
Wenn es hingegen heifst „als Blendwerk wisse die Natur" usw. 
((^vet. 4,10), so bedeutet hier das Wort Blendwerk (mäyä) die 
mancherlei Objekte schalfende, aus den drei Guna's bestehende 
Urnatur, nicht aber das unausdrückbare Nichtwissen. — Und 
ebenso steht es mit der Stelle: 
* vidyä-parva-pramdnam C; leichter -ist die Lesart iu P: vidyäyam 
pramänam. 
IV. Die Lehre des Rämänuja. 2G7 
„Von ihm, dem Sclinellliinwandelnden sodann, 
., Indem den Leib des Kindes er bescliützte, 
„Ward abgetan das tausendfache lUendwi-rk 
„Des (Jabara einmal für allemal.'"* 
Denn es ist olienbar, dal's hier unter dem Worte Blendwerk 
( mäijü) die allerlei Dinge zu schatten fähige und natürlich 
reale, den Dämonen usw. speziell eigene Waffe bezeichnet 
werden soll. — Hieraus folgt, dal's auch nicht an einer ein- 
zigen Stelle von der Schrift jenes unaussprechbare Nicht- 
wissen gelehrt wird. Dies gilt auch von der Stelle: „Das 
bist du" (Chand. n,8,7), und man darf nicht etwa annehmen, 
dal's in diesen Worten wegen der Unmöglichkeit, die Einheit 
zu lehren, nur ein attributhaftes Brahman gemeint sein könne, 
weil es mimöglich sei, die Wesenseinheit der sich entgegen- 
gesetzten individuellen und höchsten Seele zu lehren; denn 
diese Auffassung würde an dem Fehler leiden, dafs die Er- 
reichung des gewollten Zweckes nicht bewirkt würde. Nämlich 
in dieser Stelle bedeutet das Wort „das" das Brahman, wie 
es frei von allen Mängeln der Sitz unendlich überlegener und 
unsagbar vortrett'licher Qualitäten ist, und das Entstehen, 
Bestehen und Vergehen der Welt als ein blofses Spiel hervor- 
bringt: denn das Brahman war in den Anfangsworten der 
Stelle: „dasselbige beabsichtigte: ich will vieles sein, will 
mich fortpflanzen'' (Chänd. 6,2,3) als Thema aufgestellt worden. 
Ferner das, was mit dem Worte „das" zu dem Satze „das 
bist du" verbunden war. mit andern Worten, das Wort „du" 
bedeutet wiederum das Brahman, als den mit Geist aus- 
gestatteten Leib der lebendigen Seele. Denn eine gram- 
ö" matische Koordination betrifft zumeist eine auf zweierlei Art 
charakterisierte einheitliche Substanz. — «Aber warum soll die 
"grammatische Koordination nicht hier sowie in dem Satze 
«„dieser ist jener Devadatta" bedeuten, dafs die Worte „das" 
«und „du" denjenigen Teil von ihnen, nach w'elchem sie sich 
«widersprechen, aufgeben und die ihrem Wesen nach attribut- 
«lose Einheit des Atman bezeichnen sollen? Denn in obigem 
ekaikaryena sudiiam mit P. 
268 I^ie philosophischen Systeme. 
«Beispiele „dieser ist jener Devadatta" bedeutet das Wort 
((„jener" einen Mann zu einer andern Zeit und an einem 
«andern Orte, und das AVort „dieser" einen Mann, welcher in 
«c unmittelbarer Nähe gegenwärtig ist; diese beiden nun werden 
«durch die grammatische Koordination als eine Einheit er- 
«kannt; es ist aber nicht möglich, das, was zugleich in ver- 
«schiedenen Gegenden und Zeiten vorhanden ist, als Einheit 
«zu fassen, und doch kann man, wenn schon jedes der beiden 
«Worte zunächst seinen eigentümlichen Sinn hat, dessen un- 
« beschadet die Einheit der Wesenheit auffassen. Ebenso ist es 
«auch bei unserer Stelle; man mufs die sich widersprechenden 
«Teile an den Begriffen „das" und ,,du", z. B. die Wissens- 
«beschränktheit und Allwissenheit usw. fallen lassen und da- 
« durch die mittelbar ausgedrückte A\^esenheit des Unteilbaren 
«als den Sinn festhalten.» — Dieser Vergleich pafst hier 
nicht. Denn in eurem Beispiele ist, da es keinen Widerspruch 
enthält, auch keine Spur von uneigentlicher Ausdrucks weise 
vorhanden. Denn es ist zunächst kein Widerspruch, dafs das 
nämliche Ding mit zwei Zeiten, der vergangenen und gegen- 
wärtigen, in Verbindung gebracht wird. Sein Befinden an 42 
einem andern Orte gehört der Vergangenheit, sein Befinden 
in unserer Nähe gehört der Gegenwart an; so ist der Wider- 
spruch einer Verbindung mit mehrern Orten durch die Ver- 
schiedenheit der Zeiten aufzuheben. Gesetzt aber, wir hätten 
einen uneigentlichen Ausdruck anzunehmen, so dürfte doch 
vielleicht der Widerspruch durch Annahme der Uneigentlichkeit 
bei einem der beiden Worte sich heben lassen, und es wäre 
darum noch nicht notwendig, bei beiden Worten die Un- 
eigentlichkeit zu postulieren. Andernfalls, wenn ihr es nicht 
für beweiskräftig gelten lafst, dafs ein Subjekt unbeschadet 
der Verfolgung seiner Verschiedenheiten als dieses und jenes, 
als das nämliche wieder erkannt werden könne, so wird ein 
beharrliches Sein zur Unmöglichkeit, und der Buddhist mit 
seiner Lehre von der Augenblicksvernichtung triumphiert. 
Wenn somit an unserer Stelle die Wesenseinheit der indi- 
viduellen und höchsten Seele vermöge ihres Daseins als Leib 
und als Seele gelehrt wird, so ist dies keineswegs, wie ihr 
glaubt, ein Widerspruch, sondern bedeutet, dafs die individuelle 
IV. Die Lehre des Rämäuuja. 269 
Seele, — denn das Brahman in seiner Verkörperung war das 
Thema — ihrem Wesen nach Brahman ist; denn aucli eine 
andere Schriftstelle sagt: „der, in dem Selbste wohnend, von 
dem Selbste verschieden ist, den das Selbst nicht kennt, 
dessen Leib das Selbst ist" (Brih. 3,7,30 M.); aber damit ist 
viel zu wenig gesagt, denn alle Schriftstellen reden nur und 
allein von dem höchsten Atman. ^fan braucht aber darum 
nicht überall Synonymität anzunehmen, da eine Mannigfaltig- 
keit der Medien angenommen werden kann. Nämlich : ebenso- 
gut wie die Stände der Götter, Menschen usw. als besondere 
-.1 Arten der Seele in ihrer Verkörperung gelten, ebenso können 
alle Dinge überhaupt dafür gelten ; dann aber müssen sie alle 
insgesamt ihrem Wesen nach Brahman sein : 
.,Mag es ein Gott, ein Mensch, ein Yaksha sein, 
„Pigäca, Schlange oder Räkshasa, 
„Ein Vogel, Baum, ein Schlinggewächs, ein Holz, 
,,Ein Stein, ein Gras, ein Topf, ein Lappentuch." 
Alle diese und ähnliche Worte, welche durch Verbindung von 
Stamm und Suffix als etw^as aussagend in der Welt gelten, 
bedeuten, indem sie dasselbe aussagen, eine vorgestellte, in 
diesem oder jenem Zustande befindliche Substanz und mittels 
derselben bedeuten sie alle die in ihnen vertretene individuelle 
Seele und die diese innerlich lenkende höchste Seele als den 
letzten Endzustand. Dafs aber die Namen der Götter usw. 
als letzten Endzustand die höchste Seele bedeuten, wird aus- 
drücklich erklärt sowohl in der TattvamnldävaJi als auch in 
dem Catura)itani))i^ wenn es heifst: 
„Die Seele nennt ein Wort wie „Gott", bezeichnend 
,,Das ungetrennt von ihr vollkommene Dasein; 
„Mit Absicht auf Erhöhung ohne Zweifel 
„Wird oft gebraucht ein Wort in Welt und Veda. 
„Zur Zeit zwar der Verbindung mit dem Atman 
„Sind nicht ersichtlich Gott und Menschgestalten; 
„Doch wenn er eingeht in der Seele Selbst, 
,, Entfaltet er in Name und Gestalt sich." 
In diesen Worten wird, — nachdem vorher gezeigt war, wie die 
Namen der Götter usw. auf eine Verkörperung sich beziehen, 
270 Die philosophischen Systeme. 
nachdem mit den Worten „nicht nur ein Zustand" usw. der 
Begriff der Verkörperung gegeben war, und nachdem mit 
den Worten „durch Namen, die die Wesenheit abspiegeln", 
gelehrt worden war, dafs das Vollkommene nicht aufser dem 
Allgöttlichen besteht, — so wird durch den Vers „mit Ab- 
sicht auf Erhöhung" usw. ausgedrückt, dafs alle Namen im 4:! 
letzten Grunde die höchste Seele bezeichnen, und dafs man 
daher diese als den Inbegriff von allem festzuhalten hat. Das 
ist der Gedanke, welcher von Rämänuja, um den Sinn des 
Veda zusammenzufassen, bei Gelegenheit der Auslegung der 
Schriftstelle von den Namen und Gestalten (Chänd. 6,3,2) 
ausgesprochen wird. 
Ferner: da alle Beweise sich auf etwas Attributhaftes 
beziehen, so kann für eine attributlose Substanz ein Beweis 
überhaupt nicht geführt werden; zeigt sich ja doch auch in 
der keine Wahl lassenden Wahrnehmung immer nur eine 
attributhafte Substanz. Und auch bei Behauptungen, welche 
eine Wahl lassen, wie ,, dieser ist jener", würde, wenn nicht 
alles attributhaft wäre, die Erkenntnis eines früher Erkannten 
52 in einem neuen Zustande zur Unmöglichkeit werden. 
Ferner: das Wort „das bist du" (Chänd. 6,8,7) kann die 
Weltausbreitung nicht widerlegen, weil es selbst in der Welt- 
illusion wurzelt, ebenso wie ja auch das Wort von dem für 
eine Schlange gehaltenen Strick auf dem Standpunkte der 
Weltillusion aufgestellt wurde; darum hebt aber jenes Schrift- 
wort die Einheit von Brahman und Seele keineswegs auf, 
denn wir zeigten schon oben, dafs diese Meinung sich nicht 
erweisen läfst. Man glaube aber nicht, dafs bei unserer die 
Weltausbreitung für real erklärenden Meinung das Schrift- 
wort erschüttert werde, welches verhelfst, dafs durch die 
Erkenntnis des einen alles erkannt werden solle (Chänd. 6,1,3). 
Nämlich die Prakriti, der Purusha, der Grofse, der Ichmacher, 
die Urelemente, die Elemente und die Sinnesorgane sowie das 
aus den vierzehn Welten bestehende Brahman -Ei, ferner die 
in ihm befindliche, aus Göttern, Tieren, Menschen, Pflanzen usw. 
in ihren mannigfachen Arten und Zuständen bestehende Welt- 
wirkung ist, wenn auch eine Wirkung, doch mit allem was 
sie enthält nur und allein Brahman; und durch die Erkenntnis 
IV. Dio lichre des Rämänu.ja. 271 
des Braliman, welches ihre Ursache ist, als Atman, wird 
eine Erkenntnis aller Din«;»' «"ewonnen : daher bei unserer 
Meinung; erst recht gilt, dafs (hireh Erkenntnis des einen 
alles erkannt werde. Ja noch mehr! Wenn alles aufser 
Brahman Vorhandene blol'se Täuschung wäre, so würde, in- 
folge der Nicht realität alles \'orhandenen, das Schriftwort, nach 
welchem durch Erkenntnis des einen alles erkannt werden 
soll, hinfälliii' werden. 
Der Zustand also, in welchem die Welt, der Ausbreitung 
zu Namen und Gestalten unteilhaftig, nur als der unerkennbar 
fein geartete Leib der Prakriti und des Purusha besteht, heifst 
der Zustand des Brahman als Ursache, und wenn die Welt in 
diesen Zustand übergeht, so ist das der Weltuntergang ; hin- 
gegen der Zustand, in welchem die Welt zur Ausbreitung der 
Namen und (lestalten ausgebreitet, einen grobsinnlichen, aus 
Geistigem und Ungeistigem bestehenden, Leib besitzt, heifst 
der Zustand des Brahman als Wirkung, und wenn das Brah- 
man in einen derartigen grobsinnlichen Zustand übergeht, so 
ist das die Weltschöpfung. Hiermit stimmt auch die Identität 
von Wirkung und Ursache, wie sie in dem Abschnitte von 
dem Sich- Anklammern an Worte gelehrt wird (Chänd. G,l,3 — 5), 
viel besser zusammen. 
Was hingegen die Schriftstellen betrifft, welche die 
Oualitätlosigkeit des Brahman behaupten, so haben dieselben 
nur den Zweck, die natürlichen und verwerflichen Qualitäten 
ihm abzusprechen. L^nd was endlich die Schriftstellen betrifft, 
welche eine Vielheit leugnen, so besagen dieselben nur, dafs, 
da nur das Brahman allein sich verkörpert, alle geistige und 
ungeistige Substanz nur eine Modifikation des Brahman ist, 
dafs das Brahman allein als die Seele von allem in allen 
diesen Modifikationen besteht, und dafs man somit festzuhalten 
hat, dafs ein Vorhandensein (lies: sadhhäva) von Substanzen, 
welche gesondert von dem allbeseelenden Brahman bestünden, 
nicht anzuerkennen ist. 
Was ist nun die Wahrheit? Ist es die Vielheit oder dieEinhmt nnd 
Vielheit. 
Nichtvielheit oder beides? Die Wahrheit liesrt in allen dreien. 
Die Nichtvielheit ist wahr, sofern in allen Verkörperungen 
das alle Gestalten annehmende Brahman allein besteht; die 
272 1^16 pliilosophischen Systeme. 
Vielheit und Nichtvielheit sind wahr, sofern das eine Brahman 
in Gestalt der mannigfachen geistigen und ungeistigen Wesen 
53 als eine Vielheit besteht; und die Vielheit endlich ist wahr, 
sofern Geister, Nichtgeister und Gott nach Gestalt und Wesen 
von einander verschieden sind und nicht in einander ver- 
fliefsen. 
Seelen. Hierbei gilt von den geistigen, als Seelen bestehenden 
Wesen , welche ihrer Natur nach uneingeschränkte , un- 
begrenzte, fleckenlose Erkenntnis besitzen, jedoch mit dem 
aus den anfanglosen Werken bestehenden Nichtwissen be- 
kleidet sind, dafs ihr Wissen eine den jedesmaligen Werken 
entsprechende Einschränkung oder Erweiterung erfährt, dafs a 
die geniefsende Seele mit dem zugeniefsenden Ungeistigen in 
Berührung tritt (lies : hlwgija-hlmta-acid-hlwldri-samsargah)^ dafs 
sie sich infolge einer aus dem Genufs des entsprechenden 
Wohles und Wehes herrührenden Zweiheit zu dem Bhagavant 
hinwendet, und schliefshch zu der Stätte des Bhagavant ein- 
ungeistiges. geht. Vou dcu ungcistigen Substanzen hingegen gilt, dafs 
sie Objekte des Genusses, ohne Bewufstsein, nicht zum Ziele 
des Menschen gehörig und die Stätte der Wandelbarkeit 
Gott. sind. Von dem höchsten Gotte endlich gilt, dafs er in beiden, 
Geniefsenden und Zugeniefsenden, als innerer Lenker sich 
befindet, dafs er von unendlicher Erkenntnis, Macht, Stärke, 
Kraft, Energie usw. einen keinen Stillstand kennenden Über- 
schwang und unzählige herrliche Tugenden besitzt, dafs, durch 
seinen Wunsch entstanden, die von ihm verschiedenen, sämt- 
lichen, geistigen und ungeistigen Wesen hervorgebracht worden 
sind, und dafs er eine von ihm erwünschte, ihm angemessene, 
einzig gestaltete, himmlisch gestaltete, unübertreffliche, mannig- 
faltige und endlose Herrlichkeit besitzt. 
Grund- Die Einteilung der Grundbegriffe nun ist von Venhata- 
begrifife. 
O' 
nätha in folgender Weise ausgeprägt worden. 
„Substanz und Nichtsubstanz, so unterschieden 
„Ist zweifach, was die Wesenheit man nennt. 
„Zweifach ist die Substanz, starr und beseelt, 
,,Die erstere ist Avyaktam und die Zeit; 
,,Die letztere ist nach innen und nach aufsen. 
,,Die innere ist zweifach, Gott und Seele, 
IV. Die Lehre des Räniänuja. 273 
„Die Hufsere ist ewige Macht und Weisheit, 
„Indes anfänglich starr sie andere nennen." 
^^'eiter wird gesagt : 
„Verschiedene Zustände hat die Substanz. 
„Die Prakriti dann ist mit den drei Guna's, 
„Dem Sattvam und den übrigen, behaftet, 
„Die Zeit hat als Gestalt das Jahr und andres, 
„Die Seele ist unsichtbar fein, erkennend, 
„Der andre Atman wird der Herr genannt, 
,,Die ewige Macht steht über den drei Guna's, 
j.Und doch bleibt mit dem Sattvam sie verbunden. 
,,Der Weisheit Sache ist es, das Objekt 
,,Zu offenbaren dem Erkennenden, 
„Das ist in Küx'ze die Substanzerklärung." 
54 Hierbei sind die unter dem ^^^orte „Geist" zu verstehenden 
individuellen Seelen von der höchsten Seele verschieden und 
doch ewig. Und so sagt auch die Schrift (Mund. Up. 3,1,1, 
gvet. 4,G) : 
,,Zwei Freunde, schön befiedert, wisse 
„Auf einem Baum verbunden du" usw. 
l'nd darum lieifst es auch: ,, Verschieden sind die Seelen 
wegen der Besonderheit ihrer Zustände" (vgl. Vai9. Sütram 
3,2,20). Aber auch die Ewigkeit der Seelen wird von der 
Schrift bevorzugt, denn es heifst (Käth. 2,18, vermengt mit 
Bhag. G. 2,20) : 
,, Nicht wird geboren oder stirbt der Sehende, 
,,Und ward er, wird er doch nicht werden mehr; 
„Stets, ewig, unentstanden bleibt der Alte er, 
,,Der mit des Leibes Hinfall nicht vergehende." 
Denn wäre dem nicht so, so würde Begangenes unvergolten 
bleiben und Unbegangenes vergolten werden. Daher heifst 
es auch: „Weil bei dem Leidenschaftlosen eine abermalige 
Geburt nicht ersichtlich" (Nyäya Sütram 3,1,25). Aber auch 
die Minimalheit der Seele wird von der Schrift bezeugt, wenn 
sie sagt (^vet. 5,9) : 
Deussek, Geschichte der Philosophie. I, in. 18 
274 l^ie philosopliischen Systeme. 
„Spalt' hundertmal des Haares Spitze 
„Und nimm davon ein Hundertstel, 
„Das wisse als der Seele Gröfse, — 
„Und sie wird zur Unendlichkeit." 
Und ferner: 
„Wie einer Ahle Spitze grofs der Purusha" (vgl. ^vet. 5,8). 15 
„Subtil ist er, nur durch das Herz erkennbar" (Mund. 3,1,9). 
Leblose Hingegen ist die unter dem Worte ,,Nichtgeist" zu ver- 
stehende leblose Welt dreifach, indem sie zerfällt in Objekte 
des (jeniefsens, Hilfsmittel des Geniefsens und Stätten des 
Geniefsens. 
Endlich ist als bewirkende wie auch materielle Ursache 
Gott, dieser Welt der Gott genannte höchste Geist zu verstehen, 
welcher auch unter den Namen Väsudeva usw. verstanden 
werden mufs; daher es auch heifst: 
„Der Väsudeva ist das höchste Brahman; 
,,Er ist mit schönen Tugenden geschmückt; 
„Er ist der Welten Urstoff und Bewirker, 
„Sowie das lenkende Prinzip der Seele." 
Dieser Väsudeva nun, d. h. der von höchstem Mitleide 
und von Liebe zu seinen V^erehrern erfüllte höchste Geist . 
nimmt, um die seinen Verehrern entsprechende, jedesmalige 
Belohnung zu verleihen, spielenderweise eine fünffache Gestalt 
an, als Yerehrungsobjekt, Entfaltung, Zerlegung, Subtiles und 
innerer Lenker. Hierbei sind unter dem Verehrungsobjekte 
Götterbilder usw. zu verstehen. Die Entfaltung ist eine Mensch- 
werdung als Räma usw. Seine Zerlegung ist vierfach als 
Väsudeva, Sankarshana, Pradyumna und Aniruddha (oben 
S. 36). Das Subtile ist das vollständige, sechsattributhafte, 
Väsudeva genannte, höchste Brahman. Die Attribute sind die 
Sündlosigkeit usw., denn die Schrift sagt, er sei „sündlos, frei . 
r.5 von Alter, frei von Tod und frei von Leiden, ohne Hunger, . . . , 
wahrhaften Wünschens, wahrhaften Ratschlusses" (Chänd. 
8,7,1). Der innere Lenker ist er, sofern er alle Seelen 
innerlich lenkt, denn die Schrift sagt: „Der, in dem Selbste 
IV. Die Lehre des Rämäiuija. 27") 
woliiKMul . ... das Selbst innerlich regiert" (Brih. 3,7,30 M.). 
Hierbei wird durch die Verehrung der jedesmal vorhergehenden 
Form die das Ziel des Menschen anfeindende Sündenmasse 
getilgt und dadurch die Berufung zu der jedesmal hohem 
VtM-chrung erreicht. Dieses besagen die Verse: 
,,Bei denen, die ihn ehren, voll von Liebe, 
,, Schenkt Yiisudeva je nach der Befugnis 
,,ReichHcli die jedesmal erstrebte Frucht. 
„Zu diesem Zwecke gleichsam spielend nur 
,, Macht fünf Gestalten er zu eigen sich: 
,, Verehrungsobjekt ist in Bildern er, 
,, Entfaltungsartig sind die Menschwerdungen; 
„Sankai'shana und Väsudeva sind 
,,Zu wissen nebst Pradyumna, Aniruddha 
,,Als seine viergestaltete Zerlegung. 
„Vollständig und secbsattributhaft ist, 
..Auch Väsudeva heifsend, das Subtile, 
,,Und dieses wird erklärt als höchstes Brahman. 
,,Der innere Lenker, in der Seele weilend, 
„Die Seele antreibend, wird vorgestellt 
„Als dargelegt durch Wortgeflechte, — wie: 
„«Der in der Seele weilend, >i — des Vedänta. 
,,Wer durch Verehrung des Verehrungsobjekts 
,,Die Sünde tilgt, wird ein Berufener; 
,, Sodann wird er durch Ehren der Entfaltung, 
,, Durch der Zerlegung Ehren weiterhin 
„Imstande endlich sein, in dem Subtilen 
,,Den innern Lenker selber anzuschauen." 
Die Verehrung desselben aber ist fünffach, als Nahen, Herbei- m 
Schäften, Darbringung, Studium und Yoga, wie es in dem 
erhabenen Fancarätram dargelegt wird. Das Nahen besteht 
darin, dafs man den Weg zum Standorte des Gottes kehrt 
und bestreut usw. Das Herbeischaft'en besteht in dem An- 
schaft'en von Wohlgerüchen, Blumen usw. als Mitteln der 
Verehrung; die Darbringung ist dann weiter die Verehrung 
der Gottheit selbst: das Studium besteht in dem mit Aufmerk- 
samkeit auf den Inhalt betriebenen Murmeln von Sprüchen, 
in der Rezitation von Hymnen und Lobgesängeh auf Vishnu, 
18* 
276 Die philosophisclien Systeme. 
in der Nennung seines Namens und in der Beschäftigung mit 
den die Wahrheit darlegenden Lehrbüchern ; der Yoga endhch 
56 ist die Vertiefung in die Gottheit. Nachdem durch die auf 
diese Weise mittels des Werkes der Verehrung erworbene 
Erkenntnis das Sehen des fempirisch] Sehenden bei dem den 
Bhagavant Verehrenden und in ihm Festgewurzelten vernichtet 
worden ist, so gewährt ihm der gegen den Frommen lieb- 
reiche und vom tiefsten Mitleide erfüllte höchste Geist Einlafs 
in seine, entsprechend der Wahrnehmung seiner W^esenheit 
unendlich und ewig gestaltete, eine abermalige Wiederkehr 
zum Erdendasein ausschliefsende Wohnstätte. Und so sagt 
auch die Smriti (Bhag. G. 8,15) : 
„Die Hochgerauten, die zu mir gelangt sind, 
„Erleiden nicht noch einmal die Geburt, 
,,Des Schmerzes unbeständige Behausung; 
„Sie sind gelangt zur äufsersten Vollendung." 
Und ferner: 
,,Wer ihn verehrt, des nimmt auch Väsudeva 
,,Sich an, gewährt ihm Seligkeit ohn' Ende, 
,,Und öffnet seine eigne Wohnstatt ihm, 
„Aus der er nicht mehr wiederkehrt zur Erde." 
Alles dieses erwog Rämänuja in seinem Herzen, und in- 
dem er bemerkte, dafs der von dem ehrwürdigen Lehrer 
Bodhäyana auf Grund der Gedanken der grofsen Upanishad's 
verfafste Kommentar zu den Brahmasütra's sehr umfangreich 
war, so unternahm er es, selbst eine Außlegung der ^'äriraka- 
veddnta- Mimafisä zu entwerfen. Hierbei erklärt er das erste Sütram 
sutrmn 1,1,1. /, i , p 
toJgendermalsen : 
aiha ato hraJima-jijnäsä, iti, 
„nunmehr daher die Brahmanforschung". Hierbei bedeutet 
das Wort aflia die unmittelbare Folge auf die vorhergegangene 
Erkenntnis der Werke. Daher auch der Verfasser des Kom- 
mentares sagt, dafs sofort nach stattgehabter Erkenntnis der 
Werke der Wunsch, das Brahman zu erkennen, sich einstelle. 
Das Wort atas „daher" bezeichnet einen Grund, weil derjenige, 
IV. Die Li'Iire des Rämanuja. 277 
welcher «lin NCda mitsamt den V<Hlrtno;a's durclistiidiort umi 
den Sinn desselben erfafst hat, an dem Werke mit seinen 
ver<;iin,t2;lichen Früchten kein Gefallen mehr findet; deswegen, 
d. h. aus diesem Grunde tritt für denjenigen, welcher nach 
einer dauernden Erlösung trachtet, als Mittel zur Erreichung 
derselben die Brahma nforschung ein. Das Wort hrahmmi 
bedeutet den von Natur an von allen Mängeln befreiten, mit 
unendlich erhabenen und unzähligen, schönen Tugenden aus- 
gestatteten, höchsten Geist. Hieraus ergibt sich, dafs die 
frühere und spätere Mimansa, sofern auch die Erkenntnis und 
Betreibung der Werke als Entsagung bewirkend und den Geist 
von Flecken reinigend ein Mittel zur Erkenntnis des Brahman 
bildet, beide wie Ursache und Wirkung zusammengehören 
und daher ein einziges Lehrbuch bilden. Daher auch die 
Kommentatoren sagen : „dieses Lehrbuch bildet mit dem zwölf- 
teiligen Werke des Jaimini eine Einheit". Dafs aber die Frucht 
der Werke vergänglich, und die Frucht der Erkenntnis des 
15rahman unvergänglich ist, das wurde schon in vielen, durch 
Folgerung und plausible Annahme verstärkten Schriftstellen 
wie der folgenden ausgesprochen (Mund. 1.2,12): 
„Betrachtend diese Welt gebaut durch Werke, 
j.SoU von ihr ab sich wenden der Brahmane. 
„Was unvollbringlicli ist, vollbringt kein Werk." 
Ferner zeigt die Schrift, indem sie jedes von beiden für sich 
allein mifsbilligt, dafs nur die durch A\'erke sich auszeich- 
nende Erkenntnis die Erlösung vollbringt, indem sie sagt 
(l9ä 9. 11): 
,,In blindes Dunkel fährt, wer in Nichtwissen lebte; 
,,In blinderes wohl noch, wer nach dem Wissen strebte. — 4T 
„Doch wer, was Wissen und Nichtwissen heifst, 
,,Sich beider in Vereinigung befleifst, 
„Hat durch Nichtwissenskunde das Sterben überwunden 
„Und durch des Wissens Kunde Unsterblichkeit gefunden," usw. 
Darum heifst es im Geheimbuche der Päncarätra's : 
„Ein Strom von Mitleid, nimmt der Heilige, 
„Voll Zärtliclikeit zum Gläubigen sich neigend, 
278 I^iß philosophischen Systeme. 
„Willfähx'ig sich zu zeigen dem Verehrer, 
„Die Fünfzahl der Erscheinungsformen an. 
„Als Objekt der Verehrung, als Entfaltung, 
,, Zerlegung und Subtiles, innerer Lenker 
,,Wird er zur Zuflucht für der Geister Schar, die 
,,Bald dies, bald das an ihm erkennend fassen. 
,,Des jedesmal Vorherigen Verehrung 
,, Tilgt ihre Sünden und macht fähig sie, 
„Zu der Verehrung der nächstfolgenden 
,, Gestaltung die Berufung zu empfangen. 
„Wenn also Tag für Tag gemäls der Vorschrift, 
„Die Schrift und Smriti für die Pflicht enthalten, 
,,Der Mensch getreulich die Verehrung übt, 
,,Dann zeigt sich Väsudeva gnädig ihm, 
,,Aus Gnaden schenkt ihm Hari dann den Glauben, 
,,Der sich in Meditation beweisend, 
,,Das Nichtwissen, das in der Werke Masse 
,,Zum Ausdruck kommt, mit einem Schlag vernichtet. 
,,Dann werden an dem Menschen offenbar 
,, Allwissenheit und andre Eigenschaften 
„Von schönrer Art, die ihm ursprünglich eigen, 
,,Doch im Sanisära sich verborgen hatten. 
„Das sind die Eigenschaften, die sodann 
„Gemeinsam sind dem Herrn und den Erlösten; 
„Und nur noch in der Schöpferkraft allein 
„Hat Gott den Vorrang noch vor jenen Seelen.* 
jirama- ,, Erlöst jedoch erst im resthaften Brahman, 
,, Erlangen sie, selbst restartig sodann 
58 ,,Im Restlosen Erfüllung aller Wünsche 
,, Zugleich mit jenem weisen [niedern Brahman]."** 
Darum müssen diejenigen, welche krank sind an der Dreiheit 
der Schmerzen, zum Zwecke der Unsterblichkeit das unter 
den Ausdrücken höchster Geist usw. zu verstehende Brahman 
,,erforschen", so sagt das Siitram weiter. Wo aber [wie in 
dem Worte des Sütram jijnäsä, Forschung] Thema und Affix 
sich verbinden, da drücken dieselben vorwiegend zusammen 
den Sinn des Affixes aus. Entsteht daher in uns zufolge 
muktt. 
* Vgl. Brahmasütra 4,4,17. ** Vgl. Brahmasiitra 4,3,10. 4,4,22. 
IV. Die Lehre des Kämanuja. 279 
(1«'S Eiugostiindnisses, dafs wir die Sache niclit haben, ein 
Wunsch darnacli, so ist hierbei die ijcwiinschte Sache das 
HauptsiichHche; dalier hier die Erkenntnis, welche wir wün- 
schen, als ein zu Bewirkendes auftritt. Diese Erkenntnis 
nun ist das durch Worte wie Meditation, Verehrung usw. zu 
bezeichnende Bewufstsein ; sie ist aber nicht eine durch Worte 
hervorzubringende und sofort sich einstellende Erkenntnis; 
denn eine solche würde von dem die W^ortverbindung ver- 
nehmenden Gebildeten auch ohne ein Bewirken erlangt werden. 
Die Schrift aber sagt: „Den Atman fürwahr soll man schauen, 
soll man hören, soll man verstehen, soll man überdenken'" 
(Brih. 2,4,5) ; — ,.als den Atman also soll man es verehren" 
(Brih. 1,4,7): — „durch Forschen soll Erkenntnis man er- 
werben" (Brih. 4,4,21), ,,|wer dieses Selbst] gefunden hat und 
kennt" (Chänd. 8,12,() frei). In diesen Stellen ist der Aus- 
druck „man soll ihn hören" eine blofse Erläuterung; denn der 
Mensch, welcher der Vorschrift des Studiums gemäfs unter 
Auffassung des Studierten mit allen seinen Teilen den Veda 4s 
studiert hat. der hat durch das Schauen des die Absicht 
bildenden Inhaltes, sofern er sich zu dessen Klarlegung aus 
eigenem Triebe schon mit dem Höhern befassen wird, auch 
dieses schon erlangt. Auch die Vorschrift „man soll ihn ver- 
stehen" ist blofs Erläuterung, da mit dem Erlangen des beim 
Hören zugrunde liegenden Sinnes auch das Überdenken schon 
erlangt ist: denn die Regel sagt: ,,auch bei dem, der ihn nicht 
versteht, behält der Kanon seinen Sinn". Das Überdenken 
endlich ist die sichere, in der Kontinuität des wie ein (jlstrom 
ununterbrochenen Gedenkens bestehende Erinnerung; denn 
wenn die Schrift sagt „in der Erinnerung Erfassung liegt die 
Auflösung aller Knoten" (Chänd. 7,26,2), so lehrt sie hier die 
Erinnerung als Mittel der Erlösung kennen. Diese Erinnerung 
aber ist w^esensgleich mit dem Schauen, denn sie ist eins mit 
ihm in der Stelle (Mund. 2,2,8) : 
.,Wer jenes Höchst- und Tiefste schaut, 
„Dem spaltet sich des Herzens Knoten, 
,,üem lösen alle Zweifel sich, 
„Und seine Werke werden Nichts." 
280 I*ie philosophischen Systeme. 
Ebenso wird auch in der Stelle : „Den Atman fürwahr soll man 
schauen" (Brih. 2,4,5) gelehrt, dafs die Erinnerung eine Art 
Schauen ist. Dafs aber die Erinnerung eine Art Schauen ist, 
beruht darauf, dafs sie wesentlich ein Vergegenwärtigen ist. 
Alles dieses ist vom Kommentator dargelegt worden in den 
.-,9 Worten : „eine Erkenntnis sei die Verehrung" usw. Eben diese 
Meditation charakterisiert die Schrift wie folgt (Käth. 2,23): 
,, Nicht ist das Selbst durch Reden zu erlangen, 
,, Durch Scharfsinn nicht, noch Schriftgelehrsamkeit. 
,,Wen er sich wählt, von dem wii'd er empfangen, 
,,Ihm offenbart er seine Wesenheit." 
Denn man wählt, was einem das Liebste ist; und wie er unsere 
Seele als das Liebste erlangt, so ist uns wiederum er, der 
Bhagavant selbst, das Liebste, wie dies von dem Bhagavant 
selber ausgesprochen wird (Bhag. G. 10,10) : 
,,An sie, die allzeit mir ergeben sind, 
„Die mich verehren, Liebe mir bezeigen, 
,, Verleih ich jene Zurüstung des Geistes, 
,, Durch die sie zu mir hingelangen können." 
Und (Bhag. G. 8,22): 
,,Er ist, o Prithä's Sohn, der höchste Geist, 
„Durch ungeteilte Liebe zu erlangen." 
Liebe zu Was abcT die Liebe betrifft, so ist sie eine keinen andern 
""■ Wunsch als die höchste Seligkeit bezweckende und mit Ent- 
sagung auf alles andere verbundene Art des Erkennens, deren 
Erlangung durch Unterscheidung usw. erfolgt. Denn der 
Kommentator sagt: „ihre Erlangung geschieht durch Unter- 
scheidung, Loslösung, Übung, Werk, Edelsein, Unverzagtheit 
und Unausgelassenheit, wegen der Zutreflung und der Be- 
zeugung." Hierbei ist die Unterscheidung die aus einwand- 
freier Nahrung entspringende Wesensreinheit ; ihre Bezeugung 
ist: „Aus Reinheit der Nahrung entspringt Reinheit des 
Wesens, durch Reinheit des Wesens wird die Erinnerung- 
beständig" (Chänd. 7,26,2). — Loslösung ist das Nichthängen 
an der Lust; die Bezeugung ist: ,,Man soll es ehren in der 
IV. l)ii' Li'liro (los Rämäiiiija. 281 
Stille" (Chanel. 3,14,1). — Die l bung ist die fortgesetzte 4>.. 
Beschäftigung damit; die Bezeugung wird vom Konmientator 
aus der Smriti entnommen, wo sie heifst: .,Zu solchem Sein 
wird jedesmal gestaltet er" (Hhag. G. 8,(5). — Das Werk ist 
das Betreiben der von Schrift und Tradition gebotenen Werke 
nach Kräften; die Bezeugung ist: „Dt^r Werkhafte ist der 
vorzüghehste der Brahmanwisser" (Mund. o,l,4). — Edelsein 
bestellt in AVahrhaftigkeit, Geradheit, Barmherzigkeit und Frei- 
gebigkeit; die Bezeugung ist: „Durch Wahrheit wird er- 
langt'' usw. — Unverzagtheit ist das Gegenteil von Kleinmütig- 
keit; die Bezeugung ist: „Nicht wird vom Schwachen dieses 
Selbst erlangt" (Mund. 3,2,4). — Die Unausgelassenheit ist 
die aus dem Gegenspiel der Verzagtheit entspringende Zu- 
friedenheit; die Bezeugung ist: ,,Er ist beruhigt, bezähmt" usw. 
(Brih. 4,4,23). Wer also in dieser Weise durch die Gnade 
des mit solchen besondern Kasteiungen gewonnenen, höchsten 
Geistes die Finsternis seiner Natur verscheucht hat, der erlangt 
durch die mittels Aufhellung der Vorstellung vom Atman als 
t;o einem sich selbst Zweck seienden, unaufhörlichen, unüber- 
trefflichen Gegenstande der Neigung eine vollendete Vertiefung 
als Wesen habende Liebe, die Wohnstätte des höchsten Geistes; 
das steht fest. Darum heifst es bei Yamnna: „Zu erlangen 
ist er durch die Anstrengung ausschliefslicher, unendlicher 
Liebe von dem, der in beiderlei Weise sein Inneres zubereitet 
hat", d. h. dessen Innenorgan durch die Anstrengung der 
Erkenntnis und der Werke geläutert worden ist. 
Aber was ist es für ein Brahman, welches wir erforschen 
sollen ? Im Hinblick hierauf gibt das folgende Sütram als sein 
Älerkmal an : 
janma-ädi asua i/ata'. iti. veciänta- 
•^ .' .' xtitram 1,1,2. 
„woraus LTrsprung usw. dieses [Weltalls] ist." jaitnia-adi, „die 
Geburt als erstes habend" ist ein das Entstehen, Bestehen 
und Vergehen als Eigenschaften dieses [nämlich Weltalls] 
kundmachendes Compositum possesskiim , und besagt : das 
Brahman ist dasjenige, woraus diese in unausdenkbar mannig- 
facher Ordnung geordnete, den Genufs nach Raum und Zeit 
als geregelt habende, vom Brahman bis in die Pflanzenwelt 
282 I^iG pliilosophisoheu Systeme. 
sich erstreckende, Seelen enthaltende Welt ihr Entstehen, 
Bestehen und Vergehen hat, jenes allmächtige, allem Unsitt- 
lichen feindlich entgegenstehende, wahre Wünsche und alle 
weitern unendlich grofsen, zahllosen, schönen Tugenden 
habende, allwissende und allmächtige, persönliche Wesen. 
Das ist der Sinn des Sütram. 
Fragen wir weiter, was dient zum Beweise für das so 
geartete Brahman, so dient zur Antwort, dafs nur der Schrift- 
kanon den Beweisgrund bildet, wenn es heifst: 
veddnta- rästra-iionitväd, üi, 
sutraiH 1,1,3. 
„wegen des Grundseins des [Schrift-JKanons". Nämlich das- 
jenige heifst gustra-yoni, dessen Ursprung, Ursache, Beweis- 
grund die Schrift ist, indem der Inhalt des Schriftkanons seine 
Wesenheit bildet. Weil somit der Schriftkanon die Ursache 
für die Erkenntnis des Brahman und die Ursache für die 
Erkenntnis des Atman ist, darum heifst er der Grund des 
Brahman. Es ist aber nicht daran zu denken, dafs das Brah- 
man auch durch einen andern Beweisgrund erbracht werden 
könne ; denn mit der Wahrnehmung ist hier, wegen der Über- 
sinnlichkeit des Brahman nicht voranzukommen; und die 
Folgerung vollends, dafs das grofse Weltmeer usw. als Wir- 
kung, ebenso wie der Topf, eine Ursache haben müsse, ist 
keine faule Bohne wert. Da somit das Brahman von dieser 
Art ist, so wird es nur von Schriftstellen wie: „dasjenige 
fürwahr, woraus diese Wesen entspringen" usw. (Taitt. Up. 3,1), 
erbracht, das steht fest. 
^lan könnte einwenden: wenn auch das Brahman durch 
keinen andern Beweis erwiesen werden kann, so kann doch 
hier, wo es sich nicht um das Hervorbringen oder Vernichten 
von irgend etwas handelt, d. h. es kann das seiner Natur 
nach fertige Brahman nicht erst von dem Kanon erbracht 
werden. Um dieser Frage zu begegnen, heifst es weiter: 
veddntJ^ ^^^ ^" samanvaiiml, iil 
siitiam 1,1,4. 
„jenes vielmehr, wegen der l'bereinstimmung" ; das Wort 
„vielmehr" soll einem möglichen Zweifel wehren. Nämlich, 
es ist doch möglich, dafs das Brahman den Kanon als seinen 
IV. Hie Lelire des Rämänuja. 283 
Bewoisgnuid liat: warum? „wegen der Ubereinstiininung" ; ,-,o 
(l. h. weil in der Bezeichnung des Brahmiin als des höchsten 
Zieles des Menschen in der Schrift Übereinstimmung herrscht. 
Es braucht aber nicht eben angenommen zu werden, dafs 
bei solchen, wo es sich weder um eine llcrvorbringung noch 
Vernichtung handelt, kein Motiv für die Mitteilung vorliege. 
Denn auch bei Dingen, wo es sich nur um deren Wesenheit 
handelt, z. B. wenn es heilst: „ein Sohn ist dir geboren" 
oder „dieses ist keine Schlange'-, kann in der Freude oder 
der Aufhebung der Furcht ein Motiv der Mitteilung bestehen; 
daher hier alles seine Richtigkeit hat. 
Dieses nur zur Orientierung; das Nähere ist aus dem 
Originalw erk zu entnehmen, daher wir, um nicht weitschweifig 
zu werden, hier Halt machen, da ja alles klar ist. 
V. Die Lehre des Pürnaprajna 
[Aiicmdaürtha. Maüliva, geb. angeblich 1199 p. C). 
C p. 61—73. P p. 50—60. 
Verhältnis Dlcse Lehrmeinung des Rämänuja wird von Anandatirtha 
Tw Rämk- mifsbilligt. Denn obgleich sie mit seiner eigenen Lehre überein- 
""^'^ stimmt in der Minimalheit nnd Sklaverei der Seele, in der 
Übermenschlichkeit, Genügsamkeit über den vollendeten Zweck 
zu belehren und Selbst^utorität des Veda, in der Dreiheit der 
Erkenntnismittel, in dem Schöpfen aus dem Päncarätram, in 
der Annahme, dafs die Vielheit der Weltausbreitung real 
sei usw., so bekundet sie doch andererseits vermöge der 
Annahme der drei Lehrsätze von der Verschiedenheit des 
Entgegengesetzten usw. eine Hinneigung zu den Lehren der 
Kshapanaka's (Jaina's). Aus diesem Grunde verwirft Ananda- 
tirtha jene Lehre, und indem er Vedäntatexten wie „das ist 
die Seele, das bist du" (Chänd. 0,8,7) mittels einer andern 
Zurechtlegung einen andern Sinn unterzulegen weifs, hat er, 
unter dem Vorgeben, eine Erklärung der Brahma-mhuähsä zu 
liefern, einen neuen Weg eingeschlagen, 
ver- Nach seiner Lehrmeinung nämlich ist die Wesenheit zwei- 
der Vielheit. fach, sofcm sic tcils frei, teils unfrei ist. Denn so heifst es 
im Tattvaviveka: 
„Die Wesenheit wird zweifach angenommen, 
,, Sofern sie ja teils frei, teils unfrei i&t. 
„Frei ist nur der verehriingswürdige Vishnu, 
,, Unfehlbar und an aller Tugend reich." 
V. Die Lehre des PAinaprajna. 285 
— « Aber die W'osonheit des Brahraan ist doch von aller 
«gleichartigen und ungleichartigen auf dasselbe bezüglichen 
«Mannigfaltigkeit frei, und solange Vedäntatexte, die dieses 
«lehren, Wache halten, kann doch von einem Reichtum des- 
« selben an aller Tugend keine Rede sein!» — Doch nicht! 
Denn dem widersprechen viele Beweisgründe, welche eine 
Vielheit dartun, so dafs jene Schriftstellen in dieser Frage nicht 
als beweiskräftig gelten können. Denn zunächst und vor 
allem ist es die Wahrnehmung, welche lehrt, dafs dieses a. verschie- 
,.•, ., ,, TTi 1-1 • ^ denheit auf 
von jenem verschieden ist und den Unterschied zwischen wahr- 
62 schwarz und weifs augenscheinlich bezeugt, — Man könnte berXnd. 
einwenden : «Erfafst man dabei die Verschiedenheit selbst als 
«eine Wahrnehmung, oder wird dieselbe erst durch den Gegen- 
«satz der betreffenden Dinge bewirkt? Ersteres ist nicht 
«möglich, da ohne Kenntnis des Gegensatzes eines Dinges 
«auch die auf denselben bezügliche Verschiedenheit unmöglich 
«festgestellt werden kann. Bei der zweiten Eventualität liin- 
« gegen fragt sich weiter, ob der Erkenntnis der Verschieden- 
«heit die Erkenntnis des Dinges und seines Gegensatzes vor- 
« hergeht oder ob dieses alles gleichzeitig erkannt wird? 
«Ersteres geht nicht an, weil die Tätigkeit des Intellektes 
«nicht in dieser Weise in stufenartigen Unterbrechungen vor 
«sich geht, und weil dabei ein Zirkel eintreten würde [sofern 5i 
«die Dinge als entgegengesetzt nur durch die Verschiedenheit, 
«die Verschiedenheit aber nur aus den entgegengesetzten 
«Dingen erkannt werden würde]. Aber auch das letztere geht 
«nicht an, weil die Erkenntnis von Wirkung und Ursache 
«nicht gleichzeitig sein kann; denn die Erkenntnis des Dinges 
«ist offenbar die Ursache für die Auffassung der Verschieden- 
«heit, weil, auch wenn das Ding vorliegt, ohne die Erkenntnis 
«seines noch verborgenen Gegenteils auch deren Verschieden- 
«heit unerkannt bleibt, welche erst erkannt wird, wenn jene 
«erkannt wm'den, und nicht erkannt wird, solange sie nicht 
«erkannt wurden, woraus das Verhältnis beider als Wirkung 
«und Ursache ersichtlich wird. Somit dürfte der Beweis für 
«eine W'ahrnehmbarkeit der Verschiedenheit nicht wohl zu 
«erbringen sein.» — Diesen Einwendungen gegenüber müssen 
wir zunächst fragen: richten sich dieselben gegen die Be- 
286 I*ie philosophischen Systeme. 
hauptiing der Verschiedenheit als einer substantiellen Wesen- 
heit oder gegen die Behauptung der Verschiedenheit der Dinge 
unter einander? Im erstem Falle würdet ihr für das Ver- 
brechen des Spitzbuben den ehrlichen Mann büfsen lassen, 
da die von euch erhobenen Einwände auf jene Auffassung gar 
nicht zutreffen. — «Aber wenn die substantielle Wesenheit 
«der Dinge schon die Verschiedenheit in sich trüge, so würde 
«zu ihrer Erkenntnis die Heranziehung des Gegenteils so 
«wenig erforderlich sein, wie zur Erkenntnis eines einzelnen 
«Kruges; in der Tat tritt aber überall die Verschiedenheit 
«nur in der Art auf, dafs sie die Beziehung zu irgendeinem 
«Gegenteil voraussetzt.» — Dem ist doch nicht so, denn zu- 
erst mufs doch als von allem andern verschieden die sub- 
stantielle Wesenheit erkannt werden, und dann erst kann 
dieselbe mit Rücksicht auf ein Gegenteil in ihrer Verschieden- 
heit von demselben in Betracht gezogen werden. So wird 
z. B. zuerst die substantielle Wesenheit, wie sie in dem Um- 
fange eines Dinges zum Ausdrucke kommt, erkannt, und 
dann erst kann mit Rücksicht auf irgendein Gegenteil eben 
dieses Ding als lang oder kurz bestimmt und dementsprechend 
behandelt werden. Darum heifst es im Yishmdativmiirnnya-. 
„Die Verschiedenheit kann nicht erst aus dem Verhältnisse 
zwischen dem einen und andern Unterschiedenen erkannt 
werden, da das Vorhandensein von zwei Unterschiedenen die 
Verschiedenheit schon voraussetzt; denn sonst würde die 
Verschiedenheit durch das Ding und sein Gegenteil, das Be- 
stehen als Ding und Gegenteil aber durch die Verschiedenheit 
erkannt werden, und infolge dieses Zirkels die Verschieden- 
heit zu einer Ungereimtheit werden, da doch die Verschieden- 
heit ihrem Wesen nach eine ursprüngliche Kategorie ist" usw. 
Daher kommt es, dafs, wer einen Ochsen sucht, sich um einen 
<;;i Büffel, wenn er ihn sieht, nicht kümmert, noch auch an das 
Wort Ochs durch ihn erinnert wird. Man wende nicht ein, 
dafs dann bei dem Anblicke einer Substanz, welche z. B. aus 
Wasser und Milch besteht, auch der Unterschied beider in 
die Wahrnehmung treten müsse, denn es kann der Fall ein- 
treten, dafs infolge von Hindernissen, wie Vermengtheit mit 
Gleichartigem usw., die Auffassung der zutage tretenden 
V. Die Lflire des Piirnaprajna. 287 
ViolluMt unm('>i2;lich «ivraacht wiid. Daniin hoifst es {Safil-Jn/a- 
Käriln Vers 7) : 
„Zu grofse Ferne und zu grol'se Nähe, 
„Der Sinne Störung, Unstetheit des Manas, 
,, Feinheit, Verdeckung, Überwältigung, 
„Sowie Verraengtheit mit Gleichartigem, 
„Bas sind die Gründe [warum Dinge oft 
„Vorhanden und doch nicht wahrnehmbar sind]." 
„Zu grol'se Ferne", z. B. bei einem auf dem Gipfel des Berges 
betindliclien Baume: — „zu grofse Nähe", z. B. bei der Augen- 
salbe: — „Störung der Sinne", z. B. bei dem Blitz; — ,.Un- 
stetlieit des Manas", z. B. desjenigen, dessen Sinne von Leiden- 
schaft usw. umflort sind, bei einem grofs und breit vor ihm 
stehenden Kruge; — ,, Feinheit", z. B. bei einem Atome; — 
„Verdeckung", z. B. bei dem, was hinter einer Wand ist; — 
„i'berwältigung", z.B. bei dem Lichte einer Lampe am Tage: 
— „Vermengtheit", z. B. bei Wasser mit Milch gemischt, — 
das sind die Gründe, aus welchen die Dinge oft nicht auf- 
gefafst werden wie sie sind; dies ist der Sinn. — Aber ge- 
setzt, die Verschiedenheit sei [keine Substanz, sondern] eine 
Oualität, so ist auch dann nichts dagegen einzuwenden, denn 
man kann annehmen, dafs während das Ding und sein Gegen- 
teil aufgefafst wird, zugleich die Verschiedenheit als Oualität 
ins Bewufstsein tritt. Auch läfst sich nicht behaupten, dafs 
bei der Annahme der Verschiedenheit als Qualität die Ver- 
schiedenheit sich von den verschiedenen Dingen, jedesmal 
kraft einer andern Verschiedenheit unterscheiden müsse, und 
dadurch ein unbetretbarer rerircssus in infiniftnti eintreten müsse: 
denn zur Annahme dieser neuen Verschiedenheit ist kein Grund 
vorhanden, da nie jemand behaupten wird, dafs die Ver- 
schiedenheit auch von den verschiedenen Dingen verschieden 
sein müsse. Auch nötigt keini^ Folgerung auf Grund der 
einen Verschiedenheit eine neue Verschiedenheit anzunehmen; 
da dieselbe aber in keinem Falle die ursprüngliche Ver- 
schiedenheit umstürzen kann, so ist auch mit ihrer Aufstellung 
gegen uns nichts auszurichten, es ist vielmehr mit dieser 
Annahme nur so bestellt, dafs wir euch um einen Ölkuchen 
288 Die philosophischen Systeme. 
bitten, und ihr uns gleich ein Fafs voll Ol anbieten wollt. 
Sollte aber die Verschiedenheit, um die es sich ursprünglich 
handelt, gestürzt werden, so wird damit auch eure Aufstellung 
hinfällig. Denn man verheiratet kein Mädchen, damit sie 
ihren Bräutigam tötet. [Man sägt nicht den Ast ab, auf dem 
man sitzt.] Da somit die Hauptsache in keinem Falle hin- 
fällig wird, so kann auch euer regrcssus in inßnitum ihr 
nichts anhaben, 
b. verschie- Weiter aber wird das Vorhandensein der Vielheit auch 
l^oi^gMuiTg bestätigt durch die Folgerung. Der höchste Gott mufs von 
beruhend, ^j^j. ggp]g verschieden sein, weil er von selten ihrer zu ver- 
ehren ist. Denn wer von selten eines andern zu verehren ist, 
der mufs von diesem verschieden sein, wie z. B. ein König 
von seinem Diener. Denn es ist nicht annehmbar, dafs die 
Menschen, wenn sie, getrieben von dem allgemein mensch- 
lichen Streben, Lust zu erlangen und allen Schmerz zu meiden, 
64 sich gelüsten lassen nach der Stellung des Oberherrn, dafür 
seiner Wohltaten teilhaftig werden. Im Gegenteile, sie werden 
dadurch allerlei Unheil auf sich herab beschwören. Aber 
wenn einer die Niedrigkeit seines eigenen Selbstes und die 
Vortrefflichkeit des andern offen anerkennt, dann wird der 
Gepriesene erfreut den Wunsch des Preisenden gewähren. 
Darum heifst es: 
„Den pflegen ja die Könige zu töten, 
,,Der sich verraifst ein König selbst zu sein; 
„Doch dem gewähren sie, was er nur wünscht, 
„Der ihre Tugenden als trefflich preist." 
Wenn daher unsere Gegner in ihrem Streben, die Einheit der 
Seele mit dem höchsten Gotte zu behaupten, die Vortrefflich- 
keiten des Vishnu mit denen einer Wüstenspiegelung gleich- 
setzen, so verfahren sie wie einer, der in dem Verlangen, eine 
grofse Kadali-Frucht zu geniefsen, sich die Zunge zerfleischt, 
weil eine derartige Feindseligkeit gegen Vishnu das Eingehen 
in die blinde Finsternis der Hölle nach sich zieht. Dieses 
wird auch gelehrt von Madhyamandira in dem Mahabhärata- 
tü tparyan t'rn aya : 53 
V. Die liclire des riirnaprajfia. 289 
„0, ihr Dämonen, Hasser von Uranfang, 
„Des Vishnu Ilafs ist mächtig angewachsen; 
„Er stürzt in blinde Finsternis hinab 
„Die sich auf Blindes stützenden Dämonen." 
Dieser Kultus des Vishnu nun ist dreifach, indem er zer- Dreifache 
Verehrung 
fäUt in Stigmatisierung, Namengebung und Vert^hrung. des vishnu. 
Die Stigmatisieruno; besteht darin, dafs man sich die i. Bnrch 
*=• ^ . . Stigmati- 
Waffen und andern Attribute des Vishnu einbrennt, um ihre sierung. 
Gestalt sich gegenwärtig zu halten und dadurch den be- 
absichtigten Zweck zu erreichen. Denn so sagt das Supplement 
der Sanihitä des ^akalya: 
,,Der Mensch trägt auf sich eingebrannt den Diskus, 
„Der Göttern Kraft verleiht, des ewigen Vishnu, 
„Er geht die Schuld abschüttelnd ein zum Himmel, 
,,Den Büfser, frei von Leidenschaft, betreten. 
„Durch diesen in dem Arm getragenen Diskus 
„Sudargana gehn Götter ein zum Himmel; 
„Mit ihm gezeichnet breiten Manu's aus 
„Die Weltschöpfung; ihn tragen die Brahmanen. 
.,Das ist des Vishnu höchster Schritt, 
,,Mit dem gezeichnet sie urahergehn. 
„So lafst auch uns die Male an uns tragen 
„Des \¥eitausschreitenden und glücklich leben." 
Und auch die Upanishad der Taittir'njalias sagt (Taitt.Är. 1,11,1): 
,,Wer roh, wer ungebrannt an Leib, erreicht es nicht; 
„Doch wer es ihm vertrauend trägt, geht dazu ein." 
Auch die einzelnen Körperstellen werden im Agneya-puränam 
angezeigt mit den Worten: 
65 „An seinem rechten Arm soll der Brahmane 
„Das Zeichen tragen des Sudargana; 
„Am linken Arm soll er die Muschel tragen; 
„Das ist es, was die Brahmakenner lehren." 
Auch ein besonderer Vers findet sich über das Tragen des 
Diskus an einem andern Orte: 
Deüssen, Geschichte der Philosophie. I,ni. 15/ 
290 Die philosophischen Sj'steme. 
„Sudargana, du flammendes Geschofs, 
,,An Glänze gleich zehn Millionen Sonnen, 
,,0 zeige mir, dem durch Nichtwissen Blinden, 
,,Den Pfad des Vishnu jetzt und immerdar! 
,,Du der du, aus dem Ozean einst entsprungen, 
,,Von Vishnu wirst in seiner Hand getragen, 
,,Dir huldigen sich neigend alle Götter, 
,,Dir sei, o Päncajanya, die Verehrung." 
2. Durch Die Namengebung besteht darin, dafs man seinen Söhnen 
gebung. usw. Beinamen des Vishnu, wie Ke^ava usw. gibt, um alle 
Zeit dieser Namen eingedenk zu sein. 
3. Durch Die Verehrung ist zehnfach, sofern sie geübt wird in 
ere rung. ^y^j-^^^j^ ^]g Wahrheit, Gütigkeit, Freundlichkeit und Veda- 
studium, in Werken als Almosengeben, Retten und Schützen s* 
und in Gedanken als Mitleid, Eifer und Glaube. Wenn man 
jedes einzelne von diesen verwirklicht und es so dem Nä- 
räyana darbringt, so ist das die Verehrung. Darum heifst es: 
,, Stigmatisation und Namengebung, 
„Und die Verehrung, welche zehnfacli ist." 
In dieser Weise ergibt sich durch Folgerung die Verschieden- 
heit zwischen Mensch und Gott daraus, dafs letzterer ein 
Objekt der Erkenntnis usw. ist. 
c. verschie- Weiter endlich läfst sich diese Verschiedenheit auch aus der 
de^r° Schrift- S chrif t off cnbarung erweisen. Denn wenn es z, B. heifst: 
Offenbarung 
beruhend. 
,,Ihm als dem wahren jauchzen alle zu, 
„Die Huld des gabenreichen Gottes preisend." (Rigv. 4,17,5.) 
— „Als wahr wird seine Macht gerühmt und Stärke 
„Bei Opfern in der Frommen Kreis (Rigv. 8,3,4) ; 
,,Wahr ist das Selbst, wahr die Seele, 
„Wahr ist die Vielheit, wahr die Vielheit, 
,,In mir ist Trug, in mir ist Trug, in mir ist Trug" (^värunyas 
eig. Weingeister?), 
so lehren Schriftstellen wie diese, dafs die Wonne der Er- 
lösung mit der Vielheit behaftet ist. Und wenn es heifst 
(Bhag. G. 14,2) : 
V. Die Lehre des rürnaprajfia. 291 
„Wer dieses Wissen sich zu eigen macht 
,,Un<i so mit mir zur Wesensgleichheit kommt, 
„Wird bei der Schöpfung selbst nicht mehr geboren 
„Und wankt nicht Tuelir beim Weltenuntergang", 
sowie l'erncr „aufser der Welt-Fürsorge, weil er bestallt und 
sie abgehalten" (Vedanta-sütra 4,4,17), so lehren derartige 
Stellen eben dasselbe. Und man darf nicht etwa auf Grund 
von Schriftstellen, wie: ,,Wer Brahman erkennt, der wird zu 
Brahman" (Mund. 3,2,9) glauben, als sei die individuelle Seele 
1.6 der höchste Gott, denn der Sinn ist nur, ähnlich wie in dem 
Verse: „Der (^üdra, welcher gläubig den Brahmanen ehrt, 
wird selber zum Brahmanen", dal's er dadurch eine Erhöhung 
erfährt. — «Aber heifst es nicht auch: 
«„Wenn die Weltausbreitung vorhanden wäre, 
«„So müfste sie gewifs zunichte werden; 
«„Darum beruht auf Täuschung blofs die Zweiheit, 
«„Und Nichtzweiheit ist sie in Wii'klichkeit", 
«und beweisen diese Worte nicht, dafs die Zweiheit eine blofse 
"Annahme ist?» — Freilich beweisen sie das, wenn man sie 
anwendet, ohne ihren Sinn zu verstehen; denn der Sinn ist: 
wenn dieselbe entstanden wäre, so müfste sie gewifs zunichte 
werden; und hieraus folgt, dafs diese weit sich ausdehnende, 
fünffache Weltausbreitung anfanglos ist. Auch ist dieselbe 
darum noch nicht ohne Realität, weil sie eine blofse Täuschung 
(mCujä) ist, indem unter maijä hier der Wille Gottes verstanden 
werden mufs. Denn es heifst: 
,,Als grofse Mäyä und als das Nichtwissen, 
„Als die Notwendigkeit, als Blenderin, 
,,Als Prakriti und als die Wahnvorstellung, 
,,So wird dein Wille, Ewiger, benannt. 
„Prakriti lieifst er als das Ausgedehnte (prakrisliia)i 
,, Wahnvorstellung, weil Vorstellung sein Werk; 
„Wenn a man sagt, ist Hari zu verstehen, 
„A-vi(lyä (Nichtwissen) folglich seine Schöpfung heifst. 
,,Mäyä heifst diese, weil sie meisterhaft; 
„Ein Meisterwerk nennt man ja Mäyä's Werk. 
19* 
292 Die philosophischen Systeme. 
,,So liegt denn nur des Vishnu weise Kunst 
„In allen jenen Worten ausgedrückt; 
„Denn seinem Wesen nach ist Hari Weisheit, 
„Und Weisheit ist dem Wesen nach Selbstwonne"; 
und es gibt eine Menge von Stellen dieser Art, welche unsere 55 
obige Behauptung beweisen. Und dasjenige, woran sich diese 
Weisheit im Erkennen (inäna) und Erhalten (träna) bewährt, 
das heifst darum aus blofser Täuschung bestehend (mäyä- 
mäira). Weil somit die vielheitliche Welt von dem höchsten 
Gott erkannt und beschützt wird, kann sie nicht auf einem 
blofsen Irrtume beruhen ; denn der Irrtum des Weltganzen in 
Gott ist nicht denkbar, da jeder Irrtum darin besteht, einen 
vorhandenen Unterschied nicht einzusehen [folglich die Unter- 
schiede als vorhanden voraussetzt]. — Fragen wir mm, wie 
der höchste Gott zu bestimmen ist, so gibt darauf der oben 
zitierte Vers zur Antwort : „Und Nichtzweiheit ist sie in Wirk- 
hchkeit", und damit ist nur gesagt, dafs in Wirklichkeit, 
d. h. was die höchste Eealität betrifft, neben der allerhabenen 
Eealität des Vishnu ein Gleiches oder Höheres nicht vorhanden 
ist. Darum heifst es auch in der höchsten Offenbarung: 
67 5)Dei' Unterschied von Seele und von Gott, 
,,Der Unterschied des Leblosen und Gottes, 
„Der Unterschied der Seelen von einander, 
,,Der Unterschied von Leblosem und Seele, 
„Und der leblosen Dinge von einander, 
„Ist die fünffach geschiedene Weltausbreitung. 
,,Sie ist real und sie ist anfanglos. 
,,Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende; 
,,Ein Ende aber gibt es nicht der Welt. 
,,Auch kann sie nicht auf Irrtum blofs beruhen, 
„Weil, was auf ihm beruht, zugrunde geht; 
„Und nimmermehr geht diese Welt zugrunde. 
,,Dafs somit eine Vielheit nicht vorhanden, 
„Ist nur Behauptung solcher, die unkundig. 
,,Der Kundigen Behauptung ist, dafs Vishnu 
,,Der Schöpfer und der Walter dieser Welt ist. 
„Daher sie auch die Schöpfungswelt (mätram. von mä und 
träj genannt wird, 
,,Er aber wird genannt Hari der Höchste." 
V. Die Lehre des Pnrnaprajna. 293 
Darum ist die Alleihabenhcit des Vislinu der Hauptinhalt 
aller Schriftlehren. Und eben dieses meint der Heilige, wenn 
er sagt (Bhag. G. 15,16—20): 
„Zwei Geister sind in dieser Welt vorhanden, 
„Der Teilbare sowie der Unteilbare. 
,,Der Teilbare besteht ans allen Wesen, 
„Der Unteilbare steht an ihrer Spitze. 
„Jedoch der höchste Geist ist noch ein andrer, 
„Der höchste Atraan wird er auch genannt, 
,,Der eingeht hi die Dreiheit dieser Welten, 
„Als Gott, als unvergcänglich sie erhaltend. 
„Darum bin höher ich, als das Teilbare, 
„Und höher als das Unteilbai'e auch. 
,, Daher im Leben wie im Veda ich 
„Gepriesen werde als der höchste Geist. 
,,Wer unbeirrt mich anerkennt als diesen, 
„Wer mich erkannt hat als den höchsten Geist, 
„Der ist allwissend, und ich werde ihm 
„Nach meiner ganzen Wesenheit zuteil. 
,,Das ist die höchst geheimnisvolle Lehre, 
„Die ich dir hier, o Bhärata, verkündigt. 
,,Wer diese weifs, der ist der -wahrhaft Weise, 
„Der hat vollbracht, was zu vollbringen ist." 
L'nd auch im Buche von dem grofsen Eber (Mahävaräha) 56 
heiTst es: 
6S „Der höchste Inhalt aller Vedaschriften 
„Bezieht sich auf der Qri erhabenen Gatten; 
,,Und wo ein anderer, als er, gelobt wird, 
,,Wird jener mittelbar durch ihn gepriesen." 
AVird aber Vishnu mittels aller andern gepriesen, so folgt, 
dal's er auch das grofse Endziel ist. Nämlich das höchste ziei des 
Ziel aller Menschen liegt in der Erlösung ; denn die Ziele des 
Guten, Nützlichen und Angenehmen sind vergänglich, die Er- 
lösung allein ist ewig: „darum soll allezeit nach diesem Ziele 
der mit Besonnenheit Begabte trachten!" wie die Upanishad 
der BliäUavc)/a''s sagt. Die Erlösung nun kann ohne die 
Gnade des Vishnu nicht erlangt werden ; „durch dessen Gnade 
Menschen. 
294 I^iß philosopliisclien Systeme. 
jene höchste ist, durch dessen Wesenheit der Mensch aus 
dieser AVanderung erlöst wird, nicht aber die Gemeinen, welche 
Götter ehren, er ist als Höchster anzusehen von allen, die 
nach Erlösung von der Werke Fesseln trachten", wie die 
Näräyana - Upai lisliad sagt ; 
,,Wenn er gnädig nur ist, was erlangt man nicht hier. 
„Nicht von Nutzen und Lust sprecht, gemein sind sie nur; 
„Wer erklommen des Brahman unendlichen Baum, 
,,Ist gelangt zu der Frucht der Erlösung gewifs", 
wde es in dem Vishnu-purunani heilst. Seine Gnade aber wird 
erlangt nur durch die Erkenntnis der Erhabenheit seiner 
Qualitäten, nicht durch die Erkenntnis der Einheit mit ihm. 
Hierdurch braucht die in Schriftworten wie „das bist du" 
(Chand. 6,8,7) gefundene Wesensidentität keineswegs er- 
schüttert zu werden, da diese Wesensidentität in der Tat nur 
die Ausgeburt eines unzureichenden Verständnisses des Schrift- 
inhaltes ist. 
„Das Wörtchen «das» in seiner Unbestimmtheit 
„Bezeichnet etwas ewig Transzendentes, 
„Der Sinn von «dii» ist aber immanent; 
„Wie ist daher die Einheit beider möglich? — 
„Wie in dem Satz: «der Pfosten ist die Sonne o, 
„So meint auch hier die Schrift nur Ähnlichkeit." 
Und so sagt auch die höchste Offenbarung: 
„Der einzelnen und höchsten Seele Einheit 
,, Besagt entweder Gleichheit des Bewufstseins, 
,,Oder den Eingang zu derselben Stätte, 
,,Oder den Ort der Offenbarung Gottes; 
„Nicht aber Einheit der Natur mit ihm, 
„Von dem auch der Erlöste noch verschieden; 
69 „Denn Gott ist frei und grofs, die Seele aber 
„Unfrei und klein, das ist der Unterschied." 
Oder auch man kann an der betreffenden Stelle [Chänd. 6,8,7 
im Anschlüsse an das vorhergehende ätmä] atat tvani asi lesen, 
und erklären, jene Seele, die mit Freiheit usw. begabt ist, 
„das bist du nicht", d. h. du bist von ihr verschieden, sofern 
V. Die Lehre des riirnaprajfia. 295 
(hl eben jener Vorzüge entbehrst, wodurch um so viel mehr 
jene Einheit ausgeschlossen wäre. Darum heifst es: 
„Oder man trenne ab, «das bist du nicht», 57 
,,So wird erst recht die Einheit ausgeschlossen." 
Dalier auch bei den neun Gleichnissen : „Gleichwie ein Vogel, 
der an einen Faden gebunden ist" usw. (Chänd. G,8 — 16), die 
Xiclit Vielheit nur erwähnt wird, um gerade in betreft' ihrer 
Zerteihmg eine Erläuterung durch Beispiele zu geben, wie das 
'nütva-väda-rahasi/am sagt. Und so auch heifst es in der 
M ah n-npanisj 1(1(1 : 
„So wie der Vogel und das Band des Fadens (Chänd. 6,8), 
„So wie der vielen Bäume Säfte Einheit (Chänd. 6,9), 
,,So wie die Flüsse und der Ozean (Chänd. 6.10), 
..Wie reines Wasser und des Salzes Zusatz (Chänd. 6,13), 
..So wie der Dieb und der Bestohlene (Chänd. 6,16), 
„So wie der Mensch und das, was ihn umgibt (Chänd. 6,14 od. 15). 
„So sind zu scheiden auch Gott und die Seelen, 
..Da sie durchaus sich als verschieden zeigen. 
..Jedoch wird ob der Feinheit seines Wesens 
„Der höchste Hari von der Seele nicht 
..Von Leuten trägen Geistes unterschieden, 
,, Zumal er auch als ihr Erreger wirkt. 
,,Wer beide als verschieden hat erkannt, 
,,Der wird erlöst, wer nicht, der bleibt gebunden. 
„Brahmän und Qiva, Götter und Geschöpfe, 
„Sie sind vergänglich, weil ihr Leib vergeht. 
,,Der Lakshmi Leib allein ist unvergänglich, 
„Und höher noch als sie steht Hari selbst, 
,, Indes an Freiheit, Kräften und Erkenntnis, 
„An Seligkeit und allen andern Stücken, 
„Sie alle, alle Götter mit einander, 
., Unendlich sehr von ihm abhängig sind. 
„Wer Vishnu als erfüllt mit allen Kräften 
„Erkennt und vom Samsära sich befreit, 
,,Der wird im Vollgenufs schmerzloser Wonne, 
,,In seiner Nähe ewig sich ei'freuen. 
,,Ja, Vishnu ist die Zuflucht der Erlösten, 
„Er ist der Oberste der Oberherrn, 
kein Trug. 
296 T^ie philosophischen Systeme. 
70 15^ on ihm abhängig sind die Götter alle, 
„Er ist und bleibt der Herr und Gott allein." 
Wenn aber weiter versprochen wurde, dafs in der Erkenntnis 
des Einen alles erkannt werden solle (Chänd. 6,1), so ist dies 
dahin aufzufassen, dafs er von allem die Hauptsache und die 
Die Welt Ursache ist, nicht aber, dafs alles aufser ihm blofser Trug 
sei. Denn sonst würde [wenn in der Erkenntnis Gottes die Er- 
kenntnis der Welt lägej in der Erkenntnis der Wahrheit die 
Erkenntnis des Truges liegen, was unmöglich ist. Wie man 
daher eine Dorfschaft kennt oder nicht kennt, wenn man die 
hervorragendsten Männer kennt oder nicht kennt, so ist 
auch eine Unterweisung wie die vorliegende aufzufassen, oder 
auch, wie einer, der den Vater als die Ursache kennt, damit 
auch den Sohn desselben kennt. Sonst würden ja auch in 
der Stelle: „Gleichwie, o Teurer, durch einen Tonklumpen 
alles was aus Ton besteht, erkannt ist" (Chänd. 6,1,3) die 
Worte ,, einen"' und ,, Klumpen" überflüssig sein, und es würde 
genügt haben, zu sagen „wie durch die Erkenntnis des Tones". 
Und man darf auch nicht annehmen, dafs in den folgenden 
Worten: „Auf Worten beruhend ist die Umwandlung, ein •■)8 
blofser Name, Ton nur ist es in Wahrheit", die Wirkung der 
Ursache für einen blofsen Trug erklärt würde. Vielmehr ist 
der Sinn folgender: dasjenige, dessen Umwandlung auf blofsen 
Worten beruht, ist das Unwandelbare, Ewige, und seine Be- 
nennung ist Ton usw., und wenn man so sagt, so ist die Rede 
wahr; — womit also die Realität [z. B. des Tones] anerkannt 
wird. Anderenfalls nämlich würden die Worte „ein blofser 
Name" und ,,nur" überflüssig sein. Es läfst sich also aus 
dieser Stelle unmöglich beweisen, dafs die Welt nicht real sei. 
Ferner: wenn ich sage „die Welt ist ein Trug", ist da das 
Trugsein wirklich oder nicht wirklich? Im erstem Falle folgt, 
dafs die Theorie von der alleinigen Realität der Nichtzweiheit 
hinfällig wird; im letztern Falle ergibt sich, dafs die Welt- 
ausbreitung real ist. — «Aber steht es mit dieser Einwendung 
«nicht ebenso, als wenn ich sage: „Die Nichtewigkeit ist ent- 
« weder ewig oder nicht ewig, denn sie kann nicht beides 
«sein": und ist somit eure Einwendung nicht eine blofse Jäti 
V. Die Li'lno des l'ürnaprajfia. 297 
«(falsclu' Verallgeiiu'ineruiii;-), iiiiinlich diejenige, welche 
(.aiKi/dsaina (die dem Ewigen analoge) heilst V Denn der Er- 
(( linder der Logik -Seligkeit sagt Ja: ,,w<'il dem Nichtewigen, 
«sofern es ewig ein Nichtewiges bleibt, die Ewigkeit zukommt, 
«heilst diese (Art der falschen Verallgemeinerung] »ityasama 
«(die dem Ewigen analoge)." {Xi/äi/asnit-a 5,1,35). Und in der 
« Türl'ilaral'shä heifst es : 
«„Bei einem Merkmal ist es nicht erlaubt 
«„Beliebig Sein und Nichtsein anzunehmen. 
«„Wird nun durch Beilegung und Nichtbeilegung 
«„Des Merkmals aufgelöst der Merkmalsträger, 
«„Wie bei dem Ewigen, das heifst nitt/asama.^'' 
«Auf diese Benennung wird auch eine Anspielung beabsich- 
«tigt, wenn es in der Prahodliasiddhi heifst: „Weil sie jedoch 
«dem Sinn entsprechend ist, heifst sie die dem mafsgebenden 
«Merkmal analoge.'* Darum ist jene eure Einwendung [gegen 
«unsern Satz ,,die Welt ist ein Trug"] unzutreffend.» — 
n Hierauf ist zu erwidern : Damit könnt ihr nur einem l'n- 
gelehrten bange machen, solange es euch nicht gelingt, die 
Wurzel eurer Einwendung blofszulegeu. Diese kann zwei- 
fach sein, allgemein oder nicht allgemein. Die erstere ist die, 
welche sich selbst aufhebt. Die zweite ist dreifach, sofern 
in ihr entweder ein notwendiges Glied fehlt, oder ein un- 
gehöriges Glied sich einmischt, oder eine Beziehung auf das, 
was nicht zur Sache gehört, vorliegt. Was nun zunächst die 
allgemeine Wurzel betrifft, so trifft sie hier nicht zu, denn es 
ist bei eurer Einwendung nicht abzusehen, inwiefern unsere 
Thesis [„der Trug ist wirklich nicht wirklich", ähnlich dem 
Satze „das Nichtewige ist ewig nicht ewig"j auf sich selbst 
eine sie aufhebende Anwendung linden soll. Ebensowenig 
aber ist eine der nicht allgemeinen Wurzeln hier am Platze; 
denn, wenn der Krug nicht ist, und ich dieses Nichtsein aus- 
spreche, so kann ich dieses ganz wohl so tun, dafs ich es 
gleich wie ein Sein vorstelle [z. B. indem ich sage, ,,der Krug 
hat die Eigenschaft des Nichtseins"]. — «Aber wir behaupten 
"doch von der Weltausbreitung nur, dafs sie ein Trug, nicht 
«aber, dafs sie nichtseiend sei!» — Nun, das kommt dann 
298 I^ie philosophischen Systeme. 
dem Verhalten des Kärrners gleich, der keine hundert geben 
wollte, und kostete es ihm den Kopf, aber fünf mal zwanzig 
zu geben erbötig war. Denn Trugsein und Nichtsein sind 
eben Wechselbegriffe. Doch, der Worte sind genug ge- 
wechselt. 
Wenn nun das erste Sütram der (Järiraka-Mimäiisa lautet : 
vedänta- atUa ttto hrolmia-jijüäsä, 
sütiam 1,1,1. 
„nunmehr daher die Brahmanforschung", so ist dieses sein 
Sinn. Das Wort atlia nehmen wir so, dafs es sowohl einen 
Segenswunsch, als auch die unmittelbare Folge auf das Be- 
rufensein bedeutet, während das Woi't ata^ auf einen Grund 
hinweist. Darum heifst es im Gäruäam: 
„Wenn mit den Worten «nunmehr» und «daher» 
„Die Sutra's allesamt beginnen müssen, 
„Kraft einer Regel, die notwendig ist, 
,,Wo liegt der Grund zu dieser Nötigung? 59 
„Was ist der beiden Worte Sinn, o Weiser, 
,,Und worin liegt ihre Vorzüglichkeit ? 
„Das wollest du, o Brahman, mir ansagen, 
,, Damit ich es erkenne, wie es ist. 
,,Als Närada um dies den Brahman fragte, 
„Da gab zur Antwort der Vortrefflichste: 
„Das Wort «nunmehr» bedeutet einerseits 
,,Das Vorhergehen des Berufenseins, 
,,Und andererseits ist es ein Segenswunsch. 
„Das Wort «daher» weist hin auf einen Grund." 
Weil nämlich die Erlösung nicht erlangt werden kann ohne 
die Gnade des Näräyana, seine Gnade aber nicht ohne die 
Erkenntnis, daher ist die Brahmanforschung anzustellen. 
72 Weiter wird als Merkmal des zu erforschenden Brahman 
angegeben : 
vedänta- janma-acll dsi/a i/ata, iti, 
Bütram 1,1, V. ... _ 
„woraus Ursprung usw. dieses [Weltalls] ist". Das heifst, I 
dasjenige, aus welchem das Entstehen, Bestehen usw. ge- " 
schiebt, ist das Brahman. l'nd so sagt auch ein Wort des 
SJianda -purämmi : 
V. Die Lehre des Piiniaprajna. 299 
„Der Geist, a,us welchem Ursprung und Bestand 
„Und Untergang, Notwendigkeit und "Wissen, 
„Einhüllung, Bindung und Erlösung stammt, 
„Ilari ist dieser Geist, der einige König." 
Und dafür zeugoii auch Schrit'tstellen wie: „dasjenige, für- 
\valir, woraus diese Wesen entspringen" usw. (Taitt. Up. o,lj. 
Hierfür wird weiter als Beweis angegeben: 
(jasfra-ijonifväd, iti, vedänta- 
sütram 1,1,3. 
„wegen des Grundseins des [Schriftjkanons". Denn nacli 
den Scliriftstellen: „Nur aus dem Veda kennt man jenen 
Grofsen" (Taitt. Br. 3,12,9,7), — „nach diesem Geiste der 
l'panishadlehre" (Brih. 3,9,20) usw. wird die Erlangung jenes 
Geistes auf dem Wege der Folgerung für unmöglich erklärt, 
und überhaupt kommt der Folgerung keine in sich selbst be- 
ruhende Autorität zu. Darum heilst es im Kfirma-puränam: 
„Wird von der Otfenbarung sie gestützt nicht, 
„So kann die Folgerung in keiner Weise 
„Mit Sicherheit etwas zuwege bringen, 
„Und ebenso kein anderer Beweisweg. 
„Wird aber unterstützt von Schrift und Smriti 
„Ein anderer Beweisweg, der sonst gut ist, 
„Dann tritt er in die Sphäre der Beweiskraft, 
„Kein Zweifel ist dann weiter mehr zu hegen." 
Der Lehrkanon aber wird im SJcanda-puränam besclmeben 
wie folgt: 
„Rig-, Yajur-, Sama- und Atharva-Veda, 
„Das Bhäratam und Päucarätrakara, 
,,Und das ursprüngliche Rämäyanam, 
,,Dies alles wird der Lehrkanon genannt. 
„Und was mit diesen Schriften übereinstimmt, 
,,Auch das wird als Lehrkanon zugelassen. 
„Doch alle Werke, die hiervon verschieden, 
„Sind nicht Lehrkanon, sind ein Abweg nur." 
Hält man sich an die Regel, dafs die kanonische Lehre aus 
diesen und keinen andern Schriften zu gewinnen ist, so 
300 Die philosophischen Systeme. 
ergibt sich als das Richtige die Yerschiedenlieit [von Gott und 
Seele], und die Hoffnung der Advaita's (Monisten), dafs die 
Vedatexte nicht hierauf, sondern auf die Einheit von Gott und 
Seele abzwecken, wird hinfällig; durch blofse Folgerung aber 
läfst sich weder das Dasein Gottes noch auch seine Ver- 
scliiedenheit von der Seele erweisen. Diese Verschiedenheit 
ist somit nicht eine nebensächliche Bestimmung, sondern die 
eigentliche Hauptsache. Darum heifst es: 
73 5)Der durch die heil'ge Schrift allein erkannt wird, 60 
,,Der Ewiges und Nichtewiges übersteigt, 
„Näräyana, sei stets von mir verehrt, 
„Er, welcher aller reinen Tugend Hort ist." 
Die Beweiskraft des Lehrkanons wird weiter dargetan in 
den Worten: 
vedänta- M iu, scimanvai/df. 
sütram 1,1,4. 
,, jenes vielmehr, wegen der Übereinstimmung". Betreffs der 
Übereinstimmung werden der Anfang usw. als Merkmale 
[welche übereinstimmen müssen], genannt in der Brihat- 
Samhitä : 
„Anfang und Ende und die Wiederholung, 
,,Was neu auftritt und was die Frucht betrifft, 
,,Die Sacherklärung und die Zutreffung 
,,Sind Merkmal für die Sicherheit des Inhalts." 
Sofern man aus ihnen auf den Inhalt des Vedänta schliefst, 
ergibt sich, dafs jenes, nämlich das Brahman, der Gegenstand 
des Lehrkanons ist; das ist der Sinn. 
Wir haben hier nur soviel mitgeteilt, wie zur Orientierung- 
nötig; das übrige ist in der Erläuterung zum Kommentare des 
Anandatirtha und andern Werken nachzusehen; hier über- 
gehen wir es aus Furcht vor einer zu grofsen Ausdehnung 
unseres Werkes. 
Schiufswort. Die vorliegende Geheimlehre ist dargelegt worden von 
Pürnaprajna Madhyamandira , welcher sich für die dritte In- 
karnation des Windgottes hielt: 
V. Die Lehre des rürnaprajua. 301 
„Die erste Menschwerdung desselben ist 
„Der Hanumant, die zweite weiter Blnnia; 
„Die dritte Menschwerdung ist Piirnaprajna, 
„Der durchgeführt des heiligen Vishnu Zwecke." 
Dieses hat es zu bedeuten, wenn hin und wieder am Ende 
einer Schrift folgender Vers sich findet: 
„Von ihm, dem im Worte des Veda zugleich 
„Drei göttliche Formen sind beigelegt oft, 
„Ist dies zur Genüge hier niedergelegt, 
„Was im Veda als Keime an Herrlichkeit liegt. 
,,Der dem Worte des Räma sich Beugende war 
„Des Windgottes erste Erscheinungsgestalt; 
„Die zweite war Vriksha, die di'itte sodann 
,,War Madhva., von welchem herrühret dies Werk, 
,,Das er schuf in dem Gotte mit wallendem Haar." 
Der Sinn dieses Verses ist zu entnehmen aus Schriftstellen 
wie (Eigv. 1,141,1): 
,,So ward füi'\vahr des Gottes schöne Lichtgestalt, 
„Des Kraftentsprungnen, hier zur Zierde aufgestellt." 
Somit bildet den Hauptinhalt des Kanons die Lehre, dafs die 
Wesenheit des Vishnu die höchste von allen ist, wodurcli 
alles im richtigen Lichte erscheint. 
VI. Die Lehre der Nakulica-pacupata's. 
C p. 74—80. P p. 60—66. 
Ablehnung „DiesG Theorie der Anhänger des Vishnu, welche sich 
nulismus'." nur als eine Knechtschaft usw. bezeichnen läfst und mit den 
Leiden, welche" die Abhängigkeit von einem andern mit sich 
bringt, behaftet bleibt, kann uns als der erstrebte Standort 
der Beendigung aller Leiden usw. nicht befriedigen, da es 
doch die volle Gottherrlichkeit ist, welche wir begehren. Viel- 
mehr können diejenigen, welche noch von einem andern 
überragt werden (lies : imra-ahhihhutäh)^ nicht für erlöst gelten, ei 
weil sie abhängig sind und ebensogut wie unsereiner der 
vollen Gottherrlichkeit ermangeln. Die erlösten Seelen hin- 
gegen müssen die Eigenschaften des höchsten Gottes an sich 
tragen, denn da sie rein geistige Wesen sind, so müssen sie 
ebensosehr wie der höchste Gott der Möglichkeit alles Leidens 
enthoben sein." — Das etwa ist die Argumentation, auf Grund 
deren gewisse Anhänger des MaheQvara als das Mittel zur 
Verwirklichung des höchsten Zieles des Menschen das in der 
Darlegung der fünf Zwecke gipfelnde Pä^upata-System sich 
zu eigen machen. 
Erklärung lu dlcscm Systemo lautet das erste Sütram wie folgt: 
sütraL. „Nunmehr daher wollen wir die Weise der Hingebung 
des Pä^upata an den Herrn der Geschöpfe erklären." 
Der Sinn dieses Sütram ist wie folgt: 
NeunGrund- Das Wort „nunmclir" (atha) bezieht sich auf ein Vor- 
hergegangenes. Vorhergegangen aber ist die Frage des 
o 
VI. Die liohie ilor Nakuli(;a-päriij)ata's. 30 
. Schülers an den Lehrer. Das Wesen des Lohrors nun wird 
in der Gunahdf'iliä folgendermafsen heschrieben: 
„Die acht Fünfheiten hat man zu begreifen, 
„Dazu die Schar der einheithclien Dreiheit. 
„Wer diese Zahl der Neunheit wohl versteht 
„Und ihrer Weihe teilhaft ist, heifst Lehrer. 
„Erlangung, Unreinheit und dann die Mittel, 
„Gelegenheit, Zustand und Reinigung, 
„Die Weihegebung und die Kräfte sind 
„Acht Fünfheiten, und das dreifach-Verfahren." 
„Das dreifach -Verfahren" (irmi vriitayah) ist eine vedische 
Konstruktion für das ,, dreifache Verfahren" (iisro vriitayah). 
1. Die Erlangung besteht in der vorgeschriebenen, i. Er- 
durch die Mittel zu erlangenden Frucht und ist fünffach, so- ^"^''°^- 
fern sie sich gliedert in Erkenntnis, Bufse, Gleichmäfsigkeit 
des Leibes [falls deha zu lesen], Beständigkeit und Reinheit. 
Darum sagt der Lehrer Haradatta: 
„Erkenntnis, Bufse und Gleichmäfsigkeit, 
„Beständigkeit und Reinheit sind die fünfe." 
2. Die Unreinheit ist das verderbte Wesen in betreff 2. unrem- 
des eigenen Selbstes und ist wiederum fünffach, zufolge seiner 
Einteilung in irrtümliche Erkenntnis usw. Auch darüber 
heifst es : 
„Irrtümliche Erkenntnis, Ungerechtsein, 
„Ankleben, Band der Ursach' und Verfall, 
„Die fünfe sind als Wurzel des Geschöpfseins 
„Bei uns zu meiden nach der Richtigkeit." 
0. Mittel ist dasjenige, was dem Erringer des Heiles die 3. Mittel. 
Reinheit bewirkt, und ist fünffach, zufolge seiner Einteilung 
in VVohnungsregel usw. Auch darüber heifst es: 
75 jil^ie Wohnungsregel, Murmeln, Meditieren, 
„Sowie das stets des Rudra Eingedenksein, 
„Und lunewerdung, diese fünfe sind 
„Als Mittel der Erlangungen bestimmt." 
304 Die pbilosopliisclien Systeme. 
4. Gelegen- 4. Gelegenheit ist dasjenige, wodurch man nach vorher- 
gegangener Konzentration auf den Lehrinhalt eine Steigerung 
der Erkenntnis und Bufse erlangt, wie z. B. die Person des 
Lehrers usw. Daher heifst es: 
„Person des Lehrers, ein Versteck, ein Ort, 
,,Ein Leichenhof und endlich Rudra selbst." 
ö. Zustand. 5. Der Zustand ist das Verharren in einem von diesen 
fünfen bis zur Aneignung der Erlangungen und wird ein- 
geteilt in das Offene usw. als Unterabteilungen. Daher wird 62 
gesagt : 
,,Das Oifene, Geheime, Murmeln, Nehmen 
„Und Hingegebensein als fünftes noch." 
e.Keinigung. 6. Dio Reinigung ist die völhge Befreiung von irrtüm- 
licher Erkenntnis usw\ Dieselbe ist entsprechend der Ein- 
teilung ihres Widerspieles fünffach. Darüber ist gesagt: 
„Verzicht auf Nichtwissen, Gewinn, Anklebung 
,,Und auf das, was die Anklebung bewirkt, 
,, Verzicht auf den Verfall auch, diese fünf 
,, Bewirken Reinigung von dem Geschöpfsein." 
7. Weihe- 7. Auch in betreff der Weihe geh ung wird eine Fünf- 
""^' heit aufgezählt. 
,,Der Gegenstand, die Zeit, das heilige Werk, 
„Das Abbild und als fünftes noch der Lehrer." 
8. Fünf 8. Die fünf Kräfte sind: , 
Kräfte. ' 
,, Verehrung für den Lehrer, Geistesruhe, 
„Dazu der Gegensätze Überwindung, 
„Die Pflichterfüllung und Behutsamkeit, 
,,Das ist die fünffach eingeteilte Kraft." : 
9. Die drei 9. Unter den drei Verfahren versteht man die Mittel, 
Verfahren. 
sich, zur Läuterung von den fünf Unreinheiten, von Über- 
schätzung und Unterschätzung gleich weit entfernt, die Nahrung 
zu verschaffen. Die Namen der drei Verfahren sind: Leben 
VI. Die Lehre der Nakuli?a-i)ä(;upata's. 305 
vom Erbettelten, l'bri,t>;.2;ela!^senen und Zufälliggefundenen. 
Alles übrige möge man in dem Quellenwerke naclisehen. 
Weiter wird in dem oben angefülirten Sütram durcli das 
Wort „daher" (lies: atah) das Ende der Leiden bezeichnet, 
indem dieses Wort sich bezieht auf die Frage nach der 
He])ung der aus den drei Quellen des eigenen Selbstes usw. 
entspringenden Schmerzen. Durch das Wort „Geschöpf" (^mgu) 
wird die entstandene Schöpfung bezeichnet, indem dieses 
'6 Wort das von andern Abhängige bedeutet. Durch das Wort 
,,Herr" (paii) wird die Weltursache bezeichnet, indem dieses 
Wort im Sinne von Gott der Herr oder der Herrscher den 
die Ursache der ^^'elt bildenden Gottschöpfer bezeichnet. Die 
Worte „Hingebung" und „Weise" in obigem Sütram sind 
ihrer Bedeutung nach bekannt. 
Das Ende der Leiden kann zweifach, ein unpersönhches Ende der 
oder ein persönliches sein. Das unpersönliche besteht in der 
absoluten Aufhebung aller Leiden. Das persönliche hingegen 
besteht in der durch die Kräfte des Schauens und des Wirkens 
ausgezeichneten Gottherrlichkeit. 
a) Die Kraft des Schauens ist zwar eine, wird jedoch a) Fünffache 
zufolge der Verschiedenheit ihrer Objekte als eine fünffache sdhauens^. 
in Betracht gezogen, nämlich als das Sehen, Hören, Denken, 
Erkennen imd die Allwissenheit. Das Sehen ist diejenige 
Erkenntnis, welche sich auf alles Subtile, Verborgene und 
Entlegene bezieht, sofern es einen Gegenstand der Berührung 
für das Auge und andere Organe bildet. Das Hören ist die 
vollkommene Erkenntnis, sofern sie sich auf alle Töne bezieht. 
Das Denken ist die vollkommene Erkenntnis, sofern sie sich 
auf alle Objekte des Denkens bezieht. Das Erkennen ist die 
vollkommene Erkenntnis, sofern sie sich auf alle Lehrbücher 
nach ihrem Wortlaute und ihrem Inhalte bezieht. Die All- 
wissenheit ist die von Wahrheit durchdrungene und allezeit 
sich einstellende vollkommene Erkenntnis in bezug auf alle 
ausgesprochenen und unausgesprochenen Dinge nach ihrem 
allgemeinen Umfange und ihren speziellen Teilen. Dieses 
also ist die intellektuelle Kraft. 
b) Die Kraft des Wirkens ist zwar eine, wird jedoch als b) Dreifache 
eine dreifache in Betracht gezogen, nämlich als Gedanken- wirkens. 
Devssen, Geschichte der Philosophie. I,iii. 20 
306 l'ie philosophischen Systeme. 
Schnelligkeit, Gestaltannelimung und Ausschreitungsvermögen. 
Die GedankenschnelUgkeit ist die Kunst, sich mit unüber- es 
treff barer Geschwindigkeit zu bewegen. Die Gestaltannelimung 
ist das Vermögen, auch unabhängig von dem Verdienst der 
Werke nach Belieben über die unendhche Menge der wesens- 
gleichen wie wesensverschiedenen Gestalten und Organe eine 
Vorsteherschaft auszuüben. Das Ausschreitungsvermögen ist 
die Kunst, auch ohne Gebrauch der eigenen Organe eine 
absolute göttliche Herrschaft zu üben. So viel von der Kraft 
des Wirkens. 
Drei Arten Alics Erschaffenc und mithin Bedingte ist von dreierlei 
des Er- . . =* 
schaffenen. Art, nämlicli W^isscu , Bestandteil und Geschöpf. 1. Das 
Wissen ist eine Bestimmung des Geschöpfes und als solche 
zweifach, sofern es seiner Natur nach ein bewufstes oder ein 
unbewufstes ist. Das seiner Natur nach bewufste Wissen ist 
wiederum zweifach, sofern es entweder mittels Urteilens oder 
ohn<3 Urteilen vor sich geht, wobei die Betätigung mittels 
Urteilens, weil sie sich nur auf dem W^ege der Erkenntnis- 
noi'men entfaltet, das Denken heifst, denn nur mittels des 
Denkens geschieht es, dafs ein beseeltes Wesen das vermöge 
der in den Aufsendingen bestehenden Erleuchtung perzipierte 
und mit Hilfe von Allgemeinbegriffen rekognoszierte oder nicht 
rekognoszierte Objekt denkend erfafst. Hingegen ist das 
Weissen von dem das Geschöpf selbst treffenden Guten und 
2. Bestand- Böscu sclncm Wesen nach ein unbewufstes. 2. Der Bestand- 
teil. . . 
77 teil ist, nach seiner eigenen Gesetzmäfsigkeit betrachtet, so- 
fern er in Abhängigkeit von dem Geistigen steht, selber un- 
geistig. Auch er ist zweifach, indem er teils den Namen 
Wirkung, teils den Namen Ursache führt. Der Bestandteil, 
sofern er den Namen Wirkung führt, ist zehnfach und befafst 
einerseits die fünf Grundelemente, Erde usw., andererseits ihre 
fünf Grundeigenschaften , Sichtbarkeit usw. Der Bestandteil, 
sofern er den Namen Ursache führt, ist dreizehnfach und befafst 
die fünf Erkenntnisorgane, die fünf Tatorgane und das vermöge 
der Spaltung in die Funktionen des Entscheidens, des Eigen- 
dünkels und des Vorstellens als Buddhi, Ahahkära und Manas 
3. Geschöpf .dreifach gegliederte Innenorgan. 3. Ein Geschöpf ist, wer 
mit der Natur des Geschöpfseins verl)unden ist. Auch dieses 
\1. l)ie Lehre der Xakuli<,a-pä^upata's. 3UT 
ist zweifach, nänilieh uniicliiutcrt und geläutert. Ungeläutert 
ist das Geschöpf, wenn es mit Leib und Sinnesorganen ver- 
bunden, geläutert, wenn es von ihnen frei ist. Das Nähere 
darüber ist in Werken wie der Pancärthabhäshyadipika nacli- 
zusehen. 
Ursache heifst dasjenige, welches nach seinem \\^ohl- woit- 
gefallen alle Weltschöj)fungen und Weltvernichtungen bewirkt. "'^^'*'' "' 
Wiewohl dieselbe eine einheitliche ist, so ist doch mit Rück- 
sicht auf die Mannigfaltigkeit ihrer Qualitäten und Wirkungen 
von einer Vielheit derselben die Rede, wenn es heifst: ,,Der 
Herr, der uranfängliche" usw. Der Herr wird er genannt, 
sofern er mit unübertrefflichen Kräften des Schauens und 
Wirkens ausgerüstet ist. Darauf, dafs er mit dieser Gott- 
herrlichkeit ewig verbunden bleibt, beruht seine Uranfänglich- 
keit, welche darin besteht, dafs die ihm eigene Gotthcrrlich- 
keit eine nicht blofse accessorische ist, wie dies von den 
grofsen Autoritäten der Schule und Verfassern des Adar^a usw. 
des weitern dargelegt worden ist. 
Hingebung (ijoga) heifst die auf dem Wege des Denkens Der roga. 
stattfindende Verbindung der Seele mit Gott. Dieselbe ist 
zweifach, die eine durch Werke, die andere durch das Ab- 
stehen von den \\'erken. Diejenige durch Werke besteht 
in Murmeln, Meditieren usw. Diejenige durch Abstehen von 
Werken hingegen wird durch Namen wie Samrid, Gati (die 
Erkenntnis, der Hingang) usw. bezeichnet. 
Die Weise (vidlii) ist die auf religiöses Verdienst ab- Der nahi. 
zweckende Tätigkeit eines Vollbringenden. Dieselbe ist zwei- 
fach: a) substantiell, b) accidentell. 
a) die substantielle ^^'eise ist der fromme Wandel, wie a. substan- 
tiöller 
er die direkte Ursache des religiösen Verdienstes bildet, vidhi. 
Dieser ist zweifach und besteht in dem Gelübde und den 64 
Manieren. 1. Das Gelübde besteht in Waschungen mit i. Gelübde. 
Asche, Schlafen auf derselben. Darbringungen, Murmeln von 
Gebeten und Umkreisen unter Zuwendung der rechten Seite. 
Damm sagt der verehrungswürdige Nakidira : „Mit Asche soll 
er sich des Tages dreimal waschen, auf Asche soll er schlafen." 
Die Darbringung besteht in asketischen Übungen und be- 
fafst sechs Arten. Darum sagt der Verfasser des Sutram: 
20* 
308 iJie philosophischen Systeme. 
„Man soll ihn verehren durch die sechs Arten der Darbringung, 
bestehend in Lachen, Singen, Tanzen, Ausstofsen des JiuditJc, 
7s Verehren und Murmeln." Das Lachen besteht darin, dafs 
man unter weitem Aufreifsen des Halses und des Lippen- 
verschlusses in das helle Gelächter aJiaha ausbricht. Das 
Singen besteht darin, dafs man nach der Weise des ^ästram 
der Gandharva's die Anzeichen der dem Mahegvara eigenen 
Herrlichkeit, Trefflichkeit usw. feiert. Das Tanzen kommt 
ebenfalls zur Verwendung, indem man entsprechend den Lehr- 
büchern der Tanzkunst die Hände, Füfse usw. hebt und be- 
wegt unter Beteiligung der übrigen Glieder, Nebenglieder und 
Seitenglieder, indem man zugleich die Gemütsbewegungen 
(hJiäva) zur äufsern Darstellung (äbhära) bringt. Das Aus- 
stofsen des huäuli besteht darin, dafs man Zunge und Gaumen 
zusammenbringt und dabei einen reinen, dem Brüllen eines 
Stieres ähnlichen Ton auszustofsen sucht; das Wort hudnli 
ist dabei schallnachahmend, ähnlich wie z. B. das Wort 
vasJtaf. Wo Weltmenschen sind, soll man dieses alles im ge- 
2. Manieren, heimen vomelimen. Das übrige ist bekannt. 2. Die Manieren 
bestehen in Schnarchen, Zucken, Hinken, Verliebttun, Unsinn- 
machen und Unsinnreden. Das Schnarchen besteht darin, 
dafs man ohne zu schlafen sich das Ansehen eines Schlafen- 
den gibt. Das Zucken besteht darin, dafs man die Glieder 
des Leibes bewegt, wie einer, der von Krämpfen befallen ist. 
Das Hinken besteht darin, dafs man geht wie einer, dessen 
Beine gelähmt sind. Das Verliebttun besteht in dem Koket- 
tieren, wie man es zur Anwendung bringt, um sich in Gegen- 
wart eines mit Schönheit und Jugend begabten, liebreizenden 
Weibes als in sie verliebt zu zeigen. Das Unsinnmachen be- 
steht darin, dafs man wie einer, dem der Begriff des Schick- 
lichen und Unschicklichen mangelt, allerlei von den Leuten 
mifsbilligte Handlungen vornimmt. Das Unsinnreden besteht 
darin, dafs man z. B. widersprechende oder sinnlose Worte 
ausspricht. 
b. Acciden- b) Die accideutelle Weise ist der fromme Wandel, sofern 
er besteht in mitbehilflichen nachfolgenden Waschungen usw., 
welche den Zweck haben, die Vorstellung der Unwürdigkeit 
infolge des Lebens von Erbetteltem und Übriggelassenem zu 
VI. Die Lehre der Nakuli^a-pä^upata's. " 300 
heben. Auch dieses sagt der Verfasser des Sütrara mit den 
\\'(n-ten: „Durch nachfolgende Waschungen der Unbeflecktheit 
Zeichen tragend.'' 
Die Summe der Lehre besteht darin, dal's blofs der zur Summe der 
Aufnahme des Gesetzes (ielangende geschildert wird, und dieses 
ist in dem ersten Sütram loben, S. 002) geleistet worden. 
Was die ausführliche Darlegung betrifll't, so führt dieselbe 
davon, dal's die fünf Kategorien die Richtschnur bilden, fünf 
besondere Titel. Jedoch, dies mufs in dem Kommentare des 
Ra(^ikara nachgesehen werden. Indem diese Kategorien ihrem 
Wesen entsprechend nach ihren ^Merkmalen ohne Vermengung 
dargelegt werden, bilden sie die Grundeinteilung, während die 
nähere Ausführung darin besteht, dafs jene Kategorien im 
Vergleich mit den in andern Systemen vorkommenden als 
vorzüo-licher dargestellt werden. So besteht bei andern das 
79 Ende des Leidens in dem blofsen Freiwerden von Schmerzen, 
hier hingegen in der Erlangung der Wesenheit des höchsten 
Gottes. Anderweit entsteht die Schöpfung, nachdem sie vor- 
her nicht gewesen, hier hingegen sind die Geschöpfe usw. 
immer vorhanden. Anderweit ist die Weltursache eine rela- 6.> 
tive, hier hingegen ist sie das absolute Gottwesen. Ander- 
weit hat die Hingebung (i/oga) nur die Loslösung von der 
Welt und ähnliches zum Zweck, hier hingegen hat sie das- 
jenige Ende des Leidens zum Zweck, welches in der Er- 
langung der Wesenheit des höchsten Gottes liegt. Anderweit 
handelt es sich um himmlischen Lohn und dergleichen, von 
welchem eine Rückkehr stattfindet, hier hingegen besteht der 
Lohn in der Gottesgemeinschaft, mag nun eine Wiederkehr 
von derselben stattfinden oder nicht. 
«Aber ist es nicht eine arge Verblendung, wenn ihr den Abhängig:- 
«höchsten Gott als die bedingungslose Ursache anseht? Denn wirknngeu 
«wenn dem so wäre, so würden zwei Fehler sich einstellen, 
«erstens die Fruchtlosigkeit der Werke, und zweitens das 
«gleichzeitige Hervortreten aller \\'irkungen.» — Das glaube 
nur ja nicht ! denn eine solche Einwendung ist hier durchaus 
nicht am Platz. Denn gesetzt, der verehrungswürdige Gott 
sei die unbedingte Ursache, mit welchem Rechte dürfte man 
daraus auf die Zwecklosigkeit des A\'irkens sclüiefsen? Etwa, 
310 ^ Die philosophischen Systeme. 
weil dann kein Motiv zum Handeln vorläge? Wer ist es 
dann, für den kein Motiv vorliegt? Mit andern Worten, in 
wem wäre der Grund zu suchen für die Zwecklosigkeit der 
Werke, in dem Handelnden oder in dem verehrungswürdigen 
Gott? Nicht in dem erstem! denn es ist doch wohl möglich, 
dafs die Handlung, obwohl von dem Willen Gottes mitbedingt, 
ihre Frucht hervorbringen kann, sowie auch, dafs die durch 
ihn mitbedingte Handlung trotzdem mitunter, wie in dem Bei- 
spiele des Yayäti und andern, ihre Frucht nicht hervorbringt. 
Und daraus folgt noch keineswegs, dafs man sich nicht zu 
bemühen braucht zu handeln, indem es dabei stehen kann 
wie mit dem, der seinen Acker bestellt, wobei doch die Hand- 
lungen der Geschöpfe von dem Willen Gottes abhängig bleiben 
können. Es kann aber zweitens auch nicht in Gott der Grund 
für die Fruchtlosigkeit des Handelns liegen, da bei dem 
höchsten Gotte vermöge seiner Allgenugsamkeit eine Beziehung 
auf Zwecke, die durch Handlungen zu verwirklichen wären, 
überhaupt nicht stattfindet. — Wenn weiter behauptet wurde, 
dafs bei der Abhängigkeit der Wirkungen von Gott alle Wir- 
kungen gleichzeitig erfolgen müfsten, so ist auch das nicht 
richtig, denn von dem höchsten Gotte mufs man wegen seiner 
unermefslichen Allmacht annehmen, dafs er alle Wirkungen 
vermöge seiner nie gehemmten und nur dem eigenen Willen 
gehorchenden Tatkraft auszuführen vermag. Darum sagen 
die Kenner der Überlieferung: 
'fc>' 
„Weil Gott auch ohne Werke auszuüben 
„Doch schalten kann nach eigenem Belieben, 
„Aus diesem Grunde gilt in unserer Lehre, 
„Dafs er die Ursach aller ürsach ist." 
Vorzug des — « Aber wird nicht auch in andern Systemen die Erlösung 
wärtrgen «erreicht durch die Erkenntnis Gottes? W^odurch also zeichnet 
Systems, „gj^^j^ gegenwärtiges System vor ihnen aus?» — Sage nur 
nicht so! denn folgendes Trilemma würdest du nicht über- 
80 stehen: Entweder es genügt eine blofse Kunde von Gott zur 
Erlangung des Nirvanam, oder man mufs ihn unmittelbar 
schauen, oder man mufs ihn seinem Wesen nach, wie er ist, 
erkennnen. Das erste geht nicht an, denn wenn auch ohne 
VI. ])ie J.ebre der Nakuli(,'a-i)ri(,'upata's. 311 
Lehrsvütem und durcli die ])lorse Kenntnis von einem (»bersten 
Maluuleva iieuaiinten <iotte, wie auch der natürliche Mensch 
sie hat, die Erlösung V()lll)racht würde, so würde das Studium 
eines Lehrsystems überhaupt überilüssig werden. Aber auch 
die zweite Möglichkeit ist unannehmbar, weil es für die mit 
mancherlei Flecken besudelten Geschöpfe und ihre getrübten 
Augen nicht möglich ist, den höchsten Gott unmittelbar zu 
schauen. Die dritte Möglichkeit endlich pafst nur auf unser 
System, denn ohne das Lehrsystem der Pä^upata's ist eine 
Erkenntnis Gottes seinem Wesen nach und wie er ist, nicht 
möglich. Darum sagen auch unsere Lehrer: 
„Durch blofse Kunde? wozu dann die Bücher! 66 
„Und Gott zu schauen ist schwerlich zu erreichen, 
„Daher nur durch die fünf Ai-tikel möglich, 
,,Ihn wie er ist dem Wesen nach zu kennen." 
Daher diejenigen auserlesenen Menschen, welche nach dem 
Ziele des Menschen Begehr tragen, ihre Zuflucht nehmen 
müssen zu dem in den fünf Artikeln gipfelnden Lehrsysteme 
der Pä^upata's. 
I 
VII. Die Lehre der ^aiva's. 
C p. 80—90. P p. 66—74. 
Kritik des Diese Lehrmeinung, dai's der höchste Gott, ohne auf die 
sySfms. Werke usw. der Seelen Rücksicht zu nehmen, die Weltursache 
hilde, wird, weil sie behaftet sei mit dem Fehler, Gott der 
Ungerechtigkeit und der Grausamkeit zu beschuldigen, von 
ge"\vissen Anhängern des MaheQvara verworfen, während die- 
selben gleichwohl die Grundanschauung der ^ivalehre im 
wesentlichen als richtig anerkennen. Indem sie daher der 
Lehrmeinung, dafs der höchste Gott, jedoch, sofern er auf die J 
Werke Rücksicht nehme, die Weltursache bilde, zustimmen, 
so stellen sie damit eine andere Lehrmeinung auf. Ihre An- 
Drei Haupt- sieht ist, dafs CS drei Hauptstücke gebe, welche als der Herr, 
das Geschöpf und die Fessel sich von einander unter- 
scheiden. Daher es bei den Kennern dieses Lehrsystems heilst : 
„Das grofse Lehrsystem der drei Hauptstücke 
,,Und vier Artikel sprach der Weltenherr 
„In einem Sütram kurz und bündig aus, 
,,Um weiter es ausfühi'lich zu erläutern." 
Das heifst, das Lehrsystem der drei Hauptstücke ist dasjenige, 
welches als Hauptstücke die drei genannten enthält. Ferner 
Vier Artikel bestcht dicscs gTofsc Lclirsystcm aus vier Artikeln oder 
81 Gliedern, welche heifsen: 1. das Wissen, 2. das Werk, 
3. die Hingebung, 4. der Wandel. 
VII. Die Lehre der f'aiva's. 313 
Da die Tieschüpfe nicht unabliängig sind, die Fesseln aber 
der (Feistigkeit ermangeln, so nimmt im Gegensatze zu beiden 
der Herr di«^ erste Stelle der Betrachtiinü' ein. Weiter folücn 
die Geschöpfe, da sie zufolge ihrer Geistigkeit mit dem Herrn 
wesensverwandt sind. Die noch übrigbleibenden Fesseln sind 
an das Ende zu stellen. Dieses ist die notwendige Reihenfolge. 
Da ferner das höchste Ziel des Menschen bedingt wird 
durch die Weihe, diese aber nicht gewirkt werden kann ohne 
die Erkenntnis, welche das Mittel ist zur Klarstellung der 
Wesenheit des Geschöpfes, der Fessel und des Herrn, und zu- 
gleich die Herrlichkeit der Sprüche, des Herrn der Sprüche usw. 
an den Tag legt, so gebührt dem hierüber belehrenden Artikel 
des Wissens die erste Stelle. Auf ihn folgt der Artikel des 
W^erkes, welcher die mannigfaltige und aus mehrern Teilen 
bestehende Vorschrift der Weihe erläutert. Da ferner das 
Gewollte nicht ohne die Hingebung erlangt werden kann, so 
gebührt die folgende Stelle dem über die Hingebung und ihre 
Bestandteile belehrenden Artikel von der Hingebung. Aber 
auch die Hingebung kann nicht zum Ziele führen ohne den 
das Gebotene befolgenden und das Verbotene meidenden 
Wandel; daher nimmt der dieses darlegende Artikel vom 
Wandel die letzte Stelle ein. Dies ist die Einteilung. 
Was zunächst das Hauptstück von dem Herrn betrifft, Erstes 
so ist darunter ^'iva (der Selige) zu verstehen. Zwar sind D^r'HeTr. ' 
auch die erlösten Seelen, die Wissensherrn usw., selig, aber 
dieselben besitzen zufolge ihrer Abhängigkeit von dem höchsten 
Gotte keine vollkommene Freiheit. Und darum gilt auch gi 
von den ihnen hierin folgenden, die WeM usw. ausmachenden 
Wesen, dafs sie um der bestimmten Anordnung ihrer Teile 
willen als ein Erschaffenes zu betrachten sind. Aus diesem 
ihrem Erschaffensein ist zu folgern, dafs ihnen ein intelligentes 
Wesen vorausg(^gangen sein mufs. So läfst sich hier durch 
blofse Folgerung das Dasein des höchsten Gottes beweisen. 
— «Aber zunächst läfst sich doch schon von dem Leibe 
«nicht beweisen, dafs er erschaffen sei, denn nie und nirgends 
«ist für irgend jemanden die Schöpfung des Leibes in den 
«Bereich der Wahrnehmung getreten.» — Allerdings, aber 
doch geht es nicht an, darum, weil die Schöpfung des Leibes 
314 Die philosopliisclien Systeme. 
von niemandem wahrgenommen, zu leugnen, dafs sie von dem 
Schöpfer selbst wahrgenommen worden sei, da dieser sich 
auch auf dem Wege der Folgerung erweisen läfst. Der Leib 
usw. mufs erschaffen sein, weil seine Teile in bestimmttu" 
Weise angeordnet sind, oder auch weil er vergänglich ist, 
ähnlich wie der Krug usw. Aus diesem seinem Erschaffensein 
S3 aber ist ganz ungezwungen zu schliefsen auf das Vorhergehen 
einer intelligenten Ursache. Nimm was du willst, so mufs es 
einen Schöpfer haben, weil es ein Erschaffenes ist, wie z. B. 
der Krug, und alles was unter den genannten Medius [er- 
schafien] gehört, mufs auch unter den genannten Major [einen 
Schöpfer habend] gehören ; was nicht, das nicht, wie z. B. die 
Seele usn\'. Aber die Folgerung, welche die Beweiskraft der 
Folgerung eines höchsten Gottes dartut, ist anderweit dar- 
gelegt worden, daher wir hier davon abstehen. — 
,,Wenn das Geschöpf unkundig und unmächtig 
„Der Lust und Schmerzen seiner selber wäre, 
,,So würde es von Gott gestofsen wandern, 
,,Sei es zum Himmel, sei es auch zur Hölle." 
Auf Grund dieses Gesetzes ergibt sich, dafs das Schöpfersein 
des höchsten Gottes nur insofern möglich ist, als er dabei die 
von den Geschöpfen begangenen Werke nicht aufser acht 
läfst. Man sage nicht, dafs damit der Freiheit des höchsten 
Gottes Abbruch getan werde; wenigstens die Erfahrung zeigt 
nicht, dafs der Freiheit eines Täters dadurch Abbruch ge- 
schieht, dafs er auf ein Werkzeug dabei Rücksicht nimmt, 
und die Gabe fliefst auch dann noch aus der Gnade usw. des 
Königs her, wenn derselbe die Mitwirkung des Schatzmeisters 
dabei in Anspruch nimmt. Darum sagt der verklärte Lehrer: 
,,Wer frei ist, läfst sich nicht von anderen brauchen, 
„Doch macht von Werlczeugen er selbst Gebrauch; 
„Und darin eben liegt des Schöpfers Freiheit, 
„Nicht darin, dafs das Werk er nicht beachtet." 
Und in diesem Sinne läfst sich von dem Schöpfer auch schon 
auf dem Wege der Folgerung beweisen, dafs er es ist, 
welcher auf Grund des von der Seele angesammelten Schatzes 
VII. Die I.cLre der Taiva's. 315 
der Worke don speziell hrstininitrn Genui's derselben nebst 
seinen Mitteln und deren Hillsi^ucllen voraussieht, das steht 
fest. Eben dieses versichert über diesen Punkt auch der ver- 
ehrungswürdige Briliaspati. wenn er sagt: 
„Er sieht voraus den hier zu büfsendeii 
„Genuls und seine Mittel, deren Quellen; 
,,Und ohne ilm, der die Ausreifung schaute 
„Des Werke -Schatzes, den der Mensch gehäuft, 
„Geschieht auch nicht das mindeste hienieden." 
l'nd an einem andern Orte heifst es: 
„Der Gegenstand, um den der Streit sich dreht, es 
„Die Welt, mufs einen geistigen Schöpfer haben, 
„Denn als geworden, wie wir beide wissen, 
„Ist ein Produkt sie, wie der Topf und anderes." 
Weiter ergibt sich daraus, dafs Gott alles beseelt, seine All- 
wissenheit, denn ein l'nbewuTstes kann keine Wirkung aus- 
üben. Auch wird gesagt von dem erlauchten Mrigendra: 
„Allwissend ist er, weil er alles wirkt; 
,,Denn nur wer eine Sache wohl versteht 
„Samt ihren Zwecken, Ursachen und Teilen, 
83 jj^^r der kann sie bewirken, das steht fest." 
— «Angenommen einmal, dafs Gott Aermöge seiner Freiheit 
«der Weltschöpfer sei, so ist derselbe doch, was zunächst 
«liegt, als körperlos zu denken, während hingegen die Er- 
«fahrung zeigt, dafs nur von einem körperhaften Töpfer usw. 
«die Kmge usw. als Produkte hervorgebracht werden; soll 
«hinwiederum auch Gott als kihperhaft gedacht werden, so 
«würde folgen, dafs er ebensogut wie wir mit Beschwerden > 
«behaftet und nicht allwissend sei und nur eine bescliränkte 
«Machtsphäre besäfse.» — Das glaube nur ja nicht, denn die 
Seele z. B. ist auch körperlos, und doch vermag sie auf ihren 
Leib, sofern sie ihn erregt usw., eine Wirkung auszuüben. 
Nehmen wir aber einmal den andern Fall an, so behaupten 
wir, dafs der verehrungswürdige Gott, auch wenn er einen 
Körper hat, doch keineswegs mit den vorher erwähnten 
316 J^ie philosopliischen Systeme. 
Mängeln behaftet sein kann. Denn der höchste Gott hat 
doch, da ja das Netz der aus Befleckung, Werken usw. be- 
stehenden Fesseln ihn nicht umstrickt, keinen gewöhnlichen 
Leib, sondern sein Leib ist ein kraftgebildetor, indem die Vor- 
stellung besteht, dafs sein Haupt usw. aus den fünf kraft- 
artigen Sprüchen „der Herrschende" usw. gebildet ist; nämlich 
der Spruch „der Herrschende" (Taitt. Ar. 10,47) ist sein 
Haupt; „in jenem Geiste" (Taitt. Ar. 10,46) ist sein Mund; 
„den Grauenlosen" (Taitt. Ar. 10,45) ist sein Herz; „dem 
milden Gotte" (Taitt. Ar. 10,44) ist sein Inneres; „den 
stets Entstandenen" (Taitt. Ar. 10,43) sind seine Füfse; 
und dieser Auffassung von seinem Leibe entspricht es, dafs 
derselbe der Reihe nach fünf Werke vollbringt, welche be- 
stehen in Begnadigung, Yerbergung, Ansichnehmung, Er- 
haltung und Hervorbringung: solcher Gestalt ist sein durch 
eigenes Wollen erbauter Leib, nicht aber ist er unserm Leibe 
irgendwie ähnlich. Darum heifst es bei dem erlauchten 
Mrigendra : 
„Von Flecken usw. frei und kraftvoll 
„Ist Gottes Leib, nicht ist er gleich dem unsern." 
Und an einem andern Orte heifst es: 
„Fünf Sprüche bilden seinen Leib, 
„Die zu fünf Werken tauglich sind: 
,,Der Herrschende, in jenem Geiste, 
,,Dem Grauenlosen und dem milden, 
,,Dies und das weitere sind ihm Haupt und Glieder." 
— «Aber wenn es in der heiligen Überlieferung heifst: „fünf 
«Munde hat er und dreimal fünf Augen", so wird doch hier 
«dem höchsten Gotte im eigentlichen Sinne ein Leib mit 
I' Organen von der Schrift beigelegt!« — Allerdings! denn da 
ein gestaltloses Wesen der Meditation und Verehrung un- 
zugänglich ist, so widerspricht es dem Wesen Gottes nicht, 
wenn er, um seinen Verehrern sich gnädig zu erweisen, diese 
oder jene Gestalt annimmt. Darum heifst es in dem erhabenen 
Buche Paushkara: 
\ 
VIJ. Die Lehre der ^'aiva's. 317 
„Nur um dem, der ihm naht, Schutz zu verleihen, 
,,Wird von ihm hier diese Gestalt erwählt." 
st liul andorweit : eo 
„Als formhaft bist notwendig du zu ehren, 
„Denn kein Verstand reicht an das Ungeformte." 
Ferner werden als die fünf Werke Gottes von Bliojaräja er- 
wähnt : 
„Fünffach sein Wirken ist, Schöpfung, Erhaltung, 
„Vernichtung und Verbergung und dazu 
„Begnadigung, — des Ewigallerhabenen." 
Diese fünf Werke werden innerhalb des reinen Pfades direkt 
auf ^iva als Urheber zurückgeführt; innerhalb des elenden 
Pfades hingegen auf ihn durch Vermittkmg des Ananta und 
anderer. So heifst es in dem Qrimatkaranam : 
„Qiva ist Schöpfer nach dem reinen Weg zu Gott, 
„Ananta ist es nach dem mangelhaften." 
In dieser Weise werden unter dem Worte ^iva alle, w^elche 
des ^ivatums teilhaftig sind, wie Mantregvara, Mahegvarä und 
die Qiva's der erlösten Seelen mitsamt den heiligen Lehrern, 
zufolge ihrer Erlangung des ^'ivatums, sowie auch der ganze 
aus der Weihe usw. bestehende Komplex der Mittel in dem 
Hauptstücke von dem Herrn mitbefafst; das ist wohl zu merken. 
Soviel zur Darstellung des Hauptstückes vom Herrn. 
Nunmehr ist das Haupt stück vom Geschöpfe darzustellen, zweites 
Unter dem Geschöpf ist die nicht atomgrofse, die Benennungen dI^s oe- 
wie Jcshctrajüa usw. führende, individuelle Seele zu verstehen- "'^'''p- 
Dieselbe fällt nicht, wie die Cärväka's und ähnliche meinen, 
mit dem Leibe und derartigem zusammen, denn dann würde 
ein anderer der sein, welcher eine Sache sieht, und ein anderer 
der, welcher sich hinterher daran erinnert, und da dieses nicht 
möglich ist, so würde die Kontinuität des Bewufstseins un- 
erklärlich werden. Aber die Seele ist auch nicht, wie die 
Anhänger des Nyäya glauben, ein Objekt der Erkenntnis, weil 
damit ein regressns in nifinitum gesetzt wäre; denn es heifst: 
318 I^i^ philosophischen Systeme. 
„Wenn uusre Seele zu erkennen ist, 
„So mufs, der sie erkennt, ein anderer sein, 
,,Und eine dritte Seele müfste sein. 
,,Um wieder diese andere zu erkennen." 
Weiter ist die Seele auch nicht, wie die Jaina's meinen, von 
begrenztem Umfange, noch auch, wie die Bauddha's meinen, 
von nur momentaner Dauer, weil die Seele durch Raum und 
Zeit nicht eingeschränkt wird. Daher es auch heilst: 
,,Was seinem Wesen nach uneingeschränkt 
„Durch Zeit und Räume als Substanz besteht, 
S5 ,,Ist überall und ewig; hieraus folgt 
„Allgegenwart und Ewigkeit der Seele." 
Aber die Seele ist auch nicht, wie die Anhänger der Advaita- 
Theorie annehmen, eine, weil der Genufs jeder Seele indi- 
viduell bestimmt ist, welches die Vielheit der Seelen beweist. 
Aber auch die Säiikhya's irren, wenn sie die Seele für ein 
untätiges "Wesen halten, denn die Schrift lehrt, dafs das ^iva- 
sein (die Seligkeit), welches der Seele nach Befreiung aus dem 
Geflechte der Fesseln zuteil wdrd, in einer ewiges und unüber- 
treffliches Erkennen und Wirken besitzenden Geistigkeit be- 
steht. Darum heifst es bei dem erhabenen Mrigendra: 
„Der Fesselung Ende nach der Schrift ist Seligkeit." 
Und wiederum: 
„Die Geistigkeit voll Kraft des Schauens und Wirkens 
„Ist allezeit und überall der Seele 
„Im Stande der Erlösung eigen, darum 
„Heifst allgesichtig diese Geistigkeit." 
Und in dem Tattvaprakä9a heifst es: 70 
,,Qiva's (selig) sind auch die Seelen der Erlösten, 
,, Erlöst jedoch sind sie durch seine Gnade, 
„Er aber heifst der anfanglos Erlöste, 
,,Der Eine, Fünfspruchleibige, das wisse." 
Von Geschöpfen gibt es drei Arten: Teilchenlose durch 
Wissen, Teilchenlose durch Verbrauchung und Teilchen- 
VII. Die Lehre der f'aiva's. 319 
l)('liafteto. Die ersten sind diojoniiion, bei welchen die A\'orke, 
sei es durcli Wissen, Hingebung und Verzichtung, sei es 
durch Abbüfsung, verniclitet worden sind, und welche, da die 
Gebundenheit au den Genul's der Teilchen usw., welche die Ab- 
büfsung der \\'erke als Zweck hatte, nicht mehr bestellt, nur 
noch mit der blorsen Betleckung verbunden bleiben, daher sie 
Teilcheulose durch Erkenntnis genannt werden. Die zweite 
Klasse liingegen, da ihre Teilchen usw. nur durch den Ver- 
brauch beseitigt worden, heifsen Teilchenlose durch Verbrauch. 
Die dritte Klasse endlich, welche mit allen drei, aus Be- 
tleckung, Verblendung und Werken bestehenden. Banden be- 
haftet ist, heifst die der Teilchenbehafteten. Die erste EJasse 
besteht aus zwei Arten, aus Schuldüberhobenen und Schuld- 
unüberhobenen. Erstere, als der Ausreifung der Verschuldung 
teilhaft, werden als die Vorzüglichsten unter den Menschen 
und der Betrauung würdig, durch die Gnade [Gottes] zu dem 
aclitfachen Gefilde der Wissensherrn, Ananta usw. befördert. 
Diese Achtheit der AMssensherrn wird im Bahudaivatyam 
folgendermafsen angegeben : 
„Ananta, Sükshma und Qivottama, 
86 „Und Ekanetra, Ekarudra auch, 
• „Trimürtika, ^rikantha und Qikhandin, 
„Das sind die Namen dieser Wissensherrn." 
Die letztern macht Gott zu Werkzeugen seiner Gnade, nämlich 
zu den auf sieben Myriaden an Zahl sich belaufenden Mantra's. 
Hierüber heifst es im Tattvaprakäya : 
„Dreifach ist das Geschöpf, befreit dui'ch Wissen, 
„Befreit durch den Verbrauch und teilbehaftet. 
„Die ersten sind verbunden mit Befleckung, 
„Die zweiten mit Befleckung und mit Werken, 
,,Die dritten sind die Teilbehafteten, 
„An Werk, Befleckung und Verblendung haftend. 
,,Die erste Klasse ist zweifach geteilt, 
,,Schuldüberhobne sind die ersteren, 
„Die Schuldunüberhobnen sind die andern. 
„Die ersteren erhebt durch seine Gnade 
„Gott Civa zu der Wissensherren Achtheit, 
320 I^i*^ philosophischen Systeme. 
„Die übrigen verwandelt er in Mantra's, 
„Und dieser gibt es sieben Myriaden." 
Und auch Soma^ambhii sagt: 
„Der erste heifst durch Wissen teilchenlos, 
„Der zweite teilchenlos durch den Verbrauch, 
„Teilchenbehaftet bleibt der dritte; — das sind 
,,Die drei, die nach dem Kanon Gnade finden. 
,,Der erste hängt nur noch an der Befleckung, '^i 
,,An der Befleckung und am Werk der andre (1. anyo), 
„Der Teilbehaftete jedoch verbleibt 
,, Behaftet mit den Wesenheiten allen, 
,,Vom kleinsten Teilchen an bis zur Erdmasse." 
Auch der durch Verbrauch Teilchenlose ist zweifach. Ein 
solcher, bei dem die beiden Fesseln reif sind, und ein solcher, 
bei dem sie es nicht sind. Ersterer erlangt die Erlösung, der 
letztere bleibt mit der Körperstadtachtheit verbunden und mufs 
um seiner Werke willen mancherlei Geburten durchmachen. 
Auch darüber wird gesagt in dem Tattvaprakä^a : 
,,Die Teilchenlosen durch Verbrauch, bei denen 
,,Werk und Befleckung nicht zur Reife kommen, 
,,Die gehen um der Wei'ke willen ein 
,,In mannigfachen Mutterschofs und bleiben 
,, Verbunden mit achtfacher Stadt des Leibes." 
Eben daselbst wird auch die Körperstadtachtheit beschrieben: 
„Aus Innenorgan, Geist, Werk und Werkzeugen 
,, Besteht die Achtheit dieser Körperstadt." 
S7 Auch der Lehrer Aghora (^'iva teilt hierüber mit : „Die Körper- 
stadtachtheit bedeutet den feinen Leib, wie er, individuell 
bestimmt, von der Schöpfung an bis zum Ende der Welt- 
periode oder eventuell bis zur Erlösung besteht und aus den 
dreifsig Wesenheiten von der Erde an bis hinab zu den Minimal- 
teilchen zusammengesetzt ist." Ebenso heifst es im Tattva- 
saingraha : 
,,Für jeden individuell bestimmt, 
,,Aus Erde und den andern Wesenheiten 
VII. Die Lehre der (^laiva's. 321 
„Bestehend bis zu den Urteilchen hin, 
,,So wundert er um seiner Werke willen 
„Umher in allen weltgeborenen Leibern." 
Die oben onvähnte Sache [die Achtheit der Körperstadt j aber 
setzt sich folgondermal'sen zusammen. Unter dem Innenorgan, 
welches eigenthch nur Manas, Buddhi, Ahankara und Cittam 
bedeutet, werden hier auch die übrigen, dem Menschen bei 
der Tätigkeit des Abbülsens dienenden innern GHeder, näm- 
hch die sieben Wesenheiten der Ur-teilchen, der Zeit, der 
Notwendigkeit, des \\'issens, der Neigung, der Prakriti und 
der (jiina's verstanden. Unter den Worten (leist und Werk 
sind die fünf der Erkenntnis zugänghchen Elemente und die 
sie bewirkenden Urelemente zu verstehen. Unter dem Worte 
Werkzeug werden die zehn Erkenntnisorgane und Tatorgane 
befafst. 
— «Aber in dem ^rimatkälottara heifst es doch: 
«„Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack, Geruch, 
«„Dann Buddhi, Manas und der Ichbewirker, 
«„Das ist die Achtheit dieser Körperstadt." 
uWie kann es also hier abweichend davon erklärt werden?» 
— Freilich wohl, und darum eben ist von dem verehrungs- 
würdigen Rämakantha jenes Sütram nicht sowohl nach seinem 
Wortlaute als vielmehr nach dem, was sich daraus entwickeln 
läfst, erklärt worden. Wozu also die Imstande? Fragt ihr 
aber, wie bei jenem die Achtheit der Körperstadt zustande 
kommt, so ist die Antwort: Sie wird zusammengebracht durch 
die fünf Gruppen, w^elche die Elemente, die Urelemente, die 
Erkenntnisorgane, die Tatorgane und das Innenorgan heifsen, 
sodann durch das, was auf ihrem Wirken beruht [den Präna, 72 
vergleiche Sähkhyakärikä 29], ferner durch die Urmaterie und 
endlich durch die Gruppe, welche wie eine Hülle die Fünf- 
zahl der Ur-teilchen usw. in sich befafst. Es liegt daher kein 
Widerspruch vor. 
Von diesen mit der Körperstadtachtheit Verbundenen 
werden einige mit besondern Verdiensten Begabte dadurcli 
begnadigt, dal's ihnen der Maheyvara Ananta die Herrschaft 
über die Welt verleiht. Darum heifst es: 
Deusses, GcBchichte der Philosophie. I, iii. -1 
322 I^ie pMlosopliisclien Systeme. 
„Mahefvara zeigt einigen gnädig sich 
„Und überträgt auf sie der Welten Herrschaft." 
Auch di<^ Teilchenbehafteten sind zweifach, nämüch Schuld- 
ausgereifte und Schul dunausgereifte. Was die erstem betrifft, 
88 so werden sie von Mahegvara nach der Reihenfolge ihrer Aus- 
reifung, indem eine dementsprechende Kraft zum Vorscheine 
kommt, zu den Mandalin usw. genannten liundertundachtzehn 
Stätten des Mahegvara erhoben. Darum heifst es: 
„Die übrigen sind Teilbehaftete, 
„Weil sie mit Teilchen noch behaftet bleiben. 
„Von diesen macht zur Zeit des Tagesanbruchs 
„Hundertundachtzehn er zu Herx'n der Mantra's. 
„Von diesen heifsen acht die Mandalin's, 
„Acht weitere sind Krodha usw., 
„Virega dann, ^rikantha und hundert Rudra's, 
„So kommt die Hundertachtzehnzahl zusammen." 
Indem der höchste Gott ein weiteres Ausreifen bei ihnen ver- 
hindert, verleiht er ihnen durch Zusammenfassung der Kräfte 
und Veranstalten einer Weihe die Erlösung, indem er selbst 
dabei die Gestalt eines Lehrers für sie annimmt. Darum heifst 
es auch: 
,,Wenn die Befleckung ausgereift bei ihnen 
,, Vermöge der Ausreifung wirkenden Kraft, 
„So bringt er sie zur höchsten Wesenheit 
„Durch Weihehilfe in Gestalt des Lehrers." 
Und auch bei dem erhabenen Mrigendra heifst es: 
,,Von ihr, der Feinen, nimmt er jetzt hinweg 
„Der Stricke Netz, das früher sie entstellt." 
Alles dieses ist ausführlich von Näräyanakantha dargestellt 
worden, und dort hat man die weitere Begründung zu suchen, 
wir aber wollen, um nicht zu ausführlich zu werden, hier 
nicht weiter darauf eingehen. 
Was hingegen die Schuldunausgereiften betrifft, d. h. die 
noch gebundenen Feinseelen, so gibt sie der höchste Gott um 
VII. Die Lehre der C'aiva's. 323 
ihrer Werke willen der .Vbbüfsiing <lerselben hin. Auch da- 
von heifst es: 
„Gebunden bleiben alle andern Menschen. 
„Sie gibt er hin zur Abbüfsung der Bufse, 
„Genau entsprechend den begangenen Werken. 
„Das ist die Theorie von den Geschöpfen." 
Nunmelir haben wir zu handeln von dem Hauptstücke Drittes 
der Fesseln. Die Fessel ist vierfach: Befleckung, Werk,DiTres^e*in! 
Verblendung und Hemmungskraft. — «Aber es heifst 
(«doch in den heiligen Schriften der Qaiva's, das Hauptsäch- 
«lichste seien der Herr, die Geschöpfe und die Fesseln, also 
«eine Dreiheit und in dieser Folge. Dabei wird der Herr 
«erklärt als Qiva, die Geschöpfe als die Feinseelen und die 
«Fesseln als die fünf Objekte. Darnach w'äre also die Fessel 
«fünffach, wie kann sie daher hier als vierfach bezeichnet 
"Werden?» — Wir antworten: Allerdings ist der sogenannte 
Punkt (hinäu ) seinem Wesen nach Mäyä und im Vergleiche 
mit der die W^esenheit des ^iva genannten und in der Er- 
89 langung des Gefüdes des ^iva bestehenden höchsten Erlösung n 
zu den Fesseln zu rechnen; da er aber für den, welcher sich 
ihm hingibt . wegen der Beförderung zu dem Gefilde der 
Wissensherrn usw. doch eine niedere Stufe der Erlösung be- 
deutet, so wird er hier zu den Fesseln nicht mitgerechnet 
und ein Widerspruch liegt darum nicht vor. Daher heifst 
es im Tattvaprakäga: 
„Der Fesseln werden vier an Zahl gerechnet." 
Und auch beim erhabenen Mrigendra heifst es: 
'ö^ 
,,Er, der Verdunklung und Tyrann zugleich, 
„Die Kraft, das Werk und der Verblendung Wirken, 
,,Das ist der Fessel viergeflochtenes Netz, 
„Ihr anderer Name ist: Verdienst der Werke." 
Das heifst: Verdunkelung heifst so, weil sie verdunkelt, d.h. weil 
sie durch ihre Macht das Schauen und das Wirken der Seele 
überdeckt; als angeboren und unlauter heifst sie Befleckung, 
21* 
324 Die pliilosophischeu Systeme. 
und eben diese heifst ein Tyrann, weil sie uns tyrannisch 
beherrscht. Darum heifst es: 
„Die eine mit mancherlei Kräften, 
„Befleckung, sie scheidet den Menschen 
„Vom Schauen zugleich und vom Wirken, 
,, Vergleichbar der Hülse des Kox'nes, 
,,Dem Rost, der am Kupfer sich ansetzt." 
Unter der Kraft ist die Hemmungskraft zu verstehen; freihch 
ist es eine Kraft des (^iva, aber sofern sie nach Art einer 
Fessel die Seele niederhält, wird sie figürlich selbst als Fessel 
bezeichnet. Darum heifst es: 
„Ich bin die höchste dieser Kräfte, 
„Bin allen gnädig, allen hold, 
„Doch weil ich nach Verdienst mich richte 
„Wird mir der Name Fessel beigelegt." 
Das Werk hat seinen Namen davon, weil es gewirkt wird 
von denen die nach Lohn trachten ; es besteht aus gutem und 
bösem Werke und bildet wie Samen und Pflanze eine Kette, 
die unendlich ist. Wie es heifst in dem Qrimatkiranam : 
,,Wie die Befleckung anfanglos besteht, 
,,So auch die kleinste Wirkung, die sie übt. 
,,Und ist ihr Saft als anfanglos erwiesen, 
,,Ist keine Abweichung zu denken möglich." 
Die Verblendung, Maya, wird so benannt, weil Gott in 
ihr beim Weltuntergange die Welt potentiell einbefafst (mäti), 
während sie bei der Neuschöpfung wieder zur Entfaltung 
gelangt. So heifst es in dem erhabenen Saurabheya: 
90 „In sie gehn bei dem grofsen Weltenende 
,, Potentiell die Wirkungen hinein, 
„Und eben sie kommt bei der Neuschöpfung 
„Zur Neuentfaltung wieder durch die Wirkung, 
,, Bestehend in den Teilchen usw." 
Zwar wäre hier noch viel zu sagen, doch wir brechen ab 
aus Furcht, dafs das Buch zu umfangreich werde. Daher nur 
VII. Die Lehre der Caiva's. 325 
so viel, um die (lr<M ITauptstücke Herr, Geschöpf und Fessel 
zu erklären. Zwar lieifst es auch: 
„Der Herr, das Wissen, das Nichtwissen auch, 
„Die Kreatur, die Fessel luid sodann 
„Die Ursache für ihr Nichtwiederkehren, 
„Das ist die Summa der sechs Hauptstücke." 
Mit diesen ^^'orten wird, wie bekannt, in der Jfiänaratnävali '4 
und andern Werken eine andere Methode befolgt. Aber das 
alles hat man dort nachzusehen, daher hiermit alles seine 
Kichtigkeit hat. 
VIII. Die Lehre von der Wiedererkennung 
(pratyahMjnä). 
C p. 90—97. P p. 74—79. 
Wesen Eine andere Klasse von Anhängern des MaheQvara erklärt 
"iTkMnung' sich nicht zufrieden mit der aufgestellten Behauptung, dafs 
die lehlosen Wesen ohne göttliche Mithilfe nicht Ursache 
sein könnten, und sucht eine andere Lehrmeinung zu be- 
gründen. Zwar, dafs die Schöpfung der Welt nur auf Grund 
des Willens des höchsten Gottes erfolge, geben auch sie 
offen zu, behaupten aber dann weiter, dafs bei der durch das 
eigene Bewufstsein, durch zutreftende Argumentation und 
durch heilige Überlieferung feststehenden Wesensidentität mit 
Gott, der von den mannigfachen vorstellenden und vorgestellten 
Wesen verschiedene und doch nicht verschiedene höchste Gott 
vermöge seiner, in dem auf nichts anderes als sich selbst 
Hinblicken bestehenden, Freiheit in dem Spiegel der eigenen 
Seele die Wesen (lies hJiävüti) gleich wie Spiegelbilder zur 
Erscheinung gebracht habe. Von diesem Standpunkte aus 
halten sie sich alles äufserlichen und innerlichen Kultus, aller 
Aufwendung von Mühe in Anhalten des Atems usw. bis auf 
den letzten Kest für entbunden, und indem sie so die blofse 
Wiedererkennung als ein allen leicht erreichbares und neues 
Mittel des Anfangs und Endes der Vollkommenheit betrachten, 
Grund- stellen sie die Lehrmeinung von der W^iedererkennung auf. 
begriffe, p^^ Inbegriff dieses Systems wird von den Sachkennern in 
folgender Weise bezeichnet: 
VIII. Die Lehre von der Wiedererkennung. 327 
„Das Sütrani, die Erklärung und die Glosse, 
„Die kleine und die grofst- Auslegung, 
„Die fünf Hauptstücke und Erläuterungen, 
„Das ist das Lehrsystem der Wiedererkennung." 
Tn diesem Sinne lautet das erste Sütram : Ein sütram. 
„Nachdem mit Mühe ich erreicht 
„Des höchsten Gottes Dienerschaft, 
„Möcht ich verwenden meine Kraft, 
„Auch andern es zu machen leicht, 
„Und tu' als aller Seligkeiten Grund 
„Des höchsten Gottes Wiedererkennung kund." 
„Xachdem mit ^lülie'', d. li. mittels einer nur durch Gott 
gewirkten Gewinnung des Lotospaares der Füfse des mit Gott 
identischen Lehrers, „ich erreicht", d. h. nachdem ich sie all- 
seitig und völlig erlangt, nachdem ich es zu einem schranken- 
losen Genüsse derselben von selten meines eigenen Selbstes 
gebracht habe ; — auf dieses Erkannthaben des zu Erkennenden 
grihidet sich die Befugnis, ein Lehrsystem für andere zu 
verfassen und würde ohne dieses auf eine blofse Täuschung 
hinauslaufen. „Des höchsten Gottes Dienerschaft"; derjenige, Die Götter 
durch ein Fünklein von dessen Gottheit die zwar über den höchste 
Trug erhabenen, jedoch in dem gröfsten aller Truge befangenen 
Götter wie Vishnu, Virifici (Brahman) usw. ihre Gottwesen- 
heit haben, dieser Verehrungswäirdige, die höchste Realität 
unaufliörlicher Lichtfülle, Seligkeit und Freiheit Besitzende 
ist „der höchste Gott". Dessen „Dienerschaft"; der Diener '■> 
(däsa) heifst so, weil ihm von seinem Herrn alles Gewünschte 
gewährt wird (diyafc), so dafs er zu einem (xefäfse der dem 
höchsten Gotte wesentlich eigenen Freiheit wird. Durch das 
Wort „andern" wird angezeigt, dafs in betrefi' der Person 
des Berufenen, sowie der mitzuteilenden Sache keinerlei Ein- 
schränkung besteht; jeder, wer es auch sei, dem diese Mit- 
teilung über Gottes Wesenheit zuteil wird, der erntet die 
grofse Frucht derselben ; die Frucht aber besteht darin , dafs Frucht der 
man die absolute Reahtät des l'rwesens selber erlangt. Denn 
also stehet geschrieben in der (jüvadrishti von der Hand des 
höchsten Lehrers, des heiligen Somanandanätha: 
328 • I^ie philosophischen Systeme. 
„Wenn einmal erst durch der Erkenntnis Kraft 
„Oder Belehrung durch des Lehrers Wort 
„Das allenthalben gegenwärtige Wesen 
„Des Qiva ward erkannt verständnisvoll 
„Und aufgefafst in treuergebenem Geiste, 
„Dann ist zu tun nichts weiter nötig mehr, 
„Ja auch zu denken bleibt dann nichts mehr übrig; 
„Denn wer den Gott Suvarna hat erkannt, 
,,Der mag das Tun aufgeben und das Denken." 
Durch das Wort ,,auch" wird in betreff desjenigen, welcher 
die Wesenseinheit der eigenen Seele mit Gott kundmacht, um 
seines Vollgenügens willen ein in ihm selbst liegendes und 
etwas anderes als die Beglückung des Nebenmenschen zu 
erstreben scheinendes Motiv in Abrede gestellt. Denn auch 
92 das Interesse des Nebenmenschen kann zum Motive werden, 
weil es das Merkmal eines solchen an sich trägt; denn es 
liegt kein Fluch der Götter auf uns, zufolgedessen nur das 
eigene Interesse, nicht auch das des Nebenmenschen für uns 
Motiv sein könnte. Dementsprechend heilst es auch bei 
Akshapada (d. h. Gotama, Nyäya-sütram 1,24) „der Zweck, 
welchen sich vorsetzend man handelt, heifst das Motiv". 
Die Präposition njta (bei) in dem Ausdrucke „ich tue 
kund" (wörtlich: „ich bringe bei") bedeutet eine Annäherung; 
daher der Erfolg nur darin besteht, eine Annäherung des Men- 
schen an den höchsten Gott herbeizuführen. Darum heilst es 
auch: „Als aller Seligkeiten Grund"; nämlich wer des höchsten 
Gottes Wesen erlangt hat, dem fallen alle daraus abfliefsenden 
Seligkeiten zu, wie derjenige, welcher den Berg Rohana besitzt, 
auch alle Edelsteine desselben besitzt. Wer in dieser Weise 
des höchsten Gottes Wesenheit erlangt hat, was bliebe dem 
noch weiter zu wünschen übrig? Darum sagt Utpalacärya: 
„Wer reich ist an dem Schmuck der Frömmigkeit, 
,,Was bliebe dem zu wünschen weit und breit? 
,,Und wer an dieser arm lebt seine Zeit, 
,,Was bliebe dem zu wünschen weit und breit?" 
In dieser Weise haben wir das Motiv zur Mitteilung der Lehre 
gekennzeichnet unter der Voraussetzung, dafs ein Genetiv- 
kompositum [in dem Worte saniastasampatsamaväpH-Jichi] vor- 
VIII. Pie Lehre von der Wiedercrkeniiung. 329 
liege. Lst es hiiiüv^on ein Possessivkompositum, so erfolgt 
die ^[ethode seiner Auflösung in dieser Weise. Die Wieder- 
erkennung, welche als Grund hat die vollige Erlangung der 
gesamten äufsern und innorn, in ewiger Lust usw. bestehenden 
Erreichung, Vollendung und dementsprechenden Erscheinung, 
diese Wiedererkennung heilst eine ,,die Erlangung aller Selig- 
keit als Grund habende". Die AMedererkennung dieses höchsten Erkiurun« 
Gottes ist eine solche durch Vorstelligmachung seiner Wieder- '«"kcnüunj.' 
Spiegelung. Xämlich im gewöhnlichen Leben redet man von 
AViedererkennung als einer Erkenntnis, bei welcher das Objekt 
durch Wiedervergegenwärtigung vorstellig gemacht wird, in- 
dem man z. B. sagt: dieses ist jener, von mir vordem gesehene 
Caitra (Cajus). Ahnlich ist es auch hier, indem in betreff 
des als allmachtig aus anerkannten Erzählungen, begründeten 
Überlieferungen, Schlufsfolgerungen usw. erkannten Gottes 
als des realen, indem er in unserm eigenen Selbste vorstellig 76 
gemacht wird, durch Vergegenwärtigung seiner Macht die 
Erkenntnis uns aufgeht: Fürwahr, ich bin eben jener Gott. 
Diese Wiedererkennung nun „tue ich kund"; das Kundtun 
ist ein Beibringen, sofern sie einem andern beigebracht wird, 
und der Sinn ist, dafs ich sie diu"ch eine ihm angemessene 
Betrachtung als Zweckhandlung dem andern kund tue. 
Man könnte einwenden: wenn die Seele offenbar zutage 
liegt als ihrer Natur nach Gott seiend, wozu ist dann noch 
diese Bemühung in Darlegung ihrer Wiedererkennung erforder- 
lich? — Hierauf dient zur Antwort: Wenn auch die Seele 
allezeit in ihrem Selbstlichtsein erglänzt, so ist doch da, wo 
die Seele infolge der Mäyä nur teilweise leuchtet, zum Behufe 
n ihres vollständigen Erglänzens die Wiedererkennung zu bewerk- 
stelligen, indem man ilii'e Kräfte des Schauens und Wirkens 
offenbar macht. Die Konstruktion des betreffenden Syllogismus 
ist dabei wie folgt: 
1. Diese Seele mui's der höchste Gott sein. 
2. Denn sie besitzt die Kräfte des Erkennens und des 
Wirkens. 
3. Soweit nämlich einer etwas erkennt und bewirkt, so- 
weit ist er Herr darüber, wie z. B. jeder in der Erfahrung 
vorkommende Herr oder ein König. 
330 Die philosophischen Systeme. 
4. Nun ist die Seele allerkennend und allwirkend. 
5. Folglich, ist sie Gott. 
Diese Anwendung des fünfgliedrigen Syllogismus ist zu- 
lässig, weil auf dem Standpunkte der Mäyä das Lehrsystem 
des Nyäya seine Gültigkeit behält. Dieses sagt auch der Sohn 
des Udayäkara: 
„Dafs unser Selbst, bewirkend und erkennend, 
„Der urvollkomniene und höchste Gott ist, 
,,Wer ist so stumpfen Geistes, dafs er dieses 
„Bestreiten oder auch beweisen will? 
,,Doch durch Verblendung kommt es, dafs derselbe, 
,,0b sichtbar zwar, doch nicht wird wahrgenommen, 
„Daher durch Kundbarmachung seiner Kräfte 
,,Die Wiedererkennung hier wird aufgezeigt." 
Denn damit steht es wie folgt: 
„Der Stützpunkt aller Wesen, die hienieden, 
,,Hat seinen Grund in dem Lebendigen, 
,,Das Leben aber der lebendigen Wesen 
„Besteht in dem Erkennen und dem Wirken. 
,,Zwar gibt es ein Erkennen, das von selbst kommt, 
„Ein Wirken auch, befangen in der Scheinwelt. 
,,Dies beides ist erreichbar auch von andern. 
„Nicht so ist's mit dem Wissen, das wir meinen. 
,,Die Scheinerkenntnis jener kommt zustande, 
„Indem sie sich je nach dem Stoff gestaltet. 
„Nicht stufenweise, wonnevoll, rein geistig, 
„Ist das Erkennende hier Gott allein." 
Und auch die FiU'se des Somänandanätha sagen: 77 
„Was ihr erkennt, erkennt ihr durch des ^iva Selbst, 
,,Was ihr erkennt, erkennt ihr durch mein eigen Selbst." 
Und wiederum am Schlüsse des Abschnittes vom Erkennen 
heifst es: 
,,Wäre mit ihm die Einheit nicht, so fände 
„Durch's Leben kein Bewufstsein seinen Weg; 
„Weil alles Licht nur eins, ist er nur eins, 
,,Als einziger Erkenner steht er da. 
VIll. Die Lehre von der Wiedererkennung. 3ol 
91 „Weil aller Dinge Mannigfaltigkeit 
„Unter Gesetzen steht, muls Gott er sein, 
„Und alles reine Wirken und Erkennen 
„Jst nur ein geistiges Betasten Gottes." 
Auch w ird die Sache von dem edlen Ahhinavagupta in folgender 
Weise entwickelt. Wenn es (Käth. Up. 5,15) heilst : 
„Ihm der da leuchtet, leuchtet nach dies Ganze, 
..Die ganze Welt erglänzt von seinem Glänze'', 
so folgt aus diesem Schrift^x orte, dafs Gott durch seines Lichtes 
geistige Majestät alle Kreaturen erleuchtet. Wenn daher das 
von den Objekten ausströmende Licht bald ein blaues Licht, 
bald ein oelbes Licht ist, so beruht diese Verschiedenheit auf 
der Verschiedenheit der Färbung der Objekte; der Substanz 
nach aber, weil diese der Schranken von Raum, Zeit und 
Gestalt entbehrt, liegt hier eine Xichtverschiedenheit vor, und 
eben dieses rein geistige Licht wird der Erkenner genannt, 
daher es auch in den ^ivasütra's heilst: „Geistigkeit ist die 
Seele." Von ihm können die Ausdrücke reine Geistigkeit, 
ununterbrochenes Denken , Auf-kein-anderes-gerichtet-sein. 
Ganz -von -Wonne - durchdrungen- sein und Höchstes - Gottsein 
einer um den andern gebraucht werden. Denn er ist jene 
das Sein als Wesen habende Geistigkeit. Und wenn es oben 
hiefs „alles reine", d. h. in metaphysischem Sinne reale „Wirken 
und Erkennen", so ist hier das Erkennen das seinem Wesen 
nach Lichtsein, und das Wirken das durch sich selbst Schöpfer- Gottes 
sein der Welt, wie dieses in dem Abschnitte von dem Wirken 
folgendermafsen geschildert wird: 
„Er ist es, der durch seiner Wonne Kraft 
„Die Wesen alle hier erleuchtend wirkt; 
,,Aus seinem Willen nur erfolgt dies Wirken, 
,,Und dieses nennt man seine Schöpferkraft." 
Und am Schlufs heifst es: 
„Indem er also in der Form der Welt 
„Als Topf und Tuch und mancherlei Gestalten 
„Zu weilen wünscht, so wird dies sein Verlangen, 
332 l'ie pliilosopliischen Systeme. 
„Zu ursächlichem Tun gemacht, sein Wirken. 
„Und wenn es hier Ursach und Wirkung gibt, 
„So dafs, weil eines ist, ein andres ist, 
,,So kann auch dies aus Wesen ohne Absicht 
„Und ohne Geistigkeit niemals erfolgen." 
Weil nach diesem Grundsatze ein ungeistiges Wesen und auch 
ein geistiges ohne Gott nicht wirkende Ursache sein kann, 
so folgt, dafs, je nachdem Gott in dieser oder jener der ver- 
möge der Zustandsumwandlung der Welt nach Entstehen, 
Bestehen usw. bald so bald so tausendfach sich gestaltenden 
Vielheiten und Wirkungen zu bestehen wünscht, dieser blofse 
95 Wunsch des freien und seligen Allgottes, indem er eine höher 78 
vmd höher aufquellende Wesenheit entfaltet, sein Wesen oder 
sein Allschöpfersein genannt Mdrd. Dafs aber die Welt- 
schöpfung durch den blofsen Willen Gottes erfolgt, dafür läfst 
sich auch ein Erfahrungsbeispiel klärlich aufzeigen: 
„Wenn durch den Yogin ohne Ton und Samen 
,,Der Topf, die Pflanze durch den blofsen Willen 
„Erzeugt wird, so ist doch ein solcher Topf 
„Ganz ebenso zweckwirkend wie ein anderer." 
Wäre in betreff des Topfes usw. nur der Ton usw. im abso- 
luten Sinne die Ursache, wie könnte dann dm'ch den blofsen 
Wunsch des Yogin die Entstehung des Topfes usw. erfolgen? 
— Man könnte einwenden: Es sind eben andere Töpfe und 
Pflanzen, welche aus Erde und Samen entstehen, und andere 
wiederum, welche durch den Willen des Yogin entstehen. 
Hierauf dient zur Belehrung, dafs allerdings, wie männiglich 
bekannt, aus der Verschiedenheit des ursächlichen Zubehöres 
auch eine Verschiedenheit der Wirkung stattfinden müfste. 
Wollte aber einer darum kommen und sagen : die Entstehung 
des Kruges findet in keinem Falle ohne materielle Ursache 
statt, und wenn der Yogin den Krug hervorbringt, so ge- 
schieht es, weil er die Atome durch seinen Willen versam- 
melt, — so gebührt darauf die Belehrung: Handelte es sich 
nicht hier um etwas, welches dem natürlichen Zusammenhang 
von Wirkung und Ursache entgegengesetzt wäre, so würde 
'^1 
VIII. Die Lehre von der Wiedererkennung. 33i> 
zur llervorbriiigung- eines Topfes der Ton, der Stab, das 
Töpferrad usw.. zur ITervorb ringung eines Leibes der Verkehr 
zwischen Mann und Woih usw ., dieses alles würde erforderlich 
sein, und da dihi'te es wahrhaftig schwer fallen zu erklären, 
wie der sofort auf den Willensakt des Yogin entstehende 
Topf oder Leib zustande gebracht würde. Was aber das 
Geistige betrilft, so tritt der heilige, vielvermögende Mahädeva 
in der Weise in die Erscheinung, dafs er dabei überreichhche 
Freiheit besitzt, der Naturnotwendigkeit zu folgen oder auch 
dieselbe zu überspringen, und bei dieser Annahme ist keinerlei 
Inzuträglichkeit vorhanden. Daher sagt auch der Meister 
\ asugupta : 
„Ihm, welcher ohne Farbe und ohne Pinsel 
„Und ohne Leinewand das Weltgemälde 
,, Ausbreitet, dem mondsichelfrohen Gott, 
„Dem dreizacktragenden, bring ich Verehrung." 
— «Aber, so könnte man fragen, wenn die innere Seele nicht Gebunden- 
. . , . j sein der 
«von dem höchsten (jotte verschieden ist, wie kann sie dann seeie und 
«in der Seelenwanderung gebunden sein?» — Hierauf ant- 
wortet der Abschnitt von der heiligen Überlieferung: 
Erlösung. 
'C>^ 
„Wenn der Erkenner durch die Mäyä blind ist, 
„So wandert er, gebunden durch die Werke; 
96 „Ward ihm durch Wissen seine Gottheit kund, 
„So ist er ein reingeistiger Erlöster." 
— ('Aber, da bei dem Akte der Erkenntnis der Erkenner der 
«nämliche bleibt, welcher Unterschied besteht in betreff seines 
«Verhaltens zum Objekte zwischen Bindung und Erlösung?» 
— Auch darauf findet sich eine Antwort in dem Abschnitte 
von der Zusammenfassung der Grundbegriffe: 
„Die objektive W^elt weifs der Erlöste 
„Als von dem eignen Selbste nicht verschieden, 
,,Ganz wie der ungebundene höchste Gott. 
„Der andre hält sie völlig für verschieden." 
— «Aber wenn die Seele von Natur aus schon der höchste t» 
«Gott ist, so hat es doch keinen Sinn, noch die Wieder- 
334 Die philosophischen Systeme. 
«erkennung zu fordern, denn man kann doch nicht l)ehaupten, 
«dafs der Same, weil er als solcher nicht wiedererkannt sei, 
«wofern sonst die mitwirkenden Bedingungen vorhanden sind, 
«die Pflanze nicht hervorzuhringen vermöge; warum also be- 
« steht ihi- so hartnäckig darauf, dafs die Seele wiedererkannt 
«werden müsse?» — So höre denn, ich will dir das Rätsel 
erklären. Eine Zwecktätigkeit ist eine zweifache ; entweder eine 
äufsere, wie die der Pflanze, oder zweitens eine solche, welche 
in der Beruhigung und Verwunderung des Erkennenden 
gipfelt und ihrem Wesen nach vor allem Freude ist. Bei der 
erstem Tätigkeit ist ein Wiedererkennen nicht erforderlich, 
hei der letztern hingegen ist es allerdings erforderlich. So 
ist es auch hier; die Erkenntnis: ,,ich hin Gott" ist eine in 
Verwunderung gipfelnde Zwecktätigkeit, welche die durch 
höhere oder niedere Vollendung gekennzeichnete Einheit der 
individuellen Seele mit dem Atman und die Entfaltung seiner 
Kräfte betrifft, und hierzu ist allerdings die AMedererkennung 
der eigenen Wesenheit erforderlich. — «Aber wenn die in 
«der Beruhigung des Erkennenden gipfelnde Zwecktätigkeit 
«auch ohne jenes Wiedererkennen schon zum Schauen ge- 
« worden ist, was ist dann bei einem solchen Schauen geschaut 
«worden?» — Darauf dient zur Antwort: ein liebebedürftiges 
junges Mädchen wurde durch das blofse Hören von den vielen 
Vortrefflichkeiten eines Liebhabers zu einem solchen Grade 
von Leidenschaft entflammt, dafs sie von Sehnsucht über- 
wältigt den Schmerz der Trennung nicht ertrug, ihre Zuflucht 
zu einem Liebesbriefe nahm und in diesem ihren Zustand dem 
Liebenden kund tat. Sofort eilte derselbe zu ihr herbei, aber 
als sie ihn nun endlich erblickte, so konnte der Anblick 
desselben, solange die Auffassung der ihm eigenen Tugenden 
fehlte und sich auf das allen Männern Gemeinsame be- 
schränkte, den Weg zu ihrem Herzen nicht finden. Nachdem 
sie aber, auf das Eigentümliche seiner Erscheinung aufmerk- 
sam gemacht, die ihm eigenen Vorzüge erfafste, so wurde sie 
augenblicklich von voller Liebe zu ihm noch mehr als vorher 
ergriffen. So' kann auch, obgleich die eigene Seele nur mittels 
der Seele des Allgottes uns zum Bewufstsein kommt, dieses 
Bewufstsein, solange die Erkenntnis der ihm eigenen Vor- 
VIII. Die Lehre von der Wiedererkennung. 335 
zütio uns abgellt, die volle Liebe zu ihm nic-ht hervorbrinijen. 
97 Wt'nn aber etwa durch die Worte des Lehrers uns ein Begrift' 
erwächst von der Allwissenheit, Allmacht und den übrigen 
Vollkommenheiten des höchsten Gottes, so werden wir da- 
durch augenblicklich seiner vollen Wesenheit teilhaftig. Darum 
heifst es in der vierten Betrachtung: 
.,Weun auch der Liebende mit flehenden Gebärden 
„Sich niederwirft zu Füfsen seiner Lieben, 
,,So kann er ihr zur Lust nicht mehr als andre werden, 
„So lang ihr unerkannt sein Ich geblieben. 
„So bleibt verborgen auch der Welt nach seinem Wesen 
„Der höchste Gott, obgleich in ihr enthalten 
,,Als aller Seele; dafs er euch sich mög' entfalten, 
,,Ist seine Wiedererkennung hier zu lesen." 
Zwar ist dieses Thema von Abhinavagupta und andern 
Lehrern sehr ausführlich behandelt worden, doch wollen wir, 
da es uns nur um einen Überblick zu tun ist, aus Furcht, 
zu weitläufig zu werden, nicht länger dabei verweilen, und 
damit gut. 
IX. Das Quecksilbersystem. so 
C p. 97—103. P p. 80—84. 
Konsei- Wieder andere Anhänger des MaheQvara gibt es, welche 
^* Laibes! "^^ zwar auch die Wesenseinheit mit dem höchsten Gotte lehren, 
daneben aber auf den Gedanken geraten sind, dafs die von 
allen angestrebte Erlösung bei Lebzeiten sich verwirkliche in 
einer Fortdauer des Leibes, und nun als Mittel dieser Fort- 
dauer des Leibes die als Quecksilber und unter andern Namen 
bekannte Flüssigkeit einnehmen, weil ihre Eigenschaft als 
• Quecksilber [pära-da, nach vermeintlicher Etymologie wört- 
lich: ,,das jenseitige Ufer verleihend") die Ursache sei für die 
Rettung aus dem Strome der Seelenwanderung hinüber an 
das andere Ufer. Darum heifst es: 
„Vom Seelenwandrungsstrom das andere Ufer 
„Verleiht er, darum heifst er Pära-da (Ufergeber)." 
Und im Rasärnava (Saftmeere) heifst es: 
„Quecksilber heifst er, weil von höchsten Zaubrern 
„Zum höchsten Zwecke er wird anempfohlen. 
,,Er ist verwandt mir, wenn er ruht, o Göttin, 
„Weil er mir dann entspringt aus allen Gliedern. 
„Und weil der Saft er ist aus meinem Körper, 
„Darum wird er kurzweg der Saft genannt." 
Behauptet ihr, dafs man auch auf andere Art über die Er- 
lösung bei Lebzeiten argumentieren könne, und dafs daher 
IX. Das Quocksilbersystem. 337 
diese etymoloaipcho Aro-umcntation nicht argumentationskräftig 
:'8 sei, so bestreiten Avir das; denn wenn auch in allen sechs 
Systemen von einer Erlösung nach dem Dahinfalle des Leibes 
die Rede ist, so kann man ihnen doch hierin nicht Glauben 
scln'nken, daher ein unfehlbares Verfahren sich bei ihnen 
nicht findet. Auch darüber heifst es an demselben Orte: 
„Zwar auch die sechs Systeme lehren allesamt 
„Eine Erlösung nach des Körpei's Hinfall, 
„Doch ist sie leider durch den Augenschein, 
„Wie in der Hand die Frucht, nicht wahrzunehmen. 
„Darum soll man den Leib sich konservieren 
„Mit Säften und mit Lebenselixieren." 
Und auch des Lehrers Govinda verehrungswürdige Füfse 
sagen 
,,Des Reichtums und des Leibes Freuden sind 
„Vergänglich, darum soll man immer streben 
„Nach der Erlösung ; sie wird durch Erkenntnis, 
„Diese durch Studium, dies durch langes Leben." 
Man könnte einwenden: Da der Augenschein die Vergäng- 
lichkeit des Leibes beweise, so könne doch dessen Ewigkeit 
unmöglich bewerkstelligt werden. Aber das glaube man nur 
nicht! Denn wenn auch der aus den sechs Hüllen (vgl. Taitt. vergäng- 
Up. 2) bestehende Körper vergänglich ist, so kann darum nnvergäng- 
doch der durch die Worte Quecksilber und Talk bezeichnete 
und durch eine Schöpfung des Hara und der Gauri ent- 
standene Körper Ewigkeit haben. Und so heifst es in dem 
Rasahridayam: 
„Wer, ehe er aus seinem Leibe scheidet, 
„Den andern Leib erlangte, der entsteht 
„Als eine Schöpfung Hara's und der Gauri, 
„Den preise ich als selig durch Quecksilber; 
,,Der Hymnen Schar ist seine Dienerschaft." 
Darum mufs der nach Erlösung bei Lebzeiten trachtende 
Yogin vor allem sich jenen göttlichen Leib verschaffen. Die 
Entstehung desselben aber durch eine gemeinsame Schöpfung 
Deüssen, Geschichte der PhjloBophie. I, iii. ^- 
338 I^iß philosophischen Systeme. 
des Hara und der Gauri, sofern das Quecksilber aus Hara 
entstand, während der Talk aus Gauri hervorging, bedeutet 
so\^el wie Wesenseinheit mit dem emen und der andern: 
„Dein Same ist der Talk, o Göttin, si 
,,Mein Same das Quecksilber ist : 
,,Wo diese beiden sich verbinden, 
,,Da müssen Tod und Armut schwinden." 
Aber damit ist viel zu wenig gesagt. Denn viele Götter, 
Daitya's, Muni's, Menschen usw. haben mit Hilfe des Queck- 
silbers jenen göttlichen Leib erlangt und sind dadurch der 
Erlösung bei Lebzeiten teilhaftig geworden, wie dies bezeugt 
wird im Rasegvara-siddhänta : 
„So mancher Gott Mahega usw., 
„So manche Daitya's, Kävya an der Spitze, 
,,So manche Muni's neben Välakhilya, 
„Auch Fürsten wie Somegvara und andere, 
,,Auch des Govinda heilige Lehrerfüfse, 
,,Wie ferner auch Govindanäyaka, 
„Carvati, Kapila und Vyäli auch, 
..Käpäli auch und Kandaläyana, — 
„Sie und noch viele andre wandelten 
„Schon bei Lebzeiten als erlöst und selig, 
„Weil sie erlangten den Quecksilberleib, 
„Und durch ihn, sei es wie es sei, Gottwesenheit." 
Denn dafs dieses sein Zweck ist, wird von dem höchsten Gotte 
der höchsten Göttin auseinandergesetzt, wie folgt: 
„Des Leibs Erhaltung wird bewirkt, o Herrin 
„Der Götter, durch des Werks Betriebsamkeit, 
„Und zweifach ist des Werks Betriebsamkeit, 
„Der flüssige Saft und der luftförmige. 
„Wenn er erstarrt ist, nimmt er Krankheit weg, 
„Belebend wirkt er, wenn er selber tot ist, 
„Verleiht gebunden uns die Kunst zu fliegen, 
„Ist flüssig, Bhairavi! und auch hiftförmig." 
Beschrei- Die \atur desselben, wenn es erstarrt ist, wird wie folgt be- 
bung des , . - 
EUxiers. Schrieben: 
IX. Das Quecksilbersystom. 339 
„In manclien Farben schillort das Quecksilber, 
„Wenn es aufgab seine Dickflüssigkeit. 
„Wenn dieses sich an ihm als Merkmal zeigt, 
^ „So nennt man das den Zustand der Erstarrung. 
■ ,,Wenn Feuchtigkeit und Dickigkeit zugleich, 
„Glänzendlieit, Weifse und Beweglichkeit 
„An ihm nicht mehr der Wahrnehmung sich zeigen, 
„So nennt man das erstorbenes Quecksilber." 
An einem andern Orte ist von seinem Wesen in gebundenem 
(legiertem) Zustande die Rede: 
,,Wenn es als unzerteilt und leicht hinfliefsend, 
„Als glänzend, fleckenlos und schwer erscheint 
„Und erst befreit aus diesem Zustand aufplatzt, 
.,So nennt man das gebundenes Quecksilber." 
— «Zugegeben», so könnte man einwenden, «dafs, wenn die 
«Schöpfung des Quecksilbers durch Hara und Gauri bewiesen 
«wäre, die Konservierung des Leibes durch dasselbe sich an- 
«nehmbar machen liefse, womit läfst sich dann aber jene 
«Schöpfung erweisen?» — Sie läfst sich, so antworten wir, seine zu- 
erweisen auf Grund der achtzehn Manipulationen. Denn der *'"*""« 
Lehrer sagt: 
100 ,iBei seiner Zubereitungsweise sind 
,,Mit Wohlbedacht vorerst zu unterscheiden 
,. Achtzehn Mani2)ulationen, welche 
„Mit Sauberkeit, wie sie das Werk erfordert, 
„Sorgfältig von einander sind zu sondern." 82 
Diese Manipulationen werden beschrieben wie folgt: 
„Schweifsen, Zerreiben, Starrmachen, Fixieren, 
„Sichsetzenlassen, Einzwängen und Pressen, 
„Das Glühen, Dämpfen, Portionabmessen, 
„Pulverisieren und sodann Bedecken, 
„Die Innenschmelzung und die Aufsenschmelzung, 
„Das Atzen und in Farben Fliefsenlassen, 
„Das Mengen nebst Durchsetzen und das Essen, 
„Das sind die achtzehn Werke am Quecksilber." 
22* 
340 I^ie philosophischen Systeme. 
Näheres darüber findet sich bei dem Lehrer Govinda, ehr- 
würdigen Fufspaars, bei Meister Sarvajnarämegvara und 
andern alten Lehrern, daher wir hier, um das Buch nicht zu 
weitläufig zu machen, uns der Sache überheben. 
Das Queck- Übrigens darf man nicht glauben, als habe das Queck- 
wirkt die silbersystem nur den Zweck dieses Element zu verherrlichen, 
r osung. yjgjj^pj^j. jgj. ggjjj höchster Zweck, mittels der Durchdringung 
des Körpers mit Quecksilber die Erlösung zu bewerkstelligen. 
Daher heilst es im Rasarnava: 
„Des Bluts Durchdringung, die von dir, o Herr, 
„Verliehen ward als höchste Gottesgabe, 
„Der Leiblichkeit Durchdringung lehre mich, 
„Durch die man in der Luft vermag zu fliegen." 
Antwort : 
„Der wackere Mensch führt das Quecksilber ein, 
„Wie in sein Blut so in den ganzen Leib, 
,, Indem er sich dabei verläfst, o Göttin, 
,, Gleich sehr auf seinen Leih und auf sein Blut. 
„Zuerst mag er es an dem Blut erproben, 
„Dann wende er auch auf den Leib es an." 
— «Aber», so könnte man einwenden, «die Erlösung wird 
«doch dadurch bewirkt, dafs die aus Sein, Denken und Selig- 
«keit bestehende Wesenheit in uns zum Durchbruche kommt; 
«wozu also noch jene Bemühung in Beschaffung eines himm- 
«hsclien Leibes?» — Diese Einwendung ist untauglich, weil 
es, ehe man einen tauglichen Körper erlangt hat, mit der 
Tauglichkeit zur Erlösung schlecht steht. Darum heifst es 
im Rasahridayam : 
„Das Wesen, das aus Geist und Seligkeit 
,, Besteht, vor dem des Zweifels Macht zerfällt, 
,,Das jeder Schule Lehrbegriff enthält, 
,,Wenn es zum Durchbruch kommt zu einer Zeit, 
,,In der noch nicht verklärt die Leiblichkeit, 
„Was hülfe es den Wesen dieser Welt? 
ifii ,,Wen ich von Alter abgezehrt, 
,, Durch Hustennot und Atemnot beschwert, 
Ml 
1\. l»as Quecksilbersystem. 341 
„Tn Geist und Sinngebrauch gehemmt erblicke, 
„Von dem denk' ich, dafs er 
,.Ziir Meditation nicht wohl sich schicke. 
„Ein Jüngling von nur sechzehn Jahren, 
,, Durch sinnliche Genüsse ganz zerfahren, 
„Ein Greis, bei dem die Urteilskraft schon schwindet, 
„Glaubt ihr, dafs der noch die Erlösung findet?" 
— «Aber leben heilst doeh, im Samsära weilen, und das ErkenntoLs 
«Gegenteil davon keifst erlöst sein; ist dem so, wie können Leibespflege 
«dann diese beiden Gegensätze einen und denselben Ausgangs- ^ *°*' 
«punkt [nämlich die Pflege der Leiblichkeit] haben?» — 
Dieser Einwand ist unzutreffend, weil er vor folgendem Di- 
lemma nicht Stich hält. Die Erlösung, so frage ich euch, 
welche der Gegenstand des Nachdenkens aller bahnbrechen- 
den Geister gewesen ist, ist diese ein Gegenstand der Er- 
kenntnis oder nicht? Im letztern Falle ist sie so unmöglich .^3 
wie ein Hasenhorn, im erstem Falle darf man das Leben doch 
nicht unterdrücken, da ohne Leben ein Erkennen nicht mög- 
lich ist. Darum heifst es im Rase9vara-siddhänta : 
„Der Weg, der unter des Quecksilbers Zeichen 
,, Tiefsinnig vorgezeichnet worden ist, 
,, Führt zur Erlösung schon den Lebenden. 
,, Lehrbücher, die auf andern Gründen ruhn, 
,,Auf Argumente mannigfach sich stützend, 
,,Ja, auch die heiligen Sprüche alle lehren, 
,,Dafs durch Erkenntnis dies erkennbar ist. 
„Da nun, wer nicht lebt, auch nicht mehr erkennt, 
,,Mufs es ein Phänomen des Lebens sein." 
Auch ist unsere Lehre nicht eben etwas Inerhörtes. Denn Beispiel 
auch die Anhänger des Vishnusvämin lehren, dafs der Halb- Leibes. 
mann-halb-löwen-leib ihre? Gottes Ewigkeit besitze. Daher 
es in der Sakärasiddhi heifst: 
„Ihn, dessen Leib aus Sein und Geistigkeit, 
,,Aus ewiger, eigener, unermefslicher, 
„Vollkommener Seligkeit allein besteht, 
„Der Mann und Löwe ist zugleich, verehr' ich, 
„Wie Vishnusvämin ihn uns hat gelehrt." 
342 Die philosophischen Systeme. 
— nAber», so köimte man einwenden, «jener Leib eines Mann- 
xlöwen, wie er nach seinen Gliedern und seinem Aussehen 
((leibhaftig vorgestellt wird,, der kann doch keine Realität 
«haben.» — Dieser Einwendung halten wir entgegen, erstens 
das auf eigener Wahrnehmung beruhende Zeugnis eines 
Sanaka und anderer; zweitens Schriftstellen wie (Kigv. 10,90,1) : 
,,Der Geist mit tausend Häuptern" usw., 
drittens das Zeugnis des Puränam: 
„Dem wunderbaren Knaben, lotosäugig, 
„Vierarmig, seine Muschel, Keule 
„Und andre Waffen schwingend in der Luft"; — 
wenn durch dieses dreifache Zeugnis die Existenz wunder- 
barer Leiber feststeht, warum soll dann der Mannlöwenleib 
keine Realität haben? Auch werden ja seine Existenz und 
102 sonstigen Merkmale ausdrücklich von dem seinen Geist vor 
den Füfsen des Vishnusvamin neigenden Garbhac^-rikäntami^ra 
dargelegt. Es ergibt sich somit, dafs die von uns gelehrte 
Ewigkeit des Leibes durchaus nicht etwas schlechthin Un- 
erhörtes ist; das mögen sich alle Menschen merken, die 
nach dem Endziele des Menschen verlangen. Darum heifst 
es auch: 
„Als Stützpunkt aller Wissenschaft, 
„Als Wurzel aller Schaffenskraft, 
,,Mag es um Pflicht, Vorteil und Lust sich handeln, 
„Mag man die Pfade der Erlösung wandeln, 
,,Ein Leib, der ohne Altern, ohne Sterben, 
„Was kann man besseres als den erwerben?" 
ijob des Nicht alternd aber und unsterblich zu machen, das vermag 
Saftes 
allein das Ouecksilber. Darum heifst es: 
„Er ist der Säfte Fürst, denn er verleiht 
„Dem Leib Nichtaltern und Unsterblichkeit." 
I 
Aber wozu die Herrlichkeit dieser Essenz noch anpreisen! ~ 
Verleiht doch ihr blofser Anblick, ihre blofse Berührung schon 
grofsen Gewinn! Denn es heifst im Rasärnava: 
i 
IX. Das Quecksilbersystem. 34o 
„Wer ihn zu sehen, zu berühren sucht, 84 
„Wer ihn verzehrt, wer seiner nur gedenkt, 
,,Wer ihn verehrt, wer diesen Saft verschenkt, 
„Dem wird zuteil sechsfache grofse Frucht. 
„Wer alle Phalluszeichen, die vorhanden, 
„Anschaut in sämtlichen Kedäralanden, 
„Das gute Wei'k, das dieser sich erbaut, 
„Wird dem zuteil, der jenen Trank anschaut." 
Tiul an einem andern Orte lieifst es: 
., Heilbringender als alle Phalluszeichen 
,,In Kägi und in andern Erdenreichen 
„Ist dieses Saftes Zeichens Wirksamkeit. 
„Wer es vermag, dies Zeichen zu erlangen, 
„Braucht nicht vor Tod und Krankheit mehr zu bangen, 
,,Sein ist Genufs, sein Unverwelklichkeit." 
Weiter aber wird gelehrt, dafs es dem schlecht geht, welcher 
diesen Saft tad(dt: 
,,Wer einen Toren schmähen hört den Saft, 
.,Der denke sein mit aller Andacht Kraft. 
„Den Schmäher aber soll er eilig meiden; 
„Sein Mafs ist voll, und Schlimmes wird er leiden." 
Wer also in der von uns angegebenen Weise sich einen 
hinmilischen Leib erwirbt, der gelangt durch Betreibung der 
Hingebung (Yoga) zum Schauen der höchsten Wesenheit und Resultat. 
erreicht "das Endziel des Menschen. Dann erfolgt was ge- 
sagt wird: 
,,Ein Licht erglänzt zwischen den Augenbrauen, 
„Wie Feuersflamme, Blitz und Sonnenschein, 
„Die Welt erleuchtend ist es dort zu schauen, 
io:< „Doch nur bei wenigen stellt es sich ein, 
,,Auf deren edelbliokendem Gesicht 
„Wie Augen öfi'net sich dies Geisteslicht; 
„Als höchster Wonne Seim stellt es sich dar, 
„Entstammt dem höchsten Licht unwandelbar, 
„Von aller Erdennot völlig geschieden, 
„Man mufs ihn selbst empfinden, diesen Frieden, 
344 I^ie philosophischea Systeme. 
„Wer diesem Licht das Herz gewendet zu, 
..Durchschaut im Geist die ganze Welt im Nu, 
,,Der Werke Fessel ist bei ihm geschwunden, 
,,Hienieden hat das Brahman er gefunden." 
I'nd die Schrift sagt: „Fürwahr, dit^ses ist die Essenz; denn 
wer die Essenz orhmgt, den erfüllt Wonne'' (Taitt. Up. 2,7). 
Es bleibt also dabei, und es ist bewiesen, dafs dieser Saft das 
Mittel ist, um alles andere, alle Schmerzen und alle Lasten 
zu überwinden, l nd dem entspricht es, dafs ein Vers die 
Identität dieses Saftes mit dem höchsten Brahman ausspricht: 
„Er, dessen Pflege stets von selbst vollbringen, 
„Die nach Befreiung von der Hülle ringen, 
,,Er, der, wenn er zuteil geworden, bleibt, 
„Kein Spiel mit dem erweckten Geiste treibt, 
„Er, der entstanden, andre nicht betrübt, 
„Der uns das Selbstlicht aus uns selber gibt, 
„Der Brahman selbst ist, der durch seine Kraft 
,, Rettung von Elend und Samsäi'a schafl"t, — 
„Ist Pärada, ist der Quecksilbersaft." 
X. Das Vaigeshikam des Kanada. 
1. Yorbemerkunpen. 
Die Häretiker sind, wie im Abendlande, so auch in Indien, 
vermöge ihrer »rörsern OriüinaHtät und Exzentrizität in 
mancher Hinsicht von besonderm Interesse; wir haben daher 
nicht darauf verzichten woUen, die neun heterodoxen Svsteme 
in einer vollständigen Übersetzung der oft dialektisch spitz- 
lindigen, aber immer geistvollen Darstellung des ^Slädhava 
mitzuteilen, obwohl die Durcharbeitung dieser Materialien auch 
in der Übersetzung eine etwas mühsame Arbeit bleibt. Auf 
die neun heterodoxen Svsteme folgen im Sarva-darcana-sam- 
graha, dessen Anordnung wir auch weiterhin beibehalten 
können, die sechs orthodoxen Systeme, so genannt, weil man 
ihre Lehren für vereinbar mit dem Vedaglauben hielt, mit 
welchem Rechte, bleibe dahingestellt. Sie zerfallen in zwei 
Gruppen, deren erste, gebildet durch das Vai^eshikam, den 
Xyäya und die Mimänsä, mehr ein naturwissenschaftliches, 
logisches und rituelles als ein allgemein philosophisches Inter- 
esse haben, da sie die grofsen metaphysischen Probleme 
nur nebenbei und ohne sonderliche Originalität behandeln. 
Wir dürfen ims daher bei ihnen wie auch bei dem in Mädhava's 
Anordnung hinter ihnen eingeschalteten grammatischen Systeme 
des Pänini mit einer kurzen Übersicht der Hauptlehren be- 
gnügen und w erden den die zweite Gruppe bildenden Systemen 
des Sähkhyam. Yoga und Vedänta, von denen jedes in seiner 
Art sehr merkwürdig ist, eine um so eingehendere Beachtung 
widmen. 
346 
Die philosophischen Systeme. 
2. Kamen, Quellen und Cirundbe^riffe des Vai(,-eshikam. 
Das VaireshiJcam (sc. darranam), d. h, eins „auf die Unter- 
schiede (vigeslia) sicTi beziehende" System hat seinen Namen 
vielleicht daher, dafs es seine Hauptaufgabe darin sieht, das 
in der Natur vorliegende Mannigfaltige unter sechs Grund- 
begriffen zusammenzufassen, welche j>«f/ar//iff 's , eigentlich: 
,. Wortdinge", den Worten entsprechende Eealitäten heifsen, 
und es ist wohl möglich, dafs der Urheber dieser Betrach- 
tungsart seinen Ausgangspunkt von den die allgemeinsten 
Begriffe bezeichnenden Worten, wie Substanz, Qualität usw. 
genommen hat, um ihnen alles Einzelne unterzuordnen, ähn- 
lich wie Aristoteles verfahren zu haben scheint, wenn er, nach 
einer annehmbaren Vermutung, bei Aufstellung seiner zehn 
Kategorien sich von den Wortarten, wie sie die Grammatik 
behandelt, leiten liefs. Und in der Tat haben die sechs 
jpadärihas oder, wie wir in Anlehnung an abendländische Vor- 
stellungen sagen können, die sechs Kategorien des Kanada, 
eine weitgehende, wenn auch nicht überall im einzelnen durch- 
führbare Analogie mit den zehn Kategorien, unter welchen 
Aristoteles alles seiend Vorhandene zusammenfafste, wie 
folgende Gegenüberstellung zeigt, bei der wir nur noch be- 
merken wollen, dafs die Analogie in der Natur der Sache 
begründet ist, und dafs an eine historische Abhängigkeit von 
der einen oder andern Seite nicht entfernt zu denken ist. 
Die sechs Padartha's 
des Kanada. 
1. drainjam, Substanz. 
2. guna, Eigenschaft. 
3. karnitw, Tätigkeit. 
4. sämänyam, Gemeinsamkeit. 
5. vigesha Verschiedenheit. 
6. ■'^amaväya , Inhärenz. 
Die zehn Kategorien 
des Aristoteles. 
1. ohaioL, Substanz. 
2. TTOGcv, Quantität. 
3. Tüoicv, Qualität. 
7. xeta'jat., Lage. 
8. iyßvf, Sich-verhalten. 
9. TCoteiv. Tun. 
10. zaG/^e'-v, Leiden. 
, 4. xpci; T!,, Relation. 
X. Das Vai^eshikam des Kanada. 347 
Dio aristotdisclion Katogorieii dos Ivaumes (ttou, irgendwo) 
und der Zeit (tcots, irgendwann) werden von Kanada dem Be- 
griir der Substanz untergeordnet, während hingegen manche 
Anhänger des Vai^^eshika-Systems als siebente Kategorie noch 
nbhäva, das Nichtsein, zählen. 
Als Urheber dieses Systems wird ein übrigens gänzlich 
unbekannter K(t)ja(hi, ,,der Körnchenesser", bezeichnet, mög- 
licherweise ein früh eingebürgerter und von den Anhängern 
selbst (ähnlich wie der Name tieusen) acceptierter Spitzname, 
worauf die häutig vorkommenden \'erdrehungen in Kanabhuj, 
Kanabhaksha hindeuten. Möglicherweise war der eigentliche 
Name Ulida (Eule), welches öfter als Eigenname vorkommt; 
wenigstens werden die Anhänger des Kanada häufig als die 
Aiih'(ki/a'ii (auch Anh(l\i/a's) bezeichnet. Als Werk des Kanada 
sind uns dreihundertsiebzig Sütra's überliefert, verteilt auf 
zehn Adhyäya's (Sektionen), von denen jeder zwei Ahnika's 
(Tagewerke) enthält. Sie sind herausgegeben mit zwei Kom- 
mentaren, dem Upaslcära des (^'ankaramiQra und der Vivriti 
<les Jayanärclyana-tarkapaficänana in der Bibliotheca 
Indica, Calkutta 1861. Übersetzt wurden die Sütra's mit Aus- 
zügen aus den Kommentaren ins Deutsche von Roer und ins 
Englische von Gough; doch bleibt auch in diesen Übersetzungen 
noch vieles dunkel. Elementare Darstellungen des Systems sind 
der TarlasanKjralia des Annambh atta und der Bha4iäi)arlcheda 
des Vi^vanätha-pancänana. Wir müssen uns hier mit einer 
kurzen Übersicht des Systems auf Grund der Darstellungen 
begnügen, welche Colebrooke in den Miscellaneous Essays 
p. 261 fg. und Max Müller in der Zeitschr. d. Deutschen 
Morgenland. Gesellsch. VI, S. 1 fg. und 219 fg., sowie in den 
Six Systems p. 574 fg. gegeben haben. Wertvolle Ausfüh- 
rungen über einzelne Punkte des Systems liefert auch Handt, 
,,Die atomistische Grundlage der Vai§eshika- Philosophie" 
Tübinger Doktordissertation, Rostock 1900). 
3. Zweck des Systems. 
Über den Zweck des Systems sprechen sich die ersten 
vier Sütra's des Werkes aus. 
348 I^iß pliilosophischen Systeme. 
1. „Nunmehr daher wollen \vh* die Pflicht erklären." 
2. „Pflicht ist das, woraus Glück und Seligkeit [d. h. 
himmlischer Lohn und Erlösung] erfolgt." 
o. „Wegen seiner [Gottes, des Igvara] Aussage [d. h. weil 
Gott den Veda ausgesagt, oflenbart, ausgehaucht hat, Brih. 
Up. 2,4,10] gilt die Autorität der heiligen Überlieferung," 
4. „Aus der durch besondere Pflichterfüllung erzeugten 
Kenntnis der Wesenheit der Grundbegriffe Substanz, Eigen- 
schaft, Tätigkeit, Gemeinsamkeit, Verschiedenheit, Inhärenz 
nach Gleichartigkeit und Unterschied erfolgt die Seligkeit." 
Wie alle orthodoxen Systeme will auch das Vai^eshikam 
dem Zwecke dienen, einerseits ahlnjnäaija^ ,, Aufschwung" zu 
himmlischem Glück und zu einer höhern Stellung in der 
Seelenwanderung, andererseits inh/rci/asam, „die Seligkeit", 
d. h. die Erlösung, zu bewirken. Es erreicht diesen Zweck 
durch eine besondere Art der Pflichterfüllung, nämlich durch 
das Studium und die Erkenntnis seiner sechs Kategorien. 
»^ 
4. Die sechs Kateg-orien. 
Vorbemerkung. 
Die sechs Kategorien des Kanada, Substanz, Qualität, 
Tätigkeit, Gemeinsamkeit, Besonderheit und Inhärenz, zu 
welchen sich nach einigen Anhängern noch als siebente das 
Nichtsein gesellt, sind zunächst, wie oben angeführt wurde, 
nichts weiter als die sechs oder sieben allgemeinsten Begriffe, 
unter welchen die Genera, die Species und zuletzt die In- 
dividuen befafst werden. Aber schon das Wort padärtha 
scheint darauf hinzudeuten, dafs sie nicht blofs diese logische, 
sondern zugleich eine metaphysisch -reale Bedeutung 
haben. Die oben gegebene Übersetzung von Padärtha als 
„Wort-Dinge" könnte so gedeutet werden, dafs die sechs 
Kategorien nicht blofs Begrifie, sondern reale Wesenheiten 
(artlia) sind, welche durch die entsprechenden Worte (paäa) 
bezeichnet werden. Kanada würde somit im Sinne des Mittel- 
alters nicht als Nominalist, sondern als Realist gelten müssen. 
So ist dravjjani, die Substanz, nicht nur ein allgemeiner, alle 
neun Substanzen unter sich befassender Begriff, sondern es 
X. Das Vai^eshikiun des Kanada. ;}49 
ist zugleich eine wirkende Kraft, welche den neun Substanzen 
inliäriert und durch ihr Wirken in ihnen sie erst zu Sub- 
stanzen mac-ht. Ebendasselbe gilt von sdniiüii/am, der Gemein- 
samkeit. Wenn zwei Dinge etwas Gemeinsames haben, so 
beruht dies darauf, dafs ihnen die (pialitas occulta der Gemein- 
samkeit inhäriert. Ebenso beruht die Verschiedenheit zweier 
Dinge darauf, dafs sie den viresha, die Verschiedenheit, als 
eine wirkende Kraft in sich tragen, und selbst dieses In- 
härieren der Padartha s in den Einzeldingen ist nur möglich 
durch die beiden einwohnende und sie zusammenbindende 
Kraft des samavdya, der Inhärenz. Wir können in unserer 
kui'zen Skizze auf diesen Punkt nur hinweisen; eine spezielle 
Bearbeitung des Vai^eshika-Systems aber würde auf diese 
interessante Frage, inwieweit die Kategorien des Kanada von 
ihm nicht nur nominalistisch, sondern zugleich realistisch ver- 
standen worden sind, ihr besonderes Augenmerk zu richten 
haben. 
L arm II am, die Substanz. 
Sütram 1,1,15: „Tätigkeit und Qualität an sich tragen 
und inhärierende Ursache sein, das sind die Merkmale der 
Substanz." (Jcriiiägunavat, samaväi/iMranam, iii dravi/a-IaJci^ha- 
nam.) Hiernach ist die Substanz das Substrat der Qualitäten 
und Aktionen und inhäriert allen einzelnen Substanzen wie die 
platonische Idee den Einzeldingen. Durch die Sinne werden 
nur die Eigenschaften wahrgenommen, nicht die Substanz, 
welche aus jenen erschlossen werden mufs. Der einzelnen 
Substanzen sind neun: Erde, Wasser, Feuer, Wind, Äther, 
Zeit, Raum, Seele und Manas (Sütram 1,1,5: prähm, äpas^ 
trjo, väijur, äkägam, Mio, dig, dimd, mana' iii dravydni). 
1. prithivu die Erde, 
hat vier Hauptqualitäten, Geruch, Geschmack, Sichtbarkeit 
und Fühlbarkeit (Sütram 2,1,1). Ihre spezifische Qualität ist 
gcüidha, der Geruch. Sie ist ewig als Atome, vergänglich als 
Aggregat. Sie findet sich als Organismen (z. B. als Leib), 
Organ (als Geruchssin) und unorganisch (Steine usw.). Die 
Sinneswahrnchmung kommt hier wie bei den übrigen Sinnen 
350 I^ie philosophischen Systeme. 
dadurch zustande, dafs Teilehen der entsprechenden Elemente 
in dem Körper weilen ; durch die Erde in vms nehmen wir die 
Erde aufser uns wahr, durch das Wasser in uns das Wasser usw., 
yatf] [J.SV yap yatav 6TCOTCa[j.£v, üSart. h'\)h(,)g usw.. 
wie Empedokles bei Arist. de anima I, 2, 404'' 7 sagt, während 
Anaxagoras richtiger urteilt, dafs wir das Gleiche nicht durch 
Gleiches, sondern vielmehr durch das Entgegengesetzte wahr- 
nehmen, weil t6 8[xot.ov aTua'irer 'jt:6 tou 6[ji.oio'j, Theophrast, de 
sensu 27. 
2. äpas, das Wasser, 
ist ewig als Atome, vergänglich als Aggregat. Es hat die 
Qualitäten der Erde, ausgenommen den Geruch, welcher, wo 
er im Wasser vorkommt, der Erde entlehnt ist. Das Wasser 
besteht als Organismen (Wassertiere), als Organ (Geschmacks- 
sinn) und als unorganisch (in Uuellen, Flüssen usw.). Hagel, 
Schnee und Eis sind Wasser, welches durch eine geheime 
Kraft, das udrishtam, umgewandelt ist. Dieses adrishfam ruft 
Kanada überall zur Hilfe, wo er in Verlegenheit ist, eine 
Naturerscheinung zu erklären. 
3. tejas, das Feuer, 
ist ewüg als Atome, vergänghch in den Aggregaten. Es hat 
die Qualitäten der Erde aufser Geruch und Geschmack; seine 
spezifischen Qualitäten sind Sichtbarkeit und Hitze. Es be- 
steht als Organismen (die in <ler Sonnensphäre wohnenden 
Wesen), Organ (im Gesichtssinn) und unorganisch (im Herd- 
feuer usw.). Es gibt vier Arten des Feuers: das irdische, 
das himmlische, das in den Eingeweiden wohnende Ver- 
dauungsfeuer und das mineralische Feuer, nämlich das Gold, 
welches nach einigen festgewordenes Feuer, nach andern 
Feuer mit Beimischung erdiger Teile ist. 
4. vm/u, die Luft, 
ist ewig als Atome, vergänglich als Aggregate. Ihre Haupt- 
qualität ist die Fühlbarkeit, kraft deren sie sich weder warm 
wie das Feuer, noch kalt wie das Wasser, sondern lau an- 
fühlt. Sie besteht als Organismen (die in der Luft hausenden 
X. Das Vaigeshikam des Kanada. 351 
(Jeistcr), Organ (der Haut einwohnend) und unorganisch (in 
I.uft und Wind). 
5. dhäram^ der Äther, 
hesteht nicht aus Atomen, sondern ist einer, unendlich (rihhu) 
und ewig. Er ist nicht sinnhch wahrnelimbar, sondern wird 
als notwendiges Substrat des Tones aus diesem erschlossen. 
Das Gehör beruht darauf, dafs ätherartige Teile im Gehör- 
organ eingeschlossen sind. 
6. Jcäla, die Zeit, 
wird, wie auch der Raum, von Kanada (ähnlich wie von 
manchen „mathematischen Naturforschern" der vorkantischen 
Zeit) als eine Substanz angesehen. Sie ist nicht erkennbar, 
sondern miifs aus Succession und Simultaneität, aus dem Vor- 
her-, Nachher- und Gleichzeitigsein, aus den Veränderungen, 
wie sie bei dem Übergänge von der Jugend zum Alter statt- 
linden, erschlossen werden. Gemessen wird sie durch den 
(iang der Sonne. Wie Äther, Raum und Seele ist auch sie 
eine, unendlich und ewig. Als weitere Qualitäten der Zeit 
werden Zahl, Quantität, Individualität, Verbindung und 
Trennung genannt. 
7. dig^ der Raum, 
ist eine Substanz, welche jedoch nicht wahrgenommen werden 
kann, sondern aus dem Nebeneinander der Dinge, dem Hier 
imd Dort, der Nähe und Ferne erschlossen werden mufs. Seine 
Qualitäten sind dieselben wie die bei der Zeit aufgezählten. 
H. ätman, die Seele oder das Selbst, 
[ist zwar immateriell, aber doch eine Substanz, welche aus den 
Ipsychischen Qualitäten (Wissen, Lust, Schmerz, Wunsch, 
[Abneigung und Wille) als deren Substrat erschlossen wird. 
[Sie ist wie Äther, Raum und Zeit eine, unendlich und ewig, 
[Sie besteht in zwei Formen, als der 'iQvara^ Gott, die höchste 
[Seele, welche allwissend sowie frei von Lust und Schmerz ist, 
[und als die individuelle Seele, welche wie Gott ebenfalls 
|V^&AM, allgegenwärtig ist, wie sich daraus ergibt, dafs die 
[Seele als immateriell nicht von Ort zu Ort getragen werden 
352 Die pliilosopbisclien Systeme. 
kann nncl doch überall sich befindet, wohin der Körper geht. 
Als allgegenwärtig würde die Seele allwissend sein, wäre diese 
Allwissenheit nicht restringiert durch das Manas, an welches 
die Seele gebunden ist und auf dem somit ihre Individuation 
beruht. 
9. Das Manas. 
Wie der Atman das Subjekt des Erkennens, so ist das 
Manas das Mittel, durch welches dem Atman die Eindrücke 
der Sinnesorgane zugetragen werden. Das Manas ist nicht 
allgegenwärtig wie die Seele, sondern atomklein und, wie die 
Atome, ewig. Es ist nicht wahrnehmbar, sondern wird er- 
schlossen aus der Tatsache, dafs verschiedene Sinneseindrücke 
nicht gleichzeitig, sondern nur nach einander zur Seele ge- 
langen können, somit zur Annahme eines restringierenden Ver- 
mittlers zwischen Seele und Sinneseindrücken nötigen. Als 
solcher steht das Manas einerseits in Verbindung mit den 
Dingen, während es andererseits die aus ihnen entspringenden 
Wahrnehmungen sowie die Empfindungen von Lust und Leid 
der Seele zuträgt. Als Qualitäten des Manas werden Zahl, 
Quantität, Individualität, Verbindung, Trennung, Priorität, 
Posteriorität und Samskära aufgezählt, welches Wort wir wohl 
auch hier mit „Strebung" übersetzen dürfen. 
Die Atome (paramänn). 
Schon oben begegneten wir der Bemerkung, dafs die 
Elemente als Aggregate vergänglich, aber als Atome ewig 
sind. Hiernach ist der Atomismus des Kanada von dem des 
Demokrit und Epikur wesentlich verschieden. Die griechischen 
Atome sind qualitätlos [oltzoiol) ; die indischen sind ein für alle- 
mal Träger bestimmter Qualitäten, welche an ihren Aggre- 
gaten in die Erscheinung treten ; zudem haben die griechischen 
Atome mannigfache Gestalten, während die indischen Atome 
als kugelrund (pnrimandala) gedacht werden. Die Atome sind 
unerkennbar und werden daraus erschlossen, dafs ohne ihre 
Annahme die Teilung ins Unendliche fortgehen, somit ein 
rcgressus in infinitum (anavastJiä) entstehen würde, vor welchem 
hier und anderwärts der Inder, welcher noch nicht gelernt 
X. Das Vai<;esliikam iles Kanada. 135;] 
]ia(, mit Kant doii rcgrcssKs in hKlcfiiiitiiin vom m/;rw»,s- In 
iitfiiiHiini zu unterscheiden, wie vor einem (Jespenste zurück- 
sc-lieut. Weiter argumentiert Kanada: Gäbe es keine Atome, 
so würdi' Jedes Ding, sei es grol's oder klein, aus unendlieh 
vielen Teilen bestehen und, da oo == oo ist. oleichgrofs sein, 
ein Senfkorn so grofs wie ein Berg, eine Mücke so grol's 
wie ein Elefant. Das kleinste wahrnehmbare Objekt ist das 
Soinienstäubchen (frasarcijit): das Atom wird auf ein Hechstel 
von dessen Cröfse angenommen; zwei Atome bilden ein Doppel- 
atoui und werden in ihm durch das ((drishtam oder (Jottes 
Wille oder die Zeit oder sonst etwas (!) zusammengehalten. 
Drei Doppelatome bilden ein Tripelatom von der Gröfs tünes 
Sonnenstäubchens, vier Tripelatome ein Ouadrupelatom und 
so fort bis zu den gröfsten Körperaggregaten. 
11. yinia^ Uualität. 
Sütram 1,1,16: ,,Der Substanz inhärent sein [vgl. die zapcjcj'la 
<ler Ideen in den Dingen bei Piaton], selbst keine Uualität 
besitzen, für N'erbindung und Trennung nicht [wie das lair- 
iiiaii. die dritte Kategorie] Ursache sein und unabhängig [von 
den übrigen Kategorien] bestehen, — das sind die Merkmale 
der Oualität." (dravi/a-äfraiß, agimavän, sann/o<ja-vih]iagesJi>i 
nluircuuim, anapel!^ha\ — iü guna-lalisliamm.) Als Qualitäten 
werden von Kanada Sütram 1.1,') folgende siebzehn auf- 
gezählt: riijm-rasa-(/aHdha-spa)xäh (1, Farbe, 2. Geschmack, 
3. <!eruch, 4. Gefühl), saFil-hi/äh (5. Zahlen), parimänuui 
((3. Ouantitäten), prithaldvam (7. Einzelheit), santi/ogavihJuh/aH 
(S. Verbindung, 9. Trennung), paraka-apayatvc (10. Priorität, 
n. Posteriorität). huddliai/ah (12. intellektuelle Tätigkeiten), 
siil,-ha-diihl:hc (13. Lust, 14. Leid), kchä-dvcshau (15. Verlangen, 
16. Abneigung), praijainäh (17. Willensakte). Von Spätem 
werden nach Posteriorität noch Schwere, Flüssigkeit, Klebrig- 
keit und Ton ((//irittcani, dravatvam, sncha, mhda), nach prm/a- 
Uiüh (17) noch Tugend, Untugend und Fähigkeiteif (dhani/a. 
adliarma und samshh-äh) hinzugefügt, so dafs die Anzahl der 
«Jualitäten auf vierundzwanzig anwächst. Sehen wir von den 
sieben später hinzugefügten, den Zusammenhang unterbrechen- 
<len (Jualitäten ab, so ist die von Kanada gewählte Reihen- 
Deusses, Geschichte der Philosophie. I,iii. -«^ 
354 I^ie philosophischen Systeme. 
folge verständlich, da sie sich im ganzen und grofsen nach 
der der neun Substanzen richtet. 
1. riqmm, die Farbe, 
ist als Haupteigen Schaft im Feuer, aufserdem auch in Wasser 
und Erde, ist ewig in den Atomen, vergänglich in den 
Körpern. Sieben Farben werden aufgezählt: weifs, gelb, grün, 
rot, dunkelblau, braun und bunt; die letztgenannte kommt 
nur in Atomkomplexen vor. 
2. rasa, der Geschmack, 
findet sich in Erde und Wasser und ist die charakteristische 
Qualität des letztern. Er ist ewig in den Atomen, vergäng- 
lich in den Körpern. Sechs Arten werden unterschieden: süfs, 
bitter, stechend, herb, sauer und salzig. 
3. gandha, der Geruch, 
ist als Qualität nur der Erde eigen, aus welcher er in Wasser 
und Luft gelangt, indem z. B. aus Moschus, Kampfer usw. 
Teilchen an die Luft abgegeben und durch das adrishtam 
wieder ergänzt werden. Der Geruch ist ewig in den Atomen, 
vergänglich in den Körpern. Zwei Arten werden unter- 
schieden: Wohlgeruch und Gestank. Dafs derartige Unter- 
scheidungen nur durch die spezifische Beschaftenheit unseres 
Organismus bedingt sind, wird von Kanada übersehen. 
4. sparra, das Gefühl, 
findet sich in den vier Elementen, als heifs im Feuer, kalt 
im Wasser, lau in der Erde und Luft, und ist die charak- 
teristische Eigenschaft der letztern. Andere Unterarten sind 
hart, weich u. dgl. Es ist ewig in den Atomen, vergänglich 
in den Körpern. 
5. safiMiyä, die Zahl, 
ist der den Dingen innewohnende Grund der Einheit, Zwei- 
heit usw. und wird aus den Dingen durch Vergleichung 
und Abstraktion erkannt. Sie besteht aus Einheit und Viel- 
heit; die Einheit ist ewig in den Atomen, vergänglich in den 
X. Das Vai^esliikani des Kanada. 355 
Dingen. M'o eine Vielheit vorliegt, handelt es sich schon 
um eine Zusammensetzung von Atomen (womit das Bedenken 
M. Müllers in der Zeitschr. d. Deutschen Morgenland. Gesellsch. 
1852 8. 28 seine Erledigung findcMi dürfte). 
6. pariniänam, Quantität, 
ist die in den Dingen liegende Ursache des Messens und allen 
Substanzen gemeinsam. Vier Arten, grofs, klein und lang, 
kurz, oder (wie wir sagen könnten) stereometrische und plani- 
metrische Quantität werden unterschieden. Die Quantität ist 
ewig in dem Kleinsten (den Atomen) und Gröfsten (dem un- 
endlichen Äther), nicht ewig in den Dingen von mittlerer 
Gröfse. Die beiden erstem sind unerkennbar. 
7. priihaldvam., Einzelheit, 
ist ewig in den Atomen, vergänglich (als Zusammenfassung 
einer Vielheit von Atomen) in den Körpern und ist allen Sub- 
stanzen gemeinsam. 
8. scujiijoga, Verbindung, 
ist anwendbar auf alle Substanzen und ist von dreierlei Art, 
sofern entweder der eine Gegenstand sich mit dem andern 
verbindet (der Falke mit dem Baumzweig), oder beide ein- 
ander entgegenkommen (zwei kämpfende Widder), oder beide 
durch ein Mittelglied verbunden sind (wie Körper und Baum 
durch den ausgestreckten Arm). 
9. vibhäga, Trennung, 
ist das Gegenstück der Verbindung, wie diese anwendbar auf 
alle Substanzen und in derselben Weise von dreierlei Art. 
10. paratvam und 11. aparatvam, 
sind Korrelate zu einander und finden ihre Anw^endung auf 
räumliche wie auf zeitliche Verhältnisse. Im erstem Falle sind 
sie durch Ferne und Nähe, im letztem durch Posteriorität 
und Priorität zu übersetzen. Im räumlichen Sinne bestehen 
sie als ein Verhältnis zwischen fernen und nahen Dingen, 
im zeitlichen als ein solches zwischen Zuständen, wie Alter 
und Jugend. 
23* 
;.)5() I'io pbilosophisdicu Systeme. 
12, (landet im. Schwere, 
wird deliniert als die Trsache des Fallens, in welchem sie 
sich manifestiert, sofern nicht andere Ursachen, wie Adhäsion, 
Schnelligkeit oder Willenskraft, ihr das Gegengewicht halten. 
Sie ist an sich iinwahrnehmbar und tritt nur durch den 
fallenden Körper in die Wahrnehmung. Nur der Erde und 
dem Wasser soll sie eigen sein, nicht dem Feuer und der 
Luft. Die Leichtigkeit ist keine besondere Eigenschaft, sondern 
nur die Negation der Schwere. 
13. dravatvam, Flüssigkeit, 
ist die inhärierende Ursache des Fliefsens, welche wesentlich 
dem Wasser und nur gelegentlich den erdartigen und feurigen 
Substanzen innewohnt. Im »Eis ist sie latent vermöge einer 
geheimen Kraft, des adri-thlaiii. Sie wird wahrgenommen durch 
das Gesicht und das Gefühl. 
14. suelia, Klebrigkeit, 
ist die Ursache des Zusammenklumpens von Mehl und der- 
gleichen. Sie findet sich nur im Wasser, und wo sie ander- 
weit vorkommt, wie in Ol, Butter usw., beruht sie auf den 
ihnen beigemischten Wasserteilen. 
15. cabda, der Ton, 
ist die charakteristisch(^ Qualität des Äthers und diesem allein 
eigen. Er pflanzt sich von einem Zentrum aus strahlenförmig 
im Äther unter Mitwirkung des Windes nach allen Seiten fort, 
bis er von den ätherartigen Teilen im Gehörgange perzipiert 
wird. Er wird veranlafst durch Verbindung (z. B. der Trommel 
mit dem Schlägel), Trennung (wie im Rauschen der Blätter) 
oder Ton (vielleicht ist an das Echo zu denken). Er besteht 
in zwei Arten, als unartikuliert (z. B. in der Trommel) und 
artikuliert (z. B. in der Sanskritsprache). 
Die Qualitäten lo — 15 fehlen noch in den Sütias, werden 
vom Kommentar hinzugefügt und unterbrechen die den Sub- 
stanzen entsprechende Reihenfolge der Qualitäten. 
IG. hnddJi(, Erkenntnis, 
ist eine Qualität des Atman und wahrnehmbar nur durch den 
Innern Sinn, das Manas. Sie ist zweifach, als Wahrnehmung 
f 
I 
I 
X. l>as Vaicoshikani dos K'anädo. ;j;')7 
Hill 1- rimirniiiü;. \>\c W'alinieliimmg i>t ciitwinUT rii-htiu; 
(prniiiü) oder falsch fiijtrionu) (wie wenn man Perlmutter für 
SilUer liält). Auch die Kriiineruni;- kann eine richtige sein 
odiT eine falsche; aus h'tzterer sollen sich die Traumgesichte 
erklären. 
17. suIIkuii, Lust, und IH. dit/jl/iam, Schmerz, 
sind heide Qualitäten der Seele. „Lust ist, was allgemi^in als 
angenehm, Schmerz, was als unangenehm em])funden wird'*, 
^^omit freilich nicht viel gesagt ist. 
19. fcchii, Verlangen, und 20. drrsha, Abneigung, 
stehen in nächster 13eziehung zu Lust und Leid. Ver'angen 
ist positiv ein Begehren nach Lust und Glück, negativ ein 
solches nach Schmerzlosigkeit, Das Verlangen erreicht seinen 
höchsten Grad in der Leidenschaft. \'un beiden ist Gott frei 
und ebenso der Heilige. — Das Gegenstück des Verlangens 
i>t <lio Abneigung, deren Steigerung der ITafs ist. 
21. pra)jat)ta, Anstrengung, Wille, 
ist dasjenige, was, nachdem Wahrnehmung und Verlangen 
vorausgegangen sind, das menschliche Handeln dazu be- 
stimmt, eine vorhandene Lust zu steigern oder eine Unlust 
zu beseitigen. Der Wille in den Tieren (Kanada hätte hin- 
zufügen können: auch in den andern Menschen) ist nicht 
wahrnehmbar, sondern nur erschliefsbar durch Analogie. Sein 
Grund liegt in der Lebenskraft, welche ein Geheimnisvolles, 
ein ailn'sJifant, ist. ^^'ill<' und Intellekt sind in Gott ewig, im 
Menschen vergänglich. 
22. (Uiarnia, Tugend, und 2.'). aiüianna, Untugend, 
sind als Oualitäten der Seele nicht wi\hrnehmbar, sondern 
nur erschliefsl)ar aus dem glücklichen oder unglücklichen 
Zustande des Menschen, welcher nach dem unverbrüchlichen 
Gesetze der Seelenwanderung die Folge vorherbegangener 
tugendhafter oder siuidlicher Handlungen ist; durch sie werden 
Tugend und Untugend gleichwie ein Schatz aufgehäuft und 
finden ihre Vergeltung im nächstfolgenden Lebenslauf, (nu 
ist etwas, weil es im Veda geboten, böse, weil es in ihm 
verboten ist (also keine jicrscttas hont). 
358 I^iß philosophisclien Systeme. 
24. sanisMra, Fähigkeit oder Anlage, 
ist, wie die beiden vorhergehenden Guna's, späterer Zusatz, 
und könnte wohl, nachdem 8—9 und 19 — 21 vorhergegangen 
waren, entbehrt werden. Drei verwandte, aber doch ver- 
schiedene Erscheinungen werden unter dem vieldeutigen Worte 
samsliära zusammengefafst : 1. vega, Impuls, Schnelligkeit, ist 
den vier ersten Elementen wie auch dem Manas als Funktion 
eigen. 2. sthiiisihäpalca^ r^den Zustand wiederherstellend", ist 
die Elastizität, vermöge deren der gespannte Bogen, der aus 
seiner Lage gebrachte Baumzweig in den ursprünglichen Zu- 
stand zurückkehrt. 3. hliävanä, Eindruck, ist eine verwandte, 
nur der Seele zukommende Funktion. Sie wird erzeugt durch 
Innewerdung und ist ihrerseits wiederum der Grund der 
Erinnerung, namentlich an die Eindrücke des vormaligen 
Daseins, auf welchen ja auch die Handlungen des gegen- 
wärtigen Lebens beruhen; daher vielleicht die Zusammen- 
fassung mit vega und sihiiistliäpal;a. 
III. Jcarnicut, die Tätigkeit. 
Sütram 1,1,17: „Der Substanz allein einwohnen, ohne 
[wie sie] Eigenschaften zu besitzen, und bei Verbindung und 
Trennung eine [von der materiellen Ursache] unabhängige 
Ursache sein, — das sind die Merkmale der Tätigkeit." (clicc- 
dravyom, agnnam, samnoga-vihhägcshn atiapchslm-liärcmam, — 
iti liarma-lakslianam.) Hiernach kommt Tätigkeit nur Sub- 
stanzen zu, aber auch unter diesen bleibt sie auf Erde, 
Wasser, Feuer, Luft und das Manas beschränkt. Seinem 
Atomismus getreu kennt Kanada keine dAA0i6)at.c, sondern 
nur eine 9opd, d. h. nur mechanische Bewegung der Atome. 
Dementsprechend unterscheidet er nur fünf Ilauptarten der 
Tätigkeit : 
1. utlishepanam, Hinaufwerfen, 
2. avalcsJiepanani, Hinunterwerfen, 
3. ähincanam, Kontraktion, 
4. prasäranam, Expansion, 
5. gamanani, Gehen, 
X. Pas Vai(;esliikam des Kanada. 359 
und allerdino-s lassen sich iintor \'oraussotzung der Atome 
alle Tätigkeiten auf ein Zusamnienrückeii (älainccmam) und 
Auseinanderrücken (prasarcoiani) der den Körper bildenden 
Atome, sowie nach aui'sen hin auf eine Bewegung nach oben 
zu (ntlisht'iHinam), nach unten zu (aval'shcpauam) und in hori- 
zontaler Richtung ((jamanai») zurückführen. 
IV. sdmärniam, die Gemeinsamkeit, 
wird detiniert als die l'rsache für die Wahrnehmung der 
Gemeinsamkeit, ist also keineswegs eine blofse Abstraktion, 
sondern die den Dingen innew^ohnende Kraft, vermöge deren 
sie etw'as mit einander gemein haben. In dieser wde in der 
folgenden Kategorie tritt der realistische Charakter des 
Systems und die Verwandtschaft mit Piaton besonders deut- 
lich hervor, namentlich wenn man sich an die von Piaton im 
Sophista p. 254 C und nach ihm von Plotinos, VI, 1 — 3 auf- 
gestellten fünf obersten Ideen erinnert, nämhch ouaca (dra- 
vyam), cz6.aic, und xtvTja',^ (karman), TayTcrr,;; (sämänyam) und 
iztgö-T^c. (viceslia). Das sänuon/am ist nach Kanada als einfach 
und ewig in den vielen Dingen enthalten und inhäriert den 
Substanzen, Qualitäten und Tätigkeiten. Sein oberster Gipfel 
ist die aUem gemeinsame Sein-heit (satfä), durch welche die 
Genera und Species (jäti), wde durch diese wiederum die 
Einzelwesen, bedingt sind. 
V. viccsha, die Verschiedenheit, 
ist ebenso wie die vorige Kategorie eine den Dingen inne- 
wohnende Beschaffenheit, kraft deren wir sie als verschieden 
von einander erkennen. Sie inhäriert den vier unendlichen 
Substanzen, Äther, Zeit, Raum und Seele, sowie den Atomen 
von Erde, Wasser, Feuer, Luft und Dianas. 
VI. samaväija, die Inhärenz. 
Wie die Gleichheiten und Verschiedenheiten der Dinge 
auf zwei besondern, den Dingen inhärierenden Entitäten 
beruhen, so ist auch die Inhärenz selbst nur möglich kraft 
des den Dingen immanenten üaniavdya^ welcher den Teil und 
3(30 Die philosophischen Systeme. 
das Ganze, die Oualität und die Substanz, die Wirkung und 
das Wirkende, das Allgemeine und das Besondere, die Ver- 
schiedenheit und die sie besitzenden ewigen Substanzen zur 
Einheit zusammenbindet. 
Zu den besprochenen sechs Kategorien des Kanada wird 
von Spätem noch hinzugefügt 
VIT. ahJiäva, das Nichtsein. 
dessen Koordination mit den sechs Kategorien der Urheber 
des Systems wohl abgelehnt haben würde, da die Verbindung 
der Negation mit einem Begriff oder Urteil nicht Anlafs geben 
kann, einen neuen allgemeinsten Begriff, noch weniger eine 
besondere, den Dingen innewohnende Kraft zu hypostasieren. 
Zwei Arten des Nichtseins werden unterschieden. Die erste 
umfafst a) Nichtsein a parte ante (prdg-ahltäva), wie der Wirkung 
ehe sie eintritt, des Tuches ehe die Fäden zusammengewoljen 
sind; b) Nichtsein a parte post (dhvansa), wie der Ursache, 
nachdem sie zur Wirkung geworden, des Topfes nachdem er 
zu Scherben zertrümmert ist; c) absolutes Nichtsein (att/a)ifa- 
ahhäva), ein Nichtsein zu allen Zeiten, wie das des Feuers im 
Wasser. Die zweite Art ist das relative Nichtsein (arnjinnja- 
ahhäva), sofern sich die Dinge gegenseitig ausschliefsen, indem 
der Topf kein Tuch, das Tuch kein Topf ist, ein Verhältnis, 
welches unter vigcslia gehört und daher nicht zur Aufstellung 
einer weitern Kategorie berechtigte. Auch Cankara in seiner 
lesenswerten Bekämpfung der VaiQeshika's und namentlich 
ihres Atomismus (Kommentar zu den Brahma-Sütra's II, 2,11^ — 
17, p. 520 — 540, S. 330 — 345 unserer Übersetzung) bespricht 
die sechs Kategorien in einer Weise, aus welcher hervoro-eht, 
dafs ihm die Annahme einer weitern Kategorie unbekannt 
war; p. 543 (S. 343): „Und in der Tat, wenn die Vai9eshika's 
sechs Kategorien annehmen, so ist nicht abzusehen, was uns 
hindert, noch weitere über dieselben hinaus, und wären es 
hundert oder tausend, anzunehmen.'-' 
XL Der Nyäya des Gotama. 
1. Vorbemerkuug-eu. 
Das Vaiyesiiikani des Kanada und der Nyäya des Gotama 
(iiiclit Gaiitanui) sind nahe verwandt, wie sie denn auch in 
spätem Kompendien oft zu einem (Janzen verwoben oder 
mechanisch in einander o-eschoben werden. Beide haben eine 
Keihe von Vorstellungen mit einander gemeinsam, die bei 
einer einü-ehendcn Itehaiulhmg beider zu Wiederholungen 
führen \vürden; beide sind nicht eigentliche Systeme, wie 
\'edanta und Safddiyam, sondern Klassifdcationen, welche eine 
Ivcilit' von Kategorien aufstellen und sich unter diesen oder 
(Irrt'ii l'nterabteilungen über ihre Gegenstände verbreiten. 
Auch der Name dieser Ilauptkategorien , pfidürtha, ist beiden 
Systemen gemeinsam, wiewohl sie, wie sich zeigen wird, nicht 
mit gleichem liechte auf ihn Anspruch machen können. Dafs 
Kanada den Nyäya des Gotama gekannt habe und voraus- 
setze, möchten wir, wenigstens was dessen uns vorliegende 
ausgtdiihrt«' Form betrifft, nicht aus dem Vorkommen des 
Terminus acai/ava, ^ ai(;. SCUr. IX, 2,2 schliefsen, vielmehr 
dürfte das Vaigeshikam darauf Anspruch haben, in seiner 
ersten Anlao;e älter als der Nyäva zu sein. Denn es liegt in 
(Irr Natur (U-s iiienschhchen Geistes begründet, dafs er zu- 
nächst, wie CS im Vaiyeshikam geschieht, das Ganze der 
Welt, die Phänomene des l'niversums ins Auge fafst und sich 
in ihnen zu orientieren sucht, indem er sie in einzelne Klassen 
zerlegt und zergliedert, und diese Tätigkeit, wie überhaupt 
362 Die pliilosophischen Systeme. 
schon viele Versuche des Philosophierens mögen voraus- 
gegangen sein, ehe der Mensch den Blick nach innen kehrte, 
um in der Weise des Nyäya die verschlungenen Wege des 
eigenen Denkens und seine mannigfachen Irrgänge zu analy- 
sieren. Auf die Priorität des Vai^eshikam führt auch der heiden 
Systemen gemeinsame Grundhegriff des padärtha^ welches 
Wort, wenn unsere obige Vermutung (S. 348) richtig ist, ur- 
sprünglich „Wortdinge", d. h. das den Worten (padam) Sub- 
stanz, Qualität usw. entsprechende, den Dingen immanente 
Reale (artha) bedeutet. Diesen Sinn hat es nur im Vaige- 
shikam, während es im Nyäya kaum etwas mehr als „Haupt- 
stück, Rubrik, Kategorie" bedeutet. Ahnlich nun, wie wir 
aus dem Gebrauche des W^ortes TupoAifj^J'.? bei den Stoikern, 
welche darunter der Etymologie entsprechend die, schon ehe 
wir anfangen zu philosophieren, antizipierten Begriße ver- 
stehen, und bei den Epikureern, denen es nur das in der 
Erinnerung haftende Allgemeine ist, den Sehhifs ziehen, dafs 
die xpc\7]'j(!,i; ursprünglich der stoischen Schule eigen und aus 
dieser in abgeflachter Bedeutung von den Epikureern über- 
nommen worden ist (trotz Cicero, de natura deorum I, 44), — 
ähnhch scheint das Wort padärtha, welches in seinem ur- 
sprünglichen etymologischen Sinne nur bei den Vaigeshika's 
zu Rechte besteht, hingegen im Nyäya in der erwähnten, 
abgeblafsten Bedeutung gebraucht wird, darauf hinzuweisen, 
dafs der Nyäya dieses Wort und somit das eigentliche Grund - 
gewebe seines Systems vom Vaigeshikam entlehnt hat. 
2. Ursprung, Xaiiie und Quellen des Xyjiya. 
Den ersten Ursprung des Nyäya-Systems haben wir \\o\\\ 
in der schon in den Upanishad's (vgl. Brih. Up. 3, den Rede- 
streit am Hofe des Janaka) hervortretenden Neigung der Inder 
zum Disputieren zu suchen, welche in dem Mafse zunehmen 
mochte, wie die Philosophie in eine Vielheit sich befehdender 
Schulen aus einander ging. Es mochte sich mit der Zeit 
das Bedürfnis nach einem allgemein anerkannten Kanon 
herausstellen, nach einem Lehrbuche, auf welches man sich 
für die Richtigkeit der eigenen Argumentation und zum 
XJ. l)or Nyäya des Gütama. 3G3 
Nachweise (\ov von doin (loo-ner Ix'gangont'ii Fehlschlüsse 
herufiMi konnte. Ein solchor Kanon clor Logik und Eristik 
sc-heint seiner urspriingliehen Anlage nach der Nyaya gewesen 
zu sein. Hieraul" könnte aucli der Name Ni/ai/a hindeuten, 
wenn es erlauht sein sollte, ihn nicht von der siebenten und 
wichtigsten, den Syllogismus (nyäija) behandelnden Kategorie 
herzuleiten, sondern das \\'ort in seiner allgemein üblichen 
JUnleutung als „Regel, Norm, Kanon" in Anspruch zu nehmen. 
Darauf scheint auch die Anordnung der sechzehn Kategorien 
hinzuweisen. Die beiden Kämpfer wx'rden sich zunächst ihrer 
Wallen vergewissern (1. pratmnam) und sodann einen Blick 
auf die zur Auswahl vorliegenden Streitobjekte werfen (2. pra- 
»ici/a»/). Der Gegner bestreitet eine von mir aufgestellte Be- 
hauptung (;). sanirai/a), und diese Bestreitung mufs ein Motiv 
haben (4. 2»'(ii/ojaiiani). Wir orientieren uns vor Beginn des 
Kampfes an einem Beispiel und verständigen uns an seiner 
Hand über das. was von vornherein beiden Parteien feststellt 
(5. (IrisJif(h)fa), worauf der zur Diskussion gestellte Lehrsatz 
{C}. ;>/ihlhä>ita) formuliert wird. Nun erbringe ich nach allen 
Kegeln der Kunst den Bew^eis für meine Behauptung (7. ^iijäija) 
und widerlege zum Überflüsse die Gegenbehauptung, indem 
ich zeige, dafs sie zu unmöglichen Konsequenzen führt (8. iarlm), 
worauf dann als Resultat des Ganzen die erwiesene Wahrheit 
(9. )iir)iai/a) sich ergibt. Anhangsweise und auch in den 
Sütra's von den neun ersten Kategorien gesondert folgt in 
den sieben letzten Kategorien eine Übersicht der beim Rede- 
streit vorkommenden Fehler. Von der wissenschaftlichen Dis- 
kussion (10. räda) werden unterschieden das Streiten aus 
blofser Streitsucht {11. jal^^a) und die noch tiefer stehende, 
nur auf Beirrung des Gegners berechnete Schikane (12. vi- 
tandä). Die vier letzten Kategorien sind eine Parallele zu 
der aristotelischen Schrift Tcspl co9t,c;T!.xwv SAsy/ov, indem sie 
von Scheingründen (13. hcfn-ähJiäsa), Verdrehungen (14. chalant), 
albernen Antworten {Ib. jäti) und Veranlassungen, die Dis- 
putation abzubrechen (IG. n/gyaha-sihäiiam), eine reiche Samm- 
lung vorlegen. 
Das älteste luis erhaltene Denkmal der Nyäya-Philosophie 
>iiid die fünfhundertachtunddreifsio- Sütra's des Gotama in 
;',(^4 ^^^ pliilosophisclien Systeme. 
fünf Büchern, jedes zu zwei Ahnika's oder Tagelektionen. 
Das erste Bucli behandelt im ersten Ahnikam (Sütr. I, 1 — 41) 
die neun ersten, im zweiten (I, 42 — Gl) die sieben übrigen 
Kategorien, so dafs hier schon eine allgemeine Übersicht über 
den gesamten Stofi' vorliegt. Die folgenden Bücher behandeln 
eingehender und mit ausführlicher Polemik gegen andere 
^leinungen die wichtigsten Punkte des Systems, Buch 2 sam- 
raija und pranianam, Buch 3 und 4 prameyam und Buch 5 
juii und iiif/rolia-stluuiaiiL Von Kommentaren zu den Sütra's 
nennen wir das ßhä^hyant des Vätsyäyana (herausgegeben 
in der Bibl. Ind., Calcutta 1865} und die Nijäija-sidfa-vriiii 
des Vi^vanätha-bhattäcärya (Calcutta 1828). Auszüge aus 
dem letztern lieferte Ballantyne, The Aphorisms of tlie Nyäya 
Philosophy by Gautama, Sanscrit and English (Allahabad 1850 — 
54). Elementare Werke aus späterer Zeit, welche Vaigeshikam 
und Nyaya verknüpfen, sind die von Colebrooke benutzte 
Tarla-hJiäshä des Kegava-mi^ra, der Tarlia-samgralia des 
Annambhatta (herausgegeben und übersetzt von Ballantyne, 
Benares 1848) und der von Eoer herausgegebene und über- 
setzte Bltäshä-pariccheäa des Vi^vanätha-pancänana (Cal- 
cutta 1850). Ein Wörterbuch der Nyäya-Philosophie ist der 
Xijut/cüioca des Bhimacärya, zuerst Bombay 1875. Der ur- 
sprünglich einfachere Nyäya hat im Verlaufe der Zeiten immer 
kompliziertere und schwierigere Formen angenommen und 
eine entsprechend umfangreiche Literatur hervorgebracht. Von 
europäischen Arbeiten nennen wir nur Colebrooke, Mis- 
cellaneous Essays, p. 280—318, o. Aufl., Max Müller, Six 
Systems, London 1899, p. 474 — 574, sowie die eindringenden 
Bemerkungen von Jacobi in den Göttinger Nachrichten 1901, 
S. 460 — 484. Unsere Ausführungen im folgenden beruhen auf 
einer eigenen handschriftlichen, auf das erste Buch und Teile 
des folgenden sich erstreckenden Übersetzung der Sütra's mit 
dem Kommentar des Vätsyäyana, unter gleichzeitiger Hei-an- 
ziehuno- der ü'enannten Ililfsmittel. 
XI. Der N\aya dos Gotaiiia. i)()iy 
Ü. Die sochzelni Kafotroricn des dlofaiiia. 
Sütrain I. 1: „Durch die ErkiMinlnis der ^^'es(Mllu'it von 
KrkLMHitnisnorm, KrkonntiHs()l)j('kt, Zweifel. Motiv, Mustersalz. 
Lelirsatz. Gliedern |des Syllogismus], a-a7«7T„ Entscheidung, 
Diskussion, Disputation, Schikane, Scheingrund, Verdrehung, 
Albernheit und Abhruchsgrund erfolgt ErM erhung des hik-hsten 
( lutes." (prinii(h)a-2)yanici/a-s((nirai/a-itrai/(ijaiia - tlrisJ/faiita - sid- 
illu'uiiK - ((rai/ara - iarla - ttlriiaj/a - vcida -jalpa - viiaudu - luirähJiasa- 
(■rli(tJa-jüii-)}i(iral)asiha)Huidm iatfvajnänäd »ihrrri/cisa-adhifjaw'ilij 
Um eine (Tleichstellung mit den metaphysischen, das 
liöchste Gut anstrebenden Systemen zu erreichen, verlieifst 
auch der Nyäya, dafs aus der Erkenntnis des Wesens seiner 
sechzehn Kategorien uih<^yeijas<tm, ,. dasjenige, über welches 
hinaus es kein Besseres gibt", erfolge. Dafs er dieses siimmum 
hninini in der Befreiung vom Leiden Ihidet, sagt das folgende 
Sutram (I, 2|, welches in bemerkenswertem Anklang an die 
buddhistische Kausalitätsreihe erklärt: ,, Indem von Schmerz, 
< ieburt, Handlung, Fehler und Irrtum beim Schwinden des jedes- 
mal Folgenden das ihm Vorhergehende schwindet, erfolgt die 
Erlösung'-' (dnhlüia-janma-p}xajiiti-dosha-ni'dhiiüjüäuü}iäiu nifara- 
'iliara-dpäiie tad-aiHiutara-apuiiäd (ipacanjuli). Das Leiden, von 
dem die Befreiung (apavar(ia) gesucht wird, beruht auf der 
< ieburt, diese auf den Handlungen im vorhergehenden Dasein, 
<!iese auf den doshuh, worunter nach dem Kommentar Liebe 
und llafs nebst den ans ihnen entspringenden Charakterfehlern 
zu verstehen sind: Liebe und Hafs aber beruhen (wie bei 
Spinoza die ajfcdm auf der hiiaymatio) auf der irrtümlichen 
Erkenntnis, welche mitsamt den genannten Folgen gehoben 
werden soll durch die Erkenntnis der sechzehn Kategorien, 
als wenn diese nicht ein blofses Mittel der wahren Erkenntnis, 
sondern schon die volle Wahrheit selbst wären, was doch nur 
^on der zweiten Kategorie und auch von dieser nur in ein- 
geschränktem Mafse gelten könnte. Sofort nach dieser Ein- 
leitung geht das Werk zu den Kategorien selbst über, um 
zuerst in Sutram I, 3^8 und nochmals eingehender im zweiten 
lUiche die erste der sechzehn Kategorien, des pramänam, zu 
behandeln. 
366 Die philosophischen Systeme. 
I. pramänam, die Erkenntnisnorm. 
Wie Aristoteles seinen physischen, metaphysischen und 
ethischen ^\^erken die Logik als das Werkzeug des Denkens 
(daher später opyavov genannt) vorhergehen liefs, wie Kant 
uns auffordert, uns vor dem dogmatischen Gehrauche der 
Vernunft über die Fähigkeiten dieser Vernunft und deren 
Tragweite zu vergewissern, so schicken alle ausgeführtem 
Systeme Indiens ihrer positiven Doktrin eine Untersuchung 
über die pramäna's, die ,,Mafsstäbe" oder „Normen" des 
Erkennens voraus, und nur der Vedänta weist diese Frage in 
drastischer Weise dadurch ab, dafs er die üblichen Namen 
für Wahrnehmung und Folgerung dazu verwendet, um unter 
praiijalisham die {'ruti (heilige Offenbarung) und unter amimä- 
nani die Smriti (Tradition) zu verstehen. Von den übrigen 
Schulen erkennen die Cärväka's, wie wir oben S. 197 fg. sahen, 
nur eine Erkenntnisnorm, pratyaJcsliam, die Wahrnehmung an; 
zwei Erkenntnisnormen, praiyahsliam und anumänam, Folge- 
rung, werden von den Bauddha's, Jaina's und VaiQeshika's 
zugelassen, drei unter Zufügung von gahda (= äpfavacanam, 
richtige Mitteilung) finden sich bei den Sänkhya's; vier im 
Nyäya, welcher neben den genannten noch Hpaniänani, den 
Vergleich, hat; die Mimänsaka's von der Richtung des Prabhä- 
kara fügen als fünfte Norm noch artliäpaüi, plausible An- 
nahme, die Mimänsaka's aus der Schule des Bhatta und manche 
Vedäntin's als sechste noch ahltdva, das Nichtsein hinzu.* 
Lassen sich die beiden letzten leicht auf die frühern zurück- 
führen, so dürfte auch die vom Nyäya festgehaltene Vierzahl, 
wie sich zeigen wird, schon zu viel enthalten. Seine vier 
Pramäna's sind die folgenden: 
1. pratyalisham, die Wahrnehmung. 
Sütram I, 4: ,,Die aus der Berührung der Sinnesorgane 
und der Dinge entspringende, nicht näher zu bestimmende, 
unwiderlegliche, definitive Erkenntnis heifst Wahrnehmung." 
* Andere gehen noch weiter, indem sie als siebente Erkenntnisnorm 
sambhava, das Enthaltensein in etwas, und als achte aüihi/am, die Sage, 
ansehen (Sänkhya-tattva-kaumudi zu Kärikii 5). 
\I. Der Kyäya des Gotama. 3(57 
l)i»> Definition zeigt, dals der Nyäya an der Realität der 
Sinneswahrnelimung keinen Zweifel liegt (vgl. seine Polemik 
gegen den Idealismus 4,37—40. 91—102). 
'2. (iinnnthiam, die Folgerung, 
setzt nach I, 5 die Wahrnehmung voraus und ist dreifach, 
pthvacat, rcsliacat und säniäni/afo drishfam. „Sie heifst pürva- 
raf, '(Vom Frühern aus», wenn aus der Ursache auf die 
Wirkung geschlossen wird, wie: z. B. aus dem Heraufziehen 
der A\'olke auf den kommenden Regen; sie heifst Qcsluivat^ 
»vom Übrigen (Spätem) aus», wenn aus der Wirkung auf 
die Ursache geschlossen wird, wie z. B. wenn aus dem, dem 
frühern entgegengesetzten, Wasserstande des Flusses, aus der 
Fülle und Reifsendheit der Strömung geschlossen wird, dafs 
es [im Gebirge] geregnet hat; und sie heifst säntmiyato 
(In'shfani, «das aus der Analogie Erkannte», wenn das in dem 
einen Fall Wahrgenommene in dem andern Falle so w^ahr- 
genommen wird, dafs ihm z. B. ein [im ersten Falle wahr- 
genommenes] Gehen zur Voraussetzung dient, und nun ge- 
schlossen wird, dafs es sich ebenso auch [in dem andern 
Falle] z. B. bei der Sonne verhalten werde, dafs mithin auch 
der Sonne ein wenn auch nicht wahrnehmbares Gehen zu- 
geschrieben werden müsse" (Vätsyäyana zu I, 5). 
Andere, zum Teil sehr künstliche Erklärungen der drei 
Anumana's, wie die von Vätsyäyana in den nächstfolgenden 
Worten und von Väcaspatimigra zu Sänkhya-Kärikä 5 vor- 
gebrachte, oder die von Jacobi (Göttinger Nachr. 1901, 
S. 477 fg.) aus Nyäya-Sütram II, 37 erschlossene, können wir 
hier auf sich beruhen lassen, und wollen lieber die Gelegen- 
heit l)enutzen, um bei Besprochung des Anumänam über 
einen mit ihm zusammenhängenden und in der indischen 
Philosophie viel gebrauchten Terminus, 
die VifcqAi, „Durchdringung", 
das Nötigste zu sagen. Wenn ich, um an das übliche Schul- 
beispiel anzuknüpfen (über seine Entstehung vgl. unten zu 
Sänkhya-Kärikä 5), aus der Wahrnehmung des von einem 
368 Die pliilosopliischen Systeme. 
Hügel aufstoigendon Rauches auf ein dort vorhaiideiios, aber 
von mir nicht walirgenommenes Feuer schhel'se, so ist der 
Rauch das Merkmal, lingani, und das Feuer der Träger dieses 
]\Ierkmals, lirigin. Zwischen Rauch und Feuer, Merkmal und 
^lerkmalsträger, besteht das Verhältnis der Yyüpii oder Durch- 
dringung. Dabei ist das liilgani, Rauch, Vi/cqij/am (das zu 
Durchdringende), denn wo Rauch ist, da ist immer Feuer; 
die ganze Vorstellungssphäre des Rauches wird also von der 
Vorstellung des Feuers erfüllt und gleichsam durchdrungen. 
Hingegen ist das Feuer nur Vi/äpalam (durchdringend); es 
durchdringt die Sphäre des Rauches, wird aber nicht völlig 
von dieser durchdrungen, da es auch Feuer gibt, welches 
nicht raucht. Die Sphäre des Feuers (lifH/in) ist die weitere, 
die des Rauches (liru/cnii) die von ihr befafste engere, mag 
es sich dabei um die anschauliche Vorstellung oder den 
Begriff handeln, eine Unterscheidung, welche von der indi- 
schen Philosophie zu ihrem grofsen Nachteile niemals mit 
deutlichem Bewufstsein gemacht worden ist, wie wir sogleich 
am vorliegenden Falle ersehen können. Wir haben ViTigum 
mit Merkmal, Inig'm mit Merkmalsträger übersetzt; dies ist aber 
durchaus nicht im Sinne der europäischen Logik zu nehmen, 
in welcher Merkmal den allgemeinen , befassenden Begrilf 
(z. B. Säugetier), Merkmalsträger den besondern, befafsten 
Begriff (z. B. Pferd) bedeutet. Dem Inder ist diese uns so 
geläufige Vorstellung der weitern und engern Begriffssphären 
fremd. Er hält sich nur an die Anschauung; ihm ist Ufigani 
eine anschauliche Wahrnehmung, aus welcher er auf den 
]ingi)i, eine gleichfalls anschauliche, aber momentan nicht in 
die ^^^ahrnehmung fallende Vorstellung schliefst. Him würde 
im obigen Beispiel das Pferd nicht Träger des Merkmals 
„Säugetier" sein, sondern umgekehrt, das Pferd würde für 
ihn das Merkmal oder Kennzeichen (iutgani) sein, aus welchem 
er folgern würde, dafs hier ein Säugetier vor ihm steht, — 
wenn ihm nicht diese Unterscheidung allgemeiner, befassender 
und besonderer, befafster Begriffssphären üljerhaupt fremd 
geblieben wäre. Folgendes Schema mag zur Verdeutlichung 
der Sache dienen: 
I 
XI. Der Nyaya des Gotama. 369 
Vi/apii. 
] 'i/('(jii/<()u I 'ijäjxikaiii 
lifii/am (Merkmal) lifigin (Merkmal^träger) 
Ravich Feuer. 
Anders würde sich das Schema in der abendländischen 
Urteil. 
Logik gestalten 
Subjekt Prädikat 
Merkmalsträger Merkmal 
Rauchendes Feuriges. 
Der Europäer sagt: Alles Rauchende ist ein Feu- 
riges. Er subsumiert den speziellen Begriff des Rauchenden 
imter den allgemeinen Begrifi' des Feurigen. Der Inder sagt: 
Wo Rauch ist, da ist immer Feuer. Ihm ist der Rauch 
das Kennzeichen, aus dem er das Vorhandensein des Feuers 
folgert. Wo wir von einem allgemeinen Urteil reden, tritt 
für den Inder an die Stelle der Allgemeinheit etwas anderes : 
die Forderung, dafs in seinem Satze kein Uj)ädJu, keine ein- 
schränkende Bedingung, vorhanden sein darf. Wir sagen: 
Der Satz „Alles Rauchende ist feurig" läfst sich als allgemeines 
Urteil nicht umkehren. Der Inder sagt: Der Satz „Wo Rauch 
ist, da ist immer Feuer" läfst sich nicht umkehren, weil dazu 
ein UpädJii, d. h. die Einschränkung des Begrifies Feuer auf 
den Begriff Feuchtholzfeuer erforderlich sein würde. Der Be- 
grüY des l'pädhi vertritt also das, was wir eine conversio per 
accidcns nennen. 
3. iqjaniänam, der Vergleich. 
Sütram I, 6 : ,,Der Vergleich ist der Nachweis eines Nach- 
zuweisenden aus seiner Gleichartigkeit mit einem Bekannten." 
Das von Vätsyäyana angeführte Beispiel mag die Sache 
erläutern: Bekannt ist mir der Ochse, aber vom Büffel habe 
ich nur gelernt, dafs er einem Ochsen ähnlich sieht, oder 
nach dem Sütram, (jlleichartigkeit (sädharmyam) mit ihm hat. 
Auf Grund dieser Kenntnis ist es mir möglich, den Büffel, 
auch wenn ich noch nie einen solchen gesehen habe, vor- 
Deüsses, Geschichte der Philosophie. I, iii. 24 
370 Die philosophischen Systeme. 
kommendeiifalls zu erkennen und auch für andere nachzuweisen. 
Hiernach nähert sich npaniänam dem, was wir Subsumption 
einer unbekannten Anschauung unter einen bekannten Begrifl' 
nennen würden, und der l'nterschied zwischen niKimmiam und 
dem vorher besprochenen sämäniiato (Irishta)n dürfte im wesent- 
lichen darin hegen, dafs es sich bei upammmm um den Ver- 
gleich der Anschauung mit einem Begriff, bei sämämjcdo 
drisldani um den Vergleich zweier in der Anschauung gegebener 
Gegenstände handeh, deren gleiche Merkmale mir bei dem 
einen vollständig, bei dem andern nur teilweise bekannt sind. 
Man begreift hiernach, dafs das upamänam von den Sankhya's 
beiseite gelassen wurde, da es sich bei einer etwas all- 
gemeinern Fassung des samämjaio ärhlifam bequem unter diesem 
befassen läfst. 
4. rahda, die Mitteilung. 
Sütram I, 7 — -8 : „Die Mitteilung ist eine autoritative Unter- 
weisung. Dieselbe ist zweifach, weil luif sichtbare und auf 
unsichtbare Objekte bezüglicli." 
Ersteres ist der Fall, wenn jemand mir das, was er selbst 
erfahren hat, auf dem Wege der Belehrung mitteilt, letzteres, 
wo es sich um Dinge handelt, w^elche aufser dem Bereiche 
der Erfahrung liegen und durch den Veda offenbart werden. 
IL prameiiam^ Erkenntnisobjekt. 
In einem Systeme, welches sich die Aufgabe stellt, die 
mannigfachen A\"ege des richtigen und irrigen Erkennens zu 
charakterisieren, konnten die zahlreichen Gegenstände, auf 
welche sich das menschliche Erkennen richtet, nur als eine 
Sammlung von Beispielen herangezogen werden, und in diesem 
Sinne scheint dem die verschiedenen Methoden des Erkennens 
l)ehandelnden Framänam eine Zwölfzahl von Erkenntnisobjekten 
als Prameyam gegenübergestellt worden zu sein, nur dafs mit 
der Zeit sich das begreifliche Bestreben geltend machte, unter 
dieser Kategorie alles heranzuziehen, was in den verschiedenen 
Systemen behandelt zu werden pflegte. Dafs dieses aber für 
den Nyäya seiner ursprünglichen Aufgabe nach nur ein Neben- 
geschäft war, scheint sieh aus der Koordination der ganzen 
XI. \h'v Nyäya des Gotama. ;;71 
Fülle der Pranu'ya's mit Katcg'orioii w'w, .sanirai/a, cJtalcoii, 
jiUi u. (Igl., sowie aus der imsystematiscluMi iiiul unvollstän(li<i;en 
Art, in der die Prameya's abgeliaiidelt werden, gleicherweise 
zu ergeben.* 
Ihre Aut'zählung findet sieh Sutram I, 9: „Seele, Leib, 
Sinnesorgane, Sinnendinge, Buddhi, Manas, Tätigkeit, Fehler, 
jenseitiger Zustand, Frucht, Schmerz und Erlösung l)ilden das 
Erkenntnisobjekt" (ätina-rarha-iiHlriiia-artha-huddhi-mauah- 
in-in-ritti-iloslHi-pvrfjiahhai'a-plKda-ünhliha-aixvvüygäs tu pramei/um). 
1. dimuu. die Seele. 
Sutram I, 10: ,,[Die Existenz der Seele steht fest,] weil 
AVunsch, Hafs, Anstrengung, Lust, Schmerz und Erkenntnis 
Anzeichen der Seele sind.'' 
Die Seele besteht in zwei Arten, a) als Faramaiman (die 
höchste Seele, Gott), welche eine ewig erkennende und welt- 
schatl'ende ist, auf die somit die im Sutram aufgezählten j\Ierk- 
male nicht zutrefien, und b) als Jlvcdman (die individuelle 
Seele), welche zwar auch unendlich (da sie überall ist, wohin 
der Körper sich begibt) und, weil unendlich, ewig ist (da 
alles Unendliche auch ewig ist, wie z. B. der Äther, — der- 
selbe Si^rung, den Melissos machte, wenn er aus der zeit- 
lichen auf die räumliche Unendlichkeit schlofs), aber als eine 
Vielheit individuell verschiedener Seelen besteht, wie sich 
daraus ergibt, dafs ihre im Sutram aufgezählten Attribute 
nicht, wie Zahl, Raum und Zeit, allen Individuen gemeinsam, 
sondern je nach den Individuen verschieden sind. Sie müssen 
ein Substrat haben, welches nicht wie der Körper und seine 
Organe wahrnehmbar ist, und dieses nicht wahrnehmbare, 
sondern nur aus den im Sutram aufgezählten Anzeichen er- 
schliefsbare, immaterielle Substrat ist die Seele. Von den bei 
' Die Anordnung der zwölf Prameva's scheint nacli dem Gesichts- 
punkt getroften zu sein, dafs die ersten sechs psychische und physische, 
die letzten sechs ethische Verhältnisse betreffen. Auch läfst sich bemerken, 
dafs die zwölf Prameva's aus sechs Paaren bestehen, deren (Uieder {ätman — 
ruriram, indrii/a — artha, buddln — mcoia'f, pravritti — dosha, pretyabhäva — 
phahüu, didikham — apavarifa) zu einander in Beziehung stehen. 
24* 
372 I^iß philosophischen Systeme. 
Kanada (oben S. 354 fg.) aufgezählten vierundzwanzig Quali- 
täten besitzt sie vierzehn, nämlich 5 — 9 und 16 — 24, während 
ihr 1 — 4 und 10 — 15 abgehen. 
2. rariram, der Leib. 
Sütram I, 1 1 : „Der Standort für Anstrengung, für Sinnes- 
organe und deren Objekte ist der Leib." 
Er ist der der Seele infolge der Werke in einer frühern 
Geburt zugewiesene Sitz des Geniefsens und des Leidens. Er 
besteht aus Erde, weil er, wie diese und diese allein, alle 
fünf Qualitäten (Geruch, Geschmack, Sichtbarkeit, Fühlbarkeit 
und Hörbarkeit) besitzt. Wenn behauptet wird, dafs er aus 
vier oder fünf Elementen bestehe, so ist das nicht zuzugeben, 
weil er dann nicht sichtbar sein würde, da eine Verbindung 
von Sichtbarem mit Unsichtbarem (z. B. mit Wind oder Äther) 
selbst nicht sichtbar sein kann. Der Leib kann aber auch nicht 
aus zwei oder drei Elementen bestehen, weil diese nicht eine 
so spontane und innige (d. h. wohl organische) Verbindung 
eingehen könnten, wie der Leib sie ist. Er besteht also aus 
Erde allein, womit nicht ausgeschlossen ist, dafs es in andern 
Welten wasserartige, feuerartige oder luftartige Wesen geben 
mag. Fünf Arten organischer Wesen werden unterschieden, 
indem zu den vier schon im Veda vorkommenden Arten der 
lebendgeborenen, eigeborenen, schweifsgeborenen und keim- 
oeborenen Wesen noch als fünfte Art die Leiber von Göttern 
und Halbgöttern hinzukommen, welche nicht sexuell erzeugt 
sind, sondern aus Atomen bestehen, die durch das adrishfam 
verbunden und zusammeno-ehalten werden. 
'»^ 
3. indriyas, die Sinnesorgane. 
Sütram I, 12 : „Geruch, Geschmack, Gesicht, Haut, Gehör 
sind die Sinnesorgane; [sie stammen] aus den Elementen." 
Der letzte Zusatz ist gegen die Sahkhya's gerichtet, welche 
die Elemente aus psychischen Faktoren (dem Ahahkara und, 
mittelbar, der Huddhi) hervorgehen lassen. Nach Gotama 
entstammen sie dem ihnen entsprechenden Elemente, der Ge- 
ruch der Erde, der Geschmack dem Wasser, das Gesicht dem 
Feuer, das Gefühl der Luft, das Gehör dem Äther. Wie nach 
XI. Der Nyäya des Gotama. 37;) 
Kanada wird audi nach Gotama Gleiches durch (Jleiches er- 
kannt, die Atherschwingungen durch den im Gehörgant!; weilen- 
den Äther, das Licht durch das im Auge befind liclie Licht- 
element, usw. Das im Auge eingeschlossene Lichtelement ist 
nur ausnahmsweise sichtbar, wie bei den Katzen im Dunkeln, 
in der Regel wird es von dem einströmenden äufsern Lichte 
überstrahlt, wie die Fackel vom Sonnenlicht. Die Funktionen 
der Sinnesorgane sind somit materielle Teilchen der ent- 
sprechenden Elemente, doch gewöhnlich nicht wahrnehmbar, 
aber aus ihren Wirkungen erschliefsbar, da jede Wirkung 
ein Werkzeug voraussetzt, wie das Schneiden die Axt. 
4. artliah , die Sinnesobjekte. 
Sütram I, 13 — 14: „Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther sind 
die Elemente. — Geruch, Geschmack, Gestalt, Gefühl und Ton 
als die Qualitäten der Erde usw. sind ihre [der Sinnesorgane] 
Objekte." 
Es findet sich hier also wieder derselbe Parallelismus 
zwischen Elementen, ihren Qualitäten als Sinnesobjekten und 
den Sinnesorganen, wie wiv ihn schon in der epischen Philo- 
sophie oben S. 67 kennen gelernt haben.* 
5. Imddlti, die Erkenntnis. 
Sütram I, 15: ,,Buddhi, Perzeption, Erkenntnis sind der 
Sache nach nicht verschieden.'" 
Der Begriff der Buddhi wird also hier im allgemeinsten 
Sinne als die Erkenntnis überhaupt gefafst. Sie zerfällt in 
Innewerdung (unuhhuva) und Erinnerung (smaranam). Beide 
sind entweder wahr (pminä) oder falsch (apramä). Wahre 
Innewerdung ist vierfach: entsprechend den vier Pramäna's 
beruht sie auf prcdi/aJcsJiaw (der wahrgenommene Topfj, anti- 
mamini (das aus dem Rauch erschlossene Feuerj, upamänam 
(der aus der Ähnlichkeit mit dem Ochsen erkannte Büffel) 
und rühda (die im Veda verheifsene himmlische Seligkeit). 
* An dieser Stelle pflegen spätere Kompendien der Nyäya- und Vai^e- 
shikalelire den Kategorien des Gotama die sechs Padärtha's des Kanada 
einzuverleiben. 
374 l^i*^ pLilosopliisclien Systeme. 
Die ialselu' Innewerdimg- ist dreilach: Zweifel, Annahmen, die 
zu falsehen Fulgerungen führen, und hTtum. Auch die Er- 
innerung ist wahr oder falsch, ersteres zumeist im Wachen, 
letzteres im Traum. 
G. DKOias, das Innenorgan. 
Sütram I, !(!: „Dafs die Erkenntnisse nicht gleichzeitig 
entstehen können, ist ein Anzeichen des Manas."' 
Das Manas ist somit nicht wahrnehmhar, sondern wird 
erschlossen aus der Tatsache, dafs zwei Sinneseindrücke nicht 
zugleich, sondern nur nacheinander wahrnehmbar sind, mit- 
hin auf einen Vermittler (oben S. 352) schliefsen lassen, der 
sie der Seele zuführt; ferner auch daraus, dafs die A\'ahr- 
nehmungen ^'on Lust und Schmerz nicht aus den Sinnes- 
organen entspringen, also einen von ihnen verschiedenen 
Träger voraussetzen. Das Manas ist das notwendige Mittel- 
glied zwischen Seele und Körper, und von beiden verschieden. 
Es ist nicht vergänglich wie der Körper, sondern ewig wie 
die Seele, aber nicht, wie diese, unendlich, weil seine Wahr- 
nehmungen nicht allbefassend, sondern räumlich und zeitlich 
beschränkt sind. Das Manas ist als eines und individuell 
verschieden in jedem wahrnehmenden Wesen vorhanden und 
von atomartiger Kleinheit. Seine Oualitäten sind im Nyava 
dieselben wie die oben S. 352 beim Vai^eshikam aufgezählten. 
7. pravritfi, Betätigung. 
Sütram 1, 17: „Betätigung ist das Angreifen mit Wort, 
Verstand und Leib.'' 
Auch hier begegnen wir der in der indischen wie in der 
iranischen und christlichen Welt üblichen Trias von Gedanken, 
Worten und Werken. Die [»rwrifti entspringt aus den so- 
gleich zu besprechenden (hsJuih und ist die Ursache von 
(mtem und Bösem. Gut ist eine Handlung, weil sie geboten 
ist, nicht umgekehrt, böse, weil sie verboten ist (also auch 
hier keine iK'rseitas hont). 
8. dosliäh, Fehler. 
Sütram J, 18: „Die Fehler haben als Merkmal das Ver- 
anlassen der Tätigkeit." 
XI. Uor Nyäya des (.Jotama. 37;") 
Sir sind also die ( liaiakleici<;i'ns(.'liiilU'n, die sidi in den 
llandlun<2;en betätigen, und zei lallen in Liebe, Hai's und Wahn 
(niolia). Dunkel blickt hier das Hewul'stsein durch, dal's alles 
tnenschliche Wollen in der Sünde, alles menschliche Erkennen 
in einer Illusion (iHäi/ä) wurzelt. 
*J. pniya-hhäcü. der Zustand nach dem Tode. 
Sütram f. 19: .,D<t Zustand nach dem Tode ist das 
M'iedergeborcnwerden.'" 
Inter „Wiedergeborenwerden" (pHimr-ntpaUl) ist nach 
dem Scholiasten das Immer wiedergeborenwerden zu verstehen, 
vermöge dessen die Seele aus einem Leibe in den andern 
wandert, in jedem die Vergeltung für die Werke des vorher- 
gehenden Daseins empfängt, und dieses von Ewigkeit her 
und, sofern nicht die Erkenntnis und aus ihr die Erlösung 
erfolgt, in Ewigkeit hinein. 
10. jßtalam., die Frucht. 
Sütram I, 20: „Der durch Tätigkeit und [mittelbar] durch 
Fehler erzeugte Zweck heilst die Frucht." 
Sie besteht in einer abermaligen Verbindung der Seele 
mit Leib, Manas und Sinnesorganen, so dafs jeder Lebenslauf 
die notwendige Frucht der aus den Charakterfehlern hervor- 
gehenden Tätigkeit eines frühern Daseins ist. 
iL (lahkhani, der Schmerz. 
Sütram 1, 21 : „Die Hemmung als Merkmal hat der Schmerz." 
Hierin liegt die richtige Erkenntnis, dafs aller Schmerz 
nur ein gehemmtes Wollen, ein durch äufsere Einwirkung er- 
zwungenes Nichtwolien ist. Diese Hemmung hängt jedem 
Dasein unvermeidlich an. .,\\ o die Geburt besteht, da besteht 
der Schmerz", wie Vätsyäyana zu I, 2 p. 8 bemerkt. „Wenn 
nun einer sieht, wie alles von Schmerz durchdrungen ist, wenn 
»T diesen als einen mächtigen Herrscher erkennt, dem er ent- 
rinnen möchte, und l)emerkt, welche Rolle der Schmerz im 
Dasein spielt, so wird er desselben überdrüssig, und über- 
drüssig geworden entsagt er, und entsagend wird er erlöst" 
(Vatsytiyana zu I, 21 p. 22). Hier besteht also die Erlösung 
376 I^ic philosophischen Systeme. 
nicht in der Erkenntnis der Welt als Illusion, wie im Vedänta, 
sondern sie ist eine Flucht vor den Leiden des Daseins, wie 
im Sänkhyam und Buddhismus. 
12. apavarga, die Erlösung. 
Sütram I, 22: „Die unendliche Befreiung von ihm (dem 
Schmerz) ist die Erlösung." 
Sie ist also nicht eine positive Lust, sondern hlofs eine 
Befreiung vom Leiden, wie denn auch alle die Namen mohsJia, 
apavarga, nihgrcyasam im Grunde negativ sind und nicht eine 
Loskaufung, dTco>vUTpwat.c, ic,a.'^o^(xc\xtQ, redeutpfio im christlichen 
Sinne, sondern eine hlofse Befrc^iung bedeuten. „Die unend- 
liche Befreiung von jenem Schmerze und von der Geburt heifst 
die Erlösung. Sie besteht darin, dafs die schon angenommene 
Geburt aufgegeben und eine andere nicht mehr weiter an- 
genommen wird. Diesen endlosen Zustand bezeichnen als die 
Erlösung die, welche der Erlösung kundig sind. Dieser von 
Furcht, Alter und Tod freie Zustand heifst die Erlangung des 
Friedens in Brahman. Einige glauben, dafs die dem Ätman, 
ebenso wie die Gröfse, wesentlich eigene Lust in der Er- 
lösung zur Offenbarung komme, und dafs infolge ihres Offenbar- 
werdens der Erlöste in einem Zustande unendlicher Lust sich 
befinde. Diese Meinung ist unzulässig, weil kein Beweis für 
dieselbe geführt werden kann. Denn keine Wahrnehmung, 
keine Folgerung, kein Schriftwort spricht dafür, dafs die dem 
Ätman, ähnlich wie die Gröfse, wesentlich eigene Lust in der 
Erlösung zur Offenbarung komme . . . Wenn daher jemand 
in der Hoffnung, dafs in der Erlösung eine ewige Lust offen- 
bar werde, aus Neigung zu dieser ewigen Lust nach der Er- 
lösung trachtet, so erlangt er die Erlösung nicht und kann 
sie nicht erlangen, weil jede Neigung sich als eine Bindung 
erweist, wo aber Bindung vorhanden ist, ein Erlöster nicht 
möglich ist." (Vätsyäyana zu 1, '12, p. 22 — 25.) 
IIL smn^ai/a, der Zweifel. 
Sütrain I, 23 : „Die infolge des Zutreffens gleichartiger und 
verschiedener Bestimmungen (1), infolge des Widerspruchs (2) 
und infolge des Nichtfeststehens der Perzeption (Sa) und 
XL Der Nyäya des Gotiiina. 377 
Nicht perzeptioii ()'»1)) nuf <1<mi riitorschied gcrichtote Prüfung 
ist der Zweifel. •• 
Der Koninu'iUar erläutert die drei Arten des Zweifels 
dureli folgende Hcispiele: 1. Auf einem Mann und einen Baum- 
stainni tr«>tfen teils gleichartige^ und teils verschiedene Be- 
stimmungen zu. Die Prüfung, ob ein entfernter (Jegenstand 
ein Mensch oder Baumstamm ist, angestellt mit Berück- 
sichtigung der beide unterscheidenden Merkmale, heifst Zweifel. 
2. l)ie einen sagen, es gibt eine Seele, die andern, es gibt 
keine. Die Prüfung dieses AViderspruches ist der Zweifel. 
3a. Ich perzipiere etwas in der Ferne, aber es steht nicht fest, 
ob es ein Gewässer oder eine Fata Morgana ist. 3b. Ich will 
bauen und mich vorher davon überzeugen, dafs kein Grund- 
wasser vorhanden ist; diese Prüfung heifst der Zweifel. 
Sollte unsere Ansicht, dafs der Nyaya ursprünglich nur 
ein Kanon der Logik und Eristik war, sich bewähren, so 
würde die Kategorie des Zweifels nur die Aufstellung zweier 
kontradiktorisch entgegenstehender Behauptungen sein, von 
welcher jeder Redestreit ausgeht und wie sie im zweiten der 
genannten Fälle vorliegt : mit der Zeit aber w^äre die Kategorie 
auf den Zweifel im allo-emeinen ausgedehnt w^orden. In der- 
selben A\'eise Avären die folgenden Kategorien, iwayojananu 
das Motiv des AMderspruches , drishtänta, das Beispiel, an 
dem sich die Streitenden vorher orientieren, und ftiddJiänta, 
der zu erweisende Satz, aus dieser ursprünglichen, engern 
Bedeutung mit der Zeit zu einer allgemeinern erweitert worden. 
IV. xirayojanam, das Motiv. 
Sütram I. 24: „Die Sache, welche sich vornehmend man 
handelt, heifst Motiv." 
Ks ist also der zum 1 landein treibende und dieses be- 
stimmende Zweck, mag er nun auf die Erlangung von Lust 
oder die Vermeidung von Unlust gerichtet sein. Die Stellung 
dieser Kategorie und ihr Zusammenhang mit den vorher- 
gehenden und nachfolgenden würde bei dieser allgemeinen 
Fassung des Begrifles unerklärlich bleiben. 
378 ^^^ philosophischen Systeme. 
V. drisJitälifa, der Mustersatz. 
Sütram I, 25: .,Die Sache, in welcher unter Volk und 
Gelehrten Übereinstimmung besteht, heil'st Mustersatz." 
Er ist positiv oder negativ, positiv z. B., wenn aus dem 
Rauch in der Küche auf das Vorhandensein von Feuer ge- 
schlossen wird, negativ, wenn aus der allgemeinen Über- 
zeugung, dafs im Wasser kein Feuer ist, gefolgert wird, dafs 
die Dünste über dem See nicht vom Feuer herrühren. Im 
Syllogismus, dessen Glieder durch diese und die folgende 
Kategorie vorbereitet werden, erscheint der drislitanta als 
udäJmranam, die von einem anerkannten Beispiel begleitete, 
beiden Streitenden gemeinsame Voraussetzung. 
VI. siddhäida, der Lehrsatz. 
Siddliänta, eigentlich der erwiesene Satz, dann der als 
erwiesen vorgestellte Satz, geht schliefslich zu der Bedeutung 
über ,,der zu erweisende Satz, die Behauptung", welche im 
folgenden Padartha als erstes und fünftes Glied (pndijnä und 
nigamanam) des Syllogismus erscheint. Auf diesen vorbereitend 
Avurden seine beiden wichtigsten Bestandteile, drisJifäida, die 
Voraussetzung, im vorhergehenden, und slddJicuda, die Be- 
hauptung, in den nächstfolgenden Sütra's I, 20 — 31 besprochen. 
Sutram I, 26 — 27: „Die Behauptung (siddhäiüa) ist die 
Aufstellung der Lehrmeinung, des Themas, der Annahme, — 
denn zu unterscheiden sind die Aufstellung der allgemeinen 
Lehrmeinung (1), der besondern Lehrmeinung (2), des The- 
mas (3), der Annahme (4)." 
Diese vierfache Bedeutung des Wortes siddlimda nötigte 
uns, dasselbe ganz allgemein als Lehrsatz zu übersetzen. Auch 
hier bemerken wir, wie die Kategorie, abweichend von dem 
ursprünglichen Plane des Lehrsystems, von der engern Be- 
deutung („Behauptung") in dem Streben nach Vollständigkeit 
zu der ganz allgemeinen Bedeutung „Lehrsatz" abgeblafst ist. 
Dementsprechend werden ihr Aier Arten von Sätzen sub- 
sumiert : 
L Sutram i, 28: ,,Ein in allen Lehrsystemen unwider- 
sprochen geltender, in dem eigenen Systeme aufgestellter 
XI. Der Nyäya des Gotama. 379 
Satz ist (Miii> allir<'intMii(' Lclirmpinuiiü- (xarndmdra-s'nl- 
(Uiäiild)." 
Diosi' Art liibt zu Zweil'cln und Widerleo- Unheil keine Vci- 
aiila^^sunii'. 
'2. 8u(rain I, JU: ,,L)as von vor\van<lten Systenion An- 
genommene, von andern Systemen nicht Angenommene ist eine 
besondere Lelirmeinung (2)ratifanira-siildh<a>ta).^'' 
Als Beispiel führt der Kommentator eine Anzahl von Lelii- 
sätzen des Sai'ikhyam und Yoga an. 
o. Sütram I, 30: ,,L)ei dessen Nachweis o'm anderes Vor- 
nahen erwiesen ist, das ist die Behauptung des Themas 
( (ulJi ih ( ) ri 11 a-si( h Jh anta).'''' 
Als Beispiel gibt Vätsyayana: „So wird der über Leib 
und Sinnesorgane hinausreichende, erkennende Geist (jfiütri) 
(heraus erwiesen, dal's wir imstande sind, eine und dieselbe 
Sache durch das Gesicht vuid das Gefühl aufzufassen." Sonach 
ist in diesem Falle sfddJiaiita nicht die hlofse Behauptung, 
sondern die schon von der Begründung begleitete Behauptung. 
4. Sütram I, 31: „Wenn ein Ungeprüftes angenommen 
wird, um seine nähern Bestimmungen zu prüfen, so ist das 
der Siddhanta der Annahme (ahhiiup(ujama-skMliuuta).''^ 
Vätsyayana bemerkt dazu: ,, Dieselbe kann sowohl auf- 
gestellt werden, um etwas zu erforschen, w^as sich aus der 
eigenen Meinung weiter ergibt, als auch, weil man eine fremde 
Meinung verwirft.'* Diese Art entspricht also dem Versuchs- 
schlufs, £7-'//£'!pT,[j.a, des Aristoteles. 
Vir. (iraijacäh, die Glieder [des Syllogismus]. 
Nach vorausgreifender Besprechung der wichtigsten Be- 
standteile der Beweisführung, der Voraussetzung (drishfänfa ) 
und l^ehauplung ( siddluuda) , folgt luinmehr die vollständige 
Theorie des Syllogismus (nyuija) oder, wie er gewöhnlich ge- 
naniu wird, der [fünf] rim//«r«/<, Glieder, aus welchen er besteht, 
l'r ist seinem eigentlichen Wesen nach eine Verknüpfung von 
(hishfanfft und siddhanta mittels des aiiHmdnam, welches zum 
Syllogisnuis wird, wenn ich das durch (onimaiKOii. Folgerung, 
für mich Erkannte zur Belehrung oder Widerlegung anderer 
380 Die philosophischen Systeme. 
deutlich auseinanderbreite und seinen einzelnen Bestandteilen 
nach aufzeige. So entstehen die fünf Glieder, aroi/avuh, des 
indischen Syllogismus, deren Namen, von dem üblichen Schul- 
beispiel begleitet, folgende sind: 
1. pratijüä, Behauptung. (Auf dem Hügel ist Feuer.) 
2. hetu^ Grund. (Denn auf dem Hügel ist Rauch.) 
3: udäharanam, Mustersatz, Beispiel. (Wo Rauch ist, da 
ist Feuer, z. B. auf dem Küchenherd.) 
4. iipanaya, Anwendung. (Auf dem Hügel ist Rauch.) 
5. nigamanam, Schlufs. (Folglich ist auf dem Hügel Feuer, 
und der nach einer Herberge sich umsehende Wanderer ist 
nicht betrogen, wenn er aus dem von einem fernen Hügel 
aufsteigenden Rauche schliefst, dafs auf ihm Feuer, mithin 
Menschen anzutreffen sein werden.) 
Im Gegensatze zum aristotelischen Syllogismus hat der 
indische fünf Glieder, von denen das dritte dem Obersatz, das 
vierte und zweite dem Untersatz, das fünfte und erste dem 
Schlufs entsprechen. Es ist das allgemein menschliche, in 
der Natur des Denkens begründete Schlufs verfahren, welches 
(ohne dafs eine Abhängigkeit anzunehmen wäre) in der 
griechischen Philosophie drei Glieder, in der indischen fünf 
aufweist, welche letzteren dadurch entstehen, dafs der Schlufs (5) 
als die Behauptung (1) und der Untersatz (4) als ihre Be- 
gründung (2) vorgreifend vorangestellt werden. Gelegentlich 
beschränkt sich auch die indische Syllogistik auf drei Glieder, 
sei es die drei letzten oder die drei ersten. Erheblicher ist 
die Verschiedenheit zwischen der abendländischen propositii) 
major, welche in einer zwei Begriffe zu einem Urteil ver- 
bindenden Subsumption, und dem indischen udäharanam, 
welches in einer von einem Beispiel begleiteten vyäpti (oben 
S. 367 fg.) besteht. Dem Subjekte des Obersatzes entspricht das 
vyäpya]n, dem Prädikate das vyäpaJcam. Auch der Inder unter- 
scheidet bejahende Obersätze (anvaya-vyäpti), deren Konversion 
nur per accklens durch Beifügung eines upadhi (einer ein- 
schränkenden Bedingung) gestattet ist, und verneinende Ober- 
sätze (vyaürclia-vydpti ) , bei der die conversio simplex zulässig 
ist. Im übrigen konnte die Theorie der ryäpii nicht zur Fein- 
heit der abendländischen Syllogistik mit ihren drei oder vier 
XI. Der Nyäya des Gotama. 3g 1 
Figuren und niHinzolin Modis durchgebildet werden, auch 
schützte sie niclit in dem Mafse wie diese letztere vor Para- 
logismen und ISophismen, wovon uns in Madhava's Darstellung- 
der heterodoxen Systeme, wie z. B. hei den Carväka's (oben 
S. 199 fg.), mehrfach Beispiele begegnet sind. 
\\'ir lassen die auf den Schlufs bezüglichen Sütra's 1,32 — 39 
folgen, in welchen nach dem Gesagten alles verständlich 
sein wird. 
32. Behauptung, Grund, Dbersatz, Untersatz, Schlufs sind 
die Glieder [des Syllogismus] (lyratijnä-hetu-mläharana-upanaya- 
>i igaman an i a vaya väh ). 
33. Die Behauptung (praiijnä) ist die Darlegung des zu 
Beweisenden (sädhijam). 
34. Der Grund (hdu) ist das Erbringen (sudhanam) des 
zu Beweisenden (sädhyam) wegen seiner Wesensgleichheit mit 
dem Obersatze (udäliaranam). 35. Ebenso [bei einer negativen 
Prämisse] wegen seiner Wesensverschiedenheit. 
3G. Der wegen Bestimmungsgleichheit [PJ mit dem Beweis- 
objekt [S] dessen Bestimmung [P] als Sein [Prädikat] habende 
Mustersatz (drishtänta) ist der Übersatz (ndäharanam). 37. Oder 
(bei negativem Schlufs] der wegen des Gegensatzes zu ihm 
(dem Beweisobjekte, S] entgegengesetzte [Mustersatz heifst 
Hdäharanani\. 
38. Die auf den Obersatz bezügliche Subsumi^tion (upa- 
mmhära) des Beweisobjektes [S( mit einem „Es ist so" oder 
„Es ist niclit so" heifst Untersatz (uiKinaya). 
39. Der Schlufs (nigamanam) ist eine mit Bezugnahme 
auf den Grund (hetuj stattfindende Wiederholung der Be- 
hauptung (pratijhä). 
VIII. tarl'a, Überlegung, Widerlegung. 
Sütram I, 40: „Die Erwägung (iVta), welche in einer Sache 
von unljekannter Wesenheit daraus, dafs ein Grund für sie 
\'orhanden ist, zum Zwecke der Erkenntnis der Wahrheit an- 
gestellt wird, heifst die Überlegung (tarhi).^'' 
Beispiel: Ich überlege die beiden Möglichkeiten, ob auf 
dem Hügel Feuer ist oder nicht, und entscheide mich für die 
382 I^i^ philosophischen Systeme. 
erstere, weil „ein Grund für sie vorhanden ist", weil näiulicli 
von dem Hügel Rauch aufsteigt, welches ohne Feuer unmög- 
lich seiu würde. Vätsyäyana erklärt das Sütram wie folgt : 
„In einer Sache, deren Wesenheit unhekannt ist, stellt sich 
zunächst die Forschung ein mit dem Wunsche, die Sache zu 
erkennen. Hierbei kann man die an dem zu erforschenden 
Objekte möglichen kontradiktorischen Bestimmungen für sicli 
abgesondert prüfen, und, indem man an der Hand der Frage, 
ob es sich so oder nicht so verhalte, die beiden entgegen- 
stehenden Bestimmungen prüft, so hält man die eine von 
ihnen fest, weil ein Grund für sie vorhanden ist, d. h. weil 
auf sie ein (irund, ein Erkenntnisgrund, eine Ursache, als auf 
seine Folgerung hinführt, und aus diesem Vorhandensein eines 
Grundes schliefst man dann, dafs die eine Bestimmung und 
nicht die andere Gültigkeit hat." Colebrooke bemerkt: „It is 
not to be confounded with doubt (samraya), to which there 
are two sides; but to this there is but one." Dem scheint 
unser Kommentator zu widersprechen, wenn er von zwei kontra- 
diktorischen Bestimmungen (vi/ä/iatau üharmau) redet. Der 
Unterschied von samcaya (dem dritten Padärtha) dürfte viel- 
mehr darin liegen, dafs dort der Widerspruch nur erhoben 
wurde, hier aber dadurch zum Austrage kommt, dafs ich die 
eine Möglichkeit als unzulässig erkenne. Wurde diese Mög- 
lichkeit von einem Gegner behauptet, so wird der Nachweis 
ilirer Unzulässigkeit zur deductio ad ahsurdum, für welche Cole- 
brooke auf Grund seiner Quellen den tarlca erklärt, während 
imser Sütram nur von einer Erwägung (ülia) redet, die man 
bei sich selbst anstellt. Die Stellung dieser Kategorie nach 
allen vorhergegangenen ist bei der Fassung des Sütram nicht 
recht verständlich und würde vielmehr, als Gegenstück zum 
Syllogismus, ihre Auffassung als deductio ad ahsnrdtoti be- 
günstigen. 
IX. mrnaija, die Entscheidung. 
Sütram I, 41 : ,,Die nach Prüfung, auf Grund der Behaup- 
tung und Gegenbehauptung, erfolgende Festsetzung der Sache 
ist die Entscheidung (viruai/a).^^ 
In dieser Kategorie findet der mit samcaya, dem Zweifel, 
r 
1 
M. Der N.väya des Gotama. -JHii 
iinhebtMHlc Prozel's, iiaclultMu durch (hishtanta, siddhanfa und 
avatfuca die oigeno Meinuno- erhärtet und durch farJia die 
gegnerische Meinung gestürzt ist, sein Ende durch nirnaya^ 
die von (h*r Wnnunl't diktierte richterhche Entsclieiihmg. 
Die folgenden sieben Kategorien, welche sich von den 
neun erst(Mi auch dadurch ablieben, dals sie in einem be- 
sondern Ahnikani, dem zweiten des ersten Buches, zusammen- 
gefafst sind, werten gleichsam einen Ilückblick auf den geführten 
Re<lekampf. indem sie die dabei gebrauchten, erlaubten und 
uiii'rlaubten Mittel einer Prüfung unterziehen. 
X. n<(/(/, die l>iskussion. 
."^iitram 1, 42: „Die mit Erkenntnisnormen und l'berlegung 
Beweis und Angriff führende, eine positive Behauptung nicht 
ausschliefsende, durch die fünf Glieder bewirkte Befassung 
von Thesis und Antithesis ist die Diskussion." 
Sie ist also das ernste wissenschaftliche Zwiegespräch, wie 
es zur Ermittelung der Wahrheit unter Anwendung aller bis- 
her (M'örterten Mittel zwischen zwei Wahrheit Suchenden, etwa 
dem Lehrer und seinem Schüler, geführt zu werden pflegt, 
XI. jaJj)((, die Disputation. 
Sütram I, 4o: „Der zwar wie gesagt vorgehende, aber 
mit Verdrehung (chala), Albernheit (jäti) und Abbruchsgrund 
(ni(jrtiha-siMuam) als Beweismitteln geführte Angriff ist die 
Disputation. 
Beim Ja/y>rt, für den wir keine recht passende Verdeutschung 
ßnden, ist der Zweck nicht mehr die Ermittelung der Wahr- 
heit, sondern das Kechtbehalten um jeden Preis, selbst unter 
Verwendung der weiterhin zu besprechenden unerlaubten Mittel. 
XII. vitanda, die Schikane. 
Sütram I, 44: „Ebendieselbe [die Disputation, jdpa], wenn 
ohne die Aufstellung einer Gegenbehauptung [geführt], ist die 
Schikane.'' 
Sie unterscheidet sich also vom jalpa nur dadurch, dafs 
der Gegner die genannten unerlaubten Mittel nicht benutzt, 
384 l^i^ philosophischen Systeme. 
um eine eigene Behauptung zu verfechten, sondern nur um 
dem Mitunterredner Verlegenlieiten zu bereiten. 
XIII. hdu-äbhäsa, der Scheingrund. 
Sütram I, 45: „Die Scheingründe sind 1. der ausnahme- 
liafte, 2. der widersprechende, 3. der themagleiche, 4. der 
einem noch zu Beweisenden gleiche, 5. der zeitüberschreitende." 
1. Der ausnahmehafte (savijahhicära). 
Sütram I, 46: „Der ausnahmehafte ist der nicht für eine 
Seite allein gültige." 
Wenn die Behauptung : der Ton ist ewig, damit begründet 
wird, dafs der Ton nicht körperlich, alles Nichtkörperliche 
aber ewig sei, so ist dies ein Scheingrund, und zwar ein aus- 
nahmehafter, weil z. B. die Buddhi unkörperlich und doch 
nicht ewig ist. Oder: Wollte jemand den Satz: der Topf ist 
vergänglich, damit begründen, dafs alles Körperliche vergäng- 
lich ist, so wäre dies ein Scheingrund, und zwar ein aus- 
nahmehafter, da z. B. die Atome körperlich und doch ewig sind. 
2. Der widersprechende (viruddha). 
Sütram I, 47 : „Der widersprechende ist der, welcher mit 
der von ihm selbst angenommenen Behauptung im Wider- 
spruch steht." 
Dafs jemand im Verlaufe der Argumentation sich mit dem 
in Widerspruch setzt, was er selbst vorher behauptet hat, ist 
vollkommen verständlich; nicht so das von Vätsyayana an- 
geführte Beispiel, dessen Sinn folgender zu sein scheint: Ich 
gebe zu, dafs der Mensch nicht ewig ist, dafs er sterben mufs. 
Sterben aber ist das Heraustreten aus dem Bereich des Nicht- 
ewigen in den des Ewigen. Somit ist der Mensch ewig. Der 
dafür angegebene Grund ist ein Scheingrund, weil er mit dem, 
was ich vorher zugegeben habe, in Widerspruch steht. 
3. Der themagleiche (praJcaranasama). 
Sütram I, 48 : „Der themagleiche, wenn das, von welchem 
die Uberdenkung des Themas ausging, als Resultat er- 
wiesen wird." 
XL Der Nyäya dos Gotama. 3H5 
Um zu brwoison, dafs der Ton nicht ewig ist, gehe ich 
iiiis Nou der Wahrnehmung, dais jeder Ton vergeht, zeige 
<lann weiter, dafs alles, was vergeht, nicht ewig sein kann, 
folglich auch der Ton nicht ewig ist. Sonach würde diese 
Form, wenn wir das Sütram recht verstehen, unserm circulus 
in ilniioiistrcunlo entsprechen. 
4. Der dem noch zu Beweisenden gleiche (sädhjasama). 
Sütram I, 49: ,,Der von dem zu Beweisenden nicht ver- 
schiedene [d. h. ebenso wie dieses noch des Beweises be- 
dürftige Grund] heifst, weil auch er erst noch zu beweisen 
war, der dem zu Beweisenden gleiche." 
Was seinen Ort ändert (zuerst an dem einen Orte und 
dann nicht mehr an diesem, sondern an einem andern ist), 
wie z. B. der Mensch, ist eine Substanz, Nun ändert der 
Schatten seinen Ort: folglich ist er eine Substanz. Hier gehe 
ich von einem Satze aus, welcher selbst noch erst zu beweisen 
gewesen wäre. Diese Form entspricht sonach unserer petitio 
py'mcipii. 
5. Der zeitüberschreitende (Mlätiia). 
Sütram I, 50: „Der zeitüberschreitende ist der mit Über- 
schreitung der Zeit geltend gemachte." 
Nach den \Yorten des Sütram könnte hier die falsche 
Verallgemeinerung gemeint sein, welche das, was nur von 
einer bestimmten Zeit gilt, auch auf andere oder alle Zeiten 
ausdehnt. Auf eine andere Auffassung würde das Beispiel 
bei Vätsyäyana führen. Was durch eine Verbindung wahr- 
nehmbar gemacht wird, wie der Topf durch die Verbindung 
mit dem Sonnenlicht, das mufs schon vor dieser Verbindung 
vorhanden gewiesen sein. Der Ton wird durch die Ver- 
bindung des Schlägels mit der Trommel wahrnehmbar ge- 
macht, mufs also schon vorher (als ewig) vorhanden gewesen 
sein. Hier wird die Zeit überschritten (die zeitliche Ein- 
schränkung vernachlässigt), sofern, was von Gleichzeitigem 
(der Sichtbarkeit des Topfes und seiner Wahrnehmung) gilt, 
auch auf zeitlich Auseinanderliegendes (die den Baum treffende 
Axt und die Wahrnehmung des Schalles durch den Fern- 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, m. 25 
386 Diß philo sophischen Systeme. 
stellenden) übertragen wird. Die Sichtbarkeit des Topfes war 
schon vorhanden, ehe ich ihn sah, nicht aber die Hörbarkeit 
der Axthiebe, da sie ja erst eintritt, nachdem diese schon 
der Vergangenheit angehört. 
XIV. rli(dani, die Verdrehung. 
Sütram I, 51 : „Umsturz der Behauptung mittels Umsturz 
des Sinnes heifst Verdrehung." 
Sütram I, 52 : „Dieselbe ist dreifach, Wortverdrehung, Ver- 
drehung durch Verallgemeinerung und Ausdrucksverdrehung." 
1. Die Wortverdrehung (väk-cJicdam). 
Sütram I, 53: „Die Wortverdrehung besteht darin, dafs 
bei einem unbestimmt ausgedrückten Sinne ein von der Ab- 
sicht des Redenden verschiedener Sinn untergeschoben wird" 
(Sophisma amphiholiae), z. B. wenn der Satz: Der Knabe hat 
einen neuen Rock an, wegen der Gleichheit von nava (neu) 
und navan, in Kompositionen nava- (neun), dahin verstanden 
wird, dafs der Knabe neun Röcke anhat. 
2. Die Verdrehung durch Verallgemeinerung (sämänya-chalam). 
Sütram I, 54 : „Die Verdrehung durch Verallgemeinerung- 
bestellt darin, dafs einem richtigen Sinne durch Anwendung 
einer zu grofsen Allgemeinheit ein unrichtiger Sinn unter- 
geschoben wird" (Sophisnta ficiae universalitatis). Wie, wenn 
die Behauptung, dafs ein bestimmter Brahmane mit Wissen- 
schaft und gutem Wandel begabt sei, vom Gegner auf alle 
Brahmanen, auch die der brahmanischen Lebensordnung nicht 
unterstehenden Vmiya's, (Freibrahmanen) ausgedehnt oder die 
Bemerkung, dafs dieses Feld manche Jahre Reis hervorbringe, 
dahin verstanden wird, dafs auf ihm alle Jahre Reis gezogen 
werde. 
3. Die Ausdrucksverdrehung (upacära-dialam). 
Sütram I, 55: „Die mit Berufung auf eine vorgenommene 
Mifsdeutung einer Bestimmung stattfindende Leugnung der 
Realität der Sache ist die Ausdrucksverdrehung" (FalJacia 
figurae didionis). Wie wenn einer sagt: numcäh Jcroganti, die 
\ 
XJ. Der Jsyäya des liotania. 387 
'rribiinrn rufen Bcilall, iiiul der mulero ihn <luraur hinweist, 
<h\l'fi Bänko nicht rufen können. 
XV. j('ttt\ die Albernheit. 
Sutrani I, 59: „Die Albernheit ist die Einwendung auf 
iJrund einer [blofsen] Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit." 
Wie wenn auf die Bemerkung, dafs der Soldat nicht mar- 
schieren könne, weil er krank sei, eingewendet wird, dafs 
Soldaten als solche marschieren können, und folglich auch 
dieser. Die Anwendung des Wortes jäti, Geburt, scheint hier 
auf einer ähnlichen Begriftsentwicklung zu ruhen wie das bei 
uns in ähnlichen Fällen angewandte Wort Naivität. Der Nyäya- 
ko^a zählt vierundzwanzig verschiedene Arten von albernen 
Antworten auf. Man kann zweifeln, ob damit das ganze Feld 
•des hier Möglichen erschöpft ist. 
XVI. n/graha-sthänam, der Abbruchsgrund. 
Sutram I, 60: Miisverstehen und Nichtverstehen sind Ab- 
bruchsgrund'% 
sei es, dafs der Gegner nicht verstehen will oder nicht 
verstehen kann. Auch hier werden im Nyäyakoga zweiund- 
zwanzig Arten, wie Aufgeben der Behauptung, W^echsel der 
Behauptung usw., aufgezählt. 
Wenn man aus den Namen und der Reihenfolge der 
sechzehn Kategorien als ursprünglichen Zweck des Nyäya 
eine geordnete Aufstellung der beim Denken und Streiten in 
Frage kommenden Gesichtspunkte erkennen möchte, und dann 
sieht, wie schon in den Sütra's die verschiedenen Kategorien 
durch ITereinziehen neuer, nicht mehr streng dem ursprüng- 
lichen Plane sich unterordnender Begrifie eine erweiterte, zu 
ihrer Stellung in dem Ganzen nicht mehr recht passende 
Bedeutung gewonnen haben, so kann man sich des Eindrucks 
nicht erwehren, dafs den Sütra's eine ältere Komposition zu- 
grunde lag, welche im Nyäyasystem eine ähnliche Bedeutung 
hatte wie vielleicht im Sänkhyasystem der nur aus vierund- 
fünfzig Worten bestehende Tatfvasamäsa (abgedruckt bei Hall, 
25* 
388 I^ie philosophischen Systeme. 
Sankhyasära , p. 42), und so wie dieser aus einer blofsen 
Aufzählung der Padartha's, etwa mit den allernotw endigsten 
Erläuterungen, bestand. Dieses Grundgerippe wäre dann durch 
fortgesetzte Aufnahme neuer Gesichtspunkte zu dem Umfange 
unserer Sütra-s, zunächst des das System umfassenden ersten 
Buches angew^achseri, woran sich dann die übrigen vier Bücher 
als weitere, namentlich der Polemik dienende Ausführungen 
angeschlossen hätten. Eine solche Annahme w-ürde die Tat- 
sache erklären, dafs die Padartha's schon in den Sütra's mehr- 
fach eine Bedeutung angenommen haben, welche mit ihrer 
Stelle in der Reihenfolge wie mit ihren Benennungen nicht 
überall recht in Einklang zu bringen ist. 
I 
I 
I 
XII. Die Mimänsä des Jaimini. 
1. Name und Zweck der MimAnsä. 
Das Wort mhnänsa bedeutet „Uberclenkung" und unter- 
scheidet sich von dem allo-emeinen und oft (z. B. Mimänsä- 
sütram I, 1,1, Vedäntasütram I, 1,1) dafür eintretenden jijnäsä, 
,, Forschung", nur insofern, als mtmänsü die Überdenkung eines 
schon Yorhegenden Geisteswerkes, in diesem Falle des Veda, 
bedeutet. Daher führen die beiden grofsen Lehrsysteme, 
Avelche der Erforschung des Vedawortes gewidmet sind, den 
Nam^n Mimänsä, und werden als die Karnia-minmiisä (Werk- 
forschung) des Jaimini, gewöhnlich kurzweg die Mimänsä 
genannt, und die IWahmii-mhnuhsä (Brahmanforschung) oder 
CJärlraTia-tmmähsä (Erforschung der Seele) des Bädaräyana 
unterschieden, welche auch Vedänta heifst. Erstere wird 
auch als Piu'va- mimänsä, letztere als Uttara-nümänsa, die 
.frühere und spätere Mimänsä, bezeichnet, worin zunächst kein 
zeitliches Verhältnis, sondern nur das Bewufstsein sich aus- 
drückt, dafs beide Werke ein ebetisoweit zusammengehöriges 
Ganze ])ilden wie die beiden Teile des Veda, auf welche sie 
sich beziehen. 
Der Veda, dessen äufsere Gliederung in Teile und Unter- 
abteilungen wir oben (I, 1 S. G4 fg. und I, 2 S. 3 fg.) kennen 
lernten, wird in anderer Hinsicht von den indischen Theologen 
eingeteilt in das KarmaJcändam, den die Hymnen und Bräh- 
manas im allgemeinen befassenden „Werkteil", und das 
Jftänalfjnfjam, den „Erkenntnisteil", welcher den Vedänta, 
d. h. die l'panishad's und was ihnen verwandt ist, befafst. 
Schon oben, 1,2 S. 44 fg. (wie aucli in den Einleitungen zu 
390 l^j^ Iiliilosojjliisclien Systeme. 
unserer Übersetzung der seclizig Upanisliad's und zur Geheim- 
lehre des Veda) wiesen wir auf die merkwürdige Analogie 
hin, welche zwischen dem Alten Testamente und dem Karma- 
kändam, dem Neuen Testamente und dem Jnänakändam be- 
steht. Hier kommen diese beiden Teile des Veda, bei denen 
Umfang und Bedeutung des Inhalts in umgekehrtem Verhält- 
nisse stehen, insofern in Betracht, als ihrer Durchforschung 
zwei grofs ausgeführte Lehrsysteme der spätem Zeit gewidmet 
sind, dem Karmakändam die Mimänsa des Jaimini und 
dem Jüänakändam der Vedänta des Bädaräyana. 
Die Mimänsa im engern Sinne, d. h. die Karma-mimänsa 
oder Werkforschung, ist kein philosophisches System in unserm 
Sinne, weder eine Metaphysik, noch eine Ethik, sondern ein 
praktisches Lehrsystem in anderm Verstände, eine Erörterung" 
der im Veda vorgeschriebenen, vorwiegend rituellen Werke- 
(karman) mit den zahllosen kasuistischen Fragen, zu denen 
sie Anlafs geben, sowie der an sie geknüpften Frucht (pliühim)y 
d. h. des Lohnes, welcher im Veda für die einzelnen Werke 
im Jenseits und teilweise schon im Diesseits in Aussicht ge- 
stellt wird. 
So wertvoll der Vedänta bei der allgemein menschlichen 
Bedeutung seines Inhalts für alle kommenden Zeiten ist und 
bleiben wird, so wenig kann doch seine Schwesterwissenschaft, 
die Mimänsa, über die Grenzen Indiens hinaus ein Interesse 
beanspruchen. Denn wenn, um nur ein Beispiel (Sarvadar^ana- 
samgraha p. 101 P) anzuführen, der Veda vorschreibt, beim. 
Agnicayanam gesalbte Sandkörner hinzuzulegen, und in betreff 
der Frage, womit sie zu salben sind, Grammatik, Nigama und 
Niruktam uns im Stich lassen, und nur die Mimänsa aus den 
nachfolgenden Worten tejo vai ghritaiu, „wahrlich die Butter 
ist Glanz", ermittelt, dafs dabei nicht Sesamöl usw., sondern 
Butter zu verwenden ist, so können diese und hundert ähn- 
liche Bestimmungen dem europäischen Leser aufser dem Sans- 
kritphilologen sehr gleichgültig sein. Wir dürfen uns daher 
im folgenden darauf beschränken, über den Inhalt der zw^ölf 
Bücher der Mimänsa eine allgemeine Vorstellung zu geben 
und über Ursprung und Methode, sowie über einige inter- 
essantere Punkte des Systems in der Kürze zu handeln. 
XII. Die Miinäiisä, des Jairaini. 391 
'2. Inhalt der Mimänsä des Jaiiiiiui. 
Das Gnindwork bilden die Mmäma-SNfras, angeblich ver- 
fafst von Jaiitii)!/, wieAvohl derselbe wiederholt in den Sütra's 
als Autorität zitiert wird; sie bestehen aus zwölf Büchern zu 
4 _^ 44-8 + 4 + 4 + 8 -1-4 + 4 + 4 + 8 + 4 + 4 = 60 Päda's, 
welche in 915 Adhikarana's in zusammen 2742 (nach Mädhava 
2G52) Sütra's vorliegen. Sie sind herausgegeben mit dem 
1()60 Seiten einnehmenden Jihä.shijam des 9^t)arasvämin in 
der Bibliotheca Indica (Calcutta 1873). Einen Superkommentai-, 
Värifil-am, verfal'ste der uns aus der grofsen Buddhisten- 
verfolgung (oben S. 181 fg.) als eine Inkarnation des Kriegs- 
gottes Kumära bekannte Kumarila-bliatta. Von spätem 
Werken begnügen wir uns die Nijai/amalä des Mädhava- 
äcärj'a (um 1350), herausgegeben in der Anandä§rama Series 
(Puna 1892) zu nennen. Ein Elementarwerk über die Mimänsä 
ist der Ärihasamgmha des Laugäkshi Bhäskara, heraus- 
gegeben mit einer wertvollen Einleitung von G. Thibaut 
(Benares 1882). 
Der Inhalt der zwölf Bücher der Sütra's ist nach dem 
Sarvadar^anasamgraha p. 99 sq. P (womit die kürzere Inhalts- 
angabe des Madhusüdana, oben I, 1 S. 55 fg., verglichen werden 
kann) der folgende: 
Erster Adhyäya. über vidhi (Vorschrift), artlmvüda 
(Erklärung), mantra (Hymnen und Sprüche), smriti (Tradition) 
und nämadhei/aju (Benennung), sofern sie als Richtschnur der 
Forschung dienen. 
Zweiter Adhyä,ya. Diskussion verschiedener Werke, 
Ablehnung von [allerlei] Beweisgründen und verschiedene Ver- 
wendung vorgeschriebener Gebräuche. 
Dritter Adhyäya. Andeutungen, die in der Schrift vor- 
kommen; Widersprüche der Schriftworte und anderes; Zere- 
monien der Erlangung; Abschweifungen vom Thema; allerlei 
Beihilfen zur Haupthandlung, wie Voropfer u. dgl. ; über den 
Opferherrn [und seine Obliegenheiten]. 
Vierter Adhyäya. Einwirkung von Haupthandlungen 
und Nebenhandlimgen [auf andere Riten] ; über den (jpfer- 
l()ff(d und den Lohn, der sich an sein Bestehen aus Parna- 
392 Die pliilosophischen Systeme. 
holz knüpft: über das Würfelspiel, sofern es ein Nebenglied 
der Handlung beim Eäjasüya (der Königsweihe) bildet. 
Fünfter Adhyäya. Über die Eeihenfolge der Schrift- 
worte und [der entsprechenden Handlungen], sowie deren 
spezielle Bestimmung; Steigerung und Minderung der Riten, 
gröfseres oder geringeres Gewicht [der Schriftworte]. 
Sechster Adhyäya, Über den Berechtigten und seine 
Obliegenheiten; Opfersurrogate; Verderben von Opferstoflen ; 
Pönitenzen; grofse Somafeier; Schenkungen; Opferfeuer. 
Siebenter Adhyäya. Wie bei nicht ausdmcklich aus- 
gesprochenen Übertragungen [eines Brauches auf andere Fälle] 
diese Übertragungen aus Namen oder Merkmalen zu ent- 
nehmen sind. 
Achter Adhyäya. Wie zu verfahren, wenn die Merk- 
male für eine solche Übertragung deutlich oder undeutlich 
oder überwiegend sind, und wie, wenn solche nicht vorhanden. 
Neunter Adhyäya. Einleitung der Betrachtung über 
Schiebungen [Einpassungen in den erforderlichen Zusammen- 
hang, {(ha] ; Schiebung von Säman's, Schiebung von Mantra's, 
und anderes, was bei dieser Gelegenheit zur Sprache kommt. 
Zehnter Adhyäya. Näheres über die auf Grund einer 
Hemmung veranlafsten Störungen; einheitlicher Zusammen- 
hang anderweitiger Wirkungen mit der hemmenden l'rsache. 
Somaschöpfungen und ähnliches. Säman's und Vermischtes; 
Bedeutung einer vorkommenden Negation. 
Elfter Adhyäya. Anschneidung der Frage nach dem 
Grundgewebe [der Opferhandlungen]; das Grundgewebe und 
die Einschaltungen. Näheres über das Grundo-ewebe. Näheres 
über die Einschaltungen. 
Zwölfter Adhyäya. Nebenwirkungen; Definitives über 
das Grundgewebe. Kombinationen und Alternativen. 
3. Urspriing- und Methode der Mimänsa. 
Der erste Anlafs zm- Entstehung der Mimänsä liegt nach 
Thibauts Annahme (Introductory Remarks zum Arthasani- 
graha) in dem Zustande der Brähmanatexte, welche bestimmte 
Zeremonien vorschreiben, aber zu ihrer genauen Ausführung 
keinen genügenden Anhalt bieten, da sie ilu- Hauptaugenmerk 
XU. Dio Mimäiisä dos .laiiuini. ,'39;> 
i\('V mystischen Ausdeutung «ler Handlungen zuwenden und in 
der Beschn'ibung der Handlungen selbst teils unvollständig und 
undeutlich sind, teils in unsystematischer Weise den Zusammen- 
hang durch Abschweifungen unterbrechen. lli(>r mul'ste sich 
schon früh das Bedürfnis nach Regeln geltend machen, welche 
bestimmten, wie diesem Zustande der (Juellen gegenüber zu 
verfahren sei, um die genaue Ausfülinuig der Handlungen zu 
sichern. Diese ursprünglich nur mündlich ül)erlieferten Regehi 
bildeten einerseits die Richtschnur, um auf Grund der 
Brähmanatexte die ('rauta-SiUras (oben I, 1 S, 71) zusammen- 
zustellen, andererseits wurden sie zu dem IbrtentAvickelt 
und zusammengefafst, amis uns als die Mimähsä des Jaimini 
vorliegt. Diese behandelt unter 915 Adliikarana's oder Titeln 
<lie mannigfaltigsten, auf das Ritual bezüglichen Fragen. Ein 
Adhikaranam, soweit es vollständig durchgeführt wird, was 
nicht immer der Fall ist, gliedert sich in fünf Teile, welche, 
A\ie Colebrooke bemerkt, dem gerichtlichen Verfahren der 
Inder analog sind. Ihri Namen sind: 1. vishmja, der zu be- 
handelnde Gegenstand: 2. samrai/a, der über ihn bestehende 
Zweifel; o. pürvapaJiSJiü, die gegnerische Ansicht; 4. idtara- 
jiakslta oder siddhanfa, die endgültige Ansicht; 5. samyati, die 
Erstreckung, der Zusammenhang mit verwandten Sätzen. 
Wir wollen dieses Schema (mit Max Müller, Six Systems, 
p. 270 fg.) an einem Hauptpunkte des Systems, der Behauptung 
von dem übermenschlichen Ursprung des Veda, erläutern. 
1 . visthaya. Der Veda ist apmtrusheya, ist nicht Menschen- 
werk, denn er ist nach der Weltschöpfung von Brahman aus- 
gehaucht worden, ja, er ist dieses Brahman selbst (Brahman 
= Veda), wie es seine Wesenheit der Welt offenbart und von 
den Rishi's geschaut und den Menschen mitgeteilt wurde. 
2. snmraija. Gegen diese Ubermenschlichkeit und Ewig- 
keit des Veda erheben sich Zweifel. 
?}. purvapal:sJi(i. Der Opponent macht geltend, dafs im 
\'eda selbst menschliche Verfasser wie Katha und andere 
genannt werden, dafs in ihm historische Personen wie Babara 
Prävähaiii und andere vorkommen, und dafs er unmögliche 
Dinge berichtet, wenn er erzählt, dafs die Bäume oder die 
Schlangen ein Opfer veranstaltet hätten. 
394 l^i"^ pbilosophisclieu Systeme. 
4. i(ttayapal-sJia. Die endgültige Ansicht widerlegt diese 
Behauptungen. Die Erwähnung menschlicher Urheher wie 
Katha usw. hesagt nur, dals diese die vedische Oft'enlbarung 
empfangen und dem Menschen übermittelt haben. Das Vor- 
kommen historischer Personen wird bestritten ; Babara Prävä- 
hani bedeutet nicht einen Menschen, sondern den Wind. Wenn 
es heilst, dafs Bäume und Schlangen geopfert hätten, so ist. 
dies ein blofser artJiaväda, welcher den hohen Wert eines 
bestimmten Opfers dadurch erweist, dafs selbst Bäume und 
Schlangen sich zu demselben gedrängt hätten. Nein, der Veda 
ist übermenschlich, denn wenn für die Darbringung des Soma- 
opfers der Himmel verheifsen wird, so ist undenkbar, dafs 
ein Mensch diesen Zusammenhang zwischen dem Werke und 
seiner transscendenten Frucht zu durchschauen imstande ge- 
wesen wäre. 
5. sanif/ati, die Erstreckung, erörtert die Beziehung dieser 
erwiesenen Wahrheit zu andern und ihren Zusammenhang 
mit ihnen. 
Die Lehre von der Ewjo-keit des Veda erhält eine weitere 
Stütze durch die Behauptung der Mimaiisaka's, dafs der Ton 
(^■ahda) nicht entstanden, sondern ewig ist, mithin auch der 
Veda, welcher aus Ton besteht. Gegen die Einwendung, dafs 
wir sehen, wie der Ton entstellt, indem er durch eine Stimme 
oder durch ein Instrument hervorgebracht wird, entgegnet 
Jaimini, dafs der Ton durch die Stimme nicht hervorgebracht, 
sondern nur wahrnehmbar gemacht wird; denn wie ein Gipfel 
des Himälaya schon da war, ehe er beleuchtet und dadurch 
sichtbar gemacht wurde, und weiter bestehen bleibt, nachdem 
die Beleuchtimg und Sichtbarkeit aufgehört hat, ebenso be- 
steht der Ton von Ewigkeit her und wird nur durch äufsere 
Anlässe vorübergehend wahrnehmbar gemacht. Wir sahen 
oben (S. 385), wie der Nyäya dies als einen Trugschlufs abwies, 
weil beim Tone der Anlafs und das Hören nicht gleiclizeitig 
sind, wie beim Berggipfel die Beleuchtung und die Sichtbar- 
keit. Die Mimäfisä aber beruft sich für ihre These auf das Wort 
Rigv. 8,64,6: väcä, Tirfipa, nityaya vrishne coclasva snslüutim, 
„0 Virüpa, erwecke dem Mannhaften schönes Lob durch die 
ewige Rede." Wie die Buchstaben des Wortes, so ist auch 
XII. Die Mimänsä des Jaimini. 395 
seine Bedeutung ewig, sie ist 9ÜC£u nicht ^sas',, und es 
bedarf, um den Zusammenhang zwischen Wort und Begriff 
zu erklären, nicht des von den Grammatikern angenommenen 
Spliota. von dem nocli unten (S. r»99 fg.) die Rede .sein wird. 
4^. ErkonDtnisnorincn und Erkenntnisobjektc der MimuiVsä. 
Die Mimänsä bedient sich bei ihren Forschungen der 
schon oben S. 30(1 erwähnten fünf oder sechs Erkenntnis- 
normen, deren stufenweise abnehmcnd^^ Beweiskraft durch 
die Reihenfolge bestimmt wird. Sie sind: 1. praitjalcsliam, die 
^\'ah^uehmung : 2. amimänam, die Folgerung aus einem als 
^lerkmal (lingam) dienenden Wahrgenommenen auf ein durch 
Vyäpti (oben S. 367 fg.) mit ihm verknüpftes Xichtwahr- 
genommenes: 3. upamänam, der Vergleich; 4. arthäpatti, die 
Selbstverständlichkeit; 5. cahda. die Mitteilung: ß. abhäva, das 
Nichtvorhandensein. Wenn Max Müller, Six Systems, p. 26ß 
sagt: „It is curioKS, that Mimänsakas slioiüd admit tJiis large 
array of sources of valid Cognition, considering, that for their oivn 
jinrposcs. for estahlishing the nature of Dliarma or didy. theg 
jiradiccdhi admit hnt one, namely scripture or C.'ahda'-\ so ist zu 
bemerken, dafs die Quelle der Erkenntnis allerdings nur eine, 
der heilige Text des Veda ist, dafs aber, um aus dieser Quelle 
zu .schöpfen, als Büttel die sechs Pramäna's dienen, indem 
je nach Lage der Sache 1. der Augenschein, 2. die Folgerung 
aus einem Vorliegenden, 3. der Vergleich mit verwandten 
Fällen, 4. die Selbstverständlichkeit, 5. die Berufung auf eine 
Autorität und ß. das Nichtvorhandensein einer Bestimmung 
in Anwendung zu bringen sind, um den wahren Sinn des 
Vedawortes und sonach den richtigen Gang der heihgen Hand- 
lung in allen ihren Teilen oder Gliedern (anga) genau fest- 
zustellen. 
Das alleinige Objekt, auf welphes diese Bemühungen 
gerichtet sind, ist der Werkteil des Veda, d. h. alle Mantra's 
(Hymnen und Sprüche) und Brahmands (mit Ausnahme der 
Upanishad"s ) ; was nicht Mantra ist, ist Brähmanam, was nicht 
Brähmanam, ist Mantra, wie Jaimini sagt. Hierbei stehen im 
N'ordergrunde des Interesses nicht, M-ie für uns, die Mantra's, 
396 Die philosophischen Systeme. 
sondern die Bralimana's, denn sie enthalten die Vorschriften, 
VidJii, nehst deren Erläuterungen, Ärthavada. Die Mantra's 
kommen nur als Mittel zur richtigen Ausführung dieser Vor- 
schriften in Betracht. 
1. Ein VidJii liegt überall vor, wo im Veda, meist unter 
Anwendung des Optativs oder Imperativs, gelegentlich auch 
des Indikativs, die Ausführung einer Handlung befohlen wird. 
Der Vidhi ist vierfach, als 1) 'Hfjhdti-vidJü, ursprünghche Vor- 
schrift, z, B. agnihotram juhoti, „man bringt Feueropfer dar'^ 
2) vrniyoga-vidhi, Verwendungsvorschrift, wenn es heifst, man 
soll es dadh)iä, „mit saurer Milch" darbringen, 3) prayoga- 
vidhi, AnOrdnungsvorschrift, welche die richtige Reihenfolge 
der zu einer Handlung gehörigen aftga's oder Bestandteile 
bestimmt, 4) adhilcära-vidh/ , welcher die Berechtigung zur 
Vornahme einer bestimmten Handlung untersucht. 
2. Mantra's sind alle Hymnen (R/e), Lieder (Sanum) und 
Opfersprüche (Yajus), wie sie in den drei altern Veden vor- 
liegen. Sie kommen hier als Mittel zur Ausführung der 
Opferhandlungen in Betracht, namentlich um die Gottheit zu 
bestimmen, an welche sie sich richten, und die Reihenfolge 
der Anrufungen und Manipulationen zu regeln, in welcher 
Mantra's und Brähmana's oft nicht zusammenstimmen. 
3. Nämadheyam (Benennung) bezieht sich auf die Er- 
klärung solcher Ausdrücke wie ndhliklä, ciirayä usw., welche 
sich nach dem Zusammenhang zu richten hat, in dem sie 
vorkommt. 
4. Nishcda (Verbot) ist naturgemäfs das Gegenstück zu 
vidhi, Gebot, und oft schon in diesem enthalten oder ihn 
enthaltend. 
5. Ärthavada (Erläuterung) kommt hauptsächlich in Be- 
tracht, sofern aus ihm ein Antrieb zu den gebotenen oder eine 
Warnung vor den verbotenen Handlungen zu entnehmen ist. 
Als unbedingte Autorität ist nur die ('rati, das heilige 
Vedawort, anzusehen, wiewohl die in ihr vorkommenden Fälle 
von unlauterer Begehrlichkeit, Verwünschungen von Feinden 
u. dgl. nicht mafsgebend sind, vielmehr aus einer Hemmung 
in der Aufnahme der Offenbarung herrühren. Neben der ^'ruti 
ist die Snir/tl (Tradition) nur insoweit verbindlich, als anzu- 
X]l. Die Miuiänsä des .laiinini. 1^97 
nclnnen ist. dafs sie auf einer (^'ruti berulit, und dasselbe gilt 
vom ardra, dem Brauche der (Juten, sofern er auf eine richtige 
liückerinnerung sich stützt. Hingegen sind die Vorschriften, 
welche in den I^iichern der Bauddlia's und Jaina's vorkommen, 
aucli wo sie von moralischer Art sind, in keiner Weise ver- 
hindlich, da sie nur Menschenwerk sind und nicht auf einer 
göttlichen Oflenharung beruhen, Menschenwerk sind auch 
die ('rai(fa-Sutrds und (Trihi/a-Siyras, ohne übermenschliche 
Autorität und verbindlich nur, sofern ihre Vorschriften sich 
auf den Veda stützen (vgl. das oben I, 1 S. 42 Anm. Bei- 
gebrachte). 
Die ausführlichen Erörterungen der Mimänsä über die 
^ erschiedenen Arten der Opfer, die Anzahl der anzustellenden 
Priester, der bei gröfsern Opferhandlungen zur Verwendung- 
kommenden Opfertiere und ähnliches können wir hier über- 
gehen und wollen imr noch die wichtige Frage nach dem 
Zusammenhange zwischen dem rituellen Werke und dem dafür 
verheifsenen Lohne ins Auge fassen. Wie das alttestament- 
liche. so ist auch das vedische Ritualgesetz auf den Egoismus 
gegründet. Jede Handlung (Jcarman) bringt ihre bestimmte 
Fruclit (phalam), welche entweder eine «diesseitige ist, wie 
Gesundheit, Wohlstand, langes Leben, Gedeihen von Kindern 
und Herden usw., oder, wo eine derartige Frucht nicht ver- 
heifsen wird, sich auf die himmlische Seligkeit bezieht, welchcy 
wie aller Lohn, nur so lange währt, bis der aufgehäufte Schatz 
der guten Werke durch den Genufs ihrer Frucht verbraucht 
ist. Der Zusammenhang zwischen dem Werke und seinem 
Lohne ist kein unmittelbar in die Augen fallender, ist ein 
adrishfam. Das gute Werk vergeht, aber seine Folge als ein 
npurvam, als ein „noch nicht dagewesener" Zuwachs zu dem 
bereits bestehenden Schatze von guten Werken hat die 
magische Kraft, für jede verdienstliche Handlung in früherer 
oder späterer Zukunft die entsprechende Vergeltung herbei- 
zuführen. (In einer weitern Bedeutung begegnete uns adrishfam 
oben S. 850.) 
XIII. Das grammatische System des Pänini. 
1. Brahman, Welt und Veda. 
Der indische Gottesbegriff ist von dem abendländischen 
wesenthch verschieden. Im Christentum schafft Gott die Welt 
und besteht als aufserweltlicher Gott neben derselben. Der 
Welt sendet er durch heilige, von ihm inspirierte Männer 
seine Offenbarungen, — das Wort Gottes, die Bibel. 
Anders das Brahman der Inder; es ist in der von ihm ge- 
schaffenen Welt selbst verkörpert, und seine OÖenbarungen 
sind nicht von ihm ausgesandt, sondern sind das ewige 
Brahman selbst, — der Veda (veda = brahman). Ähnlich also, 
wie der Gott des Spinoza sein Wesen auf zwei verschiedene 
Weisen darlegt, das eine Mal unter dem Attribute der Aus- 
dehnung als die ganze körperliche Welt, das andere Mal 
unter dem Attribute des Denkens als die entsprechende Welt 
der Ideen, ähnlich sind auch in Indien die Welt und der 
Veda zwei verschiedene Offenbarungsweisen des einen, ewigen 
Brahman. Das Brahman ist einerseits in allen Wesen der 
Welt verkörpert, in Göttern und Menschen, als Pferd, als 
Kuh, als Schaf u. dgl., andererseits hat das ewige Brahman 
sein Wesen dargelegt in allen Worten des Veda, in den 
Worten Pferd, Kuh, Schaf usw. Der Veda ist ewig, noch 
ewiger als die Welt, denn diese vergeht, wenn der Kalpa zu 
Ende ist, der Veda aber besteht in Brahman fort; nach ihm 
schafft Brahman die Welt aufs neue; wenn er das Pferd, die 
Kuh schaffen will, so erinnert er sich an die im Veda vor- 
kommenden Worte Pferd und Kuh und schafft ihnen gemäfs 
die entsprechenden Wesen. Somit ist der Veda eine bestimmte 
I 
Xlll. Das graiuiuatisc'he System des raniiii. ,*]99 
Daseinslbrni tler Gottheit, des Bralinian, und das Studium des 
Veda ist ein uninittell)ares Eindringen in die göttliche Wesen- 
heit, ist Besolüil'tigung mit Brahman und führt zu ilim. Dem 
Studium des Veda aber, dem Verständnis der in ihm vor- 
kommenden Worte und Sätze dient die sprachhche Analysis 
(ri/('i/i(in()iiini) derselben, oder, wie wir sagen würden, die 
Grammatik. Daher die Hoehsciiätzung derselben und ihre 
Bearbeitung schon in fridier Zeit , welche schliefslich ihre 
höchste Vollendung erreichte in dem grammatischen Wunder- 
bau des Panini (nach Böhtlingk eines Zeitgenossen des Candra- 
gupta um 315 a. C). Ohne Zw'eifel w^ar es neben der dazu 
einladenden Durchsichtigkeit der Sanskritsprache das Be- 
dürfnis, sich genaue Rechenschaft zu geben über die im Veda 
vorliegende Selbstoflenbarung Gottes, welche so früh ein so 
intensives Studium der vedischen Worte, ihrer Flexion und 
ihrer Zurückführung auf die letzten Wurzeln veranlafste und 
beförderte; der Grammatiker hatte das Bewufstsein, sich mit 
einer heiligen Sache zu beschäftigen, und wir verstehen es, 
wenn auch die Grammatik, wie die meisten philosophischen 
Systeme, den Anspruch erhob, den Menschen durch richtiges 
Verständnis der Vedaworte zur vollkommenen Erkenntnis und 
damit zur Erlösung zu führen. Schon die Maiträyana-Upanishad 
erklärt (VI, 22 S. 346 unserer Übersetzung) : 
Zwei Brahman's mufs der Mensch kennen, 
Das ^Yortbrahman und das zuhöchst; 
Wer bewandert im Wortbrahman, 
Erreicht das höchste Brahman auch, 
und ein Sarvadar^-anasamgraha p. 119 P zitierter Vers sagt von 
der Grammatik: 
Man nennt sie der Erlösung Pforte, 
Heilkraut für Krankheiten der Worte, 
Der Wissenschaften Sühnekraft; 
Sie ist die Überwissenschaft. 
2. Der Sphola. 
Brahman ist das Seiende [sat, zb cv), und wie Brahman in 
allen Wesen verkörpert ist, so ist es der Begriff des Seienden, 
400 Die philosophischen Systeme. 
■welcher allen Begriffen der Genera und Speeies bis hinab zu 
den Individuen (vermöge der realistischen Anschauung im 
Sinne des Piaton) inhäriert und ihnen die Realität verleiht. 
Alle diese Begrifi'e finden ihren Ausdruck durch die ^^'orte 
der Sprache. Diese, oder vielmehr das in ihnen wie in den 
Dingen sich verkörpernde Brahman sind das schöpferische 
Prinzip der Dinge, und wenn Brahman das Pferd schaffen 
will, erinnert er sich, wie oben bemerkt, an das im Yeda, 
welcher selbst Brahman ist, vorkommende Wort agva und 
schafft nach ihm das entsprechende reale Wesen. Aber wie 
ist es möglich, so fragen sich die Grammatiker, dafs eine 
Verbindung von Buchstaben einen bestimmten Begriff aus- 
drückt, dafs z. B. das Wort a^-va in mir die Vorstellung des 
Pferdes erweckt? Die einzelnen Buchstaben sind dazu nicht 
imstande, und auch die Verbindung dieser Buchstaben vermag 
es nicht, da in dem Ganzen nicht mehr als in der Gesamt- 
heit der Teile liegen kann. Man mufs also annehmen, dafs 
in einem Worte noch etwas mehr liegt als die Buchstaben, 
aus denen es besteht, ein geheimnisvolles Etwas, gleichsam 
eine Wortseele, welche beim Anhören des Wortes in unserm 
Bewufstsein geweckt wird und aus dem Worte hervorbricht, 
etwa wie die Blüte aus der Knospe, daher sie (von spliuf. 
aufbrechen, aufplatzen) wegen ihres plötzlichen Erscheinens 
SpJiota genannt wird. Um zu erklären, wie die Buchstaben 
Träger dieses Spliota sein können, nehmen die Grammatiker 
an, dafs schon beim Hören des ersten Buchstaben ein ganz 
dunkles Bild der Sache in der Seele erregt wird, welches 
mit jedem folgenden Buchstaben deutlicher sich gestaltet, bis 
es endlich mit dem das Wort beschliefsenden Suffix in voller 
Klarheit erscheint. 
Diese von den Grammatikern aufgestellte Theorie des 
Sphota wird vielfach in den philosophischen Schriften der ver- 
schiedenen Systeme diskutiert und von den meisten derselben 
abgelehnt. Angenommen wird der Sphota, wie es scheint, 
nur vom Yoga -System (Bhoja zu Yoga-Sütra I, 42). Vom 
Säükhyam wird er bekämpft (Sankhya-Sütra V, 57), Nyäya 
und Vaigeshikam verwerfen ihn, und auch die Mimämsä- 
Schulen halten ihn für eine unnötige Annahme, wie aus 
Xlll. Das grammatische System des Paiiini. 4(1] 
folo-ondtMii Exkurse ^ankara's zu Brahmasütra I, 3,28 «n- 
siclitlicli ist, den wir aus unserin ,, System des Vedanta'* 
S. 7() fg. hier herübernelimen wollen, 
3. Kritik dos Sphota bei ("ankara. 
[Der Gegner*, welcher den Sphota verteidigt, spricht:] 
„Bei der Annahme, dafs die Buchstaben [des Wortes die 
„Träger seiner Bedeutung seien], ist, da diese, [kaum] 
„entstanden, zerstieben, ein Entstehen der Individuen, wie 
,, Götter usw., aus den ewigen [Veda-]Worten nicht möglich. 
„Dazu kommt, dal's die [kaum] entstanden zerstiebenden Buch- 
,, Stäben je nach der Aussprache anders und wieder anders ver- 
,,nommen werden. So ist es z. B. möglich, einen bestimmten 
„Menschen, auch ohne dafs man ihn sieht, indem man ihn vor- 
, , lesen hört, an dem Tone mit Bestimmtheit zu erkennen und zu 
„sagen: «Devadatta liest» oder «Yajnadatta liest«. Und diese 
„entgegengesetzte Auffassung der [nämlichen] Buchstaben be- 
,,ruht doch nicht auf Irrtum, indem keine Auffassung vor- 
,, banden ist, welche sie widerlegte. — Überhaupt kann man nicht 
,, annehmen, dafs der Sinn eines Wortes aus den [blofsenj 
„Buchstaben erkannt werde. Denn [ersüicli] läfst sich nicht 
„annehmen, dafs jeder einzelne Buchstabe für sich den Sinn 
„kund macht, weil sie von einander verschieden sind; [siveiiens] 
„ist auch [der Wortsinn] keine [blofse] Vorstellung der Summe 
„der Buchstaben, weil dieselben der Reihe nach folgen [wobei 
„die einen schon zerstoben sind, wenn die andern aus- 
„gesprochen werden]. Steht es nun vielleicht ydrittens] so, 
„dafs der letzte Buchstabe, unterstützt von dem Eindruck 
„(samsJcära), den die Perzeptipn der vorhergehenden Buchstaben 
„erzeugt hat, den Sinn kund macht? — Auch das geht nicht. 
„Denn [nur] das Wort selbst, unter Voraussetzung der Auf- 
„fassung der [Buchstaben-] Verbindung, tut aufgefafst den 
* Wekher? wird nicht gesagt. Es spricht der Opponent, nicht aber ^'an- 
kara, wie Cowell in Colebr. M. E.^ p. 373, Anm. 1, annimmt; was er mit- 
teilt ist nur der Pin-vapalsha, nicht der SifhUiänta, den nachher Uija- 
rarsha vertritt; wahrscheinlich hat Qankara die ganze Diskussion aus 
dessen Kommentar (vgl. System des Vedanta, S. 26 Anm.) herübergenommeu. 
Deüssex, Geschichte der Philosophie. I, in. 26 
402 I^iß philosophischen Systeme. 
,Sinii kund, wie der Rauch [dessen zerstiebende und immer 
,neu sich erzeugende Teilchen für sich allein die Vorstellung 
,des Rauches nicht zu geben vermögen]. Auch ist eine Auf- 
,fassung des «letzten Buchstaben, unterstützt von dem Ein- 
, druck, den die Perzeption der vorhergehenden Buchstaben 
, erzeugt hat», nicht möglich, weil die Eindrücke nichts Wahr- 
,nehmbares [mehr] sind. — Ist es denn nun vielleicht 
,[vieriens] der letzte Buchstabe, unterstützt von den in ihrer 
,Nachwirkung perzipierten Eindrücken [der vorhergehenden], 
,welcher den Sinn kund macht ? — Auch nicht ; . denn auch 
,das Sicherinnern, wie es die Nachwirkung der Eindrücke ist, 
,ist eine Reihe [von Vorstellungen in der Zeit, — was oben, 
,zweitens, schon besprochen wurde]. — Sonach bleibt nur 
,übrig, dafs das Wort [als Ganzes, d. h. sein Sinn] ein Spliota 
,[ein Aufplatzen] ist, welcher dem Perzipierenden, nachdem 
, dieser durch Perzeption der einzelnen Buchstaben den Samen 
,der Eindrücke empfangen und denselben mittels der Per- 
,zeption des letzten Buchstaben zur Reife gebracht hat, in 
,seiner Eigenschaft als eine einheitliche Vorstellung plötzlich 
,einleuchtet. Und diese einheitliche Vorstellung ist keine 
,Rückerinnerung, die sich auf die Buchstaben bezöge; denn 
,die Buchstaben sind mehrere und können daher nicht das 
,Objekt der einheitlichen Vorstellung sein. Dieser [Spliota^ die 
,\Vortseele, wie wir sagen könnten,] wird bei Gelegenheit der 
,Aussprache [nur] wiedererkannt, [nicht erzeugt], und ist daher 
,ewig, [sowie auch einheitlich,] indem die Vorstellung der 
,Vielheit sich nur auf die Buchstaben bezieht. Somit ist das 
,Wort [d. h. sein Sinn] in GestaK des Sphota ewig, und aus 
,ihm als Benennenden geht hervor als zu Benennendes die 
,aus Tat, Täter und Früchten bestehende Welt." 
Hingegen erklärt der ehrwürdige Upavarsha [ein alter 
Mimänsa- und Vedäntalehrer, vgl. System des Vedänta S. 26, 
Anm., und Colebrooke Mise. Ess.^ I, 332]: „Nur die Buch- 
„staben sind das Wort." 
[Gegner:] ,,Aber ich habe doch gesagt, dafs die Buch- 
„staben, so wie sie entstehen, zerstieben." 
[Upavarsha:] „Dem ist nicht so, denn man erkennt sie 
„wieder als die nämlichen." 
Xlll. Das grammatisclie System des Pänini. 403 
|({egiu'r:J „Dafs man sie wiedererkennt, beruht bei ihnen 
,, darauf, dal's sie (den frühem] ähnhch sind, etwa so wie bei 
„den Ilaaren (vi>;l. rankara ad 1)1 ih. Ip. p. 74o,2).'" 
|Upavarsha:] „0 nein! Denn dafs es ein Wieder- 
„erkennen [der nämhchen, nicht blofs ähnhelifr] i.-Jt. wird 
,, durch keine andere Erkenntnis widerU\<>t." 
[Gegner:] „Das \\'iedererkennen hat in den Gattungen 
^,(dkriii) seinen Grund/' [Wenn ich w^ederhoU a spreche, so 
ist es nicht das Individuum a, sondern die Gattung a, welche 
in den verscliiedenen Individuen wiederkehrt.] 
[Upavarsha:] „Nein, sondern es ist ein Wiedererkennen 
„der Individuen, Ja, wenn man beim Sprechen, wie sonst 
„bei Individuen, z. B. bei Kühen, immer andere und andere 
„Buchstaben-Individuen vernähme, so würde das Wleder- 
„erkennen in den Gattungen seinen Grund haben: dem aber 
„ist nicht so; denn nur die Individuen der Buchstaben werden 
„beim Sprechen wiedererkannt, und [wenn einer das nämliche 
„Wort, z. B. «Kuh», wiederholt, so] nimmt man an, dafs er 
„zweimal das Wort «Kuh», nicht aber, dafs er zwei ^^o^te 
„«Kuh» ausgesprochen habe." 
[Gegner:] „Aber die Buchstaben werden doch [wie oben 
„geltend gemacht] je nach der Verschiedenheit der Aussprache 
„als verschiedene vernommen ; denn wenn man das Vorlesen 
„von Devadatta und Yajnadatta am Tone, durcji das blofse 
„Hören unterscheiden kann, so kommt das daher, dafs man 
„einen Unterschied vernimmt." [Das Wiedererkennen eines 
Buchstaben mufs also ein solches der Species, nicht des je 
nach der Aussprache verschiedenen Individuums sein.] 
[Upavarsha:] „Unbeschadet der genauen Bestimmtheit 
„des auf die Buchstaben sich beziehenden Erkennens. lassen 
„sich doch die Buchstaben [melir] verbunden oder [mehr] ge- 
„trennt aussprechen; und sonach hat die verschiedene Auf- 
„fassung der Buchstaben in der Verscliiedenheit des Aus- 
„sprechenden ihren Grund, nicht aber in der Natur der Buch- 
„staben. Ferner: auch der, welcher die Verschiedenheit m 
„die Individuen der Buchstaben [statt in die Art ihrer Aus- 
,, spräche] verlegt, mufs, wenn eine Erkenntnis möglich werden 
„soll, [zunächst] Gattungen für die Buchstaben ansetzen und 
26* 
404 I*'6 pliilosophiscben Systeme. 
,dann annehmen, dafs diese [Gattungen] durch fremde Ein- 
,flüsse verschieden aufgefafst werden; und da ist doch die 
, Annahme als einlacher vorzuziehen, dafs bei den Individuen 
,der Buchstaben durch fremde Einflüsse die Auffassung der 
, Verschiedenheit, durch ihre eigene Natur hingegen das 
,Wiedererkennen derselben bedingt ist. Denn dadurch eben 
,wird die Annahme, als läge eine Verschiedenheit in den 
, Buchstaben, widerlegt, dafs ein Wiedererkennen derselben 
,stattfindet." 
[Gegner:] , .Aber wie kann es geschehen, dafs der Laut 
,ga, welcher doch einer ist, zugleich ein verschiedenartiger 
,ist, wenn zur selben Zeit mehrere ihn aussprechen, und 
, [ebenso] wenn er mit dem Akut, dem Gravis, dem Zirkumflex, 
,mit dem Nasal, ohne Nasal ausgesprochen wird?" 
[Upavarsha:] „Nun, diese Verschiedenheit der Auf- 
,fassung wird nicht durch die Buchstaben, sondern durch den 
,Ton (dhvani) veranlafst." 
[Gegner:] „Was ist denn das, der Ton?" 
[Upavarsha:] ,, Dasjenige, welches, wenn man aus der 
,Ferne hört und den Unterschied der Buchstaben nicht auf- 
,fafst, an das Ohr schlägt, und welches einen nahe Sitzenden 
,veranlafst, die [in ihm selbst liegenden] Unterschiede wie 
, Stumpfsinn und Scharfsinn den Buchstaben [die er hört] auf- 
,zuhängen. • Und an dieses [den Ton] knüpfen sich die 
,Unterschiede der Betonung mit dem Akut usw., nicht an die 
,eigene Natur der Buchstaben, Die Buchstaben aber werden 
, [unabhängig vom Ton], sowie sie ausgesprochen werden,, 
,wiedererkannt. Nimmt man dies an, so haben die Wahr- 
,nehmungen der Akzentuation eine Basis, im andern Falle 
,nicht; denn was die Buchstaben betrifft, so werden sie nur 
,wiedererkannt und sind [ein jeder von sich] nicht ver- 
,schieden; man müfste also annehmen, dafs die Unterschiede 
,der Akzentuation in ihrer Verbindung und Trennung lägen; 
,Verbindung und Trennung aber sind nichts Wahrnehmbares, 
,und man kann sich nicht auf sie stützen, um zur Erklärung 
,der Unterschiede bei den Buchstaben stehen zu bleiben; 
,folglich würden die Wahrnehmungen der Akzentuation usw. 
,keine Basis haben [ohne Annahme des Tones]. — Auch 
XIII. I);is griiminatische System des Pänini. 405 
^,darein darf man sich nicht verrennen, dafs, weil die Akzen- 
„tuation verschieden ist, auch die zu erkennenden Buchstaben 
,,verschieden seien. Denn weil die eine Sache ÖpaUungen 
^, zeigt, (hiruni braucht sie eine andere, nicht mitgespaltene, 
„nicht auch zu zeigen : wie man denn z. B. deswegen, weil die 
„Individuen unter sich verschieden sind, noch nicht annimmt, 
„dafs auch die Gattung verschieden sei. Und da es somit 
^, möglich ist, aus den Buchstaben den Sinn zu erkennen, so 
„ist die Hypothese des Sphota unnötig." 
[Gegner:] „Aber der Spliofa ist gar keine Hypothese, 
„sondern ein Gegenstand der Wahrnehmung. Denn in der 
,, Erkenntnis (hnddhi), nachdem sie [verschiedene] Eindrücke 
„durch Auffassen der einzelnen Buchstaben empfangen hat, 
„leuchtet urplötzlich [der 8inn des Wortes] auf.'' 
[Upavarsha:] „Dem ist nicht so: denn auch diese Er- 
„kenntnis [des Sinnes des Wortes] bezieht sich auf die Buch- 
„staben. Nachdem nämlich die Auffassung der einzelnen 
„Buchstaben [z. B. des Wortes «Kuh»] der Zeit nach vorher- 
„gegangen ist, so folgt ihnen diese einheitliche Erkenntnis 
^.(huddhi ) — «Kuh», deren Gegenstand die Gesamtheit der 
„Buchstaben und sonst nichts weiter ist." 
[Gegner:] „Womit beweisest du das?" 
[Upavarsha:] „Damit, dafs auch der so entstandenen 
,, Erkenntnis [«Kuh)'] die Buchstaben K usw^, nicht aber die 
„Buchstaben T usw\ anhaften; denn wenn der Gegenstand 
„dieser Erkenntnis ein Sphota, ein von den Buchstaben K usw. 
„verschiedenes Ding wäre, so würden ebensowenig wie die 
„Buchstaben T usw. auch die Buchstaben K usw. mit ihm 
„etwas zu tun haben; dem aber ist nicht so; und darum 
„ist diese einheitliche Erkenntnis [des Begriffes nicht ein 
^ßpliota, sondern [ nur äue auf die Buchstuho) sich heziclmule 
^,Erinnening^^ 
[ Gegner: [ „Aber wie ist es möglich, dafs die ver- 
„schif 'denen Buchstaben der Gegenstand einer einheitlichen 
„Erkenntnis sind?" 
[Upavarsha:] „Darauf erwidern wir: Auch ein Nicht- 
,, Einheitliches kann Gegenstand einer einheitlichen Erkenntnis 
„sein, wie man ersieht an Beispielen wie: eine Reihe, ein 
406 I^iG philosophischen Systeme. 
„Wald, ein Heer, zehn, hundert, tausend usw. Denn die Er- 
„kenntnis des Wortes «Kuh» als einer Einheit ist, indem sie 
„bedingt wird durch die Aussonderung des einen Sinnes in 
„den vielen Buchstaben, eine metaphorische (aiqxicäriM), so wie 
„die Erkenntnis von Wald, Heer usw. es ist." 
[Gegner:] „Aber wenn die blofsen Buchstaben dadurch, 
„dafs sie in ihrer Gesamtheit in die Sphäre einer einheithchen 
„Erkenntnis eintreten, das Wort ausmachten, so würde zwischen 
„Worten wie jä-rä (die Liebhaber) und rä-jä (der König), 
„Jia-j)/ (der Afie) und pi-lca (der Kuckuck) ein Unterschied 
„nicht gemacht werden, denn es sind dieselben Buchstaben; 
,,und doch geben sie in anderer Verbindung einen andern 
„Sinn." 
[üpavarsha:] „Darauf antworten wir: auch wenn eine 
„Betastung sämtlicher Buchstaben stattfindet, so können doch, 
„so wie Ameisen nur dann, wenn sie ihre Aufeinanderfolge 
„einhalten, zur Vorstellung einer Reihe werden, auch die Buch- 
„staben nur dann, wenn sie ihre Aufeinanderfolge einhalten, zur 
,, Vorstellung des Wortes werden, [womit dem Einwände des 
„Gegners aber nur ausgewichen ist,] und darin, dafs, auch 
„bei Nicht -Verschiedenheit der Buchstaben, zufolge der Ver- 
„schiedenheit ihrer Reihenfolge eine Verschiedenheit der Worte 
„aufgefafst wird, liegt kein Widerspruch. Indem also be- 
„stimmte Buchstaben, in ihrer Reihenfolge usw. aufgefafst, 
„nach dem überlieferten Sprachgebrauche mit einem be- 
„stimmten, [durch sie] aufgefafsten Sinne verbunden sind, so 
,, kommen sie, wiewohl in ihrem eigenen Gebrauche [Funktion] 
,,als einzelne Buchstaben aufgefafst, sofort in der das Ganze 
„umtastenden Erkenntnis gerade als die und die zum Bewufst- 
„sein und übermitteln dadurch ohne Fehl den und den be- 
„stimmten Sinn. — Somit ist die Annahme, dafs die Buch- 
„staben [die Träger des Sinnes sind], die einfachere, wohin- 
,,gegen die Annahme des Sphofa das Sinnfällige verläfst und 
„ein Übersinnliches hypostasiert, w^obei angenommen w^ird, 
„dafs diese bestimmten Buchstaben, der Reihe nach aufgefafst, 
,,den Spitota offenbaren, und dieser Spliola den Sinn offenbart, 
„was doch ziemlich schwierig ist. Zugegeben also, dafs die 
,, Buchstaben, je nachdem man sie ausspricht, andere und 
Xlli. l>as grammatische System des Pänini. 4(j7 
,, wieder andere sind, so nuifs inun doch unweigerlich an- 
., nehmen, dais als das, worauf sich das Wiedererkennen stützt, 
„ein Identisches in den Buchstaben vorhanden ist, und dafs 
„bei den Buchstaben die vorgesetzte Absicht, den Sinn niit- 
„zuteilen, in diesem Identischen übermittelt wird.'' 
Schlursbenierkung. Die Wahrheit dürfte bei dieser 
Kontroverse in der Mitte liegen. Der Gegner hat Recht, 
sofern die Philosophie die Annahme der Begriffe (denn diese 
sind vernünftigerweise unter dem f>phota zu verstehen) nicht 
entbehren kann, und Upavarsha hat Recht, sofern die Be- 
griffe ihre Existenz nur in der Existenz der (vom Gedächt- 
nisse festgehaltenen) Worte haben. Auch ist die Beziehung 
zwischen Begritf und Wort gewifs keine blofs äufserliche, 
konventionelle, sondern ursprünglich eine innere, organische; 
warum aber gerade diese Laute gerade diesen Begritf aus- 
drücken, das ist ein Problem, an welchem sich Philosophie, 
Sprachvergleichung und Physiologie bis jetzt vergebens ab- 
gearbeitet haben, und dessen Lösung doch die Wissenschaft 
nimmermehr aufgeben kann noch wird. 
XIV. Das Sänkhyam des Kapila. 
Vorbemerkungen. 
Der Idealismus der ältesten Upanishad's hatte dui'cli 
Akkommodation an das empirische Bewufstsein mehr und mehr 
eine realistische Färhung angenommen. Die alleinige Eealität 
des Atman liefs sich nicht mehr aufrecht halten, seitdem die 
Avidi/ä, das Nichtwissen, welche uns statt des einen Atman 
eine vielheitliche Welt vorgaukelt, zu einer dem Atman gegen- 
überstehenden Substanz, der PraJcriti oder Urnatur, sich ver- 
dichtet hatte. Vergebens protestierte noch die QvetaQvatara- 
Upanishad 4,10 gegen den einreifsenden Realismus, indem sie 
die Prakriti für eine blofse Illusion, eine Mäyä erklärte. Mehr 
und mehr trat diese Ävldyä, Mäyä, Prakriti dem Atman als 
ein selbständiges Wesen gegenüber. 
Aber auch der Atman, der ursprünglich das erkennende 
Subjekt in mir und damit der Inbegriff aller Realität gewesen 
war, hatte sich in zwei Wesenheiten, den einen höchsten 
Ätman und die vielen individuellen Atman's oder Purusha's 
gespalten. 
So war man zu drei Prinzipien, dem mehr und mehr als 
persönlicher Gott (icvara) gefafsten höchsten Atman, den vielen 
individuellen Purushas und der materiellen PraJcriti gelangt. 
Oft fmg man schon an, sich, unter Beseitigung des höchsten 
Ätman mit den beiden letzten Prinzipien, der Prakriti und den 
in sie verstrickten Purusha's zu begnügen. Der Gärungsprozefs, 
der durch diese Zersetzung der alten Upanishadlehre veranlafst 
war. mao- im wesentlichen in die letzten fünf Jahrhunderte 
Xl\'. Das Siiiikliyam des Kapila. 409 
<ler vorchristlichen Zeit fallen. Ihm ciehören schon einige der 
jüngsten Upanishad's, namentlich (^vetä^vatara und .Nhiiträyana 
an. An diese schliefsen sich viele philosophische Texte im 
Maliahhäratam (vor allem die l^hagavadgitä, Buch VI, Vers 
<S30 — 1532 und der Mokshadharma, Buch XII, «)457 — lo94P)), 
wie auch die verwandten Partien im Gesetzbuche des Manu, 
Buch I und XII. Häufig wird in den genannten Texten die 
Philosophie überhaupt bezeichnet als Sänkliyam, „die Re- 
ilexion'', im Gegensatze und in häufiger Parallele mit einem 
andern Wege, welcher durch Vertiefung in das eigene Ich 
zum Prinzip alles Seins führt, und Yoga, „die Verinnerlichung", 
heilst. Sofern auch der Buddhismus dem durch die er- 
wähnten Texte gekennzeichneten Gedankenboden entsprossen 
ist. kann man denjenigen Forschern zustimmen, welche im 
Buddhismus eine Popularisierung der Sähkhyaphilosophie 
sehen. Versteht man hingegen unter Sänkhyam das spätere 
philosophische System, zu dessen Darstellung wir jetzt schreiten 
wollen, so behalten wiederum diejenigen Recht, welche jede 
Abhängigkeit des Buddhismus von diesem sogenannten klas- 
sischen Sänkhyam bestreiten, schon darum, weil dieses klas- 
sische Sänkhyam wohl um mehrere Jahrhunderte jünger als 
der Buddhismus ist. Im übrigen ist sowohl die Entstehungs- 
zeit des klassischen Sänkhyam wie auch die Art seiner Ent- 
wicklung aus jenem alten epischen Sänkhyam in Dunkel gehüllt. 
Die Tradition, welche den Erstgeborenen der Schöpfung, 
den persönlichen Brahmän, den Hirani/agarhJia (Goldkeim), 
oder, wie er Qvet. Up. 5,2 heifst, „jenen erstgeborenen roten 
(d. h. goldenen) Weisen (Jcapüa rislii)'-^ unter dem Namen 
Kapila an die Spitze des Systems stellt, hat denselben Wert, 
wie wenn als Urheber des bekannten Gesetzbuches Manu., 
der Stammvater des Menschengeschlechtes, gilt. Auf sehr 
schwachen Füfsen steht auch, was Igvarakrishna, der älteste 
Vertreter des klassischen Sänkhyam, über seine weitern Vor- 
gänger Sänkhya-Kärikä Vers 70 berichtet: 
Dies höchste Läuterungsmittel hat der "Weise [Kiipila] 
Dem Asuri aus Mitleid überliefert; 
Dann weiter Asuri dem Panca^ikha, 
Von dem die Lehre wurde ausgebreitet. 
410 Dif pliilosopliiscben Systeme. 
Was über Asuri und Panca^ikha wie auch über eine Anzahl 
anderer alter Sankhvalehrer berichtet wird, scheint völlio; dem 
Mythus oder auch der Sage anzugehören, und nur so viel 
läXst sich aus Vers 72 der Kärikä entnehmen, dafs sie ein 
umfangreicheres Work, das Shasht'dantram , vorauszusetzen und 
dessen Inhalt in konzentriertester Gestalt und unter Weg- 
lassung der erläuternden Legenden und der polemischen Aus- 
einandersetzungen zu reproduzieren scheint. 
Das auf diesem Wege wohl schon in den letzten Jahr- 
hunderten vor unserer Zeitrechnung entstandene Werk, und 
somit das älteste und wertvollste Denkmal des klassischen 
Sänkhyam ist die Säülihna-Kärihäy welche in zweiundsiebzig 
Aryästrophen mit bewunderungswürdiger Kürze und Präzision 
eine Darstellung des ganzen Systems liefert. Als ihren Ver- 
fasser bezeichnet sich Vers 71 I^varakrislina, von dem wir 
nichts weiter wissen, als was er uns ebendort mitteilt, dafs 
nämlich das von ihm vorgetragene Lehrsystem nicht eigene 
Eriindung, sondern eine treue (äri/a) Reproduktion einer über- 
lieferten Lehre, wahrscheinlich nach dem genannten Shashti- 
tantram ist. Rätselhaft und noch weiterer Erklärung bedürftig 
ist eine eigentümliche Verwandtschaft der Säiikhya -Kärikä 
mit der Maiträyana-Upanishad, welche sich namentlich darin 
äufsert, dafs einzelne Redewendungen in beiden Texten nahezu 
übereinstimmen. Vgl. Maitr. 2,7 : prckshakavad avasthitah, 
svasthagca mit Sänkhya-K. 65: prehshuJcavad avasthäah, susthah; 
— Maitr. 3,2: nibadhnäti ätmanä ätmänam mit Sänkhya-K. 63: 
hadhiäti ätmänam ätmanä prakritih ; — Maitr. 3,3 : caturdaga- 
vidJiam mit Sähkhya-K. 53; — Maitr. 5,1: svärthe svähhäviJce'rthe 
mit Sänkhya-K. 56: svärthe ira imrärtlie äramhhah; — Maitr. 
6,10: niahadädyam vigesha-antam Ungarn mit Sähkhya-K. 40: 
niahad-ädi stVcsJima-paryantam . . . Ungarn: — Maitr. 6,19: Un- 
garn niräcrayam mit Sänkhya-K. 41 : nirägrayam Ungarn. 
Unter den Kommentaren zur Sänkhya-Kärikä sind hervor- 
zuheben der des Gaudapäda und der des Väcaspatimi9ra. 
Ersterer wird gewöhnlich mit Gauclapäda, dem Verfasser der 
Kärikä zur Mändükya-Up., dem Lehrer des Govinda, des 
Lehrers des (^ahkara (geb. 788 p. C), identifiziert, wodurch 
seine Zeit sich bestimmen lassen würde. Indessen scheint es 
XIV. Das Sänkliyam des Kapila. 41t 
mir, Avip ich zu meiner l'bersetzung dieser Karika fSeclizin' 
l'panishad's S. 574) auseinandergesetzt habe, undenkbar, 
dal's der Verlasser der strengmonistisclien Mändükya-Karika 
zugleich jenen Kommentar zur Sänkhya-Karika verlalst haben 
kihine. Der weitschweitige, SäTiJihi/a-tattru-Jcawnndi genannte 
Konmientar des Vaeaspatimi^ra wird von Garbe, der ihn 
Avohl etwas überschätzt, in das erste Drittel des 12. Jalir- 
hiuiderts gesetzt. 
Während die Sütra's bei den übrigen orthodoxen Systemen 
die älteste Quelle bilden, so sind die in sechs Büchern vor- 
liegenden Sütra's zum Sänkhyasystem, wiewohl sie sich für 
ein Werk des Kapila ausgeben, sehr sekundären Ursprungs 
und aus später Zeit. Sie werden weder von Qankara (um 
800 p. C.) noch von Mädhava (um 1350 p. C. ) oder irgend- 
einem andern altern Autor zitiert, sind eine Kompilation, 
welche auf der Safddiva-Ktirikä und daneben auf andern, 
verlorenen Quellen beruht, und sind schon bemüht, die Sän- 
khyalehre überall dem Vedänta anzunähern. Kommentiert 
sind die Sänkhya-Sütras namentlich von Aniruddha (um 
1500 p. C.) und von Vijnänabhikshu (aus der zweiten 
Hälfte des Iß. Jahrhunderts), dessen sehr breiter, Sär/l-hya- 
pravacava-hlimhyam genannter Kommentar Sänkhyam und 
Vedänta zusammenbiegt und dabei beiden Gewalt antut. Wir 
werden bei unserer Darstellung, um sie auf eine feste Basis zu 
gründen, soviel wie möglich ausschliefslich aus der Sänkhya- 
Kärikä schöpfen, und wo wir genötigt sind, ihre Kommentare 
oder spätere W^erke heranzuziehen, wird dies ausdrücklich 
bemerkt werden.* 
" Seit Colobrookes Darstellung iu den Miscellaneous Essays hat sich 
um die Sänkhyaphilosophie niemand so verdient gemacht wie Ricliard Garbe 
durch seine zweimalige Darstellung des Systems (Die Sänkhya-Philosophie, 
Leipzig 1894, und Säiikbyam und Yoga in Bühlers Grundrifs III, 4, Strals- 
l)urg 1896) sowie durch zahlreiche Ausgaben und Übersetzungen der wich- 
tigern Säiikhyatexte. Unsere Darstellung unterscheidet sich von der 
seinigen wesentlich dadurch, dal's wir uns streng an den Standpunkt der 
Säiikhya-Kärikä halten und dadurch vielleicht ein einheitlicheres Bild der 
Lehre gewinnen werden, als es bei Heranziehung der verschiedenen spätem 
Texte möglich sein konnte. 
412 I^jß philosophischen Systeme. 
Zunächst lassen wir die Sänkhya-Kärikä selbst in Text 
imd Übersetzung, begleitet von den nötigen Anmerkungen, 
hier folgen, um sodann unsere Darstellung des Systems 
daran zu knüpfen. Die Einteilung der Säiikhya-Karikä ist 
■die folgende: 
I. Einleitung, Vers 1 — 6. 
IL ontologie, Vers 7—21. 
III. Psychologie, Vers 22 — 42. 
IV. Pathologie, die Lehre von den Bhäva's, Vers 43 — 52. 
V. Kosmologie, Vers 53 — 56. 
VI. Eschatologie, Vers 57 — 68. 
VII. Epilog, Vers 69—72. 
Die Sänkliya-Kärikä des Icvara- 
krishna. 
Übersetzt und erklärt. 
I. Einleitung. 
Vers 1—6. 
a) Allgemeines, 1 — 3. 
1. Zweck der Erkenntnis. 
1. diiliMia-traija-ahldgliätäj jijhäsä tad-apaghätahe hctau; 
'drishte sä apärthä\ cen? na! ekänia-atyantato 'hhäväi. 
Dreifacher Schmerzen Andrang weckt die Forschung 
Nach Mitteln ihrer Abwehr. Sie bleibt nötig, 
Auch wo ein Weg zur Abwehr wahi'genommen, 
Weil er nicht ewig noch ausschliefslich ist. 
Wörtlich : Aus dem Andrang der Dreiheit der Schmerzen 
[entspringt] die Forschung nach der sie abwehrenden Ursache.. 
Meint ihr, diese [Forschung] sei unnötig, wenn eine [die 
Schmerzen abwehrende Ursache] ersehen worden (in der 
W'ahrnehmungswelt vorhanden) sei, so antworten wir: Nein! 
\\'eil [einer solchen wahrgenommenen Abwehr des Schmerzes 
zwei Bestimmungen,] das Ausschliefsliche und das Ewige fehlen. 
Das Sänkhyasystem bekundet seinen sekundären Ur- 
sprung auch dadurch, dafs es als Motiv für die philosophische 
Forschung die Leiden des Daseins bezeichnet. In Indien wie 
in Griechenland wurzelt die Philosophie ursprünglich in dem 
414 Die Sänkhya-Kärikä des I^varakrishna. 
reinen Trieb nach Erkenntnis; so ist es bei den Vorsokra- 
tikern, bei Sokrates, Piaton und Aristoteles, und so im wesent- 
lichen in der Philosophie der vedischen Hymnen und der 
Upanishad's. Erst im spätem Verlaufe schwächt sich jener 
Durst nach Erkenntnis ab, und die Philosophie wird zu einem 
remedium (wie Seneca sagt), zu dem wirksamsten Heilmittel, 
um den Leiden des Lebens und Sterbens zu begegnen. So 
ist es in der nacharistotelischen Philosophie, namentlich bei 
<len Stoikern, und so in der nach vedischen Philosophie, im 
Buddhismus und dem ihm verwandten Sankhyasystem. 
Die dreifachen Schmerzen sind nach den Scholiasten 
1. ädhi/ätmila, aus uns selbst entspringende, 2. ädhihhautika, von 
andern Wesen uns zugefügte, und 3. ädJndaivika, vom Schick- 
€!al (daivam) über uns verhängte (vgl. Elemente der Meta- 
physik § 274). Die zweite Verszeile beantwortet einen Ein- 
wurf, welcher, wie das Wort cen = cet (gewöhnlich iti cet) 
beweist, in den drei ersten W^orten erhobin wird: drisJite, 
nämlich hctau, wenn eine Ursache der Hebung des Schmerzes 
„ersehen worden", d. h. in der Wahrnehmungswelt vorhanden 
ist, z. B. wenn jemandem ein besonders glückliches Lebens- 
schicksal zuteil geworden ist, ist dann nicht ,,iene" (sä) 
Forschung unnötig (apärthä) ? — Keineswegs ! Weil einer 
solchen empirischen Freiheit vom Leiden zweierlei abgeht : sie 
ist nicht von ewiger Dauer (atyanta), und sie ist nicht „aus- 
schliefslich", cMnta, wörtlich ,, einseitig", das heifstwohl: sie 
bringt neben der erstrebten Schmerzlosigkeit ein positives 
Glück, welches den Zwecken der Sankhyalehre zuwider ist; 
6 ao<poc TÖ aAUTcov Sioxs',, ou to Tjäu, 
2. Nicht Religion, nur Philosophie führt zum Ziel. 
2. d'fishtavad änugravihah, sa hi avigiiddhi-hshaya-aUcaya-yuMali. 
tad-viparUah greyän, vyakta-avyaläa-jna-vijyiänut. 
Wie Wahrnehmung genügt auch Schriftgebot nicht, 
Weil Schuld, Yergang und Übermafs bewirkend. 
Ein andres bess'res Mittel unterscheidet 
Entfaltung, Nichtentfaltung und Erkenner. 
Wörtlich: Wie mit einer ersehenen [in der Wahrnehmungs- 
welt vorhandenen Schmerzaufhebung] steht es mit einer durcli 
Einleitung. 410 
die Veda-Ofronbarung (anu^rava) erreichten (als Lohn der 
Opforwerke nach dem Tode eintretenden ; auch sie ist niclit 
genügend J; denn sie ist mit l'nreinheit, Vergang und Uber- 
mafs verbunden. Dieser [Schmerzaufhebung] entgegengesetzt 
ist eine bessere durch rnterscheidung des Üdenbaren, des 
l^nofllenbaren und des Erkenners. 
Die durcli die vedischc Religion für die Opferwerke nach 
dem Tode versprochene Schmerzaufhebung ist, ähnlich wie 
jene empirische, nicht genügend, aus drei Gründen: sie ist 
behaftet mit 1. Unreinheit, wegen des Tötens der Tiere beim 
Opfer, welches gegen das Gebot der (üiinsä (NichtVerletzung 
alles Lebenden) verstöfst, 2. Vergang, sofern der Schatz der 
guten Werke nach und nach im Jenseits durch den Genufs 
ihres Lohnes aufgebraucht wird, worauf die Seele zu einem 
neuen Erdendasein herabsteigen mufs, 3. Ubermafs (atiraya), 
nicht, wie die Scholiasten, Gaudapäda und Väcaspatimi(jra 
meinen, weil der Selige im Himmel mit Neid andere sehen 
mufs, die noch seliger als er sind, sondern weil die vedischen 
Werke zu viel bewirken, nämlich nicht nur die gewollte 
Schmerzlosigkeit, sondern darüber hinaus eine positive Be- 
glückung, deren Verwerflichkeit schon Vers 1 angedeutet war 
(vgl. die Bemerkung Vätsyäyana's oben S. 376). Dem religiösen 
Wege wird als besser entgegengesetzt der philosophische des 
Sankhyasystems, welcher darin besteht, dafs man durch die 
Erkenntnis dazu gelangt, zu unterscheiden zwischen dem 
Offenbaren, d. h. der Erscheinungswelt, dem Unoffenbaren, 
d. h. der Prakriti, und dem Erkenner, d. h. dem Purusha, 
dem Subjekte des Erkennens. Diese Dreiheit wird im folgen- 
den Verse zu den fünfundzwanzig Prinzipien der Säfikhya- 
philosophie auseinandergelegt. 
3. Die füufundznanzigr Prinzipien. 
o. )nidaprahritir avikritir; mahad-ädyäh 2)räkriti-vikrüai/ah sapta; 
shocjarakas tu viMro; na praliritir na vilcritih imrusJiali. 
Die Urerzeugerin ist unerzeugt; 
Erzeugend und erzeugt vom Grofsen an 
Sind sieben, sechzehn sind die blofs erzeugten: 
Der Purusha ist nicht erzeugt noch zeugend. 
^j^g Die Säükhya-Kärikä des l^varakrishna. 
Wörtlich: die Wiirzelnatur ist keine Hervorbringung; vom 
Grofsen anfangend sind Hervorbringende und [zugleich] Hervor- 
bringungen sieben; sechzehnfach hinwiederum ist das [blofsj 
Hervorgebrachte : weder hervorbringend noch Hervorbringung 
ist der Purusha. 
So wie Scotus Erigena in seinem Werke De divisione 
tiaturae vier Klassen von Wesen unterscheidet, je nachdem 
sie creant non creantur oder creantur et creant oder creankir 
non creant oder neque creant neque creantur, ganz ebenso, jedoch 
ohne historischen Zusammenhang beider, verfällt unser Autor 
auf eine Vierteilung der Wesenheiten, welche hier wie bei 
Erigena die Vollständigkeit des Verfahrens verbürgt. Er 
unterscheidet 1. solche Wesenheiten, welche erschaffend aber 
unerschafTen sind: die Prakriti; 2. solche, welche erschaffen 
und erschaffend sind: Mahän (d. h. Buddhij, Ahankara und 
die fünf Tanmätra's, zusammen sieben; 3. solche, welche er- 
schaffen, nicht erschaffend sind : die fünf Bhüta's, das Manas 
und die elf Indriya's, zusammen sechzehn; 4. solche, welche 
weder erschaffen noch erschaffend sind: der Purusha. 
b) Die Erkenntnismittel, 4 — 6. 
Der Behandlung seines Gegenstandes schickt der Autor 
eine Erörterung der Erkenntnismittel, wörtlich der ,,Mafs- 
stäbe" des Erkennens (pramänas) voraus, weniger im Inter- 
esse der Sache, da im folgenden von dieser Erörterung kein 
nennenswerter Gebrauch gemacht wird, als vielmehr um den 
Erwartungen seiner indischen Leser zu genügen, welche an 
solchen theoretischen Diskussionen, auch wenn sie nur einen 
akademischen Wert hatten, ein besonderes Wohlgefallen 
empfanden. Es ist daher auch nicht weiter befremdlich, wenn 
von den drei im folgenden aufgestellten Erkenntnismitjteln, 
Wahrnehmung, Folgerung und Offenbarung, das dritte für das 
System keine irgendwie eingreifende Bedeutung hat und, so 
wie die ihm entsprechende Götterwelt, nur anerkannt zu werden 
scheint, um die religiösen Gefühle zu schonen. Diesem vor- 
sichtigen Auftreten hat es das Sänkhyasystem zu verdanken, 
dafs es, obwohl atheistisch, doch noch zu den sechs ortho- 
I. EinleitiniK. 41 < 
doxen Systemen gerechnet wird, wälirend nicht nur der Bud- 
dhismus, Jainismus und Materialismus, sondern auch die dem 
Vedanta nahestehenden vishnuitischen und ^ivaitischen Systeme 
als heterodox betrachtet werden. 
4. Drei Arten der Prainäiia's. 
4. drisltfa))!, anumunam äpiavacanam ca, sarva-pramäna-siddha- 
tvät, 
trividham pramänam ishtam; prameya-siddhih pramänäd dhi. 
Wahrnehmung, Folgerung und Mitteilung, 
Weil diese alle übrigen befassen, 
Sind dreifach nur die Mittel des Erkennens, 
Und nur durch diese ist beweisbar alles. 
Wörtlicli: Wahrnehmung, Folgerung und richtige Mitteilung, 
so wird, weil |niit diesen dreien] alle Erkenntnismittel er- 
bracht sind, als dreifach das Erkenntnismittel angenommen, 
denn die Erbringung [alles] dessen, was zu beweisen ist, ist 
[nur] durch das [entsprechende] Erkenntnismittel möglich. 
^^'ährend die verschiedenen Philosophenschulen bald mehr 
bald weniger als drei Pramäna's zählen, erkennt das Sän- 
khyam deren drei an: 1. die Walirnehmung (pratijaJcsJiam), 
hier dr ishtam genannt, 2. die Folgerung (aniimänam), welche 
aus dem Wahrgenommenen auf Nichtwahrgenommenes schliefst, 
3. die richtige Mitteilung (äpiavacanam)^ unter der hier die 
Offenbarung des Veda verstanden wird. In den Zusätzen am 
Ende der beiden Verszeilen möchten wir, damit nicht beide 
Male dasselbe gesagt werde, den Sinn finden, dafs nicht mehr 
und nicht weniger als drei Pramänas angenommen werden 
dürfen, nicht mehr, sarva-pramäna-siddliatvät, weil alle Pra- 
mäna's mit diesen dreien erbracht sind, und nicht weniger, 
prameya-siddhih pram,änäd dlii, denn jedes zu Beweisende 
(pramcyam) kann nur durch den ihm entsprechenden Beweis 
(pramänam) erbracht werden; daher keiner von den drei Pra- 
mäna's entbehrt werden kann, auch das dritte, die Schrift- 
offenbarung, nicht, sofern auch das-Sähkhyam zwar keinen 
Gott (i^vara)^ aber doch die vedischen Götter (devähj, von 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, m. 27 
418 I^iß Sänkhya-Kärikä des I^varakrislina. 
denen wir nur durch Schriftoftenbarung wissen, als eine höhere 
Klasse von Wesen wenigstens der Theorie nach bestehen läfst 
(vgl. unten, Vers 53). 
5. Erklärung^ der drei Pramäna's. 
5. prativishaya-adhyavasäyo drisJitum . trividham armmänam aMiyä- 
tam; 
ial linga-Vnigi-imrvakam . äpta-grutir äptavacanam ca. 
Die Wahrnehmung bleibt beim Objekte stehen. 
Die Folgerung heifst dreifach, und sie setzt 
Voraus ein Merkmal und den Merkmalsträger. 
Mitteilung ist ein rechtverstand'nes Schriftwort. 
'o 
AVörthch: Das Stehenbleiben bei dem jedesmaligen Objekte 
heifst Wahrnehmung. Die Folgerung wird als dreifach ge- 
lehrt, und sie hat zur Voraussetzung ein Merkmal und den 
Träger des Merkmals. Die richtige Mitteilung besteht in einem 
richtigen (d. h. richtig verstandenen) Vedawort. 
Der Vers erklärt die drei Erkenntnismittel: 1, drisJitam ist 
das Stehenbleiben bei dem jedesmaligen Objekte im Gegen- 
satze zu antiniänam, der Folgerung, welche über das wahr- 
genommene Objekt hinausgeht, um aus ihm Nichtwahr- 
genommenes zu erschliefsen. 2. Als eine solche Folgerung 
ist anumännm dreifach, a) pürvavat, an das Vorhergehende 
sich haltend, der Schlufs von der Ursache auf die Wirkung, 
z. B. aus dem Heraufziehen von Wolken auf Regen ; b) geshavat, 
an das Nachfolgende sich haltend, der Schlufs von der Wir- 
kung auf die Ursache, z. B. von dem Angeschwollensein der 
Flüsse in der Ebene auf Regen im Gebirge; c) sämänyato 
drishtam, die Erkenntnis aus der Gleichartigkeit, der Schlufs 
aus Analogie, z. B. wenn wir sehen, dafs Caitra (Caius) seinen 
Ort verändert, weil er sich bewegt, und aus Analogie damit 
schliefsen, dafs auch die Gestirne, da sie ihren Ort verändern, 
sich bewegen müssen. (Die Erklärung nach dem Kommentar 
zu Nyäya-Sütra I, 5, da Gaud. verworren ist und Väc. sich 
in Subtilitäten verliert, vgl. oben S. 3(37.) — Jedes anmnänam 
setzt zweierlei vorijius, erstlich ein Ungarn, ein Merkmal, aus 
welchem ich folgere, und zweitens einen Jif/gin, den Träger des 
I. Einleitung. 41<) 
MorkmalsJ, dessen Existenz ich aus dem Merkmale erschliefse. 
So gelani>;t, um uns an das übliche 8chulboispiel anzuschlicfsen, 
der einsame Wanderer an den Fufs eines Berges und überlegt, 
ob dort oben Menschen sein mögen, bei denen er Nahrung 
und Unterkunft finden wird. Da sieht er auf dem Berge Rauch 
aufsteigen und schliefst daraus, dafs auf dem Berge Feuer 
und mithin auch Menschen sich betinden werden. Hier ist 
der wahrgenonnnene Rauch das lifu/ani, das aus ihm er- 
schlossene Feuer der lirujin. So sind in den oben angeführten 
Beispielen die Wolke, der angeschwollene Flufs, die Orts- 
veränderung der Sterne Ungarn, und der bevorstehende Regen, 
der im Gebirge gefallene Regen und die Fortbewegung der 
Sterne der entsprechende Inigin. 
fi. Beschränkter Gebrauch des dritten Erkenntnismittels. 
6. sämäni/atas tu drishtäd athidriyändm pratUir anumändf, 
tasmäd api ca asiddham parolcsham äpta-ägamat siddham. 
[Für alles Dunkle ist die Schrift nicht Quelle] 
Vielmehr erschliefst man auch das Unsichtbare 
Durch Folgern, nämlich durch Analogie, 
Und nur was auch durch diese nicht erreichbar, 
Das Transscendente, ruht auf Offenbarung. 
Wörtlich: [Der Gebrauch des dritten Erkenntnismittels darf 
nicht auf alles Nichtwahrnehmbare ausgedehnt werden;] viel- 
mehr erfolgt die Erkenntnis des über die Sinne Hinausliegenden 
durch anumänam, nämlich durch sämänyato drishtam [Analogie, 
welche die dritte Unterart des amimdnam war]. Nur was auch 
durch dieses [die Analogie] nicht beweisbar ist, das Trans- 
scendente, wird aus richtiger [d. h. richtig verstandener oder 
angewandter] Schriftüberlieferung erwiesen. 
Das Wort tx (vielmehr) deutet an, dafs hier eine Gegen- 
behauptung widerlegt wird. Diese besteht, wie wir abweichend 
von Vac. annehmen, in der Behauptung, dafs alles, was nicht 
auf Wahrnehmung oder auf Folgerung aus W^ahrgenommenem 
als seiner Ursache (pürvavai) oder seiner Wirkung (geshavat) 
beruhe, mir aus Schriftotfenbarung geschöpft werden könne. 
Dem ist nicht so, sagt unser Autor, vielmehr gibt es zwei 
27* 
420 I^iß Sänkhya-Kärikä des I^vaiakrishna. 
Arten von Übersinnlichem, die hier als atmdriyam und xmro- 
lisham unterschieden werden. Die erste Art, das Atmdriyam, 
befafst Gegenstände, welche weder als drishfam noch als pürva- 
vat oder cesliavat der empirischen Realität angehören und 
doch derselben als unerläfsliche Voraussetzungen dienen. Von 
dieser Art sind namentlich die PrarJciti und der PurusJia. 
Diese werden durch die dritte Art des Anumänam, nämlich 
durch SämänyatodrisJitam erschlossen. Dieses, „das aus der 
Gleichartigkeit Ersehene", ist nicht die Induktion, welche aus 
den einzelnen Fällen ein allgemeines Gesetz zu gewinnen 
sucht, sondern (wie vor Garbe auch jederzeit angenommen 
wurde) die Analogie, welche eine einzelne, aber nicht wahr- 
nehmbare Tatsache aus der Gleichartigkeit anderer Tatsachen 
erschliefst. So erschliefse ich aus der Tatsache, dafs meine 
Mitmenschen alle sichtbaren, körperlichen Merkmale mit mir 
gemein haben, die nicht wahrnehmbare Tatsache, dafs sie 
ebenso wie ich eine Seele, einen Purusha besitzen. Ebenso 
wird das Dasein der Prakriti durch Analogie erschlossen, wie 
sich in Vers 8 zeigen wird. — Nur dasjenige, was weder 
durch drisJdam, pürvavad anumänam, geshavad anumänam^ noch 
endhch auch durch sämänyato drisJdam erkennbar ist, das 
Transscendente (parohsham) mufs auf Kredit der vedischen 
Überlieferung (ägama) angenommen werden, diese aber mufs 
äpta, „richtig", d. h. in richtiger Weise verstanden oder an- 
gewandt sein. 
r 
11. ontologie 
oder die Lehre von den drei Grundprinzipien: Vyaktam, 
Avyaktam und Purusha. 
Vers 7—21. 
a) Vyaktam und Avyaktam. 
7. Acht (iriinde, aus denen eine Sache unerkennbar sein kann. 
7. atiduräf, samipyäd, indrii/a-ghäfän, mano-'navasthüncd, 
smikshmijäd, vyavadhcuiäd, abhihhavät, samäna-ahhihärac ca. 
Zu grofse Ferne und zu grofse Nähe, 
Der Sinne Störung, Unstetheit des Manas, 
Feinheit, Dazwischentreten, Übei'täubung, 
Vermischung mit Gleichart'gem: das sind Gründe 
[Durch welche etwas unerkennbar sein kann]. 
Als Beispiele für diese acht Gründe, aus denen eine Sache 
unerkennbar sein kann, führt Gaudapäda folgende an: 
1. Zu crofse Ferne: Personen in einem andern Lande. 
2. Zu grofse Nähe: Die Salbe des Auges, 
o. Störung der Sinne: Taubheit, Blindheit. 
4. ünstetheit des Manas: Unaufmerksamkeit. 
b. Feinheit: Die Feinteile von Rauch, Dunst, Feuchtig- 
keit, Nebel, wenn sie in der Luft zergehen. 
t). Dazwischentreten: Gegenstände hinter einer Wand. 
7. Übertäubung (wörtlich: l'berwältigungl : Die Sterne 
beim Tageslichte. 
422 I^JG Sänkhya-Kärikä des igvarakrislina. 
8. Vermischung mit Gleichartigem: Die einzelne 
Bohne, Wasserlilie, Myrobalanenfrucht, Taube, in einer Menge 
von dergleichen. 
8. Aus welchem dieser Gründe ist die Prakriti unerkennbar, und ytic 
vrird sie erkannt? 
8. saulislimyäi tad-ronipalabdliir, na abluwät; Mri/atas tad-upa- 
labdheh, 
tac ca maliad-ädi häryam prahriti-virüpam sarüpam ca. 
\\^eil sie zu fein ist, ist sie unwalirnehmbar, 
Nicht, weil sie nicht ist, denn sie wird ersehen 
Aus ihrer Wirkung, die vom Grofsen anfängt, 
Teils gleich, teils ungleich mit der Urnatur. 
Wörtlich: Wegen ihrer Feinheit ist ihre [der Prakriti] Un- 
wahrnehmbarkeit, nicht wegen ihres Nichtseins, weil sie wahr- 
genommen wird aus ihrer Wirkung; und diese Wirkung ist 
der Mahan und die folgenden [Ahankara, Tanmatra's, Bhüta's, 
Manas und Indriya's], welche mit der Prakriti [einerseits] 
ungleichartig und [andererseits] gleichartig sind. 
Inwiefern „die Wirkung", d. h. das Vyakiam mit der 
Prakriti ungleichartig ist, sagt Vers 10, inwiefern es mit 
ihr gleichartig ist, Vers 11. Vorher aber wird in Vers 9 
das für die Sänkhyalebre wichtige Dogma begründet, dafs die 
Wirkung schon vor ihrem Ursprünge real vorhanden war 
(sat-l-drya-väda), nämlich in Gestalt ihrer Ursache. Diese 
Lehre würde schon im gegenwärtigen Verse angedeutet werden,, 
wenn man mit einer weniger beglaubigten Lesart svarüpam 
(eigene Wesenheit habend) statt sarüpam lesen wollte. 
0. Fünf Gründe dafür, dafs die Wirkung- schon vor ihrem Ursprünge 
real vorhanden war, nämlich als Ursache. 
9 . asad-aJcaranäd, upädäna-grakanät, sarva-sambJiava-ahhäväi. 
gahtasya gakya-Jcaranät, härana-bliäväc ca sat liäryam. 
Was nicht ist, kann nicht werden, was geworden 
Ist Stofi' nur, und nicht alles kann entstehn, 
Nur Könnendes bewirkt Gekonntes, folglich 
War Wirkung, eh' sie war, schon da als Ursach' 
II. ontologie. 423 
^^'örtlic■h: Weil, was nicht ist, auch nicht gemacht werden 
kann, weil [das Produkt nichts weiter als] den Stoff in sich 
enthält, weil nicht alles [Beliebige] entstehen kann, weil nur 
das, was dazu fähig ist, hervorbringen kann, wozu es fähig 
ist, und weil [das Produkt schon] in Gestalt seiner Ursache 
vorhanden war, — darum ist das Produkt [schon vor seinem 
Entstehen] ein seiendes. 
Das Produkt (die Wirkung) ist nach dem Sänkhyasystem 
schon vor seinem Entstehen real vorhanden, sofern es schon 
in seiner Ursache präformiert liegt. So ist schon vor seinem 
Entstehen der Krug vorhanden als Ton, das Gewebe als die 
Fäden oder, um diesen indischen Beispielen ein modernes 
anzureihen, die Statue liegt schon fertig im Marmorblock und 
braucht nur herausgeholt zu werden. Für diesen Lehrsatz 
führt imser Vers fünf Gründe an, von denen der dritte mit 
dem vierten, der zweite mit dem fünften sich so nahe be- 
rührt , dafs die scharfe Abgrenzung gegen einander einige 
Schwierigkeit macht. Wir stellen des bessern Kontrastes 
wegen o mit 4 und 2 mit 5 zusammen. Die Wirkung (Mn/am) 
ist seiend (sat), auch bevor sie in die Erscheinung trat, aus 
folgenden Gründen: 
1. weil ein Nichtseiendes sich nicht machen läfst, nach 
indischer Anschauung nicht Subjekt der Tätigkeit des Ge- 
machtwerdens sein kann; 
3. weil nicht alles, sondern immer nur Bestimmtes ent- 
stehen kann, nämlich das, was in der Ursache präformiert liegt; 
4. weil nicht alles imstande ist, eine bestimmte Wirkung 
hervorzubringen, sondern nur das, was zu dieser Hervor- 
bringung befähigt ist; 
2. weil das Produkt nur den Stoff, aus dem es besteht, 
in sich befafst, nur dieser Stoff selbst ist; 
5. weil das Produkt schon vor seinem Entstehen in der 
Form seiner Ursache vorhanden war. 
10. Xf'un rntersclilede des Vjaktam (Oflfenbareu) und Avyaktaiii 
(ünoffenbaren). 
10. hetumad, miltyam, avtjäpi, saJcrlyam, anekcim, äp'itam, lingam, 
sävayavam. parataniram Vyaktam: viparHaru Avyaldam. 
424 I'iß Sänkhya-Kärikä des I^varakrishna. 
Bedingt, nicht ewig, überall nicht, tätig. 
Vielheitlich, angelehnt, Merkmal, verbunden. 
Abhängig, so ist das Entfaltete, — 
Das Unentfaltete das Gegenteil. 
Das ÄvyaJitdm (das Unoffenbare, Unentfaltete) ist die Pra- 
Jiriti, unter dem Vyaldam (Offenbarem, Entfaltetem) sind alle 
weitern Glieder der Emanation, Buddlii, Alumhära, Tanmätra's 
und Bhüta's, Manas und Lulrit/as, zu verstehen. Alle diese 
unterscheiden sich von dem AvyaMam in neun Punkten: 
1. sie sind hetumat, verursacht, die Prakriti ist ursachlos; 
2. sie sind anityam, nicht ewig, nur bis zur Erlösung die 
Seele begleitend, die Prakriti allein ist ewig; 
3. sie sind avyupiu, nicht allgegenwärtig, an einen be- 
stimmten Ort gebunden, die Prakriti ist die allgegenwärtige, 
in jedem Einzelwesen ganz vorhandene Urmutter der Wesen; 
4. sie sind saJcriya, tätig, d. h. bestimmte Funktionen 
übend, die Prakriti ist zwar allwirkend, aber doch ohne der- 
artige Funktionen; 
5. sie sind aneka, der Zahl nach viele, nämlich dreiund- 
zwanzig in jedem Menschen, die Prakriti ist, obgleich allgegen- 
wärtig, doch eine absolute Einheit; 
ß. sie sind ägrita, sich lehnend, nämlich auf die Prakriti, 
auf der sie ihrem ganzen Bestehen nach beruhen, während 
die Prakriti selbst auf nichts anderes gegründet ist; 
7. sie sind liilga, entweder (nach Gaud.) = Hin -\- ga 
,, vergänglich", nicht in Ewigkeit hinein, wie sie nach 2. nicht 
von Ewigkeit her sind, oder (nach Väc.) sie sind „ein Merk- 
mal", aus welchem auf die Prakriti als linyin, Träger des 
Merkmals, geschlossen wird; 
8. sie sind sa-avayava, „verbindunghaft, verbunden", sei 
es mit ihren Funktionen (Gaud.) oder unter einander (Väc), 
während die Prakriti nicht mit ihren Produkten in Verbindung 
steht, sondern ihnen allen immanent ist; 
9. sie sind ^xiratantra , abhängig, nämlich jedes Glied 
der Entwicklung von dem vorhergehenden und im letzten 
Grunde alle vpn der Prakriti, welche allein von nichts anderm 
abhängt. 
II. ontologie. 42;") 
Die drei Eigenschaften hdumat, ärritam, i)arata)itrcmi be- 
rühren sich sehr nahe und scheinen sich zu einander zu ver- 
halten wie Schöpfung, ErhaUung und Regierung. 
P 11. Sechs unterscheidende Eigenschaften des V.vaktam and Av,vaktam 
vom Piirusha. 
11. irigunani, atüveJci, vishayah. säniänyam, acetaimm, prasava- 
P dharmi 
Vyaliam, tafJtä PradJiänam: tad-viparitas tathu ca Piimän. 
Dreigunahaft, nicht unterscheidend, Objekt, 
Gemeinsam, unbewufst und zeugungsartig 
Sind die Produkte und die Urnatur, 
Beide im Gegensatz zum Purusha. 
^ Im Gegensatze zu den neun Unterschieden zwischen 
Produkten und Prakriti haben beide sechs Bestimmungen 
gemeinsam, durch die sie sich vom Purusha unterscheiden: 
1. beide sind triguna, da alles Gewordene sich als Pro- 
dukt dreier Faktoren erweist, welche als solche aus der 
Prakriti stammen und deren Wesen ausmachen ; der Purusha 
allein ist frei von den Guna's; 
2. beide sind avivekin, „nicht scheidend", nämlich zwischen 
sich selbst und dem Purusha, welcher allein zum Viveka^ der 
Unterscheidung seiner selbst von allem Objektiven, gelangen 
kann, worin eben die Erlösung besteht; 
3. beide sind vishaya, Objekt, im Gegensatze zum Purusha, 
welcher nur Subjekt ist, womit freilich die vom Sänkhyam 
angenommene Vielheit der Purusha's im Widerspruch steht, 
wovon später: 
4. beide sind sämänya, gemeinsam; im Gegensatze zu 
meinem Purusha, welcher nur mir und nie einem andern 
eigen ist, breitet sich die objektive Welt vor allen gleich- 
mäfsig aus und ist insofern ebenso wie die Prakriti, auf der 
sie beruht, allen Purusha's gemeinsam; 
5. beide sind acetana, unbewufst, im Gegensatze zum 
Purusha; also nicht nur die Prakriti, trotz des ihr ein- 
wohnenden saUvatn, sondern auch das Vyaktam, obgleich 
42() Die Säiikhya-Kärikä des l^varakrishna. 
Buddh/, Manas und Indriyas ihm angehören, ist ohne die 
Durchleuchtung des Purusha ohne Bewufstsein (cefauä); 
(). beide sind prasavadharmin, zeugungsartig, die Prakriti, 
sofern sie zeugt, die folgenden Glieder der Evolution, sofern sie 
teils zeugen, teils gezeugt werden, im Gegensatze zum Purusha. 
Die letzten Worte des Verses werden gewöhnlich erklärt: 
„Beiden entgegengesetzt (in bezug auf die sechs Eigenschaften 
Vers 11) und ebenso (wie die Prakriti, nämlich in bezug auf 
die Eigenschaften Vers 10) ist der Purusha." Aber ein solches, 
unbestimmtes Zurückweisen auf Vers 10, welches überdies 
nur auf einen Teil der dort genannten Eigenschaften der 
Prakriti zutreffen würde, da der Purusha nicht clca ist, ist 
sehr wenig wahrscheinlich. Eher könnte man, innerhalb des 
Verses 11 bleibend, hier den Gedanken finden, dafs dem 
Purusha nicht schlechthin alle die genannten fünf Eigen- 
schaften abzusprechen sind, da auch er gewöhnlich aviveliin 
ist und den 'olveka erst bei der Erlösung erlangt. — Besser 
als dies alles ist es, in tatliä ca einen Gegensatz zum vorher- 
gehenden tad zu finden und zu übersetzen: „jenem (dem 
oyahtani) entgegengesetzt und ebenso [diesem, nämlich der 
Prakriti] ist der Purusha." 
12. Erklärung der Vers 11 als Bestimmungen des Vj aktam und Avyaktam 
erwähnten Guna's nach Wesen, Zweck und Verrichtungen. 
12. jmti-iqmti-vishäda-ätmaJcäh, praliära-iwavritti-n iyama-arthäh 
tmyonya-ahhihhava-ärraya-janana-mithima-vn^^ ca gunäh. 
Lust, Unlust, Stumpfheit als ihr Wesen habend, 
Als Zweck Erleuchtung, Antrieb, Hemmung hahend, 
Sich gegenseitig unterdx'ückend, stützend, 
Erzeugend und sich paarend sind die Guna's. 
Die drei Guna's, von frühern als Qualitäten, von Garbe 
richtiger als Konstituenten aufgefafst, entsprechen etymo- 
logisch und sachlich am ersten unserm Ausdrucke „Faktor"« 
Der älteste für uns erreichbare Stammvater des Wortes dürfte 
(jantty „die Schar", sein, davon ganayati, „zählen"; davon, 
durch Verdunkelung des a, gimayaU, „multiplizieren"; davon 
II. ontologie. 427 
ih'ignna, friijnna usw., ,, zweifach", „dreifach", und von diesen 
erst (juna^ ^der Faktor", dalier das Subsidiäre, Nebensäch- 
liche, der einzelne Faden im Strick, die Eigenschaft im Gegen- 
satze zur Substanz als Hauptsache usw. — Es ist dem Sähkhyam 
wesentlich, die Welt und alles in ihr als das Produkt der 
drei Faktoren Satfva)n, Jkij<ts und Tanias aufzufassen; daher 
diese Faktoren schon der Prakriti, wenn auch in unentfal- 
tetem Zustande, einwohnen; die Prakriti ist nur, nach dem 
tretenden Ausdrucke des Tankara, der Gleichgewichtszustand 
(mmiia-avasihd) der drei Faktoren, aus dessen Störung die 
ganze entfaltete Welt sich entwickelt. Alle Dinge in der Welt 
sind das Produkt dieser drei Faktoren. Freilich werden sie 
dabei von einem streng subjektiven Standpunkte aus betrachtet, 
denn, wie unser Vers besagt, ist seinem Wesen nach Sattvam 
dasjenige an den Dingen, was mir Lust, Majas, was mir 
Schmerz verursacht, und Tamas dasjenige, was nicht fähig 
ist, mich aus meiner Indolenz (vishäda) aufzurütteln. Darum 
ist, wie der Vers weiter sagt, der Zweck des Sattvam, mich 
zu erhellen, in eine aufgeräumte, sonnige Stimmung zu ver- 
setzen, der Zweck des Bajas;, vermöge des ihm einw^ohnenden 
l'nbehagens, mich anzutreiben, der Zweck des Tamas, ver- 
möge der ihm wesentlichen Indolenz meine Tätigkeit zu 
hemmen. Zu einander verhalten sich, wie die zweite Vers- 
hälfte besagt, die Guna's so, dafs sie im Kampfe ums Dasein 
sich gegenseitig überwältigen, unterstützen, hervorrufen und 
mit einander verbinden. 
13. Eigenschaften der Guna's. 
1 3. saüvam lafjhupraliärahamishtam, iipastamhhaliam calam carajah^ 
(juru varanal'am eva tamah ; pradipavac ca artJiafo vrittih. 
Das Sattvam gilt als leicht und als erhellend, 
Das Rajas als antreibend und beweglich, 
Das Tamas gilt als schwer und niederhaltend. 
Wie eine Lampe wirken sie zum Zweck hin. 
Nachdem der vorige Vers das Wesen (ätman) und den 
Zweck (artha) der drei Guna's bestimmt hat, folgen jetzt die 
Eigenschaften derselben. Wir fassen beides zusammen: 
428 l^ie Säukhya-Kärikä des Igvarakiishna. 
1. Das Sattvam (Güte) ist seinem Wesen nach dasjenige 
in den Dingen, was in uns Zufriedenheit (priti) erregt; es 
ist leicht (nicht lastend) und aufhellend, und Aufhellung ist 
sein Zweck; 
2. das Bajas (Leidenschaft) ist dasjenige in den Dingen, 
was in uns Unzufriedenheit (aprUi) erregt; es ist antreibend 
und (um dieses zu sein, selbst) beweglich, und Antrieb ist 
auch sein Zweck; 
3. das Tamas (Finsternis) ist dasjenige in den Dingen, 
was uns in Indolenz (vishäda) beläfst; es ist schwer (unsere 
Gemütsregungen niederhaltend) und hemmend, vmd dieses 
Hemmen ist sein Zweck. 
Das Auffallende an dieser Theorie besteht darin, dafs die 
drei psychischen Faktoren Zufriedenheit, Unzufriedenheit und 
Gleichgültigkeit hier in die Dinge der Aufsenwelt verlegt 
werden und deren ganzes, schon der Prakriti einwohnendes 
"Wesen ausmachen, wobei die Tatsache, dafs derselbe Gegen- 
stand dem einen Zufriedenheit, dem andern Unzufriedenheit 
und einem dritten Gleichgültigkeit verursacht, nicht genügend 
zu ihrem Rechte kommt. Aber im Sähkhyasystem ist jeder 
Purusha von einer eigenen Welt umgeben, welche aus dem 
ihn umfangenden psychischen Apparate (Buddhi, Ahankära, 
Tanmätra's) für ihn speziell hervorwächst. Nimmt man mit 
dem spätem Sänkhyam (in der Kärikä tritt dieser Gedanke 
noch nicht deutlich hervor) eine allen gemeinsame Aufsen- 
welt an, so mufs man sich damit helfen, dafs alle drei 
Guna's jedem Dinge einwohnen, welches dem einen diese, 
dem andern jene, ja auch mir selbst heute diese und morgen 
jene Seite zukehrt. — Die letzten Worte des Verses ver- 
gleichen, wie es scheint, Sattvam, Eajas und Tamas mit 
Flamme, Öl und Docht einer Lampe, und dieser Vergleich 
wird wohl nicht unerheblich mitgewirkt haben, um die Guna- 
lehre in der Philosophie einzuführen und zu erhalten. 
II. ontologie. 429« 
14. Karliwcis der übrijren Vers 11 g'enannton Kig'ensrhal'ten (avirekin, 
inshaya, sämänim, acetuna, jiratKirtullKirnn») erstens für (las Vjaktaniy 
zweitens für das Avjaktam. 
14. avircJii-äileh siddJiis iniigiinydt, iad-viparyaya-ahhäväi; 
lairana-ynua-äimalaivdt liäryasya, uvyaldam apl siddham. 
Weil aus drei Guna's und nichts sonst bestehend, 
Sind sie nicht unterscheidend und so weiter. 
Weil das Produkt der Ursach' gleich an Wesen, 
Ist aus ihm auch die Urnatur bestimmbar. 
^\"ö^tlicll: Der Beweis dafür, dafs avivehin und die folgenden 
(Vers 11 aufgezählten Eigenschaften, also: avivekin^ nicht 
unterscheidend, vishaya^ Objekt, sämänya, gemeinsam, acctanaj 
unhewufst und prasavadliarmin , zeugungsartig, dem Vyaktam 
zukommen], folgt daraus, dafs es [das Vyaktam] trigunam, 
dreigunahaft, ist, und dafs [einem dreigunahaften] das (kontra- 
diktorische) Gegenteil jener [fünf Eigenschaften, also die Eigen- 
schaften: unterscheidend, Subjekt, nicht gemeinsam, bewufst^ 
nicht zeugungsartig zu sein] nicht zukommt; daraus, dafs die 
AMrkung dieselben Eigenschaften hat wie die Ursache, ist 
auch das Avyaktam [als jene Eigenschaften, woiveTcin usw. be- 
sitzend] erwiesen. 
Die erste Vershälfte besagt einfach nur, dafs die den 
Purusha charakterisierenden Eigenschaften, unterscheidend, 
Subjekt, individuell, geistig und zeugungslos zu sein, keinem 
Dreigunahaften, folglich auch nicht dem Vyaktam zukommen. 
Die zweite Vershälfte spricht die genannten fünf Eigenschaften 
des Vyaktam auch dem [seiner Existenz nach schon Vers 8 
läryatas iad-upalahdheh aus dem Vyaktam erschlossenen} 
Avyaktam zu, weil die Wirkung dieselben Eigenschaften habe 
wie die Ursache, w^as, in dieser Allgemeinheit ausgesprochen, 
allerdings mit Vers 10 in Widerspruch steht. 
Statt aviveki-ädeh siddhis lesen manche aviveki-ädih siddhas, 
was auf dasselbe hinausläuft, wenn man zu dem Adjektivum 
aviveki-ädih ein Wort wie yanah ergänzt. 
430 ^^^ Sänkhya-Kärikä des iQvarakrishna. 
15. Gründe dafür, dafs das Avyaktam Ursache ist und 
16. Art, wie sicli dasselbe manifestiert. 
15. hhedändm parimänät, samanvayät, gaktitaJi pravritteg ca, 
Jcärcma-Mrya-vibJi ägäd, av ibh äga d vaigvarüpasya 
16. Mrcmam asti avyaläam. jorafar^aYe irigunakih samudayäc ca, 
parinämafah salüa-vcd, pratipratirpma-ägraya-vi(;eshät 
15. Weil alles Einzelne begrenzt, weil es 
Gleichartig, weil's aus einer Kraft hervorgeht, 
Weil Ursache und Wirkung nicht gleichartig, 
Gleichartig aber alles Weltsein ist, 
16. Drum mufs als Ursacli' das Avyaktam gelten. 
Durch die drei Guna's, durch Gesamtentwicklung 
Wirkt es sich aus, wie Wasser sich umwandelnd. 
Je nach verschied'nem Stützen auf die Guna's. 
Der erste Vers beweist, dafs die Weltursache nicht in 
irgendeinem Vyaktam, sondern in dem Avyaktam gesucht 
werden mufs, aus vier Gründen: 
1. Niedänäm parimänät, die Einzeldinge eignen sich nicht 
zur Weltursache, weil sie begrenzt sind, die Weltursache aber 
unbegrenzt sein mufs; 
2. samanvayät, wegen der Analogie; alles Entwickelte ist 
als solches analog und daher zur Weltursache nicht tauglich; 
3. gahtitah pravritteh, weil alle Einzeldinge aus einer Kraft 
hervorgehen, können sie nicht diese Kraft selbst sein; 
4. Jcärana-kärya-vihhägäd, avibhägäd vaigvarüpasya, weil alle 
Einzeldinge, deren Summe das Universum (vaigvarüpam) aus- 
macht, alle gleichartig, sekundär, entstanden sind, darum kann 
keines von ihnen die Weltursache sein, denn diese ist von 
allen ihren Erscheinungen vorschieden. 
Die weitern Worte schildern die Art, wie die Weltursache 
sich zur Welt entwickelt. Sie entwickelt sich vermöge der 
drei Guna's, die aus ihrem Gleichgewichtszustand heraustreten, 
und samudayät, wörtlich „vermöge einer Co-Evolution", näm- 
lich der drei Guna's. Die Umwandlung der Guna's in die 
Einzeldinge geht dabei nur so weit wie die des Wassers, 
welches immer Wasser bleibt, auch wenn es in Eis oder 
II. ontolojiie. 431 
Dampf sich unnvandelt. Hierbei stützt sich die sich entfaltende 
Natur in verschiedener Weise bakl auf diesen, bakl auf jenen 
der drei Guna's. 
b) Der Purusha. 
17. Gründe für die Existenz des Purusha. 
1 7 . s(nii(fhä(a-p((r(i-arthafvät, tr/f/Hua-ädi-vipari/ai/dd, adhishthäncd 
purushosti hhohtri-bhävät, haivalya-artham pravrittcx ca. 
Als der, für den das Aggregat besteht, 
Als Gegenspiel der Guna's, als Regierer 
Mufs sein der Purusha, auch als Geniefser, 
Und weil der Weltgang auf Loslösung abzweckt. 
Der Purusha ist zwar als Subjekt des Erkennens in uns 
nie wahrnehmbar, nie als Objekt gegeben, aber seine Existenz 
ergibt sich aus folgenden fünf Gründen: 
1. santuhdta-jxira-arthatvdt, „weil ein Aggregat um eines 
andern [Xichtaggregates] willen da ist"; alles Objektive ist 
ein Aggregat aus den drei Guna's; als solches setzt es einen 
andern voraus, um dessen willen es aggregiert worden ist; 
2. iriguna-ädi-vipm-yayädy „weil [die in Vers 11 genannten 
Eigenschaften] trigima usw. [ dreigunahaft, nicht unterscheidend, 
Objekt, gemeinsam, unbewufst, zeugungsartig] ein Gegenspiel 
haben müssen", indem z. B, ein Objekt nichts ist ohne ein 
gegenüberstehendes Subjekt; 
3. adhishthänät, „weil ein Vorsteher sein mufs", der bei 
der ganzen Weltentwicklung als derjenige, für den sie statt- 
findet, an ihrer Spitze steht; 
4. hholdri-hhävät, „weil ein Geniefser sein mufs"; alles 
besteht aus den drei Guna's, diese sind ihrem Wesen nach 
Lust, Schmerz und Apathie, und dieses ihr Wesen setzt einen 
Empfindenden von Lust, Schmerz und Apathie voraus; 
5. JcaivaJya- artharn pravriüeh, ,,weil die Weltentwicklung 
stattfindet um der Erlösung willen", nämlich der Erlösung 
von Lust, Schmerz und Apathie; und da diese das Wesen 
alles objektiven Seins ausmacl>en, so mufs es ein von ihm 
und den Guna's Verschiedenes geben, welches von ihnen los- 
gelöst werden kann. Dieses ist der Purusha. 
432 Die Säiikhya-Kärikä des Igvarakrishna. 
IS. Gründe für die Vielheit der Piirusha's. 
18. janma-marana-karanänäiH praÜniyamäd, ayugapat pravritteg ca 
puruslia-bahutvani siddham, traigunya-viparyayäc ca eva. 
Weil einzeln sind Geburt, Tod und Organe 
Und weil sie einzeln sich betätigen nur, 
Sind in der Vielheit Purusha's vorhanden; 
Auch weil sie der Dreigunawelt entgegen. 
Die Vielheit der Purusha's ergibt sich aus drei Gründen: 
1. janma- marana -kara iHinäm praHniyamäd, „weil Geburt, 
Tod und Organe einzeln verteilt sind"; gäbe es nur einen 
Purusha, so gäbe es auch nur ein Wesen, welches geboren 
wird, stirbt und Organe hat, was der Erfahrung widerspricht; 
2. ayugapat pravritteg ca^ „und weil die Betätigung nicht 
gleichzeitig erfolgt", weil die Organe, wie die Erfahrung zeigt, 
bei dem einen tätig sind, während sie bei dem andern ruhen; 
3. traigunya-viparyayäc ca eva, „und eben auch wegen des 
Gegensatzes gegen das Dreigunahafte", d. h. gegen Vyaktam 
und Avyaktam, welche nach Vers 11 sämänya, „allen gemein- 
sam" sind; viparyaya in unserm Verse weist auf das dort 
gebrauchte viparUa zurück, daher das Wort eva. Wir müssen 
daher die Auffassung beider Kommentare „und wegen der 
Verschiedenheit der drei Guna's", von denen bald der eine, 
bald der andere in einem Individuum überwiege, für falsch 
halten, denn iraigimyam heifst nicht „die drei Guna's", son- 
dern „das Dreigunaartige", und viparyaya ist nicht soviel wie 
vigesha, sondern soviel wie viparyäsa im folgenden Verse, durch 
welches es wieder aufo-enommen wird. 
■o^ 
19. Warum dem Purusha avivehin usw. (Vers 11) abzusprechen. 
19. tasmäc ca yiparyäsät siddham sakshitvam asya purusliasya 
Jcaivalyam mädhyasthyam drashtritvam akartribhävag ca. 
Und wegen dieser Gegensätzlichkeit 
Ist dieser Purusha ein blofser Zeuge, 
Ist absolut und völlig unbeteiligt. 
Reines Subjekt und ohne Tätigkeit. 
Wie aus dem traigunyam für das Vyaktam nach Vers 14 
avivekin, vishaya, sämänya, acctana, prasavadharmin (Vers 11) 
IL ontologie. 43; 
folgte, so folgen aus dem trai<in}uia-v}iKüiiaya Vers 18 für den 
Purusha andere fünf Bestiramungon, welche, wenn auch nicht 
ganz genau, den genannten entsprechen. 
1. Das Vyaktam war acivckiii, der Purusha besitzt lial- 
C(iJi/iü)i, Loslösung, infolge des eingetretenen vivcJca (der er- 
lösenden Erkenntnis) ; 
'2. das Vyaktam war vishai/a, Objekt, dem Purusha kommt 
iiaL^h/tvaiii, das Zuschauersein, Subjektsein zu; 
3. das Vyaktam war sämänijani, gemeinsam, im Gegen- 
satze zu dem mädhijasthi/am, Unbeteihgtsein (wörtlich: dorn 
Stehen in der Mitte zwischen den Parteien) des Purusha; 
4. das Vyaktam war aeetanam, ungeistig, der Purusha ist 
der drashfri, der Sehende; 
5. das Vyaktam war prasavadharmin , zeugungsartig, der 
Purusha ist aJiartri, nicht tätig. 
'20. Folgen der Verbindung von Purusha und Lingam für beide. 
20. fasniät tüi-samyogäd aeetanam cetanävad iva Ungarn, 
(funa-kartritve ca, tatliä kartä iva hhavafi udästnah. 
Darum durch die Verbindung mit ihm wird 
Das ungeistige Lingam gleichsam geistig, 
Und, obwohl nur die Guna's Täter sind, 
Wird er, der müfsige, gleichsam zum Täter. 
Im Vedanta ist der Purusha oder, wie er dort heifst, der 
Atman, das allein Reale und nur von dem täuschenden Blend- 
werk der vielheitlichen Welt wie von einem Nebel umgeben, 
welcher verschwindet, sobald die Sonne der Erkenntnis auf- 
geht. Im Sänkhyam hat sich dieser Nebel zur Prakriti ver- 
dichtet, in welche der Purusha verstrickt ist, und von welcher 
er durch die Erkenntnis frei wird, ohne dafs man begreift, 
wie er in diese Verstrickung geraten ist, und wie er aus ihr, 
wenn sie anders eine reale sein soll, durch die blofse Er- 
kenntnis erlöst werden kann. — Das aus der Prakriti stam- 
mende Lingam, welches mit dem Purusha verbunden ist, 
besteht aus ßuddhi, Alianhära, 3Ianas und Indriya's, Tan- 
mätras und den Feinteilen der Bhida's. Infolge dieser Ver- 
bindung wird das ungeistige Lingam „gleichsam" geistig, 
Deussex, Geschichte der Philosophie. I,m. 28 
434 I^ie Sänkhya-Kärikä des Igvarakrishna. 
und der seinem Wesen nach tatlose Purusha wird dadurch 
„gleichsam" zum Täter. Dieses zweimalige „gleichsam" 
ist die Achillesferse des Sähkhyasystems und der Inbegriff 
der Unklarheit, welche demselben anhaftet. Vergebens sind 
spätere Schriftsteller bemüht, die Verbindung zwischen Purusha 
und Lihgam begreiflich zu machen durch die Theorie der 
doppelten Spiegelung, indem einerseits das Lihgam in dem 
Purusha, andererseits der Purusha in dem Lingam sich wider- 
spiegeln soll. Auch dieses Bild macht die Sache nicht klarer. 
Ist die Spiegelung keine reale Verbindung, so reicht sie nicht 
aus, um die Leiden des Daseins zu erklären, ist sie eine reale 
Verbindung, so genügt die Erkenntnis seiner Verschiedenheit 
nicht, um den Purusha aus ihr zu lösen. 
21. Zweck der Verbindung^ von Purusha und Prakriti. 
2\.purusliasyaäar^a}Ki-ariliam,T\awalya-artiiam,tcdhä-pradhänasya, 
pangu-andha-vad, nhhayor api samyogas. taf-Jcrifah sargah. 
Den Purusha zum Sehenden zu machen 
Der Prakriti, und ihn von ihr zu lösen, 
Verbünden, wie der Lahme und der Blinde, 
Die beiden sich, daraus entsteht die Schöpfung. 
Während samyoga im vorigen Verse die Verstrickung des 
Purusha in die Prakriti als letzten Grund des Unheils bedeutete, 
wird jetzt dasselbe Wort gebraucht, um das Bündnis zu be- 
zeichnen, welches Prakriti und Purusha eingehen, um jenes 
Unheil zu beseitigen, indem sie die ursprüngliche Verstrickung- 
lieben. Um dem Purusha zum Schauen der Prakriti und 
weiterhin (tathä) zur Loslösung von ihr zu verhelfen, ver- 
bünden sich Prakriti und Purusha wie der starke Blinde und 
der sehende Lahme, und daraus entspringt die Schöpfung. 
Das Bild, so ansprechend es ist, hilft doch nicht, das Dunkel 
aufzuhellen. Der Purusha kann nicht wie der sehende Lahme 
mittätig sein, den rechten Weg zu finden, und die Prakriti, 
wenn sie ohne Erkenntnis sein soll, ist auch nicht fähig, vom 
Piu*usha eine Direktive zu empfangen. 
III. Psychologie 
oder die Lehre von dem Hervorgehen des psychischen 
Komplexes (Lingam) aus der Prakriti. 
Vers 22—42. 
22. Hervorsrehen des Mahän usw. aus der Prakriti. 
22. pralxriter niahäns, tuto 'hanhäras, tasmäd gatmc ca shrx] amiiah. 
iasmäd api shodarakät pancahltijah paiica bhutäni. 
Aus Prakriti entspringt zunächst der Grofse, 
Aus ihm der Ichmacher, aus dem die sechzehn. 
Und unter diesen sechzehn sind es fünf, 
Aus denen die fünf Elemente werden. 
Aus der Prakriti geht hervor die Buddhi oder, vrie sie 
hier heifst, der Mahän: dieser Ausdruck findet sich zuerst 
Käth. Up. 3,10. 6,7 als mahän atmä. welcher dort noch um 
eine Stufe höher als die Buddhi steht, während er im Sänkhva- 
System völlio' mit ihr svnon\'m ist. Das häufige Vorkommen 
der Stammform in mahad-ädi hat dazu verleitet, von einem 
Mahad als Neutrum zu sprechen. Aber in den wenigen Stellen, 
wo, wie in unserm Verse, das Genus bestimmbar ist. findet 
sich unseres Wissens stets das Maskulinum mahän. (Wo ein- 
mal mahad allein vorkommt, ist tativam hinzuzudenken. | Aus 
diesem mahän, d. h. aus der Buddlii, dem kosmischen Intellekte, 
stammt der Ahankara, der Ichmacher, das Prinzip der Indi- 
viduation; aus ihm ,.die sechzehnfache Schar", d. h. einerseits 
das Manas mit den zehn Indriva's, andererseits die fünf Tan- 
raätra's und aus diesen fünfen die fünf Bhüta's. Die folgenden 
Verse erklären diese Begriffe im einzelnen. 
28* 
436 Die Sänkliya-Kärikä des igvarakiishna. 
23. Erkläningr der Buddhi (des Mahän). 
23. adhyavasäyo huddhir; dharmo jnänam viräga' aigvaryanif 
säftvikam ctad nqmm; tämasam asmäd viparyastum. 
Entscheidung ist die Buddhi; Pflicht, Erkenntnis, 
Entsagung, Herrschaft, diese vier au ihr 
Sind sattvara-artig, ihre Gegenteile 
Bestehn aus ihrem Anteil an dem Tanias. 
Da erst mit dem Ahankära, „dem Ichmacher", das Prinzip 
der Individuation einti'itt, so ist Buddhi vermöge ihrer Stellung 
in der Evolutionsreihe zunächst nichts Individuelles, sondern 
der Weltintellekt, die vernünftige Anordnung des Weltganzen, 
wie sie Voraussetzung jeder Einzelexistenz ist (der Brahmän, der 
Hiranyagarhha des Vedäntasystems). Hierauf deutet auch der 
andere Name Mahän, ursprünglich nicüiän ätmä, der grofse,, 
die Welt durchdringende Atman. Aher charakteristisch für 
das Sänkhyasystem und schon durch die Identifikation von 
Mahän und Buddhi bezeichnet ist die Auffassung, dafs die 
Buddhi nicht blofs kosmischer Intellekt ist, sondern zugleich 
als psychischer Faktor in das Lingam hereinbezogen wird. 
Im letztern, psychischen Sinne steht die Buddhi im Gegen- 
satze zum Manas. Das Manas hat zwei Funktionen: 1. Vor- 
stellungen zu bilden, 2. Entschlüsse zu formen. Im Gegen- 
satze dazu ist das Wiesen der Buddhi (nach der psychischen 
Seite hin) 1. die fertige Vorstellung, 2. die Willensentscheidung. 
Beides wird durch das AVort adhyavasäya (wörtlich: Fest- 
stellung) bezeichnet. Wie alles, was aus der Prakriti stammt, 
hat auch die Buddhi teil an Sattvam, Rajas, Tamas. Sofern 
sie aus dem Sattvam stammt (ihrem sättvikcDii rfipam nach), 
ist sie dharma, Erfüllung der religiösen Pflicht, jnänam, Er- 
kenntnis, viräga, Freiheit von Leidenschaften, airvaryam, Gott- 
herrhchkeit, wie diese sich durch den Besitz übernatürlicher 
Kräfte (der sogenannten siddhi's) bekundet. Sofern die Buddhi 
aus dem Tamas stammt, ist sie adharma, ajüänani, aviräga, 
anaigvaryam. Der Beitrag, welchen das Rajas zum Wesen der 
Buddhi liefert (und ohne den Durchgang durch die Buddhi 
könnte das Rajas nicht in die folgenden Stufen, Ahankära usw.^ 
gelangen), wird in unserm Verse übersehen, wodurch ein 
III. Psychologie. 437 
AN'ider.-jpriich 7x\ Vers 45 entsteht, wo ausdrücklich rCuja 
^=z (ivirdga) als rajas-artio; bezeichnet wird. Weiteres dort. 
•24—25. Erklärung des Abaukära; seine Nachkoninienschalt. 
24. (ihhhmhio liaFiläras; tasmad dviviclhah iiravartate sargalj : 
ckadaralar ca giwas, tanmatrah puncakar ca era. 
Aufsichbeziehung ist der Ahaükära, 
Zweifach ist die aus ihm entsprung'ne Schöpfung; 
Die eine ist die Schar der elf Organe, 
Aus den fünf Reinstoffen besteht die andre. 
Empirisch kennen wir den Intellekt nur als eine orga- 
nische Funktion individueller Wesen; in diesem Sinne ist der 
Intellekt bedingt durch die Individualität. — Andererseits ist 
die Vielheit der Individuen nur möglich durch die Ausbreitung 
der Welt in Raum und Zeit. Diese Ausbreitung aber setzt 
voraus einen ausbreitenden Intellekt; in diesem Sinne ist die 
Individualität bedingt durch den Intellekt. Im richtigen Ge- 
fühle dieser (nur scheinbar sich widersprechenden) Lage der 
Sache unterscheidet der Vedänta und ihm folgend das Sän- 
khyam den individuellen Intellekt (das empirische Sub- 
jekt des Erkennens) und den universellen Intellekt (das 
transscendentale Subjekt des Erkennens), welcher letzterer die 
Voraussetzung der Individualität ist. Daher entspringt erst 
aus der kosmischen Buddhi der Ahankära, wörtlich : „der Ich- 
macher", d. h. das Prinzip der Individuation, von welchem 
Manas und Indriya's, d. h. der individuelle Intellekt, abhängen. 
Aber befremdlich im Sähkhyasystem und nur aus seiner (oben 
I, 2, S. 21() fg. dargelegten) Genesis erklärbar ist es, wenn 
die liuddhi neben ihrer kosmischen Bedeutung doch auch 
wiederum als psychischer Faktor dem Lingam einverleibt wird, 
wo ihr dem Manas gegenüber die Vers 23 beschriebene sekun- 
däre Stellung zukommt (der adhi/arasapa der Buddhi ist 
sekundär gegenüber dem safdccdpa des Manas), während, nach 
der Evolutionsstufe zu urteilen, die Buddhi ursprünglicher als 
das Manas, das Festhalten , der Vorstellungen und \\'illens- 
entschlüsse ursprünglicher als das Bilden derselben sein müfste. 
— Zwischen Buddhi und Manas steht der Ahankära , dessen 
438 I^iß Sänklija-Kärikä des icjvarakrislina. 
Funktion der abliimäna {\on ahhi + "'«» auf etwas hindenken, 
seine Absicht auf etwas richten), die „Aufsichbeziehung", die 
Betrachtung der Dinge nicht mehr rein objektiv, sondern 
unter dem Gesichtswinkel der persönhchen Interessen und 
Absichten ist. In der Tat ist der wahre Unterschied zwischen 
universellem und individuellem Intellekte nur der, dafs letz- 
terer die Dinge nicht mehr rein objektiv, sondern unter dem 
Gesichtspunkte des abhimäna, d. h. des individuellen Interesses 
betrachtet. 
Aus dem Ahafikara (dem individuellen Willen), welcher 
alles in der Färbung des ahhimana (des darauf gerichteten 
Interesses) betrachtet, entspringen einerseits die elf Organe 
der Erkenntnis, andererseits die fünf Tamnäira's oder Rein- 
stoffe, im Gegensatze zu den fünf Bhutans oder groben Ele- 
menten, wie weiter zu zeigen sein wird. 
25. sättvilca' eMdagaJcah pravartafe vaiJcritäd ahariMrät: 
hhida-ädes tanmdtraJi, sa täniasas; taijasäd id)hayam. 
Der Ichmacher ist Wandlung schon der Wandlung, 
Aus ihm entspringt die sattva-ai't'ge Elfheit, 
Der ReinstofF aus ihm als der Stoffe Ursprung; 
Tamas-haft ist der, rajas-haft sind beide. 
Wörtlich: die sattva-artige elffache [Schar des Manas 
imd der zehn Indriya's] geht hervor aus dem [sattva-artigen, 
aber schon] eine Wandlung der Wandlung seienden Ahankära; 
[andererseits entspringt aus ihm,] sofern er der Ursprung der 
Elemente ist, die reinstofi'liche [Schar, d. h. die Tanmätra's] ; 
letztere ist tamas-artig; tejas-artig [d. h. rajas-artig] sind beide. 
Die sattva-artige, aus elfen bestehende Schar, d. h. das 
Manas und die zehn Indriya's, entspringt aus dem Ahankära, 
natürlich aus dem sattva-artigen Teile des Ahankära, jedoch 
aus ihm, sofern er vaihi'ta ist. Die Buddhi ist vikrifa. aus 
der Prakriti umgewandelt, der Ahankära ist ra/l'rita, aus der 
Buddhi als einem Umgewandelten entspringend, worin zu liegen 
scheint (die Kommentare geben keine Hilfe), dafs die Sattva- 
teile des Ahankära den Sattvateilen der Buddhi an intellek- 
tueller Dignität nachstehen. Andererseits entspringt aus dem 
III. Psychologie. 439 
Ahankaia der tanmätni (nämlich gana), die Schar der Kein- 
stoffe. Sie ist wesentlich aus Taraas gebildet. Ferner aber 
hat an beiden Produkten des Ahankära das liajas (hier mit 
Anklanc; an Chänd. l'p. (),4 Trjas genannt) Anteil, nicht nur, 
sofern das Rajas die beiden andern Guna's zur Tätigkeit an- 
regt, sondern auch sofern das Rajas in den Produkten ent- 
halten ist, was ohne weiteres klar ist, wenn man bedenkt, 
dafs zu ihnen auch die Tatorgane, Hände, Füfse usw., gehören. 
26. Die zehn Indriya's. 
26. huddhindriiiäni calslmh-Qrotra-ghräna-rasana-tvag-älihyäni; 
Vttl;-päda-päni-päyu-upast}iän harmendrhjuni ähuh. 
Organe der Erkenntnis sind das Auge 
Nebst Ohr, Geruch, Geschmack und Tastempfindung; 
Die Zunge, Füfse, Hände und was dient zum 
Entleeren, Zeugen, sind die Tatorgane. 
27. Wesen des Manas. Mannigfaltigkeit der Organe und Objekte. 
27. uhJiai/a-äh)iakam atra manah, samhdpalcain, indriyam ca 
sädharmi/ät ; 
guna-parinäma-viresliän nänätvam vähya-hhedär ca. 
Verwandt mit ihnen beiden ist das Manas; 
Es ordnet und ist doch Organ gleich ihnen. 
Ihr Unterschied und der der Aufsendinge 
Beruht auf Sondermischuneren der Guna's. 
'o 
Hierbei (cdra), d. h. bei den ebenerwähnten Erkenntnis- 
sinnen und Tatsinnen, wirkt das beiden wesensverwandte 
(nhJiaifa-nimalani} Manas als scünliolpaliam „anordnend"; es 
ordnet die Sinneseindrücke zu Vorstellungen, und es ordnet 
die Verwirklichung der Willensentschlüsse durch die Tatsinne; 
das Manas entspricht somit einerseits dem, w'as wir Verstand, 
andererseits dem, was wir bewufsten Willen, nennen. — 
Zugleich aber und unbeschadet dieser nach zwei Seiten hin 
dirigierenden Stellung ist das Manas ein Indriyam, d. h. ein 
die Relationen mit der Aufsenwelt vermittelndes Organ. 
Woher aber die Mannigfaltigkeit (nänätvam) der zehn ihm 
untergeordneten Vermögen? Und w^oher die entsprechenden 
440 Die Säiikhya-Kärikä des iQvarakrishna. 
Verschiedenheiten der Aufsendinge ? (Für vdhya-hhedäg liest 
Lassen weniger gut vähi/a-bhedäc, da die Spaltung der Aufsen- 
dinge nicht selbstverständlich und Erklärungsgrund, sondern 
seihst ebenso der Erklärung bedürftig ist wie das nänCävam 
der Tndriya's.) Die allzu kurze Antwort lautet : guna-parinäma- 
viresJtdt, „aus der speziellen Modifikation der Guna's". Und 
freilich hat das Säiikhyasystem für alle Verschiedenheiten in 
der Natur keinen andern Erklärungsgrund als diesen. Alle 
Mannigfaltigkeiten beruhen auf verschiedener Mischung der 
Guna's, ähnlich wie man durch verschiedene Mischungen einer 
weifsen, roten und schwarzen Flüssigkeit eine unendliche 
Varietät von Farbennuancen hervorbringen kann. 
28. Funktionen der Buddhindi ija's und Karmendriya's. 
28. gabda-ddisJm pancänam äloccma-mätram ishyate vrittih; 
iKicana-ädäna-viJiarana-utsarga-änandäg ca pcmcänum. 
Beim Ton und was ihm folgt, von fünfen wird 
Als Funktion gelehrt ein blofses Schauen. 
Von den fünf andern ist die Funktion 
Das Reden, Greifen, Gehn, Entleeren, Zeugen. 
Die fünf Elemente, Äther, Luft, Feuer, Wasser, Erde, 
haben als Grundeigenschaften Hörbarkeit, Fühlbarkeit, Sicht- 
barkeit Schmeckbarkeit, Riechbarkeit. Diesen fünf Eigen- 
schaften, ,,dem Ton usw.", entsprechen die fünf Sinnesorgane, 
Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack, Geruch. Ihre Funktion 
ist demnach „ein blofses Schauen" [älocanam, entsprechend 
unserm Gebrauche des Wortes „Anschauung" für die ganze 
sinnlich wahrnehmbare Welt). — Im Gegensatze zu diesen 
Erkenntnissinnen haben die fünf Tatsinne, Eede, Hände, Füfse, 
Entleerungs- und Zeugungsorgan, als Funktionen das Reden, 
Greifen, Gehen, Entleeren und Zeugen. 
29. Besondere und gemeinsame Funktionen von Buddlii, Aliankära 
und Manas. 
29. svdlaksJianyam orittis trayasya; sä eshä hhavati asämänyä. 
■^dnidiiya-Jcdranfi-vriffih prdna-ädyä väyarah pnnca. 
lli. rsychologie. 441 
Was die Natur ist dieser drei, das ist 
Auch ihre Funktion und nicht geraeinsam. 
Gemeinschaftliches Wirken der Organe 
Sind die fünf Winde, Prana an der Spitze. 
Während bei den zehn Sinnesorganen das Organ und 
seine Funktion verschieden sind, so fallen bei Buddhi, Ahaii- 
kära und Manas Organ und Funktion in eins zusammen. Ihre 
Wesensbeschatlenheit (svalaksJiani/am) ist auch ihre Funktion 
(vritti). [In ^^'ahrlleit sind sie alle drei nur die Hypostasen 
ihrer Funktionen.] Somit ist die Funktion der Buddhi adhi/u- 
rasäi/a, die des Ahankara abhinuhui, die des Manas sanilalpa. 
Diese Funktionen sind also nicht gemeinsam. Hingegen er- 
klärt das Sänkhyasystem den Pnhja in seinen fünf Ver- 
zweigungen (als pranii Aushauch, cqmna Einhauch, vyäna 
Zwischenhauch, scoiiäna Allhauch, iidnna Aufhauch, vgl. über 
diese und eine entgegenstehende Erklärung oben I, 2, S. 249 — 
252) als eine gemeinschaftliche Wirkung von Manas und In- 
driya's, welche dui'ch ihr Zusammenwirken Träger des Lebens 
sind, ähnlich wie elf in einen Käfig eingeschlossene Vögel 
diesen, wenn sie gemeinsam auffliegen, mit sich emportragen. 
So nach Qankara und, wie es scheint, auch nach Gaudapäda, 
während nach Väcaspatimi^ra nur Buddlii, Ahankara und 
Manas die Träger des Prana sind, — Es ist wohl nicht 
zweifelhaft, dafs die Unterscheidung des Vedänta zwischen 
Manas und Indriya's als Organen des bewufsten, und dem 
Prana mit seinen fünf Absenkern als Organen des unbewufsten 
Lebens der modernen physiologischen Einteilung in Organe 
der Relation und Organe der Nutrition und somit der Wahr- 
heit sehr nahe kommt, w^ährend das Unterfangen des Sänkhya- 
systems, die Funktionen der Nutrition auf Buddhi, Ahankara, 
Manas und Indriya's zurückzuführen, in den physiologischen 
\'erhältnissen keine Stütze findet, 
30. Gemeinsame und besondere Funktionen von Buddlii, Ahankara, 
Manas und Indriya's. 
30. f/utjapac catushtmjasya üv vrittih Iramarar ca tasya nirdi'ihfä 
(Irishte: tatha tr adrishfe tmi/asifa kd-jmrvlkd vrittih. 
442 I^ic Sänkhya-Kärikä des I^varakrishna. 
Beim Wahrnehmbaren wirken alle viere 
Zusammen teils, teils einzeln nach einander, 
Und so die drei bei dem Nichtwahrnehmbaren, 
Nachdem die Wahrnehmung vorausgegangen. 
Beim Wahrnehmen werden 1. die Data gehefert durch 
das entsprechende Indriyam, Gesicht, Gehör usw.; 2. diese 
Data zur Vorstellung verarbeitet durch das Manas; 3. diese 
Vorstellung auf das vorstellende Subjekt bezogen durch den 
Ahafikära, d. h. es erwacht das Interesse an ihr; 4. dieses 
Interesse wird (eventuell) zu einem Entschlüsse gestempelt 
durch die Buddhi (deren psychische und kosmische Bedeutung 
somit, wie schon oben bemerkt, sehr verschieden ist; auch 
sollte man hiernach Abhängigkeit der Buddhi vom Ahahkära, 
dieses vom Manas, dieses von den Indriyas, somit eine um- 
gekehrte Evolutionsreihe erwarten). Dieser vierfache psycho- 
logische Prozefs erfolgt teils so rasch, dafs wir uns seiner 
Einzelheiten nicht bewufst werden (wie z. B. beim Fliehen 
vor dem im Walde gesehenen Tiger, Väc), welche somit 
(scheinbar) gleichzeitig statthaben, teils so langsam, dafs 
seine einzelnen Phasen für die Beobachtung auseinandertreten. 
— Bei Nichtwahrnehmbarem (Vergangenem oder Zukünftigem) 
treten nur, wiederum teils gleichzeitig, teils nach einander, 
Manas, Ahankära und Buddhi in Aktion, indem an Stelle der 
Wahrnehmung das Erinnerungsbild oder ein Begriff tritt. Beide 
aber setzen immer eine vorherige Wahrnehmung voraus. („Be- 
griffe ohne Anschauungen sind leer", wie Kant sagt.) 
31. Zwecke der Org'ane und der Endzweck. 
31. sväm svum pratipcuh/anie paraspara-aküta-lietukäm vrittim. 
puruslia-ariha' eva Jiefur; na kenac/t liäryate Tiuranam. 
Ein jedes übt die eigne Funktion 
Zum Zweck, der andern Absichten zu fördern. 
Endzweck ist nur des Purusha Interesse, 
Doch keiner sonst macht wirken die Organe. 
Jedes Organ fördert die Zwecke der andern Organe und 
wird durch sie gefördert; jedes Organ ist zugleich Mittel und 
Zweck aller andern. Der Endzweck aller aber ist das Interesse 
III. rsychologie. 445 
des Puruslia, sei es Genufs, sei es Erlösung. Es bedarf keines 
KinüTcifens eines Gottes; die Vorstelluni>;en des Vedänta von 
dem Protektorate der Götter über die Sinnesorgane und von 
Gott (i^vara) als dem ÄHtari/aiii/u (innern Lenker) und als 
dem Antreiber zum Handeln (System des Vedänta S. 3G4 fg. 
1()0 fg. o48 fg.) werden verworfen. 
32. Dreizehufiuli ist das Organ, /ohnfach seine Funktion. 
32. 'karanam iraijodaga-vidham, iad äJiarcma-dlidrana-jyyaMra' 
haram. 
liäryam ca tasya daradhd, alidryam dliäryam praliäryam ca. 
Von dreizehnfacher Art ist das Organ : 
Ergreifend, unterhaltend und erhellend. 
Zehnfach ist seine Wirkung und befafst 
Ergriffnes, Unterhalt'nes und Erhelltes. 
Der aus Buddhi, Ahankara, Manas und den zehn Indriya's 
bestehende, somit dreizehnfache psychische Apparat bewirkt 
1. das Ergreifen (im weitern Sinne, durch Reden, Greifen, 
Gehen, Entleeren, Zeugen), 2. das Erhellen (durch Sehen, 
Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken), 3. das Unterhalten des 
Lebens durch die fünf Präna's (Aushauch, Einhauch, Zwischen- 
hauch, Allhauch, Auf hauch). Da diese Hauche Vers 29 nur 
ein gemeinschaftliches Wirken der Organe sind, so sind nur 
dreizehn Organe (nicht neunzehn, wie im Vedänta, z. B. Mänd. 
Ip. 4, Sechzig Upanishad's S. 578 Anm. 2; vgl. 623 Anm. 1) 
anzunehmen, und ihrer Wirkungen sind zehn, da unter diesen 
das Erhalten des Lebens durch die Präna's mit einbegriffen 
ist, — Väc. versteht „je zehn" Wirkungen, indem er, durch 
l'nterscheidung der Organe der Götter von denen der Menschen 
zu zehn Tatorganen, zehn Erkenntnisorganen und zehn Lebens- 
hauchen sich versteigt, eine Künstelei, welche wohl keiner 
Widerlegung bedarf. 
33. Innenorgan und Aufsenorgan. 
33. aniahliaranam trividhaui, daradhd väJiyam irayasya vishaya- 
akltyam. 
sämpraialxalam väliyam, triJcnlam ahhyavfaram laranam. 
444 Die Sänkhya-Kärikä des Igvarakrishna. 
Das innei'B Organ ist dreifach, zehnfach 
Das äufs're, jenen dreien Objektkünder. 
Das äufsere kennt nur die Gegenwart, 
Die Zeiten alle drei urafafst das inn're. 
Das Innenorgan ist dreifach (Buddhi, Ahankära, Manas), 
das Aufsenorgan zehnfach (fünf Buddhi-indriyäni, fünf Karma- 
indriyäni) ; die Objekte werden dem Innenorgan nur durch 
das Aufsenorgan kund, es ist vishaya-aJihijani, „die Objekte 
ankündigend", und (nach Vers 30) stets die Voraussetzung 
für eine Tätigkeit des Innenorgans. Das Aufsenorgan (die 
Anschauung) umfafst nie mehr als die unmittelbare Gegen- 
wart, das Innenorgan vermöge der Begriffe in abstracto auch 
Vergangenheit und Zukunft. 
34. Objekte der Buddhindriyani und Karmendriyäni. 
34. hnddlimäriyimi tesliäm panea v/gesha-avi^esha-vishaydni. 
mg hhavati gabda-visliaya, geshänl tu panca-visliayäni. 
Fünf sind Erkenntnissinne, ihr Objekt 
Sind Unterschied'nes und Nichtunterschied'nes. 
Die Rede hat die Töne zum Objekte; 
Je fünf Objekte haben die vier andern. 
Unterschiedenes und Nichtunterschiedenes, vigesJia und 
'fwigesJia, sind die (mit Unterschieden behafteten) groben Ele- 
mente und die in sich homogenen Urstoffe, Reinstoffe, tan- 
mätra's, aus denen jene durch Mischung hervorgegangen sind. 
Dafs die letztern nur von Wesen höherer Art (Göttern und 
Yogin's) wahrgenommen würden, wie die Scholiasten wollen, 
ist im Texte nicht angedeutet, scheint demselben vielmehr zu 
widersprechen, da er ricesha und avigcsha koordiniert. — Von 
den Karmendriyäni hat die Rede als Objekt den Ton, die 
übrigen vier (Hand, Fufs, Entleerungs- und Zeugungsorgan) 
haben als Objekt ahe fünf groben Elemente (Äther, Wind, 
Feuer, Wasser, Erde), d. h. sie setzen die anschauliche Welt 
in ihrer Gesamtheit voraus. 
35. Die Sinne als Tore, das dreifache Innenorgan als Torwächter. 
35. sa-antahJiaranä huddhih sarvam vishayam avagähate yasmäf, 
tasmät trinidham karanam dvuri, dväräni gcslumi. 
111. Psychologie. 445 
Weil mit den aiidein inneren Organen 
Die Buddlii jegliches Objekt dnrchsucht, 
Darum sind jene drei der Tore Wächter, 
Und alle übrigen sind nur die Tore. 
Die zehn Sinnesorgane sind die Tore, durch welche die 
Objekte in die Stadt des Leibes gekngen und beim Eingange 
von Buddhi, Ahankara und Manas wie von Zollbeamten durch- 
sucht werd(Mi. 
36. Die IJudtlhi im Gejjensatze zu allen übrigen Orgranen. 
!")(!. eie prad/pahdjxVj , paraspara-vilalcsJianä (jima-viQeshah 
h'itsuam purushasya ariham huädhau pralm^ya prayacchanti^ 
An Wesen und nach Guna-Art verschieden 
Beleuchten diese einer Lampe gleich 
Was immer Zweck des Purusha, und bieten 
Es in der Buddhi ausgebreitet dar. 
Alle andern Organe arbeiten für die Buddhi, diese für 
den Purusha. 
37. Zireifacbe Dienstleistung: der Buddhi für den Purusha. 
37. sarvam prati upahhogam yasmät purushasya sädhayaii huddhih, 
sä eva ca vicinasliii punah pradhäna^punisha-antaram snlislmiam. 
Und dies, weil den Genufs des Purusha 
Die Buddhi auswirkt in bezug auf alles; 
Und eben sie vermag die feine Scheidung 
Zu treffen zwischen Prakriti und Geist. 
So wird einerseits das Geniefsen des Purusha, andererseits 
seine Erlösung vermittelt durch die Buddhi (das Bewufstsein). 
38. Die Tanmätra's (Avl(jesha's| und ihre Abkömmlinge, die BhütaV 
(Vi^;esha's). 
38. tamnäträni avigeshäs; tehhyo hhidäm, panca pancahhyaJi; 
ete smritä viresJiäh, räntä c/liorär ca mndhäg ca. 
Die fünf Reinstoffe sind nicht unterschiedlich. 
Von ihnen stammen die fünf Elemente. 
Als unterschiedlich werden sie bezeichnet, 
Erregend Heiterkeit und Schreck und Dumpfheit. 
446 I^ie Sänkhya-Kiirikä des Igvarakrishna. 
In der Vorstellung der Reinstoffe, tanmätra^ sind drei 
Theorien zusammengeflossen. 
1. Mischungstheorie. Nach Chänd. 6,3 sind unsere 
Elemente Feuer, Wasser und Erde (die Chänd. Up. kennt nur 
diese drei) nicht reines Feuer, reines Wasser, reine Erde, 
sondern aus Versetzung jedes derselben mit den beiden andern 
Elementen entstandene Gemische. (Nach der spätem Theorie 
ist z. B. die Erde = ^ Erde + * Wasser + | Feuer + J Wind 
4- l Äther, und entsprechend bei den andern.) Demgemäfs 
werden PraQna 4,8 prithivi, äpas, tejas, väyu, älcäga unterschieden 
von pritJimmäträ , apomäträ, tejomäträ, väyuniäfrä, äJcäramätra. 
Eine Zusammenfassung der letztern Ausdrücke ist das zuerst 
Maitr. 3,2 vorkommende tanmätra. Ebenda 6,10 wird auch der 
feine Leib (liftgam) mahadädyam vigeshäntam genannt, wenn 
nicht etwa dort, wie wir „Sechzig Upanishad's" S. 337 vor- 
schlugen, mit Tilgung eines Punktes maliad-ädi-avigesha-antam 
zu lesen ist, da der im folgenden erwähnte vierzehnfache Weg 
ein neunzehnfacher sein müfste, wenn die avigesha nicht selbst 
das Ziel, sondern unter die mit Prakriti anfangenden Durch- 
gangsstationen zu rechnen wären. 
2. Akkumulationstheorie. Nach Taitt. 2,1 geht aus 
dem ätman der äkäga, aus diesem väyu, aus diesem agni, 
aus diesem äpas und aus diesen pyritlnvi hervor. Eine Kon- 
sequenz dieser (der Kärikä fremden) Theorie ist es, dafs jedes 
Element die Eigenschaft des Elementes mitbesitzt, aus dem 
es hervorgegangen, so dafs der cikäga hörbar, der vmju hör- 
bar und fühlbar, der agni hörbar, fühlbar, sichtbar, die äpa>t 
hörbar, fühlbar, sichtbar, schmeckbar, die pr'dliivl hörbar, 
fühlbar, sichtbar, schmeckbar und riechbar ist. — Diese 
Theorie (welche sich ursprünglich auf die ürelemente, tan- 
mätra, bezieht) wird von Gaud. und Vac. benutzt, um den 
Übergang der tanmätra zu den hliüta zu erklären, mit Unrecht, 
denn dann würde der äkära mit seinem tanmätram identisch 
sein. Auch die Ausdrücke tanmätra und avigesha in der Kärikä 
weisen darauf hin, dafs sie unter den hhüta's nur die mit 
Bestandteilen der andern versetzten Elemente versteht. Hier- 
für spricht auch, dafs die fünf tanmätra''s nicht aus einander, 
sondern alle direkt aus dem ahanMra entspringen. 
III. Psychologie. 447 
;». Differenzierungstlieorie. Eine dritte Tlieorie, wo- 
nach die tanmätm nur Träger von Ton, Gefühl, Farbe, Geruch, 
Gesclimack im allgemeinen, nicht aber die bestimmten Töne, 
Gefühle, Farben, Gerüche und Geschraäcke sind, tritt nur 
vereinzelt auf. 
Auch hier zeigt sich, dafs das Sähkhyam die aus dem 
Vedänta übernommenen Vorstellungen nicht einheitlich zu ge- 
stalten vermag. 
Die groben Elemente sind, entsprechend den drei Guna's, 
Qanta, ghora und mudha, Heiterkeit, Schreck und Dumpfheit 
erregend; da die feinen Elemente gleichfalls aus den drei 
Guna's bestehen, so kommen auch ihnen die genannten Eigen- 
schaften zu, werden aber vorwiegend an den groben Elementen 
wahrgenommen. Wenn hier nur von diesen die Rede ist, so 
dürfte schwerlich daraus zu schliefsen sein, dafs die feinen 
Elemente für ^lenschen nicht wahrnehmbar seien, nachdem 
Vers 34 beide, die groben und die feinen Elemente, ohne 
Einschränkung und Vorbehalt parallel neben einander als 
Objekte der Erkenntnissinne bezeichnet worden waren. 
3{). Bestandteile der Bhiita's (Vi<^esha's). 
39. suhshmä, mätäpiirijuh saha prabJuttais tridhä vircshäli syuJi : 
sühshmäs teshäm niyatä, mätäpiirijä nwartante. 
Dreiteilig ist das Unterschiedliche: 
Subtil, erzeugt von Eltern und grofsraassig. 
Von ihnen bleibt beständig das Subtile, 
Vergänglich ist das, was erzeugt von Eltern. 
Die groben Elemente (hhida, vigesha) enthalten drei Be- 
standteile; sie sind: 
1. suhshna, subtil, sofern sie als der Same des groben 
Leibes das Ihlgam auf allen seinen Wanderungen begleiten; 
daher sie niijata (beständig) heifsen: 
2. mätdpitr/ja , von Mutter und Vater erzeugt, sofern sie 
den aus jenem gleichsam als Samen dienenden suhshmam her- 
vorwachsenden groben Leib bilden, welcher vergänglich ist; 
3. prahhfda, grofsmassig, sofern sie die Massen der un- 
organischen Natur bilden. Auch diese Massen gehen nach 
448 Die Sänkliya-Kärikä des I^varakrishna. 
der Lehre der Karika hervor ans dem Lingam, dem psychi- 
schen Apparate jeder individuellen Seele. Hieraus folgt, dafs 
jede individuelle Seele nicht nur mit ihrem eigenen psychisclier^ 
Apparate, sondern auch mit ihrem eigenen, aus diesem hervori 
gewachsenen Universum umkleidet ist. Die Erinnerung an 
Leibniz oder Fichte mag dienen, diesen Standpunkt verständ- 
lich zu machen. Wie sie ist auch das Sänkhyam inkonsequent, 
wenn es einerseits die Bhüta's aus dem Lingam entstehen läfst, 
andererseits einen Bestandteil derselben (umfcqntrija und |;ra- 
hhida) einer unabhängig vom Lingam bestehenden, allen ge- 
meinsamen Aufsenwelt zuweist, die es konsequenterweise gar 
nicht geben dürfte. 
Folgendes Schema mag dienen, die Sachlage zu ver7 
deuthchen. 
Prakriti || Purusha 
r \ V 
lÄn-y^ Mahän (Buddhi) N^-gam 
I 
Ahankära 
5 Tanmätra's Manas und 10 Indriya's 
I 
Sükshma 
Mätäpitrija \ Bhüta. 
Prabhüta 
40. Das Lingam, der psychische Leib. 
40. pürvofpannam asaldam niyatam, niahad-ddi sühslima-paryantam 
smmarati nirupabhogam hliävair adhiväsitam lingam. 
Vormals entstanden, ungehemmt, beständig. 
Vom Grofsen bis zum Feinen sich erstreckend, 
So wandert, nicht teilnehmend am Geniefsen, 
Das Lingam um, durchduftet von den Bhäva's. 
Das Lingam befafst Buddhi, Ahankära, Manas mit In- 
driya's und Tanmätra's. Aufserdem noch das Sükshmam, die 
Feinteile der Bhüta's als Körpersame. Es ist „vormals 
entstanden", nicht in der Zeit, sondern vor aller Zeit; 
„ungehemmt", als körperlos geht es durch alles durch, 
und „beständig", die Seele auf allen ihren Wanderungen 
111. PsYchologic. 44<) 
begleitend. Es nimmt aber niclit teil am Geniefsen, welches 
allein dem Purusha zukommt. Endlicli ist es noch behaftet 
mit einem moralischen (von Geburt zu Geburt wechselnden) 
Faktor, den Bhava's oder Atfekten, von denen Karika 43 — 52 
die Rede sein wird. 
41. Das Liügrain kann nicht ohne die Feinteile (sOkshma) der Bhüta's 
(i'i^esha) bestehen. 
41. citram ydthä äirat/am rite, sthänii-ädibhyo yathä vinä cliäyä, 
iadvad vinä vi^eshair na tishtJiati nirägrayam lingani. 
Wie ohne Leinewand nicht ein Gemälde, 
Wie ohne Körper nicht besteht ein Schatten, 
So könnte ohne Unterschiedliches 
Als seine Basis nicht bestehn das Lingam. 
Das Lingam, obgleich es die Tanmätra's schon in sich 
befafst, bedarf aufserdem doch noch, um zu bestehen, die 
Feinteile (siiJcshma) der Bhüta's, wie das Gemälde die Lein- 
wand, wie der Schatten den Körper bedarf. Das zweite Bild 
ist weniger treffend, weil der Schatten vom Körper abhängig 
ist, nicht aber das Lingam von den Vi§esha's, sondern viel- 
mehr umgekehrt die ViQesha's von dem Lingam. 
42. Wanderung: des Lingam im Dienste des Purusha. 
42. pin-NsJia-cüiha-hetuJcam idam, nimitta-naimitti'ka-prasafigena 
pmlriter vihhutva-yogän natavud vyavatishfhate lingam. 
Als Ursache des Purusha Zwecke habend, 
Kraft des Zusammenhangs von Grund und Folge, 
Durch die Allgegenwart der Prakriti 
DO • 
Tritt auf dies Lingam, seine Rollen wechselnd. 
Dies Lingam wechselt die Leiber, in denen es sich ver- 
körpert, wie ein Schauspieler seine Rollen. Es vermag dies, 
weil es an der Allgegenwart der Prakriti teilnimmt, aus welcher 
auch die das Liügam umkleidenden Bhäva's stammen. Stets 
ist dabei die jedesmalige Verkörperung als Wirkung (nai- 
mittilrt) bedingt durch die Werke einer frühern Geburt als 
Ursache {nimitta). Der Zweck dieser wiederholten Verkörperung 
ist das Geniefsen und die Erlösung des Purusha. 
oq 
Devsses, Geschichte der Philosophie. I,in. *" 
IV. Pathologie 
oder die Lehre von den Bhäva's (Affekten, Zuständen). 
Vers 43—52. 
a) Die acht Bhäva's, 43 — 45. 
43. Angeborene und neuerworbene Bhäva's. 
43. sämsiddhikä^ ca hhäväh präkrüiTiä vaikritdr ca, dliarma-ädyah, 
drishfäh Jcarana-ägrayinah , Mrya-agroyinar ca l'alana-ädyah. 
Die Bliäva's, Pflicht und weitere, sind teils fertig, 
Naturanbaftend, teils durcii Umbildung. 
Die einen haften im Organ, die andern 
In seiner Wirkung seit dem Embryo. 
Alle acht Bhäva's (dharma, adJiarma; jnänani, ajnänam: 
iKiirägyam, avairägyam; airvaryani, cnmigvaryam) sind teils 
sämsidd1)ika, „fertig mitgehracht" aus einer frühern Gehurt 
und folglich „angeboren" (prahritika), teils im gegenwärtigen 
Lehen „neu entstanden" (vaikrita). Erstere inhärieren dem 
Lingam, welches von ihnen „durchduftet" ist (Vers 40), letz- 
tere entwickeln sich erst im gegenwärtigen Lehenslaufe vom 
ersten Emhryokeime (Jcalanam) an. (Diese seit dem Emhryo- 
keime neuerworhenen Bhäva's hegleiten, wie wir annehmen 
dürfen, das Lingam nach dem Tode und sind im nächsten 
Lehenslaufe die fertig mitgebrachten, angeborenen, dem Lingam 
anhaftenden sämsiddhika, xjräkritika, karana-ägrayin). 
44 — 45. Die acht Bhäva's und ihre Folgen. 
44. dharmena ganianam ürdhvam, gamanam adhastäd hhavaty 
adharmena, 
jnänena ca apavargo, viparyaydd isliyate handliah. 
IV. Tatliologie, 451 
45. caira;/i/ät pidhytii-hnjah, sutusaro hhacuti rajasud rannt, 
(ti^varijad aviijln'ito, vipan/di/at fdd-rqmri/asah. 
44. Durch rflichterluUung folgt das Geliu nach oben, 
Das Gehn nach unten durch PHichtnichterfüllung. 
Dui'ch die Erkenntnis wird bewirkt Erlösung. 
Und durch ihr Gegenteil besteht die Bindung. 
45. Entsagung bringt die Prakriti zum Schwinden, 
Begehreu, rajas-artig, wirkt Sanisära. 
Gottherrschaft führt zu ungehemmtem Schalten, 
Ihr Gegenteil zu seinem Gegenteile. 
Die acht Bhava's: Ihre Folgen: 
(Iharnia Emporstei.o-en in der Soelenwanderung. 
aüharma Herabsteigen in der Seelenwanderung. 
jmnam Erlösung. 
ajndnam Bindung. 
vairäifi/coii Hinschwinden der Prakriti. 
((üairäfji/ani Samsära. 
ai^vartfam Un gehemm theit (die acht siddltrs). 
anaiQvaryam Gehemmtheit. 
,. Hinschwinden der Prakriti" [prah-iti-laya^ vgl. oben S. 100) 
wird von Gaud. Vac. erklärt als Aufgehen in der Prakriti, 
d. h. im Lingam. Ein solches aber findet (von der Erlösung ab- 
gesehen) nach dem Tode für jeden ohne Unterschied statt. Der 
Gegensatz samsara fordert hier die Erklärung: Hinschwinden 
der Prakriti, d. h. Lockerung des Bandes zwischen ihr und dem 
Puruslia, Aufdämmern der Einsicht von ihrer Verschiedenheit. 
Über die acht Siddhi's vgl. „System des Vedänta" S. 40. 
b) Die fünfzig Bhäva's, 46 — 51. 
Hier folgt eine andere Einteilung der Bhäva's unter vier 
Gruppen mit fünfzig Unterabteilungen. Über ihr Verhältnis 
zu den acht Bhäva's siehe am Schlufs nach Vers 51. 
40. Die vier Hauptgriippen. 
4ß . tsh a pra hjnija sa ) •<jo T Ipa rycuja-A ra Mi - Tusld I - Sidi II i i - a klnja li, 
(fnua-vaifilKomia-vimnrdai, tasija ca hhedds tu panca^at 
29* 
452 r^iß Siuikhya-Kärikä des l^varakrisLna. 
Dies ist die Buddhiscliöpfung hier, mit Namen 
Viparyaya, Agakti, Tusliti, Siddhi, 
Die Störung durch die Ungleichlieit der Giina's 
Bewirkt, dafs sie zerfällt in fünfzig Teile. 
Aus dem Kampf ums Dasein, den die Guna's führen (oben 
Vers 12), entstehen in der Buddhi (hier p'atyaya genannt) 
vier wirkende Kräfte mit fünfzig Unterarten. Die erstem sind: 
Viparyaya, Verkehrtheit, verkehrte Ansicht, Irrtum; Araldi, 
Unvermögen; T^ishfi, Genügen; Siddhi, Vollendung. 
47. Subsumtion der Unterabteilungen. 
47. panca Viparyaya-blicdä hhavaniy; Ägaktec ca larana-vailaJyät 
aslitäinn^ati-hhcdäs ; Tushtir navadhä; asJitadhä Siddhih. 
Fünf Unterarten giht es der Verkehrtheit; 
Durch die Gebrechlichkeiten der Organe 
Ist achtundzwanzigfach das Unvermögen; 
Neunfach das G'nügen; achtfach die Vollendung 
Zur Übersicht dient: 
1) 5 Viparyaya's: tamas, moha, onaJuimoJui, tämi^ra, andha- 
tämigra. 
2) 28A9akti's: W indriya-badha, 11 huddki-hadJta. 
3) 9 Tushti's: 4 ädJiyüfmiJia (pralxriti, vpädänam, lala, 
hhdffü), 5 vähyd vishaya-uparamdh. 
4) 8 Siddhi 's: lüia, gahda, adhyayanam, 3 duMlia-vigJmta^ 
siiJtrit-präpti, dänam. 
50 Bhäva's in Summa. 
Die Erklärung liefern die folgenden Verse. 
48. Die fünf Yiparyaya*s (Verkehrtheiten). 
48. hhedas Tamaso 'shfavidho MoJiasya ca, dagavidho MalidmoJiah, 
Tämigro 'shfddaradhd, tatlid hliavaty Ändhatdmirrah. 
Acht Arten sind des Dunkels, acht des Wahnes, 
Zehn sind des grofsen Wahnes Unterarten. 
Die Finsternis ist achtzehnfach, und so 
Ist achtzehnfach die grofse Finsternis auch. 
IV. Pathologie. 453 
Acht Tamas' (Dunkel): sofern man Avyaktam, Buddhi, 
Allankara und die fünf Tanmätra's für die Seele hält. 
Acht Moha's (Wahne): sofern die Götter wähnen, dafs 
die von ihnen besessenen acht Siddhi's (anhnd, Imjkimä, präpiih, 
prak(int}/(ini, niaJiiniä tatJta, i^itvani ca varitvam ca, tathä kCimä- 
vüsäyilxü) unverlierbar sind. 
Zehn ^I a h a m o h a 's (grofse Wahne) : das Hängen an 
Tönen, Gefühlen, Farben, Geschmäcken, Gerüchen, einerseits 
der Men>;chen, andererseits der Götter. 
Achtzt^hn TamiQra's: der auf die zehn Sinnesobjekte 
und die acht Siddlii's bezügliche Neid [iadvishayo dvcshah, Väc). 
Achtzehn Andhatämigra's: die achtzehnfache Furcht, 
die genannten Güter zu verlieren. 
Vgl. zu dieser Fünfteilung die Zusammenstellung von 
(tüiilyu, asmitd, räga, dcesha, abhinrvega als den fünf Jdega's im 
Yoo;asvstem. 
49. Die aditundzwanzig' A(^*akti's (Unvermögen). 
49. rJcadara indrii/abadhäh saha huddliihadhair ÄgaJdir iiddisldd; 
■•^aptadagadJid tu huddher, viparyaydi tushti-s'uldJündm. 
Acakti's sind: elf Schwächungen der Sinne 
Mitsamt den (siebzehn) Schwächungen der Buddhi ; 
Siebzehnlach nämlich sind die letzteren, 
Entsprechend den neun Tushti's und acht Siddhi's. 
Die elf Indriya-badha's sind die Schwächungen der zehn 
Indriya's und des Manas; die siebzehn Buddhi-badha's sind 
die in der Buddhi liegenden Hemmungen, welche nicht zu 
den neun Tushti's und den acht Siddhi's gelangen lassen. 
50. Die neun Tusliü's. 
5U. ddhydtmikär catasrah, praliriü-apdddna-liäld-hhdya-dlihydh ; 
rdliyd vishaya-uparamdh panca, nava ca Tusidayo 'bJiihitdh. 
Vier inn'i'e sind, sofern man die Erlösung 
Von Prakriti, Askese, Zeit und Glück lioö't. 
Die äui'sern sind die fünf Enthaltungen 
Von Sinnendingen; diese sind die neun Tushti's. 
454 Die Sänkhya-Kärikä des I^varakrislma. 
Askese, u})äddua})i, wörtlich das „Ergreiten" des für den 
Asketen charakteristischen Dreistahs (oben I, 2, S. 339). — 
Die fünf Sinnendinge sind Töne, Gefühle, Farben, Geschmäcke, 
Gerüche. 
51. Die acht Siddlü's. 
51. nhuli, gahdo, '(]Jn/af/a))cim, duhhha-vigJiätäs iraydh, saln'it-pyapiih 
äänam ea SühJJun/o 'sJitau, siddheh pürvo 'ülitgas irividhah. 
Nachdenken, Schriftwort, Studium und die drei 
Schmerzwehrungen, Gewinnung eines Freundes 
Und Klärung sind die acht Vollkommenheiten. 
Nur Hemmungen sind die drei frühern Arten. 
Während die drei frühern Arten (r/pari/apa, a^aldi, inslttj) 
die Erlösung hemmen, so wird durch Nachdenken, Vedalesen, 
Studium, die drei Schmerzwehrungen (vgl. oben Vers 1) 
Freund gewinnung imd Klärung (nach einigen ,, Freigebigkeit") 
Erlösung erreicht. 
Allgemeine Anmerkung zu den Bhäva's. 
Es ist nicht möglich, aus den Bemerkungen alter und 
neuer Erklärer eine klare Vorstellung zu gewinnen über das 
Verhältnis dieser fünfzig Bhava's zu den vorlier- 
erwähnten acht Bhava's. Beide laufen einander parallel 
und berühren sich in vielen Punkten, wie namentlich ajuänam 
mit viparyaya und jnänam mit slddhi, ferner auch rairagiiam 
mit upMänam (der sechsten Tusldi). — Am ersten läfst sich 
noch die Auffassung rechtfertigen, dafs die fünfzig Bhäva's 
das Wirkende, die acht das Resultat dieses Wirkens be- 
zeichnen; erstere kann man mit der higyuoL, letztere mit der 
vnz\iyj.io(. des Aristoteles vergleichen. Aber der Autor der 
Kärikä, ganz gegen die sonstige Konzinnität seines Werkes, 
hat nichts getan, um den Zusammenhang der fünfzig mit den 
achten klarzulegen. Der sie verbindende Ausdruck Vers 46 
c.sJta prcdyayasarQo scheint beide als identisch anzusehen. In 
der Tat sehen sie aus wie zwei verschiedene Wege zu dem- 
selben Ziele, und die Vermutung drängt sich auf, dafs hier 
zwei Richtungen in der Sänkhyaschule sich entgegenstehen, 
IV. Pathologie. 455 
welche der Veii'asser beide neben einander zu Worte kommen 
liilst. Seine eigene Auffassung in 
setzt nur die aclit lihava's voraus. 
liifst. Seine eigene Auffassung in den Versen 23. 63. 05. 67 
.V2. Liiigrum und BhävaN bedin^^en sich gregrensoitig. 
r)2. )i(t n')iä blidrair llr/</((iji, na vinä lifigcna hhävu-ninritt'th; 
lirt(j((-al-]ii/o hilft r((-ül-Jiy((S, tasuiäd dviviähah pravariatc sarijah. 
(Der Fehler des zweiten Hemistichs läfst sich heben, wenn 
man sargah streicht — es könnte aus dem folgenden ergänzt 
werden — und pravartcta liest. j 
Nicht ohne Bhäva's kann ein Lingam sein, 
Nicht ohne Lingam Bhäva's sich entfalten. 
Benannt nach Liiiga's und benannt nach Bhäva's 
Mufs zweifach die Entwicklung sich vollziehen. 
Die aus einer frühern Geburt herrührenden Bhäva's be- 
dingen die Entfaltung des Lingam zu einem neuen Lebens- 
laufe, und diese Linga- Entfaltung ist wiederum der Grund 
für das Sichansetzen neuer Bhäva's, die eine abermalige 
Entfaltung fordern, und so in iiißnitum, wenn nicht die Er- 
lösung erfolgt. 
V. Kosmologie 
oder die Lehre vom Weltall. 
Vers 53—56. 
Vorbemerkung. Wir haben gesehen, wie aus dem 
Liügam, d. h. aus dem psychischen, die Seele umgebenden 
Apparate die Elemente hervorwachsen, nicht nur sofern sie 
als sulislima, als Körpersame die wandernde Seele begleiten, 
sondern auch sofern aus diesem Samen „vermöge der Ver- 
bindung mit der Allgegenwart der Prakriti" (Vers 42) sowohl 
der grobleibliche Organismus (mätcqntrija) als auch das grob- 
massige Unorganische [prahhida., Vers 39) hervorgeht. Auf 
diesem Standpunkte, wenn er konsequent durchgeführt würde, 
dürfte es keine allen gemeinsame Aufsenw^elt geben, vielmehr 
müfste sich, wie bei Leibniz aus jeder Monade, so hier aus 
jedem Lingam die "Welt der Vorstellung individuell entwickeln. 
Aber so wie Leibniz und jedes andere idealistische System 
vor Kant und Schopenhauer fällt auch das Sänkhyasystem 
inkonsequenterweise in die realistische Anschauung zurück, 
dafs es nicht nur ein in jedem sich entfaltendes Avyaktam, 
sondern auch ein allen gemeinsames Vyaktam, d. h. eine 
objektive reale Aufsenwelt gibt. Die Kürze, mit welcher die 
folgenden Verse diese behandeln, zeigt schon, wie wenig eine 
solche Betrachtungsweise in den organischen Zusammenhang 
des Systems eingreift. 
53. Göttliche, menschliche und tierische Schöpfung-. 
53. asliißvilicüpo daivas, tairyagyonya^ ca pcmcadhä hhavati 
nmnnslnjar ca cl^avidhdh, samäsato hJtantiJcah sargalj. 
V. Kosmologie. 457 
Der Güttervvesen Schöpfung hat acht Arten; 
Fünf Arten sind der Schöpfung in der Tierwelt. 
Von einer Art nur ist der Menschen Schöpfung. 
Das ist der Wesen Schöpfung in der Kürze. 
Acht göttliche Wesen: Brahmän, Prajapati, Soma, Tntlra, 
Gandharva's, Yaksha's, Rakshas', Pi^aca's ((laud.). 
Fünf tierische: Haustiere, \Vild, Vögel, Keptilien, Pflanzen 
(Gaud.). 
Vgl. Maitr. Lp. 3,3: catiojäluni, cdiurditravidham, catar- 
aritidliä parimfam bhiduganam („Sechzig Upanishad's" S. 324 
und die Anmerkungen dort). 
54. Yerteihlug: der (iuiia's in der Sthöpfung. 
54. ardlivam suttva-vigälas, tumo-virälag ca mulatah sargah, 
madhyc rajo-vigälo, hrahma-ädih stamha-jKiryardah. 
Nach oben ist die Schöpfung reich an Sattvam, 
In ihrer Tiefe überwiegt das Tamas; 
Das Rajas in der Mitte; sie erstreckt sich 
Von Brahman abwäi'ts bis herab zum Grashalm. 
In der Götterwelt überwiegt das Sattvam, in der Menschen- 
welt das Rajas, in der Tier- und Pflanzenwelt das Tamas. — 
Unter Schöpfung werden die wandernden Seelen verstanden; 
daher die Schöpfung sich nur so weit wie diese, d. h. von dem 
obersten der Götter (Vers 53) bis in die Pflanzenwelt erstreckt. 
55. Der Purusha in der Schöpfung'; Schmerz sein Los. 
55. iatra jarämaranakritarH duliMiam präpnoti cetanah purushcdi 
linfjüsija ä vinivp'ttcs. tasmäd didilJiam sv(d)hävena. 
Daselbst verfällt der geist'ge Purusha 
Dem Schmerz, den Alter und der Tod verhängen, 
Solang' niclit aufhört zu bestehn das Lingam, 
Das seinem Wesen nach des Schmerzes Quell ist. 
Liest man llnfjasi/a avinkrittcfi, so wird die dritte Zeile 
lauten: „Dieweil nicht aufhört zu bestehn das Lingam"- 
Dieses begleitet den Purusha aus einem Leben ins andere, 
und aus ihm, vermöge seiner Natur, entspringt der Schmerz. 
458 I'iß Sänkbya-Kärikä des I^varakrishiia. 
od. Warum die Prakrili die Weltentwicklung veranstaltet. 
56. itij csha praJcritikrito nKihad-ädi-vigeshcchJmta-par'yantah 
l)ruliinirusliaüiniohsha-artham, svärtJia' iva, paräriha' äramhliah. 
So unternimmt die Prakriti dies Werk 
Vom Grofsen an bis zu den Unterschieden, 
Zu jedes einen Purusha Erlösung, 
Zum fremden Zwecke, als geschäli's zum eignen. 
Das Werk der Scliöpfung erstreckt sich vom Mahän bis 
zu den Vigesha's, welche aus jedem Lihgam immer wieder 
neu heraustreten. Darum erfolgt das Unternehmen der Welt- 
entwicklung für jeden Purusha speziell zum Zwecke seiner 
Erlösung (iwaiiimruslia-vim<jksha-artham). Mit diesen Worten, 
wenn unsere Deutung richtig ist, kehrt der Verfasser von 
dem Rückfalle in die empirische Anschauung zu dem der 
Konsequenz des Systems entsprechenden Idealismus zvunick. 
Die Prakriti wirkt hei jeder ihrer Evolutionen parärtJic, 
„im Interesse eines andern", des jedesmaligen Purusha, svärthe 
Iva, als geschähe es in ihrem eigenen Interesse. Zwar ist es, 
nach Vers 62, nicht der Purusha, sondern die Prakriti, welche 
gebunden ist und erlöst wird, aber die Prakriti erlöst sich, 
d. h. löst sich los vom Purusha, um den Schmerz, den nicht 
sie, sondern er allein empfindet, zu heben. 
Nach Maitr. Dp. 5,1 ruhen die Wesen im Atman svärthe 
.sväbhäviJce 'rthe ea, zum eigenen Zwecke (zur Erlösung des in 
ihnen verkörperten Purusha) und zum Naturzwecke (zum 
Zwecke des Svabhäva , d. h. der Prakriti) ; denn hier ist 
Purusha und Prakriti noch eins in Brahman (vgl. Sechzig 
Upanishad's S. 329 Anm. 1). 
« 
VI. Eschatologie; 
die Lehre von der Bindung und Erlösung. 
Vers 57—68. 
57. Unbe«urst-z>veckmäfsiges Wirkon der Prakriti. 
57. vatsa-vivridd]ii-)iii)iitiam hslnrasya ijathä x^ravrittir ajnasya,. 
jnoii'ilia - v'nnol-xha-nimiüam tathä pravriiiili pradJiänasya. 
"Wie mn des Kalbes Wachstum zu befördern 
Die Milch sich regt, obgleich sie unbewufst, 
So regt die Prakriti sich zu dem Zweck, 
Des Purusha Befreiung zu vollbringen. 
Die Prakriti ist avivclcin, acetana (Vers 11). Wie kann 
sie sich einen Zweck setzen? — Wo Begriffe fehlen, da stellt 
ein Bild zur rechten Zeit sich ein. 
oS. Diese Z^Tecknirkimfr betrachtet nach Analogie des menschlicheii 
Handelns. 
58. aHtsul-i/a-)t/crltii/-a)iham ycdhä Iritjdsn pravartatc JoJcah, 
purnsliasija vimohsha-ariham pravarUäe iadvad anjaldam. 
Wie um der Stillung des Verlangens willen 
Die Menschenwelt in Taten sich ergeht, 
So um des Purusha's Erlösung willen 
Kommt das Unoffenbare zui' Entfaltung. 
Das Unoffenbare ist die Prakriti. Wie der vorige Vers 
das unbewufste Wirken, so erläutert dieser das zweck- 
mäfsige Wirken der Prakriti. 
460 Die Sänkhya-Kärikä des I^varakrishiia. 
59. Rückkehr der Prakriti ohne erlangte Erlösung. 
59. railgasi/a dargayitvä nivartate nartaki yathä i)riii/ät, 
purushasi/a tathä ätmänmn praMoya vimvartate prakriiih. 
Wie eine Tänzerin vom Tanze absteht, 
Nachdem sie vor dem Publikum sich zeigte, 
So kehrt die Prakriti in sich zurück, 
Nachdem sie sich dem Purusha offenbai'te. 
Wir verstehen diesen Vers nicht, wie es gewöhnlich zu 
geschehen scheint (vgl. Väc. Gaud. zu Vers 61), von der Er- 
lösung, welche erst Vers 61 unter anderer Wendung des Bildes 
geschildert wird; soll dort nicht eine überflüssige Wiederholung 
vorliegen, so mufs unser Vers 59 nicht von der Erlösung, 
sondern von der Involution des Lingam (wodurch es wieder 
zur Prakriti, zum Avyaktam wird) verstanden werden, wie 
eine solche nach jedem Lebenslaufe stattfindet. Nachdem das 
Lingam Vers 42 mit dem Schauspieler verglichen war, der 
seine Rollen wechselt, erscheint es hier als Tänzerin, welche 
immer wieder und wieder in jedem Lebenslaufe aufs neue 
vor dem Purusha ihre Reize entfaltet, gewöhnlich aber sich 
vergebens bemüht und ohne Erfolg sich zurückzieht. Auf 
diese vielfachen Bemühungen der Prakriti mittels ihrer Ent- 
faltungen als Lingam bezieht sich der folgende Vers. Er würde 
sehr störend dazwischentreten, wenn schon im Verse vorher 
die Erlösung zu verstehen wäre. 
60. Hilfreiches Bemühen der Prakriti. 
60. nänavidhopakärair upakäriny aniipaliärimli ptinsah 
gunavaty agimasya satas tasydrtham apärthakam carati. 
Statt nänävidhopahärair bei Lassen lesen die Scholiasten 
und die meisten Ausgaben nänävidhair upäyair, welches weniger 
charakteristisch ist, übrigens aber auf dasselbe hinausläuft. 
So müht sie sich, durch mancherlei Ililfleistung 
Hilfreich dem nichthilfreichen Purusha, 
Die Gunahafte ihm dem Gunalosen 
Zu seinem Nutzen ohne eignen Nutzen. 
VI. Esobatologie. 461 
Zwar ist es clio Piakiili, welche natli \'ers ()2 ^übunden 
ist, wandert und erlöst wird, aber dennoch geschieht diese 
Krlösung nicht in ihrem, sondern in des Purusha InteressCy 
da nicht sie, sondern er den Schmerz emplindet. 
(»1. Rückkehr der Prakrili nach erlanjrter Erlösung:. 
»51. prukritch si(l/ij)i('ir(if<(nnii im lincid asti, iti mc matir hhavati, 
yä (h-ishfd asm> , iti piinav na darranam npaiti purushasya. 
Niclit gibt es etwas, das ist meine Meinung, 
Zartfühlenderes als die Pi-akriti; 
Naclidem sie weifs, dafs sie gesehen worden, 
Zeigt sie sich nicht nochmals dem Purusha. 
Man niui's dies Bild genau von dem in Vers 59 unter- 
scheiden. Dort war die Prakrili eine Tänzerin, welche sich 
in jedem Lebenslaufe wieder neu vor dem Purusha produziert, 
indem sie sich als Lingam entfaltet. In unserm Verse hin- 
gegen ist von einem verschämten Weibe die Rede, dessen 
Reize zufällig von einem fremden Manne erblickt wurden, und 
welches infolgedessen vermeidet, diesem Manne je wieder vor 
Augen zu treten. So hört auch das ewige Wechselspiel von 
cxplicatio und impJicatio, in welchem die Seelenwanderung 
besteht, für immer auf, sobald der Purusha die Prakrili nicht 
nur gesehen, sondern auch erkannt hat. 
02. Mcht der Purusha, sondern die Prakrili irird erlöst. 
02. iasmän na mucyate, nä 'pi hadhyate, nä 'pi samsarati purushdh ; 
samsarati hadhyate mucyate ca nänä-ä^rayä praTiritih. 
Darum wird nicht erlöst, ist nicht gebunden, 
Ist nicht auf Wanderung der Purusha; 
Es wandert, wird gebunden und erlöst 
Die Prakriti, vielfache Zuflucht suchend. 
„Darum" (weil, wie Vers 59 — Gl gezeigt wm-de, die Pra- 
kriti allein alles bewirkt und an sich erfährt) wird nicht der 
Purusha von der Prakpiti, sondern die Prakriti vom Purusha 
erlöst. Und freilich ist dabei festzuhalten, dafs, wie Vers 63 
hervorhebt, die Prakriti „sich erlöst um des Purusha willen''^ 
462 Die Sänkhya-Kärikä des i(j"varakrishiia. 
weil er, obgleich in Wahrheit unbeteiligt [ndashia Vers 20), 
solange nicht die erlösende Erkenntnis eintritt, die Prakriti 
für sein eigenes Selbst hält (vgl. Vers (34) und infolge dieses 
Irrtums den in ihr liegenden, aber von ihr selbst nicht 
empfundenen Schmerz als Geniefser {hlioliriXers 17) empfindet. 
63. Der eine erlösende Bhäva und die sieben nichterlösendeu. 
63. rüimih saptahhir eva tu hailhnati/ ätmänam äimanä prah'itili, 
sä eva ca imnisJ^asyärtham rintocai/ati eharupena. 
Auf sieben Arten in Gebundenheit 
Hält Prakriti sich selber durch sich selber; 
Und eben sie, dem Purusha zuliebe, 
Erlöst sich selber nur auf eine Art. 
Sie bindet sich durch die sieben Bhäva's: dharma, adliarma, 
rairägyam, avairär/yani, ai<^varyani . anmQvarycüu und ajnäiiani, 
und erlöst sich nur durch den achten Bhäva, das Jnä)/am. 
Ebenso Maitr. Up. 3,2: hadJtnaty Cdmanä dtmänam. Aber 
dort ist es der von den Guna's der Prakriti überwältigte 
Ätman, der sich selbst durch sich selbst bindet und in den 
Wahn verfallen (ahhimändram prayätah) wähnt: almm so, mania 
idam (ich bin dieser, mein ist dieses). Hier haben wir wohl 
eine der Quellen der Sänkhya-Kärikä. Vgl. das Folgende, 
64. Welches Ist diese erlösende Erkenntnis? 
64. cvam taiiva-ahhydsäu na asmi, na nie, na aliam, ity aparigeslmm 
aviparyayäd viguddJiam Irralani ufpadyate jnäiiauL 
So bringt als Frucht das Studium der Gi'undwesen, 
Das absolute, durch Nichtirrtum reine 
Bewufstsein, das nichts übrig läfst zu wünschen: 
,,Das bin ich nicht! das ist nicht mein! ich bin nicht!" 
Die erlösende Erkenntnis besteht in dem aus Betrachtung 
der Tattva's, d. h. der huddhi, des ahartl^ära, des manas usw., 
entspringenden Bewufstsein des Purusha, alle diese Tattva's 
nicht zu sein, sie nicht zu besitzen^ ja sogar selbst nicht 
(empirisch) zu existieren. Auch diese Erkenntnis gehört als 
achter Bhäva der Prakriti, und zwar der Buddhi an, welche 
VI. Eschatologio. 4G3 
sie dem Purusha darbietet (Vers 30 — 37), der sie sieh (nach 
späterer TheDric, indem die Buddhi sich in ihm spiegeh) zu 
eieen macht. 
*c«^ 
<J5. Prakriti und Purnslia nach erlangter Krkenutnis. 
k 05. tfHd nivrittaiwasavam arfhavagät saptarüpavi»ivrHtäm 
jjyalrifim pagijati purnshah, prekshaluvad avasthifah, siistlnih. 
Zufrieden, abseits, als Zuschauer siebend 
P Schaut dann der Purusha die Prakriti, 
Die, weil der Zweck erreicht, vom Zeugen abläfst 
Und sieben ihrer Formen von sich abtut. 
Der Purusha war nie etwas anderes als Zuschauer; jetzt 
aber weifs er auch, dal's er nur dieses ist. Dieses Wissen 
ist das höchste Erzeugnis der Prakriti und ihrer Guna's; es 
bleibt allein, während die sieben übrigen Bhava's, ilh(tnii(i usw^, 
zunichte werden. 
6ß. Verhalten beider bei dem Lebend-Erlösten. 
GG. drlshfä mai/d, iti/ iipcJishaka' cko, drishtä ahmn, ity uparaiä amja. 
sati stimi/of/e ^pi tdi/oh. jn-aiirrjmwni )ia asti sarcfasya. 
Sie ist ei'kannt! so spricht er und verschmäht sie. 
Ich bin erkannt! so spricht sie und läfst ab. 
Wenn auch besteht noch die Verbindung beider, 
So lieaft doch kein Motiv mehr vor zum Schaffen. 
i'ber ein Schwanken zwischen idealistischer und realisti- 
scher Auffassung kommt das System auch hier nicht hinaus. 
Während in der Regel die Verbindung nur als eine schein- 
bare dargestellt ward, zu deren Beseitigung die Erkenntnis 
des Nichtverbundenseins (viveka) genügt, so ist hier realistisch 
von einer wirklichen Verbindung zwischen Pui'usha und Pra- 
kriti, d. h. zwischen erkennendem Subjekt und Leib die Rede, 
die auch nach der Erlösung noch eine Weile bestellt, ohne 
jedoch die Prakriti zu weitern Evolutionen zu veranlassen. 
Das jiiayojunam saryasya sind eben die sieben wegfallenden 
Bhavas. 
464 I^^6 Sänkhya-Kärikä des I^varakrishna. 
67. Fortbesteben des Leibes nach der ErliJsung-. 
67. samyagjnäna-adhigamäd dharma-äditmm aliärana-präptau, 
thhfhaü samsJiära-vagäc cakrahhramavad dhrita-gartrah. 
Wenn durch Erlangung des vollkommnen Wissens 
Nicht mehr sind Ursach' dharma usw., 
So bleibt doch, wie das Töpferrad ausrollend, 
Im Leib er noch, kraft des empfangnen Eindrucks. 
Die samskära's sind die in einer frühern Existenz er- 
worbenen Eindrücke (empirische Charaktereigenschaften), 
Nachwirkungen guter und böser Werke, deren Frucht erst 
zu Ende genossen werden mufs. Sie sind die mmittaü in 
Vers 42 und die hhävas in den folgenden Versen. 
Das Bild von der zu Ende rollenden Töpferscheibe mag 
entstanden sein in Anlehnung an Maitr. Up. 2,6 (Sechzig 
Upanishad's S. 321) und findet sich auch bei (^ankara im 
Kommentar zu Brahmasütram 4,1,15 p. 1081,2, wo sich auch 
drei Zeilen weiter der Ausdruck samsliäravarjät wiederfindet. 
68. Definitive Erlösung nach dem Tode. 
68. prallte garira-bhede, carüa-arfhatvät, pradhäna-vinivrittan 
aiMntiJcam dfyantiJcam idilmyam Tzaivalyam dpnoti. 
Der Leib fällt hin, das Endziel ist erreicht, 
Die Prakriti kehrt ganz in sich zurück; 
Und er erlangt sodann die Absolutheit, 
Die beides, ewig und ausschliefslich ist. 
Die Prakriti kehrt ganz in sich zurück, alles wird wieder 
zur Prakriti, nicht nur die Bhava's, welche aus ihr geschöpft 
sind (Vers 42), sondern auch das Lingam, welches nur die 
offenbar gewordene (vijalda) Prakriti (das avyaUam) selbst ist. 
Kevala, absolut; kaivalyam. Absolutheit, völlige Gelöstheit 
von allem, und so auch vom Leiden. Dieselbe ist aiMntiha, 
nur Freiheit vom Leiden, nichts aufserdem, keine positive 
Glückseligkeit gewährend, und auch ätyanfihi, ohne Ende. So 
schliefst sich dieser letzte Vers der eigentlichen Kärikä mit 
dem ersten zusammen. 
VII. Epilog. 
Vers 69-72. 
69. Ursprung der Lehre. 
09. x^Hrnxlinriltum jhdnam /dam gnlnfam paramarshhm mmäliliyä- 
tam, 
sihitii-utpaiti-pralayäg cini}janie yaira hhidänäm. 
Dies tiefveiborgne Wissen wird verkündet 
Zum Heil des Purusha vom höchsten Weisen. 
Um seinetwillen wurden überdacht 
Ursprung, Bestand und Untergang der Wesen. 
70. Fortpflanzung: der Lehre. 
7(^. etat pavifram agryam Muuir Asuraye 'milmmpayä pradadau, 
Asurir api PancagiMtäya, tena haliudhdlmtam tantrani. 
Dies höchste Läuterungsmittel hat der Weise 
Dem Asuri aus Mitleid überliefert; 
Dann weiter Asuri dem Pancagikha, 
Von dem die Lehre wurde ausgebreitet. 
71. Der Verfasser der Ksirikä. 
TL rishyaparamparayä ägatam Igvarahrishnena ca etad äryahldh 
mudisJnpfa»! dryamatind, sarnyag vijnäya siddhdntam. 
Das durch der Schüler Reihe überkommene 
Hat Igvarakrishna in treuem Sinne 
In Kürze dargestellt in Aryä- Versen, 
Nachdem er ganz den Lehrbegriff erfafste. 
72. Vollständigkeit des Werkes. 
72. sajdrdydm lila ye'rtluh, tc 'rilidh hritsnasya sliashtitantrasya, 
akJiyäyiJid-viraJdtah parardda-vivarjdär. cäpi. 
Deüssen, Geschichte der Philosophie. I, in. 30 
466 Die Sänkhya-Kärikä des I^varakrishna. 
Der Inhalt unsi-er siebzig Verse ist 
Der Inhalt auch des ganzen Sechzigwerkes, 
Nur ohne die erläuternden Geschichten 
Und ohne fremder Meinungen Besprechung. 
Das Shashtitantram ist nach dieser Stelle nicht notwendig 
ein früheres Werk, sondern nur das „System der sechzig 
Lehrbegrifie". Diese würden nach dem Räjavärttikara (einer 
Schrift aus dem 11. Jahrh. p. C.) bei Väc. zu unserer Stelle, 
aufser den fünfzig Bhäva's, die folgenden zehn Grund- 
begriffe sein: 
1. pradhäna-astifmm, Realität der Prakriti; 
2. eJcatvam, ihre Einheit; 
3. arthavattvaw, ihre Zwecksetzung; 
4. amjatä, ihre Verschiedenheit vom Purusha; 
5. pdrärtJiyam, ihr Wirken im Dienste eines andern; 
6. änaihjam, die Vielheit der Purusha's; 
7. viyoga, sein Getrenntsein von der Prakriti; 
8. yoga, seine Verbindung mit ihr; 
9. geshavriffi, die Evolution der übrigen (Prinzipien) ; 
10. aJcartritvani, die Untätigkeit des Purusha. 
Die Reihenfolge ist wohl um des Verses willen umgestellt. 
Da von Gaudapäda zu Kärikä 17 eine Stelle aus dem 
Shashtitantram zitiert wird, so scheint ein Werk dieses 
Namens existiert zu haben. Vgl. Garbe, „Mondschein", Seite 111. 
Lassens Lesung asi/a würde, wenn sie richtig wäre, allerdings 
nicht ein Werk, sondern nur das System voraussetzen. 
Wie dem auch immer sein mag, jedenfalls spricht sich 
in unserm Verse das Bewufstsein aus, dafs in der Sänkhya- 
Kärikä das System vollständig dargelegt ist, und hierauf 
gründet sich die Berechtigung des Versuches, den wir im 
folgenden unternehmen wollen, das Sähkhyasystem aus- 
schliefslich auf Grund der Kärikä darzustellen, indem wir aus 
ihren Kommentaren, den Sütra's und den übrigen Sähkhya- 
schriften nur so viel zulassen, wie als notwendige Ergänzung 
der Kärikä in dieser selbst schon andeutungsweise enthalten 
ist, und uns übrigens durch keine spätem Modifikationen in 
unserer Auffassung beirren lassen. 
Kurze Darstellnng des Sänkhya- 
systems nacli der Sänkhya-Kärikä. 
I. Die Grundanschauungen des Systems. 
s< 1, Das Sänkhyasystem geht aus von der Tatsache Motiv der 
des Leidens. Dreifache Schmerzen, entspringend aus uns scL'e"n "fot- 
selbst, aus den Wesen, aus dem Schicksale, stürmen auf uns ^"^''""^ 
ein und regen die Frage an, wie wir uns von ihnen für immer 
befreien können. Diese Frage bleibt auch dann bestehen, 
wenn wir durch Erreichung irdischen Wohlergehens dem 
Leiden entronnen zu sein glauben, denn erstlich ist ein solches 
Wohlergehen vergänglich, und zweitens ist es mehr als das, 
was wir suchen, und darum weniger: denn der AVeise strebt 
nach Schmerzlosigkeit, nicht aber nach positiver Lust, Ebenso- 
wenig wie das Wohlergehen im Leben kann auch das Be- 
treiben des vedischen Opferkultus zu jener gesuchten Schmerz- 
losigkeit führen, nicht nur weil wir uns dabei durch das 
Töten von Tieren beflecken, sondern auch weil der himm- 
lische Lohn, den man von den Opferwerken erhofft, ein vor- 
übergehender ist und nach seinem Verbrauche im Jenseits 
wiederum zur Rückkehr auf diese Erde und zu einem neuen 
Lebenslaufe nötigt. Endlich sind die Opferwerke auch mit 
dem Bedenken behaftet, welches unser Vers 2 ati(;aya nennt, 
mit dem Bedenken des Cbermafses, sofern auch sie zu viel 
erreichen, positives Glück in ihrem Gefolge haben und daher 
mehr bewirken, als die von dem Weisen allein angestrebte 
absolute und ewige Schmerzlosigkeit. Diese kann nur erlangt 
werden auf dem Wege der philosophischen Erkenntnis. 
Welches ist diese Erkenntnis? 
30* 
468 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Sänkhya-Kärikä. 
Das Unbeii § 2. Alles Leiden beruht darauf, dafs gewisse Dinge und 
weg au'ihln' Verhältnisse der objektiven Welt von dem erkennenden Sub- 
jekte als seine eigenen empfunden werden. Und doch sind 
sie gar nicht seine eigenen, denn der Purusha, das Subjekt 
(les Erkennens, steht der Prakriti, dem Inbegriff alles Objek- 
tiven, als ein anderer gegenüber. Es ist also eine Täuschung, 
wenn der Purusha die in der Prakriti liegenden Verhältnisse 
als Leiden, als sein Leiden empfmdet. Könnte man diese 
Täuschung heben, könnte der Purusha zu der Erkenntnis des 
üiveka, d. h. seiner Verschiedenheit von der Prakriti und allem, 
was zu ihr gehört, gebracht werden, so würde die gestellte 
Aufgabe gelöst sein : der Schmerz würde völlig und für immer 
aufhören, denn der Purusha würde wissen, dafs der bis dahin 
empfundene Schmerz nicht sein Schmerz ist, ihn nicht an- 
geht, und auch die Prakriti würde keinen Schmerz empfinden, 
weil dazu ihre auf jenem Wahne beruhende Verbindung mit 
einem empfindenden Subjekte, d. h. mit dem Purusha gehört. 
Es kommt also alles darauf an, den Wahn jener Verbindung 
zu heben und die Erkenntnis von der gänzlichen Diversität 
des Purusha und der Prakriti, d. h. des erkennenden Subjektes 
und der ganzen objektiven Welt, im Purusha zu erzeugen. 
Das Bündnis § 3. Zu dicscm Zwccke verbünden sich die Prakriti und 
Purusha und der Puruslia ähnlich wie der starke Blinde und der sehende 
se^in ^zweck. Lahme, von denen jener diesen auf die Schultern nimmt, 
w^odurch dann beide zu dem von ihnen erwünschten Ziele 
gelangen. Diese Verbindung ist, wie die Griechen sagen 
würden, nicht xaxa y^pcvov, sondern xar' Ixivoiav zu verstehen. 
Es handelt sich nicht dabei um einen einmaligen zeitlichen 
Akt, sondern von Ewigkeit her ist der Purusha in die Pra- 
kriti verstrickt oder wähnt doch, es zu sein, und von Ewig- 
keit her besteht auch das gemeinsame Streben nach der Auf- 
hebung dieses Wahnes, d. h. das Bimdnis zwischen dem 
Purusha, welcher lahm, nur erkennend, ohne jede Fähigkeit 
des Handelns ist, und der Prakriti, welche blind, d. h. ohne 
die Fähgikeit des Erkennens ist. Das einzige, was sie bei- 
tragen kann, um jene ersehnte Erkenntnis in dem Purusha zu 
erzeugen, besteht darin, dafs sie ihr unentfaltetes (avijaJdam) 
Wesen zu einem entfalteten (vi/aliam) macht. Eine solche 
■rsi 
I. Die Grundanschauungoii des Systems. 4G1> 
Solbstontfaltung der Pnikiiti vor den Blicken des Purusha ist 
jeder einzelne Lebenslaul", und die unzähli,ij;en, nach dem Ge- 
setze der Seelenwanderuno- auf einander folgenden Lebens- 
läufe sind ebensoviele Selbstentfaltungen der Prakriti, sind 
«'bensoviele Aufforderungen an den Purusha, die Prakriti und 
alles, was sich aus ihr entwickelt, als sein Nicht-Ich zu er- 
kennen. In diesem Sinne wohl wird die Prakriti in N'ers 09 
mit einer Tiinzerin verglichen, welche auftritt, ihre Künste 
vor dem Zuschauer entfaltet und dann wieder zurücktritt. 
(Gewöhnlich wird der Zweck dieses Auftretens nicht erreicht. 
Nach jedem Lebenslaufe tritt die Prakriti aus dem Zustande 
des Entfaltetseins, des Vi/aliani, in den des Ävi/nliam, der Nicht- 
entfaltung, zurück, um immer wieder aufs neue in einem 
abermaligen Lebenslaufe sich vor dem Purusha zu entfalten, 
und so in inß)utiiiii, es sei denn, dafs der vivchi, die Erkennt- 
nis seiner Verschiedenheit von der Prakriti, in dem Purusha 
aufleuchtet, wodurch die Erlösung vollbracht ist. Wenn 
endlich einmal die Entfaltung der Prakriti diese erlösende Er- 
kenntnis im Purusha bewirkt, dann braucht die Tänzerhi 
nicht mehr vor dem Zuschauer sich zu produzieren, dann ist 
die Prakriti vielmehr jener schamhaften Jungfrau in Vers 61 
zu vergleichen, welche bei Enthüllung ihrer Reize von dem 
Purusha, dem Manne (wie dieses Wort auch heifstj, belauscht 
wurde und scheu vor ihm flieht, um nie wieder vor seinen 
Blicken zu erscheinen. — Eine solche Erlösung bringt beide 
Teile zur Ruhe; im übrigen ist sie nicht sowohl, wie \"ers (32 
hervorhebt, eine Erlösung des Purusha, an welchem als dem 
reinen, unbeteiligten ()iiadhi/asiha) Subjekte des Erkennens 
überhaupt nichts vor sich gehen kann, als vielmehr eine 
solche der Prakriti, des Inbegritl's alles dessen, was geschieht 
und je geschehen kann. 
§ 4. Die Prakriti ist das Avyaldam, ,,das Unentfaltete";Die Kntfai- 
indem sie ihr Wesen vor dem Purusha entfaltet, wird sie zum prak?iti"or 
Vi/nktiim; somit ist das Vi/aJddni nichts anderes als das dem puruTha. 
Purusha sichtbar gewordene Ävydliam; es ist für das Ver- 
ständnis des Systems wichtig, daran festzuhalten, dafs zwischen 
der Prakriti und dem Komplexe ihrer Entfaltungen nicht Kau- 
salität in unserm Sinne, sondern vielmehr eine Art Identität 
470 Kurze Darstellung des Säukhyasysteins nach der SänkbyaKärikä. 
"besteht, indem beides zu einander sich verhäU wie die natunt 
ludurnns zur natura »aturata. Um zu dieser zu werden, geht 
zunächst aus der Prakriti hervor die Buddhi (der Intellekt)^ 
welche, da sie noch nicht individuell ist, der Mahän (der 
grofse Intellekt, der Weltintellekt) genannt wird. Erst aus 
der Buddhi geht dann weiter hervor der Ahankära (der Ich- 
macher, das Prinzip der Individuation), aus diesem einerseits 
die zehn Indriya's (Sinnesorgane, nämlich die fünf Erkenntnis- 
sinne und die fünf Tatsinne) nebst dem Manas (Verstand, 
bewufster Wille) als Zentralorgan, andererseits entspringen aus 
dem Ahankära als die objektiven Korrelate der fünf Erkenntnis- 
sinne die fünf Elemente, und zwar zunächst als die Tanmatra's? 
die fünf Reinstoffe, aus welchen sodann endlich, wie noch zu 
zeigen sein wird, wahrscheinlich nur durch Mischung, die 
Bhüta's (die groben Elemente) hervorgehen. Alle die ge- 
nannten Wesenheiten, Buddhi, Ahankära, Manas und Indriya's, 
Tanmätra's und teilweise die aus ihnen hervorwachsenden 
Bhüta's, bilden das Lihgam (den psychischen Organismus), 
welches den Purusha auf allen seinen Wanderungen begleitet, 
in jedem neuen Lebenslaufe sich vor ihm entfaltet und am 
Ende jedes Lebens sich wieder in den Zustand der Xicht- 
entfaltung begibt, d. h. zur Prakriti wird, von der es nicht ein 
Teil, sondern vielmehr diese ganz ist, daher auch die endliche 
Erlösung als eine solche nicht des Lingam, sondern der Pra- 
kriti behandelt wird. — In äufserlicher, mechanischer Weise 
werden die dreiundzwanzig Elemente des Vyaktam mit Pra- 
kriti und Purusha zu den fünfundzwanzig Prinzipien 
(faitva) zusammenaddiert, und ebenso belanglos für die innere 
Einsicht ist die in Vers 3 vorgenommene Einteilung der fünf- 
undzwanzig Prinzipien in vier Klassen, sofern sie teils 
schaffend, nicht erschaffen (die Prakriti), teils er- 
schaffen und erschaffend (Buddhi, Ahankära, die fünf 
Tanmätra's), teils erschaffen, nicht erschaffend (die fünf 
Bhüta's, das Manas, die zehn Indriya's), teils endlich weder 
erschaffen noch erschaffend (der Purusha) sind. Diese 
Einteilung, unfruchtbar wie sie ist, hat doch den Wert eines 
Kuriosums, weil sie, wenn auch nur zufällig und ohne histo- 
rischen Zusammenhang, eine auffallende Parallele in der 
1. l>ie Gruudanschauungcn des Systems. 
471 
abend liiiuliscluMi Philosophie", nämlich hei Scotus Erigena hat. 
— ^^'iehtigel• ist es, bei allem Folgenden das von uns bereits 
oben I, 2 Seite 218 mitgeteilte Öchema immer vor Augen zu 
haben, wobei \\h\ wie auch dort, der Klarheit ziiliel)e noch 
von dem Umstände absehen, dais die Bhüta's zu einem Drittel 
noch in das Lingam hineinfallen. 
Prnkriti 
Mahän (Buddhi) 
II Purusha 
5 Bhüfa's 
S 5. Wer der o-aiizen von uns dargestellten Entwicklung laeaiismus 
(ler indischen Philosophie gefolgt ist, dem kann es nicht ums im säfi- 
zweifelhaft sein, dafs das Sankhyasystem, trotz der abgerunde- 
ten Form, in welcher es in der Kärikä auftritt, doch nichts 
weniger als eine originelle Schöpfung eines individuellen, von 
der Natur inspirierten Genius ist, sondern vielmehr das letzte 
Produkt einer langen Entwicklung, welche anhebt mit dem 
schroften und kühnen Idealismus des Yäjnavalkya der Brihad- 
aranyaka-l'panishad (kurz zusammengefafst oben 1, 2 Seite 
357 fg.), und von diesem Ausgangspunkte an durch das 
schrittweise zunehmende Überwuchern realistischer Tendenzen 
schliefslich zu dem Systeme wird, dessen Darstellung uns 
jetzt beschäftigt, und welches in allen seinen Einzelheiten 
philosophisch nur begriffen werden kann als ein degenerierter 
Vedäuta, dessen ursprünglicher Idealismus noch überall durch- 
blickt, aber durch das Hineinspielen realistischer Vorstellungen 
zu einem inkonsequenten, philosophisch nicht mehr vollständig- 
verständlichen Gebilde geworden ist. Der ursprüngliche Ve- 
danta lehrte: es gibt in allen Welten, im Himmel und auf 
Erden, nur ein einziges Wesen, den Ätman, auch Purusha 
genannt, welcher das Subjekt des Erkennens in mir ist, und 
472 Kurze Dax'stellung des Säukliyasystems nach der Sjiiikhya-Kärikä. 
aufserdem nichts. Alles, was aufser ihm vorhanden zu sein 
scheint, ist nur eine Mäyä, ein Blendwerk, eine Illusion, 
welche bei richtiger Erkenntnis in das Nichts verschwindet, 
welches sie ist. Zwei Hauptpunkte sind es, welche das voll- 
endete Sähkhyani von diesem ursprünglichen Vedänta unter- 
scheiden, erstlich, dafs es eine Vielheit von Purusha's, von 
Subjekten des Erkennens behauptet, zweitens, dafs die Mäyä 
sich zur Prakriti verdichtet hat. Aber beide Punkte werden nicht 
konsequent durchgeführt. Denn trotz der immerfort nebenher- 
laufenden Behauptung einer Vielheit von Purusha's verfährt 
das System überall und namentlich in der Erlösungslehre so, 
als gäbe es nur einen Purusha, und als wäre mit dessen 
entstandener Selbsterkenntnis die Erlösung nicht nur dieses 
Purusha, sondern auch der ganzen Prakriti vollbracht, so dafs 
dadurch beide für immer zur Ruhe kommen. Zweitens: die 
Prakriti ist zwar nicht mehr die alte Mäyä, aber sie ist darum 
doch keineswegs als materiell zu denken, weder als Materie 
noch als Urmaterie, sondern nur als Urnatur [ntälaprah'iti 
Vers 3), d. h. ebendasselbe in unolfenbarem Zustande (avyalia), 
was in offenbarem (vyalda) Zustande das Lingam nebst 
seinen Dependentien bildet. Dieses Lingam aber ist nicht 
ein physischer, sondern ein psychischer Organismus, welcher 
in jedem Lebenslaufe sich vor dem Purusha aufrollt und in 
jedem Tode sich wieder zusammenrollt, d. h. wieder zur Pra- 
kriti, nicht zu einem Teil derselben, sondern zur vollen und 
ganzen Prakriti wird, deren blofse Entfaltung er ist. Die 
Elemente des Lingam, Buddhi, Ahankära, Indriya's nebst 
Manas und Tanmätra's, sind sämtlich psychische Wesenheiten, 
und erst aus den psychischen Tanmätra's wachsen bei jeder 
Entfaltung wieder aufs neue die Bhüta's, d. h. die materielle 
Aufsenwelt, hervor. Mit der ausdrücklichen Erklärung in 
Vers 22 und 25, dafs die Bhüta's, die groben Elemente, aus 
den die wandernde Seele begleitenden Tanmätra's entspringen, 
steht es freilich in Widerspruch, dafs Vers 39 nur die Fein- 
teile (säkslima) der Bhüta's dem psychischen Apparate an- 
haften (yafataj bleiben, während die grobem, aus ihnen wie 
aus einem Samen erwachsenen Teile (die mäiapitrija) beim 
Tode „zurückkehren" (nivartfode), wie wir annehmen müssen. 
I. Die Gnuidanscliaiiungen des Systems. 47;) 
in die Prakriti, während von dem Grobmassigen (jyrahhuia), 
d. li. der Masse der unorganischen Natur, welche nach Vers 22 
gleichfalls aus dem Lihgam hervorgetreten war, überhauj)! 
nicht weiter die IJede ist. Auch si<'i fallen mit den Mäta- 
l)itriia"s, wie wir annehmen müssen, in die Prakriti Zurück, 
welche den Mutterboden bildet, aus dem der Baum des Lin- 
gam hervorwächst, und in welchen die von diesem Baume 
erzeugten Blätter (inutdpitrijd und jyrahhfda ) zurückfallen, um 
dem abermaligen Ilervorwachsen des Baumes als Nährboden 
'ZU dienen. — Wollen wir diese Vorstelluno-s weise uns durch 
ein abendländisches Analogen näher bringen, so w'äre am 
ersten zu erinnern an die Leibnizische Monade, welche die 
ganze Aufsenwelt aus sich selbst erzeugt. Aber gerade so 
wie Leibniz inkonsequent wird und wegen der Vielheit der 
Monaden inkonsequent werden mufs, indem er doch die Aufsen- 
welt aufser der Monade, wenn auch nur als quasi-real, be- 
stehen läfst, ebenso ist das Saiikhyam, und auch wieder wegen 
der Vielheit seiner Purusha's, genötigt, die allgemeine Aufsen- 
welt bestehen zu lassen, wenn es auch nicht dazu gelangt 
ist, die Übereinstimmung dieser Aufsenwelt mit der aus dem 
Lingam herausgesponnenen Vorstellungswelt durch die lahme 
Ausflucht einer prästabilierten Harmonie zu verbinden. — 
Nicht viel besser als eine solche prästabilierte Harmonie ist 
der Ausweg, welchen spätere Sänkhyaschriften, namentlich 
die Sutra's und deren Kommentator Vijnänabhikshu ein- 
schlagen, wenn sie im Anschlufs an die Vorstellungsweise des 
exoterischen Vedänta das Hervoroehen des Lingam aus der 
Prakriti zunächst als einen kosmischen Prozefs auffassen. Aus 
der Prakriti soll die kosmische Buddhi entspringen, aus dieser 
dann weiter ein kosmischer Ahankara (eine handgreifliche 
coutradidio in (idiecto), aus ihm dann weiter die übrigen Evo- 
lutionsstufen, alle als kosmische hervorgehen, wodurch dann 
der Realismus die Befriedigung hat, schliefslich in den kos- 
mischen Bhüta's eine allen gemeinsame Aufsenwelt zu ge- 
winnen, dafür aber auch kosmische Augen und Ohren, kos- 
mische Hände und Füfse, ja auch unvermeidlicherweise ein 
kosmisches Zeugungs- und Entleerungsorgan in Kauf nehmen 
mufs. Aus diesem zuerst entstandenen kosmischen Lingam 
474 Kurze Darstellung des Säiikhyasystems nach der Säiikbya-Kärikä. 
sollen sich dann die individuellen Liiiga's abgezweigt haben, 
etwa in der Art, daXs aus der kosmischen Buddhi die indi- 
viduellen Buddhi's, aus dem kosmischen Ahankara die indi- 
viduellen Ahankära's, und so in allen übrigen Fällen hervor- 
gegangen wären. Als Grund für die Spaltung in Individuen 
gibt Sütram III, 10, ohne Zweifel im Anschlüsse an Kärika 18, 
die Verschiedenheit der Werke an: mjaldi-bliedah Jicirma-vige- 
sJiät, „die Spaltung in Individuen folgt aus der Verschieden- 
heit des Werkes". AVoher aber die ersten Werke kommen, 
wie der Zirkel zu vermeiden ist, dafs der erste Ursprung der 
Individualität auf Werken beruht, welche doch wiederum eine 
Individualität voraussetzen, das bleibt bei dieser Theorie 
dunkel. Im ganzen ist zu derselben zu bemerken, dafs sie 
unserer Kärika völlig fremd ist, dafs sich in ihr keine Spur 
oder Andeutung derselben findet, ja dafs sie mit deren aus- 
drücklicher Lehre in Widerspruch stellt, indem z. B. der indi- 
viduelle Ahankara nicht durch Zerteilung aus einem kos- 
mischen Ahankara, sondern vielmehr aus der Buddhi ent- 
sprungen ist, und so in allen übrigen Fällen. So sind denn 
namentlich auch diejenigen Bhutans oder groben Elemente, 
welche dem Purusha im Verlaufe des Lebens gegenüberstehen, 
aus dem mit diesem Purusha verbundenen individuellen Liii- 
gam entsprungen, so dafs die aufser diesen angenommenen 
kosmischen Bhutans niemals in Aktion treten, ja auch niemals 
dem Purusha bekannt werden können und daher wohl ebenso- 
wenig Existenzberechtigung haben dürften, wie die von den 
modernen Ideal-Realisten als hinter dieser uns allein bekannten 
Vorstellungswelt liegend erträumte reale Welt. 
II. ontologie 
oder die Lehre von den drei Grundprinzipien: 
Avyaktam, Vyaktam und Purusha. 
Die drei § 6- Der Untersuchung der Prinzipien geht, wie ge- 
"'^'mitfc*"'^" wohnlich in den indischen Systemen, voraus eine Prüfung der 
bei dieser Untersuchung zur Verwendung kommenden Er- 
kenntnismittel, pramäfias, wörtlich Mafsstäbe. Dieser sind 
II. Outologie. 
■.ii> 
nach der Karika drei, iiiclil niohr, „da mit diesen alle Pra- 
mana's erschöpft sind'' (sarva-pranuhHi-sHthaivät), und nicht 
welliger, ,,da die Erhringving der zu beweisenden Dinge nur 
durch das ihnen entsprecliende Erkenntnismittel möglich ist" 
(liraii/ri/a-s/(/(Uiili praHianäd dli/), mit andern A\'orten: da die 
< iesamtheit der zu beweisenden Dinge von allen drei Erkenntnis- 
mitteln Gebrauch zu machen nötigt (wie wir diese Zusätze in 
Vers 4 uns deuten). Die drei Pramana's sind: 
1. (1ris]ifa))t, „die Wahrnehmung", welche bei dem jedes- 
maligen Objekte als solchem stehen bleibt, d. h. nicht über 
dasselbe hinausstrebt; 
2. (tuHmd)mm, „die Folgerung", welche im Gegensatze 
dazu aus einem A\'ahrgenommenen (als Merkmal, Jifig(im) ein 
Nichtwahrgenommenes (den Träger dieses Merkmals, lingin) 
erschlielst: sie ist dreifach, nämlich (nach Gaud.) a) piirvaraty 
,,an das Frühere sich lialtend", von der wahrnehmbaren Ur- 
sache auf eine nicht wahrnelmibare Wirkung schliefsend, 
b) ec.^Jiarad, „an das Spätere sich haltend", von der wahr- 
genommenen A\'irkung auf eine nicht wahrnehmbare Ursache 
schliefsend, c) sämanyato drisldam, ,,das Erkennen aus der 
Gleichartigkeit", entsprechend, nicht, wie wohl behauptet 
worden ist , unserer Induktion, welche aus den einzelnen 
Fällen ein allgemeines Gesetz gewinnt, sondern vielmehr der 
Analogie, welche aus der Gleichartigkeit zweier Gegenstände 
<'in bei dem einen fehlendes Merkmal durch das entsprechende 
Merkmal des andern ergänzt. 
3. cqitavacana))/, „die richtige (oder richtig verstandene) 
Tradition", speziell die vedische, von welcher das System 
übrigens keinen weitern Gebrauch macht, als sofern es die durch 
sie bezeugte Götterwelt äufserlich neben den übrigen Klassen 
von Wesen bestehen läfst. Nur die Götterwelt und was zu 
ihr gehört, d. h. das Transscendente (paroJcsham) beruht auf 
der Tradition, während hingegen [tu, wie Vers 6 erklärt) 
auch das Übersinnliche ((dindriy<im), sofern es nicht eben ein 
solches Transscendentes ist, auf anumänum^ und zwar auf 
f<ä))iänyuto driuldam beruht. Von dieser Art sind sowohl der 
Purusha als auch die Prakriti. Beide sind (diiidriya, d. h. 
niemals in einer Wahrnelimung gegeben, weder in der gegen- 
476 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Säukhya-Kärikä. 
wärtigen ((Irislihon), noch in einer abwesenden, mit der gegen- 
Avärtigen als Ursache oder Wirkung zusammenhängenden 
/^esliavad und pürviivad anumäuum); beide werden auf dem 
Wege der Analogie, wie sich noch weiter zeigen wird, er- 
schlossen. Schon hier zeigt sich, dafs die Prakriti nicht 
eigentlich die Ursache des Entfalteten ist, denn dann müfste 
sie aus diesem durch rcsjiovad amimänam gefolgert werden; 
vielmehr ist das Verhältnis zwischen Prakriti und Erschei- 
nungswelt nicht das der Kausalität, sondern der Identität; 
beide unterscheiden sich nicht anders als das zusammen- 
gerollte Tuch von eben diesem Tuche, wenn es aufgerollt ist. 
Kausalität § 7. Die Prakriti verhält sich zu ihren Erscheinungen 
*"^'^tat."'^ wie das Metaphysische zum Physischen. Ein solches Ver- 
hältnis läfst sich durch empirische Zusammenhänge, auf die 
allein wir angewiesen bleiben, nur in der Weise vorstellig 
machen, dafs wir den Zusammenhang des Metaphysischen und 
seiner physischen Erscheinung nach Analogie der uns be- 
kannten physischen Zusammenhänge verständlich machen, 
und hierzu ist zu allen Zeiten mit Vorliebe das Kausalitäts- 
verhältnis benutzt worden. So auch im Sänkhyam. Überall 
erscheint die Prakriti als die Ursache (käranam) und das 
Vyaktam als ihre Wirkung (känjam^ vgl, Vers 8. 9. 14. 15. 
16). Zunächst kann von Kausalität in unserm Sinne, welche 
die Substanz unangetastet läfst und nur den Wechsel in den 
Eigenschaften, Zuständen und Formen der Substanz betrift't, 
keine Rede sein. Mit andern Worten: die Prakriti ist nicht 
mnsd efficiens (ninritta-l-dranaiii, welches in anderer Hinsicht 
Vers 42, und zwar ganz richtig zur Verwendung kommt), 
sondern sie ist nur causa »Kderialis (iipädäna-käranam) , und 
ihre Erscheinungen verhalten sich zu ihr wie die Goldgefäfse 
zum Goldklumpen, das Gewebe zu den Fäden oder, um das 
in Vers 16 vorkommende Bild zu gebrauchen, wie Dampf oder 
Eis zu dem Wasser [parinämatali saldavat, Vers 16). Nach 
Analogie (sämämjafo drisJifam) mit dem Stoffe, aus dem die 
empirischen Produkte bestehen, schliefsen wir auch auf die 
Prakriti. Aber dieser Analogieschlufs ist und bleibt nur ein 
Bild, denn die Prakriti ist keineswegs eine Art Materie, aus 
der die Erscheinungen geformt sind, unterscheidet sich viel- 
JI. ontologie. 477 
mclir von einer solchen dadurcli, dal's sie allgegenwärtif^ 
{vi/äpiii Vers 10, rihhu Vers 42), ewig {nHi/(i Vers 10) und eine- 
{eka Vers 10) ist, und dafs sie ihrem ganzen Wesen nach 
aus Sattvam, Rajas und Tamas bestellt, welche wir weiter 
noch als psychische Faktoren kennen lernen werden. Nach 
der vuni Vedanta überkommenen Anschauung ist die Prakriti 
(wie schon oben ^ 5 ausgeluhrt) das Avyaktam, welches in 
jedem Vyaktam ebenso ganz und ungeteilt zur Erscheinung 
kommt wie im \'edanta das ßrahman in jeder seiner indi- 
viduellen Verkörperungen. Sonach ist die Prakriti nicht die 
l'rsache der Welt, so oft auch dieses Schema zur Verwendung 
kommt, sie ist weder uimiiUi-häranam noch iipädäna-lmrfouini^ 
sondern sie ist, mit einem Worte gesagt, die Potentialität, 
welche in jeder Erscheinung zur Aktualität wird; darum 
heifst sie Vers 15 die gakti (poteniia), Vers 9 das qaktam (id 
(juod potest), und ^ wird in der Regel als dasjenige Avyaktam 
behandelt, welches zunächst in einer Reihe psychischer Fak- 
toren und erst durch diese hindurch in der materiellen Natur 
zur Erscheinung, zum Vyaktam wird. Auf der andern Seite 
ist nicht zu verkennen, dafs dieses metaphysische Verhältnis 
der Identität immerfort geneigt ist in das physische Ver- 
hältnis der Kausalität umzuschlagen, und die hieraus ent- 
stehenden Zweideutigkeiten, entspringend aus dem oben ge- 
schilderten Ineinander von Idealismus und Realismus, sind 
dem Svsteme wesentlich und lassen sich nicht heben, ohne 
ihm Gewalt anzutun. 
8 8. Diese Gesichtspunkte kommen sogleich schon zurunerkenn- 
l)<).Tk6it der 
Verwendung bei der Frage, welche unsern Autor Vers 7 — 8 Praknti. 
beschäftigt, warum die Prakriti (Urnatur, oder, wie ihre 
S^Tionyma lauten: das Avyaktam, ,,das Unentfaltete", das 
Pradhänam) unwahrnehmbar ist. Er führt zunächst acht 
Gründe an, auf denen die rnwahrnehmbarkeit (anupalahühi ) 
einer Sache beruhen kann, nämlich: zu grofse Ferne, zu grofsc 
Nähe, Störung der Sinne, l'nstetheit des Manas, Subtilität, 
zwischenliegende Gegenstände, Überwältigung durch andere 
stärkere Eindrücke und Verstecktsein unter Gleichartigem, und 
entscheidet sich bei der Überlegung dieser acht empirischen 
(iründc der Unerkennbarkeit für den fünften. Die Prakriti 
478 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Säukhya-Kärikä. 
wird nicht wahrgenommen wegen ihrer Suhtilität (sauhshmyaui), 
sie kann nm* erschlossen werden aus ihren Entfaltungen. 
Schon hier versagt die Analogie mit dem Stoff und seinen 
Produkten, da in dem Goldklumpen das Gold, in dem Gewehe 
der Faden wahrnehmhar hleibt, nicht aber die Prakriti in 
ihren Produkten. 
Der sat- § 9. Dafs hci der Bestimmung des Verhältnisses zwischen 
aiija V «. ^yyg^j^^^g^jj^ yjj(j Vyaktam nicht sowohl die Kausalität als viel- 
mehr die Identität vorschwebt, kann auch aus einer be- 
merkenswerten Theorie des Säükhyasystems erkannt werden, 
welche sat-luirya-väd<i heifst, „die Lehre von der (von jeher be- 
stehenden) Realität der Wirkung", d. h. des Vyaktam. Dieses 
als Wirkung ist nicht etwas, das vorher nicht gewesen und 
neu entstanden wäre, sondern die Wirkung war von jeher 
schon real vorhanden in Gestalt der Ursache. Hierfür finden 
wir in Vers 9 fünf Gründe: 1. em Nichtseiendes kann auch 
nicht gemacht werden, da dann der Handlung des Gemacht- 
werdens das Subjekt fehlen würde ; 2. der Stoff befafste in 
sich das Produkt schon vor seinem Entstehen; o. wäre dem 
nicht so, so könnte nicht nur Bestimmtes, sondern alles Be- 
liebige entstehen, was gegen die Erfahrung verstöfst; 4. viel- 
mehr kann nur ein Könnendes (nicht jedes Beliebige) das von 
ihm Gekonnte hervorbringen; 5. in Summa: die Wirkung war 
schon von jeher vorhanden, nämlich in Gestalt ihrer Ursache. 
Wenn auch bei dieser Argumentation das empirische Verhält- 
nis zwischen dem Produkte und dem Stoffe, aus dem es ge- 
formt ist, vorschwebt, so ist das Verhältnis zwischen A vya- 
ktam und Vyaktam auch nach der Vorstelhmgsweise unseres 
Autors durch dieses empirische Bild nicht ausreichend be- 
zeichnet; die Prakriti ist kein Stofl', keine Materie, weder 
grobe noch feine, sondern sie ist, wie aus dem ganzen Zu- 
sammenhange des Systems immer deutlicher werden wird, die 
Potentialität, welche im Vyaktam zur Aktualität wird. 
Unterschied § 10. Dcr Gcgensatz von Vyaktam und Avyaktam be- 
^* umi *°^ruht im letzten Grunde auf dem nicht erst von den Philo- 
vyaktara. g^pj^^j^ künstlicli erdaclitcn, sondern von Ewigkeit her in der 
Natur der Dinge selbst liegenden Gegensatze zwischen Er- 
scheinung und Ding an sich, ^^ir wissen jetzt, dafs, im 
IL ontologie. 479 
Gegensätze zu der in Raum und Zeit ausgebreiteten und vom 
Kausal nexus durch wobenen Erseheinungswelt das Ding an sich 
raumlos, zeitlos und kausalitätlos ist. Dieser in der Natur 
selbst liegende Tatbestand kommt wie in der Upanishadlehre 
(oben I, 2 Seite 137 — 142), so auch im Sankhyasystem, wenn 
auch nur unvollkommen, zum Ausdruck. 1. Die Raum- 
losig k ei t der Prakiiti erscheint dem empirischen Denken 
als ein Entbundensein von den Gesetzen des Raumes, welche 
jedem Ding einen bestimmten Ort im Räume anweisen, d. h. 
sie erscheint als Allgegenwart. In diesem Sinne ist die Pra- 
kriti nach Vers 10 vj/äpin oder vihhu (Vers 42), „allgegen- 
wärtig'', und dennoch bleibt sie elca, „eine", und <isävayav(i, 
„ungegliedert"; von allem dem ist das Vyaktam das Gegen- 
teil (Vers 10). — 2. Ebenso erscheint die Zeitlosigkeit als 
Beharren durch alle Zeiten hindurch; die Prakriti ist niti/a, 
von Ewigkeit her, und alulya, unvergänglich; (wäre sie ein 
Irstotl', so würde sie als solcher durch Übergang in ihre 
Produkte in diesen aufgehen, sie würde Ihlga sein, welches 
in Vers 10 verneint wird;) das Vyaktam ist anitya und livga, 
(periodisch) entstehend und vergehend; es ist nach Vers 40 
pürva-uiiKuiua, „vormals entstanden"; in diesem Prädikate 
müssen wir ein empirisches Surrogat für die innere Abhängig- 
keit von der Prakriti erblicken; diese Abhängigkeit erscheint 
als ein uranfängliches Entstandensein des Vyaktam oder 
Lingam aus der Prakriti, in welche es bei jedem Tode ein- 
taucht, und aus der es bei jedem Leben wieder neu hervortritt. 
— o. Die Prakiiti ist nach Vers 10 nicht auf einem andern 
beruhend (ärrita), nicht von ihm abhängig (paratantra), nicht 
verursacht (hetumat), nicht sich betätigend (sah-iya); das Vya- 
ktam ist von allem diesem das Gegenteil; alle die genannten 
Wendungen sind Versuche, die dunkel gefühlte Kausalität- 
losigkeit der Prakriti und Kausalitäthaftigkeit des Vyaktam 
in der stammelnden Sprache einer noch nicht gereiften philo- 
sophischen Anschauung zum Ausdruck zu bringen. 
§ 11. Eine weitere Reihe von sechs Prädikaten ist nach Gemeinsame 
Vers 11 dem Vyaktam und Avyaktam gemeinsam im Gegen- 'ten"!^^' 
satze zum Purusha, der darin „jenem und ebenso diesem ent- 'und'" 
gegengesetzt ist" (tnd-viparit((s fafha ai ). Im Gegensatze zum ''^^'J'"''**'»- 
480 Kurze Darstellung des Säukliyasystems nach der Sänkhya-Kärikä. 
Purusha, dem blofsen Subjekte des Erkennens, ist die ganze 
objektive Welt, die entfaltete wie die unentfaltete, 1. drei-, 
gunahaft, 2. ohne Fähigkeit, sich vom Pm-usha zu unter- 
scheiden, 3. immer Objekt, nie Subjekt, 4. gemeinsam (der 
Purusha ist jedem Individuum eigen und uur ihm eigen, alles 
andere ist für alle Purusha's gemeinsames Objekt); 5. ohne 
Bewufstsein, obgleich die Organe der Erkenntnis, Buddhi, 
Manas usw. in sich befassend ; 6. zeugungsartig, nämlich das 
Vyaktam als erzeugt, das Avyaktam als erzeugend; auch 
dieses Bild kann nur die innere Abhängigkeit des Vyaktam 
vom Avyaktam bedeuten, da letzterm nach der ausdrücklichen 
Erklärung des vorhergehenden Verses jede Txriyä (Tätigkeit) 
abgesprochen wird. Die genannten sechs Prädikate werden 
im folgenden ihre nähere Erläuterung finden, und zunächst 
wird von der am meisten hervortretenden und charakte- 
ristischen Eigenschaft des Vyaktam und Avyaktam zu handeln 
sein, sofern sie beide trigiojd, „aus den drei Guna's be- 
stehend", sind. - 
Die drei § 12. Das Wort guna dürfte im letzten Grunde zurück- 
"?'*^- gehen auf f/rt»a, „die Schar", dscwon ganayati^ „zählen", davon 
gimayati, „multiplizieren", davon Ausdrücke wie dviyuna, fiigiina, 
„zweifach", „dreifach", davon endlich guna, dessen ursprüng- 
liche Bedeutung somit sein dürfte „der Faktor beim Multipli- 
zieren", und in dieser Bedeutung ist auch das Wort im 
Sankhyasystem zu fassen. Die Natur, und zwar zunächst die 
entfaltete, das Vyaktam, enthält eine unendliche Fülle des 
Mannigfaltigen: aber so wie schon Chänd. Ip. 6,4 alle Er- 
scheinungen der Natur (als Beispiele dienen dort Feuer, Sonne, 
Mond und Blitz) als Produkte dreier Faktoren, Tejas, Ajms 
und Aunam (Glut, Wasser, Nahrung) bezeichnet, und das 
Rote in den Dingen als Glut, das Weifse als Wasser, das 
Schwarze als Nahrung nachgewiesen werden, ebenso betrachtet 
das Sankhyasystem alle Erscheinungen der objektiven Welt 
als Produkte dreier Faktoren (guna), des Sattvam (Güte), 
liajas (Leidenschaft) und Tamas (Finsternis). Schon oben I, 2 
Seite 226 — 228 zeigten wir, wie diese Sankhyatheorie aller 
Wahrscheinlichkeit nach zurückgeht auf Chänd. Up. 6,4, und 
wie als mögliches oder wirkliches Mittelglied zu betrachten 
II. ontülogie. 4-^1 
ist der Vers Qy^i. l p. 4,5 von der Ziege und dem Boek, <iju 
und i/Jii, welche Ausdrücke auch als „die Unentstandene", 
.,der Unentstandene'', erklärt werden können, somit schon 
dadurch auf die beiden unentstandenen Sankhyaprinzipicn, 
die Prakriti und den Purusha, hindeuten, wie noch viel mehr 
durch die Holle, die sie in dem Verse spielen: 
Die eine Ziege, rot und weifs und schwärzlich, 
Wirft viele Junge, die ihr glcichgestaltet; 
Der eine Bock in Liebesbrunst bespringt sie. 
Der andre Bock verläfst sie, die genossen. 
Es ist, wie schon oben I, 2 Seite 226 dargetan, unmöglich, 
diesen Vers nicht auf Chnnd. Up. 6,4 zu beziehen, es ist aber 
ebenso unmöglich zu verkennen, dafs durch das verschieden- 
artige Verhalten der Böcke zu der Ziege auf die Purusha's 
im Stande der Bindung und Erlösung hingewiesen wüxl. Somit 
ist dieser Vers für die Genesis der Sankhyalehre aus dem 
Vedanta von entscheidender Bedeutung, und zunächst legt er 
Zeugnis dafür ab, dafs die drei Guna's im letzten Grunde 
auf Chänd, Lp, 6,4 zurückgehen. Dort sind es freilich drei 
Grundstoffe, Glut, Wasser, Nahrung, als deren mannig- 
faltige Produkte alle Erscheinungen der Welt betrachtet werden, 
während im Sankhyasystem die drei Guna's zwar auch ver- 
möge der empirischen AnschauungsM^eise dieses Systems als 
stofflich behandelt werden, jedoch keineswegs als Elemente, 
weder feine noch grobe, sondern nur als die stofflichen Ver- 
treter dreier Grundkräfte, deren Einheit eben die Prakriti 
ist, und welche als drei sich gegenseitig stützende und be- 
kämpfende, hervorlockende und verdrängende Faktoren alle 
die mannigfaltigen Produkte der Erscheinungswelt hervor- 
bringen. Diese drei Faktoren sind: 
1. Sattvdin (Güte); sein Wesen ist Lust, sein Zweck 
Erhellung, es wirkt als erleichternd und erhellend; 
2. liajas (Leidenschaft); sein Wesen ist Unlust, sein 
Zweck Antreibung, es wirkt als antreibend und beweglich; 
I). T(ini((s (Finsternis); sein Wesen ist Indolenz (weder 
Lust noch Unlust), sein Zweck Niederhaltung, es wirkt als 
lastend und hemmend. 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, iii. 31 
482 Kurze Darstellung des Säukhyasystems nach der Sänkhya-Kärikä. 
Unter diesen aus Vers 12 und 13 zusammengefafsten 
Bestimmungen ist die wichtigste die, welche das Wesen der 
drei Guna's hetrifft. Alle Dinge der AVeit, sofern sie unsere 
Lust erregen, bestehen aus Sattvam, sofern sie Unlust erregen, 
aus Rajas, sofern sie uns gleichgültig lassen, aus Tamas. Sofern 
ein Objekt alle drei genannten Wirkungen auf uns ausübt, 
enthält es eben in sich alle drei Faktoren, und ein Freund, 
der mir gestern treu und meine Freude war, heute mich 
verrät und dadurch mein Schmerz ist, und morgen, nachdem 
ich den Schmerz überwunden habe, mir gleichgültig sein 
wird, kann diese drei entgegengesetzten Wirkungen auf mich 
ausüben, sofern er nach einander das in ihm liegende Sattvam, 
Eajas, Tamas gegen mich herauskehrt. Aber wie steht es, 
wenn derselbe Gegenstand zur selben Zeit und in derselben 
Hinsicht dem einen Purusha Lust, dem andern Unlust bereitet, 
z. B. das Geld, um welches zwei Spieler würfeln, und welches 
genau durch dieselben Eigenschaften dem Gewinnenden Lust, 
dem Verlierenden Unlust bereitet? Dieser Fall läfst sich in 
keiner Weise zurechtlegen und beweist, was wir schon öfter 
hervorhoben, dafs auch bei der Zerlegung alles Objektiven 
in die drei Faktoren des Erfreuenden, Schmerzenden und 
Gleichgültigen nicht eine Vielheit von Purusha's, sondern nur 
der eine Purusha, das eine Subjekt des Erkennens vorschwebt, 
wie es als Atman vom Vedänta überkommen war und trotz 
der behaupteten Vielheit von Purusha's immer noch die im 
Denken vorherrschende Vorstellung geblieben ist. 
Das vyak- § 13. Die gauzc entfaltete Natur, das Vyaktam, ist ein 
''^inTn Produkt der drei die Prakriti ausmachenden Faktoren, Sat- 
toi'^undais tvam , Eajas und Tamas. W^as nicht in diesen liegt, mufs 
^grimTäll' vom Vyaktam ausgeschlossen bleiben. So namentlich die 
Avyaktam. Grundcigenschaften des Purusha, die Subjektivität, Indivi- 
dualität, Geistigkeit und Wirkungslosigkeit. Im Gegensatze 
zu ihm ist, wie schon Vers 11 feststellte (oben § 11), das 
Vyaktam Objekt (visliaija), als solches allen gemeinsam 
(sämänya), ferner ungeistig (acetana und avivehin) und endlich 
wirkend oder produktiv (prasavadliarmin). Alle diese Eigen- 
schaften des Vyaktam folgen, wie Vers 14 erklärt, daraus, 
dafs es nur aus den drei Guna's besteht, und dafs, was von 
II. ontolügie. 4g3 
iliesen ausgeschlossen ist, auch von ihm ausgeschlossen bleiben 
mufs (so fassen wir im Gegensatze zu den K(nnmentaren den 
Zusatz: tatl-vipari/aija-ahln'iräf). — Da ferner das Vyaktam, wie 
Vers 14 weiter hervorhebt, seinem ganzen Wesen nach nur 
ki'irdiiii-g/nia-atnial'a ist, nur aus den in der (hier wieder als 
Irsache bezeichneten) Prakriti liegenden Gunas bestehen 
kann, so müssen wir schliersen, dal's auch die Prakriti ein 
blol'ses Ineinander oder, noch bestimmter gesagt, die blofse 
Gesamtheit der drei die Erscheinungswelt produzierenden Fak- 
toren ist. — Aber warum sollte der tragende Grund des 
Vyaktam nicht in diesem selbst, etwa in einer seiner Er- 
scheinungsformen gesucht werden? Darum nicht, so antwortet 
Vers 15 — 16, weil 1. alle Erscheinungen begrenzt sind, wäh- 
rend der Weltursache, wie wir sahen, ünbegrenztheit (das 
empirische Surrogat der Raumlosigkeit) 'zukommt: weil 2. alle 
Erscheinungen den gemeinsamen Familientypus der Produkte 
an sich tragen (saiiicun-ai/at); weil 3. ihrer Produktion eine 
raJcii, eine sie zu produzieren fähige Potenz zugrunde liegen 
mufs, und endlich weil 4. Weltursache und Weltwirkung 
unbeschadet ihrer innern Identität in Gegensatz stehen, und 
diese Gegensätzlichkeit innerhalb der Erscheinungen des Uni- 
versums nicht vorhanden ist (arihhagäd vi(igvari'(pas)/((). Aus 
diesen vier Gründen ergibt sich, dafs die Weltursache nicht 
innerhalb des Vyaktam, sondern in seinem Gegensatze, dem 
Avvaktam zu suchen ist, welches somit aus dem Vvaktam 
erschlossen werden mufs, wenn wir anders auf diese meta- 
physischen Verhältnisse mit unserm Autor das empirische 
Schema der Kausalität anwenden wollen. Dieses liegt auch, 
ebenso wie die inkonsequente Annahme einer realen, vielheit- 
lichen Aufsenwelt, den weitern Bemerkungen in Vers 1(3 zu- 
grunde, welche besagen, dafs aus dem Avyaktam, vermöge 
seiner Drei-(Juna-Natur durch „Co-Evolution" (sionuchn/a) die 
Erscheinungen hervorgehen vermöge einer Umwandlung, ähn- 
lich der des Wassers in Dampf oder Eis, und dafs die Ver- 
schiedenheiten der Erscheinungswelt durch das verschieden- 
artige Hervortreten der drei Guna's, welche sich gegenseitig 
teils fördern, teils hemmen, bedingt ist. 
31* 
484 Kurze Darstellung des Säiikhyasystems nach der Sänkliya-Kärikä. 
Beweise für § l"!- Nacli Beliandlimg des Vyaktam und Avyaktam 
'"'des''*'* geht die Kärikä Vers 17—19 dazu über, das dritte und letzte 
Puiusha. ^gj, Grundprinzipien, von denen die ontologie zu handeln hat, 
den Purusha, zu besprechen und zunächst Vers 17 dessen 
Realität zu erweisen. Sie ergibt sich aus folgenden Gründen : 
1. das Lingam in der Gesamtheit seiner Bestandstücke er- 
scheint hier als ein Aggregat (snüghäta), eine Bezeichnung, 
welche freilich nicht recht dazu stimmen will, dafs, wie dem- 
nächst zu zeigen, die Glieder des Lingam in organischer 
Weise aus der Prakriti und aus einander sich entwickeln. 
Als Aggregat kann das Lingam seinen Zweck nicht in sich 
selbst, sondern nur in einem andern haben, um dessen willen 
es aggregiert wurde, und dieses andere ist der Purusha. 2. Im 
Gegensatze zu dem nur aus den drei Guna's bestehenden, nur 
ungeistigen, nur Objekt seienden Vyaktam und Avyaktam 
mufs es, da kein Objekt ohne Subjekt möglieh ist, ein 
Geistiges, ein Subjekt geben, und dies ist der Purusha; 3. den 
blinden und führerlosen Massen des Vyaktam und Avyaktam 
gegenüber mufs es einen Vorsteher (adliishthätri) geben, einen 
Lenker oder Regierer, wie man sagen möchte, wenn dieser 
Begriff nicht mit der absoluten Tatlosigkeit des Purusha im 
Widerspruch stände; 4. die ganze Entwicklung der Prakriti 
zum Lingam hat den Zweck, einerseits den Genufs, anderer- 
seits die Erlösung zu ermöglichen. Es mufs also einer sein, 
der imstande ist, zu geniefsen und, je nach Umständen, zur 
vollen Erkenntnis und damit zur Erlösung zu gelangen, und 
dies kann nur der Purusha sein. 
Beweise für § 15. Die metapliysischeu Wahrheiten stehen zu der 
*^*'' ^jer"'"" empirischen Erkenntnis der Welt in einem berechtigten und 
purusba's. ^volilbegTÜndeten Gegensatze. Auf einem Verkennen dieser 
Sachlage beruht es, wenn zu allen Zeiten die Neigung be- 
standen hat, metaphysische Erkenntnisse in das Prokrustes- 
bett der empirischen Weltanschauung hineinzuzwängen. Für 
den Metaphysiker kann es nie mehr als nur ein Subjekt 
des Erkenn ens geben, dasjenige nämlich, welches er in sich 
selbst trägt, und dem gegenüber alles andere nur Objekt ist, 
auch die intellektuellen Organe der Mitmenschen, welche für 
mein Bewufstsein immer nur objektiv als Gehirne und deren 
U. üntologie. 485 
Funktionen existieren. Im (Jegensatze zu dieser nietapliysi- 
selien, aus dem Vedanta überkommenen Anschauung läfst 
<las Sankliyam sich verleiten, die emi)irische Erkenntnis von 
der ViellitMt (h'r Individuell in das Reich des Metaphysischen 
zu übertragen und eine Vielheit von Purusha's, von Subjekten 
des Erkennens zu behaupten, welches für den tiefer Blickenden 
eine rotitradiitio in aditcfo ist. Wir werden oft genug ( ndegen- 
heit haben zu sehen, wie das System durch diesen Gedanken 
iidvonsequent und in sich brüchig geworden ist. Hier wollen 
wir zunächst die drei Gründe vorführen, durch welche Vers 18 
die X'ielheit der Purusha's erweisen will: 1. Geborenwerden 
und Sterben sowie auch die Organe, die geistigen wie die 
körperlichen, sind individuell bestimmt, sind bei jedem Indi- 
viduum wieder andere, 2. Eben diese Organe wie auch die 
Akte des Geborenwerdens und Sterbens erfolgen nicht für alle 
mit einem Male, sondern für die Individuen zu verschiedenen 
Orten und Zeiten. Diese beiden Argumente verkennen, dafs 
es immer nur ein Bewufstsein gibt, welchem alles andere, 
alles Entstehen und \^ergehen, alle Organisation der eigenen 
wie der fremden Leiblichkeit nur Objekt und nie etwas anderes 
ist. o. Alles aus den drei Guna's Bestehende ist, wie Vers 11 
lehrte, samduyn, Allgemeingut, nur der Purusha ist individuell, 
in jedem ein anderer. Hier wird die grofse metaphysische 
^^'ahrheit verkannt, welche freilich für die empirische An- 
schauung ein unlösbarer Widerspruch bleibt, dafs es nur ein 
allem andern als Objektivem gegenüberstehendes Subjekt des 
Erkennens geben kann, und dafs dieses eine und ewige Sub- 
jekt in jedem erkennenden Individuum seinen Mittelpunkt hat 
und dabei doch eines bleibt. 
^ 16. Glücklicher ist das System in der Aufstellung weitere 
der übrigen Eigenschaften des Purusha, und es ist charak- scharten des 
P 11 ni sli ü 
teristisch und bemerkenswert, dafs hier wie überall im folgenden 
das Wort Purusha immer nur im Singular gebraucht wird. 
Aus dem Gegensatze dieses Purusha gegen die objektive Drei- 
gunawelt wird Vers 19 richtig gefolgert, dafs der Purusha 
1. blofser Zuschauer (sdlshin), und aus diesem Grunde 2. los- 
gelöst von allem Objektiven (kcrald) und P>. unparteiisch 
()n<((Uiijnxth(t) ihm gegenüberstehend ist. Nur eine Zusammen- 
I 
486 Kurze Darstellung des Säukhyasystems nach der SänkLya-Kärikä. 
fassimg der genannten Eigenschaften ist es, wenn der Purusha 
4. in schöner Übereinstimmung mit der alten Upanishadlehre 
als der völlio- tatenlose Schauende bezeichnet wird. 
Die Vor- § IT. Was die Prakriti dazu treibt, sich immer wieder 
pu"ri!^ha inh und wicdcr vor dem Blick des Purusha zu entfalten, immer 
(ei ra ''^^yjp^jgj. ^q^^ r^^g einem Avyalvtam ein Vyaktam zu werden, das 
ist die zwischen Prakriti und Purusha bestehende „Verbindung", 
der samyoga. Dieses Wort ist jedoch zweideutig; es bedeutet 
erstlich die ursprüngliche Verstrickung des Purusha in 
die Prakriti, welche die letzte Ursache alles Leidens in der 
Welt ist, und zweitens das Bündnis, welches Purusha und 
Prakriti, wie der sehende Lahme und der starke Blinde ein- 
gehen, um durch Hervorbringung der Kenntnis ihrer Ver- 
schiedenheit jenes Leiden zu heben. Tatsächlich laufen beide, 
die Verstrickung und das Bündnis, auf eins hinaus. Denn 
wenn auch das Lingam (die entfaltete Prakriti) Vers 40 purva- 
uipaummi genannt wird, so ist dies doch wohl nicht von einem 
zeitlichen Ursprünge zu verstehen, denn von Ewigkeit her 
besteht die Verstrickung des Purusha in die Prakriti, und 
von Ewigkeit her auch der Samsära, d. h. die immer wieder- 
holten Versuche der Prakriti, durch ihre Selbstentfaltung in 
einem Lebenslaufe die Selbsterkenntnis des Purusha zu er- 
möglichen. Die Verbindung beider, der Sarnyoga, mag man 
darunter die ursprüngliche Verstrickung oder das durch sie 
veranlafste Bündnis verstehen, gibt Veranlassung zu einer 
Reihe der schwersten Bedenken. Wenn wirklich Purusha und 
Prakriti von Natur absolut verschieden sind, woher dann jene 
Verstrickung, welche die Ursache alles Unheils ist? Hierauf 
hat das System keine Antwort, wie denn allerdings alle 
Systeme der Welt (vielleicht abgesehen von Zoroaster und 
Schopenhauer) vor der Frage: xc'ä'sv to xaxdv verstummen. 
Aber schwerere Bedenken erheben sich gegen die Sänkhya- 
anschauung, von denen der Vedänta nicht getrofien wird. Für 
ihn ist die ganze Prakriti eine Mayä, eine Hlusion, und wir 
verstehen, wie eine solche vor der aufgehenden Erkenntnis 
verschwindet wie die Morgennebel vor der Sonne. Aber im 
Sankhyasystem hat sich dieser Nebel zu einer massiven 
Substanz verdichtet, wenn dieselbe auch nicht geradezu eine 
I 
II. ontologie. 4^7 
Materie ist, aber doch sowohl im potentiellen Zustande als 
Avyaktani \vie im aktuellen als Vyaktam als letztes Edukt 
eine ([uasi -reale materielle Welt aus sich hervorgehen läfst. 
Bei dieser im Saiikhyasystem hereingebrochenen, wenn auch 
nicht konsequent durchgeführten, realistischen Anschauung 
müssen wir fragen: wie ist die Verbindung der beiden realen 
Wesen, des Purusha und der Prakriti, zu denken? Ist sie 
eine wirkliche Verbindung, so kann das Band, welcher Art 
es auch immer sein mag, nicht durch die blofse Erkenntnis 
gelöst werden ; beruht hingegen die Verbindung nur auf einer 
Täuschung, so kann eine solche nicht das Leiden der \\"elt 
hervorbringen, denn eben weil Purusha und Prakriti beide 
real sind, ist eine nicht reale Verbindung beider ein blofses 
Nichts. Der Vedanta freilich erklärt von seinem Standpunkte 
aus ganz konsequent alles Leiden, wie die ganze körperliche 
\\'elt für eine Illusion (System des Vedanta Seite 453 fg.), 
aber diesen Ausweg hat sich das Sänkhyam abgeschnitten, 
indem es nicht nur den illusorischen Charakter der objektiven 
Realität leugnet, sondern auch die Tatsache des Leidens als 
eine Realität ersten Ranges geradezu zum Ausgangspunkte der 
ganzen philosophischen Forschung macht. Unerklärlich vom 
Standi)unkte des Sänkhyasystems aus ist, wie die ui'sprüngliche 
Verbindung zwischen Prakriti und Purusha, so auch deren 
psychologischer Zusammenhang im Verlaufe des Lebens. Der 
Purusha ist nur erkennend, völlig tatlos, die Prakriti nur 
wirkend, völlig erkenntnislos; wie ist da ihre Verbindung zu 
denken? Vers 20 antwortet: „Darum wird infolge ihrer Ver- 
bindung das ungeistige Liügam gleichsam (iva) geistig, 
und, obgleich nur die Guna's wirkend sind, so wird doch der 
untätige Purusha gleichsam (iva) zu einem tätigen." Dieses 
zweimalige „gleichsam" verhüllt durch ein Bild den Punkt, 
auf dessen Klarlegung alles ankommen mufste, und welcher 
die eigentliche Achillesferse des Systems geworden und ge- 
blieben ist. Denn wenn die spätem Kommentatoren den 
unerklärhchen Zusammenhang zwischen Prakriti und Purusha, 
vermöge dessen der Purusha die Schmerzen der Prakriti als 
seine eigenen empfindet, und die Prakriti nach Zwecken han- 
delt, die ihr nicht bewufst sein können, dadurch zu erklären 
488 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Sänkliya-Kärikii. 
suchen, dafs sie von einer Spiegelung der Prakriti in dem 
Purusha oder von einer Durchleuchtung der Prakriti durch 
den Purusha reden, so kommen auch diese Wendungen ebenso 
wie das schon in der Kärika Vers 21 gehrauchte Gleichnis 
vom Lahmen und Blinden nicht über ein Bild hinaus, welches 
die Schwierigkeit nicht nur nicht löst, sondern zu verstecken 
sucht, statt sie ofi^n einzugestehen. 
in. Psychologie 
oder die Lehre von dem Hervorgehen des psychischen 
Komplexes (Lingam) aus der Prakriti. 
über den § 18. Das Hervorgehen der Entfaltungen aus der Pra- 
^afga^dev l^l'iti wird iu der Sänkhya-Karikä als sarga (Emanation, 
"^""oder'"" Schöpfung) bezeichnet. Indes ist dieses Wort zweideutig. 
Schöpfung. Einerseits wird es realistisch wie unser Wort „Schöpfung" 
von der Entstehung der verschiedenartigen Wesen gebraucht, 
wie dies Vers 53 — 54 der Fall ist, wovon später. An allen 
übrigen Stellen (Vers 21. 24. 46. 52. 66) bedeutet das Wort 
das Hervortreten des Liiigam aus der Prakriti, sowie die 
Ausstattung desselben mit den hJiäv(rs. Von letztern wird 
in der Pathologie zu handeln sein. Hier haben wir es zu- 
nächst mit der in jedem Lebenslaufe sich wiederholenden 
Emanation zu tun, vermöge deren aus der Prakriti die Buddhi, 
aus dieser der Ahankära, aus ihm einerseits die zehn Indriya's 
nebst Manas, andererseits die fünf Tanmätra's, aus diesen 
endlich die fünf Bhüta''s hervorgehen. Auch hierbei wird in 
Ermangelung einer andern Vorstellungsform die Kausalität 
unberechtigterweise auf metaphysische Verhältnisse über- 
tragen. Aber auch hiervon abgesehen, liegt dieser Evolutions- 
reihe keine innere Notwendigkeit zagrunde, sondern nur die 
Abhängigkeit von den durch die Tradition überkommenen 
Schemas, welche wir oben I, 2 Seite 225 zusammengestellt 
haben. Zwar suchen die Kommentatoren die ihnen vorliegende 
Stufenfolge damit zu rechtfertigen, dafs ein Gegenstand zu- 
nächst durch Manas und Indriya's vorgestellt, sodann mittels 
i 
I 
III. Psychologie. 4J^9 
des Aliankara in Beziehung zum eigenen Ich gesetzt und 
endlicli vermöge der Buddhi zu einem feststehenden geistigen 
Besitztum und Je nach l'mständen zu einem Entschlüsse ge- 
stempeh werde. Aber nach dieser ZurechtJegung mülste die 
StufV'nrcihe gerade umgekehrt sein, da von der Tätigkeit des 
Manas die des Ahailkara und von dieser erst die der Buddhi 
abhängig sein würde. 
5:^ 19. Die erste Emanation aus der Prakjiti ist die Buddhi Die Buddhi 
oder der Mahan (das Wort ist nach der einzigen Stelle, wo*"^'^* ^ 
das (^enus erkennbar ist, Vers 22, Maskuhnum). Diese her- 
vorragende Stelle verdankt die Buddhi ohne Zweifel dem 
Umstände, dafs nach der Upanishadlehre das erste Wesen, 
welches aus dem Atman oder Brähman hervorgeht, dn' Brah- 
män oder Iliranyagarbha ist (vgl. oben I, 2 Seite 179 — 182). 
Dieser, der die Voraussetzung der Weltausbreitung bildende 
kosmische Intellekt, die Weltseele, wird Käth. Up. 3,10 als 
der inahün ätmä, Q^'^^- t'p. 3,19 als der maJiun jntrusJtah be- 
zeichnet, imd eine Rückerinnerung an diese kosmische Rolle 
der Buddhi liegt sowohl in ihrer Nebenbezeichnung als Mahän, 
als auch darin, dafs erst aus ihr der Ahaükära, das Prinzip 
der Individuation, liervorgeht. Hiervon abgesehen erscheint 
in der Kärikä die Buddhi, im Widerspruche zu ihrer Stellung 
in der Emanationsreihe, überall nur als individuelles Organ. 
Hire Funktion wird Vers 23 durch das W^ort adhyavasäya, 
„die Feststellung", einerseits der Vorstellung, andererseits des 
A\'illensentschlusses bezeichnet. Als ihren Inhalt nennt der- 
selbe Vers einerseits Pflicht, Erkenntnis, Entsagung, Herrschaft, 
andererseits deren Gegenspiele, Nichtpflicht, Xichterkenntnis, 
Xiclitentsagung, Nichtherrschaft, über deren Bedeutung die 
Pathologie handeln wird. Die erste Gruppe soll aus dem 
Sattvam, die zweite aus dem Taraas stammen; der Anteil des 
Rajas wird Vers 23 übersehen im Gegensatz zu Vers 45, wo 
die Xiclitentsagung als rajas-artig bezeichnet wird. Und frei- 
lich mufs das Rajas auch in die Buddhi mit eintliefsen. da 
es nur durch deren Vermittlung zu den aus ihr entspringenden 
Wesenheiten, dem Ahankära usw., gelangen kann. 
§ 20. Aus der Buddhi geht hervor der Ahankära, wört- Der 
lieh der Ichmacher, als dessen Funktion Vers 24 nhltlmäua, 
490 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Sänkhya-Kärlkä. 
„Beziehung auf das eigene Ich", bezeichnet wird. Beide Aus- 
drücke weisen darauf hin, dafs wir im Ahahkara das Prinzip 
zu erkennen haben, welches das individuelle Sein konstituiert 
und von dem kosmischen Sein unterscheidet, daher es ein 
Widersinn ist, mit frühern und spätem Zurechtlegern der 
Sänkhvalehre von einem kosmischen Ahahkara zu reden, in- 
dem dabei die Bedeutung dessen, was im Ahankara liegt, durch 
das Beiwort „kosmisch" in ähnlicher Weise wieder zurück- 
genommen wird, wde der Begrift' der Persönlichkeit, wenn 
man von einer absoluten Persönlichkeit redet. Aufser den 
beiden erwähnten Bezeichnungen erfahren wir aus der Kärikä 
kaum etwas M'eiteres über den Aliankara. Er heilst Vers 25 
railiräü., Produkt eines Produktes, im Gegensatze zur Buddhi, 
welche viJirif/i, Produkt ist; durch diese weitere Entfernung 
von der Urquelle scheint eine geringere Dignität als die der 
Buddhi ist, angedeutet werden zu sollen. Hiervon abgesehen 
besteht ebenso wie die Buddhi auch der aus ihr entfliefsende 
Ahahkara aus Sattvam, Rajas und Tamas, die von ihm auf 
seine Erzeugnisse, einerseits das Manas nebst Indriya's, an- 
dererseits auf die Tanmatra's und die aus ihnen hervor- 
gehenden Bhüta's übergehen. Beide Gruppen haben, wie 
Vers 25 erklärt, an dem Rajas teil, während sie sich im 
übrigen dadurch unterscheiden, dafs in Manas und Indriya's 
das Sattvam, in Tanmätra's und Bhutans das Tamas vor- 
herrschend ist. Vielleicht darf dies dahin interpretiert werden, 
dafs die unorganische Natur nach ihrem materiellen Bestände 
aus Tamas, nach den in ihr wirkenden Kräften aus Rajas 
besteht, während andererseits die fünf Buddhi -indriya's (Er- 
kenntnisorgane) dem lustbereitenden Sattvam, die Karma- 
indriya's (Tatorgane) dem durch Unlust zum Handeln an- 
treibenden Rajas entspringen. 
Das Manas § 21. Aus dcm Aliaükära entspringen nach der einen 
"'imirij^J!'' Seite hin die fünf Buddhi -indriya's ((liehör, Gefühl, Gesicht, 
Geschmack, Geruch) und die fünf Karma- indriya's (Rede, 
Hände, Füfse, Entleerungs- und Zeugungsorgan) sowie als 
elftes das Manas, welches Vers 27 wegen seiner Gleichartigkeit 
als eines der Indriya's bezeichnet wird, ebenso wie die zehn 
andern direkt aus dem Ahankara hervorgeht, aber in anderer 
111. rsyihülogie. 401 
Hinsicht don zolin IiidriviVs übergeordnet ist. Seine Funktion 
ist sa))i/i(ilp(i, „das Ordnen", sofern es einerseits die von den 
Erkenntnisorganen gelieferten Eindrücke zu Vorstellungen 
formt, welche dann als fertige Erkenntnisprodukte in der 
liuddhi aufhewahrt werden, andererseits die aus der Buddhi 
stannueiiden Entschlüsse durch Einwirkung auf die Tatorgane 
zur Ausführung bringt. Von diesen Tatorganen bezieht sich, 
wie Vers 34 erklärt, die Rede auf das Element des Tones, 
das (Greifen, Gehen, Entleeren, Zeugen auf die Gesamtheit der 
fünf Elemente. Hingegen stehen den fünf Erkenntnisorganen 
die fünf Elemente, und zwar, wie in Vers o4 ausdrücklich 
erklärt wird, sowohl die AvigeslxCs (die fünf Tanmätra's oder 
Reinstotle) als auch die Vigcshas (die fünf durch Mischung 
aus jenen entstandenen Bhüta's) gegenüber, wobei nach all- 
gemein-indischer Anschauung dem Äther der Ton, dem Wind 
das Gefühl, dem Feuer das Gesicht, dem Wasser der Ge- 
schmack, der Erde der Geruch entspricht. An das oft ge- 
brauchte Bild von dem Leibe als einer wohlorganisierten und 
wohll)ewachten Stadt klingt es an, wenn Vers 35 die Indriya's 
(wobei wir doch wohl nur an die fünf Erkenntnisorgane zu 
denken haben) mit den Toren (dväräni) der Stadt, hingegen 
die drei Innenorgane, ]\Ianas, Ahailkara und Buddhi, mit den 
Torhütern (dvärin) verglichen w^erden, welche (etwa wie Zoll- 
beamte) alles durch die Tore Eingehende durchsuchen (ava- 
f/aha))fe). Für die zehn Aufsenorgane gibt es, wie Vers 33 
treffend bemerkt, immer nur die Gegenwart, während das 
dreifache, aus Buddhi, Ahankara und Manas bestehende Innen- 
organ sich auf alle drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart 
und Zukunft, erstreckt. 
v::j 22. Beim Anschauen der Aufsenwelt wird der von Die Fnnic- 
den Buddlii-indriya's dargebotene Stoft* vom Manas zu Vor- inne°norgaDs 
Stellungen geformt, diese werden mittels des Ahankara zum AkiTnknrä, 
Ich in Beziehung gesetzt #nd sodann in der Buddhi, wie '^'''"''*'- 
wir sehen werden, zum Gebrauche des Purusha niedergelegt 
(huädliau pralcärya prayacchanii ^ Vers 36). Dieser Vorgang 
erfolgt nach Vers 30 teils schrittweise (hramarns)^ teils mit 
einem Male (i/uf/apad), das heifst doch wohl nur so, dafs die 
Tätigkeit von Manas, Ahankara, Buddhi so rasch auf einander 
492 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Säukhya-Kärikä. 
folgt, dafs ihre Succession nicht ins Bewufstsein tritt. Dies 
ist der Vorgang beim Erkennen; beim Handeln werden die 
aus der Buddhi stammenden Entschlüsse durch Einwirkung 
des Manas auf die Tatorgane zur Ausführung gebracht. Wo 
es sich um nicht wahrnehmbare Objekte handelt (adrishfe), 
wirken die drei Innenorgane allein, jedoch, wie Vers 30 be- 
tont, immer unter Voraussetzung einer frühern Wahrnehmung. 
Polemik § 23. Wenn auch die Kärikä in ihren Schlufsworten 
^vfdLta.'^ erklärt, das Polemische ausschliefsen zu wollen, so sind doch 
die von uns dargestellten psychologischen Erörterungen von 
Seitenblicken auf den Vedänta nicht frei. Auch dieser kennt 
als Prinzip des bewufsten Lebens das Manas und die zehn 
Indriya's, stellt aber ihnen gegenüber als Prinzip des un- 
bewufsten Lebens den Präna (in seinen fünf Verzweigungen 
als Präna, Apäna, Vyäna, Samäna, Udäna, oben I, 2 Seite 
248 fg.). Dieser wertvolle, in der Natur der Sache begründete 
Gegensatz wird wohl nur aus Widerspruchsgeist vom Säii- 
khyam bestritten, indem es die Funktionen des Präna als 
eine gemeinschaftliche Wirkung der Organe, Buddhi, Ahankära, 
Manas, Indriya's zu erklären sucht, welche (nach ^ankara's 
Darstellung) das Leben tragen sollen, ähnlich wie dreizehn 
Vögel, welche in einen Käfig eingeschlossen sind, diesen zu 
heben vermögen. Demgemäfs wird Vers 32 als Wirkung 
des dreizehnfachen Organs 1. das Erkennen, 2. das Handeln 
und 3. das Unterhalten des Lebens (dliärauam) bezeichnet. 
Eine weitere Polemik finden wir in Vers 31 gegen die Vedän ta- 
lehre, dafs die einzelnen Sinnesorgane unter dem Patronate 
bestimmter Götter stehen (z. B. das Auge unter dem der 
Sonne) und von ihnen die Kraft zum Wirken erhalten. Gegen 
diese Anschauung mag es gerichtet sein, wenn Vers 31 er- 
klärt: ita Jcenacit Mn/aic hiranam, das Organ wird von nie- 
mandem zum Wirken angetrieben. Was im Gegensatz dazu 
nach der Sänkhyalehre die Orga»e veranlafst zu wirken, das 
sind die Zwecke aller einzelnen, sich gegenseitig fördernden 
Organe [paraspara äMto, wie auch nach Kant im Organismus 
jedes Organ Mittel und zugleich Zweck aller andern ist) und 
zu höchst die Zwecke des Purusha (Vers 31). Um seinet- 
willen erzeugen die Organe die Vorstellungen, und zu seinem 
I 
III. Psychologie. 493 
Gebraudie breiten sie dieselben in der lUiddlii ;uis, welclu- 
einerseits dem Puruslia den inKiblux/a, das Emplinden von 
lAist und iSclimerz, ermöglicht, andererseits sogar durch die 
Ausbreitunü; der Sinnenwelt in ihr „den schwer fafsbaren 
rntersehied*' zwischen Objektivem und Subjekt, d.h. zwischen 
Prakriti und Purusha diesem selbst erkennbar macht (\'ers 
)^C^ — ;)7). DaXs dabei die \\'echselbeziehung zwischen Purusha 
luid der sich zur Buddhi zuspitzenden Prakriti über bildliche 
Vorstellungen nicht hinauskommt, wurde schon oben (§ 17) 
erörtert. 
§ 24. Aus dem Ahankära gehen einerseits Manas und subjektive 
Indriya's, andererseits die fünf Tanmatra's und aus diesen tive pjo- 
die fünf Bhuta's hervor. Hierin liegt der richtige, schon in Aiianukr.!. 
Kaush. Up. ?) durchgeführte und vielleicht von dort über- 
nommene Gedanke, dafs den fünf Erkenntnissinnen von ob- 
jektiver Seite die fünf Elemente, sowohl die Tanmatra's wie 
die entsprechenden Bhüta's als ihre Korrelate gegenüber- 
stehen (Vers 34). Die Spaltung in Subjekt und Objekt, welche 
schon in dem Verhältnisse des Purusha zur Prakriti vorlag, 
wiederholt sich innerhalb der Evolutionen der Prakriti als 
der Gegensatz zwischen Sinnesorganen und Elementen. Im 
erstem Falle handelt es sich um eine metaphysische, im 
zweiten um eine physische und daher vom Ahankära ab- 
hängig gemachte Spaltung in Subjekt und Objekt. Physisch 
mag die letztere heifsen, wiewohl sie noch innerhalb des 
Liilgam, des psychischen Apparates, stattfindet und daher 
zunächst eine psycliische ist. Ebenso wie Buddhi, Ahankära, 
Manas und Indrya's gehören zum psychischen, den Purusha 
auf seinen Wanderungen begleitenden, Organismus zunächst 
die fünf Tanmätra's oder Reinstofie, aus welchen bei jedem 
Lebenslaufe neu die fünf Bhüta's hervorwachsen. Auch sie, 
und mithin die ganze materielle Aufsenwelt, mül'ste nach 
der Konsequenz des Systems als eine rein subjektive, indi- 
viduelle Erscheinung betrachtet werden, aber der auf den 
spätem Stufen jeder i)hilosophischen Entwicklung herein- 
brechende Realismus zeigt sich auch im Sänkhvam darin, 
dafs die Elemente trotz ihres psychischen, ideellen Ursprungs 
doch auch wieder als eine vom psychischen Organismus 
494 Kurze Darstellung des Säiikhyasystems nach der Sänkliya-Kärikä. 
abgelöste, materielle, allen gemeinsame Aufsenwelt behandelt 
werden. 
Tanmätia's § 25. Die Tanmätra's sind, wie dieser Name („nur aus 
und Bhüta's. ^|-gg^j^ bestehend") besagt, die Reinstofle, und eben darauf 
weist der andere, Vers 34 und 38 von ihnen gebrauchte Aus- 
druck avi(,-r'sJia'ä hin, welches als Bahuvrihi-Kompositum „die 
keine Unterschiede in sich Enthaltenden" bedeuten dürfte. 
Aus den fünf Tanmätra's gehen hervor die fünf Bhüta's, welche 
im Gegensatze zu jenen die vigeshas heifsen, eigentlich ,,die 
Unterschiede", in unserm Falle, wie der Gegensatz fordert, 
aufzufassen als ,,die mit Unterschieden behafteten" (vgl. auch 
Bildungen wie sura aus asiira, sita aus asita), d. h. die groben 
Elemente der Aufsennatur. Über das Verhältnis der Tanmätra's 
(Avigesha's) und der Bhüta's (Vigesha's) bestehen bei den 
Erklärern des Sänkhyasystems drei verschiedene Theorien, 
und es ist schlimm, dafs sie oft von demselben Erklärer 
neben einander ins Feld geführt, schlimmer freilich noch, 
dafs sie gelegentlich durch einander gewirrt werden. Wir 
vv'oUen sie als die Mischungstheorie, Akkumulationstheorie 
und Differenzierungstheorie einander gegenüberstellen, a) Die 
Mischungstheorie geht auf Chänd. Up. 6,4 zurück, wird 
dort als die Dreifachmachung der Elemente vorgetragen und 
erscheint im spätem Vedänta, nachdem man zu fünf Elementen 
fortgeschritten war, als die Fünffachmachung (pandliaranam) 
der Elemente. Sie besagt, dafs nur die Tanmätra's aus reinem 
Äther, Wind, Feuer, Wasser, Erdstoff bestehen, während 
die Bhüta's, die gewöhnlich der Wahrnehmvmg entgegen- 
tretenden Elemente der Natur, dadurch entstehen, dafs jedem 
der fünf Reinstoffe die vier übrigen zugemischt sind, so dafs 
z. B. der in der Natur vorkommende Erdstoff aus ^ Erde 
-\- ^ Wasser + » Feuer + g Wind -f J Äther besteht. Das 
Motiv dieser Lehre ist, wie schon Sechzig Upanishad's Seite 155 
bemerkt wurde, offenbar, alle die mannigfachen empirischen 
Stoffe als verschiedenartige Mischungen der drei, später fünf 
Urstoffe zu begreifen, indem z. B. die Erde ihre Wärme dem 
beigemischten Feuer, ihre Feuchtigkeit dem beigemischten 
Wasser usw. verdankt, b) Hiervon ist sehr wohl zu unter- 
scheiden die Akkumulationstheorie, nach welcher jedes 
I 
III. rsyc-bologle. 495 
Element als Tanmatram der Träger einer l)estinimten Eigen- 
schaft ist, der Äther der Hih'harkeit, der \\'ind der Fühlbar- 
keit, das Feuer der Sichtbarkeit, das Wasser der Schmeck- 
barkeit, die Erde der Kieclibarkeit, während hingegen die 
entsprechenden l^hüta's nicht nur die ihrem Tanmatram zu- 
kommende Eigenschaft besitzen, sondern auch die Eigen- 
schaften der ihnen vorhergehenden Elemente in sich akkumu- 
lieren, so dal's der Äther nur hörbar, der \Mnd hörbar und 
fühlbar, das Feuer hörbar, fühlbar und sichtbar, das "Wasser 
hörbar, fühlbar, sichtbar und schmeckbar, die Erde hörbar, 
fühlbar, sichtbar, schmeckbar und riechbar ist. Diese Theorie 
geht ohne Zweifel zurück auf Taitt. Up. 2,1, wo gelehrt wird, 
dafs aus dem Ätman der Äther, aus diesem der Wind, aus 
diesem das Feuer, aus diesem das Wasser, aus diesem die 
Erde hervorgegangen sei. Eine Konsequenz dieser Anschauung 
war es, dafs jedes Element die Eigenschaft der Elemente, 
aus denen es entsprungen war, in sich herübemahm. Diese 
Theorie mufs von der Kärikä schon darum ausgeschlossen 
bleiben, weil von ihr auch das Bhütam des Äthers als 
rigesha betrachtet wird, während es der in Rede stehenden 
Theorie zufolge mit seinem Tanmatram identisch, folglich 
avircslia sein müfste. c) Eine dritte Theorie kann als Dif- 
ferenzierungstheorie bezeichnet werden, weil sie an- 
nimmt, dafs die Tanmatra's nur die abstrakten Eigenschaften 
von Ton, Gefühl, Farbe, Geschmack, (ieruch, aber noch 
nicht deren Ditferenzierung besitzen, so dafs z. B. das Tan- 
matram des Äthers nur Träger der allgemeinen ^Eigenschaft 
des Tones ist, welche sich erst in dem Bhütam zu den ein- 
zelnen Tönen differenziert, und so bei allen übrigen Elementen. 
Diese, überhaupt nur vereinzelt vorkommende Theorie, stützt 
sich unsers \\'issens auf keine Upanishadstelle, wird auch 
von der Kärika in keiner Weise angedeutet, steht vielmehr 
mit Vers 34 in Widerspruch, welcher ausdrücklich erklärt, 
dafs nicht nur die \'i<;esha's, sondern auch schon die Avi- 
^esha's ein Objekt der Buddhi-indriya's sind. Dies könnte 
von der Kärikä nicht so bestimmt und ohne Einschränkung 
ausgesagt werden, wenn sie mit einigen Spätem der Mei- 
nung wäre, dafs die Avi^esha's, d. h. die Tanmätra's, nur von 
496 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Sänkhya-Kiuikä. 
Wesen höherer Art, wie Göttern und Yogin's, wahrgenommen 
würden, l nd wenn Vers 38 nur von den Vi^esha's gesagt 
wird, dafs sie, vermöge ihres GehaUs an Sattvam, Eajas und 
Tamas Heiterkeit, Schreck und Dumpfheit erregend (ränta, 
ißiora und muclha) seien, so ist daraus um so weniger auf ein 
Fehlen dieser Eigenschaften hei den Tanmätra's zu schhefsen, 
als auch sie aus Sattvam, Rajas und Tamas bestehen müssen. 
— Nach allem diesem dürfen wir schliefsen, dafs die von der 
Kärikä befolgte Theorie keine andere sein wdrd als die auf 
alter Tradition beruhende Mischungstheorie, w^elche mit 
so vielen andern Erbstücken aus der Vedäntalehre herüber- 
genommen wurde. 
DasLiügam. § 26. Wir haben früher gezeigt, wie auch im Sänkhyam, 
infolge seines Hervorgehens aus dem Vedänta der Upanishad's, 
die Anschauung überall noch durchblickt und ihren Eintlufs 
übt, dafs dem einen Purusha die eine Prakriti gegenübersteht, 
sich um seinetwillen aus dem Zustande des Avyaktam zu dem 
des Vyaktam entfaltet und aus ihm wieder zurückkehrt zum 
Nichtentfaltetsein, und dafs diese Rückkehr der Prakriti in 
ihren Urständ nach jedem Lebenslaufe vorübergehend, nach 
erfolgter Selbsterkenntnis aber definitiv und für immer ein- 
tritt. Diese einfache, auch in der Kärikä überall noch er- 
kennbare Grundanschauung wird nun aber durchbrochen und 
verdorben durch das Dogma von der Vielheit der Purusha's. 
Die eine und mit sich identische Prakriti kann nicht mehr 
ganz und ungeteilt im Dienste jedes einzelnen Purusha sich 
bemühen; vielmehr mufs es eine Absonderung aus der einen 
und allgemeinen Prakriti sein, welche jedem einzelnen Purusha 
als seine spezielle Prakriti gegenübersteht, sich vor ihm ent- 
faltet und aus der Entfaltung immer wieder in sich zurück- 
kehrt; die Vielheit individueller Purusha's hat eine Vielheit 
individueller Prakriti's nach sich gezogen, und diese indi- 
viduellen Prakriti's sind die Liüga's, w^elche ein für allemal 
mit ihren entsprechenden Purusha's verbunden sind und sie 
auf ihren Wanderungen bis zur Erlösung hin begleiten. Das 
Lingam ist der psychische Komplex, welcher mit seinem 
Purusha beständig verbunden [nii/afa Vers 40) bleibt, un- 
gehemmt (asakia) durch materielle Widerstände ihn durch den 
III. PsYchülogic. 4<)7 
ganzen Lauf der Seeh^nwandorung begleitet und nach jedem 
Tode nur in den Zustand der Involution übergeht, um in 
jedem neuen Leben eine neue Evolution als Buddhi, Ahankarii, 
Manas und Lidriyas, Tanmatra's und Bhüta's zu erfahren. 
Denn auch die Bhüta's wachsen aus den zum psychischen 
Corpus gehörenden Tanmatra's bei jeder Geburt wieder neu 
hervor, und es ist eine Inkonsequenz des Systems, wenn dann 
auch wieder behauptet wird, dafs beim Tode nicht die ganzen 
Bhüta's in das Lingam zurückkehren, aus dem sie emaniert 
sind. Es werden nämlich an den Bhüta's Vers 39 drei Be- 
standstücke unterschieden: 1. die SfiJcsJimas (Feinteile des 
Körpers), welche sich zum groben Leibe verhalten wie der 
Same zur Pflanze; sie begleiten den Purusha als quasi- 
materielles Substrat des Lingam, und dieses ist nach Vers 41 
an die Sükshma's ebenso gebunden wie das Gemälde an die 
Leinwand oder wie (nach einem weniger guten Bilde) der 
Schatten an den Körper.. Von diesen Feinteilen der Elemente 
werden unterschieden 2. die Mätupitrijas (von Mutter und 
Vater geboren), d. h. die Bestandteile des organischen Leibes. 
Diese fallen beim Tode von dem Lingam ab wie nach dem 
von uns schon oben gebrauchten Bilde die Blätter vom Baume; 
sie kehren in die allgemeine Prakriti zurück, aus welcher die 
Sükshma's „vermöge ihrer Verbindung mit der Allgegenwart 
der Prakriti" Xers 42 bei jeder Xeugeburt den Stoff entnehmen, 
um sich abermals zu den J\Iätäj)itriJa''s, d. h. zum materiellen 
Organismus, zu entwickeln. Aufser den Sükshma's und Matä- 
pitrija's haben die Bhüta's noch einen weitern Bestandteil, 
nämlich 3. die Pruhkutas (die Grofsmassigen), d. h. die Massen 
der unorganischen Aufsennatur. An ihnen tritt die Inkon- 
sequenz des Systems am schärfsten zutage. Nach Vers 22 
wie auch nach der ursprünglichen Grundanschauung des 
Systems müssen sie mit den Bhüta's, zu denen sie gehören, 
aus dem Lingam hervorgegangen sein, aber die realistische 
Wendung, welche das System genommen hat, zeigt sich in 
der Anschauung, dafs die Prabhüta's, d. h. die unorganische 
Masse der Natur, dem Lingam als eine von ihm unabhängige 
Aufsenwelt gegenübersteht. 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I,iri. 32 
498 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Sänkhya-Kärikä. 
IV. Pathologie 
oder die Lehre von den Bhäva's. 
Die Pra- § 27. Das xpöTov ^'s^^^o? des Systems miifste ein Ssij-epov 
d^e"Liüga''8. notwendig nach sich ziehen. Die Vielheit der Purusha's er- 
forderte, wenn nicht eine Vielheit der Prakriti's, so doch eine 
vielheitliche Vertretung derselben, und diese besteht in der 
der Vielheit der Purusha's entsprechenden Vielheit der Linga's. 
Es ist jetzt nicht mehr der eine Purusha, welchem die eine 
Prakriti gegenübersteht, durch deren Selbstentfaltung das er- 
lösende Wissen im Purusha veranlafst wird, mittels dessen 
beide Teile und zwar für immer zur Ruhe kommen. Diese ur- 
sprüngliche und noch überall durchblickende Grundanschauung 
des Systems mufste durch das Dogma von der Vielheit der 
Purusha's modifiziert werden. Die eine allgemeine Prakriti 
tritt jetzt ganz in den Hintergrund, und ihre Stelle wird ein- 
genommen durch die Linga's, von denen eines jedem Purusha als 
beständiger, bis zur Erlösung anhaftender Begleiter beigegeben 
ist. Jetzt sind es diese Linga's, welche, an ihren Purusha 
angeklammert, bei jedem Tode sich zusammenrollen und in 
jedem neuen Leben sich wiederum zu Buddhi, Ahankära, 
Manas, Indriya's, Tanm4tra's und den Bhüta's entrollen, und 
wenn von den letztgenannten, welche doch ganz aus den 
Tanmätra's hervorgehen, nur die Feinteile (sühshma) nach 
dem Tode dem Lingam anhaften bleiben, während der grob- 
körperliche Organismus (mätäpitrija) und die unorganische 
Natur (prahhfda) sich vom Lingam ablösen und wieder, wie 
wir annehmen müssen, in die allgemeine Prakriti zurück- 
fallen, so ist dies eine Likonsequenz des Systems, die wir 
schon wiederholt als eine solche kennzeichneten. Welches 
ist nun die Aufgabe der Prakriti, nachdem alle ihre ursprüng- 
lichen Funktionen auf die Liüga's übertragen worden sind? 
Sie bleibt, vermöge ihrer Allgegenwart, nur der allgemeine 
Nährboden, welchem die Linga's ursprünglich entstammen 
[pnrvotpanna, Vers 40, konsequenterweise müfsten sie, ebenso 
wie die Seelenwanderung, von Ewigkeit her bestehen), und 
aus welchem die Lihga's jedesmal den Stoff nehmen, um ihre 
i 
IV. Pathologie. 499 
Sükshma's zu Matapitrija's zu ontlViltou. Aber noc-h zu einer 
andern Öchö})fun,<>; (sarf/a) als der, welche in der p]ntlaltun,ü; 
der ].in«i;a's besteht, muCs die allgemeine Prakriti den StoiV 
hergeben, und dieses ist die Vers 4G als pridiiaiittsdyga^ ., in- 
tellektuelle Schöpfung", bezeichnete Erzeugung der Bhava's 
(Zustände, Atlekte, r.6czr^)^ von welchen jedes Lifigam ,,durch- 
dut'tet" (adJi/rasifton) sein niufs, und auf denen die moralische 
Beschalfenheit der Individuen beruht. 
i^ 28. Jedes einem einzelnen Purusha anhaftende Lingam Das 
ist ein moralisch inditferenter und allem Anscheine nach voll- uü'ä'^di'e 
kommen unveränderlicher psychischer Apparat, der in jedem 
neuen Lebenslaufe genau derselbe bleibt. Ja, auch die ver- 
scliiedenen Linga's sind untereinander moralisch nicht ver- 
schieden ; ob sie sich an gröfserer und geringerer Intelligenz oder 
andern Kräften, etwa vermöge der verschiedenen Mischungs- 
verhältnisse der drei Guna's, von einander unterscheiden, ist 
aus der Karikä nicht zu ersehen, da das Vers 54 ausgesprochene 
Überwiegen des Sattvam in den obern, des Tamas in den 
mittlem, des Rajas in den niedern Welten ohne Zweifel auf 
die moralischen Verschiedenheiten zu beziehen ist. Diese aber 
lassen sich nicht aus den Linga's ableiten, sondern machen 
eine besondere, aus der Prakriti (Sattvam, Rajas und Tamas) 
hervorgehende Schöpfung der moralischen Bestimmtheiten er- 
forderlich, der Bhava's, aus welchen jedes Lingam seine mora- 
lische Bestimmheit schöpft, ohne die es nach Vers 52 nie- 
mals bestehen kann. 
^ 29. Im Gegensatze zu dem durch alle neuen Lebens- Boaeutung 
laufe hindurch invariabeln Lingam bilden die Bhava's eine im System. 
bei jeder Geburt neu hinzutretende und von Geburt zu Geburt 
variable Ergänzung des Linsjam. Es sind die Werke der vor- 
hergegangenen (Jeburt, welche als Ursache [iiiiiiiitaiif Vers 42) 
die moralische Beschatienheit der nächstfolgenden Geburt als 
ihre \\'irkung (naimiüilcnnO hervorbringen. Diese haften als 
fertig mitgebrachte, angeborene ('sä)n^/ddhtl-((. prdkritika) dem 
Lingam an und finden ihre Vergeltung durch den Lebenslauf, 
zu welchem sie mitgebracht wurden, während in eben diesem 
Lebenslaufe und durch seine Werke sich neue Bhava's (die 
Vers 43 vail-rita genannten) entwickeln, die dann für den 
32* 
500 Kurze Darstellung des Säiikhyasystems nach der Sänkliya-Kärikä. 
nächsten Lebenslauf die angeborenen sein werden. Als diese 
von einem Leben zum andern wechselnden und die moralische 
Bestimmtheit bedingenden Bhäva's werden durch das ganze 
Werk hindurch acht, dliarma, jnämrtit, viräga , ni(j-(iri/(nii und 
ihre vier Gegenteile genannt. Hingegen tritt Vers 46 — 51 
plötzlich und ohne Vermittlung mit diesen acht Bhäva's eine 
andere Theorie auf, welche zu demselben Zwecke ein System 
von fünfzig Bhäva's aufstellt. Von beiden wird zunächst ge- 
sondert zu handeln sein. 
Die acht g 30. Von dcu beiden Begleitern des Purusha ist, wie 
wir sahen, das Lihgam unveränderlich, während hingegen die 
Bhäva's von Lebenslauf zu Lebenslauf wechseln. Denn sie 
befassen den in jedem Leben neuerworbenen Schatz an Tugend 
und Wissen, Untugend und Nichtwissen. Mit Ausnahme der 
Verse 46 — 51 ist in dem ganzen Werke immer nur von acht 
Bhäva's dieser Art die Rede. Sie werden als Lihalt der Buddhi 
schon Vers 23 aufgezählt, wobei die Ader guten Bhäva's aus 
dem Sattvam, die vier schlechten aus dem Tamas abgeleitet 
werden. Im Gegensatze dazu wird Vers 45 der rdgK (= avi- 
räg(() auf das Rajas zurückgeführt, und so wird dieses wohl 
auch noch an andern Bhäva's seinen Anteil haben. Die acht 
Bhäva's sind: 1. dJiar)iia, das religiöse Verdienst; 2. (idlinrnin, 
der Mangel desselben; 3. virägn (vairägyaw), die Entsagung; 
4. avirdga (rdga), die Leidenschaft; 5. aigvaryam, die über- 
natürliche Macht; 6. anairvaryaiii, deren Gegensatz ; 1. jüänaw, 
das Wissen; 8. ajnänam, das Nichtwissen. Als Frucht dieser 
acht Bhäva's stellen die Verse 44 und 45 für den nächst- 
folgenden Lebenslauf in Aussicht: 1. für dluirmn Emporsteigen, 
2. für (ulJinri)ia Herabsteigen in der Seelenwanderung; 3. für 
virägd Schwinden der Prakriti (nach den Kommentaren: Auf- 
gehen in der Prakriti) ; 4. für avirdga Verhärtung im Sam- 
sära; 5. für airvarga)ii Unbehindertheit (in Erreichung aller 
Wünsche); G. für anairvaryam deren Gegenteil; 7. für jnd)/a})i 
Erlösung; 8. für ajndnam Gebundenheit. Durch sieben dieser 
Bhäva's bindet nach Vers 63 die Prakriti sich selbst, während 
sie durch den achten Bhäva, nämlich durch das Wissen, sich 
selbst vom Purusha loslöst, sofern dieser das von der Pra- 
kriti, speziell von der Buddhi ihm dargereichte Wissen sich 
IV. l'iithologio. 501 
7.U fiudi niiU'lit. AV(Min dies geschieht, dann fallen nach 
\ ers G5 die sieben übrii2;en Bhava's in die Prakriti zurück, 
welcher sie entstammen, und jruhiani, das Wissen, bleibt 
allein übrig, durch welches der Purusha die J'rakriti als reiner 
Zuschauer betrachtet, ohne dafs der A\'ahn, mit ihr verbunden 
zu sein, noch weiter bestünde und zu einer abermaligen Evo- 
lution in einem künftigen Dasein Anlafs gäbe. 
v^J 31. Während durch das ganze übrige Werk hindurch Die fünfzig 
immer nur von den vorerwähnten acht Bhäva's die Eede ist, 
schliefst sich an deren Erörterung plötzlich von Vers 4(5 — 51 
mit der Wendung esAa ^>rrt///a^a.s'rt/Y/rt/?, „dies ist die intellektuelle 
Schöpfung", gleich als ob das Folgende dem Vorhergehenden 
als Erläuterung dienen sollte, eine ganz andere Theorie an, 
welche auf der via saJntis nicht acht, sondern fünfzig . Stufen 
unterscheidet. Diese fünfzig Bhäva's zerfallen zunächst in 
vier Klassen, sofern sie sich zusammensetzen aus fünf Vipa- 
ri/ai/as, Verkehrtheiten, achtundzwanzig ÄraJdi^s, Unvermögen, 
neun TashtTs, Befriedigungen, und acht Siddhi's, Vollendungen. 
Sie sind im einzelnen folgende. 
1) Die fünf Yiparyaijas sind: 1. Tamas, das Dunkel, 
welches wiederum achtfach ist, sofern man Vyaktam, Buddhi, 
Ahailkära und die fünf Tanmatra's für die Seele hält. 2. Moha, 
der ^\'ahn, welcher gleichfalls achtfach ist, sofern einer, welcher 
die acht Siddhi's oder übernatürlichen Kräfte besitzt, wähnt, 
dafs dieselben unverlierbar seien. 3. Der 3Iahänioha, grofse 
Wahn, ist zehnfach, sofern er, nach Angabe der Scholiasten, 
denen wir alle diese Einzelheiten verdanken, in dem Hängen 
an Tönen, Gefühlen, Farben, Geschmäcken und Gerüchen 
einerseits der Menschen, andererseits der Götter bestehen soll. 
4. Das TäiiiirraiH, die Finsternis, ist achtzehnfach und soll 
in dem auf die zehn Sinnesobjekte und die acht Siddhi's 
bezüglichen Neide bestehen. 5. Das Andhafämip-am, die 
blinde Finsternis, ist ebenfalls achtzehnfach und besteht in 
der Furcht, die zehn Sinuesobjekte und die acht Siddhi's zu 
verlieren. 
2) Die achtundzwanzig ÄgaJctrs (Unvermögen) bestehen 
in den elf Schwächungen der Indriya's nebst Manas und in 
den siebzehn Schwächuno-en der Buddhi. l'nter letztern sind 
502 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Sänkbya-Kärikä. 
die Hemmungen zu verstehen, welche uns davon abhalten, 
die neun Tushti's und die acht Siddhi's zu erreichen. 
3) Die neun Tuslttrs (Befriedigungen) setzen sich zu- 
sanmien aus den vier innern, sofern man sich zufrieden gibt 
mit der Hofinuug, die Erlösung durch die Prakriti, durch 
Askese, durch die Zeit oder durch das Glück zu erlangen, 
lind den fünf äufsern, welche darin bestehen, dafs man schon 
in der Verzichtleistung auf die Töne, Gefühle, Farben, Ge- 
schmäcke und Gerüche seine Befriedigung findet. 
4) Die acht SkJdlii's (Vollkommenheiten) stehen im Gegen- 
satze zu den drei bisher behandelten Kategorien, Viparyaya, 
A^akti und Tushti; diese sind alle drei nur Hemmungen der 
Erlösung, während die acht Siddhi's ihr direkt entgegenführen. 
Sie bestehen in Nachdenken, Vedalesen, Studium, ferner in 
der Abwehr des dreifachen, von uns selbst, von den Wesen 
und vom Schicksal herrührenden Schmerzes sowie endlich in 
der Gewinnung von Freunden und in der Klärung des Bewufst- 
seins, auf welcher ja die erlösende Erkenntnis beruht. 
Die aciit § 32. Die durch das ganze Werk sich hinziehende Vor- 
lürftinfzTg Stellung von den acht Bhäva's und die Vers 46—51 unmittel- 
bar daran sich anschliefsende, übrigens aber mit den Gedanken 
der Kärikä nicht sich weiter berührende Theorie von den 
fünfzig Bhäva s, diese beiden parallel laufenden und sich viel- 
fach berührenden Theorien von den Bhäva's erscheinen als 
zwei A'erschiedene Wege, welche zu demselben Ziele, der er- 
lösenden Erkenntnis, führen. An eine Ergänzung der erstem 
Lehre durch die letztere ist dabei wohl schwerlich zu denken, 
und wenn beide neuerdings in der W^eise unterschieden worden 
sind, dafs die acht Bhäva's ,,die acht individuellen Daseins- 
zustände" und die fünfzig Bhäva's „die Zustände, durch welche 
die Grade der Entfernung von dem höchsten Ziele bezeichnet 
werden" bedeuten sollen, so können wir hierin beim besten 
Willen keinen Gegensatz erkennen. Es wird also kaum ein 
anderer Ausweg übrig bleiben als die Annahme, dafs die 
Kärikä, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, hier zwei ver- 
schiedene, in der Sänkhyaschule herrschende Theorien, welche 
demselben Zwecke dienten und sich somit gegenseitig aus- 
schlössen, unvermittelt neben einander habe zu Worte kommen 
f 
V. Kosmologie. 503 
lassen a\ ollen, sei os, dafs schon lovarakrislina sich diese 
Inkonzinnität hat y.uschiilden kommen lassen, sei es, dafs die 
Verse 4(» — 51 von einer spätem IFand, derselben vielleicht, 
welche im Schlufsverse die Zahl der Aryästrophen als siebzig 
angibt, zugerügt worden sein mögen. 
V. Kosmologie 
oder die Lehre von der Welt. 
v^ 33. Erst nach Abhandlung der ( )ntologie Vers 7 — 19, stenung 
der Psychologie Vers 20 — 42 und der Pathologie Vers 43 — 52 logie im 
folgt in den beiden Versen 53 — 54 dasjenige, was wir bei ^^^^'■""'■ 
jedem philosophischen Systeme als einen Hauptteil anzusehen 
gewohnt sind, die Kosmologie, vmd sowohl die späte Stellung 
dieses fast wie ein Nachtrag erscheinenden Abschnittes als 
auch seine unverhältnismäfsige Kürze sind für die Lage der 
Sache bezeichnend. Nach den von uns schon wiederholt ge- 
kennzeichneten ursprünghchen Intentionen des Systems läfst 
dasselbe keine eigentliche Kosmologie zu, sondern nur eine 
Psychologie, indem bei der Selbstentfaltung der einen Pra- 
kriti vor dem einen Purusha, w^elche das System ursprünglich 
allein im Auge hat, mit den übrigen Elementen des psychi- 
schen Organismus auch die Anschauung der materiellen Aufsen- 
welt als letztes I^rodukt aus Buddhi, Ahahkära und Tanmätra's 
hervor wächst. Wenn nach allem diesem nachträglich in zwei 
Versen eine Kosmologie folgt, so beruht dieselbe auf jenem 
Abfalle zum Realismus, welcher hier wie überall die ursprüng- 
liche Grandanschauung durchbrochen und inkonsequent ge- 
macht hat. 
i:^ 34. Der Inhalt der Kosmologie läfst sich in wenig Kosmo- 
Worte zusammenfassen. Er besteht darin, dafs es drei Klassen Eiülei-^ 
von Wesen gibt, Götter, Menschen und Tiere, unter w^elchen 
letztern hier die Pflanzen mit zu verstehen sind. Die gött- 
liche Schöpfung ist achtfach (nach Gaud. bestehend aus Brali- 
man, Prajäpati, Soma, Indra, Gandharva's, Yaksha's, Rakshas', 
Pi^-aca's), die menschliche ist von einer Art, die tierische ist 
fünffach (nach Gaud. aus Haustieren, Wild, Vögeln, Reptilien 
heiten. 
504 Kurze Darstellung des Säukhyasystems nach der Sänkliya-Kärikä. 
imd Pflanzen bestellend) ; nach olDen hin überwiegt in der 
Schöpfung das Sattvam, in der Mitte das Kajas, nach unten 
hin das Tamas. Da alle Wesen vom Brahman bis zu den 
Pflanzen herab wandernde Seelen sind, also Purusha's, welche 
mit ihrem aus Sattvam, Rajas und Tamas bestehenden Liügam 
gleichmärsig umkleidet sind und es bis zur Erlösung bleiben, 
so kann sich das Überwiegen des Sattvam bei den Göttern, 
des Rajas bei den Menschen, des Tamas bei Tieren und 
Pflanzen nur auf die Ausstattung der Linga's mit den gleich- 
falls aus den drei Guna's bestehenden Bhäva's beziehen, denn 
diese sind es, welche je nach ihrer Erwerbvmg im vorher- 
gehenden Lebenslauf das neue Dasein eines bestimmten Purusha 
als Gott, ^lensch, Tier oder Pflanze bedingen. 
VI. Eschatologie 
oder die Lehre von der Gebundenheit und Erlösung. 
o 
Bandha, die § 35. Dic Lchrc von der Gebundenheit und Erlösung 
heit. des Purusha oder, genauer gesagt, von dem Gebundensein 
und der Loslösung der Prakriti A^on dem Purusha beherrscht 
das ganze Svstem und mufste daher zum vollem Verständnisse 
alles einzelnen schon vielfach herangezogen werden, so dafs 
wir uns hier damit begnügen können, den letzten Teil der 
Karika Vers 57 — 68, welcher seiner Form nach als Nachtrag 
erscheint und die eschatologischen Fragen (welche auch bei 
Piaton in Mythen gekleidet zu werden pflegen) in schönen 
und ausdrucksvollen Bildern behandelt, hier in der Kürze 
noch zu überblicken. Nachdem in den Schlufsversen des vor- 
hergehenden Teiles (55 — 56) auf das unaufhörlich durch Ge- 
burt und Tod veranlafste, wenn auch nur auf einem Irrtum 
beruhende Leiden des Purusha und die Bemühungen der Pra- 
kriti zur Hebung desselben hingewiesen worden war, so folgt 
zunächst Vers 57 — 60 ein Abschnitt, welcher (nach unserer 
Auffassung des Verses 59) den Zustand der Gebundenheit 
schildert. Das unbewufste Bemühen der Prakriti zur Erlösung 
des Purusha wird mit dem unbewufsten Ausströmen der Milch 
zur Ernährung des Kalbes verglichen, und das sehnsüchtige 
VI. Eschatologie. 5()5 
\'t'rlangen der Prakriti nach Erlösung wird durch die Sehnsucht 
erläutert, mit welcher \\ir iiacli der Verwirklichung irdischer 
Zielf streben. Es folgt dann Vers 59 der Vergleich der Pra- 
kriti mit der Tänzerin, welche auftritt, vor dem Zuschauer ihre 
Reize entfaltet und sich dann zurückzieht, um immer wieder 
aufs neue aufzutreten und dasselbe Spiel zu beginnen. In 
rührender Weise schildert Vers 60 ihr hilfreiches Bemühen 
im Interesse des völlig tatenlosen Purusha, ein Bemühen, 
welches als apäriJiala, ,, selbstlos", wie man gewöhnlich über- 
setzt, bezeichnet wird. Aber w^enn man an die Vers 62 folgende 
und im Sinne des Systems ganz richtige Bemerkung denkt, 
dafs es nicht der in ewiger Unberührbarkeit verharrende 
Purusha (vgl. Brih. Up. 4,3,15 asaügo hi cnjam jnirushah) ist, 
sondern vielmehr die Prakriti, welche der Seelenwanderung 
unterliegt, gebunden ist und endlich erlöst wird, so wird man 
lieber geneigt sein, apärthala nicht durch „selbstlos", sondern 
durch „zwecklos" zu übersetzen und von den unzähligen, der 
P>lösung vorhergehenden Selbstentfaltungen der Prakriti ver- 
stehen, wxdche nicht zum Ziele führten. 
§ 36. Erst von Vers 61 an würde nach dieser Auffassung .voa«/,«, die 
bis zum Schlüsse Vers 68 die Lehre von der Erlösung folgen. °^"°»- 
Sie beginnt mit dem prächtigen Vergleiche der Prakriti mit 
dem verschämten Mädchen, welches, bei Enthüllung seiner 
Heimlichkeiten von einem Manne belauscht, vor ihm flieht, 
um sich nie wieder seinem Blicke auszusetzen. Dieses Fliehen, 
sehr verschieden von dem obenerwähnten Zurücktreten der 
Tänzerin, ist dann die definitive Erlösung, welche, wde Vers 62 
versichert, nur eine Loslösung der Prakriti vom Purusha, nicht 
aber ein Vorgang ist, von welchem dieser selbst irgendwie 
betroffen werden könnte. Mit der Erlösung fallen dann von 
den acht Bhava's die sieben ersten, durch welche die Prakriti 
sich selbst durch sich selbst gebunden hatte, hinweg, und 
nur der achte Bhäva bleibt übrig, jnanani, die Erkenntnis, 
durch welche der Purusha auf die Prakriti hinblickt „zufrieden, 
abseits als Zuschauer stehend". Ihm ist dann das absolute, 
irrtumlose, reine Bewufstsein zuteil geworden, das nichts 
übrig läfst zu wünschen, das Bewufstsein: „Ich bin nicht, es 
gibt kein Mein, es gibt kein Ich." Dann haben beide den 
506 Kurze Darstellung des Sänkhyasystems nach der Sänkliya-Kärikii. 
Frieden gefunden, der Purusha, indem er spricht: „Ich habe 
sie erkannt", die Prakriti, indem sie spricht: „Ich bin von 
ihm erkannt worden." Noch besteht die Verbindung (san)iio(fa) 
beider vermöge des Gebundenseins des Purusha an den Leib 
eine Zeitlang fort, ohne dafs Veranlassung mehr zu einer aber- 
maligen Entfaltung (sarga) vorläge, ähnlich wie die Töpfer- 
scheibe infolge des erhaltenen Schwunges noch eine Weile 
fortfährt sich zu drehen, auch nachdem das Gefäfs fertig ge- 
worden ist. Tritt dann endlich bei dem schon zu Lebzeiten 
Erlösten der Hinfall des Leibes ein, dann ist das Ziel erreicht, 
dann kehrt die Prakriti für immer in sich selbst zurück, dann 
haben beide Teile die vollkommene und ewige Erlösung er- 
langt. Was weiter mit ihnen geschieht, davon schweigt das 
System, und in diesem Schweigen bekundet sich auch auf 
dieser späten Stufe der Entwicklung der grofse philosophische 
Takt des indischen Denkens, welches über Verhältnisse, deren 
Erkenntnis uns ein für allemal versagt bleibt, den Schleier 
des Geheimnisses ausbreitet. 
XV. Der Yoga des Patanjali. 
Vorbemerkungen. 
Der Yoga, diese originellste Erscheinung im indischen 
Kulturleljen, ist nicht, wie man wohl gemeint hat, aus alt- 
hergebrachten Zauberbräuchen, wohl gar aus solchen, die von 
der verachteten Urbevölkerung überkommen wären, abzuleiten, 
sondern begreift sich in einfachster AN^eise als die natürhche 
Konsequenz der in den Upanishad's vorliegenden Atmanlehre. 
Das Prinzip der Welt, das Brahman, der Atman, ist ja nach 
dieser Lehre nicht zu suchen in unnahbaren Fernen, sondern 
wohnt in unserm eigenen Innern als unser wahres, unver- 
lierbares, unwandelbares Selbst. Als solches, als das Subjekt 
des Erkennens, ist der Inbegriff alles Göttlichen in jedem 
verkörpert, unmittelbar nahe, und doch für keine Erkenntnis 
erreichbar; denn eben weil der Atman das Subjekt des Er- 
kennens in uns ist, kann er niemals erkannt werden : „Nicht 
sehen kannst du den Seher des Sehens, nicht hören kannst 
du den Hörer des Hörens" usw. (Brih. Up. 3,4,2), und „Durch 
welchen er dieses alles erkennt, wie sollte er den erkennen, 
wie sollte er doch den Erkenner erkennen!" (Brih. Up. 2,4,14). 
Darum ist der Atman, wie es Kena-Upanishad 11 heifst, 
..nicht erkannt vom Erkennenden, erkannt vom Nicht- 
Erkennenden". Die letzten Worte deuten einen andern 
Weg als den der Erkenntnis an, um unser innerstes Selbst 
und in ihm das innerste \\'esen aller Dinge zu ergreifen, 
und dieser Weg ist der Yo(ja. Er besteht darin, dafs wir 
unsere Sinnesorgane von den Aufsendingen ab- und in uns 
hereinziehen, wie die Schildkröte ihre Glieder, dafs wir auch 
508 Der Yoga des Patafijali. 
-das bewegliche Manas in uns zur Ruhe bringen, nichts mehr 
sehen und hören, nichts mehr denken, so dafs das Bevvufst- 
sein der WeU um uns her schwindet und dafür eine neue 
AVeit in unserm Innern sich auftut: „Yoga ist Schöpfung 
und Vergang", wie es Kathaka-Upanishad 0,11 heifst; die 
illusorische, vielheitliche Welt vergeht und eine andere Welt 
in unserm eigenen Innern ersteht. 
Wir haben oben (I, 2 S. 343 — 354) gezeigt, wie der Yoga- 
gedanke, entsprechend seinem innigen Zusammenhang mit der 
Atmanlehre, schon in den ältesten Upanishad's vereinzelt auf- 
dämmert, wie er dann in den Jüngern Upanishad's, wie nament- 
lich in Käthaka, (^vetägvatara, Maiträyantya und in den Yoga- 
Upanishad's des Atharvaveda in immer weiter entwickelter 
Gestalt uns entgegentritt. Auch die Fortbildung des Yoga in 
der epischen Zeit wurde oben S. 15 — ^18 und S. 95 — 101 be- 
sprochen, und so wird es jetzt unsere Aufgabe sein, im An- 
schlufs an die genannten Stellen den Yoga als philosophisches 
System, wie er uns in den Yoga-Sütra^s des Patanjali entgegen- 
tritt, seiner Bedeutung in der indischen Kultur entsprechend, 
einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. 
Die Yoga-Sütra's, wie sie in vier Büchern oder Päda's, 
in 51 + 55 + 55 + 33 = 194 kurzen Lehrsprüchen vorliegen, 
tragen den Namen des Patanjali, und obgleich es mehrere 
Männer dieses Namens gegeben haben mag, so wird doch 
ziemlich allgemein angenommen, dafs an den Grammatiker 
Patanjali (zwischen 200 und 100 a. C.) zu denken sei, der 
somit zwei ganz verschiedene Werke, den unter dem Namen 
3I((Jiäblids]ryam berühmten Kommentar zu Pc\nini (ed, Kielhorn, 
Bombay 1883 — 1895) und unsere Yoga-Sütra's verfafst hätte- 
Eine solche Vielseitigkeit würde kaum denkbar sein, wenn 
es sich um eine ursprüngliche Konzeption der Yoga-Sütra's 
und nicht um eine blofse Redaktion eines bereits vorgefundenen 
reichen Materials handelte. Dafs aber unsere Yoga-Sütra's 
von Patanjali, mag es nun der Grammatiker oder ein anderer 
sein, aus einer Anzahl von bereits vorliegenden, vielfach 
parallel laufenden und hin und wieder sich widersprechenden 
Texten ziemlich ungeschickt zusammengeschweifst sind, darauf 
weist unverkennbar der Inhalt und dessen ganze Anordnung 
Vorbeiucrkiingen. 509' 
liin. Nach dor gewölinlichen Annalime soll das erste Bach 
den samädhi (die Versenkung), das zweite die siuüiaiias (Mittel 
zu derselben), das dritte die vibJiiärs (die daraus hervorgehenden 
Machtentfidtungen) und das vierte das Jcairali/am (die als End- 
ziel erstrebte Absolutheit) behandeln. In M'ahrheit aber 
kommen diese vier Grundbegritle und viele andere mehr oder 
weniger in jedem Buche vor, und namentlich ist es das lai- 
r.ili/ain, in welchem wieder und wieder die Betrachtung als 
in einer nichts mehr zu sagen übrig lassenden »Spitze aus- 
läuft, so dafs hier die Vermutung sich aufdrängt, dafs eine 
Anzahl älterer Texte zusammengefafst sind, welche alle mit 
Variationen im einzelnen bald kürzer, bald länger denselben 
Gegenstand behandeln, ähnlich wie die altern Upanishad's, 
eine jede nach ihrer Art, den grofsen Grundgedanken der 
Atmanlehre entwickeln, ^\'ir haben diese Behandlung des- 
selben Gegenstandes durch alle altern Upanishads daraus 
erklärt, dafs eine Reihe von Vedaschulen neben einander be- 
stand, deren jede ihre Upanishad als das dogmatische Text- 
buch der Schule besafs, und die Vermutung liegt nahe, dafs 
auch für die Yogapraxis zur Zeit ihrer allgemeinen Verbreitung 
eine Reihe von Yogaschulen neben einander bestand, deren 
jede eine Sammlung von Lehrsprüchen gleichsam als ihr sym- 
bolisches Buch besafs, und dafs wir in den vorliegenden Yoga- 
Sütra's vier oder fünf solcher Textbücher überkommen haben, 
welche sämtlich die Yogapraxis bald kürzer, bald länger dar- 
stellen und im Icnivalydni als dem Gipfel und Endziel der- 
selben auslaufen. 
So begegnen wir 1,1— Iß einem Texte, welcher in kürzester 
J'orm Wesen und Ziel des Yoga, sowie die Mittel behandelt, 
um zu diesem Ziele zu gelangen. Ein zweiter Text, 1,17 — 51, 
behandelt als den eigentlichen Kern der Yogapraxis den sdmudhi,. 
in seiner niedern und hohem Form, in durchaus selbständiger 
Weise. Ein dritter Text, 2,1 — 27, vielleicht der bedeutendste 
von allen, geht nach kurzer Abfertigung des liriiiä-yoga auf 
die Jderrt's als den letzten Grund des empirischen Daseins ein, 
zeigt, wie aus ihnen die Werke, aus diesen die abermalige 
Geburt mit ihren Leiden hervorgehen, und entwickelt in engem 
Anschlufs an das Sänkhyasystem den Gedanken, dafs alles 
510 Der Yoga des Patanjali. 
Leiden auf der illusorischen Verbindung des Purusha mit der 
Prakriti beruht und mittels der durch Yoga erreichbaren Unter- 
scheidung beider gehoben werden kann. Ein vierter Text, 
von 2,28 in ununterbrochenem Zusammenhange bis 3,55 
reicliend, behandelt eingehend die acht Glieder (anga) des Yoga, 
und knüpft an die Übung der drei höchsten (jlieder mannig- 
fache Verheifsungen übernatürlicher Vollkommenheiten an. Es 
bleibt noch das vierte Buch übrig, welches den Charakter 
eines Nachtrages hat, 4,1 — 6 verschiedene Einzelheiten be- 
spricht, dann aber zum Schlüsse in drei sehr bedeutenden 
Abschnitten, welche möglicherweise als eine einheitliche Kom- 
position gelten können, 4,7 — 13 den Zusammenhang zwischen 
Werken und Vusanas, 4,14 — 23 das Verhältnis des Ciitüm 
einerseits zur objektiven Welt, andererseits zum Purusha, und 
endlich 4,24 — 33 in schöner Darstellung den Zustand des Kai- 
vahjam schildert. 
Mag diese Zerlegung vmserer Sütra's in die Textbücher 
verschiedener Yogaschulen sich bewähren oder nicht, jeden- 
falls stehen alle diese Texte auf dem Boden einer gemein- 
samen Grundanschauung, ähnlich wie alle altern Upanishad's 
die Lehre vom Atman als gemeinsames Thema behandeln, und 
wie es bei ihnen möglich war, aus den verschiedenen Texten 
eine im wesentlichen einlieitliche Weltanschauung aufzubauen, 
in derselben Weise und nur noch viel leichter wird sich aus 
den in den Yoga-Sütra^s vorliegenden Materialien eme in 
allem wesentlichen zusammenstimmende Darstelluno; der Yoo'a- 
praxis gewinnen lassen, nachdem wir vorher diese Sütra's 
selbst in Text und Übersetzung nebst den notwendigsten Er- 
läuterungen vorgeführt haben werden. Wir befolgen dabei 
den Grundsatz, alle Aufschlüsse soweit als irgend möglich 
aus den Sütra's selbst zu gewinnen* und, nur wo diese ver- 
sagen, spätere Darstellungen zu Hilfe zu nehmen, unter denen 
die beiden Kommentare der Sütra's, das Bhäsliyaui des Vyäsa 
(herausgegeben Poona 1904) und die Vritti des Bhojadeva 
(herausgegeben Calcutta 1883) den ersten Rang einnehmen. 
* Eine dankenswerte Darstellung des Yoga, wie er nach der Auffassung 
der Sütra's in der Vritti des Bliojaräja erscheint, bietet Paul Markus, Die 
Yoga-Philosophie nach dem Räjamärtaiula (Halle 1886). 
1. 
Die Yoga-Sütra's des ratafijali. 511 
Die Yoga-Sütra's des Patanjali. 
Erster Text, 1,1—16. 
In kürzester Form handelt dieser Abschnitt über Wesen 
und Ziel des Yoga sowie über die Mittel, dies Ziel zu erreichen. 
Der Yoga besteht in der Unterdrückung der Funktionen des 
Bewulstseins (cittain), denn erst durch diese Unterdrückung 
tritt die wahre Wesenheit des hinter dem Bew^ufstsein und 
seinen Funktionen stehenden und durch sie verdeckten Purusha 
hervor (1,3). Als Funktionen des Cittam werden weiter fünf 
intellektuelle Zustände aufgezählt und definiert, das richtige, 
falsche und zweifelhafte Ei'kennen, dazu das Nichterkennen, 
wie es im Schlafe, und das AMedererkennen, wie es bei der 
Erinnerung stattfindet. Alle diese fünf Zustände sind entweder 
bedrückt (Mislifa), d. h. mit den fünf Jdcra''s (Nichtwissen, 
Egoismus, Liebe, Hafs und Welthang) behaftet, oder frei von 
ihnen (fillisJifa), d. h. entweder durch Willensregungen getrübt 
oder willensfrei (1,5). Der Schlufs des Abschnittes handelt 
(1,12 — 15) von den Mitteln zur Unterdrückung der Bewufstseins- 
funktionen, als welche im Gegensatze zu der im zweiten und 
dritten Buche vorgetragenen Theorie von den acht ((figas hier 
einfach Übung und Entsagung angeführt und definiert werden. 
Ein Blick auf den, welcher das höchste Ziel erreicht hat, 
macht (1,10) den Beschlufs dieses Textes, w'elcher somit ein 
die ganze Yogatheorie umfassendes, für sich bestehendes 
Ganzes bildet. 
1.1. (iflia yofia-anugäsanam. 
Nunmehr die Belehrung über den Yoga. 
1.2. yoyag citta-vritti-iiirodludi. 
Der Yoga ist die Unterdrückung der Funktionen des 
Bewufstseins. 
l,o. fadä draslituh svarüpe 'vastJiänam. 
Dann wird erreicht das Bestehen des Sehers (des 
Purusha) in seiner eigenen Natur. 
512 Der Yoga des Patafijali. 
1.4. vritii-särapyam itarafra. 
Im andern Falle teilt er die Natur der Funktionen. 
1.5. vr/üayah pancatayyah JdisJiia-aMishfäh. 
Die Funktionen sind fünffach, bedrückt und nicht- 
bedrückt (mit den Jilcrcfs behaftet oder nichtbehaftet). 
1.6. ^ira»^fma-v^7)ar//fr?/«-r/7,v//jjr/-)?/rfra-6-;wr//a//«/?. 
Sie sind: [richtiges Erkennen durch die] Erkenntnis- 
normen, Verkehrtheit, Annahme, Schlaf, Erinnerung. 
1.7. 2)rafyal:sJia-a)nn)iäna-ägamäh pramänäni. 
Die Erkenntnisnormen sind: Wahrnehmung, Folgerung, 
Überlieferuno;. 
^o* 
1.8. viparyayo ni ifhyä-jnänam atadrüpa-praiisliiliam. 
Verkehrtheit ist die falsche Erkenntnis, welche bei 
dem stehen bleibt, was nicht das Wesen der Sache ist. 
1.9. rahda-jhäna-amipäü vastii-gnnyo vihcdpali. 
Der [blofsen] Erkenntnis durch Worte nachgehend, 
des Objektes bar ist die Annahme. 
1.10. a-hhävapndyaya-alamhauä vnttir nidrä. 
Die nicht auf einer realen Vorstellung fufsende Funk- 
tion ist der Schlaf. 
1.11 . amthliida-visluiya-asampranioshali smrdd}. 
Das Nicht -abhandenkommen eines Objektes, dessen 
man inne ward, ist die Erinnerung. 
1.12. (ddiyäsa-vairdgydbliyäni taii-nirodhah. 
Die Unterdrückung jener [Funktionen des Bewufst- 
seins] geschieht durch Übung und Leidenschaftlosigkeit. 
1.13. tatra sfJidau yatno 'hhydsah. 
Die Übung ist die Bemühung, darin [in der Unter- 
drückung der Funktionen] zu beharren. 
1.14. sa tu dirgha-Mla-nairantarya-sathära-sevHo dridha-hJifrti/di. 
Diese [Bemühung] aber gewinnt festen Boden, wenn 
sie lange Zeit ununterbrochen gastfreundlich gepflegt 
wird. 
Yugu-^ütra's, erster Text 1,1 — 16. f)i;} 
1 , lö. ih/s]d(<-äniii'r(ivlJia-visJHii/f(-rify/s]i)ta.'!yn rd^tlära-saiijnu vai- 
r<\<iyam. 
Die Leidenschaftlosigkeit ist das Bewufstsein der Selbst- 
beherrschung eines nicht melir nach wahrnehmbaren und 
Schrift-verheilsenen Dingen Dürstenden. 
1,16- ^'^^ jtanint 2)urusha-l>Jnfut(r <iuua-vnitri:^hmjam. 
Dieses Nichtmehrdürsten nach den (Juna's erreicht 
seinen Höhepunkt bei dem das Aufleuchten des Purusha 
Besitzenden. 
Zweiter Text, 1,17—51. 
Der SaiiuUUi/ (die Versenkung), welchen wir unten im 
vierten Texte als oberstes unter den acht Gliedern des Yoga 
kennen lernen werden, befafst hier zusamme^i mit den zu ihm 
1 uhrenden Vorstufen des citta-prasädanam und des savtja- 
sanuullti bis liinauf zum iiirvija-samädhi den ganzen Yoga. In 
diesem weitern Sinne wird der samdälii zunächst eingeteilt 
in den noch mit Zweifel, Bedenken, Freude und Egoismus 
behafteten, bewufsten (scDuprajünta, 1,17) und in den durch 
i'bung in dem Vorstellen der Beruhigung erreichbaren, von 
allen Samskära's befreiten, unbewufsten [asmnprajüätu, 1,18) 
SiunädJii. Ersterer mufs nach dem vorliegenden Texte mit 
dem keimbehafteten (savija), letzterer mit dem keimlosen 
(nirvija) ScuiiädJii identisch sein, wiewohl gewdsse Uneben- 
heiten, deren Erörterung hier zu weit führen würde, darauf 
hindeuten, dafs hier zwei verwandte Anschauungen mit ein- 
ander verschmolzen sind. So schon der auffallende Umstand, 
dafs nach Erklärung des asaniprajnäta-samädlu in 1,18, von 
1,19 — 1,50 nicht von diesem, sondern, ohne dafs- dies gesagt 
würde, nur vom ^fimprdjnäta-sav'ija saniädlii die Rede ist. 
Zunächst \\('rden 1,19 — 23 die zu ihm führenden Mittel be- 
sprochen. Manche gelangen zu ihm leicht, weil sie von Natur 
über ihren Körper erhaben (vgl. 8,43) und mit ihrem Uittam 
in der Prakriti aufzugehen geneigt sind (vgl. Mahäbh. XII, 
30<),17 und Sankhya-Kärikä 45, oben S. 100 und 451), manche 
durch die 1,20 — 23 aufgezählten Mittel. Als letztes derselben 
Deussex, Gescliiclite der Philosophie. I, iii. 33 
514 Dei" Yoga des Patafijali. 
nennt 1,23 die Hingebung an Gott, wodurch der Exkurs über 
den tgvara 1,24 — 28 veranlafst wird. Dieselbe Hingebung 
befördert auch die Beseitigung der die Beruhigung des Cittam 
erschwerenden Hindernisse (antaräya), deren Besprechung 
1,29 — 32 gewidmet ist, worauf 1,33 — 39 als Gegenstück zu 
ihnen die Förderungsmittel des citta-prasudanam (der Be- 
ruhigung des Geistes) erörtert werden. Die auffallende Ver- 
änderung der Konstruktion in 1,35 — 38 könnte auf einer 
Einreihung dieser Sütra's aus einer andern Quelle beruhen. 
Das citta-prasädanam führt zu der höhern Stufe der samdpaüi 
(Erhebung), welche nach ihrer Macht und Herrlichkeit, sowie 
nach ihren vier Unterarten 1,40 — 45 geschildert wird. Alle 
diese vier Arten machen den sct/vrja- oder samprajnäta-samädlii 
aus (1,46), dessen j:;ny«a als eine von der empirischen Erkennt- 
nis spezifisch verschiedene (1,47 — 49) aufgezeigt wird. Auch 
die in ihm iDestehenden saiusMra's, um derentwillen er eben 
noch keimhaft heifst, sind von besonderer Art (1,50), aber auch 
sie müssen erst noch unterdrückt werden, worauf als höchstes 
Ziel der unbewufste und von allen Keimen der .samsMra''s 
befreite, asamprajnäta, nirvija SamädJii erreiclit wird (1,51). 
1.17. vitarlM-vicära-äncmda-asmitä-cmiiciamät samprajn ätdh. 
Wenn begleitet von Zweifel, Bedenken, Freude und 
Egoismus, ist er [der Samädhi, die Versenkung] ein be- 
wufster (samjjrajüäta, savtja). 
1.18. virdma-pratyaya-ahhydsa-pmvakah samsJcdra-gesJio 'nyah. 
Der andere hingegen (der unbewufste, asamprajnäta, nir- 
vija Samädhi), welcher die Übung in dem Vorstellen der 
Beruhigung zur Voraussetzung hat, hat die Charakter- 
eigenschaften (samskära = väsanä == karmägaya) als Kück- 
stand [von sich abgestreift]. 
1.19. bJiava-pratyayo videha-pralirüüayänäm. 
[Der bewufste Samädhi] hat die Entstehung als Ur- 
sache (ist von Geburt an vorhanden) bei den körper- 
erhabenen (vgl. 3,43), in der Prakriti Aufgehenden 
(vgl. Mahäbli. XII, 306,17 und Sänkhya-Kärikä 45, oben 
S. 100 und 451). 
Yoga-Siitra's, zweiter Text 1,17 — 51. 5|5 
1.20. rr((cl(lhä-vh-i/a-sniriti-sanul(lh/p)rfjilä-2)i(rva]ca' itnrcshuni. 
Bei den andern [die nicht vidrhu-jn-alritilai/a sind] setzt 
er (der bewulste 8amadlii) voraus: Vertrauen, Kraft, 
Gedächtnis und Bewul'stsein des [als Ziel vorschwebenden) 
Samädhi. 
1.21. ttvra-sanivcffihtäm usannah. 
Den (durch die genannten Mittel] heftig Anstürmenden 
ist er (der bewufste Samädhi) nahe, 
1.22. »iridn-nualhija-taUiimäiraivät tato'pi viecshah. 
AVeil es Schwache, Mittlere und Übermäfsige gibt, 
folgt auch daraus ein Unterschied. 
l,2o. irvara-praitidhänüä vu. 
Oder auch aus der Hingebung an Gott [welche ebenso 
wie die genannten ]\Iittel, Naturanlage, Vertrauen usw., 
Eifer und Begabung die Erlangung des bewufsten Sa- 
mädhi befördert]. 
1.24. lävra-lMrma-vipäka-arayair (ipdränirishtali jrurusha-viQcslia'' 
igvarah. 
Gott (trvara) ist ein besonderer Purusha, welcher [im 
Gegensatz zu allen andern Purusha's] nicht berührt wird 
von den Plagen (Mega), Werken, Werkfrüchten und Werk- 
residuen (araya = sumskura = väsanä). 
1.25. t<dr(i niratifjayam särvajnya-v'ijam. 
In ihm ist der Same [die potenziell auch dem mensch- 
lichen Intellekte eigene Anlage zu] der Allwissenheit ins 
Unüberbietbare gesteigert. 
1.26. sa csJia imrveshäm api yiindi, Jcälena coiavaceJicdäf. 
Er ist auch der Lehrer der Altvordern [gewesen], weil 
er [als ewig] nicht durch eine Zeit begrenzt wird. 
1.27. tasya väcahih pranavah. 
Ihn bezeichnend ist der heilige Laut ont. 
1.28. taj-japa>i, tad-urthi-bliävanam. 
Diesen zu murmeln und seinen Sinn zu überdenken 
[ist zur Erlangung des bewufsten Samädhi förderlich]. 
33* 
516 Der Yoga des Patafijali. 
1.29. iaiali pratyakedanä-adltigamo 'py antaräpa-ahJiävag ca. 
Daraus (aus der Meditation des Ow?-Lautes) geht ferner 
auch hervor Erlangung der Innenwahrnehmung und Be- 
seitigung der Hindernisse [welche der Beruhigung des 
Cittam entgegenstehen]. 
1.30. viiädhi-styäna-sanu^aya-pramäda-älasya-avircdi-hhra^^^^ 
gana - alabdhahMmikatva - anavasthitatväni citta - vi- 
Ixsliepäs, te 'ntaräyäJi. 
Krankheit, Apathie, Zweifel, Unhesonnenheit, Träg- 
heit, Nichtentsagung, irrige Ansichten, Ermangelung der 
Yogastufen (2,27) und Unheständigkeit sind die Zer- 
streuungen des Cittam (Geistes), und sie bilden die 
Hindernisse. 
1.31. diilßilia-daiirmcmcisya-angamcjayatva-rväsu-pjrarväsä vihshepa- 
sahabliuvah. 
Schmerz, Trübsinn, Körperzittern sowie [ungeregeltes] 
Einatmen und Ausatmen sind die Bes-leiter der Zer- 
Streuungen. 
1 .32. tcd-pratisheda-artham eliaiaiiva-abliyäsah. 
Diese (die Zerstreuungen und ihre Begleiterscheinungen) 
zu beseitigen, dient die Konzentrierung auf eine einzelne 
Realität [angeblich: auf eines der vierundzwanzig Prin- 
zipien des Sänkhyam]. 
1.33. maitn-harimä-muditä-upehsliänäm suJiha-diiMJia-pimya-apu- 
nya-vishayänäm hhävanätag citta-prasädanam. 
Die Beruhigung des Cittam erfolgt durch die Vergegen- 
wärtigung von Freundschaft (1), Mitleid (2), Freude (3) 
und Nachsicht (4), welche sich auf Lust (1), Leid (2), 
Gutes (3) und Böses (4) beziehen. 
1.34. praccliardana-vidhäranäbliyäm vä pränasya. 
Oder durch Ausstofsen und Zurückhalten des Atems 
[kann Beruhigung des Cittam erreicht werden]. 
1.35. vishayavaU vä pravriitir uipannä sthiti-nibandham. 
Oder eine auf [vergeistigte] Objekte bezügliche Tätig- 
keit, wenn gelingend, ist Veranlassung des Beharrens 
[in der Beruhigung des Cittam]. 
Yoga-Siltra's, zweiter Text 17 — 51. •'jIY 
1,^)6. cf'gol'ä vu jyoiishmut'i. 
Oder eino kummorfreio, liclitvolle [Geistesstimmung ist 
Veranlassung dieses Beharrens]. 
1,.')7. citdn'Kju-vishatinni vä cittam. 
Oder ein auf leidenscliaftlose Dinge bezügliches Denken 
(ist Veranlassung dieses Beharrens]. 
1.38. simima-tiidvü-JHutta-aralamhanam vä. 
Oder sie [die Veranlassung dieses Beharrens] ist bedingt 
durch eine (die objektive Kontemplation begünstigende] 
auf Traum und Schlaf rückbezügliche Erkenntnis. 
1.39. jjatha-ahhimata-ähyänäd vä. 
Oder durch eine beliebige Meditation [erfolgt die Be- 
ruhigung des Cittam]. 
1.40. jKtramänH-paramamuliatva-anto 'si/a caqUiärah. 
(Nachdem das Cittam des Yogin beruhigt ist,] erstreckt 
sich seine Herrschaft [oder: sein Nichtbeherrschtwerden] 
vom Allerkleinsten bis zum Allergröfsten. 
1.41. ksjthia-vriücr ahhijätasya iva maner grahitp'-grahana-grä- 
hi/csliK fatstlia-iadafijcüia-tu sanuqjatt/h. 
Sind die Funktionen des Cittam unterdrückt, so erfolgt, 
wie für einen klaren Ivristall*, bei Erkenner, Erkennen 
und Erkenntnisobjekt als das Aufgehen in dem letztern 
und das Durchdrungenwerden von ihm die Samapatti 
(Erhebung). 
1 .42. rahd(üiha-Jfiä)iu-fik(iliii(ilj mnlurnä savitarl'ä. 
Ist diese (samäpnüi) noch behaftet mit Unsicherheit 
in betreff der Erkenntnis der Wortbedeutungen, so heilst 
sie eine zweifelbehaftete (mvitarlxä). 
1.43. ■•^iiinli-jjuyignddliatt Hvarüpu-(;iüiyä Iva artliamätra-nirbhäsä 
uirvitarkä. 
Sie heifst eine zweifelfreie (nirv^itarJiä), wenn sie, von 
den (aus einer frühern Geburt stammenden] Erinnerungen 
* An das Diirchdrnngensein des Kristalls von der Farbe der hinter 
ihm berindlichen roten Blume möchten wir darum nicht denken, weil dieser 
Vergleich in der Kegel nur gebraucht wird, um den Irrtum, als sei der 
Kristall rot (der Atman mit den Upädlii"s behaftet), zu erläutern. 
518 Der Yoga des Patafijali. 
gereinigt und gleichsam der eigenen Natur ledig, nur 
das Objekt widerspiegelt. 
1.44. ciayä cva savicärä nirvicärä ca sukshma-visliayä ryäMtyäfä^ 
Damit ist auch die bedenkenbehaftete und bedenken- 
freie (Samäpatti) erklärt, nur dafs diese sich auf feine 
Objekte bezieht. 
1.45. süJcsJinia-vishayatvan ca alinga-paryavasänam. 
Ein feines Objekt zu sein erstreckt sich bis auf das 
Merkmallose (die Prakriti). 
1.46. /«' ev(i sav'ijali samädhih. 
Diese [vier Arten der Samäpatti] sind es, welche den 
keimhaften (scmja) Samädhi ausmachen. 
1 .47. nirvicära-vairäradye adhyätma-prasädah. 
Bei Herangereiftheit der bedenkenlosen [Samäpatti] 
erfolgt [als eine höhere Stufe über das citta-prasädanmn 
hinaus] der adhyätma-prasäda (die Beruhigung des eigent- 
lichen Selbstes). 
1.48. ritamhhard tatra prajnä. 
Dann ist das Bewufstsein [als Frucht der Herangereift- 
heit] die Wahrheit tragend. 
1 .49. rruta-ammiäna-prajnäbliyum aiiyavishayä , vlgeslia-arthcdvät, 
[Ein solches Bewufstsein, prajnä, wiewohl immer noch 
im sdniprajnäta samädhi befangen] hat ein anderes Objekt 
als die Erkenntnis aus Offenbarung und Folgerung, weil 
es einen von dem ihrio-en verschiedenen Zweck hat. 
'o^- 
1.50. taj-jah samskäro 'nya-samsMra-pratihandM. 
Der aus dieser [höhern Art der Erkenntnis] erzeugte 
Gemütseindruck hält die andern Gemütseindrücke nieder. 
1.51. tasya api nirodhe sarva-nirodhän nirvijah samädhih. 
Wenn auch dieser [samprajnäta, savya samädhi] unter- 
drückt wird, so erfolgt, indem alles unterdrückt worden 
ist, der keimlose (nirmja) Samädhi. 
Yoga-Sntra's, dritter Text 2,1 — 27. 519 
Dritter Text, 2,1- -27. 
Ausg-eheiid von dor Tatsache des Leidens untersucht 
dieser Abschnitt (hassen hMzten (Jrund, wobei die der bud- 
dhistisclien Tris/uiü verwandte Yogalehre von den Klerus mit 
der Sankhyalehre von dem S((nii/o(ja in eigentümlicher Weise 
verschmolzen wird, und das beiden gemeinsame Kdivali/fon 
auch liier wieder das P^ndziel der Betrachtung bildet. Zu- 
nächst werden die vorbereitenden, im vierten Texte einen so 
breiten Kaum einnehmenden praktischen Übungen, von denen 
als die wesentlichsten (parallel mit 2,32 — 43) nur Askese, 
Studium und Gottergebenheit erwähnt werden, als Krit/äyoga 
zusammengefafst (2,1) und mit der Bemerkung abgefertigt, 
dafs sie sowohl zur Förderung des Samädhi als zur Ab- 
schwächung der Kle^a's (Plagen) dienlich seien (2,2).* Diese, 
ähnlich wie nach dem ersten Texte die fünf Vritti's, dem 
Cittani einwohnenden fünf Kle^a's werden sodann (2,3 — 11) 
eingehend charakterisiert. Diese Kle^-a's, welche selbst wieder 
in der Avid\ ä wurzeln (2,4), sind ihrerseits wieder die Wurzel 
der Werke und des Residuums, welches diese zurücklassen 
(2,12). Dieses Werkresiduum (hirDiärai/a = sumskaräh = vä- 
sandh) wird durch Geburt und Lebensdauer, sowie durch 
Freuden und Leiden des folgenden Daseins gebüfst (2,12 — 14). 
Aber für den Einsichtigen ist alles Leben Leiden (2,15), das 
Leiden aber beruht, wie hier mit plötzlichem Lbergleiten zur 
Sankhyalehre entwickelt wird, auf der Verstrickung (samyoga) 
von Prakriti und Purusha, welche 2,17 — 23 in nahem An- 
schlufs an die Sänkhya-Kärikä und mit einer dort noch nicht 
gezogenen Konsequenz (vgl. Sänkhya-Kärikä 66 upandä (uiyä 
mit 2,22 iKishffini cqjy, (inashfam) entwickelt wird. Beide An- 
schauungen, die des Yoga von den Kle(;a's und des Sähkhyam 
von dem Samyoga, treffen dann 2,24 in der Avidj'ä als dem 
letzten Grund aller Gründe wieder zusammen, durch deren 
Aufhebung, wie hier in grofsen Zügen gezeigt wird, Kaivalyam 
* Aus diesem Kriyäyoga hat sich später der HatJiayoga, welcher das 
Hauptgewicht auf die äulseru Übungen legt, entwickelt (vgl. über denselben : 
Hermann AValter, Svätmäräma's Hathayogapradipikä, München 1893). 
520 I>er Yoga des Patafijali. 
erreicht wird (2,25), welches hier im Gegensatze zu 1,51 auch 
auf der höchsten Stufe (jinu/fahlitinmu) als ein intellektueller, 
nicht üherintellektueller Zustand, als eine Prajnä erscheint. 
2.1. taimlysvädhjäyaAcvciraiwmüdhänäni kriyä-yogah. 
Askese, Vedastudium und Gottergebenheit bilden den 
Werk -Yoga. 
2.2. samädhi-bliävanä-artli aJj Idera-tamikarana-arthar ca. 
Er (dieser Werk -Yoga) bezweckt Förderung des Samadhi 
und bezweckt Abschwächung der Kle9a's (Plagen). 
2.3. avidyä-asmitä-rägo-dveslia-ahliiniveshäh panca Megäh. 
Die fünf Kle^a's sind: Nichtwissen, Egoismus, Liebe, 
Hafs und Lebenshang. 
2.4. avidyä kshetram uttareshmn, prasiipta^ami-vicMm^a-iidäräyiäni. 
Das Nichtwissen (avidyä) ist der Boden für die übrigen 
[vier], mögen sie nun schlummernd (latent), schwach, 
zwiespältig [unter einander] oder voll entwickelt sein, 
2.5. amtya-aguci-duhJiha-anät'ntasu n'dya- guci - siililm- ätnia-liliyät'n- 
avidyä. 
Nichtwissen (avidyä) ist die Auffassung des Nicht- 
Ewigen, Unreinen, Leidvollen und Nicht-Selbstes als ewig, 
rein, lustvoll und als das Selbst. 
2.6. drig-darcana-gaMyor ekäinmtä eva asmitä. 
Egoismus (asmitä) ist die Identifikation der Potenzen 
des Sehenden und des Sehens [des Purusha und des 
Innenorgans, bei w^elchem letztern Organ und Funktion 
nach Sänkhya-Kärikä 29: svälalislianyam vrittis trayasya, 
zusammenfallen]. 
2.7. suklia-anugayl rägali. 
Auf Lust beruhend ist die Liebe. 
2.8. duhJcha-anugayi dveshali. 
Auf Schmerz beruhend ist der Hafs.* 
* Vgl. Spinoza, Etliica III, 13 Scholion: Amor nihil aliud esf, quam 
laetitia concomitante idea causae cxternae; et odium nihil aliud, quam tristitia 
concomitante idea causae externae. 
Yoga-Sütra's, dritter Text lM — l'7. 521 
2,9. sni-rasa-vnJif rldusho 'pi Idiir-dnuhatidho h/iiiiivc^-ah. 
Die auch bei dem Weisen vorhandene, auf Helbst- 
geschmecktem | in einer frühem Geburt J beruhende 
(besser: vom (Jesrhniack, Wohlgefallen an dem eigenen 
Selbst begleitete) Anhänglichkeit an den Leib ist der 
Lebenshang. 
2.10. /'■ pratipyasava-lieiiäh süJcsJuiiäli. 
Diese [Kle^a's], soweit sie fein [latent, unbewufstj 
sind, müssen überwunden werden durch eine [asketische] 
Gegenanstrengung (prai/prasava, in anderm Sinne 4,33). 
2.11. dlii/diia-hcyäs tad-vrittai/ah. 
Ihre Entwicklungen [zu groben, bewufsten Klega's] 
müssen überwunden werden durch Meditation. 
2.1 2. kkra-nudah l'arma-ägai/o, drishta-adrisJifa-janma-vedamyah. 
Die Klega's sind die Wiu'zel des Werkrückstandes, 
welcher abzubüfsen ist in der sichtbaren [gegenwärtigen] 
oder unsichtbaren [zukünftigen] Geburt. 
2.13. s((fl inule tad-v'qmlo jäfy-ayKy-hlm/äh. 
Solange diese Wurzel besteht, erfolgen als sein [des 
Werkrückstandes] Heranreifen Geburt, Lebensdauer und 
Genieisen (vgl. 4,8). 
2.14. te Idäda-paritäpa-phuläh, punya-apunya-hetntvid. 
Diese [nämlich Geburt, Lebensdauer und Geniefsen] 
bringen als Frucht Erquickung und Peinigung, je nach- 
dem Gutes oder Böses ihre Ursache bildete. 
2.15. pari inuiui -ftq)a - .■<(üiis/,cira-duhk]ial r gaua - vrdii - virodhäc ca 
sarvani diüikhani eva vivekincdi. 
Wegen der Schmerzen, die aus der Unbeständigkeit 
[des Genusses], aus der Beängstigung [während des 
Geniefsens] und aus den [nachbleibenden und künftig 
abzubüfsendenj ( haraktereindrücken entspringen, und 
weil die Funktionen der Guna's [z. B. Liebe und Hafs] 
sich gegenseitig bekämpfen (vgl. Sankhya-Kärika 12), 
ist für den Weisen alles ein Leiden. 
522 Der Yoga des Patanjali. 
2,16- hei/aiii äuhMiam anägaiam. 
Das künftige Leiden ist das zu Vermeidende. 
2,1''^- (h'ashfri-driryayoh sarmjogo heya-heiuh. 
Die Ursache dieses zu Vermeidenden [des Leidens] ist 
die Verbindung von Seher und zu Sehendem fPurusha 
und Prakriti). 
2.18. prakuga - hriyä - stJiiti-gUam hJinfa - indriya - ätrnalcam hlioga- 
apavarya-artham driryam. 
Dasjenige, welches als Charakter Erhellung [Sattvam], 
Betätigung [Rajas] und Starrheit [Tamas], als Bestand- 
teile die Elemente und Organe und als Zweck den Genufs 
und die Erlösung hat, ist das zu Sehende. 
2.19. iHreslia-aclreshaMngamäira-almgäni guna-parvmji. 
Die Vi^esha's [nach Vyäsa: die groben Elemente, In- 
driya's und Manas], die Avi^esha's [die Tanmätra's und 
der Ahankära], das nur Erschliefsbare [die Buddln] und 
das Unerschlielsbare [die nur durch Analogie, sariu'unjato 
drishfaiii., erkennbare Prakriti] sind die Gliederungen der 
Guna's. 
2.20. dyashfä drigi-mätrah, riiddho 'pi pndyayu-anuparycd). 
Der Seher ist der, welcher blofses Sehen ist, und, 
obgleich er rein ist, die Vorstellungen [mittels der Buddhi, 
Sahkhya-Kärikä 36] erschaut. 
2.21. tad-artha' eva driryasya ätmd. 
LTnd dies ist der einzige Zweck, dem das Wesen des 
Sichtbaren [des Objektiven, der Prakriti] dient. 
2.22. hritärtliam prcdi ita.sJifam apy, anashtam, tad-anya-.sarva- 
sädhärcmatüät. 
Demjenigen [Purusha] gegenüber, der seinen Zweck 
erreicht hat, ist sie [das Sichtbare, die Prakriti] ver- 
nichtet, und doch ist sie nicht vernichtet, weil sie allen 
von ihm verschiedenen [Purusha' s] gemeinsam ist. 
2.23. sva-svämi-raJäyoli sva-rupa-Hpalahdhi-lictuh samyogah . 
Die Ursache des Wahrnehmens der Wesenheit des 
Besessenen [der Prakriti] vermöge der Potenzen des 
I 
'^ 
i.<l 
Yüga-Sütra's, dritter Text 2,1—27. 52,^ 
Besessenen und des Besitzers (der Prakriti iind des 
Purusha] ist ihre Verbindung. 
!^.24. iasifa hcfiir avicli/a. 
Die Ursache dieser [Verbindung] ist das Nichtwissen. 
'2, '2b. t(i(l-((hlu\vät sann/Of/a-ahliavo, Jiäiiam, fad (hi'gch liaivalyani. 
Besteht dieses nicht mehr, so besteht auch die Ver- 
bindung nicht mehr, sondern ein Freisein [vom Leiden], 
und dieses ist die Isolation des Sehens [d. h. des Purusha], 
• 
2,2(). vircka-khi/atir ariplnrä Jidna-updi/ah. 
Das Mittel dieses Freiseins ist die ungestörte Erkenntnis 
des Unterschiedes [zwischen Purusha und Prakriti]. 
2,27. tasya saptaiUiä pränta-hliHmau prajnä. 
Die Erkenntnis dieses [Unterschiedes] auf der höchsten 
Stufe ist siebenfach [nämlich a) känia-vhnuldi: 1. alles 
ist erkannt, 2. es bleibt nichts, was zu erkennen wäre, 
o. die Kleya's sind überwunden, 4. der Viveka ist er- 
reicht ; b) citta-vimuldi : 5. die Buddhi hat ihren Zweck 
erreicht, 6. die Guiia's sind besiegt, 7. der Samädhi ist 
vollendet]. 
Vierter Text, 2,28 — 3,55. 
Ein längerer Yogatext, der längste, wenn auch nicht wert- 
vollste von allen, die den Bestand der Yoga-Sütra's bilden, 
erstreckt sich von 2,28 in ununterbrochener Folge bis zum 
Schlüsse des dritten Buches, und auch 4,1 — 6 kann noch als 
Nachtrag dazu betrachtet werden. Er behandelt die ganze 
Yogapraxis an der Hand der acht Äilc/a's, durcli welche, wie 
das Eingangsstttram 2,28 erklärt, die Unreinheit vernichtet, 
die Erkenntnis entflammt und der erlösende Yiveha erreicht 
wird. Nach Aufzählung der acht Anga's (2,29) werden zu- 
nächst ijama (2,30 — 31) und niyama (2,32 — 34) charakterisiert. 
Weiter werden 2,35 — 39 die fünf Unterarten von i/ama, 2,40 — 45 
ebenso die fünf Unterarten von niijama besprochen. Es folgt 
2,40 — 48 als drittes Angam äsanani, 2,49 — 53 pränätjäma und 
2,54 — 55 praiyäkära. Nach Bespreclumg dieser fünf niedern 
524 Der Yoga des Patafijali. 
oder, wie sie auch genannt werden, äufsern Glieder des Yoga 
geht das dritte Buch ohne jede Unterbrechung der Kontinuität 
zu den drei höhern oder innern Anga's über, welche als dhuraua 
(3,1), dhyänam (3,2) und sümadhi (3,3) kurz charakterisiert 
und 3,4 unter der Benennung mmyama zusammengefafst werden. 
Sie werden (3,7 — 8) im Vergleich mit den fünf ersten Gliedern 
das Innen glied (autar-angam), im Vergleich mit dem aus 
1,17 — 51 bekannten uirvija samädhi das Aufsenglied (vahir- 
angam) genannt. Die Erhebung vom Samyama, welcher im 
allgemeinen dem sav'ija samädhi des ersten Buches entspricht, 
zum uirvija samädhi und damit zum höchsten Gipfel des Yoga 
erfolgt durch drei Parinäma's oder Umwandlungen, den ni- 
rodha-pariuäma ^ welcher die Funktionen des Cittam unter- 
drückt (3,9 — 10), den samädhi-parinäma, welcher zum iiiriija- 
samädhi emporhebt (3,11), und den die Einheit beider bildenden 
ehägratä-parinäma (3,12), welcher das Endziel ist und 3,14 als 
avijapaderija, „der Unaussprechliche", bezeichnet whd. 
Zurückkehrend zum samyama entwickelt der Schlufs des 
Textes in längerer Ausführung (3,16 — 55) die VibhiWs oder 
Machtvollkommenheiten, welche aus Anwendung des sam- 
yama auf die verschiedenen Dinge und Verhältnisse entstehen : 
Wissen des Vergangenen und Zukünftigen (3,16), Verstehen 
der Stimmen aller Tiere (3,17), Erkenntnis der frühern Geburt 
(3,18), Kenntnis des Cittam anderer Menschen (3,19 — 20), 
Unsichtbarmachung (3,21), Kenntnis des Lebensendes (3,22), 
I\jräfte (3,23), Elefantenstärke (3,24), Kenntnis von Subtilem. 
Verdecktem und Entferntem (3,25), Kenntnis des Weltalls 
(3,26), der Anordnung der Sterne (3,27), ihres Ganges (3,28), 
der Organisation des Leibes (3,29), Stillung von Hunger und 
Durst (3,30), Festigkeit (3,31), Schauen der Seligen (3,32), 
Erkenntnis des Cittam (3,34), des Purusha (3,35), übersinn- 
liche Sinneswahrnehmungen (3,36), Eingehen in einen fremden 
Leib (3,38), unversehrtes Gehen durch Wasser, Schlamm und 
Dornen (3,39), Aufleuchten (3,40), himmlisches Gehör (3,41), 
Fliegen in der Luft (3,42), Vernichtung der Licht Verdunkelung 
(3,43), Beherrschung der Elemente (3,44), die acht Vollkommen- 
heiten nebst Trefflichkeit und Unverletzlichkeit des Leibes 
(3,45 — 46), Beherrschung der Sinnesorgane, Gedankenschnelle, 
Yoga-Sütni's, vierter Text 2,28—3,55. 525 
Bostohon ohne Organe und Beherrschung der Prakriti (3,47 — 
48), Alhnaclit und Allwissenheit (3,49), unterscheidende Er- 
kenntnis (3,52 — 54) und Absolutheit (3,50 und 55). — ('her 
4,1 — 6 siehe weiter unten. 
2.28. i/o[/u-anii<(-iiui(shthcwäd arudiUii-hsJuiye jnäna-diptir ä viveka- 
l-Ji;/äfch. 
Indem durch Betreiben der Glieder des Yoga die 
Unreinheit schwindet, entflammt sich das Wissen bis 
zur Erkenntnis des Unterschiedes [zwischen Prakriti und 
Purusha]. 
2.29. yania-niyama-äsana-jjrändyuma-jyraiyähära-dhärcm 
samädhaijo '.sJdäc angäni. 
Zucht, Selbstzucht, Sitzen, Atemregelung, Ein- 
ziehen [der Organe], Fesselung [des Cittam], Medi- 
tation und Versenkung sind die acht Glieder. 
2.30. ülümsä-satija-asteya-hralimacarya-aparigraliä yaniäli. 
NichtSchädigung, ^^^ahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Keusch- 
heit und Besitzlosigkeit bilden die Zucht. 
2.31. de jäti-dera-l-cda-samaya-anavadiiiiuäh särvahhauma-mahä- 
vmtam. 
Diese, welche keine Ausnahme zulassen betreffend 
Kaste, Ort. Zeit und Umstände, bilden das für alle Stufen 
gültige grofse Gelübde. 
2.32. gaüca-saiäosha-tapali-siädhyuya-lccamiwanidhänäni mya- 
mäli. 
Reinheit. Genügsamkeit, Askese, Studium und Gott- 
ergebenheit bilden die Selbstzucht. 
2.33. citarha-Jjädhauc prfiiipal:sli(i-bhäi'au<im. 
Wird das Zweifelhafte unterdrückt, so entsteht Be- 
wufstwerdung des Gegenteils. 
2.34. rifdrl'ä, himsädayah, h-ita-Mrita-anumoditä. lohha-lrodha- 
moha -punaM , mridu-madhya - adliintcdrd . duhlxha- 
ajndua-anauta-phcdü. — /// pratijicdcslia-hhävauam. 
Zweifelbehaftete Dinge, nämlich Schädigung usw.. mag 
man sie getan, veranlafst oder [nur] gebilligt haben. 
520 Der Yoga des Pataujali. 
mag ihnen Begierde, Zorn oder Verblendung voraus- 
gegangen sein, mögen sie leicht, mittelmärsig oder 
übermäfsig sein, haben Leiden und Unwissenheit als 
unendliche Frucht, — darum die Bewufstwerdung des 
Gegenteils [erforderlich ist]. 
2.35. ahimsä-pratishtliäyäm, tat-samiidhan vaira-tyägah. 
Beim Beharren in der Nichtschädigung erfolgt in 
seiner [des Beharrenden] Umgebung Verzicht auf Feind- 
seligkeit. 
2.36. satya-prcUishthapäi}!, l'rii/ä-jJiaJa-agrapatvani . 
Beim Beharren in der Wahrhaftigkeit erfolgt ein 
Antreten derselben Frucht wie die der Opferwerke. 
2.37. asieija-iwatishfhäyäin, sarva-rafiio-n^iasthänaDi. 
Beim Beharren im Nichtstehlen erfolot ein Sich- 
einstellen von allerlei Schätzen. 
2.38. hraJimacarya-pratislithäyäm, vlrya-lähhah. 
Beim Beharren in der Keuschheit erfolgt Erlangung 
von Manneskraft. 
2.39. aparigralia-sihairye, janma-kafJiamtä-sambodhah. 
Bei Standhaftigkeit in der Besitzlosigkeit erfolgt 
Bewufstsein der Wie-heit der Geburten. 
2.40. gmtcät sva-anga-jugnpsä, paraiy asamsargah, 
Aus der Reinheit erfolgt Abscheu vor dem eigenen 
Leibe und Nichtberührung mit andern, 
2.41. hin ca ? saftvagiiddhi-saumanasya-ekägratä-indriyajaya-ätma- 
darganayogycdväni ca. 
sowie auch Reinigung des Sattvam [von Rajas und 
Tamas; vgl. jedoch Chänd. Up. 7,26,2: ähara-guddlian 
sattva-gitddhIJi], Wohlgemutsein, Konzentration, Sinne- 
zähmung und Geeignetsein für das Schauen des Atman. 
2.42. santosliäd amdtamdli suMicdahhali. 
Aus der Genügsamkeit erfolgt unübertreffliche Lust- 
erlangung. 
Yoga-Sntra's, vierter Text 2,28—3,55. 527 
2.43. ka!ia-i)idrii/(i-sl<lilhir a^mhlli ilislKtyut tapasah . 
[Magische] Vollkommenheit von Leih und Sinnes- 
organen erfolgt, vermöge der Tilgung der l'nreinheit, 
aus der Askese. 
2.44. svadhifäyad islifa-devaiä-stuHpfayogah. 
Aus dem Studium erfolgt Vereinigung mit der ge- 
liebten Gottheit. 
2.45. Ml niddli i-slddh ir 'irvarapra n idhäuüt. 
Vollendung der Versenkung erfolgt aus der Gott- 
ergehenheit. 
2.46. tairasihifa-sukham äsanam. 
Hierbei sei das Sitzen fest und bequem, 
2.47. pr(iyai}mraifhdya-änaHti/a><(mid2)cdtihhydni. 
indem man die Spannung lockert und sich zum Un- 
endlichen erhebt. 
2.48. tato dvandva-undbhigliütcdi. 
Dann erfolgt ünbetroffensein von den Gegensätzen 
[wie Hitze und Kälte, Lust und Schmerz usw.]. 
2,40. itismin satt (jfäsa-prciQväsayor gati-vichedah präuäyämah. 
Nachdem dieses geschehen, folgt als Hemmung des 
Ganges von Einatmen und Ausatmen die Atemregu- 
lierung. 
2.50. ^''a tu vähya-ahJiyantara-stamhha-vrittir dega-Jicdci-samJiJiyählüh 
paridrisldo dh'gha-sükshmah. 
Diese aber hat als Funktionen Aufsenrichtung C= re- 
caJca), Innenrichtung (= piiraka) und Festhaltung (= kuni- 
hhahi), geschieht wohlbedächtig nach Ort, Zeit und Zahl, 
und ist langgezogen und zart. 
2.51 . rahya-ahhyantara-vishaya-dkshepi caturtliah. 
Mit einem äul'sern oder innern Objekte sich befassend 
ist die vierte.* 
* Die vierte Unterart der Atemregulierung besteht darin, dafs man 
nach Einatmen (püraJca), Festhalten des Atems in der Brust (JcnmbJiaka) und 
Ausatmen (recaka) eine "Weile in dem Zustande der Eutleertheit (rünijaka) 
528 I^^r Yoga des Pataiijali. 
2.52. iaiah kshii/afc pralcära-ävaranani, 
Durch diese [vier Atemregulierungen] wird die Ver- 
deckung des Lichtes beseitigt, 
2.53. dhäranäsu ca yogyatä manasah. 
und Geeignetheit des Manas für die Fesselungen be- 
wirkt. 
2.54. sva-sva-vishaya-samprayoga-abhave citfasya sinnqja-amiJcära' 
iva indriyänäni praiyähärah. 
Wenn die Sinnesorgane, unter Aufhebung ihrer Ver- 
bindung mit den ihnen entsprechenden Objekten, gleich- 
sam die Natur des Cittam nachahmen, so ist dies das 
Einziehen der Organe. 
2.55. taiah paramä vagyatä indriyänäm. 
Daraus erfolgt eine vollkommene Unterwerfung der 
Sinnesorgane. 
3.1. dega-handJiag eitfasya dhäravä. 
Die Bindung des Cittam an einen Ort ist die Fesselung. 
3.2. iatra prafyaya-ekafänafä dhyänarn. 
Dabei erfolgt als Richtung des Vorstellungsvermögens 
auf einen Punkt die Meditation. 
3.3. tad eva, ariha-rnätra-nirhhäsam ^varüpa-rünyam iva, samädliih. 
Diese, wenn sie nur das Objekt widerspiegelt und gleich- 
sam der eigenen Natur ledig ist, heifst Versenkung 
(vgl. l,43j. 
3.4. irayani clcafra snniyaniah. 
[Die Fassung] der drei [Fesselung, Meditation und 
Versenkung] in eines ist die Allzucht. 
beharrt, wie er einzutreten pflegt, wenn man in atemloser Spannung seine 
Aufmerksamkeit oder Kraftanstrengung auf ein Objekt, sei es ein äuTseres 
oder inneres, richtet; vgl. Chänd. Up. 1,3,5: ,,Aber auch was sonst noch 
für kraftanstrengende Tätigkeiten sind, wie das Reiben des Feuers, das 
Laufen um die Wette, das Spannen eines starken Bogens, die verrichtet 
man ohne auszuhauchen und ohne einzuhauchen." Anders und von einander 
verschieden sind die Erklärungen der Kommentare. 
Yoga-Sütra's, vierter Text L>,2H— 3,55. 529 
3,5. f'ij-J"l/''tf j>y(ijiid-i(loh(h. 
Durch Erwerbung dieser [AllzuchtJ erfolgt das Licht 
des Verstehens. 
o,G. t((si/(( bhnniishu vinii/ofjdh. 
Ihre [der AllzuchtJ Verwendung geschieht den Stufen 
(2,27) entsprechend (stufenweise). 
3.7. iraiiam luiidr-arujam pCirvchhijah. 
Die drei [dhärmid, dJiyänam, mmädhi] sind Innengheder 
im Vergleich mit den vorhergehenden [fünfenj. 
3.8. tad api vahir-anyam nirvijasya. 
Auch diese [drei] sind Aufsenglieder im Vergleich mit 
der keimlosen [Versenkung, 1,51]. 
3.9. cijutihdna-uirodha-samskärayor ahhihhava-prudurhhävau ni- 
ro(üia-l:sh((m-clüa-(()ivayo nirodha-parindmah. 
Die Überwindung des Zustandes des Wachseins und 
das Zutagetreten des Zustandes der Unterdrückung bilden 
den das Cittam im Augenblicke der Unterdrückung be- 
treffenden Unterdrückungsakt. 
3.10. tasi/d prarduia-vdhitd samskdrdi. 
Für dieses [das Cittam] ergibt sich aus jenem Zustande 
[der Unterdrückung] ein beruhigtes Dahinfliefsen. 
3.11. sarvdrthatd-clxdgratayoli hshaya-udayau cittasya samädhi- 
parindniült. 
Die Vernichtung der Vielgeschäftigkeit des Cittam und 
das Hervortreten seiner Konzentration ist der Ver- 
senkungsakt. 
3.12. (jdnt<(-N(lif(ii( inlyapratyayau cittasya ekdgyatd-jxirindmah. 
Der beruhigte [Unterdrückungsakt] und der erhabene 
[Versenkungsakt] des Cittam, wenn sie gleichstark ein- 
treten, bilden den Konzentrationsakt. 
3.13. cte)ta hhnta-indriycsliH dharma-laicshana-avasthd-parinämä 
rydJiliydtdh. 
Damit sind in bezug auf Elemente und Sinnesorgane 
die [durch die drei Akte bedingten] Umwandlungen ihrer 
Naturbeschaffenheiten, Merkmale und Zustände erklärt. 
Deusse}!, Geschichte der Philosophie. I, iii. 34 
530 ^^^ Yoga des Patafijali. 
3,14. tatra gmüa-ndüa-avyajmdc^ya-dliarma-amqmH dhanm. 
Hierbei ist der Beschaffenheitsträger der beruhigten, 
der erhabenen und der unaussprechhchen Beschaffenheit 
entsprechend. 
3,15- hrama-anycdvam parinäma-anyatve hehdi. 
Eine Abweichung in der Reihenfolge würde eine 
Abweichung von den Umwandlungsakten zur Folge 
haben. 
3,16. parinäma-iraya-samyamäd aüta-anägata-jndnam. 
Aus der durch die drei Umwandlungsakte [geläuter- 
ten] Allzucht erfolgt "Wissen des Vergangenen und 
Zukünftio-en. 
'O 
3.17. cahda-artlm-prcdyaydnäm üara-itara-adhyäsät sanTiaras; iat- 
Xyravihliäga-samyamät sarvahlmta-ruta-jnänam. 
Indem man bei der Erkenntnis von Worten oder Be- 
griffen eines auf ein anderes überträgt, entsteht eine 
Vermengung; indem man bei ihrer Unterscheidung die 
Allzucht anwendet, erfolgt das Verstehen der Stimmen 
aller Tiere. 
3.1 8. samsTiära-sähshätliciranät imrva-jäü-jnänam. 
Aus der Vergegenwärtigung der Sarnskära's [der aus 
den Werken einer frühern Geburt resultierenden Cha- 
raktereindrücke] erfolgt Kenntnis der frühern Ge- 
burt. 
3.19. praiyayasya para-citta-jnänam. 
[Durch Anwendung der Allzucht] auf die Vorstellung 
[die einer von einem andern hat] erfolgt Kenntnis des 
Cittam des andern. 
3.20. na tat sa-älamhanam, tasya avisliayihMtatvCd. 
Diese Kenntnis schliefst nicht ein dasjenige, worauf 
[als Objekt] das Cittam des andern sich bezieht, weil 
dieses nicht zum Gegenstand [der Allzucht] gemacht 
worden war. 
Yoga-Siitra's, vierter Text 2,28—3,55. 531 
3.21. laifanq)a-Sfü)Ufaniaf t((d-(/y((Jn/(i-^-alii-sf(tnilthc caJcshnh-2>ni- 
Jca^a-asd myogc 'utardlt a »am. 
Aus Anwendung der Allzuclit auf die eigene Körper- 
form erfolsrt, vermoore der die Kraft ihn wahrzunehmen 
inhibierenden Diskontinuität zwischen Auge und Sicht- 
barkeit, Unsichtbarmacluing [des Yogin]. 
3.22. sa-iqxilcmnuün ninipah'amah ca Jcarma ; iat-samyamdd cq)ara- 
anta-Jnä)ia)tL arishtchhyo vu. 
Mag das Werk [einer frühern Geburt] angefangen 
haben* oder nicht angefangen haben [seine Frucht zu 
bringen], so erfolgt durch Anwendung der Allzucht auf 
dasselbe Kenntnis des letzten Endes [des Lebens], 
— oder auch durch Vorzeichen. 
3.23. niaifrif-äd/sJat haUini. 
[Durch ihre Anwendung] auf Freundschaft usw. [Mit- 
leid, Freude und Nachsicht, 1,33] erfolgen [übermensch- 
liche] Kräfte. 
3.24. haJcxhu hasii-bala-ädlni. 
Kräfte eines Elefanten usw. erfolgen [durch ihre 
Anwendung] auf dessen Kräfte. 
3.25. pravritty - üh)ka -mjäsät suTish}))(i-viiavaliita-vipraMpshfa-jnä^ 
nam. 
Durch Anwendung [der Allzücht] auf das Anschauen 
der [1,35 beschriebenen] Tätigkeit erfolgt Kenntnis des 
Subtilen, Verborgenen und Entfernten. 
3.26. hJmvana-jndnam sürye samyanidt. 
Kenntnis des Weltalls erfolgt durch Anwendung 
der Allzucht auf die Sonne. 
* 
Das ganze Leben ist die Vergeltung für die Werke einer frühern 
Geburt; sind diese erschöpft, so muls der Tod eintreten; sind sie noch 
nicht erschöpft, so kann er nicht eintreten. Der Yogin kennt nicht nur 
die schon vergoltenen (sa-upaJcrama) , sondern auch die noch nicht ver- 
goltenen I ninipalrama) Werke der frühern Geburt und kann daher das Endo 
des Lebens voraus berechnen. Mit Bhoja hier an überlegte und unüber- 
legte Werke zu denken, ist kein AnlaXs vorhanden. 
34* 
532 I^er Yoga des Patanjali. 
3.27. candre tärä-vyüha-jnäuam. 
[Durch Anwendung] auf den Mond erfolgt Kenntnis 
der Anordnung der Sterne. 
3.28. dhruve tad-gati-jnänam. 
[Durch Anwendung] auf den Polarstern erfolgt Kennt- 
nis ihres Ganges. 
3.29. )ud)hi-cakre Ixäya-vyüha-jnänam. 
[Durch Anwendung] auf den Nabelkreis (das mani- 
pürcikam^ Sechzig Upanishad's S. 675) erfolgt Kennt- 
nis der Anordnung des Leibes. 
3.30. kantJia-hq)e Tishiä-pipäsä-fmriUih. 
[Durch Anwendung] auf die Kehlgrube erfolgt Stil- 
lung von Hunger und Durst. 
3.31. JiHrnm-nädi/äm stliairyani. 
[Durch Anwendung] auf die Schildkrötenader (eine 
Arterie unter der Kehlgrube) erfolgt Festigkeit. 
3.32. mürdlia-jyoüslü siddha-darQanam. 
[Durch Anwendung] auf das Kopfiicht (die Brahman- 
öffnung) erfolgt Schauen der Siddha's (der Sehgen). 
3.33. prätibhäd vä sarvam. 
Oder [durch Anwendung] der Allzucht auf die intui- 
tive Erkenntnis (pratihhä) erfolgt alles [bisher Ver- 
heifsene]. 
3.34. hridaye ciffa-samvit. 
[Durch Anwendung] auf das Herz wird man sich 
des Cittam bewufst. 
3.35 . sattva -purtish ayor afyanta - asamMrn ayoh pratyaya - avigcsho 
bliogah ; parärtha-anya-svdrtlia-samyamät purusha- 
jüänam. 
Die Nichtunterscheidung der Vorstellungen des Sat- 
tvam (als Vertreters der Prakriti) und des Purusha, 
welche beide absolut verschieden sind, ist das Geniefsen 
[und Leiden] ; — durch Anwendung der Allzucht auf 
das von fremdem Interesse [der Prakriti] verschiedene 
Yoga-Siitra's, vierter Text 2,28—3,55. 533 
eigene Interesse [des Purusha] erfolgt Erkenntnis des 
Purusha. 
3.36. tattth prüiihh(i-^räva\ut-vcdanä-MarQa-d.sväda-värttä jäyttutc. 
Daraus entstehen intuitive Wahrnehmungen von 
[übernatürhchem] Hören, Fühlen, Sehen und Schmecken.* 
3.37. /(' satnddhan updsarga, vifutihaur >iiddJiai/ah. 
Diese sind bei der Versenkung Hemmnisse, [wenn 
auch] im wachen Zustande Vollkommenheiten. 
3.38. handha-lcämna-raithdtjCd pracara-samvedanuc ca cittasya 
paragcoira-ärrrah. 
Durch Lockerung der Ursache der Bindung und durch 
Kenntnis des Ganges erfolgt [vermöge der AllzuchtJ Ein- 
gang des Cittam in einen fremden Leib. 
3.39. uddna-jayaj jaJa-paül^a-Tianihalxa-ädishu asaficfa' nthräidig ca. 
Durch Überwindung des Aufhauches [durch Allzucht] 
erfolgt Nichthaften an Wasser, Schlamm, Dornen 
usw. und Herauskommen aus ihnen. 
3.40. sannhia-jayäf prajvcdanam. 
Durch Überwindung des Allhauches [durch AllzuchtJ 
erfolgt Aufleuchten. 
3.41. grofra-äl'drayoh samhandha-mmyamäd divyam rrotram. 
Durch Allzucht angewendet auf die Verbindung von 
Gehör und Äther erfolgt himmlisches Gehör. 
3.42. Jcäya-äJiugayoh samhandha-samyamcd laghu-tida-samäpatteg 
ca tiJiäga-gamana») . 
Durch Anwendung der Allzucht auf die Verbindung 
von Leib und Luftraum und durch Werden wie leichte 
Baumwolle erfolgt Gehen im Lufträume. 
3.43. vahir akalpitä vrittir mahdvidchä; tatah prakäga-ävarana- 
hshayah. 
Der nicht mehr von aufsen beeinflufste Zustand heifst 
der Grofs-Körpererhabene ; aus ihm [der durch Allzucht 
* värttä, „Riecbea", scheint von den Kommentaren nur aus dieser 
Stelle erschlossen zu sein. 
534 Der Yoga des Patanjali. 
erreicht wird] erfolgt Vernichtung der Lichtver- 
deckung. 
3.44. stli üla-svarüpa-sültshma-an vaya-artlia vativa-samyamäd hltüta- 
jayali. 
Durch [Anwendung der] Allzucht auf Grobheit, QuaH- 
tät, Feinheit, Abhängigkeit von den Guna's und Zweck- 
bestimmtheit der fünf Elemente erfolgt Beherrschung 
der Elemente. 
3.45. tato 'nima-ääi-])rädiirblicwali, häya-samiKit, tad-dharma-an- 
abhighätag ca. 
Aus dieser folgt Hervortreten der Atomkleinheit 
usw. [animan, Atomkleinheit; mahiman, Gröfse; layhi- 
man, Leichtigkeit; gariman, Schwere; präpti., Allberüh- 
rung; präkämyam^ Wunscherfüllung; ^gitvant, Gottherr- 
lichkeit, und vagitvam^ Herrschaft], Trefflichkeit des 
Leibes und Unverletzlichkeit seiner Eigen- 
schaften. 
3.46. rüpa4ävanya-hala-vajrasamliananaiväni Tiäya-sampat. 
[Bemerkung:] Die Trefflichkeit des Leibes besteht in 
Schönheit, Anmut, Kraft und diamantener Festigkeit. 
3.47 . yrahana - svarupa - asmitä - anvaya - artJiavattva - samyamäd in- 
driya-jayah. 
Durch [Anwendung der] Allzucht auf Perzeption, Quah- 
tät, Ichbewufstsein, Abhängigkeit [von den Guna's] und 
Zweckbestimmtheit [der Sinnesorgane] erfolgt Be- 
herrschung der Sinnesorgane. 
3.48. Udo manojavitvam vikarana-bliävali pradliäna-jayag ca. 
Aus ihr Gedankenschnelle, Bestehen auch ohne 
Organe und Beherrschung der Prakriti. 
3.49. saUva-punisha-anycdä-liliyMi-niätrasyasarva-hhäva-adhisM^^^ 
trävam sarvajnätrdvan ca. 
Sobald man Klarheit gewonnen hat über die Ver- 
schiedenheit von Sattvam und Purusha, erfolgt Ober- 
herrschaft über alles Sein und Allwissenheit. 
k 
Yoga-Sütra's, vierter Text 2,28-3,55. 535 
.'>,50. fad-i'aird(jyd(l api doshd-c'ija-hshaye Jcaicalyam. 
Aus dem Nichtmehrhängen auch an diesen erfolgt, 
indem der Same der Sünde zunichte geworden ist, Ab- 
solutlieit. 
3.51 . sfJuhiy-iqxuiimautranc sanga-sMaya-akaranam,punar amshfa- 
prasanydt. 
Wenn Hochstehende [nach den Kommentaren sind 
Götter gemeint] ihn verlocken, meide er Neigung und 
Hochmut, weil Unerwünschtes wieder sich daraus er- 
geben könnte. 
3.52. hsJiaiia-tatJi'ramayoh samyamnd vivchajam jndnam. 
Durch [Anwendung der Allzucht] auf den Zeitmoment 
und seine Folge erfolgt aus Unterscheidung ent- 
springende Erkenntnis. 
0,53. jäti-IaJcshana-dcgair anyatä-anavachedät iidyayos tatah pra- 
tipattih. 
Aus dieser erfolgt Erlangung [der Fähigkeit zu 
unterscheiden] zwischen zwei so gleichen Dingen, dafs 
sich ihre Verschiedenheit nach Art, Merkmalen und Ort 
nicht klar bestimmen läfst. 
3.54. tdndcam, sarvavishayam, sarvcdJiävishayam akraman ca, itl 
vivel'ajam jndnam. 
[Anmerkung zu 3,52]: Rettend, alles befassend, es in 
jeder Hinsicht befassend und ohne Zwischenstufen, so 
ist die aus Unterscheidung entspringende Erkenntnis. 
3.55. sattfa-purushayoli gnddhi-sdtnye kaivalyam. 
Nachdem Sattvam und Purusha gleicherweise geklärt 
sind, erfolgt Absolutheit. 
Das Tierte Buch der Yoga-Sütra's ist allem Anscheine nach 
ein späterer Anhang (4,27 weist unverkennbar auf 2,10 — 11 
zurück), welcher sich aus vier mit einander nicht zusammen- 
liängenden, aber für den Ausbau des Systems nicht unwich- 
tigen Nachträgen zusammensetzt. Der erste (4,1 — 6) beschäf- 
tigt sich im Anschlufs an das dritte Buch noch mit den 
536 Der Yoga des P/ataüjali. 
übernatürlichen Kräften des Yogin, der zweite (4,7 — 13) be- 
handelt das Verhältnis zwischen Tiarman und väsana$., der 
dritte (4,14 — 23) die Beziehungen des Cittcmi einerseits zum 
vastn (dem äufsern Objekt), andererseits zum Pio'usha, der 
vierte den Abschlufs des ganzen Werkes bildende Teil bietet 
(4,24 — 33) eine schöne Schilderung des kaivcdyam, des Zu- 
standes der Erlösung. 
Erster Nachtragteil, 4,1 — 6. 
Im AnscliluTs an das dritte Buch w4rd nach Durch- 
musterung der fünf Gründe, w^elche zu übernatürlicher Voll- 
kommenheit führen können (4,1, vgl. das analoge Verfahren 
Sänkhya-Kärikä 7), die besondere Zauberkraft des Yogin be- 
sprochen, sich zu vervielfältigen, d. h. eine andere Körperlich- 
keit [jäti, nach Bhoja eine andere Kaste) neben der seinen 
anzunehmen. Diese andere Verkörperung entspringt aus der 
Überfülle seiner Natur (4,2), nicht aber aus den liier wie 
Sänkhya-Kärikä 42 nimittam genannten Verdiensten in einem 
frühern Dasein, wenn auch diese mitbehilflich sein können, 
wie die Bewässerung beim Wachstum der Pflanzen (4,3). 
Die dabei vom Yogin geschaftenen Citta's entspringen aus 
seiner eigenen Ichheit (4,4), es ist das eine Cittam des Yogin, 
welches die verschiedenen Körper beseelt und zu mannigfachen 
Handlungen antreibt (4,5), auch hinterlassen diese durch 
Meditation (4,6 dhyanäni =4,1 samudhi) geschaftenen Körper 
kein durch eine abermalige Geburt zu büfsendes Residuum 
ihrer Werke (4,6). 
4,1 jannia-oshadhi-manfra-fapah-samädJiijäh siddhayah. 
Die übernatürlichen Vollkommenheiten können beruhen 
auf Angeborensein, Heilkräutern, Zaubersprüchen, Askese 
und Versenkung. [Das letzte ist der Fall beim Yogin.] 
4,2. jäty-cüdara-parmämah praljdy-äpiirät. 
Dabei entspringt seine Umwandlung in eine andere 
Geburt [möglicherweise : in eine andere Kaste] aus einer 
Überfülle seiner eigenen Natur. 
Yogii-Siitra's, erster Xachtragteil 4,1 — (5. 5^)7 
4.3. iiimittam aimn/ojakani prahittnäm, varunu-hhedas tu tatah, 
JcsJictn'lavaf. 
Iliugegeu sind für die [schöpferisch sich betätigenden] 
Naturen [der Yogin'sJ ihr nimittam (ihre Werke in einem 
frühern Dasein) nicht das Bewirkende, doch kann es 
niitbehilflich sein zur Durclibreehung der Hindernisse, 
wie bei dem [das Feld bewässernden] Bauer. 
4.4. )iinncuia-citta»i/ asmitä-muirät. 
Die [von dem Yogin bei Vervielfältigung seines Leibes] 
geschatlenen Citta's entspringen nur aus seiner Ich- 
wesenheit. 
4.5. pravritti-hhcdc prmjojaTxam cittam cTiani aucl'esluun. 
Bei Verschiedenheit der Funktionen [dieser verschiede- 
nen Leiber] ist das antreibende Cittam der \'ielen das 
eine [ursprüngliche Cittam]. 
4,G. tcdra dhyuuajam anäcayam. 
Hierbei ist das durch Meditation geschaffene [Cittam] 
ohne Werkresidua. 
Zweiter Nachtragteil, 4,7 — 13: Karman und Väsanä's. 
Die AVerke des T'ogin sind wieder gut noch böse, die der 
übrigen Menschen sind dreifach, gut, böse und aus beidem 
gemischt (4,7). Nur diejenigen Werkresidua kommen im 
neuen Lebenslaufe zur Manifestation, welche der Heranreifung 
der Werke in der frühern Geburt entsprechen (4,8). Der 
Zusammenhang der Werke in einem frühern und der Ver- 
geltung im gegenwärtigen Dasein ist dadurch gesichert, dafs 
die Werkresiduen in dem neuen Dasein als eine Art un- 
bewufster Rückerinnerung bestehen und sich betätigen (4,9). 
Die Kette der Werke und ihrer Residua, wde sie einander 
bedingen, reicht ins Unendliche zurück, weil die uqis (die 
Begierde, der Wille zum Leben), auf dem beide beruhen, von 
Ewigkeit her besteht (4,10). Die Werkresidua setzen sich aus 
vier Faktoren zusammen; sie sind: die ä^is als der eigentliche 
Grund, das Werk als ihre Frucht, der Täter als das Substrat 
und die Objekte, auf welche sich die Handlungen beziehen; 
538 Der Yoga des Pataiijali. 
nur wo diese vier Faktoren zusammenwirken, kommen die 
Samskära's zustande (4,11). Im Gegensatze zu den mit jedem 
neuen Lebenslaufe wechselnden Residuen besteht der Träger 
dieser Eesidua, das Cittam, in Vergangenheit und Zukunft 
unverändert vermöge seiner eigenen Natur, und nur seine 
Aufserungen schlagen mannigfaltige Wege ein (4,12). Diese 
Aufserungen sind, ebenso wie die Guna's, aus denen sie ge- 
bildet sind, teils entfaltet und teils verborgen (4,13). 
4.7. karnia aruMa-akrishnam yoginas, triviäliam itareshäm. 
Das Werk des Yogin ist nicht weifs und nicht schwarz 
[jenseits von Gut und Böse], das der andern ist drei- 
fach [weifs, schwarz und gemischt]. 
4.8. tatas tad-vipälM-anugnnänäm eva ahJiivyaliir väsanänäm. 
Aus diesen [guten, bösen und gemischten Werken] 
geht nur eine solche ^Manifestation der Werkresiduen 
[im neuen Dasein] hervor, wie sie der Heranreifung jener 
[Werke in einer frühem Geburt] entspricht. 
4.9. jäÜ-dega-Jcäla-vyavah'dänäm cqjy änantaryam smriti-saniskä- 
rayor ekarüiKävät. 
Obwohl [die Werke und ihre Residua] durch Geburt, 
Raum und Zeit von einander getrennt sind, so besteht 
doch zwischen ihnen Kontinuität, weil die Residua [aus 
einem frühern Leben] identisch sind mit der [im gegen- 
wärtigen Leben den Handlungen zugrunde liegenden, un- 
bewufsten] Rückerinnerung. 
4.10. täsäm aHäditvam ägislio ndyatvät. 
Diese [Residua der Werke] sind anfanglos, weil der 
[in ihnen sich bekundende] Wille von Ewigkeit her ist. 
4.11. Jietu-jjlicda-ägraya-älanihanaih saügriliUcdväd, eshäm ahJu'we 
tad-ahhducdi. 
Weil die Werkresidua sich zusammensetzen aus der 
Grundursache (dem Willen), ihrer Frucht (den Werken), 
ihrem Substrat (der Person) und ihrer Unterlage (den 
Objekten), so kommen, wo diese [vier Faktoren] fehlen, 
auch sie [die Werkresidua] in Wegfall. 
Yoga-Sutra's, zweiter Nachtrabten 4,7 — 13. 539 
4,1-- (itif(i-ci)nhjaf(im sranq)ato 'sfif, ddlioa-blicdnä dharnumäm. 
Als vergangen und zukünftig besteht [das Cittam] 
seiner Natur nach [unverändert], und nur seine Aufse- 
rungen schlagen [je nach dem Lebenslaufe] verschiedene 
Wege ein, 
4,13. tc viialda-suhslimä giina-ätnuuiah. 
Diese [Aufserungen J sind teils offenbar, teils latent, 
da sie aus den [das Cittam und seine Aufserungen be- 
dingenden und gleichfalls teils offenbaren, teils latenten 
drei] Guna's entspringen. 
Dritter Nachtragteil, 4,14 — 23: Vastu, Cittam und 
Purusha. 
Der Gedankengang dieses, von den Kommentaren mehr- 
fach in widersprechender und unannehmbarer Weise erklärten 
Abschnitts scheint folgender zu sein. 
Die Aufsenwelt ist real, weil sie dieselben Eindrücke in 
den verschiedenen Subjekten veranlafst (4,14). Das Objekt 
ist für alle dasselbe, aber die Subjekte sind verschieden, 
daher die Abweichungen in den Anschauungen (4,15). [Ein 
nur bei Vyäsa folgendes, bei Bhoja fehlendes Sütram scheint 
eine Polemik gegen den Idealismus des Vedänta zu enthalten.] 
Erkannt wird ein Objekt nur so weit, als das Cittam von ihm 
gefärbt wird (4,16). Doch würde Erkenntnis der abwechseln- 
den Eindrücke unmöglich sein, stünde nicht hinter dem Cittam 
als das eigentUche Subjekt des Erkennens der Purusha (4,17). 
Das Cittam ist nicht das Subjekt des Erkennens, sondern 
selbst Objekt (4,18); da es dieses ist, so kann es nicht gleich- 
zeitig erkennendes Subjekt sein. Noch weniger kann es ein 
fremdes Cittam zum Objekte haben, die Buddhi einer fremden 
Buddhi sein, weil es dann auch deren ganzen Inhalt kennen 
müfste, auch eine Vermengung der Erinnerungen die Folge 
sein würde (4,20). Nein! es ist nur der unwandelbare Pu- 
rusha, welcher in die Gestalt seines Cittam eingeht und da- 
durch seiner eigenen Buddhi sich bewufst wird (4,21). Das 
Cittam, in dieser Weise vom Purusha und vom Objekte über- 
färbt, ist imstande, alles zu erkennen (4,22). Es ist mit 
Ö40 Der Yoga des Pataiijali. 
unzähligen ra.sa«a's, aus einem frühern Dasein herrührenden 
Eindrücken, angefüllt und doch nicht um seiner selbst willen, 
sondern um des Purusha willen da, weil sein Wirken das 
eines Aggregates ist (4,23), ein solches aber (vgl. Sähkhya- 
Kärikä 17 samghiita-parärtliaivät) nur um eines andern willen 
besteht. 
4.14. parinäma-ekatväd vastu-fattvam. 
Aus der Einheit der Umwandlungen [welche die ver- 
schiedenen erkennenden Subjekte erfahren] ist zu 
schhefsen auf die Eealität der objektiven Welt. 
4.15. vastu-sämye citta-hJtcdät taym'. viviMah panihäh. 
Weil bei Identität des Objektiven die Citta's [in den 
verschiedenen Subjekten] verschieden sind, schlagen 
beide verschiedene Wege ein [kann die Anschauung 
desselben Objektes eine verschiedene sein].* 
4.16. tad-uparäga-apekshitväc cittasya vastu jhäta-ajnätam. 
Weil das Cittam von dem Objekte erst überfärbt 
werden mufs, ist das Objekt bekannt oder nicht bekannt. 
4.17. sadä jüätäg citta-vrittayas, tat-prahlioli pnrushasya aparinä- 
mät. 
Die Funktionen des Cittam werden jederzeit erkannt, 
weil sein Gebieter, der Purusha, unwandelbar besteht. 
4.18. na tat sva-ähhäsam, driryatvät. 
Das Cittam ist nicht selbst Licht, weil es nur Ob- 
jekt ist. 
4.19. eJcasamaye ca uhhaya-anavadhäranani. 
Auch läfst sich nicht behaupten, dafs es gleichzeitig 
beides [Subjekt und Objekt] sein könne. 
* Hier folgt bei Vyäsa das bei Bhoja fehlende Sütram, welches eine 
Polemik gegen die Vedäntalehre von der Idealität der Aufsenwelt enthält: 
na ca ekacüta-tantram vastu, tad apramänalcam, tadä kiiii syat, „Auch ist 
das Objekt nicht allein vom Bewufstsein abhängig, weil dies unbeweisbar 
ist; und was würde die Folge sein?" — Wir behalten im folgenden die 
ü^ählung des Bhoja bei. 
Yoga-Sütra's, dritter Nachtragteil 4,14—23. 541 
4.20. ciiia-antara-dri(^ye, hnddlti-hnddliir, atiprasaügdh smriti-san- 
Jcarar ca. 
Könnt«' ein fremdes Cittam Objekt [des eigenen Cittam] 
werden, so würde es eine Buddlii der Buddhi geben,, 
woraus zuviel folgen würde [man müfste dann auch den 
Inhalt der fremden Buddhi kennen], auch würde eine 
Vermengung der beiderseitigen Erinnerungen die Folge 
sein. 
4.21. citer apraiisanliramäijäs tad-akära-äpattau sva-huddhi-sam- 
vedanam. 
Indem der unwandelbare Purusha in die Gestalt seines 
Cittam eingeht, gelangt er zum Bewufstsein seiner 
eigenen Buddhi. 
4.22. drashfri-drirya-uparciktam cittam sarva-artham. 
Überfärbt von dem Purusha und dem Objekte, wird 
das Cittam fähig, alle Zwecke zu vollbringen. 
4.23. tad asaril-Jiyrya-väsandb]iig citram api, pardrtliam, sam~ 
hütya-Txäritvät. 
Obgleich das Cittam mit unzähhgen Eindrücken erfüllt 
ist, dient es doch nur einem fremden Zwecke, weil e& 
als ein Aggregat wirkt. 
Vierter Nachtragteil, 4,24 — 33: Das Kaivalyam. 
Xaclidem der Unterschied zwischen Purusha und Prakriti 
erkannt worden ist, schwindet der Wahn, als sei das Cittam 
das Selbst (4,24), und das Cittam fliefst vom Purusha herunter 
wie von einem Bergabhange (4,25). Freilich stellen sich in den 
Intervallen der Versenkung wieder fremdartige Vorstellungen 
ein als Wirkung der noch bestehenden Residua, aber auch 
sie sowie die Klega's müssen abgestreift werden (4,26 — 27).. 
Dann gibt man sein Geld ohne Zinsen hin, dann wird man 
zu einer überallhin Segen .spendenden Wolke von Tugenden 
(4,28). Die Kle^-a's und die auf ihnen beruhenden Werke 
sind vernichtet (4,29), alle Hüllen und Flecken sind beseitigt, 
die Erkenntnis umfafst das Unendliche, und was sonst noch 
erkannt werden könnte, ist bedeutungslos (4,30). Dann haben 
542 I^er Yoga des Patafijali. 
die Guna's das Ende ihrer Umwandlungen erreicht (4,31), und 
im Ewigen stehend, schaut man auf den ganzen Kreislauf der 
Zeit herab (4,32). Die Guna's strömen von dem seinen Zweck 
«rreicht habenden Purusha herab, er aber verharrt als reines 
Denken in seiner eigenen Wesenheit, — das ist kaivalyani, 
die Absolutheit (4,33). 
4.24. vicesha-darQina' ätma-hliäva-hhävanä-nivrittih. 
Für den, welcher die Verscliiedenheit [des Purusha 
vom Cittam] erkennt, schwindet der Wahn, dafs es [das 
Cittam] der Atman sei. 
4.25. tadä viveka-nimnam hAkahja-prüghliaram ciitani. 
Dann wird das Cittam, durch diese Unterscheidung 
in Flufs gebracht, den Bergabhang der Erlösung hinab- 
strömen. 
4.26. tac-cJiidreshn praiyaya-antaräni scmshärebhyüli. 
Während der Unterbrechungen dieser [Tätigkeit des 
Unterscheidens] entstehen anderartige Vorstellungen aus 
den rückständigen Eindrücken. 
'^o^ 
4.27. hänam eshäm Jdegavad nliam. 
Die Überwindung derselben sowie die der Plagen ist 
(2,10 — 11) besprochen worden. 
4.28. prasaTdihyäne apy akusulasya sarrnfha vivelca-l'hyätey 
dJtarma-DicgJiah samädhih. 
Für ihn, der auch bei Anlegung [seines Kapitals] 
keine Interessen erwartet, wird, da auf alle Weise die 
Unterscheidung aufleuchtet, der Samadhi zu einer [\\'ohl- 
taten herabregnenden] ^^"olke von Tugenden. 
4.29. tatah IdcQa-liarma-tüvriitih. 
Dann werden Plao-en und Werke zunichte. 
4.30. tadä sarva-ävarana-mala-apetasya jnänasya änantyäj jneyam 
cdpam. 
Dann ist, wegen der Unendlichkeit seines von allen 
Hindernissen und Flecken befreiten Wissens, alles sonst 
zu Erkennende ohne Bedeutun»;. 
Yoga-Sütni's, vierter Nachtragteil 4,24—33. 543 
4.31. iatdh Lrifd-nrtluhnüH parmdma-krauHi-fianmptir (iHmun'im. 
Daraiil" erfolijt der Abschlufs der Reihe der Ver- 
änderunü;en der Guna's, da sie ihren Zweck erreicht 
haben. 
4.32. lifihima-praiiyixi'i jxiriuanKi-aparanfa-nirgraJiijah Iraniah. 
Als Gegenteil des Augenbhcks wird dann die ganze 
Zeitreihe am letzten Ende der Veränderungen erfafst 
(vgl. Brih. Up. 4,4,16). 
4.33. piüiisha-artha-gumiänam f/uvcuHhn praUprasavah haivalywm, 
svaritpd-prai'isihtha rd citi-raJctlr, iti 
Die Rückströmung der von den Zwecken des Purusha 
freien Guna's ist die Absolutheit, oder auch sie ist die 
in ihrer eisrenen Natur verharrende Kraft des Geistes. 
Das Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des 
Patafijali. 
1. AUsremeine Übersicht und Grundbegriffe. 
1. Metaphysik. Der Yoga geht, ebenso wie das Sän- 
khyam, aus von der Tatsache des Leidens (2,15: sarvarn duh- 
IJuim eva vivel-iuah). Das Leiden entspringt (2,17) aus der 
Verbindung ("saun/ofja) des Purusha (drashfri) mit der Prakriti 
((Iriri/am), welche letztere aus den drei Guna's besteht (2,18 — 19. 
4,31. 33). Der letzte Grund dieses samyoga ist die Avidyä 
(2,24). Sie wird aufgehoben durch den VivcJca, die Unter- 
scheidung zwischen Purusha und Prakriti (2,26). Das Resultat 
ist Kaivfdyam, die Absolutheit (4,33). 
2. Psychologie. Die Prakriti befafst die äufsere Natur 
(vasfu, 4,14) und den psychischen Apparat, das Ciitam. Letz- 
teres wird nirgendwo bestimmt defmiert; gelegentlich erscheint 
es synonym mit Buddhi (4,20) oder mit 3Ianas (2,53, ver- 
glichen mit 3,1), umfafst beide und entspricht im wesentlichen 
dem, was im Sankhyasystem das LiTigmit heilst. Das Cittam 
hat a) intellektuelle Funktionen, die fünf Vritfi's (pra- 
i)iänatn, viparyaya, vilcaJpa, nidru, smriti, 1,6), b) moralische 
544 I^äs Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Patanjali. 
Gebrechen, die fünf Klega's, wörtlich „Plagen" [((v/difa, 
asmitä, räga, dveslia, ahhinivega, 2,3). Ihr letzter Grund ist 
Ävidyä, das Nichtwissen, in welchem die vier übrigen wurzeln 
(2,4). — Um Ka/vah/am zu erlangen, müssen die fünf Vritti^s 
durch Übung und Entsagung unterdrückt (1,2. 12) und die 
fünf Klega's durch Werk-Yoga (2,1) abgeschwächt (2,2) und 
durch asketische Gegenanstrengung und Meditation über- 
wunden werden (2,10 — 11), bis zu ihrer völligen Vernichtung 
(4,29). — Aufser den Vriiti''s, welche die intellektuelle, und 
den Klcca's, welche die moralische Beschaffenheit des Cittam 
bedingen, ist dasselbe c) noch erfüllt (citram) von den Werk- 
residuen (väsanä's = samsJcära's = karmdraya = strmti , 4,9), 
angeborenen Charaktereindrücken, welche bedingt sind durch 
die Werke einer frühern Geburt und wiederum die Schicksale 
der nächstfolgenden Geburt bedingen. Alle Werke und Re- 
siduen wurzeln in den Kle^a's als ihrem letzten Grunde (2,12). 
— Die Kette von Werken und Werkresiduen ist anfanglos, 
weil die dris, „der Wille", d. h. wohl das Haften an den 
Klega's, von Ewigkeit her besteht (4,10). 
3. Praktische Philosophie. Der Viveka und durch 
ihn das Karndyam wird erreicht durch den Yoga, welcher die 
Vritti's des Cittam unterdrückt, die Unreinheit (acnddhi), d. h. 
die Klega's und Sarnskära's, vernichtet (4,29) und die Er- 
kenntnis aufleuchten macht (2,28). — Der Yoga hat acht 
Glieder (cHga^s), welche in stufenweiser Steigerung zur Voll- 
endung führen. Die fünf ersten (ijanKi, u'njama, dsanam, prd- 
ndyäma , praiydhdra) sind die Aufsenglieder; die drei letzten 
(dJidranä, dhydnam und sarnddlii) sind die Innenglieder, machen 
aber in ihrer Zusammenfassung als samyama erst den savija- 
samddhi, den noch die Keime der lOega's, Sarnskära's und 
Vritti's in sich tragenden, keimhaften (sav'ija) Samädhi aus, 
welcher sich zum höchsten, keimlosen (türvyn) Samadhi ver- 
hält, wie das Äufsere zum Innern (3,8). Der Übergang zu 
ihm wird bewirkt durch drei Umwandlungsakte, den Unter- 
drückungsakt (nh-odha-parinäma), den Versenkungsakt (samddlii- 
parindma) und den Konzentrationsakt (ekägmtd-parmdma), 
welche aus den drei Gliedern des Samyama (dhdrand, dlujd- 
pam, samädhi) als ihre Wirkungen hervorgehen. — Durch 
1. Allgemeine Übersicht und Grundbegrirto. 545 
Anweiidunii: des Samyama auf die Verhältnisse der iiui'sern 
und innern Natur entstehen die Vihhtifi's oder übernatüriichen 
Kräfte (3.10 — 4,(3). — Parallel mit dieser im dritten Buche 
«reschilderten Erhebung zum nirnju-samMlil mittels der drei 
rmwandlungsakte läuft die Darstellung im ei-sten Buche, nach 
welcher durch die Vorstufe des citUijn-asädanani die Erhebung 
(sdnKipdffl) zum sav'iju-sumädhi und von diesem weiter zum 
keimlosen (ulrr/Jd) Samädhi als der höchsten Yogabetätigung 
führt, durch deren wiederholtes Üben nach und nach die 
völlige Befreiung des Purusha vom Cittam mit seinem ganzen 
Inhalte an Kle^a's, Sarnskära's und Vritti's und damit das 
Kaivalvam sich vollendet. 
2. Die Metaphysik des Yogasystems. 
§ 1. Wenn ein philosophisches System den Begriff eines Der Gottes- 
persönlichen Gottes aufstellt, so sollte man erwarten, dafs des'' Yoga. 
dieser Begrift', sei es als Urgrund der Welt oder als höchstes 
Ziel aller Bestrebungen in den Mittelpunkt der ganzen Be- 
trachtung treten müfste. Diese Erwartung bestätigt sich bei m 
Yogasystem in keiner W^eise. Es nimmt aus der Volksreligion 
den Begriff des Igvara, des persönlichen Gottes, auf, ohne von 
ihm einen irgendwie den Zusammenhang des Systems be- 
rührenden Gebrauch zu machen. Gott wird weder heran- 
gezogen, um den Ursprung von Purusha und Prakriti oder 
das Verhängnis ihrer Verstrickung in einander zu erklären, 
noch auch um das als höchstes Ziel vorschwebende kaivalyam, 
die Erlösung, als einen Eingang zu ihm, eine Einswerdung 
mit ihm hinzustellen. Es ist hier ähnlich wie im Systeme 
des Epikur; wie in diesem die Götter, so greift im Yoga der 
i^'vara nicht im mindesten in das Weltleben oder die Schick- 
sale der wSeele ein. Aber wie Epikur die Götter, obgleich sie 
völlig isoHert von dem Welttreiben in den Intermundien 
wohnen, als Ideale der Glückseligkeit nicht entbehren wollte, 
so wird im Yoga die Hingebung an Gott, i(^vara-prciniiViänam ^ 
an den wenigen Stellen, wo von ihr und damit von Gott über- 
haupt die Rede ist, als eines der verschiedenen Mittel empfoh- 
len, um die Yogameditation zu befördern. Diese Hingebung 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, iii. OO 
546 Das Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Patafijali. 
an Gott ist nach 1,23 eine der dem Yoga dienlichen Vor- 
übungen; nach 2,1—2 wird sie neben Askese und Vedastudium 
zu dem die Abschwächung der Klega's und die Förderung 
des Samädhi bezweckenden Werkyoga gerechnet; nach 2,32 
erscheint sie wiederum neben Reinheit, Genügsamkeit, Askese 
und Studium als ein Teil der das zweite Ghed der Yogapraxis 
ausmachenden Selbstzucht (nipama) und wird in Zusammen- 
hang damit 2,45 als dem Gelingen des Yoga förderhch 
empfohlen. Die einzige Stelle, welche sich näher über den 
Gottesbegrifl' ausspricht, ist die erstgenannte, 1,23—28. Sie 
definiert 1,24 den Igvara als einen blofsen primus inier pares, 
„einen besondern Purusha, welcher [im Gegensatz zu allen 
andern Purusha 's] nicht berührt wird von den Plagen, Werken, 
Werkfrüchten und Werkresiduen". Er ist nach 1,26 zeitlos 
und daher Lehrer der Vorfahren im Veda gewesen; sein 
Symbol ist der heilige Laut Om (1,27), dessen Murmeln und 
Überdenken daher für die Zwecke des Yoga förderlich ist 
(1,28). Von besonderm Interesse ist der Beweis für das 
Dasein Gottes in 1,25: tatra nirati^ayam särvajnya-vijam, „in 
ihm ist der Same der Allwissenheit ins Unüberbietbare ge- 
steigert", d. h. der Intellekt, wie er jedem erkennenden Wesen, 
jedem Purusha einwohnt, ist ein auf Allwissenheit angelegtes 
Prinzip ; unser Bewufstsein umspannt das All, den unendlichen 
Raum, die unendliche Zeit, den anfang- und endlosen Kausal- 
zusammenhang der Dinge, nur dafs bei uns diese allbefassendc 
Erkenntnis nur potentiell vorhanden und auf den Kreis des 
Erfahrbaren eingeschränkt ist. Diese Einschränkung setzt das 
Uneingeschränkte, den Inbegritf alles Wissens, und dieser 
wiederum einen Träger der Allwissenheit, den Igvara, als den- 
jenigen Purusha voraus, in welchem die bei uns nur poten- 
tielle Allwissenheit von Ewigkeit her eine aktuelle ist. Diese 
aktuelle Allwissenheit Gottes wird auch von Menschen durch 
die Vollendung des Yoga erlangt; „dann ist, wegen der Un- 
endlichkeit seines von allen Hindernissen und Flecken be- 
freiten Wissens, alles sonst zu Erkennende ohne Bedeutung" 
(4,30), dann ist er, wie es 4,32 heifst, am letzten Ende der 
Veränderungen angelangt, lebt nicht, wie alle andern, in dem 
jedesmaligen Zeitmomente, sondern schaut, im Ewigen stehend, 
'2. Die Metaphysik des Yogasysteins, 547 
die ^anzi', uiicndlicho Zeitroilm zu seinou Füfseii unter sich. 
— St'lnvebt somit die \'orstollunj>; des l^vam d(nn Yogin als 
oin auch von ihm erroiclibares und zu erreicliendes Ideal vor, 
dessen Meditation dio Zwecke des Yoga beiordert, ohne dafs 
der I(;vara selbst zu deren Erreichung irgendwie mitbehilflich 
wäre, so haben die dcvu^s, die altvedischen Götter, für den 
Yoga noch weniger Bedentung, denn es will wenig sagen, 
wenn 2,44 unter andern Vorübungen das Vedastudium als 
eine (vorübergehende) Vereinigung mit der Gottheit, an welche 
sich der zum Studium gewählte Hymnus richtet, empfohlen 
wird; und 3,51 wird sogar, wenn wir die Hochstehenden 
(stJuinl)!) mit den Kommentaren von den Göttern verstehen 
dürfen, vor diesen gewarnt, sofern sie durch ihren Beifall im 
Yoii;in Neigung und Hochmut erwecken und dadurch die 
Erreichung des höchsten Zieles nur beeinträchtigen können. 
ts 2. Der Yoga hat es seiner Natur nach mit innern Realität der 
Welt. 
Vorgängen zu tun, daher wir, abgesehen von den später zu 
besprechenden phantastischen Ausführungen über die durch 
den Yoga zu erreichenden übernatürlichen Vollkommenheiten, 
wenig Aufschlüsse über die Natur der Aufsenwelt erhalten 
Sie heifst im Gegensatze zum Purusha und zum Cittam in 
dem ihr Verhältnis zu beiden erörternden Abschnitte 4,14 fg. 
rasfn, ,,das Objekt", welches nach 4,16 erkannt wird oder 
unerkannt bleibt, je nachdem das Cittam von ihm überfärbt 
wird oder nicht. Die Realität der objektiven Welt ist in 
keiner Weise von Purusha oder Cittam abhängig oder durch 
ihre Mitwirkung bedingt: sie folgt, wenn wir das Sütram 4,14 
richtig erklären, daraus, dafs die objektive Welt in allen er- 
kennenden Subjekten dieselben Modifdcationen, d. h. dieselben 
Eindrücke veranlafst: j)arinäma-ekatväil vasiu-taitvani, „Aus 
der Einheit der Umwandlungen [welche die verschiedenen er- 
kennenden Subjekte erfahren] ist zu schliefsen auf die Realität 
der objektiven Welt." Wenn gleichwohl der Eindruck des- 
selben Objektes in verschiedenen Subjekten ein verschiedener 
ist, wenn z. B., wie wir dies erklären dürfen, dieselbe Frucht 
in dem einen einen süfsen, in dem andern einen bittern Ge- 
schmack hinterläfst, so erklärt sich dies nach 4,15 lediglich 
aus der Verschiedenheit der erkennenden Subjekte [citta- 
35* 
548 ^^^ Yogasystem nach den Yöga-Sütra's des Patanjali. 
bhcdät 4,15). An dieser Stelle findet sich ein bei Bhqja^ 
dessen Zählung wir folgen, fehlendes und nur bei Vyäsa 4,16 
erhaltenes Sütram, welches sich polemisch gegen den Idealis- 
mus des Vedänta wendet: >ia ca eJcacittd-tcDdram vast«, „auch 
darf man nicht behaupten, daXs die objektive Welt nur vom 
Bewufstsein abhänge", tad apramänalmm , „denn dafür läfst 
sich kein Beweis erbringen", tadä Jcim sydt! „und was würde 
die Folge davon sein!" Der Vedäntist könnte freilich ant- 
worten, dafs ihm tatsächlich nur das Bewufstsein und dessen 
Inhalt gegeben ist, dafs es somit vielmehr dem Gegner ob- 
liegt, wenn er eine Welt aufserhalb des Bewufstseins be- 
liauptet, den Beweis dafür zu erbringen, und dafs wir, solange 
wir auf dem Boden des tatsächlich Gegebenen stehen, keine 
daraus sich ergebenden Folgerungen zu fürchten brauchen. 
Übrigens ist dieses Sütram nicht nur durch sein Fehlen bei 
Bhoja, sondern auch seiner Form nach verdächtig, wie auch 
dadurch, dafs die Yoga-Sütra's sich im übrigen jeder Polemik 
gegen andere Systeme enthalten, ja auch, natürlich vom 
Säiikhyam abgesehen, auf dieselben keinen Bezug nehmen; 
denn wenn es 1,40 vom Yogin heilst, dafs er durch kein 
Ding in der Welt, vom Kleinsten an bis zum Gröfsesten hin, 
mehr beherrscht werde, nicht mehr, wie wir sagen würden, 
in der Heteronomie befangen sei, so braucht in dem dabei 
vorkommenden Ausdrucke paramänu nicht eben eine Bezug- 
nahme auf die Atomistik der Vaigeshikalehre gefunden zu 
werden, denn Ausdrücke wie anor anTyän, maliaio malüyän 
sind dem Inder schon seit der Zeit der altern Upanishad's 
geläufig, 
purnshaund § 3. Obgleich der Yoga als ein Versuch, das Prinzip 
prakriti. ^j|^j. Dlugc durch Einkehr in das eigene Innere zu ergreifen, 
schon dem ursprünghchen Upanishadgedanken als dessen 
naturgemäfse Konsequenz angehört, so müssen die Yoga-Sütra's 
doch zu einer Zeit entstanden sein, wo der Realismus der 
Sänkhyalehre den ursprünglichen Idealismus der Upanishad's 
so sehr überwuchert und verdunkelt hatte, dafs die Schöpfer 
unserer Sütra's, wer sie auch immer gewesen sein mögen, 
keine andere Wahl hatten, als die, ihre Theorie auf dem 
herrschenden Sänkhyasysteme aufzubauen. Wie dieses und 
2. Die Mc'tapliysik ilos Yogasystems. 549 
mit ihm die iiifisteii S\>;teme diT spätem indischen Philo- 
sophie, nimmt daher auch der Yoga seinen Ausgangspunkt 
von der Tatsache des Leidens, nvu- dafs diese Tatsache 
noch viel schärfer als im Sähkhyasysteme betont wird. Zwar 
ist (2,1.')) das Leben sowohl quantitativ nach seiner Länge 
(äijus) als auch qualitativ nach seinen Sclücksalen (bJiogäh) 
die genau abgemessene \'ergeltung für die Werke eines vor- 
hergehenden Daseins, und da diese Werke bei allen Menschen, 
mit Ausnahme des Togin, teils schwarz, teils weifs und teils 
aus beiden gemischt (4,7) oder, ohne Bild gesprochen, teils 
gut und teils birse sind (2,14), so bringen sie dementsprechend 
als ihre Frucht Erquickung (hhkla) und Peinigung (parüäpa). 
Aber „wegen der Schmerzen, die aus der Unbeständigkeit 
[des Genusses], aus der Beängstigung [während des Ge- 
niefsensj und aus den [nachbleibenden und künftig abzu- 
l)üfsenden] Charaktereindrücken bestehen, und weil die Funk- 
tionen der Guna's [z. B. Liebe und Hals] sich gegenseitig 
bekämpfen, ist für den Weisen alles ein Leiden" (2,15). 
Soweit dieses Leiden noch nicht eingetreten ist und erst künftig 
bevorsteht, kann es durch Hebung seiner Ursache vermieden 
werden ; diese Ursache aber ist, wie der Yoga im Anschlüsse 
an das Sänkhyam erklärt, die Verbindung des Purusha 
und der Prakriti, oder, wie unsere Sütra's mit Vorliebe 
sagen, die Verbindung des Sehers (drashtri) und des zu 
Sehenden (driryain), unter welchem alles, was nicht Purusha 
ist, also nicht nur die Aufsenwelt, sondern auch das Cittam, 
der den Purusha umgebende intellektuelle Apparat, zu ver- 
stehen ist. Diese Begriffe sind nach Mafsgabe des in den 
Sütra's vorliegenden Materials näher zu bestimmen. Wie im 
Sänkhyam besteht die Prakriti, das dririjam, aus den drei 
Gunas Suttvam, llaja>> und Tamas; sie hat, ihnen entsprechend, 
Erhellung, Betätigung und Starrheit als Charakter (praliu^ü- 
kriijä-sthiti-gUam), wandelt sich sowohl in die Elemente der 
Aufsennatur (hhuta) als auch in die dem Purusha beigegebenen 
Erkenntnisorgane (/ndr/i/a im weitern Sinne) und hat als Zweck 
den Genufs und die Erlösung des Purusha (2,18). In der 
Erfüllung dieses Zweckes geht ihr ganzes Wesen auf (2,21). 
Wir hoben bei Darstellung des Sänkhyam die Schwierig- 
5r)0 I'us Yogasvstcm nach den Yoga->Sütra's des l'atanjali. 
keit hervor, in welche sich dieses System dadurcli verwickeh, 
dals einerseits hei erfolgter Erlösung heide, sowohl der 
Purusha als die Prakriti ihren Zweck erreicht haben und zur 
Ruhe kommen [uparatu atiyä, Sankhya-Kärikä 66), anderer- 
seits aber w-egen der Vielheit der noch zu erlösenden Purusha 's 
die Prakriti ihren Zweck nie erreichen, nie völlig zur Ruhe 
kommen kann. Diese Schwierigkeit, welche in der Sahkhya- 
Kärika noch übersehen wird, ist dem Verfasser der Yoga- 
Sütra's nicht entgangen, und er hebt sie, vielleicht in Hinblick 
auf die Sähkhya-Kärikä, hervor in den merkwürdigen Worten 
2,22: „Demjenigen [Purusha] gegenüber, der seinen Zweck 
erreicht hat, ist sie [das Sichtbare, die Prakriti] vernichtet, 
und doch ist sie nicht vernichtet, weil sie allen von ihm 
verschiedenen [Purusha's] gemeinsam ist." Hier ward der 
Widerspruch, in welchen sich das Sähkhyam durch die Ein- 
führung einer Vielheit von Purusha's gegenüber der einen 
Prakriti verwickelt, offen anerkannt, aber nicht gelöst, wie 
denn überhaupt seine Lösung unmöglich ist. Freilich heifst 
es 2,22 nur vom Purusha, dafs er seinen Zweck erreicht habe, 
aber nach 4,31 sind auch die Guna's, aus denen die Prakriti 
besteht, kritihiha, sie haben ihren Zweck erreicht, sind zum 
Abschlüsse der Reihe ihrer Wandlungen gelangt (4,31) und 
strömen von dem Purusha zurück, nachdem sie von dem 
Dienste für seine Zwecke frei geworden sind (4,33). — Alles 
dies hat zur Voraussetzung, dafs mit dem Purusha auch die 
Prakriti zur Ruhe kommt, was doch andererseits wegen der 
Vielheit der Purushas unmöglich ist. 
Im Gegensätze zur Prakriti ist der Purusha, „der Seher 
(drashfri), der, welcher blofses Sehen ist, und, obgleich er 
rein ist, die Vorstellungen erschaut" (2,20). Obgleich er von 
der Prakriti und auch von ihrem höchsten Guna, dem Sat- 
tvam, absolut verschieden ist (3,3ö), so befindet er sich doch, 
ehe die erlösende Erkenntnis eintritt, in dem Wahne, mit dem 
ihn umkleidenden Teile der Prakriti, dem Cittam und seinen 
Funktionen gleichen Wesens zu sein (1,4), und in diesem 
Wahne, der durch den VwcJm, die unterscheidende Erkennt- 
nis, gehoben werden kann, besteht die Verbindung (samyoga) 
zwischen Purusha und Prakriti, welche nach 2,23 die Ursache 
2. Die Metaphysik des Yogasystems. 5öl 
davon ist, dafs die vereinigten Kräfte des Puruslia (svdmin) 
und der Prakriti (sva) die W'esenlieit der Prakriti (sva-riipam) 
wahrnelnnen. Aber in Wahrheit ist diese Verbindung eine 
nur scheinbare, und ihr letzter Grund ist (ivnli/a, das Nicht- 
wissen (2,24). Wird durch die Betreibung des Yoga das 
Nichtwissen gehoben, so ist damit auch der Wahn jener Ver- 
bindung zwischen Purusha und Prakriti gehoben, das auf 
dieser Verbindung beruhende Leiden vernichtet und die Er- 
lösung (kaivalifcim) erreicht (2,25). 
§ 4. Mit dieser dem Sänkhyasystem entlehnten Vor- Berkarma- 
st«>Ilung, dal's die Leiden auf der Verbindung von Purusha ««^«'8. 
und Prakriti beruhen, diese Verbindung aber ihren letzten 
(irund in der durch die unterscheidende Erkenntnis zu heben- 
den Ävldi/ä hat, ist in den Sütra's eine nicht völlig damit 
zusammenstimmende und vielleicht ursprünglich der Yoga- 
schule angehörige Anschauungsweise verflochten, welche auf 
anderm Wege die Leiden des Daseins auf die Avidyä zurück- 
füiirt. Nach dieser letztern Anschauung sind die Genüsse wäe 
die Leiden des Daseins die notwendige Folge der in einer 
frühern Geburt begangenen Werke. Diese hinterlassen in 
der empirischen Seele, dem Tittam, ein Residuum, welches 
bald als Jcarmägaya, Werkrest, bald als die samsMra's, die in 
der Seele haftenden Eindrücke, oder väsanä''s, angeborene An- 
lagen, gelegentlich auch als smriti, (unbewufste) Rückerinnerung, 
(4,9 und vielleicht 1,43) bezeichnet wird, und trotz seinem 
(Jetrenntsein durch Geburt, Zeit und Ort in den neuen Lebens- 
lauf hinüberreicht (4,9) und in ihm, wie eine zur Reife (vipäJca) 
gelangte Frucht, durch die Leiden des neuen Daseins ver- 
golten wird. Auch natürliche Anlagen, angeborene Talente, 
Geschicktheiten von aller Art beruhen auf jenen, als un- 
bewufste Rückerinnerung (sniriti 4,9) wirksamen, väsanä''s oder 
stüHsJcdra's (vgl. die lehrreichen Bemerkungen Qahkara's zu 
der ptü-vaprujnd ., Brih. IJp. 4,4,2, Sechzig Tpanishad's S. 475, 
Anm. 2). Hingegen entspringen die moralischen Werke eines 
jeden Daseins aus den dem Cittam anhaftenden Klega'Sy 
2.12 — 13: „Die KleQa's sind die Wurzel des Werkrückstandes, 
vrelcher abzubüfsen ist in der sichtbaren [gegenwärtigen] 
und unsichtbaren [zukünftigen) Geburt. Solange diese Wurzel 
552 I^as Yogasystem nacli den Yoga-Sütra's des Patanjali. 
besteht, erfolojen als sein [des Werkrückstandes] Heranreifen 
Geburt, Lebensdauer und Geniefsen." Sie besteht aber von 
Ewigkeit her; die Kausahtätsreihe zwischen den Werken und 
ihrer durch die väsana's vermittelten Vergeltung ist anfang- 
los, ägisho m'tyatvät, „wegen der Ewigkeit des Willens" (4,10j. 
Das Wort ägis, Wunsch, Verlaügen, Wille, befafst hier, was 
sonst die Klega'B genannt wird, die somit die von Ewigkeit 
her bestehende und erst mit der Erlösung zunichte werdende 
(4,29) Wurzel der Werke sind. Sie bestehen in Nichtwissen, 
Egoismus, Liebe, Hafs und Welthang (2,3), der gemeinsame 
Boden aber, in welchem die vier letztgenannten wurzeln, ist 
nach 2,4 die Ävidyä, das Nichtwissen, so dafs auch diese 
Anschauung, nach welcher die Leiden auf den Werkresiduen, 
diese auf den Werken einer frühern Geburt, diese auf den 
KleQa's und diese wiederum auf der Avidyä beruhen, auf einem 
andern Wege zur Avidyä als dem letzten Grunde des Übels 
zurückleitet, somit jener ersterwähnten, aus dem Sänkhya- 
system entlehnten Anschauung parallel läuft, ohne doch mit 
ihr zusammenzufallen. 
3. Die Psychologie des Yoga. 
Das cittam, § 5. Die riclitigc Einsicht, dafs dem Subjekte des Er- 
kennens in uns nicht nur die Aufsenwelt, sondern auch der 
eigene Organismus mit allen seinen Kräften und Funktionen 
immer noch als ein Gegenständliches, Objektives gegenüber- 
steht, hat in der abendländischen Philosophie dazu verleitet, 
den voOc;, das cogito, das „Ich denke", von allem übrigen 
abzutrennen und als eine besondere Substanz zu hypostasieren, 
und eben dieser in der Natur der Dinge vorliegende Gegen- 
satz von Subjekt und Objektivem hat auch die indischen 
Denker veranlafst, den Purusha, das reine Subjekt des Er- 
kennens, zu isolieren und ihm nicht nur die äufsere Natur, 
sondern auch die Gesamtheit aller psychischen Faktoren als 
ein anderes, als Objekt, gegenüberzustellen. Diese vom 
Purusha abgelöste Gesamtheit aller psychischen Faktoren ist 
es, welche wir im Säiikhyam als das den Purusha auf seinen 
Wanderungen begleitende Lingam kennen lernten, und welche 
3. Die Psychologie des Yoga. ö53 
im Yogasystem in dem Worte Cittam zusammengefafst wird. 
Das Cittam (nicht zu verwechseln mit citi^ 4,21. 4,33, welches 
den Purusha bedeutet) ist einer der geläuiigsten Begriffe des 
Systems, lindet sich in den Sütra's nicht weniger als zwanzig- 
mal, wird aber nirgendwo definiert, sondern überall als be- 
kannt vorausgesetzt. Es erscheint 4,20 und 21 als Buddlu, 
ferner gehört jedenfalls zu ihm auch das Manas, da die 
(üiaranä 3,1 dem Cittam, 2,53 dem Manas zugeschrieben wird. 
Hingegen findet sich der Ahauikära nirgendwo erwähnt, und 
die ilim am nächsten entsprechende Äsmitä (1,17. 2,3. 2,6. 
3,47. 4,4) bildet nicht einen Bestandteil des Cittam, sondern 
haftet ihm als einer der fünf Kle^a's an. Nach 2,18 zer- 
fällt die Gesamtheit des Objektiven (driri/am) in die bhufa's 
(die Elemente der Aufsenwelt) und indripa's, unter denen hier 
der ganze Komplex der psychischen Organe, mithin auch das 
Cittam verstanden werden mufs, während 2,54 und 3,12 — 13 
das Cittam von den Indrya's deutlich unterschieden wird. 
Im nächsten Anschlufs an die Sähkhya-Kärikä, und wahr- 
scheinlich diese selbst voraussetzend, ist die 2,19 vorkommende 
Zerlegung der Evolutionen der die Prakriti bildenden Guna's 
in vireshas (die groben Elemente), avicesha's (die Tanmätra's), 
das tifiga-mätram (das nur aus Merkmalen Erschliefsbare) und 
das (dingam (das Merkmallose, nur durch Analogie Erkenn- 
bare) ; unter dem cdiügam dürfte hier die Prakriti, unter dem 
lifiga-mätratn das Cittam zu verstehen sein. Wie das Lihgam 
des Säiikhyam ist auch das Cittam ein blofses Aggregat 
{sa))iJiati/a-Mrin, 4,23), steht im Dienste der Zwecke des 
Purusha, der sein Herr (prahlt ii, 4,17) heifst, und ist, als zum 
Bestände des Objektiven gehörig, „nicht selbst Licht", 4,18; 
es ist nicht Subjekt, eben weil es Objekt ist, und „weil man 
nicht behaupten kann, dafs es gleichzeitig beides, Subjekt 
und Objekt, sei" (so möchten wir das Sütram 4,19 deuten). 
Somit ist das Cittam der dem Purusha die Erkenntnis der 
Aufsendinge vermittelnde, selbst aber erkenntnislose Apparat 
der Erkenntnisorgane. Als solcher begleitet es den Purusha 
auf seinen \\'anderungen von Ewigkeit her, besteht unver- 
ändert in Vergangenheit und Zukunft, svanqmtas, ,, kraft seiner 
eigenen Natur" (4,12), und nur seine dharma's, d. h. wohl. 
554 I^ä.s Yogasystem nacli den yoga-Siitra's des Patanjali. 
seine Entfaltungen, schlagen verschiedene Wege ein (4,12)v 
sofern sie sich, ebenso wie die Guna's, aus denen sie be- 
stehen, bald in entfaltetem, bald in latentem Zustande be- 
fmden (4,13). 
DasCiti.un § (). Obgleich der Purusha von dem ihn begleitenden 
i'u'ru's'a. Cittam absolut verschieden {afycmia-ascmßdnja, 3,35) ist, so 
steht er doch in dem Wahne, mit dem Cittam und seinen 
Funktionen Wesensidentität (sämpyam, 1,4, eJcäimatd, 2,6) zu 
besitzen. Dieser Wahn ist eben die dem ('ittam und mit 
diesem dem Purusha von jeher anhaftende Ävi<h/ä, vermöge 
deren er „das Nichtewige, Unreine, Leidvolle, Nicht-das-Selbst- 
~seiende für ewig, rein, lustvoll und für sein eigenes Selbst 
hält" (2,5). Erst mit der Erlösung wird diese Avidyä zunichte, 
und das Cittam stürzt wie ein Wasserstrom von dem Berg- 
gipfel des Purusha in die Tiefe hinab (4.25) vmd vergeht 
(2,22). Bis dahin steht das Cittam zwischen dem Purusha 
und der Natur, mit jenem das Erkennen, mit dieser das Ob- 
jektsein teilend. Der Purusha ist unwandelbar (4,17 apari- 
yamci^ 4,21 apratisankrama) und daher imstande, die wech- 
selnden Eindrücke des Cittam zur Einheit zusammenzufassen. 
Dies geschieht in der Weise, dafs das Cittam von den Aufsen- 
dingen gleichsam eine Überfärbung (uparäga) erfährt, und dafs 
der Purusha gleichsam in die Wesenheit des Cittam eingeht 
(4,21 tad-akära-upatiau), wodurch eine Nichtunterscheidung der 
Vorstellungen beider (3,35 pratyaya-avigesha), d. h. des Be- 
wufstseins, welches wir von beiden haben, entsteht, — An- 
deutungen, welche den dunkeln Punkt des Systems, das 
Zusammenwirken von Purusha und Cittam beim Erkenntnis- 
prozesse ebensowenig aufzuhellen imstande sind, wie die von 
den Sahkhya's zum gleichen Zwecke verwendete Spiegelung 
des Purusha in der Buddhi oder Durchleuchtung der Buddhi 
durch den Purusha. Unsere Sütra's fassen die spärlichen 
Erörterungen über diesen Punkt 4,22 dahin zusammen, dafs 
das Cittam, gleichzeitig vom Purusha und vom Aufsenobjekte 
durchfärbt (uparaMam)^ zur Vollbringung aller seiner Zwecke 
tauglich wird, sofern es dem Purusha die Erkenntnis wie den 
Genufs der Aufsendinge ermöglicht. Hingegen kann das Cittam 
niemals ein anderes Cittam als Objekt erkennen, weil aus 
3. Die I'sychologie des Yoga. lyö^^ 
cinoin solclicri Erkennon des Erkennens ( buddlil-hiidithcr) zu- 
viel, nämlich oine Erkenntnis auch des Inhaltes der fremden 
lUiddhi folgen und eine Vermenguni;: der beiderseitigen Er- 
iimerungen eintreten Avürde. 
i< 7. Der Purusha als reines Subjekt des Erkennens ist Das cittam 
weder klug noch dumm, weder gut noch böse. Diese, wie fuiTfYriui'a. 
alle andern intellektuellen und moralischen Eigenschaften 
gehören dem Cittam an, die intellektuellen vermöge der fünf 
Funktionen (vrittrs), deren Träger es ist, die morahschen 
vermöge der fünf Plagen (JcUras), die ihm anhaften. Beide 
zu unterdrücken, damit der Purusha in voller Iteinheit hervor- 
trete (1,3), ist Aufgabe des Yoga. Die fünf Vritti's oder in- 
tellektuellen Funktionen des Cittam, welche nach 1,5 teils 
ll/s/if((, teils aMishfa, d. h. teils unter dem Einflüsse von willens- 
artigen Kegungen (Me^a). teils frei von ihnen bestehen, sind 
nach l,n /)ramä)U(hi, richtiges Erkenncm, vipdnjaya, falsches 
Erkennen, rikalpo^ zweifelhaftes Erkennen, uidrä. Schlaf als 
aufgehobenes Erkennen und smriti, reproduzierendes Erkennen. 
Die über diese fünf Funktionen des Cittam 1,7 — 11 gegebenen 
Erklärungen sind folgende: 
\. praiuCiuam, bedeutet eigentlich den geistigen „Mafsstab'% 
den wir anlegen, um eine Sache ihrem Wesen nach zu er- 
messen, die Erkenntnisnorm, und in diesem Sinne werden 
1,7 als Unterarten dieselben wie im Sähkhyam angeführt: 
jtmti/aJx.'^ham^ die Wahrnehmung, anumänam, die Folgerung, 
und affama, die Mitteilung, doch müssen hier, wie aus dem 
sogleich zu besprechenden Gegenspiele ersichtlich ist, nicht 
sowohl die Normen, nach welchen das richtige Erkennen von- 
statten geht, als vielmehr die Tätigkeit des richtigen Erkennens 
selbst verstanden werden, denn als Gegensatz erscheint nun: 
2. tijxo-iiaya, „die Verkehrtheit", welche 1,8 definiert 
wird als „die falsche Erkenntnis, welche bei dem stehen bleibt, 
was nicht das Wesen der Sache ist". Ein Mittelglied zwischen 
diesen beiden, dem richtigen und dem falschen Erkennen, 
bildet 
3. vil'alpa, „das z^veifelhafte Erkennen", die „(unbegrün- 
dete) Annahme", wie sie nach 1,9 darauf beruht, dafs man 
das reale Objekt nicht kennt und sich nur daran hält, was 
556 Däs Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Patanjali. 
man durch Hörensagen davon weifs. Hierin kann man den 
richtigen Gedanken sehen, dafs Begriffe oder Urteile, welche 
nicht auf der Anschauung beruhen, kaum mehr als hlofse 
Worte sind. 
4. nidrä, der Schlaf, Es mag befremden, diesen unter 
den intellektuellen Funktionen aufgezählt zu finden; an den 
Traum (svapna) zu denken, sind wir wohl nicht berechtigt, 
da dieser 1,38 vom Schlafe deutlich unterschieden wird, und 
auch die 1,10 gegebene Definition der nidrä als einer Funktion 
des Cittam, „welche sich auf keine Vorstellung einer Realität 
stützt", erlaubt nur, an die im Schlafe stattfindende Einstellung 
seiner Funktionen zu denken, welche hier als eine besondere, 
nur negative Funktion aufgestellt wird. 
5. sniriii, die Erinnerung, besteht nach 1,11 in dem „Nicht- 
abhandenkommen eines Objektes, dessen man inne ward". 
Diese als dauernde Funktion dem Cittam eigene Smriti ist 
zu unterscheiden von der 4,20 und auch wohl 1,43 zu ver- 
stehenden Smriti, welche als angeborene Anlage zu gewissen 
Fertigkeiten die Frucht der Werke einer frühern Geburt, und 
nicht eine Funktion des Cittam, sondern nach 4,20 mit den 
Samskära's identisch ist. 
Dies sind die fünf Funktionen des Cittam, deren Unter- 
drückung durch den Yoga gleich zu Eingang des Sütrawerkes 
(1,2: yogag citta-vritti-'nirodhah) gefordert wird, damit der 
Purusha, das Erkenntnissubjekt, von allen Erkenntnisorganen 
befreit, in seiner eigenen, reinen Natur hervortrete. Wer 
hierin eine vernunftfeindliche Tendenz des Yoga erblicken 
möchte, der wäre vielleicht an die d^auSpot opyava des Piaton 
zu erinnern, die nach ihm (Phaedr. p. 250b, vgl. Phaedon 
p. 66 b, 79 c) die reine Erkenntnis des wahren Wesens der 
Dinge trüben. 
Das Cittam § 8. Es boruht auf der durch die ganze Geschichte der 
'^^Kieta's'!"^ Philosophie mit Ausnahme der neuesten sich durchziehenden 
falschen Tendenz, das Wesen der Seele im Intellektuellen und 
nicht im Moralischen zu suchen, dafs auch im Yoga das 
Cittam eine engere Verbindung mit seinen fünf Vrittfs als 
mit den fünf Kleras hat; jene bilden die eigensten Funktionen, 
die das Wesen des Cittam ausmachen, während die Klega's, 
3. Die Psychologie des Yoga. 557 
(1. h. die moralischon Oiialitäten ihm mehr äufserhch anhaften, 
wiewohl aiicli sie nicht wie die entspreclienden Bhava's des 
Sänkliyam von Gehurt zu Gehurt wechseln, sondern, wenn 
unsere Identifikation derselben mit der ägis (4,10) richtig ist,. 
(Itnn Cittam als die dauernde Wurzel aller Werke (2,12) von 
Ewi,ü;keit her anhaften, durch den Yoga abgeschwächt (2,2), 
durcli Askese und Meditation niedergekämpft (2,10 — 11) und 
schliefslich nach erlangter Absolutheit mitsamt den Samskära's 
vernichtet werden (4,27). Dieses mehr äufserliche Verhältnis 
der Kle^a's zum Cittam spricht sich schon in ihrem Namen 
aus, welcher ursprünglich „Oual, Plage, Beschwerde" bedeutet, 
somit ähnlich, wie der Ausdruck affedus bei Spinoza auf ein 
dem Cittam, der mais, fremdes, von auTsen aufgedrungenes 
Element deutet. Die grofse Hauptstelle über die Kle§a's 
(2,3 — 12) zählt zunächst als die fünf Klega's auf: avidyä, 
Nichtwissen, asmitn, Egoismus, ruga, Liebe, dvesha, Hafs, und 
abhinircra, Welthang. Mit dem Vedänta wird die Avidyä im 
Widerspruche zu dem übrigens im System hervortretenden. 
Realismus (4,14) als das Fundament betrachtet, aus dem, wie 
aus einem gemeinschaftlichen Boden (Ishdram) die vier übrigen 
rmporwachsen, und teils schlummernd oder schwach entwickelt 
bleiben, teils unter einander zwiespältig und heftig empor- 
strebend sich betätigen (2,4). Die in den Sütra's gegebeneu 
Erklärungen der Kle^a's sind folgende: 
1. avidyä, das Nichtwissen, besteht darin, dafs der Pu- 
rusha sich für identisch mit der ihm anhaftenden Prakriti, 
(1. h. dem Cittam und dessen Funktionen, hält (1,4 und 2,6), 
mit andern Worten, dafs er das nichtewige (bei der Erlösung 
vergehende), unreine (mit den Kle^a's und Samskära's be- 
haftete), leidvolle (da alles Leben ein Leiden ist, 2,15) und 
nicht-das-wahre-Selbst-seiende Cittam für sein wahres Selbst 
hält, welches ewig, rein und frei von Leiden ist (2,5). Auf 
dieser Avidyä beruhen die übrigen vier Kle9a's, und also 
zunächst 
2. asmitä, das Bewufstsein: asmi, „ich bin", das Ich- 
l)ewufstsein, der Egoismus, welcher seinen unmittelbaren Zu- 
sammenhang mit der Avidyä dadurch bekundet, dafs er nach 
2,6 in der Identifikation (eMtmatä) des Subjekts mit dem 
558 Das Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Pataiijali. 
Objektiven, des Purusha mit dem Cittam besteht. Wie bei 
Spinoza auf dem Grundafi'ekte der cupid'dax einerseits laetitin 
et anior, andererseits tristitia et odium beruhen, so sehliefsen 
sich im Yoga an die asmää unmittelbar an 
3. rcuja^ die Liebe, welche snkha-anu^-ayw, „auf der Lust 
beruhend" (vgl. Spinozas: Amor nihil aliud est, quam laetitia 
concomitante idea causae externae), und 
4. dvesha, der Hafs, welcher dnhl'lia-awigayin, „auf dem 
Schmerz beruhend", ist (Spinoza: Odimn nihil alind est, quaiit 
tristitia concomitante idea causae eaternae). 
Der Zurückführung von asmitä, räga und dvesha auf die 
■avidijä entspricht es, wenn bei Spinoza die Aufhebung der 
Aflekte durch die Erkenntnis, durch die Erhebung von der 
imaginotio zur ratio und scientia i)itnitira bewirkt wird. 
Den Schlufs der Klega's und in gewissem Sinne eine 
■Zusammenfassung aller vorhergehenden bildet 
5. cd)liiniveQü, die Anklammerung an das Dasein oder, 
wie das Sütram 2,9 erklärt, ,,die Anhänglichkeit an den Leib, 
welche auch bei dem Weisen noch besteht", welche, mit 
Tacitus zu reden, etiam sapierüihus novissima extiitur. Dieser 
Welthang wird weiter in unserm Sütram charakterisiert durch 
das rätselhafte Wort sva-rasa-vdJiiu, ,,den Geschmack des 
Selbstes mit sich führend". Die Kommentare des Vyäsa und 
Bhqja denken dabei an das von uns selbst in einem frühern 
Dasein Geschmeckte; aber dann würde dieser Kle^a auf den 
Erfahrungen eines frühern Lebens beruhen, während doch 
nach 2,12 vielmehr umgekehrt die Kle^a's die Wurzel sind, 
auf denen der karmägaya beruht. Wir ziehen es daher vor, 
in sva-rasa-väJiin den Sinn zu finden, dafs die Anhänglichkeit 
an den Leib begleitet ist „von dem Geschmack, dem ^^'ohl- 
gefallen an dem eigenen Selbste". 
Die KleQa's waren, wie oben nach 2,4 bemerkt wurde, 
teils schlummernd und schwach, teils unter einander zwie- 
spältig und emporstrebend. Die erstem sind 2,10 unter den 
latenten (süJcshma) zu verstehen, welche durch asketische 
Gegenanstrengung zu überwinden sind, und in Wahrheit 
ist jede Askese ein Angehen gegen die unbewufsten, un- 
entwickelten Triebe, welche unserer Natur zugrunde liegen. 
3. Die l's\ilu)l()gie des Yoga. 559 
Sofern sie hin»xei!,vn zur Entwitkliing komnieii und bowufst 
werden, sind sie tiucIi 2,11 durcli Meditation niederzukäm])fen. 
i< 0. Aul'ser den Vritti's, welche das Wesen des C'ittani Die rrriond's 
ausmaelien, und <len Kle(;a s, mit denen es von hwio-keit her du/.epa's. 
behaftet war, ist das ("ittain noch erfüllt (wörtlich ,.bunt- 
öcheekii:;'', cily(i)i), 4,23) von unzähligen Vasana's, unter denen, 
wie aucli unter den synonym damit gel)raucliten Ausdrücken 
•<(i))isl-iira und /caDnaraifa, das Residuum der aus den Kle^a's 
hervorgehenden ^^'^erke zu verstehen ist, welches als die eigent- 
hche Frucht des Lebens von dem Cittam in den nächsten 
Lebenslauf mit hinübergetragen wird und in ihm in den 
Schicksalen und Leiden wie auch in natürlichen Anlagen zu 
irgendeiner Kunstfertigkeit zum Ausdruck kommt. Von ihnen 
war schon oben j;; 4, S. 551 die Rede. Es bleibt nur noch 
übrig, der citta-vil'sJicj^as, Zerstreuungen des Geistes, zu ge- 
denken, welche nach dem zweiten der in den Sütra's zusammen- 
gefafsten Texte als die Hindernisse der Meditation (nuiaräiia) 
1,29 — 31 besprochen werden. Als solche werden 1,30 ohne 
ersichtliche Anordnung der Begrifte aufgezählt: „Krankheit, 
Apathie, Zweifel, Unbesonnenheit, Trägheit, Nichtentsagung, 
irrige Ansichten, Ermangelung der Yogastufen [über welche 
2,27 und oX) zu vergleichen] und Unbeständigkeit", und als 
Begleiterscheinungen oder Folgen dieser Zerstreuungen des 
Cittam erwähnt das nächste Sütram: ,, Sehmerz, Trübsinn, 
Körperzittern sowie [ungeregeltes] Einatmen und Ausatmen." 
Ihre Bekämpfung erfolgt durch ]\Ieditation und andere weiter 
unten zu besprechende Mittel, worauf dann das als Vor- 
bedingung des Samädhi erforderliche Cittn-pramdancim^ die 
Beruhigung des Gemütes, eintritt. 
4. I'raktischo Philosophie. 
v:j 10. Yofia (von yiij, anschirren, anspannen) heifst die vorbe- 
Anschirrung oder Anspannung, vermöge deren man auf metho- 
dischem Wege sich in das eigene Selbst vertieft, nach alter 
ursprünglicher Anschauung, um hier des Ätman als des Prin- 
zips der Welt inne zu werden und alles von ihm Verschiedene 
als eine Illusion (mayä) zu erkennen, — nach der modifizierten, 
560 Das Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Patafijali. 
auf das Sänkhyam sich gründenden Form, in welcher uns der 
Yoga in den Sütra's entgegentritt, um den Purusha in seiner 
IsoHertheit (Iriivalyam), seiner Verschiedenheit (viveha) von 
allem Objektiven, von der Prakriti und ihren Evolutionen zu 
erfassen. Da zu diesen Evolutionen der Prakriti auch das 
Cittam, der den Purusha umgebende psychische Apparat, mit- 
samt seinen fünf Vritti's, sowie den ihm anhaftenden Klega's 
und den ihn erfüllenden Väsanä's gehört, so müssen, um den 
Purusha in seiner Keinheit zu erfassen, auch die Funktionen 
des Cittam unterdrückt werden, und es erhebt sich die Frage, 
ob das Kaivalyam des Purusha noch als ein intellektueller 
Zustand zu denken ist, als ein Erkennen ohne Erkenntnis- 
organe, gleichsam ein Sehen ohne Auge, oder ob die völlige 
Isolierung des Purusha von Buddhi, Manas und Indriya's nicht 
vielmehr in einem Erlöschen der ganzen Erkenntnistätigkeit, 
in einem über alles bewufste Leben hinausliegenden, un- 
bewufsten, überbewufsten Sich -eins -fühlen mit dem eigenen 
Subjekte des Erkennens besteht. Die Antwort auf diese Frage 
ist, je nach dem Charakter der in unsern Sütra's vereinigten 
Texte, eine schwankende, und es wird nicht möglich sein, 
diese Texte zur Einheit zusammenzuflechten, ohne ihnen Ge- 
walt anzutun. Wir werden daher auf Grund der bei unserer 
oben gegebenen Übersetzung durchgeführten Unterscheidung 
der vier in den drei ersten Büchern vorliegenden Texte und 
der im vierten Buche enthaltenen Nachträge die Yogapraxis 
zunächst nach den sie kurz berührenden Abschnitten 1,1 — 16 
und 2,1 — 21 kennen lernen, sodann nach dem Haupttexte 
2,28 — 4,6 unter vergleichender Heranziehung des Abschnittes 
über den Samddhi, 1,17 — 51, den Yoga nach seinen acht 
Äftga's und den aus ihm entspringenden Vihliütrs (übernatür- 
lichen Kräften) darstellen und mit der in 4,24 — 33 vorliegenden 
Schilderung des Kaimhjani unsere Betrachtung des Yoga, 
dieser uns so seltsam anmutenden Erscheinung der indischen 
Kultur, beschliefsen, welche zwar auch in andern Phasen des 
geistigen Lebens der Menschheit ihre Parallelen hat, aber in 
der methodischen Durchbildung, welche sie in Indien erfuhr, 
als ein Phänomen ohnegleichen in der Geschichte der Mensch- 
heit dasteht. 
4. Praktisclio riiilosojiliie. 561 
v< 11. Der Yoga besteht in der Interdrüekung der nio Yoga- 
Funktionen des C'ittam (1.2), als welche richtiges Erkennen, '.'lem'erst'en' 
irriges Erkennen, zweifelliaftes Erkennen, im Schlafe auf- 1^^^1*1*6. 
gehobenes Erkennen und reproduzierendes Erkennen 1,6 auf- 
gezählt und weiterhin einzeln charakterisiert werden. Solange 
diese Funktionen nicht unterdrückt sind, besteht im Purusha 
der Wahn, mit ihnen identisch zu sein (1,4), erst durch ihre 
Unterdrückung tritt der Purusha in seiner eigenen Natur als 
das reine, von allem Objektiven befreite Subjekt des Er- 
kennens hervor (1,3). Zur Erreichung dieses Zustandes dienen 
zwei Mittel, ahhi/äsa, Übung, und vairägyani, Leidenschafts- 
losigkeit (1,12). Die Übung ist ,,die Bemühung, in der Unter- 
drückung der Funktionen zu beharren; diese aber gewinnt 
festen Boden, wenn sie lange Zeit ununterbrochen gastfreund- 
lich geptlegl wird" (1,13 — 14). Die Leidenschaftslosig- 
keit „ist das Bewufstsein (saüjüä) der Selbstbeherrschung 
eines nicht mehr nach wahrnehmbaren und schriftverheifsenen 
Dingen Dürstenden: dieses Nicht -mehr -Dürsten nach den 
Guna's erreicht seinen Höhepunkt bei dem das Aufleuchten des 
Purusha Besitzenden" (1,15 — 16). Hier wird der zu erreichende 
Höhepunkt als ein solcher behandelt, welcher zwar die durch 
längere Übung erreichte Unterdrückung der intellektuellen 
Funktionen zur Voraussetzung hat, selbst aber in dem Be- 
wufstsein (s(iitjM) gipfelt, von den aus den drei Guna's 
stammenden Leidenschaften nicht mehr beherrscht zu w^erden. 
^ 12. Dieser Text erwähnt zunächst als eine niedere Die Yoga- 
Stufe den Werk -Yoga (hriiiä-yoya), welcher besteht in Askese, alm dritten 
Studium und Gottergebenheit (2,1), somit aus denselben vor- 2^1*1*2*7. 
bereitenden Übungen, welchen wir in dem Haupttexte unter 
dem zweiten Anga (2,32) wieder begegnen werden; diesem 
und in weiterm Sinne den fünf ersten, dort zu besprechenden 
Anga's läuft das parallel, was in unserm Texte 2,1 kurz als 
Werk-Yoga bezeichnet wird und nach 2,2 dazu dient, die 
Kle9a's abzuschwächen und den Samädhi zu befördern. Es 
folgt die schon oben behandelte Besprechung der fünf Kle^a's 
(Nichtwissen, Egoismus, Liebe, Hafs, Welthang) und die Auf- 
forderung, diese unserer Natur anhaftenden Affekte, soweit sie 
unbewui'st sind, durch asketische Gegenanstrengung, soweit 
Decssen, Geschichte der Philosophie. I,ni. 30 
562 ^^^ Yogasystem nach den Yoga-Siitra's des Patafijali. 
sie bewufst sind, durch Meditation niederzukämpfen (2,10 — 11). 
Der Gedanke, dafs auf diesen Klega's die Leiden des Daseins 
beruhen, veranlafst den Verfasser, in Sähkhyaweise diese Leiden 
auf die Verbindung von Prakriti und Purusha, diese Ver- 
bindung aber auf die uranfänghche Avidyä zurückzuführen 
(2,12 — 24). In der Aufhebung dieser Avidyä und mit ihr 
jener Verbindung und des aus ihr hervorgehenden Leidens 
besteht nach 2,25 das Kaivalyam, die Isokition, die Befreiung 
des Purusha. ,,Das Mittel dieses Freiseins ist die ungestihle 
Erkenntnis des Unterschiedes [zwischen Purusha und Prakriti j. 
Die Erkenntnis dieses [Unterschiedes] auf der höchsten Stufe 
ist siebenfach '' (2,26 — 27). Worin diese auf der höchsten 
Stufe sich einstellende siebenfache Erkenntnis bestehen 
soll, sagen unsere Sütra's nicht. Beide Kommentare, der des 
Vyäsa und der des Bhoja zählen, in allem Wesentlichen zum 
Teil wörtlich übereinstimmend, sei es in Abhängigkeit von 
einander, sei es auf Grund einer gemeinsamen Tradition, die 
sieben Stufen unter zwei Gruppen auf, welche von ihnen als 
Mry((-vimtiliti, Befreiung von den Wirkungen [der Aufsennatur], 
und c/tfa-vinnddi, Befreiung vom empirischen Bewufst sein, 
unterschieden werden. Nach ihnen sind die sieben Stufen 
demnach folgende: a) Mrya-vimiili/ : 1. Alles ist erkannt. 
2. Es bleibt nichts, was zu erkennen wäre. 3. Die Kleya's 
sind überwunden. 4. Der Viveka ist erreicht: b) cifta-vimnJdi : 
5. Die Buddhi hat ihren Zweck erreicht. 6. Die Guna's sind 
besiegt. 7. Der Samädhi ist vollendet. — Auch nach dieser 
Darstellung ist ebenso wie nach der in ^ 11 behandelten der 
höchsterreichbare Zustand eine prajhä, ein von allen phy- 
sischen und psychischen Organen freies Bewufstsein. 
Die Yoga- § 13. So Idärlicli wie mit dem zuletzt besprochenen 
dem vierten Sütram 2,27 ciu uichts mehr über sich habender Gipfel er- 
2,28—1^6. reicht und ein Abschlufs gegeben war, ebenso unverkennbar 
beoinnt mit dem unmittelbar fola-enden Sütram eine neue, in 
zusammenhängender Reihenfolge von 2,28 — 4,6 sich fort- 
ziehende Betrachtung, deren Thema durch das erste Sütram 
2,28 gegeben wird: „Indem durch Betreibung der Glieder des 
Yoga die Unreinheit schwindet, entflammt sich das Wissen 
bis zur Erkenntnis des Unterschiedes [zwischen Prakriti und 
4. Trakt iscbe rLilosopbie. öCj'i 
Pui-ii>lia|." Ur'sl' (iliiHlcr ((ti~/(/((i//j sind luicii dem nächsten 
Sütrani 2,21) die folgenden: 
1. i/(itiiii. Zucht. 
'2. iiijidtii'j, Selbstzucht. 
o. äsiOKini, richtiges Sitzen. 
4. pra)i(hi(Uii((. Atemregulierung. 
5. praiijidiard. Einziehen der Organe. 
(3. (Jharcoja, Fesselung des Cittam. ' 
7. (IJn/aiiani, Meditation. 
8. saniudJii, Versenkung. 
samyanui, die All- 
zucht. 
Die drei letzten Glieder werden, wie aus diesem Schema er- 
sichtlich ist, als samijama, die „Allzucht", zusammengefafst 
(3,4); durcli ihre „Eroberung" erfolgt das Licht des Ver- 
stehens (3.5) und ihre Verwendung geschieht nach 3,6 hM- 
niish/i, „stufenweise", wobei an die am Schlüsse von § 12 
besprochenen Stufen (2,27), oder etwa auch an die durch 
Venvendung der Allzueht zu erringenden und von 3,16 bis 
4,6 besprochenen niedern und hohem Grade der durch den 
Yoga zu erreichenden Machtvollkommenheiten (vihlmii) ge- 
dacht sein kann. Wie aus unsern Ausführungen I, 2, S. 345 fg. 
erinnerlich, hat sich Anzahl und Reihenfolge der Ahga's erst 
allmählich fixiert. Hier haben wir nur das in den Sütra"s 
vorliegende Material zu prüfen, in welchem heterogene Ge- 
sichtspunkte koordiniert und zu einer als solche nicht ver- 
ständlichen Reihenfolge verbunden sind. Denn während es sich 
bei den sechs letzten Ahga's offenbar um eine von Zeit zu Zeit 
wiederholentlich anzustellende und zu immer gröfserer Voll- 
kommenheit zu steigernde Übung handelt, so betreffen die 
beiden ersten Ahga's, yama und ulyania, ein dauerndes mora- 
lisches Verhalten als Vorbedingung des anzuspannenden 
Yoga, welches in den altern Aufzeichnungen Maitr. 6,18 und 
Araritab. 6 stillschweigend vorausgesetzt wird, in den Sütra's 
hingegen als erstes und zweites Ahgam des Yoga erscheint, 
als wenn es sich auch bei yama und uiyama um eine ge- 
flissentlich anzustellende und periodisch wiederkehrende Übung 
handelte. Abgesehen von diesen beiden ersten Gliedern können 
\\ir uns das Verständnis im Üben des Yoga durch dij 
36* 
504 I^^s Yogasystem nach den Yoga-Siitra's des Patanjali. 
Erwägung näher bringen, dafs auch wir, wenn es sich darum 
handelt, ein Problem ernst und tief zu durchdenken, als Vor- 
bedino-vmg eine Situation anstreben, in der wir weder durch 
Eindrücke der Aufsenwelt noch durch unsere eigene Körper- 
haltung gestört w^erden, auch unsern Gedanken nicht ge- 
statten, nach aufsen hin abzuschweifen, und so im günstigen 
Falle dazu gelangen, mit dem Gegenstande, der uns beschäf- 
tigt, gleichsam eins zu werden und über ihm alles andere, ja 
auch uns selbst, zu vergessen. Der Unterschied ist nur der, 
dafs wir sowohl bei der philosophischen Reflexion wie bei der 
ästhetischen Kontemplation es immer mit einem bestimmten 
Gegenstande zu tun haben, während der Inder nach Aus- 
schliefsung aller physischen und psychischen Verhältnisse 
gar nichts Objektives mehr, sondern nur das reine, absolute 
Subjekt des Erkennens und damit kaum mehr als ein blofses 
Nichts übrig behält, wozu sich als Vergleich das Verfahren 
Kants darbietet, welchem nach Ausschliefsung aller empirischen 
Triebfedern und Motive nur die leere Form der Gesetzmäfsig- 
keit als Prinzip des moralischen Handelns bestehen blieb. 
Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir die Yogapraxis nach 
der Reihenfolge der acht Ahga's einer nähern Betrachtung 
unterwerfen. 
1. yama und § 14. „Niclitschädigung, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, 
2. nujaru.. j^g^g^j^l-^gj^ ^^jjd Besitzlosigkeit bilden die Zucht (yama/', 2,30. 
Der Zusatz 2,31 besagt, dafs die genannten fünf Tugenden 
keine Ausnahme nach Kaste, Ort, Zeit und Umständen zu- 
lassen und särvahhauma, d. h. in der ganzen Welt gültig, oder 
auf allen Stufen (bhmnl), die der Yogin bis zur Vollendung 
emporklimmt, verbindlich sind. — „Reinheit, Genügsamkeit, 
Askese, Studium und Gottergebenheit bilden die Selbstzucht 
(nlijama)'-', 2,32. Sonach werden die beiden ersten Anga's 
des Yoga durch zehn Tugenden gebildet, welche, unter dem 
Namen yama und niyama zusammengefafst, das moralische 
Verhalten, wie es Vorbedingung der Yogapraxis ist, einerseits 
gegen andere (yama), andererseits gegen uns selbst (myama) 
regeln. Damit diese Tugenden im Bewufstsein die Herrschaft 
gewinnen, mufs ihr Gegenteil unterdrückt werden, auch wenn es 
nicht als unbedingt verwerflich, sondern, etw a wie die Tiertötung 
4. Traktische rhilosophie. 005 
bt'im ()pfer, als ,.zweifell)ehuftet'- (vitarhi) erscheint (2,33). 
,,Z\veifelbehai'tete l)in.2;e, nämlich Schädiguns; usw., mag man 
sie getan, veranlai'st oder (nur] gebilligt haben, mag ihnen 
Begierde, Zorn oder Verblendung vorausgeii-angen sein, mögen 
sie leicht, mittelmäl'sig oder übermälsig sein, haben Leiden 
und Unwissenheit als unendliche Frucht" (2,34). Während 
sich in dieser Warnung vor Übertretungen des Sittengesetzes 
ein feines moralisches Empfinden nicht verkennen läfst, lassen 
die folgenden Sütra's 2,35 — 45, welche die Frucht der er- 
wähnten zehn Tugenden feiern, schon jenes Schwelgen in 
phantastischen Übertreibungen bemerken, wie wir es in den 
durch den Yoga zu erlangenden Vibhüti's noch greller hervor- 
treten sehen werden. So wird als Folge des Beharrens in 
der Nichtschädigung eine Nichtanfeindung durch die Um- 
gebung, in der Wahrhaftigkeit eine Erlangung derselben 
Frucht wie die der Opferwerke, im Nichts tehlen ein Ge- 
winnen von mancherlei Schätzen, in der Keuschheit die 
Erlangung von Manneskraft, in der Besitzlosigkeit sogar 
„ein Bewufstsein der Wie-heit der Geburten", d. h. wohl des 
Zusammenhangs zwischen dem gegenwärtigen Leben und den 
A\'erken eines frühem Daseins verheifsen. Ebenso erfolgt 
weiter aus der Reinheit Abscheu vor dem eigenen Leibe, 
^'ermeidung der Berührung fremder Leiber, Reinigung des 
Sattvam von Rajas und Tamas, Wohlgemutsein, Konzentration, 
Sinnezähmung und Geeignetsein für das Schauen des Atman; 
aus der Genügsamkeit erfolgt unübertreffliche Lusterlangung, 
aus der Askese Vollkommenheit von Leib und Sinnesorganen, 
aus dem Vedastudium das Bewufstsein der Einheit mit der 
in dem meditierten Hymnus angerufenen Gottheit, und aus 
der Gottergebenheit sogar Santädlii-.siddJii, Vollendung der 
Versenkung, letzteres im Widerspruche zu den Stellen 1,23 
und 2,1, welche der Gottergebenheit nur eine nebengeordnete 
Mitwirkung beim Zustandekommen des Yoga zuerkennen. 
§ 15. Während ycuiKt und nhjama als Vorbedingung des 3, d^nnam, 
Yoga ein dauerndes moralisches \'erhalten gegen andere wie *' ^XL^ 
gegen sich selbst empfehlen, so enthalten die sechs übrigen ^ hZa!^' 
Ahga's 3 — 5 die körperlichen und 6 — 8 die geistigen Übungen, 
wie sie zeitweilig und wiederholentlich anzustellen sind, mit 
5()6 Das Yogasystem nacli den Yoga-Sütra's des Patar.jali. 
immer steigendem Erfolo-e, bis das erstrebte Ziel, das Bewufst- 
sein der Isolation des Purusha von allem Objektiven, das 
Kaivalyam, erreicht ist. Die erste der drei körperliehen 
tbungen ist 
3. dsduain, das richtige Sitzen, über welches schon die 
Upanishad's nähere Vorschriften (oben I, 2, S. 347 fg.) ent- 
halten, die späterhin durch Unterscheidung von vierundachtzig 
verschiedenen Sitzarten ins Sinnlose gesteigert wurden. Von 
solchen Übertreibungen halten sich die Sütra's fern. Sie 
empfehlen 2,46 — 47 nur einen festen und bequemen Sitz und 
Lockerung aller Muskelspannungen als Vorbedingung, um die 
Seele zum Ewigen, Unendlichen zu erheben. Wenn dies ge- 
lingt, wird man von den dvandvas, den „Gegensätzen", wie 
sie als Lust und Schmerz, Hitze und Kälte usw. auf den 
Menschen einstürmen, vorübergehend, für die Zeit der Übung 
sich befreit fühlen. „Nachdem dieses geschehen, folgt", wie 
es 2,49 heilst, 
4. präncnjanm., die Atemregulierung, welche nach derselben 
Stelle als eine „Hemmung des Ganges von Einatmen und Aus- 
atmen" erklärt ward. Auch 1,31 wurde, als Begleiterscheinung 
der Zerstreuungen des Cittam, rväsa und pracväsa, ungeregeltes 
Einatmen und Ausatmen erwähnt, und ihm gegenüber 1,34 
als ^Mittel zur Beruhigung des Cittam iiraccliardanam und vidlia- 
ranani, „[geregeltes] Ausstofsen und Zurückhalten" des Atems 
empfohlen. Eingehender sind die Vorschriften 2,50 fg., welche 
empfehlen, die drei Funktionen des Atmens, „Aufsenrichtung, 
Innenrichtung und Festhaltung, mit umsichtiger Beachtung 
von Ort, Zeit und Zahl langgezogen und zart" auszuüben. 
Hier werden unter Vermeidung der gewöhnlichen Namen, um 
den Uneingeweihten vom Verständnis auszuschliefsen, die drei 
Arten des Pränayama, recalia, purcJia und lioiihliahi, aufgezählt, 
wie sie schon in den spätem Upanishad's (oben I, 2, S. 348) 
vorkommen und noch heute in Indien beim Yoga üblich sind. 
Das Verfahren ist dabei, nach mündlichen Mitteilungen meiner 
Freunde in Indien, das folgende. Man schliefst das rechte 
Nasenloch mit dem Daumen, das linke mit den beiden letzten 
Fingern der rechten Hand ; dann öffnet man das rechte Nasen- 
loch und läfst langsam und tief den Atem einströmen (puralM), 
4. riaktisclio riiilosopliie. 5(")7 
hält iliii unter Seliliofsiing beider Nasenlöcher längere Zeit in 
der Krust fest i liiinhlKikn ) und läM sodann nach Öffnung des 
linken Nasenloches durch dieses die Luft langsam bis zur 
v()lligen Entleerung ausströmen (rccih-a). Jeder dieser drei 
Akte dauert so lange, dafs man bei ihm die folgenden Vcda- 
sprüche im Geiste durchgehen kann: Oiii hln'ih ; o»/ hhuvah; 
Olli sralj: Olli ni((li((h: o)u jniKih; oni tapah ; oiii sati/diu. Otn, tat 
.s<ivitnr ra)r)j 1/(1 III bJinrgo dcvasi/a dlihiiaJu', dhiyo ijo iikJj jiraco- 
ddi/af: oni äjio jijoti raso ^mritani bniltnic, hhfir bhnvali svar otn. 
jDie Formel ist aus Taitt. Ar. 10,27 entnommen.) Aufser diesen 
<h'ei Arten des Pränayama wird 2,51 eine vierte Art erwähnt 
!ind mit dem wegen der Zweideutigkeit des Ausdrucks ähsJiepm 
dunkeln Worten beschrieben: „Mit einem äufsern oder iniiern 
Objekte sich befassend ist die vierte." Allerdings kommt, 
wiewohl selten, eine vierte Art des Pränayama unter dem 
Namen ruiiijahi vor, welche hier gemeint sein mufs und darin 
liesteht, dafs man nach Entleerung des Atems vor dem neuen 
Einatmen eine angemessene Zeit verstreichen läfst. Schon 
( händ. Up. 1,3,3 — 5 wird dieser Zustand unter dem Namen 
r;/(iiia, Zwischenhaucli, beschrieben, wobei an das Anhalten 
des Atmens bei der Konzentration auf besondere Kraft- 
anstrengungen, wie Feuerreiben, Wettlaufen, Bogenspannen, 
erinnert wird (vgl. oben S. 527 Anm.j. Vielleicht ist in diesem 
Sinne unser Sütram 2,51 von der atemlosen Spannung zu 
verstehen, mit der wir einen äufsern oder Innern Vorgang zu 
verfolgen pflegen. Als Frucht der in der erwähnten \\^eise 
ausgeführten Atemregulierung stellen 2,52 — 53 in Aussicht, 
dafs die Hülle schwindet, welche das innere Licht, d. h. den 
Purusha, verdeckt, und dafs das Manas, unter welchem hier 
das Cittam zu verstehen ist (vgl. 3,1), für die als sechstes 
Angam zu besprechende dluirnnu geeignet wird. Ist das regel- 
mäfsige und tiefe Einatmen und Ausatmen (dessen Wert für 
die Hebung der physischen und psychischen Kräfte kein Arzt 
bestreiten wird) in der besprochenen methodischen Weise ein- 
geleitet, so folgt 
5. pratifähärii, die Einziehung der Sinnesorgane. Die fünf 
Erkenntnisorgane (Auge, Ohr, Haut, Nase, Zunge) und die 
fiinf Tatorgane (des Redens, Greifens, Gehens, Entleerens und 
568 I^äs Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Pataüjali. 
Zeugens) vermitteln die Beziehung des Cittam als Innenorgan 
mit den äufsern Objekten. Indem man sie von ihren Objekten 
abtrennt und in sich hereinzieht, wie die Schildkröte ihre 
Glieder, whd, wie Sütram 2,54 erklärt, ihre .die geistige Samm- 
lung störende Verbindung mit den entsprechenden Objekten 
vorübergehend aufgehoben, wobei sie „gleichsam die Natur 
des Cittam nachahmen", sofern sie wie dieses im Innern 
weilen, ohne sich mit den Dingen und ihren Verhältnissen zu 
berühren. Aus diesem pratyähära erfolgt, wie Sütram 2,55 
versichert, eine vollkommene Herrschaft über die Sinnesorgane. 
Unter dieser Herrschaft, vagyatä, ist nicht die Gewalt zu ver- 
stehen, welche man besitzen mufs, um nur überhaupt seine 
Sinne von den Sinneseindrücken loszulösen, sondern die durch 
wiederholte Übung gesteigerte (vgl. 1,13 — 14) und endlich 
vollständig erreichte dauernde Herrschaft über die der Yoga- 
konzentration hinderlichen Sinnesorgane. 
6 d/iäranä. § 16. Au dlc das körperliche Verhalten beim Yoga 
ä. samdd/ii.' regelnden drei Anga's des richtigen Sitzens und Atmens so- 
wie des Einziehens der Sinnesorgane schliefsen sich die drei 
höhern Anga's, welche sich auf das geistige Verhalten, mit- 
hin auf das Cittam beziehen, während der Purusha auch hier 
ganz aufser Frage bleibt, da an ihm nichts vorgeht, nichts 
vorgehen kann, und sein endliches Hervortreten in voll- 
kommener Reinheit nicht ein Glied der Yogapraxis, sondern 
deren letztes Endziel bildet, nach dessen Erreichung alle Be- 
mühungen überflüssig sind. Das Cittam also ist es, welches, 
ähnlich wie vorher der Körper, einer dreifachen Zucht unter- 
worfen wird. Die Glieder derselben sind: 
6. dharanä, die Fesselung, „die Bindung des Cittam an 
einen Ort, welcher ihm nicht mehr erlaubt, wie bisher zügel- 
los umherzuschweifen". Dieser Ort oder Gegenstand mufs es 
denn auch sein, auf welchen sich 
7. dhyänam, die Meditation, richtet. Sie ist nach 3,2 ,,die 
Richtung des Vorstellungsvermögens auf einen Punkt", womit 
die Äufserungen 1,39, dafs durch die Meditation die Beruhigung 
des Cittam erfolge, und 2,11, dafs die Entwicklungen der dem 
Cittam anhaftenden Klega's durch Meditation überwunden 
werden müssen, in Einklang stehen. Wie die Fesselung die 
4. rraktischo l'hilosopliie. 50«) 
negative, so bezeichnet die Meditation die positive Seite eines 
und desselben Vorgangs; erstere verbietet dem Cittam, nach 
aHen Seiten zu gehen, letztere hält es in der Betrachtung eines 
und desselben 01)jektes fest. Eine Steigerung des dhi/änoni ist 
8. samäilJii, die Versenkung. 3,3: „Diese [Meditation], 
wenn sie nur das Objekt widerspiegelt und gleichsam der 
eigenen Natur ledis; ist, heifst Versenkung." Die Meditation 
wird also zur Versenkung, sobald die Betrachtung des medi- 
tierten Gegenstandes einen Grad erreicht, auf welch-em das 
Bewufstsein der ei2;enen Individualität völlig erlischt. Dieser 
psychische Vorgang stimmt nicht nur mit den verwandten 
Aufserungen 1,41. 43, sondern auch mit dem zusammen, was 
die neuere Philosophie als das Wiesen der ästhetischen Kon- 
templation schildert, wenn sie das Wohlgefallen am Schönen 
als uninteressiert, frei von allen Regungen des Willens, frei 
von dem Bewufstsein der eigenen Individualität und ihrer 
Interessen beschreibt. Da dhäranü nur die negative, dhyünam 
die positive Seite und sauiadlii die bis zum Erlöschen des 
Bewufstseins der eigenen Individualität gesteigerte Intensität 
eines und desselben Vorganges bedeuten, so wird es begreif- 
lich, wenn alle drei für die folgenden Betrachtungen als eine 
Einheit zugrunde hegen unter dem Namen 
6 — 8. sanu/üDiu, die Allzucht, welche sich zu den drei das 
körperliche Verhalten regelnden Gliedern verhält wie das 
Innere zum Äulsern (3,7). Mit ihr leuchtet das Licht des 
Erkennens auf (3,5), welches 1,16 als das Aufleuchten des 
Purusha, 2,26 (vgl. 2,28) als die Erkenntnis des Unterschiedes 
bezeichnet war und wie diese (2,27j sich stufenweise zu immer 
höherer Klarheit steigert (3,6). 
>:; 17. Aber auch der im samädhi gipfelnde samyama ist Die drei 
noch nicht das höchst Erreichbare, denn dieser samüdhi ist^'""'' '" 
erst der keimhafte, mit den Keimen der Kle^a's und Väsanä's 
noch behaftete Samädhi. Er wird, so müssen wir den Über- 
gang 3,8 deuten, zum höchsten, keimlosen, uirvija Samädhi erst 
vermöge der 3,9 — 15 beschriebenen Umwandlungen (parinäma), 
welche das Cittam erfährt, und welche, wie es scheint, in einer 
Steigerung der drei den sümyanta bildenden Anga's bestehen, 
sofern die dJtäranä zum nirodltd-pürinamü, das dhyiuuDu zum 
570 Das Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Patanjali. 
samädlti-parinäma und der samadhi zum clxägraiü-ixirinäma 
gesteigert zu sein scheint, wiewohl diese Parallele beim Ver- 
suche einer strengen Durchführung versagen dürfte. Wie dem 
auch sei, jedenfalls können es nach dem Texte 3,8 — 15 nur 
die drei Parinäma's sein, durch welche der saiyja zvim j/irv/ja 
samädlii wird, während nach dem später zu besprechenden 
Texte 1,17 — 51 dieser Übergang in wesentlich anderer Weise 
beschrieben wird. Die drei Parinama's sind folgende: 
1. mrodha-2Kmnäiii(i, der Unterdrückungsakt, besteht nach 
.■•),9 darin, dafs der Zustand des normalen Wachens, in welchem 
das Cittam nach allen Seiten ausschweift, überwältigt wird 
(vyidthäudiu (ibJu'hJifiyfdc), und dafs der Zustand der Unter- 
drückung der Vritti's des Cittam zutage tritt {nirodhah prädur 
hhavati). Ausdrücklich wird zugefügt, dafs diese Umwand- 
lung, ebenso wie die beiden folgenden, nur das Cittam und 
auch dieses nur in dem Momente der Unterdrückung betreffen, 
denn wenn der Yogin seine körperlichen und geistigen Übungen 
beendigt hat, steht er avif, geht seinen Geschäften nach und 
sein Cittam befafst sich mit den Aufsendingen ebenso wie 
früher, es sei denn, dafs wir das 3,10 als Folge des Unter- 
drückungsaktes gerühmte „beruhigte Dahinfliefsen" des Cittam 
nicht blofs von der Übungszeit, sondern als eine durch die 
IJbung erreichte und auch im gewöhnlichen Leben vorhaltende 
Gemütsruhe zu verstehen haben. Im letztern Falle würde sie 
dem citta-prasädanam (1,33) entsprechen, von dem weiter unten 
die Eede sein wird. 
2. mmädhi-parindui(i^ der Versenkungsakt, besteht nach 
3,11 darin, dafs die Vielgeschäftigkeit des Cittam vernichtet 
wird (survärihtda Tisluytde) und seine Konzentration auf irgend- 
ein Objekt der Auf sen weit oder Innenwelt (nicht auf den 
Purusha, welcher nie Objekt, weil immer nur Subjekt ist) 
hervortritt (eMgratä udeti). 
3. cMgndä-jjarmcma, der Konzentrationsakt, ist nicht ein 
neues Drittes, sondern nur eine Verbindung der beiden vorher- 
gehenden, denn er besteht nach 3,12 nur darin, dafs die Be- 
ruhigung des ersten und die Erhebung zur Konzentration des 
zweiten Aktes (der Qänta- und der udita-parinäma) tulya-pra- 
tijayau, „in gleicher Stärke in die Erscheinung tretend", sind. 
4. Prakti-clic Pliilo-^opliic. r^YJ 
Die drei Uniwandlungsakte beziehen sich, wie bei jedem 
ausdrücklich bemerkt wird, auf das Cittam, erstrecken sich 
aber nach 3,13 weiter auch auf die Elemente, soweit sie den 
K(»rj)er des Yogin bilden, und auf seine Sinnesorgane; alle 
ihre realen Xaturbeschaffenlieiten (dJianiKi), logischen Merk- 
male ( hikshdiKdif) und vorübergehenden Zustände (amsthä) und 
mit ihnen die Träger dieser Beschaffenheiten (dhirmin, 3,14)^ 
d. h. alle Körporelemente und Körperorgane nehmen mit dem 
Cittam teil an Jener „merkwürdigen, katholischen, transscenden- 
talen Veränderung", wie sie ein Matthias Claudius nennen 
würde, deren erster Akt die Beruhigung (rdtda)^ deren zweiter 
die Erhebung (lidiia) zur Kontemplation und deren dritter, in. 
(U'r Verbindung dieser beiden bestehender, nach 3,14 ein Un- 
beschreibliches (avyapüderya) ist vmd den in mystisches Dunkel 
sich verlierenden Höhepunkt des Yoga bezeichnet. Eine War- 
nung, die Reihenfolge der Samyamaübung nicht abzuändern, 
wie dies in einigen Upanishad's oben I, 2, S. 347 fg. geschehen,, 
beschliefst 3,15 diesen ebenso schwierigen wie bedeutungs- 
vollen Abschnitt. 
Frao-en wir nun zum Schlüsse, wodurch sich die drei 
Parinäma's von den drei den Sarnyama bildenden Ahga's 
unterscheiden, da sie der Sache nach mit diesen zusammen- 
treffen und in keinem Punkte über sie hinausgehen, so wird 
der Unterschied wohl darin liegen müssen, dafs es sich bei 
dJidratid, dhijänam und samddhi nur um periodisch anzustellende 
l'bungen handelt, welche die Keime der Kle9a's und Väsana's 
noch nicht ersticken, dafs aber eben diese Übungen nach und 
nach zu einem ihnen entsprechenden dreifachen Parinäma,, 
einer Umwandlung des Cittam mit der ganzen ihm anhängenden 
Körperlichkeit führen, bis das Cittam selbst, von allem Erden- 
reste der Klega's und Väsana's gereinigt, vom Purusha ab- 
liefst, wie das Wasser vom Gipfel des Berges (4,25), und 
das Kaivalyam als Endziel aller Yogabestrebungen erreicht 
ist. Was endlich die in unserm Abschnitt sich anschliefsenden» 
von 3,16 — 4,() behandelten Villi idTs oder Machtvollkommen- 
heiten betrifft, welche der Yogin durch Anwendung des Sarn- 
yama auf die verschiedensten Verhältnisse erlangen soll, so 
wird davon später die Rede sein, nachdem wir zuvor den 
572 Das Yogasystem nach den Yoga-lSütra's des Patanjali. 
Abschnitt über den Samädhi 1,17 — 51 zum Vergleiche mit den 
ihm entsprechenden, aber erheblich verschiedenen Ausführungen 
über den Sarnyama und die Parinäma's herangezogen haben. 
Der § 18. Weniger abgeklärt als die besprochene Lehre von 
n'^oh ' den acht Ahga's und den sie krönenden drei Parinäma's und 
' ~^^' vermutlich einer altern Zeit als sie angehörig ist die Abhand- 
lung über den Samädhi 1,17 — 51. Nach ihr ist der Samädhi 
ein zweifacher; der erstere ist samjrrnjnätd, bewufst, d. h. mit 
den Vritti's, oder savtja, keimhaft, d. h. mit den Klega's und 
Väsanä's noch behaftet, der letztere ist asamprajmta und 
nirv^ja, unbewufst, weil von allen Funktionen des Cittam, und 
keimlos, weil von allen Klega's und Väsanä's frei. Der Auf- 
stieg vom gewöhnlichen Bewufstsein zum keimhaften Samädhi 
wird vermittelt durch das der dhäranä in dem Angatexte 3,1 
entsprechende cHta-prasädmumi^ während dhyänam in unserm 
Texte nicht wie dort 3,2 die Zwischenstufe zwischen dhurana 
und samädhi., sondern 1,39 ein Mittel zur Erreichung des c'dta- 
prasädanam bildet. Daher folgt auf ciita-prasädanam als nächste 
Stufe sofort samäpaUi (1,41), „die Erhebung" (zum scmja- 
samädld), deren vier Unterarten eben den savija-samädhi selbst 
bilden (1,46). Nachdem dieser im adhyätma-prasäda heran- 
gereift ist (1,47), erfolgt endlich durch Unterdrückung aller 
Eegungen des Bewufstseins und aller Keime der Affekte als 
letztes Ziel der mrvtja-samädhi. — Nach dieser allgemeinen 
Übersicht kehren wir zu dem Anfang des Textes zurück. 
Eine Erklärung beider Samädhi's eröffnet den Abschnitt. Der 
erste ist nach 1,17 als sampn-ajnäta noch mit Zweifel und Be- 
denken, den Funktionen des Cittam, und als sav'ija noch mit den 
Klega's, von denen Freude und Egoismus genannt werden, be- 
haftet. Der letztere nach 1,18 ist .sainsJiära-^esJia, „die Samskära's 
(== väsanä, hartnäcaya) als Rest habend", d. h. als Residuum 
zurücklassend, und er hat zur Voraussetzung ein fleifsiges 
Üben in der Vorstellung der Beruhigung (viräma-pratyaiia), 
wodurch nach und nach diese selbst als Beruhigung des Cittam 
(1,33) und Beruhigung des Innern Selbstes (1,47) und damit die 
Vorbedingungen des unbewufsten, keimlosen Samädhi erreicht 
werden. Auf diese Fortentwicklung des gewöhnlichen Bewufst- 
seins zur niedern und höhern Stufe des samädhi wird von 1,19 
4. I'niktisclu' Tbilosoiiliie. 57i> 
an ausfühiiicli i'in«;;oo;an<j;en. Bei manclien ist die Fähigkeit 
zum bewiirsten Sainädlii sclion von Natur an vorhanden ; es 
sind diejenigen, welche 1,19 nls vidcha-jirdkriilhaja bezeichnet 
werden, bei denen sich kraft der Verdienste in einer frühem 
Geburt das Band, welches den Purusha mit der Körperlicli- 
keit (ilcha) verbindet, gelockert hat, und bei denen die auch 
schon Mahabh. XII, SOG, 17, S. (125 unserer Übersetzung er- 
wähnte Neigung des Cittam besteht, sich in die Prakriti, 
der es entstammt, aufzulösen. Andere, von Natur an weniger 
glücklich Geartete müssen nach 1,20 durch Vertrauen auf die 
Worte des Lehrers, Energie, besonnene Rückerinnerung an 
das Vergangene und Bewufstsein des zu erstrebenden Samädhi 
diesem näher zu kommen suchen, welches um so eher ge- 
lingen wird, je heftiger sie darauf anstürmen (vgl. Matth. 11,12) 
und je begabter sie sind (1,21 — 22). Auch die Gottergeben- 
heit fördert nach 1,23 zum Ziele hin, und ihre Erwähnung 
gibt Anlafs zu der schon besprochenen Episode über den I^vara 
1,24 — 28. Seine Meditation schärft auch den Blick für das 
innere Selbst und beseitigt die Hindernisse (antaräya) des 
Samadhi (1,29). Diese Bemerkung gibt Anlafs zu einem zweiten 
Exkurs (1,30 — 32) über die Hindernisse der Meditation, welche 
bestehen in den Ablenkungen des Cittam durch „Krankheit, 
Apathie, Zweifel, Unbesonnenheit, Trägheit, Nichtent sagung, 
irrige Ansichten, Ermangelung der Yogastufen und Unbeständig- 
keit*' (1,30), und in ihrem Gefolge „Schmerz, Trübsinn, Körper- 
zittern sowie ungeregeltes Einatmen und Ausatmen" haben 
(1,31). Zu ihrer Bekämpfung wird 1,32 die wiederholte Medi- 
tation eines und desselben tativam empfohlen, wobei nicht 
sowohl an eines der vierundzwanzig Sähkhyaprinzipien, da 
diese sonst nirgendwo in den Sütra's vorkommen, als viel- 
mehr (vgl. 1,39) an irgendein Objekt zu denken ist, auf welches 
die Meditation sich konzentriert. Als Gegenstück zu diesen 
citta-vihshepas ward das clüa-prasädanam, die Beruhigung des 
Cittam, nach 1,33 dadurch befördert, dafs man sich die aus 
Freundschaften entspringende Lust, das aus Mitgefühl mit 
andern entspringende Leid, das Wohlgefallen an guten und 
die Nachsicht bei bösen Handlungen im Geiste gegenwärtig 
hält. Als eine weitere Reihe von Mitteln zur Beruhigung des 
574 D'is Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Pataujali. 
Cittam werden 1,34 — 39 aufgezählt: 1,34 geregeltes Atmen, 
welches hier noch nicht zur Theorie des prämuäiua entwickelt 
zu sein scheint, 1,35 eine auf [vergeistigte] Objekte bezügliche 
Tätigkeit, 1,36 eine kummerfreie, lichtvolle Gemütsstimmung, 
1,37 Leidenschaftslosigkeit des Cittam, 1,38 die Rückerinner uug 
an die zur ästhetischen Kontemplation einladenden Traum- 
bilder, oder endlich 1,39 die Meditation eines beliebigen Ob- 
jektes erwähnt. Durch diese Übungen tritt eine vom Kleinsten 
bis zum Gröfsten sich erstreckende Freiheit von der Hetero- 
nomie, dem Beherrschtwerden durch äufsere Eindrücke (1,40) 
und damit als eine höhere Stufe, nachdem die Funktionen 
des Cittam unterdrückt sind, die saiuapaüi, die Erhebung des 
Gemütes zum bewufsten, keimhaften saniad]ii, ein, bei welcher 
Subjekt, Tätigkeit und Objekt des Erkennens in eins zusammen- 
fallen, wie bei einem selbstleuchtenden Edelstein die Beleuch- 
tung und das Licht, welches er ausstrahlt und von dem er 
durchdrungen wird (1,41). Diese Erhebung zum keimhaften 
Samadhi ist eine vierfache, sofern sie zweifelbehaftet oder 
zweifelfrei, bedenkenbehaftet oder bedenkenfrei ist. Die beiden 
ersten beziehen sich auf unmittelbar erkennbare, die beiden 
letztern auf subtile, nur erschliefsbare Objekte, wie z. B. Pra- 
kriti und Purusha. Im übrigen ist die Erhebung nach 1,41* 
eine zweifelbehaftete, wenn sie noch mit vil-alpas (unsichern 
Annahmen) behaftet ist, während nach 1,41 die Vernichtung 
der Vritti's, zu denen nach 1,9 vilxüpu gehört, Voraussetzung 
der sanidpaifi war; sie ist eine zweifelfreie (1,43), wenn das 
Bewufstsein so weit von Väsana's gereinigt ist, dafs es wie 
ein reiner Spiegel arthaniätra-uirhhüsa, ..nui' noch das Objekt 
widerspiegelnd" ist. Derselbe Ausdruck kehrt, wie wir oben 
sahen, 3,3 wieder, um den Samadhi, und zwar auch dort den 
immer noch mit Keimen behafteten Samadhi, zu bezeichnen. 
Die vier »'enannten Erhebuno-en bilden in ihrer Gesamtheit 
nach 1,46 den keimhaften Samadhi. In dem Mafse, wie er 
heranreift, tritt die Beruhigung des Innern Selbstes ein (1,47), 
in welcher die Erkenntnis zwar noch besteht, aber nur noch 
der Wahrheit (rifaui), und zwar nicht der empirischen, son- 
dern der metaphysischen Wahrheit zugewandt ist (1,48 — 49 j, 
und dementsprechend neue Gemütseindrücke (.sani.skära) ent- 
4. Praktische Pliilosoiiliie. 575 
stehen, welche die empirischen Gemütseindrücke niech'rhalten. 
Aber erst nachdem auch diese höhere Art (U'r Erkenntnis und 
die aus ihr entsprinuenden Saniskara's unterdrückt sind, triit 
als letztes Ziel der Yogabestrebungen der iiirvtja-sannullu. die 
keimlose Versenkung ein, bei welcher das Cittam mit allen 
seinen Vritti's. Kle^a's und Samskara's unterdrückt ist und 
der Purusha, von ilira befreit, in seiner eigenen reinen Natur 
fortbesteht (l.:3). 
i:j 19. Das höchste und, soweit der Yoga auf reinen dio tvw,«7/s 
Motiven beruht, emzige Ziel aller der körperlichen und geistigen cuttai- 
( bungen, die wü- jetzt im Zusammenhange überblickt haben. Yogin, 
ist die Erlösung des Ätmau von der Illusion der Erscheinungs- 
welt, welche auf Grund der spätem, unsere Sütra's beherrschen- 
den Sankhvatheorie als die Isolation (kaivahiam) des Purusha 
von der die ganze Xatur befassenden Prakriti erscheint. Aber 
auch vor Erreichung dieses Zieles zeitigt der Yoga eine Reihe 
von Früchten, welche als die vibhfiti's oder übernatürlichen 
Machtentfaltungen hn Volksbewufstsein den Yogin als eine Art 
Zauberer erscheinen lassen und auch in unsern Sütra's von ^ 
3,16 — 4,6 einen breiten Raum einnehmen. Diese Seite des 
Yoga ist es, welche vornehmlich im Abendlande Anstofs erregt 
hat, zu dessen Beseitigung oder doch Milderung wir einiges 
beitragen möchten. Denn so absurd auch die Auswüchse sind, 
in welche die Yogatheorie sich hier verirrt hat, so wahr und 
tief ist doch der Grundgedanke, in dem sie alle wurzeln. Er 
besteht darin, dafs der Yogin in dem Mafse, wie er sich von 
der buntfarbigen Erscheinungswelt auf die Tiefen seiner eigenen 
Xatur zurückzieht, in demselben Mafse sich frei weifs von der 
Xatur, ihren Gesetzen, Verhältnissen und Zusammenhängen, 
darin, dafs für ihn, der im Reiche des Kausalitätlosen lebt, 
der ganze Kausalnexus der Erscheinungswelt keine Bedeutung 
mehr hat. Diese Freiheit von der Naturordnung ist es, welche 
dem populären Bewufstsein als eine positive Herrschaft über 
die Xatur und ihre Gesetze erscheint. Das Volk läfst sicli 
an dem Geistigen nicht genügen und verlangt überall greif- 
bare Symbole. Die übermenschliche Gröfse oder Göttlichkeit 
eines Homer, Piaton und anderer Geistesheroen wird dem Volke 
zum Mythus einer übernatürlichen Zeugung, und in demselben 
576 Das Yogasystem nach den Yoga-Siitra's des Patanjali. 
Sinne ist es zu verstehen, wenn die Erhabenheit des Yogin 
über die Natur als eine Herrschaft über die Naturgewalten er- 
scheint. Es ist schwer zu sagen, inwieweit auch die denkenden 
und philosophisch gebildeten Geister, die in unsern Sütra's zu 
Worte kommen, an derartige Phantastereien geglaubt haben 
mögen, wie sie in Anknüpfung an die Lehre vom Sarnyama 
von 3,16 an vorgetragen werden. Wir können darauf ver- 
zichten, das Einzelne aus unserer Übersetzung der Abschnitte 
o,16 — 55 und 4,1 — und den Einleitungen zu diesen Text- 
stücken (oben S. 523 fg. und 536 fg.) hier zu wiederholen, 
und wollen nur darauf hinweisen, dafs das Bewufstsein der 
Minderwertigkeit derartiger Wunderwirkungen auch bei Dar- 
stellungen derselben wiederholt hervortritt; so wenn es 3,37 
von ihnen oder von einigen derselben heifst, dafs sie nur im 
wachen Zustande des gewöhnlichen Lebens Vollkommenheiten, 
aber zum Zustandekommen des Samädhi vielmehr Hemmnisse 
sind, — und wenn 3,51 vor Welthang und Hochmut, wie sie 
aus dem Bewufstsein der erlangten Vollkommenheiten ent- 
^ springen können, gewarnt wird, — oder wenn 4,1 (vgl. auch 
3,22) darauf hingewiesen wird, dafs die aus dem Yoga ent- 
springenden Vollkommenheiten auch durch Wunderkräuter, 
Zaubersprüche und Wahrsagekunst erreicht werden können. 
Ausdrücklich wird 3,50 gesagt, dafs das höchste Ziel, Kai- 
valyam, erst erreicht wird, wenn man an derartigen Wunder- 
kräften nicht mehr hängt. 
kaimhjau,, § 20. Dafs der Kern der Natur, dafs das Prinzip der 
'^ifeit,' Meli'" Welt nicht in unerreichbaren Fernen, sondern nur in uns 
i;M-n. geibgt^ nur da zu suchen ist, wo die Natur sich uns von innen 
öffnet und einen Einblick in ihre abgründlichen Tiefen ge- 
stattet, das ist eine Überzeugung, welche dem Yoga mit vielen 
philosophischen Richtungen innerhalb und aufserhalb Indiens 
gemeinsam ist. Neu und ihm eigentümlich ist nur der Ver- 
such, durch geflissentliche, methodisch geregelte Abkehr von 
der Aufsenwelt und Einkehr in das eigene Innere hier das 
tiefste Wesen des eigenen Selbstes wie der ganzen Natur, 
den Ätman in seiner alleinigen Realität, oder, nach späterer, 
realistischer Fassung, den Purusha in seiner völligen Isolation 
von allem objektiven Sein zu fühlen und zu finden. Ist dies 
4. Praktische Philosophie. 577 
g('liinp;on, so liabon die Yogabemühuncon ihr Ziel erreicht, 
und sie würden für die weitere Zukunft ganz überflüssig 
werden, wäre nicht, solange das Leben dauert, ein Rückfall 
in den Wahn des realen Verbundenseins mit der Prakriti zu 
befürchten. Zwar ist, wie es 4,24 heifst, für den, welcher 
den rircJca, die Verschiedenheit des Purusha vom Cittam er- 
kannt hat, der Wahn, dafs im Cittam der Atman, das eigent- 
liche Selbst bestehe, geschwunden, und das Cittam, durch 
den vivehi abschüssig geworden, fliefst vom Purusha ab, wie 
Wasser von einem Berggipfel (4,25), aber das Bewufstsein 
der Verschiedenheit vom Cittam kann nicht immer in gleicher 
Stärke aufrechterhalten werden, es erleidet Unterbrechungen, 
in welchen aus den immer noch im Cittam haftenden Sarns- 
kiira's anderartige Vorstellungen auftauchen (4,26), und diese 
müssen, ebenso wie es von den Kle^^a's 2,10 — 11 gelehrt worden 
war, soweit sie bewufst werden, durch Meditationen, soweit sie 
nicht zum deutlichen Bewufstsein gelangen, durch asketische 
i'bungen niedergekämpft werden (4,27), bis endlich die Klega's 
und die auf ihnen beruhenden Werke schwinden (4,29), und 
die Guna's, nachdem ihre Aufgabe im Dienste des Purusha 
vollendet und die anfanglose Eeihe ihrer Wandlungen zum 
Abschlufs gekommen ist, vom Purusha zurückströmen, welcher, 
von ihren Einflüssen befreit, als geistige Kraft in seiner eigenen, 
reinen Natur verharrt (4,31. 33). Dann ist er befreit von allen 
Hemmnissen und Flecken, umspannt mit seiner Erkenntnis 
das Unendliche und fragt wenig mehr nach empirischem Wissen 
(4,30) ; dann lebt er nicht mehr, wie andere, in der von Mo- 
ment zu Moment fortschreitenden Zeit, sondern, angelangt am 
letzten Ende der Veränderungen, blickt er, selbst zeitlos, auf 
den ganzen Kreislauf der Zeit (4,32), erfüllt von dem Bewufst- 
sein, welches sich schon in den Worten Brih. Up. 4,4,16 
ausspricht : 
„Zu dessen Füfsen rollend hin 
„In Jahr' und Tagen geht die Zeit, 
„Den Götter als der Lichter Licht 
„Anbeten, als Unsterblichkeit, 
,,In dem der Wesen fünffach' Heer 
„Mitsamt dem Raum gegründet stehn, 
Decssek, Gescliichte der Philosophie. I, iii. 37 
578 
Das Yogasystem nach den Yoga-Sütra's des Patanjali. 
„Den weifs als meine Seele ich, 
„Unsterblich, den Unsterblichen." 
Wer in dieser Weise den viveka erkannt und das kaivalynw 
errungen hat, der ist, wie die schönen Worte 4,28 besagen, 
vergleichbar einem 'Manne, der sein Kapital ausleiht, ohne 
Zinsen davon zu nehmen, und sein samädhi wird zu einer 
„Wolke von Tugenden", welche den beglückenden Regen 
ihrer A\"ohltaten auf alle ohne Unterschied herabströmen läfst. 
i 
XVI. Der Vedänta des Qankara. 
Vorbcmerkungren. 
Die Metaphysik ist die Wissenschaft von dem Unerkenn- 
haren. Denn alles Erkennen ist und bleibt gebunden an die 
räumliche, zeitliche und kausale Ordnung der Dinge, die Meta- 
l)liysik aber erhebt ihren Blick zu dem Gebiete des Raum- 
losen, Zeitlosen, Kausalitätlosen, mithin in eine Region, welche 
dem empirischen Erkennen seiner Natur nach unzugänglich 
ist und uns völlig und für immer verschlossen bleiben würde, 
trügen wir nicht das geheimnisvolle Wesen, welches sich als 
die ganze Erscheinungswelt um uns her ausbreitet, als unser 
ureigenes, wahres Selbst, als unsern Atman in den letzten 
Tiefen des eigenen Innern. Hier es aufzufinden und von ihm 
Zeugnis abzulegen, das ist das Schwerste, was menschlicher 
Geisteskraft gelungen ist, denn es erfordert einen Grad der 
Selbstbesinnung, wie er im Orient und Occident, in der alten 
und neuern Zeit nur wenigen Sterblichen zuteil geworden ist. 
Ihre Lehren traten unter den Menschen auf wie eine Offen- 
barung, wurden von Mitwelt und Nachwelt vielfach bewundert, 
vielfach wiederholt, aber selten in ihrer Reinheit verstanden 
und festgehalten. Denn es ist dem Menschen natürlich, alles 
in die Sphäre des für ihn Begreiflichen herabzuziehen, jene 
metaphysischen Aufschlüsse in das Prokrustesbett der empiri- 
schen Anschauung einzuzwängen und dadurch zu verderben. 
Beispiele für diesen Vorgang finden sich zahlreich in der alten 
wie in der neuen Zeit. Besonders lehrreich dafür ist die Art, 
wie die metaphysischen Gedanken des Parmenides von der 
37* 
580 XVI. Der Vedänta des Qankara. 
Einheit und Unwandelbarkeit des Seienden von seinem Schüler 
Zenon und andern physisch verstanden und dadurch ver- 
unstaltet wurden, bis Piaton kam und sie in ihrem wahren 
Sinne aufzufassen lehrte. In ganz ähnlicher Weise wurden 
in Indien die Grundgedanken des Yäjnavalkya der Brihad- 
äranyaka-üpanishad schon auf dem Boden der Upanishad's 
selbst und weiterhin mehr und mehr realistisch umgedeutet 
und dadurch verfälscht. 
Drei Sätze sind es, wie oben I, 2, S. 357 fg. nachgewiesen, 
in denen die Lehre des Yäjnavalkya (was auch immer sich 
unter diesem Namen verbergen mag) gipfelte: 
1. der Atman ist unerkennbar; 
2. der Ätman allein ist real; 
3. der Ätman ist die Seele in uns. 
Diese drei Sätze, richtig verstanden, haben und behalten für 
alle Zeit den Wert unverlierbarer metaphysischer Wahrheiten. 
Denn der dritte Satz besagt, dafs das innere Wesen der Natur 
uns da allein zugänglich ist, wo diese sich uns ausnahmsweise 
von innen öffnet und einen Blick in ihre letzten Geheimnisse 
gestattet, d. h. in unserm eigenen Innern. Nicht weniger wahr 
bleibt für alle Zukunft der zweite Satz, dafs uns alles in der 
Welt immer nur als ein Phänomen innerhalb unseres Atman, 
unseres Bewufstseins gegeben ist, gegeben sein kann. Dieses 
Bewufstsein selbst aber, das Subjekt des Erkennens in uns, 
so lehrt der erste Satz, ist und bleibt unerkennbar, kann nie 
ein Objekt der Erkenntnis werden, eben weil es seinem Wesen 
nach nur Subjekt ist. 
Die genannten drei Sätze des Yäjnavalkya sind es, welche 
wir als den ursprünglichen Idealismus der Upanishad's be- 
zeichneten und dessen stufenweise, durch das Hereinbrechen 
realistischer Tendenzen bedingte Degeneration wir oben I, 2, 
S. 148 fg., S. 213 fg., S. 360 fg. verfolgt haben. Wir sahen, 
wie der Gedanke von der alleinigen Realität des Atman sich 
mit der Überzeugung von der Realität der Aufsenwelt zu 
einer Art Pantheismus verband, welcher die reale Welt mit 
dem allein realen Ätman identisch setzte, wie dann an die 
Stelle dieser unverständhchen Identität die Kausahtät gesetzt. 
Vorbemerkuugeu. 581 
\Mirde, welche den Ätmaii kosraogonistisch als Welt- 
ursache und die Welt als seine Wirkung auffafste; wie dann 
weiter die hierduix-h veranlafste Spaltung der höchsten und 
dor individuellen Seele zu einer Art Theismus führte, und 
wie endlich aus diesen noch auf dem Boden der Upanishad's 
sich vollziehenden Umwandlungen durch Absterhen der von 
der individuellen Seele getrennten und dadurch ihrer natur- 
gemäl'sen Beglaubigung beraubten höchsten Seele der nur 
noch die individuelle Seele als Purusha und die objektive 
Natur als Prakriti anerkennende Atheismus der Sähkhya- 
lehre und schliefslich der auch die Existenz des Purusha 
bezweifelnde Apsychismus der Buddhisten, wie auch der 
Materialismus der Cärväka's hervorging. 
Ebendieselbe Neigung, den idealistischen Gedanken mit 
den empirischen Anschauungsformen zu verknüpfen, führte 
auf relio-iösem Gebiete zu einer Kontamination der Atmanlehre 
mit den herrschenden Volksreligionen des Vishnuismus und 
^ivaismus, woraus die oben in der Darstellung des Mädhava 
vorgeführten vishnuitischen Systeme des Rämänuja und 
Pürnaprajna, sowie die givaitischen Systeme der Nakuli- 
^apä^upata's und Qaiva's, der Pratyabhijnä und der 
Quecksilberlehre hervorgingen (oben S. 259 fg., 284 fg., 
302 fg., 312 fg., 326 fg., 336 fg.). So wurde in Indien der 
ursprüngliche Idealismus der Atmanlehre durch das Bestreben, 
sie mit empirischen Formen zu umkleiden, im Verlaufe der 
Jahrhunderte in ähnlicher Weise verdunkelt wie in der christ- 
lichen Welt die Lehren des Neuen Testamentes durch die 
während der patristischen und scholastischen Zeit den ur- 
sprünglichen Gedanken des Christentums mehr und mehr um- 
spinnenden und trübenden Traditionen der katholischen Kirche. 
Aber wie im Abendlande ein Luther auftrat, mit eisernem 
Besen alle jene Entartungen des apostolischen Christentums 
ausfegte und bestrebt war, den christlichen Glauben nur auf 
die reine Lehre des Evangeliums zu gründen, so erstand in 
Indien schon siebenhundert Jahre vor Luther der grofse Re- 
formator Qankara (geb. 788 p. C), welcher, wie das sein 
\\'irken verherrlichende Werk fJiiHhtra-dig-vijapa, „Qankara's 
Eroberung der Himmelsgegenden", berichtet, das weite Indien 
582 XVI. Der Vedänta des ^'afikara. 
lehrend und streitend durchzog, die Irrlehren, voran die des 
Sähkhyasystems und des Buddhismus, mit einer an Luther 
erinnernden Heftigkeit aufs bitterste bekämpfte und den alten 
Brahmanismus in Indien wiederherstellte, indem er ihn nur 
auf die Qruti, d. h. auf die geheiligten Texte der Upanishad's 
gründete und der Smriti oder Tradition nur so weit Autorität 
zugestand, als sie die Upanishadlehre ergänzte, ohne derselben 
zu widersprechen. Wie für Luther die Bibel Gottes Wort 
ist, so ist für ^ankara der ganze Veda apaurusheya ^ „über- 
menschlichen Ursprungs", ist von Brahman selbst nach Brih. 
Up. 2,4,10 bei der Weltschöpfung ausgehaucht worden und 
daher in allen seinen Teilen und namentlich in den Upanishad's 
eine unantastbare, keinen Widerspruch duldende göttliche 
Offenbarung. 
Freilich war es für (^'ahkara keine leichte Aufgabe, aus 
den altern Upanishad's (denn nur diese scheint er anzu- 
erkennen) ein in sich zusammenstimmendes Ganze aufzubauen, 
da diese Texte in Theologie, Kosmologie und Psychologie 
voll der härtesten Widersprüche sind. Bald wird von ihnen 
das Wesen Gottes mit indischer, farbenreicher Phantasie aus- 
gemalt, bald heifst es wieder, das Brahman sei völlig un- 
erkennbar. Ausführlich wird in einigen Texten die Schöpfung 
der W^elt durch Brahman geschildert, und in andern heifst 
es wiederum, dafs die ganze Weltausbreitung nur eine Mäya, 
eine Illusion sei. Und ebenso wird die Seele einerseits in 
ihren Zuständen der W'anderung durch mancherlei Leiber 
verfolgt, und andererseits heifst es, dafs die ganze Seelen- 
wanderung nur zu der grofsen W^eltillusion gehöre, welche 
durch die Erkenntnis gehoben werden kann, und dafs die 
Seele in Wahrheit mit dem einen, ewigen, unwandelbaren 
Brahman identisch sei. 
In diesen Verlegenheiten hat (^ahkara einen Ausweg 
gefunden, welcher alle Schwierigkeiten löst und für ähnliche 
Verhältnisse als vorbildlich zu gelten geeignet ist. Er unter- 
scheidet eine exoterische, theologische, für die Fassungskraft 
der Menge berechnete und eine esotherische, philosophische, 
den strengsten Anforderungen des Denkens genügende Lehre, 
oder, wie er gewöhnlich sagt, eine niedere Wissenschaft 
Vorbemerkungen. 583 
(apara ridifd), welche unter ihrem weiten Mantel alle jene 
phantastischen Schilderungen von dem Wesen des Brahman, 
von der Weltschöpiung und der Seelenwanderung befafst, und 
eine höhere Wissenschaft (2>arä vi(h/d), welche in der 
Theologie die Unerkennbarkeit des Brahman, in der Kosmo- 
logie die Nicht -Ivealität der Welt und in der Psychologie die 
Identität der Seele mit Brahman lehrt, somit zu jenen drei 
Sätzen zurückgreift, welche wir oben als die drei Grund- 
gedanken des Yajnavalkya hervorhoben, und welche den 
eigentlichen Kern des in den ältesten Upanishadtexten vor- 
herrschenden Idealismus ausmachen. In ihnen liegt nach 
(j'ahkara die ewige Wahrheit beschlossen, alles übrige erklärt 
er aus einer Akkommodation des Veda an die Fassungskraft 
der Menschen, nur dafs diese Akkommodation nach ihm eine 
bewufste ist, während es in Wahrheit vielmehr die auf das 
empirische Gebiet beschränkte Fassungskraft der Menschen 
ist, welche jene metaphysischen Wahrheiten in den Bereich 
des für sie Verständlichen herabgezogen haben. 
So gelang es dem (^ankara, ein theologisch-philosophisches 
Lehrgebäude zu errichten, w^elches in seinen beiden Formen 
gleicherweise der Fassungskraft der Menge wie den Anforde- 
rungen des philosopliischen Denkens Genüge leistet und in 
Indien bis auf den heutigen Tag die Grundlage des geistigen 
Lebens für alle diejenigen bildet, welche das Bedürfnis emp- 
iinden, ihr religiöses Fühlen mit ihren philosophischen Über- 
zeugunü;en in Einklang zu bringen. Allerdings ist die Form, 
in welcher Qaiikara seine Gedanken entwickelt hat, eine für 
uns ungewohnte. Wie für die fünf übrigen orthodoxen Systeme, 
so bestand auch für den Vedanta eine Sammlung von 555 Sütra's, 
welche unter dem Xamen des nach Zeit und Lebensumständen 
gänzlich unbekannten BMaräyava von lange her für den Ve- 
danta als Lehrbuch für den Schulbetrieb gedient haben mögen 
und bei ihrer Kürze und Vieldeutigkeit der Vedän talehre in 
ihren verschiedenen realistischen Schattierungen eine geeignete 
Unterlage boten, wie uns dies schon oben (S. 276 fg., 298 fg.) 
wiederholt entgegengetreten ist. An diese Sütra's des Vedanta 
knüpft (^'ankara seine philosophischen Erörterungen in einem 
weitläufigen Kommentare, welcher unter dem Xamen (Järlralca- 
584 XVI. Der Vedänta des (^ankara. 
hhaslnjam als das eigentliche Hauptwerk der ganzen indischen 
Philosophie bis auf den heutigen Tag in Indien das gröfste 
Ansehen geniefst, so dafs 3Iadhnsüdana-Sarasvaü (zwischen 
1300 und 1600 p. C.) in seiner oben I, 1, S. 44—64 mitgeteilten 
Übersicht über die philosophische Literatur der Inder von 
den Vedänta-Sütra's sagen konnte (oben I, 1, S. 58): „Dieses 
Lehrbuch ist unter allen das hauptsächlichste; alle andern 
Lelirbücher dienen nur zu seiner Ergänzung. Darum sollen 
es hochhalten, die nach Erlösung verlangen; und zwar in der 
Auffassung, wie sie von des erlauchten ^ankara verehrungs- 
würdigen Füfsen dargelegt worden ist." — Hiermit stimmt 
auch Mudhava im Sarra-dargana-samgraha überein, wenn er 
in seiner im allgemeinen vom Schlechtem zum Bessern auf- 
steigenden Übersicht dem Systeme des ^ankara die letzte und 
somit höchste Stelle zuerkennt. Doch findet sich bei ihm 
keine Darstellung dieses Systems ; vielmehr beschliefst er nach 
Abhandlung des Yogasystems als fünfzehnten sein Werk mit 
den Worten: ,,Das noch höher als dieses stehende System 
des ^ankara, welches die Krone aller philosophischen Systeme 
bildet, ist an einem andern Orte behandelt worden, daher wir 
hier von demselben absehen." 
Auch wir könnten uns mit den Worten des Mädhava 
einer Darstellung der Lehre des Qahkara hier für überhoben 
erachten, da wir das, was wir für die beiden nächstwichtigen 
Systeme, das Sänkhyam und den Yoga, durch Übersetzung 
der Hauptquelle und nachfolgende systematische Darstellung 
getan haben, für den Vedänta des Qankara schon vordem in 
zwei umfangreichen Werken zu leisten bemüht gewesen sind, 
nämlich in unsern den vollständigen Kommentar des Qankara 
in deutscher Übersetzung darbietenden „Sütra's des Vedänta" 
(Leipzig 1887) und in unserm die Philosophie des ^ahkara 
bis in alle Einzelheiten hinein verfolgenden „System des 
Vedänta" (2. Aufl., Leipzig 1906). Indessen fordert schon der 
Anspruch auf Vollständigkeit eine wenn auch gedrängte, so 
doch alle wesentlichen Punkte der Lehre des Qankara be- 
handelnde Übersicht, und diese können wir auch heute noch 
nicht mit bessern Worten geben als denjenigen, welche wir 
in der dem „System des Vedänta" angehängten und mehrfach 
Vorbemerkungen. 535 
Ix'ifällig aufgenommenen* „Kurzen Übersicht der Vedänta- 
lehre*' g<'l)raucht haben, daher wir sie hier mit den zum 
\'tM'ständnis erl'orderHchen Ergänzungen dem Leser nochmals 
vor Augen stellen wollen. 
* Zwei Übersetzungen dieser kurzen Übersicht ins Englische sind in 
Indien und Amerika erschienen unter dem Titel: „Ä short account of the 
Veihinta Fhilosophy, according to Shatikara, translated from Dr. Deussen's 
System des Vedänta hij A. W. Smart" (Madras 1897) und: „Outline of the 
VeduHta- System of Pfiilosophij, according to Shanka7-a hy Paul Deussen, 
translated by J. W. Woods and (\ B. Runkle'' (New York 1906). 
Das Vedäntasystem 
nach den Sütra's des Bädaräyana und dem 
Kommentar des Caiikara über dieselben. 
1. Einleltunff. 
oriind- § 1- Der Grundgedanke des Vedänta, wie er sich am 
^vecuinta.'^'' kürzesten in den vedischen Worten: iai ivam asi, „das bist 
du'' (Chänd. 6,8,7, S. 166*), und aham hraJima asmi, „ich 
bin Brahman" (Brih. 1,4,10, S. 395), ausspricht, ist die 
Identität des Brahman und der Seele, welche besagt, 
dafs das Brahman, d. h. das ewige Prinzip alles Seins, die 
Kraft, welche alle Welten schafft, erhält und wieder in sich 
zurückzieht, identisch ist mit dem Atnian, dem Selbste oder 
der Seele, d. h. demjenigen an uns, was wir bei richtiger 
Erkenntnis als unser eigentliches Selbst, als unser inneres 
und wahres Wesen erkennen. Diese Seele eines jeden unter 
uns ist nicht ein Teil, ein Ausflufs des Brahman, sondern 
voll und ganz das ewige, unteilbare Brahman selbst. 
Wider- § 2. Dieser Satz widerspricht der Erfahrung (vyavahära), 
EriahrVng'! wclchc uiclit jcuc Einheit, sondern eine Vielheit (nänäfvani), 
eine Ausbreitung (prapahca) von Namen und Gestalten [näma- 
rüpe, d. h. Eindrücken des Ohres und des Auges, Sinnes- 
* Die Seitenzahlen hier und im folgenden beziehen sich bei Upanishad- 
zitaten auf unsere Übersetzung der „Sechzig Upanishad's" (Leipzig 1897; 
2. Aufl. 1905), bei Zitaten aus (jankara auf unsere Übersetzung der ,,Süti a's 
des Vedänta nebst dem Kommentare deS Tankara" (Leipzig 1887). 
n 
1. Eiuleitiinsj. 587 
rindrückcn) und als oinon Teil derselben unser Selbst in Ge- 
stalt unseres entstandenen und ver<iänglich('n Leibes aufweist. 
i< 3. Ebenso aber widerspricht das Grunddogma des Ve- wider- 
(lanta dem Kanon des vedischen Ritualgesetzes, welcher zwar wcrk- 
t'in Fortbestehen ( ri/atirclcd) des Selbstes über den Leib hinaus ^^^^ ^^*- 
lehrt, aber eine Vielheit individueller, von Brahman verschie- 
dener Seelen annimmt, die, in unaufhörlicher Wanderung 
(■'iamsara) begrifien, nach dem Tode des Leibes immer wieder 
in einen neuen Leib eingehen, wobei die Werke (Jcarmcm) 
des jedesmaligen Lebens das nächstfolgende Leben und. seine 
Beschati'enheit mit Notwendigkeit bedingen. 
§ 4. Beide, die Erfahrung, wie sie das Resultat der Nicht- 
weltlichen Erkenntnismittel (pramänam) — ^ Wahrnehmung (pra- wissen. 
fi/((J:shnm), Folgerung (anumänam) usw. — ist, und der vedische 
(lesetzeskanon mit seinen Geboten und Verboten, Verheifsungen ' 
und Drohungen, beruhen auf einer falschen Erkenntnis (mithyä- 
JinlDnini), einer angeborenen Täuschung (hJn-äufi), welche Avidyä^ 
das Nichtwissen, heifst, und deren Aussagen, vergleichbar den 
Bildern des Traumes, nur so lange wahr sind, bis das Er- 
wachen eintritt. Näher besteht diese angeborene Avidyä darin, 
dafs der Atman, die Seele, das Selbst, nicht imstande ist, 
sich zu unterscheiden von den UjxldJirs oder Bestimmungen 
(<i. h. von dem Leibe, den psychischen Organen und den 
Werken), mit denen die Seele umkleidet ist, und von welchen 
nur ein Teil, der Leib, im Tode zunichte wird, während die 
übrigen die Seele auf ihrer Wanderung begleiten. — Dieser 
Avidyä steht gegenüber die Vidyä, das Wissen, auch die 
universelle Erkenntnis (sainyagdarccümm) genannt, vermöge 
deren der Atman sich von den UpädJiTs unterscheidet und 
dieselben als auf der Avidyä beruhend, als ein Blendwerk 
(mäyä) oder einen Wahn (abhiniäua), sich selbst aber als 
identisch mit dem einen, zweitlosen, alles in sich begreifenden 
Brahmun erkennt. 
§ 5. Das Samyagdarganam, die universelle (von allen Seiten Queiie des 
m emen Punkt auslaufende) Erkenntnis kann weder durch die 
weltlichen Erkenntnismittel {pratyaksham, anumänam usw.) her- 
vorgebracht, noch von dem vedischen Gesetzeskanon als Pflicht 
geboten werden, weil beide in der Avidyä wurzeln und über 
588 Das Yedäütasystem. 
diese nicht hinausführen. Die einzige Quelle der Vidyä ist 
vielmehr die Offenbarung, die ^ruü (was wir, nicht ganz 
passend, „die Schrift" zu übersetzen pflegen), d. h. der Veda, 
und zwar der neben dem Werk teile (harma-Tiända) bestehende 
Erkenntnisteil (jnäna-kända) desselben, welcher einzelne, 
durch Mantras und Brdhmana's, zerstreute Abschnitte, nament- 
lich aber die Schlufskapitel der letztern, den unter dem 
Namen U2)anishad's bekannten Vedänta (Veda-Ende) befafst. — 
Der ganze Veda ohne Unterschied von Werkteil und Er- 
kenntnisteil, also die Gesamtheit der Mantra's (Hymnen und 
Sprüche) und Bndimana's (theologische Erklärungen) nebst 
den UpanisJiad^s, ist götthchen Ursprungs, wird von Brahman 
„ausgehaucht" und von den menschlichen Verfassern (rishi's) 
desselben nur „geschaut". Die Welt mitsamt den Göttern 
vergeht, der Veda aber ist ewig; er überdauert den Welt- 
untergang und besteht im Geiste des Brahman fort; ent- 
sprechend den Worten des Veda, welche die ewigen Urbilder 
der Dinge enthalten, werden zu Anfang jeder Weltperiode 
die Götter, Menschen, Tiere usw. von Brahman geschaften, 
worauf denselben der Veda durch Exspiration oftenbart wird, 
der Werkteil als ein Kanon des auf Glück (ahhyudaya) ab- 
zweckenden Handelns, der Erkenntnisteil als Quelle des 
Sami/agdarganam, dessen einzige Frucht Seligkeit (nihrreyasam), 
d. h. die Erlösung ist. — Nicht erreichbar ist die universelle 
Erkenntnis durch die Reflexion (tarka), und ebensowenig durch 
die Tradition oder Smriti (die vedischen Sütra's, Kapila, Manu, 
das Mahäbharatam u. a. befassend) ; beide, Reflexion und Smriti, 
können nur in sekundärem Sinne als Quelle der Wahrheit 
gelten, sofern sie, auf den Veda gerichtet, bemüht sind, seine 
Oftenbarung aufzuhellen und zu ergänzen. 
2. Theologie. 
Höhere § 6. Das Ziel des Menschen (imnisha-artha) ist die Er- 
" Vissen"^ lösung (mol'sha), d. h. das Aufhören der Seelenwanderung 
Schaft, ^samsära); die Erlösung der Seele von der Umwanderung aber 
wird dadurch vollbracht, dafs man sein eigenes Selbst (ätman) 
als identisch erkennt mit dem höchsten Selbste (parama-äiman), 
2. Theologie. 589 
(1. h. dorn llrahman. Der ganze Inhalt der Vidyä ist somit 
Erk(Mintnis des Aiiuan oder Brahman (b«ndes sind Wechsel- 
b<\2:rit!e). — Es gibt aber zwei Wissenschaften von Braliman: 
die höhere Wissenschaft (parä vidi/u), deren Ziel das 
S<i»ii/(i(i(l<ire<(nin}i. und deren einzige und einartige Frucht die 
Erlösung ist, und die niedere Wissenschaft (((jyträ vkhjä), 
die nicht auf die Erkenntnis, sondern auf die Verehrung 
(NpasoHd) des Brahman abzielt, und die als Frucht, je nach 
den Graden dieser Verehrung, teils Gedeihen der Werke 
(hirmü-s(nnri(Jdhi), teils Glück [ahlnindana, himmlisches, viel- 
leicht auch solches in der folgenden Geburt), teils endlich 
Kniin(t))udii, d.h. Stufenerlösung, bringt. — Der Gegenstand der 
höhern Wissenschaft ist das höhere Brahman (pammhralima), 
der der niedern das niedere Brahman (nparam brahrnd). 
§ 7. Die Schrift nämlich unterscheidet zwei Formen Höheres 
(rupr) des Brahman: das höhere, attributlose (param, mV- "ßrahman. 
fixuam) und das niedere, attributhafte (aparam, sagunam) 
Brahman. In ersterm Sinne lehrt sie, dafs das Brahman ohne 
alle Attribute (ff/oia), Unterschiede (vi^esJia), Gestalten (akära) 
und Bestimmungen (upädlii) ist, — in letzterm legt sie dem 
Brahman, zum Zwecke der Verehrung, mancherlei Attribute, 
Unterschiede, Gestalten und Bestimmungen bei. 
S 8. Ein und derselbe Gegenstand kann nicht attributhaft unterschied 
" 1 • • 1 \ derselben. 
und attributlos, gestaltet und gestaltlos sem; an sich (svatas) 
ist daher das Braliman ohne alle Attribute, Gestalten, Unter- 
schiede und Bestimmungen, und dieses höhere Brahman wird 
zum niedern dadurch, dafs ihm das Nichtwissen (avidyä), 
zum Zwecke der Verehrung, die Bf^stimmungen oder Upädhts 
beilest. Das Behaftetsein des Brahman mit den Upddhfs ist 
nur eine Täuschung (hlirama), so wie es eine Täuschung ist, 
einen Kristall für in sich rot zu halten, weil er mit roter 
Farbe bestrichen ist. Wie die Klarheit des Kristalls nicht 
durch die rote Farbe, so wird das Wesen Brahman's nicht 
durcli die Bestimmungen verändert, welche ihm das Nicht- 
wissen beilegt. 
S 9. Das höhere Brahman ist seinem Wesen nach unerkenn- 
ö 1 • n barkeit 
attributlos fuinntnam), gestaltlos (niräMram), unterschiedlos des hohem 
1 • -> 77 -7 ü • i Brahman. 
(nirvigesham) und bestimmungslos (mrnpadlukam). i^s ist 
590 Das Yedäntasystem. 
„nicht grob und nicht fein, nicht kurz und niclit lang'' usw. 
(Brih. 3,8,8, S. 445); „nicht hörbar, nicht fühlbar, nicht ge- 
staltet, unvergänglich'-' (Käth. 3,15, S. 278); es ist „nicht so 
und nicht so" {neti, neti, Brih. 2,3,6, S. 414) ; d. h. keine Ge- 
stalt und keine Vorstellung entspricht seinem Wesen. Dem- 
nach ist es „verschieden von dem, was wir kennen und von 
dem, was wir nicht kennen" (Kena 1,3, S. 205); „die Worte 
und Gedanken kehren vor ihm um, ohne es zu finden" (Taitt. 2,4. 
S. 230); und der weise Bähva beantwortete die Frage nach 
seinem Wesen durch Schweigen.* 
Wesen des § 10. Das einzige, was sich von dem attributlosen Brah- 
Brahman. man aussagcu läfst, ist, dafs es nicht nicht -ist. Insofern ist 
es das Seiende (sat); fafst man aber diesen Begriff in em- 
pirischem Sinne, so ist Brahman vielmehr das Nichtseiende. — 
Weiter bestimmt die Schrift das Wesen des Brahman dahin, 
dafs, wie der Salzklumpen durch und durch salzigen Ge- 
schmacks, so das Brahman durch und durch Geistigkeit 
(Intelligenz, caitamjam) ist. Hiermit sind nicht zwei Merkmale 
(eine Vielheit) an Brahman gesetzt, weil beides identisch 
ist, sofern das Wesen des Seins in der Geistigkeit, das der 
Geistigkeit in dem Sein besteht. Die Wonne, änanda [welche 
der spätere Vedänta als drittes Prädikat in dem Namen Saccid- 
änanda dem Brahman beilegt], wird gelegentlich als eine 
Bestimmung des attributlosen Brahman anerkannt, bleibt aber 
bei Besprechung seines Wesens unerwähnt, vielleicht, weil 
auch sie als eine blofs negative Eigenschaft, als die Schmerz- 
losigkeit betrachtet wird, welche dem Brahman allein zu- 
kommt, denn „was von ihm verschieden, das ist leidvoll" (aio 
'vyad ärtam), wie die Schrift (Brih. 3,4,2, S. 436) sagt, 
innewer- § 11. Die ünerkennl)arkeit des attributlosen Brahman 
se"Lbfa als bcruht darauf, dafs es das innere Selbst (antar-ätman) in allem 
der Seele. 
* Cankara zu Brahma -Sütram ILI, 2,17 p. 808, S. 524 unserer Über- 
setzung: „Als Bähva von dem Väshkali befragt wurde, da erklärte dieser 
ihm (las Brahman dadurch, dafs er schwieg, wie die Schrift erzäblt. Und 
et- sprach: «Lehre mir, o Ehrwürdiger, das Brahman.» Jener aber S(;hwieg 
stille. Als nun der andere zum zweiten Male oder dritten Male fragte, da 
sprach er: «Ich lehre dir es ja, du aber verstehst es nicht ; dieser Atman 
ist stille (iqja{'äntu 'yarn dtina).n^'- 
2. Theologie. 591 
ist; als solches ist es einerseits das Gewisseste von allem 
und kann von niemandem J2;eleugnet werden, andererseits aber 
unerkennbar, weil es bei allem Erkennen als Subjekt (sälshin) 
fun.o-iert, somit niemals ()l)jt'kt werden kann. — Doch wird 
es vom Weisen im Zustande des Saniradhaiiam (der Voll- 
befriediguns;), welcher in einem Zurückziehen der Organe von 
allem Äufserlichen und in einer Konzentration auf die eigene 
Innerlichkeit besteht, geschaut. In dem Bewufstsein, dieses 
attril)utlose Brahman zu sein, und der dasselbe begleitenden 
Überzeugung von der Nichtigkeit aller Vielheit der Namen 
und Gestalten beruht die Erlösung. 
S 12. Das höhere Brahman wird dadurch, dafs man ri^s niedere 
o lirahman. 
es mit reinen (vicuddha) oder vollkommenen (mraüfjaya) Be- 
stimmungen verbindet, zum niedern Brahman (aparam 
hyahma). Ein solches ist überall da zu erkennen, wo die 
Schrift dem Brahman irgendwelche Bestimmungen, Attribute, 
Gestalten oder Unterschiede beilegt. Es geschieht dies zum 
Zwecke nicht der Erkenntnis, sondern der Verehrung (upäsanä), 
und die Frucht dieser Verehrung ist, so wie die der Werke, 
mit denen sie in eine Kategorie zu stellen ist, nicht Erlösung 
(moJisha, nilirreyasam), sondern Glück (ahhijudcuja), vorwiegend, 
wde es scheint, himmlisches, jedoch auf den Samsära be- 
schränktes ((^'ankara p. 148,5, Übersetzung S. 73), wiewohl die 
durch die Verehrung des niedern Brahman nach dem Tode 
auf dem Wege des Götterweges (dcvayäna) erreichte himm- 
lische Herrlichkeit ( airvuryam) vermittelst der Kramanitikti 
oder Stufenerlösung zur universellen Erkenntnis und somit 
A'ölligen Erlösung überleitet. Zunächst aber ist dies nicht der 
Fall, weil die Verehrer des niedern Brahman das Nichtwissen 
noch nicht völlig verbrannt haben. Dasjenige nämlich, was 
dem höhern Brahman die Bestimmungen beilegt und es da- 
durch zum niedern Brahman macht, ist das Nichtwissen. Die 
Natur des Brahman wird von diesen Bestimmungen so wenig 
verändert wie (nach dem schon erwähnten Bilde) die Klarheit 
des Kristalls durch die Farbe, mit der er bestrichen ist; wie 
die Sonne durch die im Wasser sich bewegenden Sonnen- 
bilder, wie der Raum durch die in ihm verbrennenden oder sich 
bewegenden Körper. — Die reich entwickelten Vorstellungen 
592 I^as Vedäntasystem. 
über das niedere Brahman kann man in drei Gruppen teilen, 
je nachdem sie Brahman pantheistisch als Weltseele, oder 
psychologisch als Prinzip der Einzelseele, oder theistisch 
als persönlichen Gott auffassen. 
Das niedere § 13. Die wiclitigstcn Stellen der ersten Gruppe sind 
wVi™eeie!^ Chänd. 3,14, wonach Brahman „allwirkend, allwünschend, 
allriechend, allschmeckend [das Prinzip alles Handelns und 
sinnlichen Wahrnehmens], das All umfassend, schweigend, 
unbekümmert" heifst (S. 109); und Mund. 2,1,4, wonach Mond 
und Sonne seine Augen, die Himmelsgegenden die Ohren, der 
Wind sein Hauch usw. sind (S. 551). Ferner gehört hierher 
Brahman als die Quelle alles Lichtes (Käth. 5,15, S. 284); als 
das Licht jenseits des Himmels und im Herzen (Chänd. 3,13, 
S, 108); als der Äther, aus dem die Wesen hervorgehen 
(Chänd, 1,9,1, S. 79), der die Namen und Gestalten auseinander- 
dehnt (Chänd. 8,14, S. 202); als das Leben, aus dem die Wesen 
entspringen (Chänd. 1,11,5, S. 82), in dem die ganze Welt 
zitternd geht (Käth. 6,2 — 3, S. 284); als der innere Lenker 
{antanjämin, Brih. 3,7,3 fg., S. 440) ; als das Prinzip der Welt- 
ordnung: die Brücke, welche diese Welten auseinanderhält, 
dafs sie nicht verfliefsen (Brih. 4,4,22, S. 479), durch welche 
Sonne und Mond, Himmel und Erde, Minuten, Stunden, Jahre 
und Tage auseinandergehalten stehen (Brih. 3,8,9, S. 445); 
endlich als der Weltvernichter, der alles Erschaffene in sich 
herabschlingt (Käth. 2,25, S. 275). 
Das niedere § 14. Mit dcr räumlichcn Gröfse, die sich in diesen Vor- 
E'i'nz™'seeLf Stellungen ausspricht, wird häufig in Kontrast gesetzt die Klein- 
heit, die dem Brahman als psychischem Prinzipe zukommt; 
als solches wohnt es in der Burg des Leibes (Pra^na 5,5, 
S. 570), in dem Lotos des Herzens (Chänd. 8,1,1, S. 189), als 
Zwerg (Käth. 5,3, S. 282), eine Spanne grofs (Chänd. 5,18,1, 
S. 150 fg.), zollhoch (Käth. 4,12, S. 281), kleiner als ein Hirse- 
korn (Chänd. 3,14,3, S. 110), einer Ahle Spitze grofs (gvet. 5,8, 
S. 305), als Lebensprinzip (Kaush. 3,2, S. 43; Kaush. 4,20, 
S. 57 fg.), als Zuschauer (Mund. 3,1,1, S. 555); auch als der 
Mann im Auge (Chänd. 1,7,5, S. 77; Chänd. 4,15,1, S. 128) usw. 
Das niedere § 15. Dicsc attributhafteu Vorstellungen des Brahman 
persimiicher gipfclu ui dcr Auffassuug desselben als Igvara, d. h. als persön- 
Gott. 
2. Theologie. 593 
liclion Gottes. In don Upnnislui(r>: findet sich diese An- 
sdiauung verhältnismärsig selti>n und weniger entwickelt 
(z. B. iqa 1, S. 524; Brih. 4,4,22, S. 479; Kaush. 3,H, S. 51; 
Kiith. 4,12, S. 281); im Systeme des Vedänta hingegen spielt 
sie eine wichtige Rolle: der irvara ist es, durch dessen Be- 
wilhgung der Samsara, und durch dessen Gnade (prasäda, 
aiiKfiraha) die erlösende Erkenntnis bedingt wird; er verhängt 
über die Seele sowohl ihr \Virken, als auch ihr Leiden, in- 
dem er die Werke des vormaligen Lebens dabei berücksichtigt 
und aus ihnen das Schicksal des neuen Lebens ebenso hervor- 
gehen läfst wie der Regen aus dem Samen und seiner Be- 
schaffenheit o-emäfs die Pflanze. Ausdrücklich aber wird die 
Personifikation des Brahman als Igvara, Herr, welchem die 
Weh als das zu Beherrschende gegenübersteht, auf den im 
Nichtwissen wurzelnden Standpunkt des Welttreibens be- 
scliränkt, welches im höchsten Sinne keine Realität hat.* 
3. Kosmologie. 
§ 16. Der Duplizität der Wissenschaften aparä und parä Der empiri- 
viäyä in der Theologie und (wie wir sehen werden) Eschato- metJ^Thysi-' 
logie entspricht für das Gebiet der Kosmologie und Psycho- ^"^''p^u^'i?'^" 
logie die Duphzität zweier Standpunkte: des empirischen 
Standpunktes {vijnvahäm-avasihä, wörtlich: Standpunkt des 
Welttreibens), welcher eine Schöpfung der Welt durch Brah- 
man und eine Wanderung der mit den Upädhi's bekleideten 
und dadurch individuellen Seele lehrt, und des metaphysi- 
schen Standpunktes [paramäriha-avasthä , wörtlich: Stand- 
punkt der höchsten Realität), der die Identität der Seele mit 
Brahman behauptet, jede Vielheit bestj:eitet und somit weder 
die Schöpfung und Existenz der Welt, noch die Individualität 
und Wanderung der Seele gelten läfst. — Zum Nachteile der 
* fjankara p. 456, Übersetzung S. 288: In dieser Weise wird gelehrt, 
dafs auf dem Standpunkte der höchsten Realität das Treiben von Herrschendem 
und zu Beherrschendem nicht stattfindet; für den Standpunkt des Welt- 
treibens hingegen lehrt auch die Schrift das Treiben von Herrschendem usw., 
wenn sie sagt: „er ist der Herr der Welt, er ist der Gebieter der Wesen, 
er ist der Herr der Wesen usw." (Brih. 4,4,22i. 
D BUSSEN, Geschichte der Philosophie. I, ni. OO 
594 Das Yedäntasystem. 
Klarheit und Konsequenz wird diese Zweiheit der Standpunkte 
in Kosmologie und Psychologie niclit überall streng gewahrt. 
Das System stellt sich im allgemeinen auf den metaphysischen 
Standpunkt und vernachlässigt den empirischen, ohne doch 
demselben seine relative Berechtigung abzusprechen und ab- 
sprechen zu können, weil er für die aparä vidyä der Eschato- 
logie die unentbehrliche Voraussetzung ist. Demzufolge wird 
in der Kosmologie die Schöpfung der Welt zwar sehr aus- 
führlich und in realistischer Haltung behandelt, zwischendurch 
aber erscheint immer wieder die Behauptung, diese Schriftlehre 
von der Schöpfung hal)e nur den Zweck, das Brahmansein der 
\Velt zu lehren, und zur Stütze derselben wird der Begriff 
der Kausalität m den der Identität umgedeutet; und in der 
Psychologie steht durchweg die metaphysische Lehre der 
Identität von Brahman und Welt im Vordergrande und wird 
einem Gegner gegenüber verteidigt, welcher im allgemeinen 
den für die Eschatologie des Systems unentbehrlichen em])iri- 
schen Standpunkt vertritt, dann aber auch (z. B. in der Be- 
hauptung eines Entstandenseins der Seele) von demselben 
abweicht, so dafs die bedingte Anerkennung und Aneignung 
seiner Argumente nur einen Teil derselben betrifft, und eine 
klare Durchführung der empirischen Psychologie vermifst wird. 
Doch läfst sich, durch Kombination gelegentlicher und zer- 
streuter Aufserungen, ein gesichertes Bild auch für diese Seite 
des Systems gewinnen. 
Beziehung § 1^- ^^^' Zusammenhang mag lehren, dafs die j^ara vidyä 
'^Wissen-'' iii Theologie und Eschatologie mit der paramäriha-avasthä in 
^^en^belden Kosmologio uud Psycliologic ein unzerreifsbares Ganze der 
u*ukttn Metaphysik bildet, und dafs andererseits ebenso die cqmrä vidyä 
der Theologie und Eschatologie mit der vyavahära-avasthä der 
Kosmologie und Psychologie sich zusammenschliefst zu einem 
Gesamtbilde der Metaphysik, wie sie auf dem empirischen 
Standpunkte der Avidgä (d. h. des angeborenen Realismus) sich 
darstellt und ein System der Volksreligion ausmacht zum Ge- 
brauche für alle diejenigen, welche sich zum Standpunkte der 
Identitätslehre nicht zu erheben vermögen. — Und zunächst 
ist deutlich, dafs nur ein niederes, nicht ein höheres Brah- 
man als Schöpfer der Welt gedacht werden kann, schon, weil 
3. Kosmologie. 595 
zum Scliafi\'n, wie wiederholt ]iervor<i;ehol)en wird, eine Viel- 
lieit von Kräften gehihf, eine solche aber nur dem ajxo'ain 
hrahmii beigelegt werdtMi kann, wie denn auch die Stelle, aus 
der eiiie solche Vielheit der Schöpferkräfte erwiesen wird: 
,, allwirkend ist er, allwünschend, allriechend, allschmeckend" 
(Chand. o,14,*2, S. 109), andererseits mit Vorliebe als Beleg- 
stelle für die Lehre vom niedern Brahman verwendet wird. 
i^ 18. Nach den l'panishad's schafft Brahman die ^^'elt weit- 
und geht dann vermittelst der individuellen Seele (anena jivena 
utmauä) in dieselbe ein (Chänd. 0,3,2, S. IGl; Taitt. 2,ß, S. 231; 
Brih. 1,4,7, S. 394; Kaush. 4,20, S. 57). Weder von einer 
Existenz der individuellen Seele vor der Schöpfung, noch von 
einer periodisch wiederholten Schöpfung ist dabei die Rede. — 
In dieser xVuffassung liegen die Keime der empirischen und 
der metaphysischen Vedantalehre noch unentwickelt neben 
einander: metaphysisch daran ist die Identität der Seele mit 
Brahman, empirisch die Ausbreitung der Sinnen weit. Im 
Vedäntasysteme tritt beides aus einander: metaphysisch 
haben wir Identität der Seele mit Brahman, aber kein Ent- 
stehen, Bestehen und Vergehen der W^elt; empirisch hin- 
gegen eine Weltschöpfung, aber keine Identität des Brahman 
und der Seele; vielmehr besteht die individuelle Seele mit- 
samt den Upädhi's, die sie zu einer solchen machen, von 
Ewigkeit her und wandert (von der Erlösung abgesehen) aus 
einem Leibe in den andern in alle Ewigkeit hinein: das Dogma 
der Weltschöpfung aber wdrd umgebildet zu einer periodisch 
abwechselnden Ausbreitung der Welt aus Brahman und Zurück- 
ziehung derselben in Brahman, beides nicht einmal, sondern 
unzählige Male die unendliche Zeit durch sich wiederholend. 
Die Seelen wie die Elemente bestehen bei der Zurückziehung 
der Welt in Brahman potentiell, der Samenkraft nach fort 
und gehen bei jeder Neuschöpfung unverändert wieder aus 
demselben hervor. Hiermit ist der ursprüngliche Sinn der 
Schöpfungslehre gänzlich verlassen; dieselbe wird, in der 
* (;ankara p. 486,10, Übersetzung S. 308: „Aus dem Brahman, wiewohl 
es eines ist, wird die mannigfache Ausbreitung der Umwandlungen möglich, 
weil dasselbe mit mancherlei Kräften verbunden ist." 
38* 
596 I^^s Vedäntasystem. 
angedeuteten Umformung, festgehalten, weil sie der Veda nun 
einmal lehrt; im Systeme liegt kein Motiv für eine Welt- 
schöpfung, sondern vielmehr für ein ewiges Bestehen der 
Welt, an dessen Stelle (der Autorität der Schrift zuliebe) die 
periodische Schöpfung und Reabsorption tritt, die sich nun 
aber ohne Aufhören wiederholen mufs und den Bestand der 
Welt nicht alterieren darf, um jener vom Systeme geforderten 
ewigen Existenz zu genügen, welche, wie wir sehen werden, 
auf einer moralischen Notwendigkeit beruht. 
Anfang- ^19. Die Grundanschauung der empirischen Kosmologie 
losigkeit der it-» ^ i • • , i- i i> i • ^ • i i c^ \ 
Welt, und rsychologie ist die Aniang losigkeit des Samsara 
(der Seelenwanderung). Von Ewigkeit her besteht, von Brah- 
man getrennt, eine Vielheit individueller Seelen. Was sie von 
Brahman (mit dem sie in metaphysischem Sinne identisch sind) 
unterscheidet, das sind die U2^(M]ii's, mit denen sie umkleidet 
sind, und worunter, aufser den der Seele anhaftenden Werken, 
die psychischen Organe (mdrii/a''s, manas, muTxhya jyräna), der 
dieselben tragende feine Leib (sühslmunn gartrom) und, in 
weiterm Sinne, gelegentlich auch der grobe Leib nebst den 
Aufsendingen verstanden werden. Nur der grobe Leib wird 
mit dem Tode zunichte; der feine Leib hingegen mitsamt 
den psychischen Organen besteht als das Gewand der Seele 
von Ewigkeit her und begleitet dieselbe auf allen ihren Wan- 
derungen. Weiter aber wird die wandernde Seele begleitet 
von den Werken (rituellen und moralischen), die sie während 
des Lebens begangen hat, und diese eben sind es, welche den 
Samsära zu keinem Stillstande kommen lassen. Denn jedes 
Werk, das gute wie das böse, erfordert seine Vergeltung und 
als diese Lohn und Strafe nicht nur im Jenseits, sondern 
aufserdem noch in Gestalt eines folgenden Daseins. Ohne 
Werke ist kein menschliches Leben denkbar; folglich auch 
kein solches, auf welches nicht ein anderes alB seine Sühne 
folgte. Sehr gute Werke bedingen ein göttliches, sehr böse 
ein tierisches und pflanzliches Dasein ; wenn die " Seele in 
diesen auch keine Werke verrichtet, so schützt sie dies doch 
nicht vor einem abermaligen Geborenwerden, indem Werke 
von hervorragender Güte oder Bosheit zu ihrer Sühne mehrere 
Lebensläufe nach einander erfordern. Hierauf beruht es, dafs 
3. Kosmologie. 097 
der Sainsara durch alle Sphären der Existenz von den Göttern 
bis herab zur Pflanze ohne Anfang und (falls nicht der 
Samen der Werke durch das Wissen verbrannt wird) ohne 
Ende ist. 
^ 20. Die Ausbreitung der Sinnemvelt (numarupa-prn- Moralische 
IHuun) ist ihrem Wesen nach nichts weiter als die der Seele keit .ler 
aufgebürdete {adhuaropita, p. 105G,1. Ilo2,10) Frucht ihrer i.reltung. 
\\'erke; die Welt ist, wie die häutige Formel lautet, l-r'njä- 
l-äral-a-jjhalam, „N'ergeltung der Tat am Täter"; sie ist hhogt/ani 
(das zu Geniefsende), während die Seele in ihr hholdri (Ge- 
niefser) und andererseits hartri (Täter) ist; beides mit Not- 
wendigkeit und genau entsprechend ihrem kartritvam (Täter- 
sein) in dem vorhergehenden Dasein. Der Vermittler zwischen 
dem Werke und seiner Frucht (welche Tun und Leiden des 
folgenden Daseins begreift) ist nicht ein adrishfam (eine un- 
sichtbare, über das Dasein hinausreichende Kraft der Werke, 
vgl. oben S. 397), oder wenigstens nicht dieses allein, sondern 
vielmehr der Irvara, eine nur für den empirischen Standpunkt 
gültige (§ 15) Personifikation des Brahman, welcher, genau 
entsprechend den Werken des vorigen Daseins, Tun und 
Leiden in der neuen Geburt über die Seele verhängt. Auf 
derselben Notwendiokeit wie das Wiedergeborenwerden beruht 
nun weiter auch die jedesmalige Neuschöpfung der \\'elt nach 
ihrer Absorption in das Brahman. Denn die Seelen bestehen, 
wenn auch in das Brahman absorbiert, doch samenartig mit- 
samt ihren ^^'erken fort, und die letztern erfordern zu ihrer 
Sühnung die abermalige ^^'eltschöpfung, d. h. die Ausbreitung 
der Elemente aus Brahman, deren Hergang wir jetzt näher 
betrachten wollen. 
^ 21. Bei der Schöpfung, srishfi, die diesem Worte nach Die unorga- 
. . 7 ^ nisclie Natur 
als eine „Ausgiefsung", also als Emanation, zu denken ist, (Kiemente), 
geht zuerst aus dem Brahman hervor der AJcäia, der Äther, 
oder richtiger der alldurchdringende (vibhu), jedoch^ als eine 
überaus feine Materie aufgefafste Raum, aus dem AMga der 
Wind (vuijk), aus diesem das Feuer (agni, tejas), aus diesem 
das Wasser (äpas), aus diesem die Erde (prithiii, annam)^ 
wobei nicht durch die Elemente selbst, sondern durch Brah- 
man in der Gestalt der Elemente das jedesmal folgende 
598 Da-s Vedäntasystem. 
Element hervorgebracht wird. In umgekehrter Ordnung wird 
beim Weltvmtergang zunächst die Erde zu Wasser, dann das 
"Wasser zu Feuer, das Feuer zu Wind, der Wind zu Äther, 
der Äther zu Brahman. — Der Äther wird wahrgenommen 
durch das Gehör, der Wind durch Gehör und Gefühl, das 
Feuer durch Gehör, Gefühl, Gesicht, das Wasser durch 
Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack, die Erde durch Gehör, 
Gefühl, Gesicht, Geschmack und Geruch.* Übrigens sind die 
Elemente in der Natur nicht die reinen Urelemente, sondern 
Mischungen aus allen unter Überwiegen des einen oder andern 
derselben. [Eine systematische Durchführung dieser Mischungs- 
theorie findet sich noch nicht in Qahkara's Kommentar zu den 
Brahmasütra's, sondern erst im Vedäntasära.] 
Die OTgani- § 22. Naclidcm Brahman die Elemente geschaffen hat, 
^"(Seeief)"."^ gclit er, uacli den Upanishad's, mittels der individuellen Seele 
in dieselben ein; d. h. nach unserm Systeme: die wandernden 
Seelen, welche auch nach dem Weltuntergange in Brahman 
potentiell (f;aldi-ätmanä) fortbestanden, erwachen aus diesem 
zum Blendwerke [der empirischen Realität] mitgehörigen grofsen 
Tiefschlafe [mäyämayt yyiahäsuslmptih, ^ankara p. 342,9, Über- 
setzung S. 208} und erhalten, entsprechend ihren Werken im 
vorhergehenden Dasein, einen göttlichen, menschlichen, tieri- 
schen oder pflanzlichen Leib. Dies geschieht dadurch, dafs 
der Same der Elemente, den sie, in Form des feinen Leibes, 
bei der Seelenwanderung mit sich führen, durch Ansetzung 
gleichartiger Partikeln aus den benachbarten groben Elementen 
(Qankara p. 467,7 fg., Übersetzung S. 295) zum groben Leibe 
erwächst, indem sich gleichzeitig die psychischen Organe 
(miihliya präna, manas, hidriyas), die während der Wanderung 
zusammengeballt (sampindita) waren, entfalten. (Was dabei 
aus den Organen der Pflanzenseelen wird, bleibt unerörtert; 
man darf annehmen, dafs sie zusammengeballt bleiben.) Der 
Leib ist nämar{<2)aJcrita-kärya-Jcarcma-saFtgJiäta, „der aus Namen 
* Diese Theorie, von uns Akkumulatioustbeorie genannt, steht 
mit der sogleich im folgenden auch von Qankara behaupteten Mischungs- 
theorie in Widerspruch, wie unten S. 629 näher gezeigt werden wird. 
3. Kosmologie. 099 
und (Jostalten* [d. h. aus den Elomenten] gebildete Komplex 
von Werkzeugen des Wirkens", die Seele der Herr (.\vämi)i) 
dieses Komplexes. Das Wachstum des Leibes geschieht aus 
den Elementen, wobei an denselben Gröbstes, Mittleres und 
Feinstes unterschieden werden, und dementsprechend aus der 
Erde: Faeces, Fleisch, Manas, aus dem Wasser: Urin, Blut, 
Prana, aus dem Feuer: Knochen, Mark, Rede entstehen; — 
da andererseits nach dem Systeme die Seele ihre psychischen 
Organe, und unter ihnen Manas, Prana und Rede schon mit 
sich führt, so mufs man hier entweder einen Widerspruch 
konstatieren, oder annehmen, dafs die wachsenden Manas, 
Prana, Rede zu den gleichnamigen, von Haus aus eigenen 
Organen sich so verhalten, wie der grobe Leib zu dem feinen. 
Die Aufnahme dieser Stoffe aus der Nahrung wird dadurch 
möglich, dafs (nach § 21) jeder Körper der Natur sämtliche 
Urelemente enthält. — Nach der Entstehung zerfallen die 
Organismen in Keimgeborene (Pflanzen), Schw^eifsgeborene 
(Ungeziefer), Eigeborene und Lebendgeborene; die Zeugung 
besteht darin, dafs die Seele des Kindes, welche, durch die 
Nahrung in den Vater eingegangen, bei diesem nur als Gast 
wohnte, mittels des Samens in den Mutterleib übertritt und 
aus dem Blute desselben den feinen Leib zum groben fort- 
entwickelt. Der Tod ist die Trennung der Seele (nebst ihren 
Organen und. dem feinen Leibe) vom Körper; wird der Or- 
ganismus zerstört, so wandert die Seele aus. Die Dauer des 
Lebens ist nicht zufällig, sondern genau durch das Quantum 
der abzubüfsenden Werke prädestiniert, wie die Beschaffenheit 
des Lebens durch deren Qualität. Doch ist dann wieder auch 
von Werken die Rede, die nicht auf einmal, sondern nur durch 
wiederholte Geburten abgetragen werden können ; nur aus 
solchen läfst es sich z. B. erklären, dafs die Seelenwanderung 
bei einem Eingane; in einen Pflanzenleib nicht zum Stillstande 
* Nach Cbänd. 6,3,2, S. 161 geht Brahmau mittels des Jiva ütman in 
die Elemente ein und breitet sich dadurch aus zu Namen und Gestalten; 
Tankara hingegen redet p. 507,1 , S. 321 von einem nämarüpa-mdya-äveQa, 
einem Eingehen in das Trugbild der Namen und Gestalten, und in diesem 
Sinne muls man wohl auch die obige Formel übersetzen, in welcher p. 787,13, 
S. 509 der Ausdruck kärija-hüvana-sanyhäta durch cUha ersetzt wird. 
600 I^äs Vedäntasystem. 
kommt. Da auch jede Pflanze eine verkörperte Seele ist, jede 
Verkörperung aber nur dem Zwecke der Abbüfsung dient, so 
verfährt das System ganz konsequent, wenn es (p. 772,4. 774,5, 
Übersetzung S. 497 und 499) auch den Pflanzen Empfindung 
zuschreibt. — Während die Lebensdauer der Pflanzen-, Tier- 
und Menschenseelen kurz bemessen ist, so sind diejenigen 
Seelen, welche, zufolge hervorragender Leistungen in dem 
vorigen Dasein, als Götter geboren werden, unsterblich, 
d. h. bis zum nächsten Weltuntergange dauernd; dann ver- 
fallen auch sie wieder dem Samsära, und der Posten des 
Indra usw. kann das nächste Mal durch eine andere Seele 
besetzt werden.* 
Keine Welt § 23. Wie alle Tongefäfse in Wahrheit nur Ton sind, 
physiTchem wic dic Umwandlung des Tones zu den Gefäfsen „nur auf 
pn^te. Worten beruhend, ein blofser Name" ist [väcäramhlianam viMro, 
nämadheijam , Chänd. 6,1,4, S. 160, vgl. das Parmenideische : 
TW Tüdv: ovo[x' IcTLv, oaaa ßporol xars^svTo, xsTCoi'itrcTS? slvai dAT/j"^), 
so ist auch diese ganze Welt in Wahrheit niu" Brahman und 
hat über Brahman hinaus (hraJmia-vyatireJccna) kein Sein; ein 
von Brahman Verschiedenes gibt es nicht [na iha nänä asti 
läncana, Brih. 4,4,19, S. 479). Aber unser System geht hier 
weiter als der Veda. Die ganze Ausbreitung der Namen und 
Gestalten (nämanipa-praimnca) , die gesamte Vielheit der Er- 
scheinungen (rüiya-bheda) ist, wenn wir sie vom Standpunkte 
der höchsten Realität (iKiramärtha-avastliä) aus betrachten, 
erzeugt, aufgestellt, [der Seele] aufgebürdet durch das Nicht- 
wissen (avidiiä-Ticdpita , avklyä-praiiiupastltäinta , avidyä-adhyu- 
ropita), klafft heraus aus der falschen Erkenntnis (miihjdjuana- 
v/jrhnbhita), ist ein blofser Wahn (ahhlmäua), welcher durch 
die richtige Erkenntnis, das Satmjagdarranam, widerlegt wird, 
— ganz ebenso wie der Wahn, dafs eine Schlange sei, wo nur 
ein Strick, ein Mensch, wo nur ein Baumstamm, eine Wasser- 
fläche, wo nur eine Wüstenspiegelung ist, durch die nähere 
* (^ankara p. 287,5, Übersetzung S. 170: „Solche Worte wie Indra usw. 
bedeuten, ähnlich wie z. B. das Wort «General», nur das Innehaben eines 
bestimmten Postens. Wer also gerade den betreffenden Posten bekleidet, 
der führt den Titel Indra usw." 
3. Kosmologie. {]i)\ 
Betrachtung widerlegt wird und verschwindet. Die ganze 
^^'elt ist nur ein Blendwerk (»lai/ä), welches Brahman als 
Zauberer (tuayiivin) aus sich heraussetzt (prasäraijati), und von 
dem er, wie dieser von dem durch ihn geschaffenen Zauber, 
nicht berührt wird; oder, mit anderer Wendung des Bildes, 
Brahman wird durch das Nichtwissen, so wie der Zauberer 
durch das Blendwerk, als nichteinheitlich erscheinen gemacht 
(rihhävi/ate); er ist die Ursache des Bestehens (stJuti-kantnaDt) 
der Welt, wie der Zauberer des aus ihm herausgesetzten Zau- 
bers, und Ursache der Zurückziehung der Welt in sein eigenes 
Selbst (sva-ätmani eva vpasamJiära-l'äranam), ähnlich wie die 
Erde die Wesen in sich zurückzieht; das Vielheitstreiben 
(hJieda-vi/avaJiara) während des Bestehens der Welt und die 
Vielheitskraft (hheda-ralii) vor und nach ihrem Bestehen be- 
ruhen beide auf dem Nichtwissen oder der falschen Erkenntnis. 
An diesem Begriffe der ar/dt/ä, des mitJnjäJnänam, prallt nun 
jede weitere Untersuchung ab; woher dieses Nichtwissen, 
welches uns allen angeboren wird, entspringt, erfahren wir 
nicht; am tiefsten führt noch das mehrfach gebrauchte Bild 
von dem Augenkranken, der zwei Monde sieht, wo in AN^ahr- 
heit nur einer ist.* Übrigens ist das Nichtsein der Welt nur 
ein relatives : die Vielheit der Erscheinungen, die Namen und 
Gestalten, die Mäyä sind taftva-auyatvuhJn/am anirvacan'uja, 
d. h. „man kann nicht sagen, dafs sie Brahman (tcd) sind, 
und auch nicht, dafs sie von ihm verschieden sind". Sie sind, 
wie die Gestalten des Traumes, wahr (sattja), solange der 
Traum dauert, und sind es nicht mehr, nachdem das Erwachen 
(2>mbodha) eingetreten ist. — Diesen Idealismus, den wir in 
den Upanishad's erst aufdämmern sehen, sucht der Vedänta 
* An eine ins Unendliche zurikkgeliende Verschuldung ist dabei nicht 
zu denken. Vgl. das System des Vedänta IS. 32G Gesagte und als Bestätigung 
desselben die wichtige Stelle p. 85,4, t)bersetzung S. 30: „Die Behauptung, 
dafs der Atman mit einem Körper behaftet sei, und dafs er vermittelst des- 
selben gute und böse Werke vollbracht habe, stützen sich wechselseitig 
immer eine auf die andere, und folglich ist die Behauptung einer Anfang- 
losigkeit [jenes wechselseitigen Sichbedingens] eine blofse Kette von lauter 
blinden Gliedern; denn eine Behaftung des Ätmaii mit Werken ist unmög- 
lich, weil ein Tätersein von ihm ausgeschlossen ist.'' 
(J02 I^'^s Vedäntasystem. 
mit der vedischen Schopfimgslehre dadurch in Einklang zu 
bringen, dafs er behauptet, jene Schöpfung bedeute nur die 
Identität ((ouoiyatvam, tädähnyam) der Welt mit Brahman; 
die AVeit sei die Wirkung, Brahman die Ursache, Wirkung 
und Ursache aber seien identisch, ein Satz, zu dessen Beweis 
als Hauptargument das Beharren der Substanz beim Wechsel 
der Zustände dient. 
4. Psychologie. 
Aiieinigp § 24. Während wir alles um uns her ausgebreitete Sein, 
Reelle/ "alle Nameu und Gestalten, aus denen die Welt besteht, als 
eine auf dem Nichtwissen beruhende Täuschung, eine blofse, 
dem Traume vergleichbare, Illusion erkennen, so gibt es einen 
Punkt im Universum, auf welchen diese Bestimmungen keine 
Anwendung finden : dieser Punkt ist unsere Seele, d. h. unser 
eigenes Selbst (ätman). Dieses Selbst läfst sich nicht be- 
weisen, w^eil es die tragende Basis jedes Beweises ist, aber 
auch nicht leugnen, weil jeder, indem er es leugnet, dasselbe 
voraussetzt.* Welcher Natur ist nun diese alleinige Grundlage 
aller Gewifsheit, die Seele oder das innere Selbst? Wie ver- 
hält sie sich zu dem alles Sein in sich begreifenden Brahman '? 
Identität § 25. Die Seele kann 1. nicht von Brahman verschieden 
dsT Sgg^g Uli t • • • 
Brabman. sclu, wcll es kciu Seicudcs aufser Brahman gibt; sie ist 
2. aber auch nicht als eine Umwandlung des Brahman an- 
* (^'ankara p. 619, S. 389: „Das Selbst aber ist die Basis (ägraya) für 
die Tätigkeit des Beweiseiis, und mithin ist es auch vor der Tätigkeit des 
Beweisens ausgemacht. Und weil es so beschaifen ist, deshalb geht es 
nicht an, dasselbe in Abrede zu stellen. Denn in Abrede stellen können 
wir eine Sache, die [von aufsen] an uns herankommt (äyantuka), nicht 
aber, die unser eigenes Wesen ist. Denn v,er es in Abrede stellt, eben 
dessen eigenes Wesen ist es; das Feuer kann nicht seine eigene Hitze in 
Abrede stellen. Und weiter, wenn man sagt: «ich bin es, der jetzt das 
gegenwärtige Sein erkennt, ich bin es, der das vergangene und vorvergnngene 
erkannte, und ich, der das künftige und überkünftige erkennen wird», so 
liegt in diesen Worten, dafs, wenn auch das Objekt der Erkenntnis sich 
ändert, der Erkennende, weil er in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart 
ist, nicht sich ändert; denn sein Wesen ist ewige Gegenyvnrt (sarvada- 
rartamdna-svahhdvatnW; daher, wenn auch der Leib zu Asche wird, kein 
Vergaug des Selbstes ist, weil sein Wesen die Gegenwart ist; ja es ist 
sogar nicht einmal denkbar, dafs sein Wesen etwas anderes als dieses wäre." 
4. rsycholorrie. 603 • 
zuselien, weil das Brahman unveränderlich ist; und ebensowenig 
ist sie endlieh 3. ein Teil des Brahman, da dasselbe keine 
Teile besitzt. — Somit bleibt übrig, dafs die Seele mit Brah- 
man identisch ist, dafs jeder von uns das ganze, ewige, un- 
teilbare, unwandelbare, alles Sein befassende Brahman selbst ist. 
^ 2(i. Hieraus folgt, dafs alles, was über das unterschied- dio seeie 
lose Brahman festgesetzt wurde, auch von der Seele gilt: wie piosi™chem 
dieses ist sie ihrer Natur nach reine Geistigkeit (caita)nj((m), punkte, 
und wie diesem kommen ihr alh^ jene negativen Bestimmungen 
zu, deren Zweck es ist, von Brahman alle Vorstellungen, durch 
die sein Wesen begrenzt erscheinen könnte, abzuwehren. So- 
nach ist die Seele, ebenso wie Brahman, 1. allgegenwärtig 
(vihhu, sarvagaia) oder, wie wir sagen würden, raumlos, 2. all- 
wissend und allmächtig, 3. weder handelnd (liartri) noch ge- 
niefsend (beziehungsw'eise leidend, hhokiri). 
§ 27. Liegt in diesen Bestimmungen die wahre Natur der Die seeie 
Seele, so folgt, dafs alles, was denselben widerspricht, ihr nur """schirm" 
durch die Ävidyä „beigelegt" wird. Auf diesen Beilegungen punkte, 
oder U2)ädhi''s, welche nur in der falschen Erkenntnis ihren 
Grund haben, und zu denen, wie wir sahen, alles die körper- 
liche Existenz Bedingende gehört, beruht es, dafs die Seele 
im Sanisärastande 1. nicht alldurchdringend und allgegen- 
wärtig ist, sondern in der beschränkten Gröfse des Mmuis im 
Herzen wohnt, 2. auch nicht allwissend und allmächtig, indem 
ihre natürliche Allwissenheit und Allmacht durch die Jjpäähi's 
ebenso latent werden wie Licht und Hitze des Feuers durch 
das Holz, in welchem es verborgen schlummert; 3. endlich 
wird die Seele durch ihre Verbindung mit den üpädhis, zu 
einer handelnden und geniefsenden (Imrtri und hhoJctri), und 
dm'ch diese letztern Eigenschaften ist ihre Verstrickung in den 
S(U)isära bedingt; denn die Werke des einen Lebens müssen 
durch Geniefsen und Wirken im nächstfolgenden Dasein ver- 
golten werden ; das einen Teil der Vergeltung bildende Wirken 
aber erfordert wiederum seine Vergeltung, und so ins Un- 
endliche fort. 
§ 28. Dieser anfang- und endlose Samsdra beruht nur Die 
darauf, dafs der Seele ihre wahre Natur durch die von der Avidyä ^^'^ "" 
aufgestellten Vpädlus verborgen ist. Diese, das Brahman 
Indriya's. 
C04 Pas Veiläntasystem. 
zur individuellen, tätigen und geniefsenden Seele machenden 
UpädltPs sind nun, aufser allen Dingen und Verhältnissen 
der Aufsenwelt und dem zu ihnen gehörigen, mit dem Tode 
in die Elemente zurückkehrenden ,, groben Leibe", folgende: 
1. das Manas und die IiHhij/as; 2. der Mulchya Prana ; 3. das 
SüJcsJtniam Cariram ; zu diesem unwandelbaren psychischen 
Apparate, mit welchem die Seele von Ewigkeit her und bis 
zur Erlösung bekleidet bleibt, gesellt sich 4. ein wandelbares 
Element, welches wir die moralische Bestimmtheit 
nennen wollen. Wir haben diese U^päcUifs jetzt im einzelnen 
zu betrachten. 
M^anas und § 29. Während der grobe Leib (deha, Mirya-karana-san- 
gluiia) und seine Organe (karanam), wie Auge, Ohr, Hände, 
Füfse usw., im Tode vergehen, so bleiben die als für sich 
bestehende Wesenheiten aufgefafsten Funktionen (vriüi) dieser 
Organe durch alle Zeit mit der Seele verbunden. Dieses 
sind die Lxhi'i/as (die Kräftigen), welche die Seele wie Fühl- 
hörner beim Leben aus sich herausstreckt und beim Tode in 
sich zurückzieht. Auf ihnen beruhen die beiden Seiten des 
bewufsten Lebens, nämlich einerseits das Erkennen, anderer- 
seits das Handeln. Dementsprechend hat die Seele fünf 
Erkenntnisvermögen (jnäna-indriycis): Gesicht, Gehör, Ge- 
ruch, Geschmack und Gefühl, und fünf Tatvermögen (iM)ina- 
indriycis): Greifen, Gehen, Reden, Zeugen, Entleeren. Diese 
zehn Indriya's, welche man gewöhnlich durch die Namen der 
entsprechenden Organe des groben Leibes bezeichnet, werden 
regiert von einem Zentralorgan, dem Manas, welches einer- 
seits die von den Erkenntnisvermögen gelieferten Data zu 
Vorstellungen verarbeitet [manasä lii eva paryaii, ma)iasü ^ri- 
noti, Brih. 1,5,3, S. 401), andererseits die Ausführung der 
Willensakte durch die Tatvermögen veranlafst, somit sowohl 
das bezeichnet, was wir den Verstand, als auch das, was 
wir den bewufsten Willen nennen. Während die Indriya's 
den ganzen Leib durchziehen, wohnt das Manas „einer Ahle 
Spitze grofs" im Herzen, und in dem Manas, seinen ganzen 
l mfang ausfüllend, in innigster, nur durch die Erlösung 
trennbarer Verbindung, die Seele, welche nur durch die 
Organe, an die sie durch das Nichtwissen gekettet ist, Täter 
4. Tsythologie. 605 
und Geniofsor wird, selbst aber dem ganzen Treiben der 
Organe als blofse Apperzeption (iqxiluhdlti), als passiver Zu- 
schauer (salsJiin) gegenübersteht, so dal's sie, trotz ihrer Ver- 
senkung in das Welttreiben, ihrem eii!;entlichen \Vesen nach 
von demselben unberührt (asafH/a, auaxfagnia) bleibt. 
§ 30. Weniger innig als mit Mauas und Lulrij/as er- MuH^a 
scheint die Seele mit dem ]\[Hlhti<( Fnnja verknüpft, ein Aus- "" ^''' 
druck, der in den Upanishad's noch den „Odem im Munde" 
bezeichnet, im Systeme hingegen zu der Bedeutung „Haupt- 
lebensodem" gelangt ist. Wie Marias und Iiidriya''s die zu 
besondern Wesenheiten hypostasierten Funktionen des Er- 
kennens und Handelns, so ist der Mulihya Präua, von dem 
sie alle abhängig sind, eine Hypostase des empirischen Lebens 
selbst, welches durch ihn in seinen fünf Verzweigungen, Fräna, 
Apäna. Vyäna, Samchia, Udäna, bedingt ist. Unter diesen 
versieht der Präua das Ausatmen, der Apäna das Einatmen. 
Vi/t'nia ist dasjenige, welches das Leben unterhält, wenn der 
Atem momentan stockt; Samaua ist das Prinzip der Ver- 
dauung; und wie diese vier den Bestand, so bewirkt JJdäva 
den Abschlufs des Lebens, indem er die Seele beim Tode auf 
einer der hundertundeinen Hauptadern aus dem Leibe hinaus- 
führt. Hierbei ziehen Mauas, Indriya''s und Miüihya Fräna 
mit der Seele aus: wie sie während des Lebens die Kräfte 
sind, welche die Körperorgane regieren, so sind sie nach dem 
Tode des Leibes der Samen, aus welchem bei jeder neuen 
Geburt die körperlichen Organe neu erwachsen. 
§ 3L Wie in den Indriya's den Samen der Körperorgane, sükshmam 
so führt die Seele den Samen des Körpers selbst mit sich in ""''"'^ 
Gestalt des „feinen Leibes", SHJishmam ranram, oder, wie er 
von ^ankara mehrfach umschrieben wird, dvlia-vfjäni hhnfa- 
siiJcshniäni, d. h. „die den Samen des Leibes bildenden Fein- 
teile der Elemente" [und zwar, nach ^'aiikara, wde sich aus 
p. 743,4, Übersetzung S. 476 erweisen läfst, der schon ge- 
mischten Elemente; vgl. hingegen Vedäntasära § 77, unten 
S. 648]. Wie sich diese Feinteile der Elemente zu den groben 
Elementen verhalten, wird nicht näher bestimmt. Der aus 
ihnen gebildete feine Leib besitzt Materialität (tanufvam), jedoch 
Durchsichtigkeit (svacchatvam) : daher er beim Auszuge der 
606 1**8 Vedäutasystem. 
Seele nicht gesehen wird. Auf ihm beruht die animahsche 
Wärme; das ErkaUen des Leichnams rührt davon her, dafs 
der feine Leib ihn verlassen hat, um mit den übrigen Organen 
die Seele auf ihrer Wanderung zu begleiten. 
Die mora- § 32. Zu dicscm psycliisclien Organismus (manus, indriya's, 
stimmtheit. mulihija präna, milislimam garirani), welcher der Seele durch 
alle Zeiten in Leben und Tod anhaftet und als völlig un- 
veränderlich erscheint, gesellt sich weiter als Begleiter der 
Wanderung ein veränderlicher Upädhi; es ist die mora- 
lische Bestimmtheit, bestehend in dem durch das Leben 
angesammelten Schatze von Werken (karnm-ägaya), welcher 
neben dem physischen Substrate (hlifda-ärrai/a), d. h. dem 
feinen Leibe, als ein moralisches Substrat (Jcarma-äcra}/a) mit 
der Seele auszieht und die Gestaltung des künftigen Daseins 
nach der Seite des Geniefsens und Leidens wie auch des 
Wirkens mit Notwendigkeit bestimmt. 
Besondere § 33. Es gibt vler Zustäude der wandernden Seele: das 
der Seele. Wachcu, das Träumcu, der Tiefschlaf und der Tod. Beim 
Wachen durchwaltet die in Verknüpfung mit dem Manas im 
Herzen weilende Seele durch Vermittlung des Jlanas und der 
Indriya's erkennend und wirkend den ganzen Leib. Beim 
Traumschlafe kommen die liulriya's zur Ruhe, indes das 
Manax noch tätig bleibt, und die Seele, von dem 3Ia)icis und 
den in dasselbe eingegangenen linlriya's umgeben, auf den 
Adern durch den Leib zieht und dabei die aus den Ein- 
drücken (väsanä) des Wachens gezimmerten Träume schaut. 
Beim Tiefschlafe löst sich die Verbindung der Seele mit 
dem Mauas: das Manas und die I)Hlr/ya's gehen, zur Bvüie 
gekommen, in die Adern oder das Perikardium und dadurch 
in den MuMiya Präna ein, dessen Tätigkeit auch im Tief- 
schlafe fortdauert, indes die Seele, vorübergehend von allen 
diesen Upädhi's befreit, in dem Äther des Herzens in das 
Brahman eingeht; da sie ohne die Upädhi's Brahman ist, so 
ist dieser Eingang in das Brahman eben nur ein anderer 
Ausdruck für die völlige Befreiung von den Upädhi's. Au-s 
dieser vorübergehenden Identifikation mit Brahman geht die 
Seele beim Erwachen mit allen ihren individuellen Bestimmt- 
heiten als die nämliche, welche sie war, wieder hervor. 
5. Seelenwaiiderung. QQ"] 
o. Secleunandorunur. 
§ 34. Beim Sterben gehen zunächst die Irirlyii/a's ein in Auszug der 
das 3lanas, dann dieses in den Mnklnid Vratni, dann dieser dem herbe. 
in die mit der morahschen Bestimmheit ])ehai"tete Seele, 
dann diese in das Sülishmam ^arrram. Nachdem diese alle 
im Herzen vereinigt sind, so wird die Spitze des Herzens 
leuchtend, um den Weg zu erhellen, und der ('(hhta führt 
die Seele mitsamt den genannten Upadhi's aus dem Leibe 
hinaus, und zwar den die (niedere) Wissenschaft Besitzenden 
durch die Kopfader (murdhanyä nädi, später SHshumnä genannt), 
die Nichtwissenden durcli die hundert übrigen Hauptadern des 
Leibes. (Der das höhere Wissen Besitzende zieht, wie wir 
nachher sehen werden, überhaupt nicht aus.) Von diesem 
Punkte an scheiden sich die Wege ; der Nichtwissende, ^^'erk- 
tätige geht den FitriyäiKi oder Väterweg, der das niedere 
Wissen Besitzende den IJevai/aiui oder Götterweg; der weder 
Wissende noch Werktätige, d. h. der Böse, bleibt von diesen 
beiden ^^'egen ausgeschlossen. 
§ 35. Der Fitriyäim, welcher für diejenigen bestimmt ist, Schicksal 
die weder das höhere, noch das niedere ^^'issen von Brahman tatigen ' 
besitzen, aber gute A\'erke geübt haben, führt die Seele zur ^^''■''"J^'"^^- 
Vergeltung derselben empor zum Monde. Die Stationen dieses 
Weges sind folgende: L der Rauch, 2. die Nacht, 3. die 
Monatshälfte, wo der Mond abnimmt, 4. die Jahreshälfte, wo 
die Tage abnehmen, 5. die Vätervvelt, 6. der Äther, 7. der 
Mond. In dem Lichtreiche des Mondes geniefsen die Seelen 
den Umgang der Götter als Belohnung für ihre Werke, und 
zwar so lange, bis dieselben verbraucht sind. Doch wird nur 
ein Teil der \\'erke durch diesen Genufs auf dem Monde ver- 
golten. Ein anderer Teil bleibt als Rest (anugaya) zurück und 
findet seine Vergeltung durch die folgende Geburt. A\'elche 
Werke in dem einen und dem andern Falle zu verstehen sind, 
bleibt unaufgeliellt. Nachdem die auf dem Monde zur Ver- 
geltung kommenden ^^'erke verbraucht sind, steigt die Seele 
wieder herab; als Stationen des Rückweges sind zu nennen: 
1. der Äther, 2. der Wind, 3. der Rauch, 4. die \\'olke, 
5. der Regen, G. die Pflanze, 7. der männliche Same, .s. der 
608 Das Vedäiitasystem. 
Mutterschofs. Auf allen diesen Stationen weilt die Seele nur 
als Gast und ist von den Elementen und Seelen, durch welche 
sie durchgeht, zu unterscheiden. Nachdem sie schliefslich in 
den ihren Werken entsprechenden Mutterschofs gelangt ist, 
so- tritt sie aus demselben zu einem abermaligen Erdenleben 
neu hervor. 
Schicksal § 36. Die Bösen, welche weder Wissen noch Werke be- 
(die Hölle sitzen, steigen nicht zum Monde empor; ihr Schicksal wird 
drine oTt). nicht klar entwickelt, indem (j-'ankara einerseits auf eine Be- 
strafung in den sieben Höllen des Yama, andererseits auf 
den „dritten Ort" verweist, in welchem sie als niedere Tiere 
wiedergeboren werden, ohne dafs der Zusammenhang zwischen 
beiden deutlich w^ürde. Obgleich sie vom Leben auf dem 
Monde ausgeschlossen bleiben, so werden doch wiederum auch 
unter denen, welche vom Monde zurückkehren, solche von 
gutem Wandel, welche in einer der drei höhern Kasten 
wiedergeboren werden, und solche von bösem Wandel unter- 
schieden, welche in Oandalaleiber und Tierleiber eingehen. 
Eine Vereinigung dieser Vorstellungen zu einem zusammen- 
hängenden Ganzen, wie sie durch Unterscheidung verschie- 
dener Stufen des zu sühnenden guten und bösen Werkes leicht 
herzustellen gewesen wäre, liegt in dem Werke, aus welchem 
wir schöpfen, nicht vor. 
Schicksal § 37. Von den Werkfrommen (§ 35), die dem altvedischen 
' Verehrer" Opferkulte huldigen, sind zu unterscheiden diejenigen, welche 
(^DevwjeUaK dcr Brahmanlchre anhängen, jedoch zur universellen Erkenntnis 
der Identitätslehre sich nicht zu erheben vermögen und dem- 
nach das Brahman nicht als Seele in sich, sondern als Gott 
sich gegenüber wissen und dementsprechend verehren. 
Diese Besitzer des niedern Wissens (aparä vidijä), d. h. die 
Verehrer des niedern, attributhaften (aparam, sagunam) Brah- 
man, gehen alle (mit Ausnahme derer, welche Brahman unter 
einem Symbol, jrraUham, verehrt haben) nach dem Tode auf 
dem Devayäna in das niedere Brahman ein. Die Stationen 
dieses Weges werden in den verschiedenen Berichten ver- 
schieden angegeben, welche Qankara zu einem Ganzen ver- 
webt. Nach Ghänd. [Brih., Kaush.] werden von der Seele des 
(niedrig) Wissenden, nachdem sie durch die Kopfader aus 
5. Seelenwauderung. ()Q9 
dem Leibe herausgetreten ist, folgende Regionen durchmessen : 
1. die Fhimme [= A<iiiilo]:a], 2. der Tag, 3. die Monatshälft(s 
wo der Mond zunimmt, 4. die Jahreshälfte, wo die Tage zu- 
nehmen, 5. das Jahr, [(>. IhvaloJca, 7. VatjHlohi], 8. die Sonne, 
9. der Mond, 10. der Blitz. Diese Stationen sind weder als 
Wegezeichen, noch als Genufsstätten für die Seele anzusehen, 
sondern als Führer, deren sie bedarf, weil sie sich ihrer eigenen 
Organe, da dieselben zusammengerollt sind, nicht bedienen 
kann. Während also unter den bisher Aufgezählten menschen- 
ähnliche, göttliche Führer der Seele zu verstehen sind, so wird 
weiter, nach ihrem Eingange in den Blitz, die Seele von einem 
..Mann, der nicht ist wie ein Mensch" (puruslio 'mänavah), in 
Empfang genommen und [durch 11. Vanmahl-a, 12. Indru- 
h}h(, 13. TyajCqmtiJola] in das Brahman hineingeleitet. Jedoch 
ist unter Brahman hier das niedere, attributhafte Brahman zu 
verstehen, welches selbst entstanden (Mryanij und daher beim 
Weltuntergange vergänglich ist. In der \\ elt dieses Brahman 
geniefsen die Seelen das aigvaryam, die Herrlichkeit, welche 
in einer gottähnlichen, doch in gewissen Schranken gehaltenen 
Allmacht besteht und die Erfüllung aller Wünsche in sich 
begreift. Als Organ des Geniefsens dient ihnen das Manas; 
ob sie sich auch der (gleichfalls mitgebrachten) Indriyas dabei 
bedienen, ist zweifelhaft. Zu ihren Machtvollkommenheiten 
gehört auch die Fähigkeit, mehrere Leiber zugleich zu be- 
leben, in welche sie sich, mittels Teilung ihrer Upädhi's, zer- 
teilen. — Obgleich dieses aigvanjant der auf dem Devayäna 
in das niedere Brahman Eingegangenen endlich ist und nur 
bis zum Weltuntergange besteht, so sagt doch die Schrift von 
ihnen: „für solche ist keine Wiederkehr". Man mufs daher 
annehmen, dafs ihnen in der Brahmanwelt das höhere Weissen 
des SamycKjdarganam mitgeteilt wird, worauf sie beim Welt- 
ende, wo auch das niedere Brahman vergeht, mit demselben 
in „das ewige, vollendete Nirvänam'-'- eingehen. Dieser Ein- 
gang heifst Kramamidii , „die Gangerlösung", weil sie durch 
ein Hingehen bedingt, oder „die Stufenerlösung", weil sie 
durch die Zwischenstufe der himmlischen Herrlichkeit ver- 
mittelt wird. 111;" entgegen steht die unmittelbare Erlösung 
Devssen, Geschichte der Philosophie. I,iii. 39 
010 Dfis Vedäntasystem 
des Wissenden, welche schon hier auf Erden erreicht wird, 
und die wir nun noch zu betrachten haben. 
6. Die Erlösung. 
„Au8 der § 38. Die Frage nach der Möghchkeit einer Erlösung 
^'''cue*'''^ von der individuellen Existenz, welche den Angelpunkt des 
Erlösung." y^jj^^^^g^ y^^jg anderer indischer Systeme bildet, setzt voraus die 
pessimistische Anschauung, dafs alles individuelle Dasein ein 
Leiden sei. Diese Ansicht wird denn auch sowohl im Yeda 
(Brih. 3,4,2, S. 436: ato 'nyad ärtam, „was von ihm ver- 
schieden, das ist leidvoll", Brih. 4,4,11, S. 478: anandä 
näma tc loMli, „ja, freudelos sind diese Welten", vgl. 
Käth. 1,3, S. 266; Iqa 3, S. 524) als auch im Systeme gelegent- 
lich ausgesprochen*; doch findet sie sich keineswegs in dem 
Mafse betont, wie man erwarten sollte. — Wie ist nun von 
der Bindung (handha) der Existenz eine Erlösung (mol'sJia) 
möglich? — Nicht durch Werke: denn diese, die guten wie 
die bösen, fordern ihre Vergeltung, bedingen somit ein neues 
Dasein und sind die Ursache der Fortsetzung des Scwisura; 
aber auch nicht durch (moralische) Läuterung (sainsMra), denn 
eine solche kann nur bei einem der Veränderung fähigen 
Gegenstande statthaben, der Atman aber, die Seele, um deren 
Erlösung es sich handelt, ist unveränderlich. Daher kann die 
Erlösung nicht in irgendeinem W^erden zu etwas oder Betreiben 
von etwas bestehen, sondern nur in der Erkenntnis eines 
schon Vorhandenen, aber durch das Nichtwissen Verborgenen : 
„aus der Erkenntnis die Erlösung" [jnänäd mohshah, 
vgl. oben S. 96). Nachdem das Brahmansein der Seele er- 
kannt ist, so tritt sofort mit dieser Erkenntnis die Erlösung 
ein (es heifst „das bist du", nicht „das wirst du sein", p. 917,7, 
S. 599); die Erkenntnis der Identität mit Brahman und das 
Werden zur Seele des Weltalls erfolgen gleichzeitig.** 
* ^ankara p. 673,3, S. 425: „Alles Tun ist seinem Wesen nach ein 
Leiden", und p. 1139,12, S. 754: „Alles Erschaffene ist anerkanntermafsen 
mit Leiden behaftet." 
** Cankara p. G6,7, S. 21 : „Diese und andere Schriftstellen beweisen, 
dafs sofort auf die Erkenntnis des Brahman die Erlösung erfolgt." 
6. Die Erlösung. dj^j 
§ 39. Der Atman, in dessen Erkenntnis die Erlösung Die Er- 
hesteht, ist nichts anderes als das Sul)jekt des Erkennens in JirktTurdi 
uns. Aus diesem Grunde ist er aul" natürliche Weise nicht "ooucs!^^ 
erkennbar: ., nicht sehen kannst du den Seher des Sehens" usw. 
(Brili. ;>,4,2, S. 430); man kann ihn nicht, wie ein Objekt, 
aufsuchen und betrachten: seine Erkenntnis läfst sich nicht 
willkürlicli l)ewirken, und auch die Schrift forschung bringt 
dieselbe nicht ohne weiteres hervor, sondern dient nur dazu, 
die Hemmnisse dieser Erkenntnis zu beseitigen. Ob der 
Ätman erkannt werde, das hängt, wie die Erkenntnis jedes 
Objektes, davon ab, ob er sich uns zeigt, mithin von ihm 
selbst. Daher erscheint in der niedern Wissenschaft, welche 
den Atman als persönlichen Gott sich gegenüberstellt und 
verehrt (^ 15), das \Mssen als eine Gnade Gottes; in der 
höhern Wissenschaft läfst sich, da der Ätman in ^^"ahrheit . 
kein Objekt ist, nach einer Ursache seiner Erkenntnis nicht 
weiter fragen. 
J:J 40. Gleichwohl kennt die religiöse Praxis gewisse Mittel Hiusmittei 
. . '^ der 
(sddhcüuwi), durchweiche die Erkenntnis des Ätman befördert Erkennfnie. 
wird. So werden schon von dem zur A\"issenschaft Berufenen 
das Vedastudium und die vier Erfordernisse verlang-t 
(1. Unterscheidung der ewigen und der nichtewigen Substanz, 
2. Verzieh tung auf Genufs des Lohnes hier und im Jenseits, 
3. die Erlangung der sechs Mittel: Gemütsruhe, Bezähmung, 
Entsagung, geduldiges Ertragen, Sammlung, Glaube, 4. das 
Verlangen nach Erlösung). — Von dieser beim Schulunterrichte 
üblichen Aufzählung abgesehen und in allgemeinerm Sinne 
dienen als Beförderungsmittel des Wissens zwei: die Werke 
und die Meditation. 1. Die Werke können zwar das Wissen 
nicht hervorbringen, sind aber zur Erlangung desselben mit- 
behilflich (mlKiJcärin), und zwar dadurch, dafs sie die dem 
A\'issen entgegenstehenden Hemmnisse zerstören; als solche 
Hemmnisse gelten die Anfechtungen (kirra), wie (leidenschaft- 
liche) Liebe, Hafs us\v. (Die Werke haben somit im Heils- 
plane nicht eine meritorische, sondern asketische 
Bedeutung; vgl. 1082,12 nirahhismidhin, „ohne eigennützige 
Absicht''.) Die als Mittel des Wissens dienenden Werke sind 
teils als weitere (vuhja), teils als engere (pratyäsanna) bei 
39* 
ß\2 ^^^ Vedantasystem. 
demselben mitbehilflich. Als weitere Mittel werden auf- 
gezählt: „Vedastudium , Opfer, Almosen, Büfsen, Fasten" 
(Brih. 4,4,22, S. 479) ; diese sind nur bis zur Erlangung des 
Wissens zu betreiben. Im Gegensatze zu ihnen dauern die 
engern Mittel auch nach erlangtem Wissen noch fort; diese 
sind: „Gemütsruhe, Bezähmung, Entsagung, Geduld, Samm- 
lung" (Brih. 4,4,23, S. 480). 2. Neben den Werken dient als 
Mittel des Wissens die fromme Meditation (upäsanä). Sie 
besteht in der andächtigen Betrachtung der Schriftworte, 
z. B. der Worte iai ivam asi, und ist, dem Dreschen ver- 
gleichbar, solange zu wiederholen, bis das Wissen als Frucht 
derselben hervortritt, was, je nachdem einer mit Beschränkt- 
heit oder Zweifel behaftet ist, längere oder kürzere Zeit er- 
fordert. Mit der Erlangung des höhern Wissens fällt die 
Meditation weg, da sie ihren Zweck erreicht hat. (Die zum 
Werkdienst gehörigen Meditationen hingegen, wie auch die 
in der niedern Wissenschaft üblichen, sind bis zum Tode zu 
betreiben, indem die Gedanken in der Sterbestunde für die 
Gestaltung des Schicksals .im Jenseits von W^ichtigkeit sind.) 
Die Körperhaltung ist für die Meditation im Dienste der höhern 
Wissenschaft gleichgültig. (Ebenso für die Meditation als Teil 
des Werkdienstes; die in der niedern Wissenschaft übliche 
Meditation soll nicht stehend, noch liegend, sondern sitzend 
betrieben werden.) 
Die ver- § 41. Das Wisscn besteht in der unmittelbaren Intuition 
de^we^ife. ( (inuhhava) der Identität der Seele mit Brahman. Wer diese, 
und mit ihr die Überzeugung von der Nichtigkeit der viel- 
heitlichen Welt imd der Seelenwanderung erlangt hat, dessen 
vergangene Werke werden zunichte, und künftige kleben ihm 
nicht mehr an. Diese Vernichtung bezieht sich ebensowohl 
auf gute wie auf böse Werke, da beide ihre Vergeltung for- 
dern, mithin über den Samsära nicht hinausführen. Der 
Wissende hingegen ist zu der Erkenntnis gelangt: „das Brah- 
„man, welches der von mir früher für wahr gehaltenen Natur- 
„beschaffenheit des Täterseins und Geniefserseins entgegen- 
„gesetzt ist und seiner Naturbeschatfenheit nach in aller 
„Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Nichttäter und Nicht- 
„geniefser ist, dieses Brahman bin ich, und darum war 
(). Die Erlösung. {\i)^ 
„ich weder voiuiem Täter und (}eniers«'r, noch l)in ich es 
„jetzt, noch werde ich es jemals sein'* (p. 107 8,4 ? S- 706). 
Mit der Xiclitio;keit des Täterseins ist auch die Nichtio;keit 
des als Frucht desselben bestehenden eigenen Leibes erkannt ; 
somit wird der Wissende von den Schmerzen seines eigenen 
Leibes so wenig berührt wie von fri^mden Schmerzen; und 
wer noch den Schmerz empfindet, der hat eben das volle 
A\'issen noch nicht erreicht. 
s^ 42. Wie es für den Wissenden keine Welt, keinen Aufliebung 
Leib, keine Schmerzen mehr, so gibt es für ihn auch keine paichtea. 
Vorschrift des Handelns mehr. Doch wird er darum nichts 
Böses tun: denn dasjenige, was die Voraussetzung alles Tuns, 
des guten wie des bösen, bildet, der falsche Wahn, ist in 
ihm zunichte geworden. Ob er im übrigen noch Werke tut, 
ist gleichgültig; mag er sie tun oder nicht, sie sind nicht 
seine Werke und haften ihm nicht mehr an. (So nahe es 
auch gelegen hätte, aus dem beschriebenen Zustande des sich 
als die Seele des Weltalls Wissenden ein positives moralisches 
Verhalten, welches sich in AN'erken der Gerechtigkeit und 
Liebe äufserte, abzuleiten, — so können wir doch eine solche 
Ableitung zwar in der Bhagavadgitä*, nicht aber bei Qaiikara 
nachweisen.) 
§ 43. Das Wissen verbrennt den Samen der Werke, so warum der 
dafs zu einem abermaligen Geborenwerden kein Stoff vor- lösten noch" 
banden ist. Hingegen vermag das Wissen nicht, die Werke 
zu vernichten, deren Saat schon aufgegangen ist, d. h. die- 
jenigen, aus welchen der gegenwärtige Lebenslauf gezimmert 
ist. Hierauf beruht es, dafs der Leib, auch nachdem die 
Erweckung (prahoiVaa) vollbracht ist, noch eine Weile fort- 
besteht, ähnlich wie die Töpferscheibe noch fortrollt, auch 
nachdem das Gefäfs, dem sie als Unterlage diente, vollendet 
ist. Doch ist dieses Fortbestehen ein blofser Schein, den 
der Wissende nicht heben, der ihn aber auch nicht weiter 
* Bhag. G. 13,27— 2>5: 
Dieselbe höchste Gottheit, in allen Wesen stehend 
Und lebend, wenn sie sterben, — wer diese sieht, ist sehend! 
Denn welcher allerorts den höchsten Gott gefunden, 
Der Mann wird durch sich selbst sich selber nicht verwunden. 
ßl4 I^^s Vedänta System. 
täuschen kann; so sieht der Augenkranke zwei Monde, aber 
er weifs, dafs in Wahrheit nur einer vorhanden ist. 
Auflösung § 44. Nachdem die Werke, deren Frucht noch nicht 
<ien i^Brahl begonnen hat, durch die Erkenntnis vernichtet, diejenigen 
°'''°" aber, als deren Frucht das gegenwärtige Dasein besteht, durch 
den Ablauf dieses Daseins zum Austrage gekommen sind, so 
tritt mit dem Augenblicke des Todes für den Wissenden die 
völlige und ewige Erlösung ein; „seine Lebensgeister ziehen 
nicht aus, sondern Brahman ist er, und in Brahman löst er 
sich auf." 
,,Wie Ströme rinnen und im Ozean, 
„Aufgebend Name und Gestalt, verschwinden, 
,,So geht, erlöst von Name und Gestalt, 
,,Der Weise ein zum göttlich-höchsten Geiste." 
Anliaug zum Yedaiitasysteme : 
Der Vedäntasära des Sadänanda. 
Vorbemerkungen. 
Zum Abschlufs unserer Darstellung des Vedäntasystemes 
und damit unserer seit fünfunddreifsig Jahren der indischen 
Philsophie zugewandten Bemühungen wollen wir noch ein 
Vedäntawerk aus späterer Zeit behandeln, den Vedäntasära 
des Sadänanda, welcher von allen Vedäntaschriften wohl die 
am meisten gelesene ist und wegen der Klarheit und Präzision 
ihrer Form wie auch wegen ihres geistvollen Inhaltes diese 
Bevorzugung durchaus verdient, doch aber nur mit einigem 
Vorbehalte empfohlen werden kann, da ihr Verfasser einer- 
seits, wie so mancher pliilosophische Kopf, an einer über- 
grofsen Neigung zu systematisieren leidet, welche ihn mehr 
als einmal veranlafst, den Verhältnissen Gewalt anzutun, 
andererseits in dem Bestreben, die verschiedenartigsten Lehren 
der Vergangenheit zu Worte kommen zu lassen, nicht nur 
aus Brihadäranyaka, Taittiriya, Mändükya, wohl auch Nrisin- 
Iiottaratäpaniya heterogene Anschauungen schöpft, zusammen- 
biegt und zu einem immer geistvollen, aber im Grunde doch 
l)hiIosophisch wertlosen Ganzen verwebt, sondern auch diesem 
seinem Gewebe einen bedeutenden Einschlag von Fäden aus 
dem Sähkhyasysteme, wie namentlich die drei Guna's und die 
Tanmätra's, einverleibt. Doch diese Konnivenz gegenüber so 
heterogenen Anschauungen im einzelnen tut der Gröfse, Rein- 
heit und Wahrheit der Grundanschauungen keinen Eintrag, 
6 1 6 Der Vedäntasära des Sadänanda. 
da dieselben durchaus auf dem festen Fundamente der von 
Gaudapäda, dem Dichter der Mändükya-Kärikä (Sechzig 
Upanishad's S. 573 — 604), und Qaiikara in seinem grofsen 
Kommentare vertretenen Einheitslehre, des Ädvaitam, beruhen. 
Wie diese Vorgänger, so lehrt auch Sadänanda, dafs dem 
Atman, dem Brahman, oder, wie er mit Vorliebe sagt, dem 
reinen Geistigen [caitanyam^ vgl. oben S. 603, § 26) allein 
Realität zukommt, und dafs die ganze vielheitliche Welt 
diesem Geistigen durch das Nichtwissen (die avidyä, wie 
^ankara, das ajnänam, wie Sadänanda sagt) nach einem bei 
^'ahkara oft vorkommenden und wahrscheinlich von ihm über- 
nommenen Ausdrucke, dem Atman, der Seele ,, aufgebürdet" 
[adhjäropita , vgl. oben S. 597. 600, § 20. 23) ist. Die Dar- 
stellung dieses Adhyäropa, der Aufbürdung der vielheitlichen 
Welt auf die Seele durch das Nichtwissen, bildet von § 34 — 
160 den Kern aller Ausführungen des Vedäntasära. Er zeigt 
in diesem Abschnitte, wie das reine geistige Licht der einen 
ewigen Seele von dem Dunkel des Nichtwissens mit einer 
stufenweise dichter werdenden Hülle umgeben wird, und wie 
dadurch der reine Geist zunächst, von den feinsten Ele- 
menten des Nichtwissens umschleiert, zum Weltgeiste und 
Einzelgeiste, sodann durch Behaftung mit dem feinen 
(psychischen) Leibe zur Weltseele und Einzelseele und 
endlich durch Behaftung dieses feinen Leibes mit einem groben 
Leibe zum beseelten Weltleibe und zum beseelten Einzel- 
leibe wird. Hierdurch entstehen vier Zustände der Seele, 
welche eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den vier Stadien 
der neuplatonischen Emanation (Iv, voOc46£a'., '^'jx"^? ^^) ^^" 
sitzen, ohne dafs übrigens zwischen beiden ein anderer Zu- 
sammenhang als der in der Natur der Dinge selbst begründete 
anzunehmen wäre, da die vier Prinzipien des Plotinos, wie 
wir später einmal zu zeigen hoffen, ganz naturgemäfs aus 
den Grundanschauungen des Piaton (der Idee des Guten, der 
Ideenwelt, dem gemischten Gebiete des Psychischen und der 
platonischen Materie) hervorgewachsen sind, während der 
indische Philosoph, geleitet durch die unvergleichlich schönen 
Ausführungen der Brihadäranyaka-Upanishad 4,3 — 4 über die 
vier Zustände der Seele in Wachen, Traumschlaf, Tiefschlaf und 
Vorbemerkungen. (517 
Erlösung dic-e in du' MandCikya-rpanisha»! übergegangenen 
und von dort durch unsern Autor übernommenen vier Zu- 
stände zur Grundlage seiner ganzen Konstruktion gemacht 
hiit. Im Wachen ist die Seele an den groben Leib, die 
grobe Welt, gebunden; im Traume wird sie von beiden frei 
und bleibt nur noch mit dem leinen psychischen Leibe be- 
haftet, welchem als Objekt die feine, psychische Weltaus- 
breitung (siikshnia-prapanca) der Traumwelt gegenübersteht; 
im Tief schlafe wird die Seele auch von diesem frei und 
bleibt nur noch mit den feinsten Teilen des Nichtwissens 
behaftet, bis sie endlich in der Erlösung, die ja auch bei 
Lebzeiten schon bestehen kann, von den letzten Resten des 
Nichtwissens befreit, den höchsten Zustand reiner Geistig- 
keit erreicht, welchen unser Autor nach dem Vorgange von 
^ländükya und Nrisinhottaratäpaniya nur noch als das Tiiriyam, 
das keinen AN'orten und Begriffen mehr erreichbare „Vierte" 
bezeichnet. 
Diese Stufenordnung vom Turiyam an bis zum groben 
Leibe herab verfolgt unser Verfasser nach zwei Seiten hin, 
nach der kosmischen und der individuellen, oder, wie er sagt, 
nach dem Gesichtspunkte der Gesamtheit, Samashti, und dem 
der Einzelheit, Vi/ashfi. Dieser Gegensatz, welcher schon 
Brih. Up. 3,3,2 begegnet, und sowohl im Vedänta (z. B. bei 
(^ankara in der Einleitung zu Brih. üp. p. 14,3 Calc.) als auch 
im spätem Saükhyam (Vijnänabhikshu zu Säiikhyasütra 3,9) 
gelegentlich hervortritt, beherrscht die ganze Darstellung im 
Vedäntasära. Dem Einzelgeist steht der \\'eltgeist, der Einzel- 
seele die Weltseele, dem beseelten Einzelleib der beseelte 
Weltleib gegenüber; alle sechs schliefsen das reine Geistige, 
das Turiyam, ein, und dieses Verhältnis erläutert unser Autor 
durch ein immer wiederkehrendes Bild von blendender Schön- 
heit, indem er die Einzelheit mit den Bäumen, die Gesamtheit 
mit dem aus ihnen bestehenden Walde, und das sie beseelende 
Geistige mit dem Akäga, dem Äther oder Räume, vergleicht; 
wie dieser, eingeschlossen in den Bäumen, eingeschlossen in 
dem Walde, und doch unberührt von diesen Einschränkungen 
als der grofse, Bäume, \\'ald und alles andere durchziehende 
\Veltraum besteht, so besteht, unberührt von seineu durch 
(]{>> I*er Vedäntasära des Sadäuauda. 
das Nichtwissen bedingten Einschränkungen als Einzelwesen 
und Allwesen, das reine Geistige, der Atman, das Turiyam. 
Folgendes Schema mag zur Verdeutlichung der genann- 
ten Verhältnisse dienen und mufs bei allen folgenden Be- 
sprechungen, wie auch beim Lesen der unserer Darstellung 
angehängten Übersetzung des Vedäntasära immer gegenwärtig 
gehalten werden. 
Samashti (Gesamtheit) Vyashti (Einzelheit) 
Erlösung: Turlijuni (das Vierte) 
Tiefschlaf: Irvava (Weltgeist) Präjha (Einzelgeist) 
Traum: Suträtman (Weltseele) Taijasa (Einzelseele) 
Wachen: Vai(;vdnara (Weltleib) Vicra (Einzelleib). 
Zur Genesis dieser Konstruktion und zur Ergänzung des 
Schemas, welches wir nicht mit zu vielen Einzelheiten be- 
lasten wollten, mag noch folgendes dienen. Die vier Zustände, 
Wachen, Traum, Tiefschlaf und Erlösung, gehen, wie bereits 
bemerkt, im letzten Grunde auf das berühmte Gespräch 
zwischen Yäjnavalkya und König Janaka, Brih. Up. 4,3 — 4, 
8. 466 — 480 der Übersetzung zurück, und sind von dorther 
in die Mändükya-Upanishad 3 — 5, S. 578 übernommen worden. 
Hier begegnen uns, und zwar nur für die Einzelseele in ihren 
vier Zuständen die Namen caturtlm (der Vierte == turUja), 
jrrdjna (der Weise), iaijasa (der Lichte) und vaigvänara (der 
Allmenschliche), während für den letzten Ausdruck schon in 
der die Stelle erläuternden Kärika des Gaudapäda (Sechzig 
l'panishad's S. 578) der Ausdruck vigva (,,jeder einzelne" oder 
,,der Durchdringende") eintritt. Einen weitern Schritt be- 
zeichnet die tiefsinnige, aber auch teilweise dunkle Nrisin- 
hottaratäpaniya-Upanishad, wenn sie in ihrem Eingange (S. 780 
der Übersetzung) die Worte der Mändükya-Upanishad reprodu- 
ziert, nur dafs sie statt caturtha den Ausdruck turrija (als 
^laskulinum) gebraucht, und neben Fräjlta den Irvara, neben 
Taijasa den HiranyagarhJta, und neben Vigva den Vaigvänara 
Vorbemerkungen. C)\^ 
unvermittelt und ohne jede Erklärung hinstellt. Auf dieser 
rpanishad oder wenigstens auf der in ihr zutage tretenden 
Nomenklatur beruht die des Vedäntasära, nur dafs er synonym 
mit Hirainjaiiarhlui die Namen Fräna (liier wie öfter der 
„Weltlebenshaueh") und Siiträti)ian (der „Fadengeist") ge- 
braucht. Der letztere Ausdruck geht zurück auf Brih. Up. 
3,7,1 — 2, S. 440, wo als der Faden (sittram), welcher die 
Welten zusammenbüschelt, der öfter als Symbol des Brahman 
dienende Wind bezeichnet wird, von dem es dann in einer 
verwandten Stelle Brih. Up. 3,3,2, S. 435 heifst: „Darum ist 
der Wind die Besonderheit (vi/ashti) und der Wind die All- 
gemeinheit (mmasltti)''^ woher denn unser Autor auch diese 
Ausdrücke, sei es unmittelbar oder mittelbar, entnommen, 
haben mag. 
Weiter aber verflicht er seiner Darstellung auch die nach 
Taitt. Up. 2, S. 211 fg. gleichwie Hülsen in einander steckenden 
fünf Atman's, welche bei ihm, ohne den letzten, in der Upa- 
nishad den eigentlichen Kern bildenden änandamaya auszu- 
nehmen, alle fünf zu blofsen l-oga^s (Hülsen oder Hüllen) 
werden, mit welchen durch das Nichtwissen das reine Geistige 
umhüllt wird; dem Igvara und Präjna entspricht dabei der 
luiamlamat/a Jcoga, dem Süträtman und Taijasa der vijnäncnnaya, 
uuuiomaija und prdnamaya, und endlich dem Vaigvänara und 
Vi^va der uunamaya Icora. 
Alle diese Entlehnungen gehen wenigstens auf ältere und 
jüngere l panishad's zurück. Weiter aber gewinnt unser Autor 
die Möglichkeit, wesentliche Elemente der Sänkhyalehre, teil- 
weise in Umformung, seiner Betrachtung zu verweben, indem 
er, ähnlich wie es Q\et. Up. 4,10 gescliieht, die Prakriti kurz- 
weg mit der Mäyä, d. h. mit dem Ajüänam, dem Nichtwissen, 
identisch setzt und nun die drei Guna's, aus denen die Pra- 
kriti besteht, Sattvam, Rajas und Tamas heranzieht, um die 
stufenweise zunehmende Umhüllung des Geistigen durch das 
Nichtwissen zu erklären. 
Nach diesen Vorbemerkungen gehen wir zur Analysis des 
Vedäntasära im einzelnen über und schicken nur noch zur 
Orientierung die Namen der zwölf Teile voraus, in welche 
sich das überaus kunstvoll angelegte Ganze zerlegt. 
^20 1^61' Vedäutasära des Sadänaiida. 
I. Vorwort und Thema (1 — 2). 
II. Voraussetzungen des Vedänta (3 — 33). 
III. ÄdJii/äropa, die Aufbürdung (34 — i}6). 
IV. AvaranaraJcti, die Verhüllungskraft des Nichtwissens 
(67—69). 
V. Die Ausbreitung des feinen Leibes (70 — 122). 
VI. Die Ausbreitung des groben Leibes (123 — 145). 
VIL Polemiseher Teil (146 — 160). 
VIII. Äpaväda, die Aufhebung (161—163). 
IX. Das grofse Wort: tat tvam asi (164 — 186). 
X. Das grofse Wort: aham brahma asmi (187 — 195). 
XL Die vier Änushthänas, Übungen (196 — 228). 
XII. Der JwanmuJita, der bei Lebzeit Erlöste (229 — 240), 
I. Vorwort und Thema (1 — 2). 
Unser Autor beginnt sein Werk mit zwei einleitenden 
Distichen. In dem ersten nimmt er seine Zuflucht zu dem 
über Worte und Gedanken erhabenen Atman, welcher seinem 
Wesen nach S((c-cid-änandc(, „Seiendes, Geist und Wonne" 
ist (vgl. oben S. 590, § 10), und dabei doch eine unteilbare 
(aTchanda) Einheit bildet, ähnlich etwa wie von Scotus Erigena 
die einheitliche Gottheit in neuplatonischer Weise nach dem 
Schema der Trinität als Sein, Weisheit und Leben aus- 
gedeutet wird. Im zweiten Distichon zollt er die gebührende 
Verehrung seinem Lehrer, welcher, wie Sadänanda selbst, 
seinem eigentlichen Namen nach unbekannt, artJi(das, „sinn- 
gemäfs", weil er sich durch den Schein der Vielheit nicht 
mehr blenden liefs, den Ordensnamen Ädvaya-äjianda („an 
der Nichtzweiheit seine Wonne habend") oder Ädvaita-änanda 
angenommen hatte und nach Colebrooke, Mise. Ess."^ p. 359 n. 
Verfasser eines Kommentars zu CanJcara's CJäriraka-hhäshyam, 
mit dem Titel Brühmavidyähharanitm war. Dieser Kommentar, 
obgleich nach Hall, Index p. 89 aus 24000 Doppelversen be- 
stehend, soll nur der Auszug aus einem noch gröfsern Kom- 
mentar, der Bliüshya-ratna-xwabhä des limnänanda Sarasvati, 
sein, nach Hall 1. c. eines Schülers des Govindänanda Sarasvati, 
Schülers des Gopäla Sarasvati, Schülers des Qivaräma Sarasvati. 
1. Vorwort und Thema (1 — 2). 621 
Diese Liste von Vorgängern beweist einerseits, dafs Sadänanda, 
wie ja auch aus seinem Werke vielfach ersichtlich, in der 
von Gaudapada und (^aiikara (800 p. C.) ausgehenden Tra- 
dition steht, andererseits, dafs er von diesen Heroen schon 
durch einen beträchtlichen Zeitraum getrennt war, wie denn 
der Vedantasara gelegentlich (vgl. unten S. 627) wörtliche 
l'bereinstimmuns; nicht nur mit den Sankhvasütra's, sondern 
sogar mit ihrem von yijnänablülxshu verfafsten Kommentare 
zeigt, dessen Autor nach Hall, Sankhyasära p. 37 n. um 1560 p. C. 
lebte. Im übrigen ist die Zeit des Sadänanda ungewifs. 
Weiter folgt eine nicht sehr durchsichtige Definition des 
Vedanta: Er befafst „die Upanishad's als Richtschnur" oder, 
grammatisch näher liegend, „was die Upanishad's als Richt- 
schnur anerkennt" (upanishat-pramanam, sc. darganam). Der 
weitere Zusatz: „und die sie unterstützenden Schriften, wie 
die Qü-/ralasutra's und andere" ist dem Sinne nach klar, in 
seiner Koordination aber mit dem Vorhergehenden befremd- 
lich. Auch unser Autor will den Vedanta lehren. Sein Unter- 
nehmen mufs daher dieselben Voraussetzungen oder Vor- 
bedingungen (amthandha) stellen wie die, an welche jede Mit- 
teilung der Vedäntalehre geknüpft ist. Diese Voraussetzungen, 
welche der Vedanta im allgemeinen und somit auch unser 
Autor machen mufs, sind die folgenden. 
II. Voraussetzungen des Vedsinta (3 — 33). 
Wie bei jeder schulmäfsigen Belehrung, so müssen auch 
beim Vedanta unterschieden werden 1. die Person, welche man 
belehrt, 2. der Gegenstand der Lehre, 3. ihre Begründung 
und 4. ihr Zweck. Nur der erste Punkt wird eingehender 
erörtert. Neben dem Studium der Veden und Vedanga's so- 
wie einem in ritueller und moralischer Hinsicht korrekten 
Verhalten wird in Übereinstimmung mit (^'ankara und allem 
Anscheine nach auf Grund des von ihm zu Brahmasütra p. 28,3 
Gesagten (oben S. 611, § 40) von dem zum Empfang der 
Belehrung Berechtigten viererlei erfordert. Er mufs erstlich zu 
unterscheiden weissen zwischen dem Ewigen und Nichtewigen, 
zweitens weder im Diesseits noch im Jenseits auf Lohn hoffen^ 
<)22 r)pr Vedäntasära des Sadänanda. 
drittens die Brili. Up. 4,4,23 aufgezählten Tugenden der Ge- 
mütsrulie, Bezähmung, Entsagung, Geduld und Sammlung, 
wozu unser Autor (wie schon die Glosse zu (^ankara p. 28,23j 
noch als sechste den Glauben fügt, besitzen, und endlich 
viertens Verlangen nach Erlösung tragen. Diese vier Erforder- 
nisse, über welche wir System des Vedänta S. 81 — 8(1 des 
nähern gehandelt haben, werden von Sadänanda § 14 — 27 
im einzelnen besprochen. Kürzer fafst er sich über die drei 
übrigen Voraussetzungen: das Objekt der Belehrung ist die 
Einheit der Seele mit Braliman, ihre Begründung findet 
diese Lehre in den Texten der Upanishad's, und der End- 
zweck ist Vernichtuno; des Nichtwissens und Erlans-uno; der 
Seligkeit in Braliman. 
Der Schüler, welcher die erwähnten Anforderungen er- 
füllt, begibt sich mit dem Brennholz zur Pflege der heiligen 
Feuer als Zeichen der Schülerschaft in der Hand, wie die 
Upanishad (Mund. 1,2,12) sagt, mit einer Gabe in der Hand, 
wie Sadänanda dieses Wort umdeutet, zu dem Vedäntalehrer, 
welcher ihn aus Mitleid, nach der Methode der Aufbürdung 
(adhyäropa) und der Aufhebung (apaväda) belehrt Mit diesen 
AVorten ist die Disposition des Vedäntasära im allgemeinen 
angedeutet. Er handelt § 34 — 160 von der Aufbürdung und 
ini — 163 von der Aufhebung, woran sich noch eine Reihe 
von Nachträgen schliefst. 
III. Adhijai'opa, die Aiifbürdung^ (34—66). 
Der charakteristische, wiederholt von Qahkara gebrauchte 
(oben S. 597 u. 600 fg., § 20 u. 23} und, wie es scheint, von 
ihm geprägte Ausdruck, dafs die Weltausbreitung der Namen 
und Gestalten dem Braliman, dem Atman, durch das Nicht- 
wissen „aufgebürdet" (adhuuropita) werde, beherrscht die ganze 
Darstellung des Sadänanda. Auch ihm ist das Eeale allein 
das Brahman, wie es in allem Geistigen in der Welt zutage 
tritt, das Nichtreale ist die ganze Weltausbreitung, welche 
dem Realen, der Seele, nur durch das Nichtwissen aufgebürdet 
wird; das Nichtwissen aber ist tattra-anyatvähJri/ani arürvacain- 
yam, wie Qahkara (oben S. 601, § 23), oder, wie abhängig 
III. Adbyäropa, die Aufbürdung (14—66). 023 
davon unsor Autor sagt, sad-a^mlhhuum anirvacanfi/mii, „weder 
als seiend, noch als nicht-seiond dotinierbar'", und, wie er oegen 
^ankara, der die Gunalohre bekämpft, liinzufügt, trifjuna-äinui- 
l(()n, ,.aus den drei Guna's bestehend". Die Verbindung dieser 
beiden Ausdrücke macht es dem Verfasser möglich, bei vollem 
Festhalten an der idealistischen (Jrundanschauung des Vedanta 
die Gunalehre des Sankhyasystems in ausgiebiger \N"eise heran- 
zuziehen, um mit ihrer Hilfe die Weltausbreitung aus dem 
Atman abzuleiten. Sofern dieser von der Gesamtmasse des 
Nichtwissens eingehüllt ist, M^ird er mit stufenweise zunehmender 
Verdunkeluno; zum h r<n'<( , zum Snträfniaii, zum Vairvänara, 
sofern es nur ein einzelner Teil der Nichtwissensmasse ist, 
welche den Atman einhüllt, wird er in entsprechender Ab- 
stufung zum FrcyHa, zum Taijasa und zum Virva. Die oberste 
Stufe dieser Trias, der I^vara und der Präjna, oder, wie wir 
mit modernen Ausdrücken sagen können, der Weltgeist und 
der Einzelgeist, entstehen dadurch, dafs das allein reale Geistige 
vorwiegend mit dem Satt\am, dem obersten Guna, als dem 
feinsten Elemente des Nichtwissens, behaftet wird. Eine ,,hohe" 
Behaftung durch reine Sattvateile macht das Wiesen des I^vara, 
eine „niedere" Behaftung durch unreine, d. h. wohl schon mit 
Rajas und Tamas gemischte Teile des Sattvam, das AW^sen 
des Präjna aus. Jener ist allwissend, sofern er die ganze 
Masse des Nichtwissens mit seiner Geistigkeit durchleuchtet, 
dieser vermag nur einen Teil des Wissens zu durchleuchten, 
und ist daher nur von beschränkter Einsicht. 
Dem t^vara als Subjekt steht als Objekt die Gesamt- 
masse des Nichtwissens gegenüber; sie ist, sofern er aus ihr 
die Gesamtheit der Dinge schafft, sein lyhr(na^(iyn-((m, sein 
„ursäclüicher Leib". Dem Präjna als Subjekt steht als Objekt 
nur ein einzelner Teil des Nichtwissens gegenüber, welcher 
sein Mravartinram ist, sofern er aus ihm als Ursache „das 
Ichbewufstsein" usw., d, h. wohl die ganze ihn umhüllende, 
individuelle Leiblichkeit bildet. Beide aber, der i^vara als 
Weltgeist und der Präjna als Einzelgeist, sind nur so von 
einander verschieden wie der W^ild von den einzelnen Bäumen, 
das Gewässer von den einzelnen Wasserteilen. Dies erinnert 
an den Gott der Aristoteliker, welcher als das begriffliche 
024 Der Vedäntasära des Sadänanda. 
Wesen der Dinge in ihnen allen sich verwirklicht und aus 
ihnen als voO? Tzoir^-ziy.cQ in den Menschen von aufsen her 
seinen Einzus; hält. Aber wie der Gott des Aristoteles nicht 
nur immanent als das Geistige in den Dingen enthalten ist, 
sondern zugleich transscendent über ihnen steht, so besteht 
nach unserm Autor aufser dem Igvara und Prajna das ihr 
Wesen ausmachende reine Geistige als das Turiyam, welches 
sich zu iQvara und Prajna verhält wie zu dem in dem Walde 
und den Bäumen eingeschlossenen Räume sich verhält der 
grofse, allgemeine Weltraum, dessen blofse Limitationen alle 
Einzelräume sind, und von dem sie nur durch das diese Limi- 
tationen setzende Nichtwissen sich unterscheiden. Wie die Glut 
eine Eisenkugel in allen ihren Teilen durchdringt, so durch- 
dringt das Turiyam den Igvara wie den Präjüa. Die Identität 
dieser beiden ist der eigentliche Sinn des grofsen Wortes: 
Tat tvam asi, „das bist du", während sein metaphorischer 
Sinn die Beziehung von fat und tvam auf das eine Turiyam ist. 
Wie dem Vai^vänara und Vi^A^a die grobe Welt des Wachens, 
wie dem Süträtman und Taijasa die feine, nur in unkörper- 
lichen Vorstellungen bestehende Traumwelt gegenübersteht, 
so tritt die reine Natur des Igvara und Prajna nur hervor im 
tiefen, traumlosen Schlafe, in welchem nach hergebrachter 
Anschauung der Upanishad's eine vorübergehende Einswerdung 
der individuellen Seele mit dem höchsten Brahman und mit 
ihr ein Brih. Lp. 4,3,33, S. 472 und Taitt. Up. 2,8, S. 232 be- 
schriebener Zustand der höchsten Wonne eintritt (vgl. oben 
§ 33, S. 606), daher die Umhüllung des I^vara und Prajna 
mit den feinsten Teilen des Nichtwissens als deren „wonne- 
artige Hülle" (änandamaija hoga) nach Taitt. üp. 2,5, S. 230 
bezeichnet wird. „Hierbei geschieht es, dafs diese 
beiden, der Igvara und der Prajna, vermittelst über- 
aus feiner, durch das Geistige angefachter Funk- 
tionen des Nichtwissens die Wonne geniefsen" (§59). 
IV. Avaratui^aMi, die Verhülhiugskraft des ISichtwissens (67 — 69). 
Alle Metaphysiker, wenn sie die uns umgebende empirische 
Realität für blofse Mät/ä, el'SoXa, Erscheinung, erklärten und 
IV. Ävarana^akti, die Verhüllungskraft dos Nichtwissens (G7— 69), 025 
von ihr (Wo ^vallr»• Kealität als don AtiiKin, das ah-b y.oit' auTc, 
das Ding an sich, untcrscliieden, sahen sich vor die Frage 
gestelU, warum wir denn immer nur Erscheinungen und nicht 
viehnehr die walire Wesenheit, die Dinge an sich erkennen 
können. \\'as tritt dieser Erkenntnis hindernd in den Weg, 
was schiebt sich als ein trübendes Medium zwischen unser 
erkennendes Subjekt und die wahre Eealität ein? Bei den 
Indern ist es die Jldi/ä, d. li. das Nichtwissen, bei Piaton 
(his "taTepov, [j-eptCTcv , das ä7T:£',pov, die platonische Materie, 
welche, obgleich selbst nicht real, uns verhindert, die eigent- 
liche Realität zu erkennen, und erst in der Kantischen Philo- 
sophie erwies sich dieses Phantom der Mäyä, der Materie 
des Piaton, als ein blofser Komplex subjektiver Faktoren, als 
das Ineinander der unserm Intellekte angeborenen Formen 
des Raumes, der Zeit und der Kausalität, welche letztere, 
objektiv im Räume angeschaut, eben als die bei allem Wechsel 
der Zustände beharrende Substanz erscheint. Zu dieser Er- 
kenntnis ist weder die griechische noch die indische Philo- 
sophie durchgedrungen. Vielmehr redet schon ^ankara (oben 
v:; 17, S. 595) in exoterischem Sinne von den mannigfachen 
Kräften, mittels deren Brahman die Welt ausbreite (vgl. System 
des Vedänta S. 245 fg.), oder von der auf dem Nichtwissen 
beruhenden Vielheitskraft [hheda-ralii, oben § 23, S. 601), und 
im Anschlufs an ihn erklärt unser Autor § 66, dafs das Nicht- 
^\■issen zw^ei Kräfte habe, die Kraft der Verhüllung und die 
Kraft der Ausbreitung. Die erstere schiebt sich zwischen das 
erkennende Subjekt und das allein reale Brahman wie eine 
Wolke zwischen das Auge und die Sonne, und auf dieser 
\ t'rliülkmgskraft* beruht es, dafs die Seele, obgleich sie in 
Wahrheit mit dem weder tätigen noch geniefsenden , weder 
Lust noch Leid empfindenden Brahman identisch ist, in den 
Walm verfällt, dem Samsära anzugehören, Täter und Geniefser 
zu sein und Lust und Schmerz zu empfinden. 
* Diese Schilderung der „Verhüllungskraft" durch Sadänanda ist 
vielleicht die Quelle für den in europäischen Schriften so oft erwähnten 
„Schleier der Mäyä'', dem wir, von obiger Stelle abgesehen, in indischen 
Schriften noch nicht begegnet sind. 
JDeussen, GeBchichte der Philosophie. I, m. 40 
626 D^^ Vedäntasära des Sadänanda. 
V. Die Äusbreituna: O'ifi'shepaJ des feinen Leibes und der feinen 
Welt (70—122). 
Während die Verhülkmgskraft nur negativ wirkt, indem 
sie uns das Brahman, den Atman und damit unser eigenes 
wahres Wesen verbirgt, so ist es eine zweite Kraft des Nicht- 
wissens, die v/Jishcpa-galii oder „Ausbreitungskraft", welche 
„in dem Ätman den Wahn der Weltausbreitung entstehen 
läfst". Auf ihr beruht zunächst die Ausbreitung des feinen 
Weltleibes und des feinen Einzelleibes sowie weiterhin die 
Ausbreitung des groben Weltleibes und des groben Einzel- 
leibes. Von beiden wird gesondert zu handeln sein. 
Das von dem Nichtwissen umhüllte Geistige, welches wir 
oben als den Igvara kennen lernten, ist die causa efßciens 
und die causa materialis der Welt, ersteres, sofern sein eigenes 
Wesen, letzteres, sofern das ihn umhüllende Nichtwissen über- 
wiegt. Es ist das Tamas, der gröbste der drei Guna's, aus 
denen das Nicht\^dssen besteht, welches durch sein Überwiegen 
aus dem vom Nichtwissen umhüllten Geistigen nach Taitt. 
Up. 2,1 zunächst den Äther, aus diesem den Wind, aus diesem 
das Feuer, aus diesem das Wasser, aus diesem die Erde her- 
vorgehen läfst, aber neben Tamas sind auch Kajas und Sat- 
tvam in den fünf Elementen vorhanden und treten je nach 
ihrem Überwiegen aus denselben hervor (§ 76). Im Gegen- 
satze zu der Upanishadstelle, welche seine Quelle ist, erklärt 
unser Autor, dafs die aus dem l9vara hervorgehenden fünf 
Elemente noch nicht die groben, sinnlich wahrnehmbaren Ele- 
mente seien, welche erst später durch Mischung entstehen, 
sondern die Tanmätra's oder Reinstoffe, welche hier wie im 
Sänkhyasystem, aus dem sie herübergekommen sind, nur das 
psychische Material sind, aus welchem der „feine Leib", 
d. h. der psychische Organismus sowohl des Weltganzen als 
der Einzelwesen sich bildet, das stikshmagarirmn , wie es bei 
^ahkara oben § 19 und § 31, S. 596. 605, das Imgaganram 
oder Ungarn, wie es im Sänkhyasystem (Kärikä 20. 40. 41. 42. 
52. 55, oben S. 433. 448. 449. 455. 457) genannt wird, welche 
beiden Ausdrücke hier ebenso wie die an sie geknüpften 
Vorstellungen beider Systeme verbunden auftreten. Wie nach 
V. Die Ausbrrituny dos leinen I.oiln'S iinil der feinen Welt (70 — 1'22). (^):^7 
w^änkliyasütrain .'),9 ist auch nach Sadaiianda das Lifigain 
sicbzehnfarh : als seine siebzehn Teile zählt er die fünf Er- 
kenntnisorgan<% Buddlii, Manas, die fünf Tatorgane und (dieses 
im («egensatz zu Sankhyasutram 3,9) die von den Sänkhya's 
abgelehnten fünf Lebenshauche auf. Cittam und Ahankära, 
welclie weiter unten i^ 140 neben Manas und Buddhi er- 
scheinen, sollen nach i:? 85 in Buddhi und Manas einbegriflen 
sein (vgl. i^ 85: auaifor cva citfa-dhatnkanij/or autarhJiuvah mit 
Vijnanabhikshu zu Sankhyasutram 3,9: aJiaml-arasyd hnddlutn 
eva (üifarhliäva/j, wo auch zwei Zeilen vorher die unserm Autor 
so geläutigen Termini niilitvä und samashti-rüpam Yovkimww^w). 
Erkenntnisorgane, Buddhi, Manas und Tatorgane werden in 
üblicher Weise aufgezählt und definiert, die fünf Präna's hin- 
gegen werden abweichend von ^'ankara (oben § 30, S. 005) 
auf Atmung, Entleerung, Blutumlauf, Auszug der Seele und 
Ernährung gedeutet (vgl. zur Vorgeschichte dieser Auffassung 
oben I, 2, S. 248 — 252). Noch fünf weitere Lebenshauche 
(^ 99 — 105) werden von einigen angenommen, aber von andern 
nicht anerkannt, weil sie in den fünf ersten inbegriffen seien 
(§ 105). Die fünf Erkenntnisorgane werden aus den sattva- 
artigen Teilen der fünf Elemente, denen sie im einzelnen ent- 
sprechen, abgeleitet; ebenso die fünf Tatorgane aus deren 
rajasartigen Teilen; auch sie sollen im einzelnen den fünf 
Elementen entsprechen, wie hier unser Autor, geleitet durch 
eine falsche Analogie und gegen Sänkhya-Kärikä 34 und die 
Natur der Sache selbst, lehrt. Aus vereinigten Teilen des 
Sattvam sollen Buddhi und Manas, aus vereinigten Teilen 
des Rajas die fünf Präna's entsprungen sein. 
Hier ist nun die Stelle, wo unser Autor Gelegenheit 
nimmt, drei weitere der Taitt. Up. 2,1 genannten Hüllen ein- 
zuschieben. Die fünf Erkenntnisorgane nebst der Buddhi 
biUh^n nach ihm die erkenntnisartige (vipuiuamaya), die fünf 
Tatorgane nebst dem Manas die wunschartige (mmioniaija), 
die fünf Tatorgane nebst den fünf Lebenshauchen die lebens- 
hauchartige (prcumnmya) Hülle. Diese drei Hüllen treten im 
Organismus auf als die drei Kräfte des Erkennens, Wolfens 
und Wirkens und betätigen sich in ihm als Täter, Werkzeug 
und Wirkung. 
40* 
ß28 Der Vedäntasära des Sadänaiula. 
Damit ist die Konstruktion des feinen Leibes beendet; 
er ist entsprechend den Gesichtspunkten der Gesamtheit und 
Einzelheit einerseits ein kosmischer, sofern er als einer, anderer- 
seits ein individueller, sofern er als vielfach Objekt des Be- 
wufstseins wird. Das Geistige, welches wir oben in seiner 
leichtesten Verhüllung als Weltgeist (njvara) und Einzel- 
geist (prcvjna) kennen lernten, wird in der weitern Ver- 
hüllung durch den feinen Leib zur Weltseele und zur 
Einzelseele. Erstere heifst (nach einer auf Brih. Up. 3,7,1 
zurückgehenden Vorstellung) der Sütriitman, „der Fadengeist" 
weil er sich wie ein Faden durch das ganze Weltgewebe hin- 
durchzieht, oder (wie schon Nrisinhott. Up. 2, S. 782 unserer 
Übersetzung) der Hiranyagarhha, welcher nach hergebrachter 
Anschauung das personifizierte Brahman und als solches mit 
den Kräften des Erkennens, Wollens und Wirkens ausgestattet 
ist, oder auch der Präna, „der Weltlebensodem". Die dieser 
W^eltseele gegenüberstehende Einzelseele heifst (wie Mänd. 
Up. 4, S. 578) Taijasa, „der Lichte", weil in ihm das Geistige 
als mit dem lichtartigen Innenorgan (Buddhi und Manas) 
umkleidet erscheint. Auch hier wieder besteht zwischen 
Süträtman und Taijasa und zwischen dem reinen Geistigen 
dieselbe Identität wie zwischen dem von Wald und Bäumen 
eingeschlossenen Räume mit dem allgemeinen Welträume. 
„Nun geschieht es, dafs diese beiden, der Süträtman 
und der Taijasa, mittels feiner Funktionen des Manas 
die feinen Objekte [der Traumwelt] geniefsen" (§ 119), 
das heifst: wie I^vara und Präjna im Tiefschlafe, so treten 
Süträtman und Taijasa hervor im Traumschlafe, in welchem 
die groben Organe und die ihnen entsprechende grobe Welt 
des Wachens erloschen ist, so dafs der von der Körperlichkeit 
entbundenen Weltseele und Einzelseele nur die „feine Welt- 
ausbreitung", d. h. die unkörperliche Vorstellungsw^elt des 
Traumes, als Objekt gegenübersteht. 
VI. Die Ausbreitung (viksTiepa) des grroben Leibes nnd der groben 
Welt (123— U5). 
Aus den feinen, d. h. psychischen, noch nicht sinnlich 
wahrnehmbaren Elementen gehen die groben , sinnlich wahr- 
VI. Die Ausbifitiuig des groben Leibes und der groben Welt (123 — 145). (32*.) 
nehinbaron Elemente hervor durch das P(üidhiranant , die 
Füiiffachmachunj;-. Diese Theorie geht zurück auf Chaiid. 
üp. G,3 — 4, wo jedoch, entsprechend der dort angenommenen 
Dreizalil der Urelemente, ebenso wie Vedantasütram 2,4,22 
und seiner Kommentierung durch ^ankara, nur ein Trivrlt- 
binnnun, eine Dreifachmachung der Elemente, gelehrt wird, 
welche, nachdem man mit Taitt. Up. 2,1 fünf Elemente an- 
genommen hatte, zu einer Fünffachmachung werden mufste. 
Diese besteht darin, dafs der Hälfte eines jeden der fünf 
Elemente ein Achtel von jedem der vier übrigen Elemente 
beigemischt wird. Diese Mischungstheorie (vgl. das Nähere 
oben S. 446) wird auch von unserra Autor § 124 vorgetragen; 
aber im Widerspruch damit steht es, wenn § 128 auf Grund 
von Taitt. Up. 2,1 die Akkumulationstheorie erscheint, 
nach welcher im Äther der Ton, im ^Yinde Ton und Gefühl, 
im Feuer Ton, Gefühl und Gestalt, im Wasser Ton, Gefühl, 
Gestalt und Geschmack, und in der Erde Ton, Gefühl, Ge- 
stalt, Geschmack und Geruch sich manifestieren; denn nach 
der Mischungstheorie sind jedem Element Bestandteile der 
vier übrigen zugesetzt, und konsequenterweise müfsten dann 
auch alle fünf Grundeigenschaften der Elemente in jedem der 
fünffach gemachten groben Elemente hervortreten. 
Aus diesen groben Elementen bestehen, wie § 129 — 134 
näher gezeigt wird, die das Brahmanei bildenden sieben obern 
und sieben untern Welten nebst den in ihnen enthaltenen 
vier Arten der lebenden Wesen. 
So entstehen der grobe Weltleib, welcher, von dem 
Geistigen beseelt, Vairvänara, und der grobe Einzelleib, welcher, 
von ebendemselben Geistigen beseelt, Vigva heilst. Beide bilden 
die gröbste Verhüllung des Geistigen, welche nach Taitt. Up. 2,1 
seine nahrungsartige (annamaya) Hülle genannt wird. „Nun 
geschieht es, dafs diese beiden, der Vi9va und der 
Vairvänara, . . .*mit den fünf Erkenntnisorganen, 
. . . den fünf Tatorganen . . . und den vier Innenorganen 
...die groben Objekte geniefsen" (§ 140; in den von 
uns ausgelassenen Einschiebungen werden in Vedäntaweise 
den einzelnen Organen bestimmte Gottheiten als ihre Regenten 
zugeteilt). \\'ie zwischen l9vara und Präjna, wie zwischen 
630 Der Vedäntasära des Sadänanda. 
Süträtman und Taijasa, so besteht auch zwischen Vai^-vänara 
und M^va dieselbe Identität wie zwischen dem Walde und 
seinen Bäumen; und wie der von Wald und Bäumen ein- 
geschlossene Raum mit dem allgemeinen Welträume, so ist 
auch das im Vai^-vänara und Vi^va eingeschlossene Geistige 
mit dem allgemeinen Geistigen identisch. Die Stätte aber, 
in welcher sich dieses als Vaigvänara von dem groben Welt- 
leibe und als Vigva von dem groben Einzelleibe eingeschlossene 
Geistige betätigt, ist der Zustand des Wachens; in ihm steht 
dem empirischen Weltsubjekte (VaiQvänara) und dem empiri- 
schen Einzelsubjekte (Vi9va) als Objekt der Stliidaprapahca, 
,,die grobe Weltausbreitung", des wachen Zustandes gegenüber. 
VII. Polemischer Teil (14ti— 1(J0). 
Soweit die Aufbürdung der Welt auf die allein reale 
Seele durch das Nichtwissen eine natürliche und allen Men^ 
sehen gemeinsame ist, wurde sie bisher behandelt. Was 
hingegen von einzelnen Irr-lehrern der Seele als ihr wahres 
W^esen fälschlich aufgebürdet worden ist, wird im gegen- 
wärtigen Abschnitte besprochen. Er enthält eine Polemik 
gegen neun irrige Lehren, welche darin bestehen, dafs 1. ein 
Naturalist den Sohn, 2. ein Cärvaka den groben Leib, 3. ein 
anderer Carväka die Organe, 4. wieder ein anderer Cärvaka 
den Lebensodem, 5. noch ein anderer Cärvaka das Manas, 
6. ein Buddhist die Buddlii, 7. ein Anhänger des Prabhäkara 
und ein Skeptiker das Nichtwissen, 8. ein Anhänger des 
Kumärilabhatta das mit dem Nichtwissen behaftete Geistige, 
und endlich 9. ein anderer Buddhist das Nichts für das wahre 
Wesen des Selbstes erklärt. Die Verteilung dieser Irrlehren 
an die genannten Vertreter derselben wird ohne Zweifel 
historisch berechtigt sein. Der erstgenannte Buddhist, welcher 
nur das Bewufstsein für real erklärt, vertritt den dogmatischen 
Idealismus der Yogäcära's oder den problematischen Idealis- 
mus der Sauträn tika's , der zweite Buddhist steht auf dem 
Standpunkte des von den Mädhyamika's verfochtenen Nihilis- 
mus (vgl. über diese Richtungen oben S. 217 — 227 und S. 216 
— 217). Ebenso mögen unter den Cärväka's (oben S. 194 — 203) 
VII. Polemischer Teil (14G— 1»]0). 631 
und den Miniansakas (oben S. ?)80 — r)97) die verschiedenen, 
von unserm Autor charakterisierten Riclitungen bestanden 
liaben. Denn die Frage, worin der Atman, das eigenthche 
Selbst des Mensclien wie der Welt, zu suchen sei, stand 
schon zu den Zeiten der l'panishad's im Mittelpunkte des 
philosophischen Forschens und Streitens, und fand die ver- 
schiedensten Beantwortungen, Dafs aber die neun von unserm 
Autor angeführten Antworten als eine Geschichte der indischen 
Irrlehren ix hhcc anzusehen seien, dieses anzunehmen hindert die 
durchaus schablonenhafte Behandlung des Gegenstandes. Jeder 
der neun Irrlehren wird eine dreifache Begründung ihrer Thesis 
zugeteilt, die erste durch ein Zitat aus der Schrift, auf welche 
sich Bauddhas und Cärväka's wohl kaum in der hier vor- 
kommenden Art gestützt haben dürften, die zweite durch eine 
empirische Tatsache und eine darauf gegründete Argumen- 
tation (jjHlii), die dritte durch eine unmittelbare Innewerdung 
(annbliava). Besonders bedenklich erscheint es, wie zur Be- 
gründung der verschiedenen Thesen durch die Schrift die 
Theorie von den verschiedenen Hüllen des Atman aus Taitt, 
Up. 2,1 fg. herangezogen wird, und diese Stelle dürfte den 
Verfasser wesentlich bei der Konstrulition der verschiedenen, 
von ihm besprochenen Irrlehren geleitet haben. Die daran 
sich anschliefsende AViderlegung verfährt in analoger Weise; 
den Schriftstellen, Erfahrungsgründen und Innewerdungen der 
Gegner werden andere, wie der Verfasser sagt, stärkere 
Schriftstellen, Erfahrungsgründe und Innewerdungen gegen- 
übergestellt, womit die Sache dann ihr Bewenden hat. 
VIII. Apavdda, die Aiifhebnng: (161-163). 
Nachdem die Umhüllung des reinen Geistigen durch das 
Nichtwissen, sowie die Ausbreitung der aus ihm vermöge der 
(iuna's hervorgegangenen nicht fünffach gemachten Elemente 
zum feinen Leibe und zur feinen Welt und endlich die weitere 
Ausbreitung durch die fünffach gemachten Elemente zum 
groben Leibe und zur groben Welt, — nachdem alles dieses 
als eine lediglich durch das Nichtwissen dem Atman auf- 
gebürdete „Aufbürdung" erkannt worden ist, so erfolgt als 
(332 Der Vedäntasära des Sadänauda. 
Gegenstück zu dieser Aufbürdung (adhyäropa) die durch das 
Wissen bewirkte Aufhebung (apaväda) alles scheinbar Realen 
in dem allein wahrhaft realen Atman. Obwohl unser Autor 
sehr wohl zu unterscheiden weifs zwischen dem viMra, der 
Umwandlung eines Eealen in ein Reales, und dem vivarta, 
der Umstellung, Entstellung oder, wie wir sagen können, der 
Verkennung eines Realen als ein Nichtreales, so erscheint 
ihm doch die Aufhebung nicht als das plötzhche Schwinden 
eines bis dahin bestehenden Irrtums, sondern realistisch als 
die schrittweise erfolgende Auflösung der niedern Stufe in 
die jedesmal höhere. So löst sich die ganze grobe Welt- 
ausbreitung auf in die groben, fünffach gemachten Elemente, 
aus denen sie besteht, sodann diese fünffach gemachten Ele- 
mente in die nicht fünffach gemachten Elemente und die aus 
ihnen bestehende feine ^^'eltausb^eitung, weiter zergehen diese 
in dem Igvara als dem von der Gesamtheit des Nichtwissens 
umhüllten Geistigen, und endlich versinkt auch dieses in dem 
namenlosen, nur als Turiyam, das Vierte, Bezeichneten? 
welches somit hier wie in der Nrisihhottaratapaniya-Upanishad 
der Abgrund ist, welcher alles andere und mithin auch den 
l9vara, den als Persönlichkeit aufgefafsten Gott, verschlingt 
{ifjvara-gräsas tu tnriyah, Nrisihhott. Up. 1, S. 781 unserer 
Übersetzung). 
IX. Das grofse Wort: tat tvam asi (164—186). 
Das Chänd. Up. 6,8 — 16 neunmal vorkommende grofse 
Wort : ,,Das bist du" bedeutet die Einheit des eigenen Selbstes 
[tvam, du) mit dem höchsten Selbste [tat, das), d. h. die Ein- 
heit der Seele mit Gott, spricht somit in kürzester Form den 
ganzen Grundgedanken der Vedäntalehre aus. In diesem 
Sinne kann man den ganzen Vedäntasära als eine sachliche 
Auslegung des grofsen Wortes betrachten, und darf sich nicht 
enttäuscht finden, wenn im gegenwärtigen Abschnitte der Satz 
tat tvam asi nur in logisch-formalistischer Hinsicht behandelt 
wird. Die Beziehungen werden an ihm unterschieden, erst- 
lich die der grammatischen Koordination der beiden W^orte 
in einem Satze, zweitens die Koordination der beiden Begrifie 
IX. I>as grofso Wort: tut tvam asi (164—186). 633 
in einem Urteile, und drittens die Beziehung beider Begriffe, 
idt und tvam, zu dem reinen Geistigen. 
In erster Hinsicht werden mittels der grammatischen Ko- 
ordination die Begritte tat und tvdni auf ein und dasselbe 
Geistige bezogen, ähnlich wie in dem Satze : „Dieser ist jener 
Devadatta" Subjekt und Prädikat auf ein und dieselbe Person 
bezogen werden. 
In zweiter Hinsicht können die Begriffe tat und tvam nur 
dadurch zur Einheit eines Urteils verbunden werden, dafs 
man die ihnen anhaftenden widersprechenden Bestimmungen, 
nämlich von tat die Unsichtbarkeit und von tvam die Sicht- 
barkeit, abstreift, ähnlich wie man in dem Satze: „Dieser 
(gegenwärtige) ist jener (früher gesehene) Devadatta" die 
Bestimmungen des Gegenwärtigen und des früher Gewesenen 
abstreifen mufs, wenn das Urteil zu Recht bestehen soll. 
Die dritte Beziehung besteht darin, dafs die beiden Be- 
griffe tat und tvam auf ein Drittes, Höheres, nämlich auf das 
in beiden enthaltene, mit sich identische reine Geistige be- 
zogen werden. Diese Beziehung ist eine metaphorische, und 
zwar eine partiell-metaphorische (hliaga-Ialshanä), weil man 
nur einen Teil der in tat und tvam liegenden Merkmale, näm- 
lich die Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, abzustreifen hat, um 
sie auf das in beiden liegende identische Geistige zu beziehen. 
Es ist damit anders als in dem Satze: „Die Lotosblume 
ist blau", wo Subjekt und Prädikat, beide im eigentlichen 
Sinne, auf einander bezogen werden. 
Es ist auch anders als in dem Satze: „Auf dem Ganges 
ist eine Hirtenstation", wo das Wort Ganges metonymisch 
für das Ufer des Ganges steht. 
Es ist auch anders als in dem Satze : „Das braune läuft", in 
welchem keine Metonymie stattfindet, und nur das Subjekt durclv 
Hinzudenken des Wortes Pferd stillschweigend ergänzt wird. 
Der partiell-metaphorische Gebrauch in dem Satze: „tat 
tvam asi'"'' besteht, wie auf eine gegnerische Einwendung ge- 
antwortet wird, nicht darin, dafs nur der eine Begriff in 
metaphorischem und der andere in eigentlichem Sinne, noch 
weniger darin, dafs der eine oder andere Begriff zweideutig, 
teils eigentlich, teils metaphorisch, zu verstehen sei, sondern 
(;34 I*ß'" Vcdäntasära des Sadänanda. 
darin, dafs beide Begriffe, unter Abstreifung der ihnen an- 
haftenden widersprechenden Bestimmungen und Beibehaltung 
ihres nicht sich widersprechenden Teiles, metaphorisch, und 
zwar partiell-metaphorisch auf das in beiden enthaltene iden- 
tische reine Geistige bezogen werden, ganz ähnlich wie in 
dem Satze : „Dieser ist jener Devadatta" Subjekt und Prädikat 
unter Abstreifung der ihnen anhaftenden widersprechenden 
Bestimmungen und Beibehaltung des nicht sich widersprechen- 
den Teiles partiell-metaphorisch auf den einen mit sich iden- 
tischen Devadatta bezogen werden. 
X. Das grofse Wort: aham brahma asmi, „ich bin Braliman" 
(187—195). 
Auf die durch das grofse Wort: tat tvam asi (Chänd. 
Up. 6,8,7) vermittelte Gewifsheit von der Identität der Seele 
mit Brahman folgt als ein weiterer Schritt auf Grund des 
grofsen Wortes: aham hrahma asnii (Brih. Up. 1,4,10) die un- 
mittelbare Innewerdung (anuhhava) : „Ich bin Brahman". Der 
Hauptgedanke des von ihr handelnden Abschnittes ist der, 
dafs diese Innewerdung zwar auf intellektuellem Wege 
vermittelt wird, selbst aber eine überintellektuelle ist. 
Zunächst wird das Bewufstsein zu der Gestalt gestaltet, das 
ewige, reine, weise, freie; reale, höchste -Wonne -seiende, un- 
endliche, zweitlose Brahman zu sein. Aber dieses Bewufstsein 
ist noch nicht das letzte; es ist eine blofse Geistesstimmung 
(citfa-vriüih) und als solche ein blofser Abglanz oder eine 
Widerspiegelung des höchsten Geistigen; es ist wie alles in 
der Welt eine Wirkung und beruht wie alle andern Wirkungen 
auf dem Nichtwissen. Aber wie durch Verbrennen der Fäden 
auch das aus ihnen bestehende Gewebe verbrennt, so schwindet 
-mit Vernichtung des Nichtwissens auch jene in ihm wurzelnde 
Geistesstimmung; sie wird von dem höchsten Geistigen, dessen 
blofser Abglanz sie ist, überstrahlt, wie das Licht der Lampe 
von der Sonne, und wie bei Entfernung des Spiegels auch 
das Spiegelbild schwindet und nur das sich spiegelnde An- 
gesicht übrig bleibt, so schwindet bei Vernichtung des Nicht- 
wissens auch jene auf ihm beruhende Geistesstimmung, und 
es bleibt als letztes Resultat nur das sein eigenes Licht 
X. Das grol'so Wort: (iluiin hrahma asiiii (187 — 195). 035 
seiende, ewige, unteilbare Bralinian übrig, welclies nicht, wie 
ein irdisclier Gegenstand, von dem Geiste beleuclitet wird^ 
sondern dessen blofser Abglanz dieser Geist selbst ist. 
XI. Die vier ^iniishtJidna'a, „Lbunfiren" (15t(;— 228). 
Wem die beschriebene Innewerdung seiner Identität mit 
dem ewigen Brahman zuteil geworden ist, für den gibt es 
kein Gutes und Böses, kein Gebot und Verbot, kein Tun und 
Lassen mehr. xVber zur Erreichung dieses Zieles werden vier 
l bungen in der Meditation des Brahman empfohlen. Im An- 
schlufs an Brih. Up. 2,4,5: „Das Selbst, fürwahr, soll man 
sehen, soll man hören, soll man verstehen, soll man über- 
. denken" werden, mit Weglassung des ersten und Zufügung 
der Versenkung (>iCü)M(lJii) als vierten Gliedes, das Hören, 
Verstehen, Überdenken und die Versenkung als Übungen 
empfohlen. In pedantisch umständlicher A\'eise wird das 
Hören des Schriftwortes in seine sechs Momente zerlegt, welche 
sämtlich definiert und an Beispielen aus Chänd. Up. 6 exempli- 
fiziert werden. Kürzer wird das Verstehen und das Über- 
denken erläutert. Die Versenkung (sa)nädJii) ist zweifach: 
eine teilbehaftete, wenn in ihr noch das Bewufstsein von Sub- 
jekt und Objekt fortbesteht, eine nichtteilbehaftete, w-enn das 
Subjekt ganz mit dem Objekte eins geworden ist, wie der 
Salzklumpen mit dem Wasser, in welches er sich aufgelöst 
hat. Vom Tiefschlafe unterscheidet sich dieser höchste Zu- 
stand dadurch, dafs in ihm jene Einswerdung nicht unbewufst 
ist, sondern unter vollem Bewufstsein erfolgt (§ 212). 
Während diese Zweiteilung des Samädhi im wesentlichen 
der im Yogasystem vorkommenden Zweiteilung in den keim- 
haften und den keimlosen Samadhi entspricht (oben S. 513 fg.)^ 
so ist es doch nicht im Sinne dieses Systems, wenn unser 
Autor als integrierende Teile des Samädhi, und zwar (vgl. 
4:j 222: asi/a (uiguto nifviJiaJjHilca.'^ya) des nicht teilbehafteten 
höchsten Samädhi, alle acht Afiga's des Yoga, deren letzter 
eben der Samädhi selbst ist, heranzieht, und, meist in wört- 
licher Übereinstimmung mit den Yoga-Sütra's, definiert. In 
diesen Fehler, sowohl die ersten, äufsern Glieder als auch 
636 I>er Vedäutasära des Sadäiianda. 
die Innern Glieder und unter ihnen die Versenkung selbst zu 
Gliedern der höchsten, nichtteilbehafteten Versenkung gemacht 
zu haben, würde unser Verfasser nicht verfallen sein, wenn 
er die ihm unzweifelhaft bekannten Yoga-Sütra's nach ihrem 
oben S. 572 fg. dargelegten systematischen Zusammenhange 
sich gegenwärtig gehalten hätte, wie er denn auch die ähnlich 
wie Yoga-Sütra 1,30 aufgezählten, dort aber nur den nieder n 
Samädhi betreffenden Hindernisse § 222 ohne weiteres auf 
den höhern, nichtteilbehafteten Samädhi bezieht. Zwei schöne 
Zitate aus Gaudapäda's Kärikä und der Bhagavadgitä be- 
schliefsen den Abschnitt. 
XII. tTivanmuhta, „der bei Lebzeiten Erlöste" (229—240). 
Sadänanda, der Verfasser unserer Schrift, wer er auch 
immer gewesen sein und wann er gelebt haben mag, ist 
jedenfalls als ein Mann zu denken, dem nicht nur eine um- 
fassende Gelehrsamkeit auf dem Gebiete des Vedänta, Sän- 
khyam und Yoga, sondern auch eine reiche innere Erfahrung 
zu Gebote stand. Eine solche glaubt man durchzufühlen in 
der Schilderung des schon bei Lebzeiten sich als erlöst Wissen- 
den, mit welcher unser Autor seine Darstellung des Vedänta 
l)eendet und krönt. 
Schon bei Lebzeiten kann man nach indischer Anschauung 
dazu gelangen, die von aller in die letzten Tiefen dringenden 
Philosophie in abstracto gelehrte und bewiesene Scheinexistenz 
dieser Welt intuitiv zu durchschauen. Wem diese intuitive 
Erkenntnis der höchsten Wahrheit zuteil geworden ist, der 
lebt noch fort in der Welt und lebt doch nicht mehr in ihr, 
er ist ein bei Lebzeiten Erlöster. Das Nichtwissen, auf 
welchem die ganze Weltausbreitung beruht, und mit ihr die 
■eigenen Werke sind vernichtet, und wenn der Wissende noch 
weiter lebt, so lebt er doch nicht mehr als Mensch, sondern 
nur das Brahman lebt in ihm. Aber woher kommt es, dafs 
mit dem Eintritt der erlösenden Erkenntnis das Leben nicht 
sofort aufhört, sondern noch eine Weile fortdauert, wie die 
Töpferscheibe noch ausrollt auch nachdem das Gefäfs schon 
vollendet ist? Das ist eine Frage, welche, wie dieses so oft 
XII. Jivaniiiukta, .,dor lioi Lebzeiten Erlöste" (22;»— 240j. 637 
vorkonimontlo Gleichnis zeigt, das indische Denken vielfach 
beschäftigt hat und auch von unserm Autor berührt wird, 
wenn er (im Anschlufs an (^'ankara, oben S. 613, § 43j wieder- 
holt (232. 239) von Werken redet, welche arahdha-plKdaui sind, 
d. h. deren Frucht schon begonnen hat. Es sind darunter die 
in einer frühern Geburt, in der das ^^'issen noch nicht bestand, 
begangenen Werke zu verstehen, deren Frucht eben das ganze 
gegenwärtige Leben ist und welche auch nach erfolgter Er- 
kenntnis noch bis zu Ende abiiebüfst werden müssen. Das 
Wissen kann wohl die Werke des gegenwärtigen Daseins 
verbrennen, wie einen Samen, der noch nicht aufgegangen 
ist, nicht aber den aus einer frühern Geburt herrührenden 
Werksamen, der in der gegenwärtigen Geburt schon an- 
gefangen hat zu spriefsen und seine Frucht zu bringen. Darum 
mufs der durch das Wissen Erlöste noch zu Ende leben, und 
freilich mufs er auch noch weiter Werke des Essens, Trinkens, 
Atmens usw. begehen, aber diese Werke haften ihm nicht 
mehr an; sie sind nicht mehr seine Werke, der Leib, der 
sie vollbringt, ist nicht mehr sein Leib; beide gehören zu 
der grofsen Weltillusion, auf welche der Wissende hinblickt 
wie auf eine Fata Morgana, deren Schein er nicht heben 
kann, die ihn aber auch nicht mehr täuschen kann. 
Aber von welcher Art ist die w^eitere Lebensführung des 
Lebend-Erlösten? Darauf liegt die Antwort in § 235, in 
welchem der Gegensatz des zweimaligen anuvritti nötigt, gegen 
Böthlingks früher zeitweilig auch von uns geteilte Auffassung, 
den Sinn zu finden, dafs der Lebend-Erlöste, wie er sich vor der 
Erkenntnis mit den Zwecken des Ernährens, Wandeins usw. 
befafste, so nach erfolgter Erkenntnis nur noch mit schönen 
Vorstellungen oder auch nicht einmal mehr mit diesen be- 
fafst. Denn dafs das nach der Erkenntnis noch fortgehende 
Ernähren, Wandeln usw. ihm nicht mehr angehört, nicht 
mehr sein Ernähren und Wandeln ist, wurde schon vorher 
gesagt (vgl. § 232). 
Hart aber sind die ^\'orte § 236, welche, wenn die drei 
Verszeilen wirklich zusammengehören, nur besagen können, 
dafs es für den Erlösten kein Gesetz mehr gibt, dafs ihm 
alles zu tun erlaubt ist, und dafs es nur das Brahmanwissen 
^38 ^^^ Vedäntasära des Sadänanda. 
ist, welches sein Leben von einem hündischen Leben unter- 
scheidet. NatürHch Hegen ihm Fehler wie Hochmut und 
T^eindseligkeit fern, aber die ihnen entgegengesetzten Tugenden 
der Demut und Nächstenliebe (wie M'ir etwas gewagt das 
■adveshfritvam übersetzen) sind nicht die Folge eines ihn treiben- 
den Gesetzes, sondern nur ein ihn schmückender Zierrat. 
So fährt der Lebend -Erlöste fort, in dieser von seinem 
Innern Lichte durchleuchteten Scheinexistenz zu leben, bis 
der letzte Rest der von einer frühern Geburt noch rück- 
ständigen Werke abgebüfst ist, worauf er zu dem wird, was 
er von jeher war, nur dafs das Nichtwissen ihn hinderte, dies 
zu erkennen, zu dem einen, ewigen, aus reiner Geistigkeit 
bestehenden Brahman. 
Der Vedäntasära des Sadänanda. 
Übersetzung.* 
I. Vorwort und Tliema. 
Verehrung dem Gane^a! 
Der unteilbar, Sein, Geist und Wonne ist, 
Zu dem nicht Worte noch Gedanken dringen. 
Der Atman, der die Welten alle trägt, 
Sei Beistand mir zu meines Werks Gelinf^enl 
Auch ihn, der unbetört vom Zweiheit-Schein 
Mit Recht Advayänanda (,,froh der Nicht -Zvveiheit") wird genannt, 
Den Meister ehrend, will ich des Vedänta 
Haupt-Inhalt lehren, wie ich ihn verstand. 
Vedänta heifsen die Upanishad's als Richtschnur und 
die sie unterstützenden Schriften, wie die ^ärirakasütra's und 
andere. 
2. Da unser Werk den Vedänta zum Gegenstand hat, und 
da durc)i die dem Vedänta eigenen Voraussetzungen auch das 
Gehngen unseres Unternehmens bedingt ist, so brauchen unsere 
Voraussetzungen nicht noch besonders erörtert zu werden. 
* Grofse Verdienste um das bessere Verständnis des Vedäntasära hat 
sich Böhtlingk durch seine in der zweiten Auflage seiner Sanskrit-Chresto- 
mathie enthaltene Textausgabe, deren Paragraphoneinteilung und Lesarten, 
wo es nicht anders vermerkt wird, wir folgen, sowie durch die beigegebeue 
Übersetzung erworben, nur dafs die Wiedergabe einiger der wichtigsten 
Termini zwar sprachlich unanfechtbar, aber doch das volle Verständnis 
verhindernd ist, wie wenn z. B. der Grundbegriti" des Ganzen, „das mit dem 
Nichtwissen behaftete Geistige" (ujudna- upahitam caitanyam) bestäu ig 
übersetzt wird als „der durch die Unwissenheit bedingte Intellekt"'. 
640 Der Vedäntasära des Sadänanda. 
II. Voraussetzungren des Vedflnta. 
3. Unter den Voraussetzungen sind zu verstehen : erstens 
der Berechtigte, zweitens das Objekt, drittens dessen 
Begründung und viertens der Endzweck. 
4. Ein Berechtigter aber ist nur ein solcher Erkennender, 
welcher die Veden und die Vedänga's vorschriftsmäfsig so 
studiert hat, dafs er imstande ist, den Sinn des Veda auf 
den ersten Blick vollständig zu verstehen, welcher ferner 
in diesem Leben oder in einem vormaligen nicht nur Be- 
gehrungs artiges und Verbotenes gemieden, sondern auch 
durch Betreiben der ständigen und gelegentlichen Zere- 
monien, der Sühnungen und Verehrungen von allen 
Sünden sich befreit und sein Gemüt von allen Flecken völlig 
gereinigt hat, und welcher endlich auch noch mit der Vier- 
heit der Erfordernisse ausgerüstet ist. 
5. Begehrungsartiges ist dasjenige, was, wie z. B. der 
Jyotihshtoma (eine bestimmte Somafeier), den Himmel oder 
sonstiges Erwünschtes als Frucht bewirkt. 
6. Verbotenes ist dasjenige, was, wie z. B. ein Brah- 
manenmord, die Hölle oder sonstiges Unerwünschtes als Frucht 
bewirkt. 
7. Ständige Zeremonien sind diejenigen, welche, wenn 
sie unterlassen werden, Niedergang in der Seelenwanderung 
zur Folge haben, wie z. B. die Dämmerungsandacht. 
8. Gelegentliche Zeremonien sind diejenigen, welche, 
wie das Geburtsopfer bei der Geburt eines Sohnes, bei einem 
bestimmten Anlafs erfolgen. 
9. Sühnungen sind Bräuche, welche nur die Tilgung 
einer Sünde bezwecken, wie z. B. die Mondlaufsbufse (ein 
mit dem Monde zunehmendes und abnehmendes monatliches 
Fasten). 
10. Verehrungen sind geistige Betätigungen, welche 
sich auf das attributhafte Brahman beziehen, wie z. B. die 
von gändilya gelehrte (Chänd. Up. 3,14; Sechzig Up. S. 109). 
11. Von diesen Voraussetzungen haben die ständigen 
und [gelegentlichen Zeremonien, nebst den Sühnungen] als 
letzten Zweck die Läuterung der Buddhi; die Verehrungen 
Übersetzung (§ 3-20). (J4| 
hintreijen haben als letzten Zweck die Konzentration auf das 
Tad (Itrahman). 
\'J. I)('nii OS hoifst in der Schrift: „Ihn suchen durch 
\'edastudium die Brahmanen zu erkennen, durch Opfer" usw. 
(Brih, l'p. -1,4,22, S. 471»), und auch die Tradition sagt: „Durch 
Tapas wird von Sünde man befreit, durch Wissen geht man 
zur Unsterblichkeit" (Manu 12,104). 
13. Den ständigen und gelegentlichen Zeremonien ent- 
spricht als Frucht die Väterwelt, den Verehrungen die Satya- 
welt; wie die Schrift sagt: ,, Durch das [Opfer-jWerk wird 
die Väterwelt, durch das Wissen die Götterwelt erworben" 
(Hrih. Up. 1,5.16, S. 40;3). 
14. Die Erfordernisse sind : 1) die Unterscheidung der 
ewigen von der nichtewigen Substanz, 2) Verzicht 
auf Genufs des Lohnes hier und im Jenseits, 3) Er- 
langung der Kühe, Bezähmung usw., und 4) das Ver- 
langen nach Erlösung (lies: mnmH'ksliuiväni). 
\h. Was zunächst die Unterscheidung der ewigen 
von der nichtewigen Substanz betrifft, so besteht sie in 
dem Unterscheiden des Brahman als der ewigen von allem 
andern als der nichtewioen Substanz. 
16. So wie die irdischen Genüsse von Kränzen, Sandel- 
holz u. dgl., weil sie auf Werken beruhen, vergänglich sind, 
ebenso sind auch die jenseitigen Genüsse von Amritam u. dgl. 
\ergänglich; darum ist ein vollständiges Abstehen von beiden 
erforderlich, und hierin besteht der Verzicht auf Genufs 
des Lohnes hier und im Jenseits. 
17. Unter Ruhe, Bezähmung usw. sind zu verstehen: 
Beruhigung, Bezähmung, Entsagung, Geduld, Gesammeltheit 
und Glaube. 
18. Hierbei besteht die Beruhigung in der Zurückhaltung 
des Manas von allen Sinnendingen, ausgenommen das An- 
liören usw. des Schriftwortes usw. 
19. Die Bezähmung besteht in der Abkehr der äufsern 
Sinnesorgane von allen andern Objekten als den eben ge- 
nannten. 
20. Die Entsagung besteht darin, dafs die zur Abkehr ge- 
brachten Sinnesorgane allen andern C)bjekten als den genannten 
Deussex, Geschichte der Philosophie. I, iii. 41 
542 ^^^ Vedäntasära des Sadänanda. 
entsagen ; oder sie besteht in einem auf Vorschrift beruhenden 
Ablassen von den gebotenen Ritualwerken. 
21. Die Geduld besteht in dem Ertragen der Gegensätze, 
wie Kälte und Hitze. 
22. Die Sammlung besteht darin, dafs man das von den 
Sinnendingen zurückgehaltene Manas beim Anhören usw. des 
Schriftwortes auf den ihm entsprechenden Gegenstand kon- 
zentriert. 
23. Der Glaube ist das Vertrauen auf das Wort des 
Lehrers, der Upanishadtexte u. dgl. 
24. Das Verlangen nach Erlösung besteht in dem 
Wunsche erlöst zu werden. 
25. Der so geartete Erkenner ist ein Berechtigter. 
26. Denn die Schrift sagt : „Er ist beruhigt, bezähmt" usw. 
(Brih. Up. 4,4,23, S. 480). 
27. Auch heifst es: 
„Wer ruhigen Geistes und bezähmter Sinne ist, 
Von Sünden frei und dem Befehl gehorsam, 
An Tugend reich und fügsam, nach Erlösung strebt, 
Dem teile man die Lehre mit auf jeden Fall." 
(Als Wort eines Lehrers zitiert von Rämatirtha 
zu Maitr. Up. 6,29, p. 156 ed. Cowell.) 
28. Das zu erkennende Objekt ist die in reiner Geistig- 
keit bestehende Einheit der Seele mit Brahman, weil dies der 
Hauptgegenstand der Vedäntatexte ist. 
29. Die Begründung sodann besteht in dem Verhält- 
nisse jener zu erkennenden Einheit als Lehrobjekt zu den sie 
übermittelnden und als Richtschnur geltenden Upanishadtexten 
als Lehrgrund. 
30. Der Endzweck ist die Vernichtung des auf jene zu 
erkennende Einheit bezüghchen Nichtwissens und die Erlangung 
der Wonne, welche ihr Wesen ausmacht. 
3L Denn die Sclirift sagt: „Den Kummer überwindet, wer 
den Ätman kennt" (Chänd. Up. 7,1,3, S. 174), und wiederum: 
„[Wahrlich, wer] jenes höchste Brahman kennt, der wird zu 
Brahman" (Mund. Up. 3,2,9, S. 558). 
Übersetzung (§ 20—40). O43 
32. Ein solelier BtM"eclitigter begibt sieb, von dem Feuer 
des in Geburt und Tod bestehenden Samsära gequält, wie 
einer, dem der Kopf brennt, zum Wasser, mit einer Gabe in 
der Hand zu einem schriftkundigen, in Brahman festen Lehrer, 
und folgt ihm nach; „[Sie zu erkennen, such' er auf den 
Lehrer], mit Brennholz, der schriftkundig, fest in Brahman", 
wie die Schrift sagt (Mund. Up. 1,2,12, S. 550). 
3.3. Dieser belehrt ihn aus höchstem Mitleid nach der 
^lethode der Aufbürdung ((idhyäropn) und der Aufhebung 
(<ipaväd(i)\ „Ihm, der geziemend nahte, teilt mit sodann der 
Weise" usw. (Mund. Up. 1,2,13, S. 550). 
III. Adhfföropa. die AufbUrdiingr. 
34. Die Aufbürdung ((tiUujäroiui) besteht darin, dafs man 
einem Realen ein Nichtreales aufbürdet, wie w^enn man 
einem Strick, der doch keine Schlange ist, die Vorstellung 
einer Schlange aufbürdet. 
35. Das Reale ist das aus Sein, Geist und Wonne be- 
stehende zweitlose Brahman. 
3(). Das Nicht reale ist der im Nichtwissen wurzelnde 
gesamte Komplex des Ungeistigen. 
37. Das Nichtwissen (ajüanam) ist das wieder als seiend 
noch als nichtseiend defmierbare, aus den drei Guna's be- 
stehende, dem Wissen Entgegengesetzte, oder, wie man sagt, 
alles was die Form des Daseins hat. 
38. Denn dafs wir nichtwissend sind, erkennen wir durch 
Innewerdung, und auch die Schrift sagt: „Gottes Selbstkraft 
verhüllt in eigenen Guna's" (Qvet. Up. 1,3, S. 292). 
39. Dieses Nichtwissen wird, je nachdem man es nach 
seiner Gesamtheit oder nach seiner Einzelheit betrachtet, als 
eines oder als nichteines behandelt. 
40. Zum Beispiel: Wie man die Bäume im Hinblick auf 
ihre (jlesamtlieit mit dem Namen Wald als eine Einheit be- 
zeichnet, — oder wie man die einzelnen Wasser im Hinblick 
auf ihre Gesamtheit als Gewässer bezeichnet, — so bezeichnet' 
man die als mannigfaltig erscheinenden, auf die Seele bezüg- 
lichen Nichtwissenheiten im Hinblick auf ihre Gesamtheit als 
eine Einheit. 
41* 
644 I^^i' Vedäntasära des Sadänanda. 
41. Denn die Schrift sagt: „Die eine Ziege" usw. (^vet, 
Up. 4,5, S. 301). 
42. Diese Gesamtheit besteht, sofern man ihr hohe Be- 
liaftungen beilegt, vorwiegend aus reinem Sattvam. 
43. Das mit ihr behaftete Geistige wird, weil es die Eigen- 
schaften der Allwissenheit, Allmacht und Allregierung besitzt, 
als das l noffenbare, der innere Lenker, die Weltursaehe, der 
Igvara (Gott) bezeichnet. 
44. Seine Allwissenheit besteht darin, dafs er die Gesamt- 
masse des Nichtwissens durchleuchtet; „der Allkenner und 
Allwisser" usw., wie die Schrift sagt (Mund. Up. 1,1,9, S. 547). 
45. Jene Gesamtheit (die Gesamtmasse des Nichtwissens) 
bildet, sofern er die Ursache von allem ist, seinen ursäch- 
lichen Leib. 
40. Sofern dieser (aus der Gesamtmasse des Nichtwissens 
bestehende Leib des Igvara) voll von Wonne ist, und sofern 
er ihn wie eine Hülle umschliefst, heifst er seine wonneartige 
(änandammja) Hülle (Taitt. Up. 2,5, S. 230. Vgl. oben I, 2, 
S. 89 fg.). 
47. Sofern alles in ihm zur Ruhe kommt, ist er der Tief- 
schlaf (Brih. Up. 4,3,19 sq., S. 470 fg.). 
48. Eben darum wird er auch bezeichnet als die Auf- 
lösungsstätte der groben und der feinen Weltausbreitung. 
49. Wie man einen Wald im Hinblick auf seine Einzel- 
heit mit dem Namen Bäume als eine Vielheit bezeichnet, — 
oder wie man ein Gewässer im Hinblick auf seine Einzelheit 
als einzelne Wasser bezeichnet, — so bezeichnet man das 
Nichtwissen im Hinblick auf seine Einzelheit als eine Vielheit 
desselben, 
50. Denn die Schrift sagt: „Durch Zauber (mäyä) viel- 
gestaltig wandelt Lidra" (Rigveda 6,47,18. Vgl. Brih. Up. 2,5,19, 
S. 423). 
51. Hierbei werden die Ausdrücke Einzelheit oder Gesamt- 
heit gebraucht, je nachdem sie sich auf ein einzelnes oder auf 
das gesamte [Nichtwissen] beziehen. 
52. Diese Einzelheit besteht, sofern man ihr niedrige Be- 
haftungen beilegt, vorwiegend aus unreinem [mit Rajas und 
Tamas versetztem] Sattvam. 
Übersetzung (§ 41 — 63). (^45 
53. Das mit ihr [der Einzelheit des Nichtwissens] behaftete 
Geistige wird, weil es die Eigenschaften des Wenigwissens, 
der Xichtallmacht usw. besitzt, Fräjfia (der Weise) genannt, 
weil er nur ein einzelnes Nichtwissen durchleuchtet. 
54. Sein Wesen als Prajna besteht darin, dafs er nicht 
sehr durclileuchtend ist, sofern ihm nur undeutliche Behaftungen 
beigelegt sind. 
55. Jene [Einzelheit des Nichtwissens] bildet, sofern er 
die Ursache des Ichbewufstseins (ahamkära) usw. ist, seinen 
ursächlichen Leib. 
56. Sofern dieser (aus einem einzelnen Nichtwissen be- 
stehende Leib des Prajna) voll von Wonne ist, und sofern 
er ihn wie eine Hüllo umschliefst, heifst er seine wonneartige 
Hülle (vgl. 46). 
57. Sofern alles in ihm zur Ruhe kommt, ist er der 
Tiefschlaf. 
58. Eben darum wird er auch bezeichnet als die Auf- 
lösungsstätte der groben und der feinen Leiblichkeit. 
59. Hierbei geschieht es, dafs diese beiden, der Igvara 
und der Prajna, vermittelst überaus feiner, durch das Geistige 
angefachter Funktionen des Nichtwissens die Wonne geniefsen. 
60. Denn die Schrift sagt: „Der die Wonne geniefsende, 
das Bewufstsein als Mund habende Prajna" usw. (Mänd. Up. 1,5, 
S. 578), und damit stimmt überein das Bewufstsein, welches 
der Erwachende hat: ,,Ich habe gut geschlafen, ich war mir 
keiner Sache bewufst." 
61. Nun besteht zwischen jenen beiden, der Gesamtheit 
und der Einzelheit [des Nichtwissens], — wie zwischen dem 
Walde und den Bäumen oder wie zwischen dem Gewässer 
und den einzelnen Wassern, — keine Verschiedenheit. 
ß'2. Ferner besteht auch zwischen dem mit jenem Nicht- 
wissen behafteten I^vara und Prajna, — wie zwischen dem 
von dem \\'alde und dem von den Bäumen eingeschlossenen 
Räume, oder zwischen dem in einem Gewässer und dem in 
den einzelnen Wassern sich abspiegelnden Himmelsraume, — 
keine Verschiedenheit. 
63. „Er ist der Herr des Weltalls" usw., wie die Schrift 
(Brih. Up. 4,4,22, S. 479: Mänd. Up. 1,6, S. 578) sagt. 
(346 I^^r Vedäutasära des Sadänanda. 
64. Nun aber, wie es für Wald und Bäume und den 
A'on beiden eingeschlossenen l\aum, — oder wie es für Ge- 
wässer und einzelne Wasser und den in ihnen sich wider- 
spiegelnden Himmelsraum einen sie befassenden, nicht mit 
Grenzen behafteten Weltraum gibt, — ebenso gibt es für das 
Nichtwissen und die beiden mit ihm behafteten Geistigen ein 
sie befassendes [nicht mit Nichtwissen behaftetes] Geistiges, 
und dieses wird Turiyam (das Vierte) genannt. „Selig, be- 
ruhigt, zweitlos, das ist das Vierte", wie die Schrift (Mänd. Up. 
2,7, S. 579) sagt. 
65. Dieses, aus reiner Geistigkeit bestehende Vierte, so- 
fern es als von dem Nichtwissen und den beiden mit ihm 
behafteten Geistigen ununterschieden, vergleichbar einer durch- 
glühten Eisenkugel (vgl. Maitr. Up. 3,3, S. 323), vorgestellt 
wird, bildet den eigentlichen Sinn des grofsen Wortes {tat 
tvam asi, „das bist du", Chänd. Up. 6,8,7), und sofern es als 
von ihm verschieden vorgestellt wird, bildet es dessen meta- 
phorischen Sinn. 
66. Dieses Nichtwissen hat zwei Kräfte, die Kraft der 
Verhüllung und die Kraft der Ausbreitung. 
IV. Ävarana^aJiti, die Verhüllung:skraf(. 
67. Zunächst von der Verhüllungskraft. Wie eine auch 
nur kleine Wolke imstande ist, den viele Meilen weit sich 
erstreckenden Sonnenball, indem sie dem Auge des Beschauers 
in den Weg tritt, gleichsam zu verdecken, so ist auch das 
Nichtwissen, obgleich es beschränkt ist, imstande, den un- 
beschränkten, nicht dem Samsära unterworfenen Atman, in- 
dem es der Erkenntnis des Beschauers in den Weg tritt, 
gleichsam zu verdecken. Von dieser Art ist die Macht [jener 
Verhüllungskraft des Nichtwissens]. 
68. Darum heifst es (Hastämalaka 10, nach Böhtlingk): 
„Gleichwie ein Tor, wenn seinen Blick die Wolke 
Verdeckt, durch sie verdeckt die Sonne wähnt 
Und glanzlos, so erscheint dem Törichten 
Sein eignes Ich als ein gebundenes, 
Obwohl er Allselbst, ewiges Schauen ist." 
Übersetzung (§ 64 — 75j. 647 
G9. In der von dieser Kraft umhüllten Seele entsteht der 
Wahn, dem Samsära anzugehören und mit Tätersein und 
(jeniefsersein, mit Lust und Schmerz behaftet zu sein, wie in 
betreff des von dem eigenen Nichtwissen umhüllten Strickes 
der Wahn entsteht, als wäre er eine Schlange. 
V. Die Ausbreitung: OihfihepaJ des feinen Leibes und der feinen Welt. 
70. Nun von der Ausbreitungskraft. Wie das Nichtwissen 
um den Strick an dem von ihm selbst umhüllten Stricke durch 
seine eigene Kraft den Wahn hervorbringt, dafs er eine Schlange 
sei, so läfst auch das Nichtwissen in dem von ihm verhüllten 
Ätman durch seine eigene Kraft den Wahn der Weltausbreitung 
mittels des Äthers und der übrigen Elemente entstehen. Von 
dieser Art ist die Macht [jener Ausbreitungskraft des Nicht- 
wissens]. 
71. Darum heifst es: 
,,Vom Liügam bis zum Bi-ahman-Ei herab 
Schafft die Ausbreitungskraft die ganze Welt." 
72. Das Geistige, welches mit dem diese beiden Kräfte 
besitzenden Nichtwissen behaftet ist, heifst, sofern seine eigene 
Wesenheit vorwiegt, die bewirkende Ursache, sofern seine 
Behaftung [mit dem Nichtwissen] vorwiegt, die materielle Ur- 
sache der Welt, Gleichwie eine Spinne in betreff ihres Ge- 
webes, sofern ihre eigene Wesenheit vorwiegt, die bewirkende 
Ursache, sofern ihre Körperlichkeit vorwiegt, die materielle 
Ursache ist. 
73. Aus dem Geistigen, wenn es mit dem die Ausbrei- 
tungskraft besitzenden Nichtwissen behaftet wird, entsteht, 
sofern in diesem das Tamas überwiegt, der Äther, aus dem 
Äther der Wind, aus dem Wind das Feuer, aus dem Feuer 
das Wasser, aus dem Wasser die Erde. 
74. „Aus diesem Ätman fürwahr ist der Äther ent- 
standen" usw., wie die Schrift sagt (Taitt. Up. 2,1, S. 228). 
75. Bei Entstehung dieser Elemente überwiegt in ihrer 
Ursache das Tamas, wie man aus dem Übergewicht des Un- 
geistigen in ihnen ersieht. 
648 Der Yedäutasära des Sadäuanda 
TG. Dann geschieht es, dafs die drei Guna's, Sattvam, 
Eajas und Tamas, in diesen Elementen, dem Äther usw., je 
nachdem der betreffende Guna in der Ursache (dem mit 
dem Nichtwissen behafteten Geistigen) vorhanden ist, her- 
vortreten. 
77. Eben diese werden die feinen Elemente, die Tan- 
mätras (Reinstofle) oder die noch nicht fünffach gemachten 
[Elemente] genannt. 
78. Aus ihnen entstehen einerseits die feinen Leiber, 
andererseits die groben Elemente. 
79. Die feinen Leiber nun bestehen aus siebzehn Teilen 
und heifsen die psychischen Körper (liTiga-^ariräni). 
80. Ihre Teile sind: die fünf Erkenntnisorgane, Buddlii 
und Manas, die fünf Tatorgane und die fünf Lebenshauche. 
8L Die Erkenntnisorgane heifsen: Ohr, Tastsinn, Auge, 
Zunge und Geruch. 
82. Diese entstehen aus vereinzelten sattva-artigen Teilen 
des Äthers und der übrigen Elemente, entsprechend deren 
Reihenfolge ein jedes besonders [aus dem Äther das Ohr, aus 
dem Winde der Tastsinn, aus dem Feuer das Auge, aus dem 
Wasser der Geschmack, aus der Erde der Geruch]. 
83. Buddhi heifst diejenige Funktion des Innenorgans 
deren Wesen die Entscheidung ist. 
84. Manas heifst diejenige Funktion des Innenorgans, 
deren Wesen Entschliefsen und Unentschlossenheit ist. 
85. In diesen beiden sind Cittam und Ahamkära ein- 
begriften. 
86. Diese wiederum entstehen aus den vereinigten sattva- 
artigen Teilen des Äthers und der übrigen Elemente. 
<S7. Aus sattva-artigen Teilen bestehen sie (die Erkenntnis- 
organe, Buddhi und Manas), weil sie ihrem Wesen nach er- 
hellend sind. 
88. Die Buddhi in Gemeinschaft mit den Erkenntnis- 
organen bildet die erkenntnisartige (v/jnäuamai/a) Hülle. 
89. Diese [erkenntnisartige Hülle] wird wegen des Wahnes, 
Täter und Geniefser zu sein, der dem Welttreiben verfallene, 
in dieser Welt und jener Welt wandernde Jiva (die individuelle 
Seele) genannt. 
(Übersetzung (§ 7t) — lOö). (',49 
90. Das Manns hingegen mitsamt den Tatorganen l)il(let 
die manasartige (uiaiioniin/d) Hülle. 
91. Die Tatorgane heil'sen: I\ede, Hände, Füfse, Ent- 
leerunü;s- und Zeu2;ungsorii;ane. 
92. Diese entstehen aus vereinzelten rajasartigen Teilen 
des Äthers und der ül)rigen Elemente, entsprechend deren 
Reihenfolge ein jedes besonders. [Hier läfst sich der Autor 
von einer falschen Analogie leiten. Richtiger wird Sänkhya- 
Karika 34, oben S. 444 geurteilt: „Die Rede hat die Töne 
zum Objekte, je fünf Objekte haben die vier andern."] 
93. Die Lebenshauche sind: Fräna, Ä2)ä)m, Yyänu, Vdäna, 
Sani(hi((. 
94. Der Prana [hier im Gegensatze zu ^ankara's Auf- 
fassung oben § 30, S. 605 Aushauch und Einhauch befassend] 
geht aufwärts und hat seinen Sitz in der Nasenspitze. 
95. Der Apäna geht abwärts und hat seinen Sitz in den 
Eingeweiden. 
96. Der Yyaua geht nach allen Seiten und hat seinen 
Sitz im ganzen Körper. 
97. Der Vdäua hat seinen Sitz im Halse, führt empor 
und ist der Wind des Auszugs [der Seele aus dem Körper] . 
98. Der Samäna wohnt mitten im Körper und bewirkt 
die Assimilation des Gegessenen und Getrunkenen. [Vgl. über 
die hier vorgetragene Auffassung der fünf Präna's und ihre 
Vorgeschichte oben I, 2, S. 248—252.] 
99. Einige behaupten, dafs es noch fünf andere Lebens- 
hauche gebe, welche Näga, Kurma, Krikara, Devadatta und 
Dhananjaya genannt w^erden. 
100. Unter diesen bewirkt der Näga (die Schlange) das 
Erbrechen. 
lOL Der Kimna (die Schildkröte) bewirkt das Augen- 
schliefsen. 
102. Der Krilcara (das Rebhuhn) bewirkt den Hunger. 
103. Der Ik'vadfdta (die Muschel des Arjuna) bewirkt das 
Gähnen. 
104. Der Dhonaüjcn/a (Beutegewinner, Verdauungsfeuer) 
bewirkt die Ernährung. 
105. Andere behaupten, dafs diese im Prana usw. schon 
ß;")0 Der Vedäntasära des Sadänanda. 
einbegriffen seien, und dafs es daher nur die fünf Lebens- 
hauche, Prana usw., gebe. 
106. Diese fünf Lebenshauche, Prana usw., entstehen 
aus vereinigten rajasartigen Teilen des Äthers und der andern 
Elemente. 
107. Diese fünf Lebenshauche mitsamt den fünf Tat- 
organen bilden die lebenshauchartige (iwänammja) Hülle. 
■108. Diese [lebenshauchartige Hülle] besteht aus rajas- 
artigen Teilen, weil sie ihrem Wesen nach wirkend ist. 
109. Unter diesen Hüllen hat die erkenntnisartige die 
Kraft des Erkennens und ist täterartig. 
110. Die manasartige hat die Kraft des Wünsch ens und 
ist werkzeugartig. 
111. Die lebenshauchartige hat die Kraft des Wirkens und 
ist wirkungsartig. 
112. Diese ihre Einteilung beruht, wie man lehrt, auf 
ihrer Verwendung. 
113. Diese drei Hüllen werden in ihrer Verbindung der 
feine Leib (stVcshma-gariram) genannt. 
114. Auch hierbei bildet der ganze [kosmische] feine 
Leib, sofern er als einer Gegenstand des Bewufstseins ist, 
wie Wald und Gewässer, eine Gesamtheit, und sofern er als 
viele Gegenstand des Bewufstseins wird, wie Bäume und 
einzelne Wasser, [eine Summe von] Einzelheiten. 
115. Das mit dieser Gesamtheit [des kosmischen, feinen 
Leibes] behaftete Geistige wird [vgl. Brih. Up. 3,7] Süträtman 
(der Fadengeist), Hiranyagarhlia oder auch der Prana ge- 
nannt, weil er sich durch alles durchfädelt und wiederum 
[als Hiranyagarhlia, das personifizierte Brahman] mit den 
Kräften des Erkennens, Wünschens und Wirkens ausge- 
stattet ist. 
116. Als ihm angehörig wird diese Gesamtheit wegen 
ihrer im Gegensatze zu der groben [sinnlich wahrnehmbaren] 
Weltausbreitung stehenden Feinheit (Unwahrnehmbarkeit durch 
die Sinne) sein feiner Leib, oder seine drei Hüllen, die 
erkenntnisartige usw., oder, wegen ihres Bestehens aus den 
Vorstellungen des Wachens, Traum und ebendarum die Auf- 
lösungsstätte der groben W^eltausbreitung genannt. 
Übersetzung (§ lu5— 125). 051 
117. ]Iin<io<;tMi heifst das mit jener Einzelheit behaftete 
Geistige der Taijrisu (der Lichte), weil er mit dem lichtartigen 
Innenorgan behaftet ist. 
118. Als ihm angehorig wird diese Einzelheit wegen 
ihrer im Gegensatze zum groben Leibe stehenden Feinheit 
sein feiner Leib, oder seine drei Hüllen, die erkenntnis- 
artige usw., oder, wegen ihres Bestehens aus den Vorstellungen 
des Wachens, Traum und ebendarum die Auflösungs- 
stätte des groben Leibes genannt. 
119. Nun geschieht es, dafs diese beiden, der Süträtman 
und der Taijasa, mittels feiner Funktionen des Manas die 
feinen Objekte [der Traumwelt] geniefsen. 
120. Darum sagt die Schrift: ,,Das Auserlesene geniefsend 
ist der Taijasa'" (Mand. Up. 1,4, S. 578). 
121. Nun besteht auch hier (wie oben 61) zwischen Ge- 
samtheit und Einzelheit einerseits und zwischen den mit ihnen 
behafteten Süträtman und Taijasa andererseits, — ähnlich wie 
zwischen ^^'ald und Bäumen und zwischen dem von ihnen 
eingeschlossenen Räume, — oder wie zwischen dem Gewässer 
und den einzelnen Wassern und zwischen dem von ihnen wider- 
gespiegelten Himmelsraume, — keine Verschiedenheit. 
122. In dieser Weise erfolgt die Entstehung des feinen 
Leibes. 
VI. Die Ansbreitunff (rikshepa) des groben Leibes und der groben Welt. 
123. Die groben Elemente sind die fünffach gemachten. 
124. Die Fünffachmachung besteht darin, dafs man von 
den fünf Elementen, Äther usw., jedes einzelne in zwei Hälften 
teilt, von den so erhaltenen zehn Teilen die jeweilig erste 
Hälfte wiederum in vier gleiche Teile teilt, diese je vier Teile 
von ihrer zugehörigen andern Hälfte ablöst und sie mit den 
Hälften der vier andern Elemente verbindet. 
125. Darum heifst es: 
,, Zerlege jedes in die beiden Hälften, 
Und in vier Teile stets die erste Hälfte, 
Verbinde dann ein Viertel mit der Hälfte 
Von jedem der vier andern Elemente, 
Und so bestehen alle aus fünf Teilen." 
^52 I^^t' Vedäntasära des Sadänanda. 
126. Man glaube nicht, dafs hierfür kein Beweis vor- 
handen sei, da die Schriftstelle von der Dreifachmachung der 
Elemente (Chänd. Up. 6,3,2—3, S. 161) die Fünffachmachung 
mit einbegreift. 
127. Obgleich alle fünf Elemente ebenwohl aus allen fünfen 
bestehen, so geschieht doch ihre Benennung als Äther usw. 
nach der Regel : „Vielmehr nach dem Überwiegen geschieht die 
Benennung des einen wie des andern" (Vedäntasütram 2,-1,22, 
S. 468 unserer Übersetzung). 
128. Hierbei manifestiert sich im Äther der Ton, im 
Winde Ton und Gefühl; im Feuer Ton, Gefühl, Gestalt; im 
Wasser Ton, Gefühl, Gestalt, Geschmack; in der Erde Ton, 
Gefühl, Gestalt, Geschmack, Geruch [also auch hier eine Yer- 
mengung der Mischungstheorie und der Akkumulationstheorie, 
worüber oben S. 446; vgl S. 598 fg.]. 
129. Aus diesen fünffach gemachten Elementen entstehen 
die das Brahman-Ei bildenden vierzehn Welten, die sieben 
obern, höher und höher hinauf liegenden Welten : Bhür, Bhu- 
vah, Svar, Mahar, Janas, Tapah und Satyam, und die sieben 
untern, tiefer und tiefer hinab liegenden Welten: Atalam, 
Vitalam, Sutalam, Rasätalam, Talatalam, Mahätalam und Päta- 
lam, sowie die in ihnen befindlichen vier Arten der groben 
Leiber, nebst Speise, Trank u. dgl, 
130. Diese vier Arten der Leiber sind die lebendgeborenen, 
eigeborenen, schweifsgeborenen und sprofsgeborenen. 
131. Die Lebendgeborenen sind die aus dem Chorion 
Geborenen, wie Menschen, Haustiere usw. 
132. Die Eigeborenen sind die aus Eiern Geborenen, wie 
Vögel, Schlangen usw. 
133. Die Schweifsgeborenen sind die aus Schweifs Ge- 
borenen, wie Läuse, Mücken usw. 
134. Die Sprofsgeborenen sind die aus der Erde Auf- 
spriefsenden, wie Sträucher, Bäume usw. 
135. Auch hierbei bildet der aus den vier Arten bestehende 
grobe Leib [der Weltwesen], sofern er als einer Gegenstand 
des Bewufstseins ist, wie Wald und Gewässer, eine Gesamt- 
heit, und sofern er als viele Gegenstand des Bewufstseins wird, 
wie Bäume und einzelne Wasser, [eine Summe von] Einzelheiten. 
Übersetzung (§ 12H — 141). 055 
130. Das mit dieser Gesamtheit behaftete Geistige heifst 
VairvÖHdra, weil es in dem ^^^ahne befangen ist, alle Men- 
schen zu sein, oder 17>v// (die Strahlende), weil es mannig- 
fach erglänzt. 
Vol. Diese seine Gesamtheit heifst sein grober Leib, oder, 
weil sie eine Umwandlung der Nahrung ist, die nahrungs- 
artige Hülle, oder, weil sie die Stätte des groben Geniefsens 
ist, der Zustand des Wachens. 
lo8. Hingegen das mit jener Einzelheit behaftete Geistige 
heifst der ]7rm, weil es, ohne den feinen Leib aufzugeben, 
in einen groben Leib eingeht [von vir, eingehen]. 
139. Diese seine Einzelheit heifst sein grober Leib, oder, 
weil sie eine Umwandlung der Nahrung ist, die nahrungs- 
artige Hülle, oder, weil sie die Stätte des groben Geniefsens 
ist, der Zustand des Wachens. 
140. Nun geschieht es, dafs diese beiden, der Vigva und 
der Vai^-vanara, — sofern sie von Himmelsgegenden, Wind, 
Sonne, Varuna und den A^vin's regiert werden, ihnen ent- 
sprechend mit den fünf Erkenntnisorganen, Ohr usw., die 
Töne, Gefühle, Gestalten, Geschmäeke und Gerüche, — sofern 
sie von Agni, Indra, Upendra, Yama und Prajäpati regiert 
werden, ihnen entsprechend mit den fünf Tatorganen, Rede 
usw., das Reden, Greifen, Gehen, Entleeren und Zeugen, — 
und sofern sie von Candra, Brahman, ^iva und Vishnu regiert 
werden, ihnen entsprechend mit den vier Innenorganen, Manas, 
Buddhi, Ahamkara und Cittam, das Entschliefsen, Entscheiden, 
Auf- das -Ich -beziehen und Bewufstwerden, — alle diese als 
die groben Objekte geniefsen. „Der im Stande des Wachens 
befindliche, nach aul'sen erkennende" usw., wie die Schrift 
(Mand. Ip. 1,3, S. 578) sagt. 
141. Nun besteht auch hier zwischen der groben Einzel- 
heit und Gesamtheit einerseits und zwischen den mit ihnen 
behafteten Vigva und Vai^vänara andererseits, — ähnlich wie 
zwischen Wald und Bäumen und zwischen dem von ihnen 
eingeschlossenen Räume, — oder wie zwischen dem Gewässer 
und den einzelnen Wassern und zwischen dem von ihnen 
widergespiegelten Himmelsraume, — wie oben (Gl und 121) 
keine Verschiedenheit. 
654 Der Vedäntasära des Sadänanda. 
142. So entspringt aus den fünffach geraachten fünf 
Elementen die grobe Weltausbreitung. 
143. Diese Ausbreitungen des groben (137. 139), des 
feinen (116. 118) und des ursächlichen Leibes (45. 55) bilden 
als Gesamtheit die eine grofse Weltausbreitung, — ähnlich 
wie die Gesamtheit der besondern ^Milder einen grofsen Wald, 
oder wie die Gesamtheit der besondern Gewässer eine srofse 
Wassermasse bilden. Und so bildet auch das mit der Gesamt- 
heit [des Nichtwissens] behaftete, vom Vai^vanara bis zum 
iQvara hinaufreichende Geistige, — ähnlich wie der von den 
besondern Wäldern eingeschlossene oder der von den be- 
sondern Gewässern widergespiegelte Weltraum, — eine Einheit. 
144. Sofern von diesen beiden, der grofsen Weltausbrei- 
tung und dem mit ihr behafteten (geistigen, jenes nicht mit 
dem Nichtwissen behaftete Geistige, vergleichbar einer durch- 
glühten Eisenkugel, als ununterschieden vorgestellt wird, bildet 
es den eigentlichen Sinn des grofsen Wortes: „Gewifslich, 
dieses Weltall ist Brahman" (Chänd. 3,14,1, S. 109j, und so- 
fern es als von ihnen unterschieden vorgestellt wird, bildet 
<3S dessen metaphorischen Sinn. 
145. Damit ist die dem Realen (dem Atman) das Nicht- 
reale (das Nichtwissen) aufbürdende Aufbürdung, sofern sie 
eine allgemein-menschliche ist, dargelegt worden. 
VII. Polemischer Teil. 
146. Nunmehr ist speziell davon zu handeln, wie dem 
Innern Atman von dem einen und andern dieses und jenes 
aufgebürdet wird. 
147. Ein ganz in der Natur Befangener, gestützt auf 
•Schriftworte wie „Fürwahr, der Sohn wird als das Selbst ge- 
boren" (vgl. (^atap. Br. 14,9,4,26: ätniä vai putra nämäsi)^ auf 
die Wahrnehmung, dafs er seinen Sohn liebt wie sich selbst, 
und auf die Innewerdung, dafs, wenn der Sohn sich wohl 
oder übel befindet, er selbst sich wohl oder übel befindet, 
stellt die Behauptung auf: Der Sohn ist das Selbst. 
148. Ein Cärväka hingegen, gestützt auf das Schrift- 
wort : „Dieser Mensch fürwahr ist aus Nahrungssaft bestehend" 
Iborsctziuig (§ U2 — 153). ßf);') 
(Taiü. l'p. 2J , S. 228), auf die Wahrnehmung, wie er aus 
einem hrennenden Hause auch mit Zurückhissung des Sohnes 
sich selbst tlüchten kann, und auf die Innewerdung: Ich hin 
dick, ich bin mager, stelU die Behauptung auf: Der grobe 
Leib ist das Selbst. 
149. Ein anderer Cärvaka, gestützt auf Schriftworte wie: 
„Da gingen diese Lebenshauche hin zum Vater Prajapati und 
sprachen" (lies: thus, Chand. Up. 0,1,7, S. 134), auf die Wahr- 
nehmung, dafs olme die Sinnesorgane der Körper sich nicht 
bewegen kann, und auf eine Innewerdung wie: Ich bin ein- 
äugig, ich bin taub, stellt die Behauptung auf: Die Organe 
sind das Selbst. 
150. Ein anderer Cärvaka, gestützt auf Schriftworte wie '• 
„Von diesem verschieden, dessen innerer Atman, ist der aus 
Lebenshauch bestehende" (Taitt. Up. 2,2, S. 229), auf die Wahr- 
nehmung, dafs ohne den Lebensodem die Organe nicht funk- 
tionieren können, und auf Innewerdungen wie : Ich habe Hunger, 
ich habe Durst, stellt die Behauptung auf: Der Lebensodem 
ist das Selbst. 
151. Noch ein anderer Cärvaka, gestützt auf Schriftworte 
wie: „Von diesem verschieden, dessen innerer Atman, ist der 
aus Manas bestehende" (Taitt. Up. 2,3, S. 229), auf die Wahr- 
nehmung, dafs, wenn das Manas schliefe, der Lebensodem 
nicht funktionieren könnte, und auf Innewerdungen wde: Ich 
bin entschlossen, ich bin unentschlossen, stellt die Behauptung 
auf: Das Manas ist das Selbst. 
152. Ein Buddhist, gestützt auf Schriftworte wie: „Von 
diesem verschieden, dessen innerer Atman, ist der aus Er- 
kenntnis bestehende" (Taitt. Up. 2,4, S. 230), auf die Wahr- 
nehmung, dafs ohne den Täter das Werkzeug [ohne die Buddhi 
das Manas] nicht wirken könne, und auf die Innewerdung: 
Ich bin Täter, ich bin Geniefser, stellt die Behauptung auf: 
Die Buddhi ist das Selbst. 
153. Ein (Mimähsaka aus der Schule des] Prabhäkara 
und ein Skeptiker, gestützt auf Schriftworte wie : „Von diesem 
verschieden, dessen innerer Atman, ist der aus Wonne be- 
stehende" (Taitt. Up. 2,5, S. 230), auf die Wahrnehmung, dafs 
mit allem übrigen auch die Buddhi [beim Tiefschlafe] in das 
Gäß Der Vedäntasära des Sadänanda. 
Nichtwissen versinkt, und auf die Innewerdung: Ich bin nicht 
wissend, ich bin wissend, stellen die Behauptung auf: Das 
Nichtwissen ist das Selbst, 
154. Ein [Mimähsaka aus der Schule der Kumärila-] Bhatta, 
gestützt auf Schriftworte wie: „Der durch und durch ganz 
aus Erkenntnis bestehende, aus Wonne bestehende Atman" 
(Mänd. Up. 1,5, S. 578], auf die Wahrnehmung, dafs im Tief- 
schlafe beide, das [geistige] Licht und das Dunkel [des Nicht- 
wissens] vorhanden sind, und auf die Innewerdung: Ich bin 
[im Tiefschlafe] mir meiner selbst nicht bewufst, stellt die 
Behauptung auf: Das mit dem Nichtwissen behaftete 
Geistige sei das Selbst. 
155. Ein anderer Buddliist, gestützt auf Schriftworte wie: 
„Nicht seiend war diese Welt am Anfang" (Chänd. Up. 6,2,1, 
S. 160), auf die Wahrnehmung, dafs im Tiefschlafe alles ver- 
schwunden ist, und auf die Innewerdung des Erwachten, soweit 
ihm die Empfindung des eigenen Nichtseins zum Objekte wird: 
Im Tiefschlafe bin ich nichts gewesen, stellt die Behauptung 
auf: Das Nichts ist das Selbst. 
156. Nunmehr ist zu zeigen, dafs alle die aufgestellten 
Prinzipien vom Sohne an bis zum Nichts hin nicht das 
Selbst sind. 
157. Dafs der Sohn und die weitern von dem ganz Natur- 
l)efangenen und den übrigen aufgestellten Prinzipien nicht das 
Selbst sind, ist daraus ersichtlich, dafs von den aus Schrift- 
worten, Argumenten und Innewerdungen geschöpften Schein- 
gründen die jedesmal vorhergehenden, aus Schriftworten, 
Argumenten und Innewerdungen geschöpften Seheingründe 
[schon] durch die jedesmal nachfolgenden, aus Schriftworten, 
Argumenten und Innewerdungen geschöpften Scheingründe 
ihre Widerlegung finden. 
158. Ferner aber: Da die jedesmaligen aus den Schrift- 
worten, Argumenten und Innewerdungen geschöpften Schein- 
gründe durch stärkere Schrift werte, wie die, durch welche 
der Atman als „das innere Selbst" (Käth. Up. 4,1, S. 279), 
„das Nichtgrobe" (Brih. Up. 3,8,8, S. 445), „ohne Augen" 
(gvet. Up. 3,19, S. 299), „ohne Odem, ohne Wünsche" (Mund. 
Up. 2,1,2, S.550), „Nicht-Täter" (gvet. Up. 1,9, S.293), „Geistig- 
Übersetzung (§ 153—163). (357 
kc'it" (Maitr. 0,38, S. 302; Sarvopanisshad ^wW»*, S. 023), „rein 
geistig" iKaivalya-Up. 18, S. 741), „seiend" (Chand. Up. 0,2,1, 
8!. 100) bezeugt wird, durch Argumente, welche aus der 
\\ ahrnelimung gescliöpft sind, dai's alle jene andern Prin- 
zipien vom Sohne an bis zum Nichts hin, weil sie ungeistig 
und von dem Geistigen nur durchleuchtet sind, ebenso ver- 
gänglich sind wie der Krug, sowie durch stärkere Inne- 
werdungen, wie die des Wissenden: „Ich bin Brahman", 
widerlegt werden, so ergibt sich, dafs alle jene Prinzipien 
vom Sohne an bis zum Nichts hin nicht das Selbst sind. 
159. Daher hat einer, der den Vedänta kennt, das Be- 
wufstsein: Das alles durchleuchtende, von Natur aus ewige, 
reine, weise, freie, reale innere Geistige ist das Wesen des 
Selbstes. 
100. So steht es mit der Aufbürdung. 
YIII. ApavQda, die Aufhebnii^. 
101. Die Aufhebung besteht darin, dafs — ähnlich wie 
die auf einer Verkennung des Strickes beruhende Schlange 
wieder zum blofsen Stricke wird — die auf einer Verkennung 
des Realen beruhende, nichtreale, nur durch das Nichtwissen 
bedingte W^eltausbreitung zum alleinigen Realen wird. 
162. Darum heifst es: 
„Durch Wesenhaftes Anderswerdung heifst Verwandlung, 
Durch Wesenloses Anderswerdung heifst Verkennung." 
103. Nämlich: 
Diese aus den vier Arten der groben Leiber bestehenden 
Genufsstätten, nebst Speise, Trank usw. als deren Genufs- 
objekten, nebst den ihnen als Wohnstätten dienenden vier- 
zehn Welten, der Erde usw., nebst dem diese befassenden 
Brahman -Ei, — alle diese werden [durch die Aufhebung] 
gänzlich zu den ihre Ursache bildenden fünffach gemachten 
Elementen. 
Diese mit Ton usw. als Objekten der Wahrnehmung aus- 
gestatteten, fünffach gemachten Elemente, nebst den feinen' 
Leibern, — alle diese werden [durch die Aufhebung] gänzlich 
Decssen, Geschichte der Philosophie. I,iii. 42 
658 I^cr Yedäutasära des Sadänanda. 
zu den ihre Ursache bildenden, nicht fünffach gemachten 
Elementen. 
Diese mit den drei Guna's, Sattvam usw., ausgestatteten, 
noch nicht fünffach gemachten fünf Elemente, — alle diese 
werden [durch die Aufhebung] in der ihrer Entstehung ent- 
gegengesetzten Reihenfolge gänzlich zu dem ihre Ursache 
bildenden, mit dem Nichtwissen behafteten Geistigen. 
Dieses Nichtwissen nebst dem mit dem Nichtwissen be- 
hafteten Geistigen mit dem Igvara an der Spitze, — diese 
werden [durch die Aufhebung] gänzlich zu dem ihnen als 
Träger dienenden, nicht behafteten Geistigen, zum Turiyam, 
zum reinen Brahman. 
IX. Das grofse Wort: tat tram asi, ,,das bist du". 
164. Mit diesen beiden Lehren von der Aufbürdung und 
der Aufhebung wird auch über den Sinn der Worte tat (das) 
und tvam (du) Klarheit gewonnen. 
165. Nämlich: erstlich die Gesamtheit des Nichtwissens 
und dessen, was aus ihm hervorgeht, zweitens das mit dieser 
Gesamtheit behaftete, als allwissend usw. charakterisierte 
Geistige und drittens das mit ihr nicht behaftete Geistige, 
diese drei, sofern sie wie eine durchglühte Eisenkugel als 
eine Einheit erscheinen, bilden den eigentlichen Sinn des 
Wortes tat\ hingegen das dem mit diesen Behaftungen be- 
hafteten Geistigen als Träger dienende, nicht behaftete Geistige 
bildet den metaphorischen Sinn des Wortes tat. 
Und ferner: erstlich die Einzelheit des Nichtwissens und 
dessen, was aus ihm hervorgeht, zweitens das mit dieser 
Einzelheit behaftete, als wenigwissend usw. charakterisierte 
Geistige und drittens das mit ihr nicht behaftete Geistige, 
diese drei, sofern sie wie eine durchglühte Eisenkugel als 
eine Einheit erscheinen, bilden den eigentlichen Sinn des 
Wortes tvam; hingegen das dem mit diesen Behaftungen be- 
hafteten Geistigen als Träger dienende, nicht behaftete, als 
das Vierte die innere Wonne ausmachende Geistige bildet 
den metaphorischen Sinn des Wortes tvam. 
166. Nun können wir den Sinn des grofsen Wortes erklären. 
Übersetzung («; Itio — 171). (^iöy 
1()7. Dieser Satz „/a/ tnon asi'' brinf>;t vermöge der drei 
in ihm liegenden Beziehungen den Begwtt' des Unteilbaren 
Ides Atman-Bralunan) zum Bewul'stsein. 
1(38. Die drei Beziehungen sind: 1. die grammatische 
Koordination der beiden Worte (tat und trani), 2. das Ver- 
hältnis der beiden Begriffe als das Bezeichnende (Prädikat) 
zu dem zu Bezeichnenden (Subjekt), )). das Verhältnis der 
beiden Begritit; zum innern Atman als das metaphorisch Be- 
zeichnende zum metaphorisch zu Bezeichnenden. 
lo9. Darum heilst es: 
„Koordination im selben Satze, — 
Als eigentlich bezeichnend und bezeichnet. — 
Sodann als metaphorisch sich beziehend, — 
Sind drei Beziehungen der beiden Worte 
Teils zu einander, teils zum innern Selbst." 
170. Zunächst von der Beziehung der grammatischen 
Koordination: \Vie in dem Satze „Dieser ist jener Devadatta'^ 
die grammatische Beziehung darin besteht, dafs das den Deva- 
datta der gegenwärtigen Zeit bezeichnende Wort „dieser*' und 
das den Devadatta in einer frühern Zeit bezeichnende Wort 
„jener" auf ein und dieselbe Person bezogen werden, so be- 
steht in dem Satze ,,t(it tvani «>/•' die grammatische Beziehung 
darin, dafs das Wort tat, welches das als unsichtbar usw. 
charakterisierte Geistige bezeichnet, und das Wort tvatK, welches 
das als nicht unsichtbar usw. charakterisierte Geistige be- 
zeichnet, auf ein und dasselbe Geistige bezogen werden. 
171. Nunmehr von dem Verhältnis der beiden Begriffe 
als des bezeichnenden (Prädikats) zu dem- zu bezeichnenden 
(Subjekt): So wie in dem obigen Satze zwischen dem durch 
das Wort „dieser" bezeichneten gegenwärtigen Devadatta und 
zwischen dem durch das Wort „jener" bezeichneten frühern 
Devadatta durch Ausschliefsung der Verschiedenheit von ein- 
ander das Verhältnis zwischen ihnen als dem Bezeichnenden 
und dem zu Bezeichnenden statttindet, ebenso gilt auch in 
unserm Satze zwischen dem Worte tat, welches das als un- 
sichtbar usw. charakterisierte Geistige bezeichnet, und dem 
Worte tvam, welches das als nicht unsichtbar charakterisierte 
Geistige bezeichnet, durch Ausschliefsung der Verschiedenheit 
42* 
6(50 D*^i' Vedäntasära des Sadänanda. 
von einander, das Verhältnis der beiden Begriffe als des be- 
zeichnenden (Prädikats) zu dem zu bezeichnenden (Subjekt). 
172. Nunmehr von dem Verhältnis zwischen dem meta- 
phorisch zu Bezeichnenden zu dem metaphorisch Bezeichnenden: 
Wie in dem obigen Satze zwischen den Worten „dieser" und 
„jener" oder den entsprechenden Begriffen einerseits und, durch 
Absehen von den widersprechenden Bestimmungen der gegen- 
wärtigen vmd der frühern Zeit, zwischen dem widerspruchs- 
losen Devadatta andererseits das Verhältnis zwischen dem meta- 
phorisch Bezeichnenden und dem metaphorisch zu Bezeichnen- 
den stattfindet, ebenso gilt auch in unserm Satze zwischen den 
Worten tat und tvam oder den entsprechenden Begriffen einer- 
seits und, durch Absehen von den widersprechenden Bestim- 
mungen der Unsichtbarkeit und Nichtunsichtbarkeit, zwischen 
dem widerspruchslosen Geistigen andererseits, das Verhältnis 
zwischen dem metaphorisch Bezeichnenden mit dem meta- 
phorisch zu Bezeichnenden. Dies ist es, was man eine partiell- 
metaphorische Ausdrucksweise nennt. 
173. Man beachte, dafs in unserm Satze die metaphorische 
Ausdrucksweise stattfindet, nicht die eigentliche, wie dies 
z. B. in dem Satze „Die Lotosblume ist blau" der Fall ist. 
174. Denn in diesem Falle findet zwischen dem Begriffe 
blau als einer Qualität und dem Begriffe Lotosblume als einer 
Substanz unter Ausschliefsung anderer Qualitäten, z. B. des 
Weifsen, und anderer Substanzen, z. B. des Gewebes, eine 
gegenseitige Verbindung als des Bezeichnenden und des zu 
Bezeichnenden oder eine Einheit zwischen dem einen von beiden 
als dem Bezeichneten mit dem andern statt, und indem man 
diese Verbindung oder Einheit als eine eigentliche Aussage,' 
da ihr kein anderer Erkenntnisgrund widerspricht, als wahr 
bejaht, so liegt hier eine Aussage im eigentlichen Sinne vor. 
175. Wollte man aber auch in unserm Falle zwischen 
dem durch das Wort üd als unsichtbar charakterisierten 
Geistigen und dem durch das Wort tvam als sichtbar charak- 
terisierten Geistigen durch Ausschliefsung der Verschiedenheit 
von einander eine gegenseitige Verbindung als des Bezeich- 
nenden und des zu Bezeichnenden oder eine Einheit zwischen 
dem einen von beiden als dem Bezeichneten mit dem andern 
Übersetzung (§ 171—181). Qß\ 
als den eigentlichen Sinn l)ejalien, so würden dem andere 
Erkenntnisgründe, wie z. B. die ^^'ahrnehmung, widersprechen, 
daher hier keine Aussage im eigenthchen Sinne angenommen 
werden kann. 
176. Andererseits liegt aber doch in unserm Satze auch 
keine Metonymie (jahal-JaTcshanä) vor, wie z. B. in dem Satze 
„Auf dem Ganges ist eine Ilirtenstation angesiedelt". 
177. Denn in diesem Satze, welcher die Hirtenstation als 
das Getragene und den Ganges als ihren Träger metonymiscli 
bezeichnet, würde der eigentliche Sinn etwas ganz und gar 
A\'idersprechendes ergeben, daher man von dem eigentlichen 
Sinne des AVortes Ganges völlig absehen und metonymisch 
dafür das ihm anliegende Ufer verstehen mufs, so dafs hier 
wirklich eine Metonymie stattfindet. 
178. In unserm Falle hingegen würde der eigentliche 
Sinn in der Behauptung der Einheit des als unsichtbar und 
des als sichtbar charakterisierten Geistigen bestehen, und 
dieser ist nur teilweise widersprechend, ohne dafs man darum 
auch den andern Teil aufgeben dürfte, daher eine andere 
[vollständige] Umdeutung [wie bei dem Worte „Ganges"] hier 
nicht statthaft ist, somit eine Metonymie nicht angenommen 
werden darf. 
179. Man darf aber nicht behaupten, dafs, wenn man, 
ebenso wie man den eigentlichen Sinn des Wortes „Ganges" 
ganz aufgab und dafür den Sinn des Wortes „Ufer" sub- 
stituierte, in derselben Weise das Wort tat oder das Wort 
tvam nach dem eigentlichen Sinne des Wortes aufgebe und 
dafür den Sinn des Wortes tvum oder tat substituiere, dieses 
doch auch eine Metonymie sei. 
180. Denn in jenem Falle vernimmt man nicht das Wort 
„Ufer", denkt sich aber metonymisch dessen Sinn, indem dabei 
die Absicht war, dafs man daran denke ; hingegen wenn man 
die Worte tat und tvam vernimmt, denkt man an ihren Sinn, 
und es besteht dabei nicht die Absicht, dafs man metonymisch 
bei dem einen Worte an das andere Wort denken solle. 
181. Weiter aber ist auch in unserm Satze keine Nicht- 
Metonymie anzunehmen, wie z. B. in dem Satze „Das braune 
läuft". 
6(52 r^Pr Vedäntasära des Sadänanda. 
182. Allerdings ist hier der Sinn des Satzes, sofern er der 
Qualität des Braunen ein Gehen zuschreibt, widersprechend, 
aber man kann dem Widerspruche entgehen, wenn man, ohne 
von dem Beo;riffe des Braunen abzuo-ehen, denselben durch 
Ergänzung des Pferdes als seines Trägers vimdeutet, so dafs 
hier eine Nicht-Metonymie vorliegt. 
18.3. In unserm Falle hingegen ist zwar auch der eigent- 
liche Sinn, sofern er die Einheit des als unsichtbar und des 
als nicht unsichtbar charakterisierten Geistigen behauptet, ein 
widersprechender, aber hier läfst sich der Widerspruch nicht 
dadurch heben, dafs man [wie in dem Satze „Das braune 
läuft"] ohne Aufgeben des eigentlichen Sinnes auf irgend 
etwas damit Verknüpftes hinwiese, so dafs hier die Annahme 
einer Nicht-Metonymie nicht berechtigt ist. 
184. Alan darf aber nicht behaupten, dafs das Wort tat 
oder das Wort tvam unter Aufgebung seines widersprechenden 
Teiles und unter Beibehaltung des nicht widersprechenden 
Teiles das ganze W^ort tva))i oder das ganze Wort tat meta- 
phorisch bezeichnen soll, weil auf andere Weise eine partiell- 
metaphorische Ausdrucksweise nicht angenommen werden 
könne. 
185. Denn es geht nicht an, mittels des einen Wortes 
(z. B. tvam) einen Teil seiner Bedeutung (die Unsichtbarkeit) 
und die ganze Bedeutung des andern Wortes gleichzeitig im 
Auge zu haben, und es geht auch nicht an, das eine Wort 
in seinem [eigentlichen] Sinne zvi verstehen und dann wieder 
auf sein Verstehen in metaphorischem Sinne sich zu berufen. 
186. Wie daher in dem Satze „Dieser ist jener Deva- 
datta", weil beim eigentlichen Sinne dieses Satzes zwischen 
dem damaligen Devadatta und dem gegenwärtigen ein teil- 
weiser Widerspruch stattfindet, der widersprechende, auf die 
vergangene und gegenwärtige Zeit bezügliche Teil aufgegeben 
und nur der nicht widersprechende Teil, nämlich Devadatta, 
im Auge behalten wird, 'so mufs man in dem Satze „to^ tvam 
asi'', weil beim eigentlichen Sinne dieses Satzes zwischen dem 
als unsichtbar und dem als sichtbar charakterisierten Geistigen 
ein Widerspruch stattfindet, den widersprechenden, als un- 
sichtbar und als sichtbar charakterisierten Teil des Satzes 
Übersetzung (§ 182 — 191). 003 
aul'<j;i'boii imd das nichl widersprecliende , ungeteilte, reine 
Oeistige im Auge behalten. 
\. Das grofse Wort: ah<im hralnna asmi, ,,ioh bin Brahiiuin". 
187. Nunmehr ist der eigentliche Sinn der Innewerdung 
„aJuoii hralima nsnii'''- (ich bin Brahman) darzustellen. 
188. Nachdem der Lehrer in dieser Weise nach vor- 
heriger Darlegung der Aufbürdung und der Aufhebung über 
die Worte tat und tram Klarheit verbreitet und durch den 
Satz ,^iid tvam ffs^/" den Sinn des Unteilbaren (Brahman j er- 
schlossen hat, geht dem Schüler die zur Gestalt des Un- 
teilbaren sich gestaltende Gemütsstimmung auf: „Ich bin das 
seiner Natur nach ewige, reine, weise, freie, reale, höchste- 
Wonne-seiende, unendliche, zweitlose Brahman." 
189. Diese Gemütsstimmung, obgleich sie nur ein Ab- 
glanz des Geistigen ist, richtet sich doch auf das innere, un- 
teilbare, unerkennbare, höchste Brahman, und vermag dadurch 
das auf das Brahman bezügliche Nichtwissen zu vernichten. 
190. Wie aber ein Gewebe verbrennt, wenn die Fäden, 
welche seine Ursache sind, verbrennen, so wird, indem das 
Nichtwissen, welches die Ursache aller Wirkungen in der Welt 
ist, vernichtet wird, auch die Gesamtheit seiner ^^ irkungen 
vernichtet, und mit ihnen wird auch jene zu ihnen gehörende, 
sich zur Gestalt des Unteilbaren gestaltende Gemütsstimmung 
vernichtet. 
191. Hierbei geschieht es, dafs das in jener Gemüts- 
stimmung sich nur widerspiegelnde Geistige, — wie das Licht 
einer Lampe nicht imstande ist, das Licht der Sonne zu über- 
strahlen, sondern von ihm überwältigt wird, — weil jene 
Gemütsstimmung nicht vermag, das selbstleuchtende, innere, 
unteilbare, höchste Brahman zu überstrahlen, von ihm über- 
wältigt wird, so dafs nach Vernichtung jener Stimnumg, 
welche nur ein Teil des dem Geistigen anhaftenden Nicht- 
wissens ist, jenes widergespiegelte Geistige, — wie nach 
Beseitigung des Spiegels auch das Spiegelbild des Angesichts 
schwindet und nur das Angesicht selbst übrig bleibt, — voll 
und ganz zu dem innern, unteilbaren, höchsten Brahman wird. 
664 I^er Vedäntasära des Sadäuanda. 
192. Da dem so ist, besteht zwischen den beiden Schrift- 
stellen: „Durch Denken soll man schauen es" (Biih. Up. 4,4,19, 
S. 479) und „Was durch das Denken undenkbar" (Kena-Up. 1,5, 
S. 205) kein Widerspruch, denn wenn man auch zugibt, dafs 
die Tätigkeit mit dem Denken behaftet ist, so braucht darum 
doch nicht das KesuUat dieser Tätigkeit noch mit dem Denken 
behaftet zu sein. 
193. Auch heifst es: 
,,Dafs auch das Resultat mit ihm behaftet, 
Ist nicht die Lehrmeinung der alten Meister. 
Doch ist die Tätigkeit des Denkens nötig, 
Das Nichtwissen um Brahman zu vernichten." 
Und wiederum: 
„Da es mit eignem Licht erglänzt, 
Bedarf es fremden Leuchtens nicht." 
194. Anders verhält es sich, wenn die geistige Stimmung 
sich zur Gestalt eines leblosen Gegenstandes gestaltet. 
195. Denn wenn man erkennt: ,, Dieses ist ein Topf", so 
macht die zu der Gestalt des Topfes sich gestaltende Geistes- 
stimmung den vorher nicht erkannten Topf zu ihrem Objekte^ 
beseitigt das auf ihn bezügliche Nichtwissen und beleuchtet 
den an sich leblosen Topf mit dem Lichte des eigenen Geistes, 
ähnlich wie der Lichtkreis einer Lampe den von Finsternis 
umgebenen Topf zu seinem Objekte macht, die auf ihn bezüg- 
liche Finsternis beseitigt und mit eigenem Lichte ihn beleuchtet. 
XI. Die vier AnttshthaniC^, „Übungen". 
196. Solange noch nicht in dieser Weise die Vergegen- 
wärtigung des die eigene Wesenheit [des Erkennenden] aus- 
machenden Geistigen erreicht ist, müssen die Übungen des 
Hörens, Verstehens, Überdenkens und Versenkens be- 
trieben werden, daher nunmehr von diesen zu handeln ist. 
197. Das Hören besteht darin, dafs man mittels der an 
die Vedäntatexte sich knüpfenden sechs Momente die Auf- 
merksamkeit fest auf die zweitlose Wesenheit gerichtet hält. 
198. Die sechs Momente sind: Der Eingang, die Re- 
kapitulation, die Wiederholung, Nichtdage wesensein, Frucht, 
Erläuterung und Stimmigkeit. 
Übersetzung (§ 192—204). 665 
19*.). Darum heifst es: 
„Der Eingang und die Schlufszusammenfassung, 
Wiederliolung und Nichtdagewesensein, 
Die P'rucht, Erläuterung und Stimmigkeit, 
Sind sechs Momente, welche dazu dienen. 
Des Lernenden Aufmerksamkeit zu sichern." 
200. Der Eingang und die Rekapitulation bestehen 
darin, dafs man die als Thema zu behandelnde Sache am 
Anfang und am Ende hervorhebt; wie z. B. im sechsten Ab- 
schnitte der Chändogya-Upanishad das als Thema zu be- 
handelnde zweitlose Reale zu Anfang durch die Worte : „Eines 
nur und ohne zweites" (Chänd. üp. 6,2,1? S. 160) und zu Ende 
durch die ^^'o^te: „Dessen Wesens ist dies Weltall" (Chänd. 
Lp. 6,16,3, S. 170) hervorgehoben wird. 
201. Die Wiederholung besteht darin, dafs die als 
Thema zu behandelnde Sache im Verlaufe wieder und wieder 
hervorgehoben wird ; wie z. B. an derselben Stelle im Verlaufe 
der Besprechung die zweitlose Realität durch die Worte: „das 
bist du" (Chänd. Up. 6,8—16, S. 164—170) neunmal hervor- 
gehoben wird. 
202. Das Nichtdage wesensein besteht darin, dafs die 
zu behandelnde Sache noch nicht zum Gegenstand einer andern 
Beweisführung gemacht worden war; wie z. B. an derselben 
Stelle die zweitlose Realität noch nicht Gegenstand eines 
andern Beweises gewesen war. 
203. Die Frucht besteht darin, dafs für die als Thema 
zu behandelnde Erkenntnis oder Verehrung des Atman hier 
und dort ein Ziel verheifsen wird; wie z. B. an derselben 
Stelle als Ziel der Erkenntnis des zweitlosen Realen dessen 
Erlangung verheifsen wird durch die Worte: „Also auch ist 
ein Mann, der hienieden einen Lehrer gefunden, sich bewufst : 
«diesem [Welttreiben] werde ich nur so lange angehören, bis 
ich erlöst sein werde, darauf werde ich heimgehen»" (Chänd. 
Up. 6,14,2, S. lt^9). 
204. Die Erläuterung (arthaväda) besteht darin, dafs 
das zu behandelnde Thema liin und wieder anempfohlen wird 
[vgl. über diese Umdeutung von arthaväda oben S. 396]; wie 
z. B. an derselben Stelle das Studium des zweitlosen Realen 
QQQ Der Vedäntasära^ des Sadänanda. 
empfohlen wird durch die Worte (Chand. Up. 6,1,2, S. 160): 
„Hast du denn auch der Unterweisung nachgefragt, durch welche 
[auch] das Ungehörte ein [schon] Gehörtes, das Unverstandene 
ein Verstandenes, das Unerkannte ein Erkanntes wird?" 
205. Die Stimmigkeit besteht darin, dafs zur Erhärtung 
des zu behandelnden Themas gelegentlich auch ein [weltliches] 
Argument in der Schrift vorkommt ; wie z. B. an obiger Stelle 
zur Bestätigung des zweitlosen Realen als Argument angeführt 
wird, dafs eine Umwandlung nur auf Worten beruht, wenn 
es heifst (Chänd. Up. 6,1,3, S. 160): „Gleichwie, o Teurer, 
durch einen Tonklumpen alles, was aus Ton besteht, erkannt 
ist, an Worte sich klammernd ist die Umwandlung, ein blofser 
Name, Ton nur ist es in Wahrheit." 
206. Das Verstehen besteht darin, dafs man das über 
das zweitlose Reale Gehörte mit Hilfe von Argumenten, welche 
der Vedäntalehre konform sind, unaufhörlich durchdenkt. 
207. Das Überdenken besteht darin, dafs in betreff 
des von der ihm heterogenen Körperlichkeit usw. befreiten, 
zweitlosen Realen das zu seiner Gestalt gestaltete Bewufstsein 
eine ihm homogene Geistesströmung einschlägt. 
208. Die Versenkung ist zweifach: eine teilbehaftete 
oder eine nichtteilbehaftete. 
209. Die teilbehaftete Versenkung besteht darin, dafs 
in betreff des zweitlosen Realen die zu seiner Gestalt gestaltete 
Geistesstimmung besteht, ohne dafs doch die Zweiteilung von 
Erkenner und Erkanntem aufgehoben wäre; in diesem Falle 
kommt die zweitlose Realität zum Bewufstsein, während der 
Schein der Zweiheit fortbesteht, ähnlich wie an einem tönernen 
Elefanten der Ton zum Bewufstsein kommt, während der 
Schein des Elefanten fortbesteht. 
210. Darum sagen die Weisen : 
„Das Schauende, dem Äther Gleiche, Höchste, 
Mit eins Aufleuchtende (Chänd. Up. 8,4,2) und Ewig-Eine, 
Zweitlos und fleckenlos das All durchdringend. 
Ich bin es, der von Anbeginn Erlöste. 
Ich bin der Schauende, ich bin der Keine, 
Mein Wesen ist unwandelbares Sein, 
Für mich gibt es nicht Bindung noch Erlösung." 
Übersetzung (§ 204—220). (\(\7 
211. Die niehtteilbehaftete Versenkung besteht darin, 
(lal's mit Aufhebung der Zweiteilung in Erkennendes und Er- 
kanntes die zur(iestalt des zweitloseii Realen gestaltete Geisles- 
stimmung in völliger tlinswerdung mit diesem zweitlosen Realen 
heliarrt. Und wie ein Salzklumi)en, wenn er zur Gestalt des 
Wassers gestaltet worden ist, nicht mehr wahrgenommen wird, 
sondern mir ikhIi ;i1s Wasser erscheint, so geschieht es dann, 
dafs die zur Gestalt des zweitlosen Realen gestaltete Geistes- 
stimmung nicht mehr wahrgenommen wird, sondern nur noch 
als das zweitlose Reale erscheint. 
212. Man glaube aber nicht, dafs dieser Zustand identisch 
sei mit dem Tiefschhife; denn wenn auch beiden das Nicht- 
hervortreten der Geistesstimmung gemeinsam ist, so ist sie 
doch in dem einen Falle vorhanden und in dem andern 
nicht. 
213. Die Glieder der Versenkung sind (übereinstimmend 
mit Yoga-Sütra 2,29, oben S. 525) : Zucht, Selbstzucht, Sitzen, 
Atemregulierung, Einziehen [der Organe], Fesselung [des 
T'ittam], Meditation und Versenkung [im engern Sinne]. 
214. Unter diesen bilden NichtSchädigung, ^^'ahrhaftig- 
keit, Xichtstehlen, Keuschheit und Besitzlosigkeit die Zucht 
(gleich Yoga-Sütra 2,30, oben S. 525). 
215. Reinheit, Genügsamkeit, Askese, Studium und Gott- 
ergebenheit bilden die Selbstzucht (gleich Yoga-Sütra 2,32, 
oben S. 525). 
2 in. Die Arten des Sitzens bestehen in verschiedenen 
Stellungen der Hände, Füfse usw., wie sie als Lotossitz, Kreuz- 
sitz usw. bezeichnet werden. 
217. Atemregulierung heifst die Zügelung des Atmens ver- 
mittelst geregelten Ausatmens, Einatmens und Atemeinbehaltens 
(vgl. Yoga-Sütra 2,49, oben S. 527 und i)GG fg.). 
218. Das Einziehen der Sinnesorgane ist das Zurück- 
halten derselben von den ihnen entsprechenden Objekten (vgl. 
Yoga-Sütra 2,54, oben S. 528). 
219. Die Fesselung ist die Konzentration des innern Sinnes 
auf das zweitlose Reale (vgl. Yoga-Sütra 3,1, oben S. 528). 
220. Meditation ist die mit Unterbrechungen stattfindende 
Hinströmung des innern Sinnes auf das zwei.tlose Reale hin. 
(368 t^er Vedäntasära des Sadänanda. 
221. Von der Versenkung, und zwar von der teilbehafteten 
ist schon gesprochen worden. 
222. Der zu den acht Ghedern gehörigen nichtteilbehaf- 
teten Versenkung stehen als die vier Hindernisse entgegen 
Schwund, Zerstreutheit, Befleckung und Lustgeschmack. 
223. Schwund ist der bei Nichtfesthalten der Geistes- 
stimmung an dem unteilbaren Realen sich einstellende Schlaf. 
224. Zerstreutheit ist die bei Nichtfesthalten der Geistes- 
stimmung an dem unteilbaren Realen eintretende Ablenkung 
auf etwas anderes. 
225. Die Befleckung besteht darin, dafs auch ohne Schwund 
und Zerstreuung infolge einer Versteifung der Geistesstimmung 
durch leidenschaftbehaftete Vorstellungen ein Nichtfesthalten 
an dem unteilbaren Realen eintritt. 
226. Der Lustgeschmack besteht darin, dafs trotz der an 
dem unteilbaren Realen festhaltenden Geistesstimmung ein 
Geschmack an der teilbehafteten Wonne sich einstellt oder 
dafs schon zur Zeit der beginnenden Versenkung ein solcher 
Geschmack an der teilbehafteten Wonne sich einstellte. 
227. Wenn hingegen der Geist, frei von diesen vier 
Hindernissen, wie eine windstille Flamme unbeweglich nur 
noch als das unteilbare Geistige beharrt, dann heifst dieser 
Zustand die nichtteilbehaftete Versenkung. 
228. Darum heifst es (Gauclapäda, Mändükya-Kärika 
43,44 — 45; Sechzig Upanishad's S. 592): 
„Weckt den Geist, will er nichts werden. 
Sammelt ihn, will er sich zerstreu'n; 
Beides wisse man als sündhaft; 
Ist er ruhig, so stöi't ihn nicht. 
Freilich schmeckt er dann nicht Lust mehr. 
Keiner Begierde sich bewufst" usw. 
und (Bhagavadgitä 6,19, S. 60 unserer Übersetzung) : 
,,Wie ein Licht in der Windstille 
Nicht erzittert, dies Geheimnis gilt" usw. 
XII. Jivanmuhfa, „der bei Lebzeiten Erlöste". 
229. Nunmehr wird die Erklärung des bei Lebzeiten Er- 
lösten gegeben. 
Übersetzung (§ 221—235). 669 
230. Der bei Lebzeiten Erlöste ist ein solcher, welcher, 
vermittelst der Vernichtnno; seines auf Erkenntnis des seine 
eiiiene Wesenheit bildenden, unteill)aren Brahman bezüglichen 
Nichtwissens, sich das seine eigene Wesenheit bildende, un- 
teilbare Brahman vergegenwärtigt, hierdurch auch die durch 
das Nichtwissen aufgehäuften Werke, Zweifel und Irrtümer 
vernichtet hat und sonach in dem unteilbaren, aller Fesseln 
ledigen Brahman festgewurzelt steht. 
231. „Wer jenes Höchst -und -Tiefste schaut, 
Dem spaltet sich des Herzens Knoten, 
Dem lösen alle Zweifel sich, 
Und seine Werke werden nichts", 
vde die Schrift (Mund. Up. 2,2,8, S. 554) sagt. 
232. Ein solcher, wenn er zur Zeit seiner Erweckung 
hinblickt auf die durch seinen Leib als ein Gefäfs von Fleisch, 
Blut und Exkrementen, durch seine Sinnesorgane als ein 
Gefäfs der Blindheit, Trägheit und Stumpfheit, durch sein 
^Manas als ein Gefäfs von Hunger, Durst, Kummer und Ver- 
blendung infolge der jedesmal vorher erworbenen Charakter- 
eindrücke begangenen, teils abgebüfsten, teils von der Er- 
kenntnis noch nicht widerlegten und daher in der jVerbüfsung 
begriffenen Werke, — wenn er auf dieses alles hinblickt, so 
erblickt er es, weil es zunichte geworden ist, im Sinne der 
höchsten Realität doch nicht; wie einer, welcher weifs: „dieses 
ist eine Fata Morgana", obgleich er sie als eine Fata Morgana 
erblickt, sie doch nicht für etwas wirklich Seiendes hält. 
233. „Mit Augen, als wäre er ohne Augen, mit Ohren, 
als wäre er ohne Ohren*', wie die Schrift (auch bei Qaiikara 
zu Brahma-Sütra 1,1,4, p. 87,9) sagt. 
234. Und es heifst: 
„Der Mann, der ebenso im Stand des Wachens 
Nichts um sich her erblickt, wie wenn er schliefe, 
Der, weil er die Nichtvielheit hat erkannt, 
Die Vielheit um sich sieht und doch nicht sieht, 
Der, wenn er Werke tut, sie doch nicht tut, 
. Nur der ist ätmankundig und kein andrer." 
235. Selbiger, gleichwie er sich, vor der Erkenntnis, den 
(für ihn damals) eben existierenden Zwecken, wie Ernährung, 
^70 I^^r ^edäntasära des Sadänanda. 
Belustigung u. dgl.. zuwandte, so wendet er sieh jetzt schönen 
Vorstellungen zu, oder auch er bleibt gleichgültig gegen 
Schönes und Unschönes. 
236. Darum heiCsi es: 
„Wenn einer, der erweckt luad eines ^^ esens 
Geworden mit der Nichtzweiheitliclikeit, 
Auf Erden, wie es ihm beliebt, darf leben, 
Wie unterscheidet sich der Wahrheitschauer 
Von Hunden, wenn auch er Unreines ifstV 
Dadurch allein, so lautet hier die Antwort, 
Dafs er das Brahman kennt: wer so erlöst wai-d. 
Der ist der Atmankenner und kein andrer." 
237. Alsdann werden Demut und andere Fördenings- 
mittel der Erkenntnis sowie auch Xächstenhebe und andere 
edle Tugenden als Zierde an ihm weiter fortbestehen. 
238. Darum heLfst es: 
..Wer erst zum Atmanwissen ist erwacht. 
Dem werden Tugenden wie NächstenUebe 
Von selbst und ohne Anstrengung zuteil 
Als Folgen, nicht als Vorbedin2un<Ten." 
239. In Summa: ein solcher, indem er nur um der Unter- 
haltung des Leibes willen die durch ^^"ünschen, Xichtwünschen 
und Anderswünschen veranlafsten, Lust und Schmerz in ihrem 
Gefolge habenden, schon in der Vergeltung begriflenen Früchte 
seiner A\'erke bis zu Ende auskostet, fährt fort die Schein- 
exisienz seiner Linenorgane und alles übrigen mit seinem 
iimem Lichte zu durchleuchten, bis er nach ihrem Hinschwinden 
und dem Erlöschen seines Lebens in dem als innere Wonne 
fortbestehenden höchsten Brahman. da das Nichtwissen und 
■die von ihm ge%virkten Charaktereindrücke zunichte geworden 
sind, als die höchste Absoluiheit, als das nur den einen Ge- 
schmack der Wonne besitzende, von allem Schein der Viel- 
heit befreite, unteilbare Brahman fortbesteht; 
24*J. wie die .SchriftsteUen besagen: ., Seine Lebensgeister 
ziehen nicht aus" (Brih. 4.4,6 1. „ebendaselbst lösten sie sich auf" 
<Brih. 3,2.11», und ,.des Leibes los \^-ird er erlöst" iKäth. .">,lj. 
Anliani znr iudisehen Philosophie; 
EINKtES über die PHILOSOPHIE DER 
CH1^■ESEN U.Mi JAPAXER, 
I. China, Vorbemerkungen. 
1. Land und Leute. China (so benannt wahrscheinlich 
nach der Dynastie Tsin), dieses ungeheure, von den Chinesen 
gewöhnlich als das „Reich der Mitte" (Tsclmng-hiie)^ auch als 
die „Blume der Mitte" (nie aber als das „Himmlische Reich") 
bezeichnete Land, welches an Flächeninhalt das ganze Europa 
übertriti't, von den nördlichsten bis zu den südlichsten Teilen 
alle klimatischen Unterschiede von Mitteldeutschland bis in 
die Tropen, von Dresden bis Calcutta vereinigt, und, von 
mächtigen Flüssen durchströmt, an hohen Gebirgen und 
fruchtbaren Tiefländern, an weiten, öden Wüstenstrecken und 
Gegenden von paradiesischer Schönheit die gröfste Mannig- 
faltigkeit aufweist, dieses von alters her nach aufsen hin sich 
geflissentlich abschliefsende Weltreich wird bewohnt von einer 
dichten, auf 330 — 430 Millionen geschätzten Bevölkerung 
mongolischer Abstammung, welche, abgesehen von den durch 
das Klima bedingten Unterschieden, an Rasse und Sprache, 
an Volkscharakter und Lebensgewohnheiten im wesentlichen 
denselben Typus repräsentiert und ihn bei der grofsen Stabilität 
aller Lebensverhältnisse von alten Zeiten bis auf die Gegen- 
wart im ganzen und grofsen unverändert bewahrt hat. Als 
Grundzüge des chinesischen Volkscharakters kann man be- 
zeichnen: grofse Mäfsigkeit in den Lebensansprüchen, grofse 
Arbeitsamkeit und darauf beruhende mechanische Kunstfertig- 
keit, und daneben einen auffallenden Mangel an Verständnis 
für höheres Geistesleben und dem Verlangen nach einer ihm 
zustrebenden Entwickhmg. Im Praktischen betätigen sich 
diese Charakterzüge in einem nüchternen, berechnenden, unter 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, iii. 43 
674 i- China, Vorbemerkungen. 
zeremonieller HöfKchkeit sorgsam versteckten Egoismus, im 
Theoretischen als starker Trieb nach Belehrung und eine 
entsprechende Hochschätzung für Bildung und Gelehrsamkeit. 
Auf dieser Grundlage hat sich in China eine Art geistiger 
oder, besser gesagt, gelehrter Aristokratie entwickelt, welche 
alle Amter und Würden jedem zugänglich macht, der die 
verschiedenen, zu ihnen berechtigenden Staatsexamina besteht. 
Aber auch bis in die untersten Volksschichten hinab betätigt 
sich dieser Trieb nach geistiger Bildung; es gibt keine Stadt 
in China, welche nicht höhere oder niedere Lehranstalten 
besäfse, kein Dorf, in dem nicht dui'ch Volksschulen oder 
Privatunterricht Gelegenheit zum Lernen geboten wäre. In 
wenigen Ländern wird so viel gelesen, werden so viele Bücher 
gedruckt und so billig verkauft wie in China. Schon im 
Jahre 95 p. C. haben die Chinesen das Papier, im Jahre 593 
den Buchdruck erfunden, und seit 1041 verstehen sie mit 
beweglichen Typen zu drucken, wenn auch daneben der Holz- 
tafeldruck bis auf die Gegenwart das Üblichere geblieben ist. 
Nur aus dem Umstand, dafs diese so emsig erstrebte Bildunij; 
nirgendwo in die Tiefe geht, läfst es sich erklären, dafs das 
chinesische Volk seine absolute Bevormundung durch die 
Bureaukratie der niedern und höhern Beamten bis auf die 
Gegenwart hin geduldig ertragen hat. 
2. Sprache und Schrift. Das Chinesische ist der be- 
deutendste Vertreter in der Klasse der einsilbigen Sprachen 
und mit dem Tibetanischen , Siamesischen , Birmanischen 
stammverwandt. Es besteht aus lauter einsilbigen Wörtern, 
welche völlig invariabel sind, weder dekliniert noch kon- 
jugiert werden und je nach dem Zusammenhang ein Nomen, 
ein Verbum oder eine Partikel vertreten. So kann die Silbe 
ia je nach der Stellung im Satze grofs, Gröfse, vergröfsern, 
grofs sein oder sehr bedeuten. Weiter wird das Sprachmaterial 
noch dadurch eingeschränkt, dafs diese einsilbigen Wörter 
nur auf einen Vokal oder Nasal endigen dürfen, und dafs 
die Buchstaben g, d, h, r fehlen, wohingegen eine gröfsere 
Anzahl von Zischlauten vorhanden ist. So gebietet die chine- 
sische Sprache, von einzelnen Dialekten abgesehen, nur über 
2. Sprache und Schrift. (]75 
487 Laute, welche durch die vier bis fünf Arten der Betonung 
(den liohen gleichen, den tiefen gleichen, den steigenden, den 
fallenden und den kurz abgebrochenen Ton) zu 1203 Lauten 
werden, deren jeder daher oft zwanzig bis dreifsig verschie- 
dene Bedeutun2;en hat. Die nähere Bestimmung der Bedeutung 
dieser Wörter im Satze mufs durch die Hiiizufügung ein- 
schränkender Worte, durch die sorgfältig geregelte Stellung 
im Satze und durch gewisse, die Beziehung bezeichnende 
Laute erreicht werden. So bedeutet scIkukj (oben, hoch) und 
ma (Pferd I in der Stellung schang-ma ,,aufs Pferd steigen", 
während ma-schauii „zu Pferde sitzen" bedeutet. — Weit 
genauer als die gesprochene Sprache ist die geschriebene; 
sie bringt durch ihre Zeichen nicht sowohl die gesprochenen 
Laute, als vielmehr die durch sie ausgedrückten Begriffe zur 
Anschauung, und da die unter den Menschen herrschenden 
Sprachen nur den Lauten nach verschieden sind, aber in 
den Beo'riften, welche der Laut zum Ausdruck bringt, von 
Nuancen im einzelnen abgesehen, übereinstimmen, so kann 
man, wofern man nur die Bedeutung der geschriebenen 
Zeichen kennt, ein chinesisches Buch verstehen, ohne die 
gesprochene Sprache zu kennen; im Chinesischen ist das 
Geschriebene von dem Gesprochenen fast ebenso unabhängig 
wie es in allen Sprachen das Gesprochene vom Geschriebenen 
ist. Ursprünglich war die chinesische Schrift eine Bilder- 
schrift, und noch jetzt kann man in vielen Zeichen die ver- 
kürzten Bilder von Sonne, Mond, Berg, Baum, Kind usw. 
wiedererkennen. Abstrakta werden vielfach durch ein ver- 
wandtes Bild ausgedrückt; Herz bedeutet Geist, Zimmer be- 
deutet Frau usw. A^ndere Begrifle werden durch Zusammen- 
setzungen bezeichnet, das Licht durch Sonne und Mond, der 
Gesang durch Mund und Vogel, und wenn der Chinese den 
Begriff des Zankes ausdrücken will, so malt er ein Weib 
und noch ein Weib dazu. Zu diesen teils einfachen, teils zu- 
sammengesetzten, aus verkürzten Bildern bestehenden Zeichen 
kommen andere, welche in leichtverständlicher Svmbolik die 
Begriffe oben, in der Mitte, unten, eins, zwei, drei usw. oder 
durch Umkehrunsr des Zeichens begriffliche Gegensätze me 
rechts und links, stehend und liegend, Fürst und Beamter usw. 
43* 
676 I- <^'hina, Vorbemerkungen. 
veranschaulichen. Aber alle diese, aus einfachen Bildern und 
Symbolen bestehenden Zeichen bilden nur einen kleinen, viel- 
leicht den zehnten oder zwanzigsten Teil der vorhandenen 
Schriftzeichen, welche im ganzen auf 40000 veranschlagt 
werden, wiewohl die meisten wenig in Gebrauch sind, da 
z. B. in den Schriften des Confucius und seiner Schule nur 
gegen 2500 vorkommen und 5000 ausreichen, um alles in 
der Literatur zu verstehen. Alle diese Schriftzeichen bestehen 
in der Regel aus zwei Elementen, deren eines auf den ge- 
sprochenen Laut, das andere auf den dadurch ausgedrückten 
Begriff' hindeutet, wodurch das Studium der Zeichen sogar 
ein philosophisches Interesse hat, da der Zusammensetzung 
des Begriffes aus seinen Elementen die Zusammensetzung der 
Zeichen zu entsprechen pflegt. — Ein chinesisches Wörter- 
buch ist gewöhnlich so angeordnet, dafs das gesamte Material 
unter 214 in allen Zusammensetzungen vorkommenden Grund- 
zeichen, den sogenannten Schlüsseln oder Klassenhäuptern, 
befafst wird, unter deren jedem die kompliziertem, das be- 
treffende Klassenhaupt mit enthaltenden Schriftzeichen nach 
Anzahl der Striche (von 1 — 17) geordnet werden. Geschrieben 
werden diese Striche, wie bekannt, in Tusche mittels eines 
senkrecht gehaltenen Pinsels. Die Bücher fangen von hinten 
an, die Zeilen laufen von oben nach unten und die Zeilen- 
reihen von rechts nach links. 
3. Geschichte. Die Geschichte Chinas beginnt mit dem 
halbmythischen Herrscher Fo-hi (2950 a. C), welcher die 
Grundlagen der Kultur gelegt und namentlich die Schrift er- 
funden haben soll. Gesichertere historische Überlieferung 
besteht seit dem König Yao (2350 a. C.j, dem Begründer des 
chinesischen Staates, mit welchem das Schu-Jiirig, „das Buch 
der Urkunden", anhebt. Von seiner Zeit an bis auf die Gegen- 
wart hin sind in China mehr als zwanzig Dynastien auf ein- 
ander gefolgt, deren Schicksal nur zu oft darin bestand, dafs 
sie von einem kräftigen Herrscher begründet wurden und 
früher oder später unter seinen verweichlichten und dem 
Wohlleben ergebenen Nachfolgern mehr und mehr in Verfall 
gerieten, bis ein kriegstüchtiger Usurpator sie verdrängte und 
3. Geschichte. (;77 
«.'ine neue Dynastie begründete. Aus diesem seit viertausend 
Jahren in China mit aUerhn Variationen sich abspielenden 
poHtisehen Drama wollen wir nur die Momente hervorhel)en, 
welche liir unsere Zwecke die wichtigsten sind. Der Herrscher 
\Vi(-in(ii(f, der Begründer der Dynastie TscJwu (1V22 — 249 a. C), 
gab dem Staatswesen eine neue Ordnung, durch welche den 
Lehnsfürsten eine gröfsere Selbständigkeit gegenüber der Zen- 
tralgewalt eingeräumt wurde. Die Folge war eine mehr und 
mehr zunehmende Auflehnung der durch Kriege mit den 
Grenzvölkern mächtig gewordenen Vasallenstaaten gegen die 
Keichsregierung. In die Zeit der hieraus erfolgenden \\'irren 
liillt das Auftreten der beiden gröfsten Erscheinungen der 
chinesischen Kultur, des Lao-tse und. des Koug-fu-tse, von 
denen weiter unten zu reden sein wdrd. Es folgt die Dynastie 
Tsin (249 — 207), begründet durch König Tschhig, der sich 
den Titel Schi-liiv(ing-ii („erster Herr und Kaiser") beilegt, 
zum Schutze gegen die Barbaren des Nordens die chinesische 
Mauer vollendet und im Innern ein absolutistisches Regiment 
begründet. Um die einem solchen entgegenstehenden Tra- 
ditionen zu verwischen, liefs er 213 a. C. alle vorhandenen 
Büciier, bis auf einzelne Ausnahmen, zusammenbringen und 
verbrennen. Seine Dynastie geriet bald nach seinem Tode 
(209 a. C.j in Verfall und mufste der Dynastie Hän (20ß a. C. 
bis 221 p. C.) weichen, unter welcher die Literatur durch Auf- 
suchen der noch vorhandenen alten Bücherschätze wiederher- 
gestellt, die Lehre des Kong-fu-tse zur Staatsreligion erhoben, 
und durch den Kaiser Ming-ti Gl p. C. der Buddhismus in 
China eingeführt wurde (vgl. oben S. 179). Dem Aufblühen der 
chinesischen Kultur während dieser Dynastie folgt, veranlafst 
durch eine Spaltung Chinas in ein Südreich und Xordreich, 
ein vier Jahrhunderte lang währender Verfall, aus welchem das 
Land während der Dynastie Thang (GIB — 907) zu einer zweiten 
Blüte, der höchsten, welche China überhaupt erreicht hat, in 
Ackerbau, Industrie und Handel, in \\'issenschaft und Litera- 
tur sich aufschwang. Ein abermaliger Verfall des Reiches 
nach aufsen und innen charakterisiert die folgenden Dynastien. 
In die letzte derselben, die Dynastie Suug (9(50—1279), fällt 
das Leben des grol'sen Erneuerers des Confucianismus, Tschu-hi. 
678 I- tliina, Vorbemerkungen. 
Erst unter der ausländischen, mongolischen Dynastie der Yi'ian 
(1279 — 1368) hebt eine dritte und letzte Blütezeit des Reiches 
an. Ihre Fortsetzung erfuhr dieselbe unter der Dynastie 3Inig 
(1368 — 1644), der letzten national -chinesischen, in welcher 
eine Wiedergeburt des Reiches durch Erneuerung der glor- 
reichen Traditionen der Vergangenheit angestrebt wurde. Die 
von 1646 an bis auf die Gegenwart herrschende Dynastie 
Tsing stammt aus der Mandschurei und hat infolge dieses 
ausländischen Ursprungs vielfach mit innern Gärungen zu 
kämpfen gehabt, während -das zunehmende Andringen euro- 
päischer Mächte zu mancherlei Kriegen und Verwicklungen 
führte, andererseits aber dank der Eifersucht der Grofsmächte 
auf einander für den Fortbestand des altersmorschen Reiches 
wesentliche Garantien in sich birgt. 
4. Die drei Lehren. Ein chinesisches Sprichwort sagt: 
siui hiao i Jvia, „drei Lehren, eine Familie". Diese drei in 
China herrschenden Lehren (Religionen, Philosophien), welche 
ebenbürtig neben einander bestehen, sind die des Lao-tse, die 
des Koug-fu-tse und der, wie schon bemerkt, 61 p. C. in China 
eingeführte Buddhismus. Jede hat ihre eigenen Tempel und 
ihre eigenen Priester, und nur diese sind auf die von ihnen 
vertretene Lehre eingeschworen, während das Volk nicht wie 
bei uns einer bestimmten Konfession angehört, sondern je 
nach Bedarf seine Zuflucht zu den Priestern der einen oder 
der andern Lehre nimmt (Schott, Chinesische Literatur, Ab- 
handl. d. Berl. Akad. 1853, S. 349 fg.), bei traurigen Vorfällen, 
wie Krankheit und Tod, meist zum Buddhismus, während bei 
heitern Festen, Hochzeiten usw. die Priester des Kong-fu-tse 
bevorzugt werden. China bietet somit ein Beispiel der denk- 
bar gröfsten Toleranz, welche freilich hier wie überall als 
ihre Kehrseite die Indifferenz zeigt. Nur weil dem Chinesen 
ein tieferes religiöses Fühlen abgeht, erträgt er diesen Zu- 
stand; wenn er dem Christentum gegenüber nicht dieselbe 
Duldung zeigt, so beruht dies weniger auf religiösen als auf 
nationalen Antipathien gegen die Einflüsse des Abendlandes. 
Der Buddhismus ist und bleibt das einzige Beispiel eines 
tiefer greifenden Einflusses auf das geistige Leben Chinas von 
4. Dio (Iroi Leluoii. ß7g 
Seiten des Auslandes. Von ihm abgesehen, ist die BiUlung 
eine rein nationale, und es ist eine merkwürdige Fügung 
(welche übrigens auch im abendländischen Kulturleben ihre 
Parallelen hat), dafs Lao-tse (geb. (504 a. C.) und K<)nfj-fi(-ts;e 
(geb. 551 a. C), die beiden Männer, welche dem geistigen 
Leben Chinas IVir alle Zukunft die Bahn vorzeichneten, gleich- 
zeitig als älterer und jüngerer Zeitgenosse neben einander 
lebten und in verschiedenem, man kann sagen, gerade ent- 
o-eo-ensjesetztem Sinne wirkten. Es war die Zeit der Dynastie 
der IW-liox, deren liberale, auf Dezentralisation gerichtete 
Tendenz mehr und mehr zu politischen Wirren geführt hatte: 
die Lehnsfürsten la^en in Streit mit der Reichsgewalt, die 
Adelsgeschlechter mit den Lehnsfürsten, die politische Lage 
wurde immer schwieriger. Einem solchen Zustand der Dinge 
gegenüber war für den Weisen ein doppeltes Verhalten mög- 
lich: entweder man wandte sich, wie Lao-tse, vom öffentlichen 
Leben ab und zog sich auf das eigene Innere zurück, um 
hier in stiller Beschaulichkeit die Befriedigung zu finden, 
welche die Aufsenwelt versagte, — oder man griff tätig in 
das öffentliche Leben und seine Verhältnisse ein, um ihm 
eine bessere Richtung zu geben, wie es Koug-fii-tse sein langes 
Leben hindurch mit wechselndem Erfolge zu tun bemüht ge- 
wesen ist. Es ist begreiflich, dafs zwei Männer von so ent- 
gegengesetzter Denkart keine geistige Fühlung mit einander 
gewinnen konnten, und der Gegensatz beider kommt zum 
Ausdruck in der Erzählung von der persönlichen Begegnung 
dieser beiden gröfsten Träger der chinesischen Kultur, welche 
im Jahre 517 a. C. stattgefunden haben soll und über die 
wir einen Bericht des Historikers Sse-ma-tsicn (gest. 86 a. C.) 
besitzen, den wir in Anlehnung an v. d. Gabelen tz' kleine 
chinesische Grammatik S. 111 — 115 und Grubes Literatur- 
geschichte S. 139 — 140 hier mitteilen wollen. 
5. Lao-tse und Kong-fu-tse. «Lao-tse war ein Mann 
«aus dem Dorfe Kü-d sehen, Bezirk Li, Kreis Ku, im Lehns- 
" Staate Tschu. Sein Familienname war Li, sein Rufname 
«Ri. sein Mannesname Poh-yang, sein posthumer Ehrentitel 
«Tan. Er war Geschichtschreiber des Staatsarchivs im Staate 
680 I- China, Vorbemerkungen. 
«Tschou. — Kong-tse begab sich nach Tschou, um Lao-tse 
((über das Zeremoniell zu befragen. Lao-tse sprach: „Die 
«Menschen, von denen .du sprichst, sind samt ihren Gebeinen 
«bereits vermodert und nur ihre ^^'orte sind noch vorhanden.'' 
«Und weiter sprach er: „Wenn ein Edler seine Zeit findet, 
«so steigt er empor; findet er seine Zeit nicht, so geht er 
«hin und läfst das Unkraut wachsen. Ich habe gehört, ein 
«guter Kaufmann verberge tief seine Schätze, als wäre es bei 
«ihm leer; und ein Edler von vollendeter Tugend erscheine 
«in seinem äufsern Wesen als einfältig. Stehe ab, Freund, 
«von deinem hoffärtigen Wesen und von deinen vielerlei 
«Wünschen, von deinem äufsern Gebaren und deinen lioch- 
« fliegenden Plänen. Das alles ist ohne Wert für dein eigenes 
«Selbst. Weiter habe ich dir nichts zu sagen!" — Kong-tse 
«ging von dannen und sprach zu seinen Jüngern: „Die Vögel, — 
«ich weifs, dafs sie fliegen können; die Fische, — ich weifs, 
«dafs sie schwimmen können; das Wild, — ich weifs, dafs 
«es laufen kann. Die Laufenden fängt man mit Schlingen, 
«die Schwimmenden fängt man mit Netzen, die Fliegenden 
«trifi't man mit Pfeilen. Aber vom Drachen begreife ich nicht, 
«wie er auf Wind und Wolken dahinfährt und zum Himmel 
«aufsteigt. Heute habe ich den Lao-tse gesehen; ich glaube, 
«er ist dem Drachen gleich." — Lao-tse beflifs sich des Tao 
«und der Tugend. Seine Lehre setzt als Ziel, verborgen zu 
«bleiben und namenlos zu sein. Lange lebte er in Tschou. 
«Er sah den Verfall von Tschou und zog davon. Er kam 
«an den Grenzpafs. Der Pafsaufseher Yin-hi sprach: „Ich 
«sehe, Herr, dafs du in die Einsamkeit gehen willst; ich bitte 
«dich um meinetwillen, schreibe deine Gedanken in einem 
«Buche nieder." Und Lao-tse schrieb ein Buch, bestehend 
«aus zwei Abschnitten in fünftausend und einigen Wörtern, 
«welches vom Tao und der Tugend handelt. Dann zog er 
«von dannen. Niemand weifs, wo er geendet hat.» 
6. Anordnung. Das Gespräch, welches nach diesem 
Berichte des Sse-ma-tsien zwischen Lao-tse und Kong-fu-tse 
stattgefunden haben soll, wird in das Jahr 517 a. -C. verlegt, 
in welchem Lao-tse (geb. 604) schon siebenundachtzig, Kong-tse 
• 
G. Anordnung. ß^i 
(geb. .");')!) (.-rst vieruiuldroirsii:; Jiiliie zählte. Ist sonach das 
Tao-te-kini!; des Lao-tse iüter als die Schrii'tstellerei des 
Kong-fu-tse, oder, wenn es wirklich erst im höchsten Alter 
verfafst sein sollte, gleichzeitig mit ihr, so empfiehlt es sich 
doch, mit Kong-tse zu beginnen, da er in den fünf Ki)/;/ oder 
kanonischen Büchern, soweit sie schon von ihm herrühren, 
die ältesten Überlieferungen der chinesischen Literatur ge- 
sammelt, geordnet und redigiert hat, an welche sich dann die 
vier Sehn oder klassischen Bücher des Kong-tse und seiner 
Schule anschliefsen. Z.ur vorläufigen Übersicht mag folgendes 
Schema dienen. 
A. Die fünf King oder kanonischen Bücher. 
1. Yi-Khxj, das Buch der Wandlungen. 
2. Schi-lxi)uj, das Buch der Lieder. 
3. Scliu-liiug, das Buch der Urkunden. 
4. Tschun-tsiu, „Frühling und Herbst" (Annalen). 
5. Li-ki, ,,rituum memoriale". 
B. Die vier Schu oder klassischen Bücher. 
1. Lun-yi'i, die Unterredungen. 
2. Ta-hio, die grofse Lehre. 
3. TscliiüKi-iiung^ „der Mitte Unveränderlichkeit''. 
4. Metuj-tse, Name eines Philosophen und seines Werkes 
aus der Schule des Confucius. 
II. Confucius und sein Wirken. 
\. Die alte chinesische Reichsreligion. Die von 
Confucius gesammelten und redigierten kanonischen Bücher 
(Kituj) nebst den auf ihn und seine Schule zurückgehenden 
vier klassischen Büchern (Sehn) sind für unsere Kunde der 
chinesischen Kultur die älteste Quelle, und aus ihnen müssen 
wir auch unsere Kenntnis der altchinesischen Religion schöpfen, 
welche hier wie überall die Vorläuferin der Philosophie ist 
und schon lange bestand, ehe sie durch die Tätigkeit des 
Confucius literarisch festgelegt und, wir wissen nicht wieweit. 
682 II. Confuciiis und sein Wirken. 
reformatorisch modifiziert worden ist. Diese Eeligion setzt 
sich im wesentlichen aus drei Elementen zusammen, dem 
Himmel (Tien), den Genien (Schau) und den Manen (Tsu). 
Das oberste Prinzip ist Ticu, der Himmel, unpersönlich ge- 
dacht und nur gelegentlich als Schang-ti, „oberster Herr", 
personifiziert; daher es Schwierigkeiten macht, bei der Über- 
setzvmg der Bibel in das Chinesische für das Wort „Gott" 
ein Äquivalent zu finden. Neben dem Himmel und im Gegen- 
satze zu ihm erscheint oft Hcn-thu, die Erde. In beiden und 
namentlich in Tien, dem Himmel, wird die ewige, in der 
Natur waltende Ordnung verehrt, welche das Vorbild aller 
Ordnungen der menschlichen Verhältnisse bildet. In diesem 
Sinne ist viel die Rede von den Satzungen (ming) und den 
Wegen (iao) des Himmels, w^elchen die Menschen, Fürsten wie 
Völker, sich zu fügen haben. Offenbar wird der Wille des 
Himmels einerseits durch besondere Naturereignisse, anderer- 
seits aber auch durch die im Volke herrschende Stimmung: 
vox pojinli, vox dei. Ein Usurpator, der eine neue Dynastie 
begründen will, pflegt sich in China auf die Satzungen des 
Himmels zu berufen, welche ihm befohlen haben, seinen un- 
v/ürdigen Vorgänger hinwegzuräumen. Nur der Kaiser hat 
das Recht, dem Himmel zu opfern. — Das zweite Element 
der chinesischen Religion wird gebildet durch die gleichfalls 
unpersönlich gedachten Schau oder Genien, welche teils himm- 
lische sind, w4e die von Sonne und Mond, teils irdische von 
Bergen, Flüssen und andern ()rtlichkeiten. Beim Bau einer 
Eisenbahn müssen immer erst die Genien der Landschaften, 
durch welche sie führen soll, um ihre Zustimmung befragt 
werden. Nur die Fürsten haben das Recht, ihnen zu opfern. — 
An diese beiden Elemente der chinesischen Religion schliefst 
sich als drittes und letztes der allgemein verbreitete Kultus 
der Tsu, d. h. der Manen, welchen man einen geheimnisvollen 
Einflufs auf Leben und Wohlfahrt der Nachgeborenen zu- 
schreibt. Bei allen feierlichen Gelegenheiten werden sie als 
unsichtbar gegenwärtig gedacht. Man zollt ihnen seine Ver- 
ehrung, opfert ihnen und speist sie, wobei ein Knabe aus 
ihrem Geschlechte, der sogenannte „Totenknabe", ihre Stelle 
vertritt. Merkwürdig ist, dafs trotz diesem eifrig gepflegten 
1. Die alte tliiuesischc Keichsrcligion. 683. 
Manenkultus ein Glaube an die Unsterblichkeit sich nicht 
entwickelt hat. Von einem jenseitigen Leben ist keine Rede, 
vielmehr sind alle Ziele des Chinesen nur auf irdisches Wohl- 
ergehen gerichtet. Einen breiten Raum in den rehgiösen 
Bräuchen nimmt die Divination in Anspruch: Naturereignisse 
und Träume gelten als vorbedeutend, aus gewissen Pflanzen 
und den Resten verbrannter Schildkröten, sowie namentlich 
durch Benutzung der vierundsechzig Figuren, welche den 
Text des Yi-king bilden, wird die Zukunft geweissagt. 
2. Das Leben des Confucius. Kong-tse oder Kouy- 
fti-ts>\ d.h. „der Meister (ise., zuweilen qmc\\ fu-tse) aus dem 
Geschlechte der Kong'-\ von den Missionaren latinisiert als 
Co}ifucius, war geboren 551 a. C. im Fürstentume Lu (Provinz 
ScJia)/-fii)i(j), welches, wie die meisten Vasallenstaaten, infolge 
<les unter der Tschou- Dynastie herrschenden Feudalsystems 
die Zentralgewalt des Reiches fast nur noch nominell an- 
erkannte. -Hier war unser Philosoph einem altehrwürdigen, 
aber verarmten Adelsgeschlechte entsprossen. Seinen schon 
bei der Geburt dieses Sohnes hochbetagten Vater verlor er in 
frühester Jugend. Unter der Erziehung seiner Mutter widmete 
er sich schon frühzeitig mit Eifer dem Studium der alten 
Überlieferungen, vermählte sich im Alter von neunzehn Jahren^ 
und war in Ermangelung anderer Subsistenzmittel drei Jahre 
hindurch Aufseher über die fürstlichen Getreidespeicher, Park- 
anlagen und Herden. Dann verliefs er diese Stellung, um 
sich der Belehrung seiner Jünger zu widmen, w^elche sich 
bald in grofser Zahl um ihn scharten. Mit dem dreifsigsten 
Jahre war er, wie er selbst erklärt, zu festen Anschauungen 
gelangt, welche auch durch das in sein vierunddreifsigstes 
Lebensjahr fallende Gespräch mit dem einer entgegengesetzten 
Lebensrichtung huldigenden Lao-tse (oben S. 679 fg.) nicht mehr 
erschüttert werden konnten. Noch einmal versuchte er, seine 
Grundsätze praktisch zu verwirklichen, indem er vom zwei- 
undfünfzigsten bis zum sechsundfünfzigsten Lebensjahre den 
Posten eines Ministers in seinem Heimatsstaate Lu bekleidete. 
Das sichtliche Aufblühen des Landes unter seiner Verwaltung 
erregte die Eifersucht der benachbarten Lehnsfürsten, und 
<384 II- Confuciiis und sein Wirken. 
einer unter ihnen suchte seinen Einflufs dadurch zu paraly- 
sieren, dafs er dem Fürsten von Lu eine Schar von achtziii; 
des Gesanges und Tanzes kundigen Mädchen zum Geschenk 
machte. Das Mittel hatte die gewünschte Wirkung, der 
Fürst verfiel in Wohllehen und Üppigkeit und vernachlässigte 
die Regierung. Vergebens ging Confucius dagegen an; an 
seiner Aufgabe verzweifelnd, trat er mit Schmerz von seiner 
Stellung zurück und hat seitdem kein öfi'entliches Amt mehr 
bekleidet. Dreizehn Jahre lang durchwanderte er, von seinen 
Schülern umgeben, die verschiedenen Staaten des chinesischen 
Reiches und kehrte erst als Greis in seine Heimat Lu zurück, 
wo er die letzten fünf Jahre seines Lebens unter literarischen 
Arbeiten verbrachte und 478 a. C. starb. Sein nahes Ende 
voraussehend, sprach er zu seinem Schüler: „Der Tai-schnn 
(einer der fünf heiligen Berge Chinas) stürzt ein, der Dach- 
balken bricht zusammen, der Weise welkt dahin." Die Furcht, 
vergebens gelebt, vergebens an der Wiedergeburt seines Landes 
gearbeitet zu haben, bestätigte sich nicht. Nach Wiederher- 
stellung der Literatur unter der Dynastie Htm stieg sein An- 
sehen hoch und immer höher. Er wurde zum Kaiser und 
König erklärt, über fünfzehnhundert Tempel sind ihm geweiht, 
■darunter zwei grofse in seiner Heimatprovinz Schan-inng^ wo 
sein Grab sich befindet, und in Fc-king, wo der Kaiser selbst 
seinen Manen alljährlich ein Opfer darbringt. Noch heute gibt 
es in China keinen gefeiertern Namen als den des Kong-tse. 
Zu dieser Hochschätzung will das Bild des Meisters nicht 
recht stimmen, welches uns aus den Schriften des Confucius 
und seiner Schule entgegentritt. Originell darin ist nur die 
von ihm vertretene Lebensweisheit, welche auf Selbsterkennt- 
nis, mafsvolles Verhalten und Beharren in den vom Himmel 
vorgeschriebenen Lebensordnungen dringt. Einfach und schön 
spricht er seinen Grundgedanken in den Worten aus: „Der 
Fürst sei Fürst, der Untertan Untertan, der Vater Vater, der 
Sohn Sohn." Abgesehen von derartigen, oft mit edler Wärme 
vorgetragenen, aber nach keiner Richtung hin sich über das 
Gewöhnliche erhebenden Lebensregeln, besteht das Verdienst 
des Kong-tse nur darin, die Traditionen der Vorzeit nach 
ihrem Werte für das chinesische Volksleben erkannt und durch 
2. Das Lclion des (onfiicius. 6JJ15 
sein literarisches Wirken neu belebt zu haben. Er selbst sap;t 
von sich: „Ich streue nur gleich dem Landmann empfangenen 
Samen unverändert in die Erde", und im Lun-yü erklärt er 
(»tlenherzio;, nur ein l'berlieferer, kein Schöpfer zu sein. Hoch- 
tliegenden (iedanken, metaphysischen Spekulationen ist sein 
nüchterner, auf das Praktische gerichteter Sinn abhold, aber 
gerade dadurch verkörpert er wie kein anderer das Wesen 
des Chinesentums. Und wie durch seme Gedanken, so ist 
er auch in seinem persönlichen Auftreten, in der Art, wie er 
wandelte und redete, wie er sich kleidete, wie er afs und 
trank, den Chinesen zu einer Art Idealbild geworden. Für 
uns besteht sein grofses Verdienst darin, die aus der Vorzeit 
erhaltenen Schriftdenkmäler aufgesucht, gesammelt, redigiert 
und so vielleicht vor dem Untergang gerettet zu haben. Die 
Werke, welche teils von ihm selbst, teils aus seiner Schule 
herstammen . sind die fünf Kiug oder kanonischen Bücher 
und die vier Schx oder klassischen Bücher, von denen wir 
im einzelnen zu handeln haben. 
o. Die fünf King oder kanonischen Bücher. Kitxj 
bedeutet, ähnlich wie das indische sidrani, den Aufzug eines 
Gewebes, das wie ein Faden Durchlaufende, als Norm Gültige. 
Fünf Schriften dieser Gattung gelten als kanonisch: das Yi- 
king, Schi-Jiipg, Schu-king, Tsclmn-tsiu und das Li-ki. 
1) Das Yi-hug, ,,das Buch der Wandlungen", ist eigent- 
lich kein Buch, sondern nur eine Sammlung von vierundsechzig 
mystischen Zeichen, über deren Ursprung folgendes berichtet 
wird. Dem mythischen Kaiser Fo-hi (2950 a. G.) wurde von 
dem aus dem Flusse aufsteigenden Drachenpferde Lnug-ma 
eine Tafel überreicht, welche weifse und schwarze Punkte in 
symmetrischer Anordnung enthielt. Der Kaiser ersetzte die 
weifsen Punkte durch ganze, die schwarzen durch gebrochene 
Linien, und bildete daraus acht Trigramme, in welchen im 
allgemeinen die ganzen Linien oder Yang auf Licht, Be- 
wegung, Leben, die gebrochenen Linien oder Yin auf 
Dunkel, Ruhe, Materie hindeuten. In ihrer weitern An- 
wendung auf Natur und Menschenleben sollen die Yang urd 
Yin allerlei Gegensätze, wie hell und dunkel, Himmel und 
686 
II. Coufucius und sein Wirken. 
Erde, Sonne und Mond, Positives und Negatives, ^lännliches 
und Weibliches, Tätiges und Leidendes, Bewegtes und Ruhendes, 
Starkes und Mildes, Starres und Fügsames, Warmes und Kaltes 
"bedeuten.* Folgende Tabelle gibt eine Anschauung der acht 
Trigramme, aus denen das Werk ursprünglich bestand; das 
erste beigefügte Wort bezeichnet sie als Naturpotenzen, das 
zweite ihre Geltung im Leben, das dritte ein Tier als ihr Symbol. 
(ticn) 
Himmel 
Stärke 
Pferd 
(tili) 
See 
Lust 
Ziege 
(U) 
Feuer 
Glanz 
Fasan 
(tschan) 
Donner 
Energie 
Drache 
(sinen) 
Wind 
Durchdringung- 
Vogel 
(Mn) 
Regen 
Gefahr 
Schwein 
(hm) 
Berg 
Stillstand 
Hund 
(Ictvun) 
Erde 
Willfährigkeit 
Ochse. 
Diese acht Trigramme wurden weiterhin, sei es durch Fo-hi 
«elbst, sei es durch Wen-ivang (ca. 1150 a. C.) durch Kombi- 
nation jedes derselben mit allen achten zu 8 X 8 = 64 Hexa- 
grammen fortgebildet, aus denen der eigentliche Text des 
Yi-king besteht. Er überläfst den Kommentaren, von denen 
<3er erste vom Kaiser Wcn-icaug, ein zweiter von dessen Sohne 
Tscliou-liimg (dem Jüngern Bruder des Kaisers Wu-ivang) und 
«in dritter von Confucius selbst herrührt, den weitesten Spiel- 
raum, und ist namentlich zu Zwecken der Wahrsagekunst in 
der Folgezeit vielfach benutzt worden. Einen ungefähren An- 
halt über die Bedeutung der vierundsechzig hui oder Zeichen, 
aus denen dieses wunderbare Buch besteht, mag folgendes 
auf die Deutung von Harlez zurückgehende Verzeichnis ge- 
währen: 1. Himmel, Erfolg. 2. Erde, Beständigkeit. 3. Fülle. 
* Man kann damit die Art vergleichen, in welcher nach Arist. Met. I, 5, 
p. 986* 15 manche Pythagoreer eine Tafel folgender zehn fundamentaler 
Gegensätze aufstellten: Grenze und Unbegrenztheit, Ungerades und Gerades, 
Eines und Vieles, Rechts und Links, Männliches und Weibliches, Ruhendes 
«iid Bewegtes, Gerades und Krummes, Licht und Dunkel, Gutes und Böses, 
•Quadratisches und Oblonges. 
3. Die füllt King oiUr kanonischen Bücher. Q^'J 
4. Wac'lisUim. ö. Erwartung. (). Streit. 7. Disziplin. 8. Freund- 
schaft. 9. Hemmung. 10. Fortschreiten. 11. Durchdringung. 
12. Hinderung. 13. Vereinigung. 14. ^Sfacht. 15. Herablassung. 
16. Erhabenheit. 17. Treue. 18. Sorgfalt. 19. ^^'iirde. 2ü. Er- 
scheinung. 21. Tadel. 22. Verschönerung. 23. Unterdrückung. 
24. Rückgang. 25. Aufrichtigkeit. 26. Anhäufung. 27. Unter- 
halt. 28. Aufstieg. 29. Verlegenheit. 30. (ilanz. 31. Har- 
monie. 32. Ausdauer. 33. Zurückgezogenheit. 34. Stärke. 
35. Betordern. 36. Abstieg. 37. Familie. 38. Widerstand. 
39. Schwierigkeit. 40. Ausweg. 41. Heraljsetzung. 42. Ge- 
^vinn. 43. Zerteilung. 44. Zusammentreffen, 45. Versammlung. 
46. Erhöhung. 47. Elend. 48. Quelle. 49. Umwandlung. 50. Er- 
hitzung. 51. Donner. 52. Festigkeit. 53. Anfang. 54. Ver- 
mählen. 55. Reichtum. 56. Reisen. 57. Sanftmut. 58. Freude. 
59. Überflufs. 60. Gesetz. 61. Mittelweg. 62. Übermafs. 
()3. Vollendung. 64. Nicht -Vollendung. — Die ohne ersicht- 
liche Ordnung durcheinanderstehenden vierundsechzig Hexa- 
gramme lassen, verglichen mit den ursprünglichen Trigrammen. 
soviel erkennen, dafs diese mystischen Zeichen ursprünglich 
zur Bezeichnung von Naturpotenzen dienten, welche im wei- 
tern Verlaufe mehr und mehr eine ethische, auf die Verhält- 
nisse des menschlichen Lebens Bezug nehmende Bedeutung 
angenommen haben, ein Vorgang, welcher in andern Kultur- 
kreisen seine Parallelen hat und nicht ohne philosophisches 
Interesse ist. — Kürzer können wir uns bei den vier übrigen 
kanonischen Büchern fassen. 
2) Das Schi-l'iiig oder „kanonische Buch der Lieder" ist 
eine Sammlung von dreihundertfünf alten Liedern, welche, ab- 
gesehen von wenigen altern Stücken, sämtlich aus der Dynastie 
TschoH herrühren, somit zwischen 1200 und 600 a. C. ent- 
standen sind. Confucius soll sie, geleitet von ethischen Er- 
wägungen, durch Sichtung aus einem umfangreichern Material 
hergestellt haben. Da dieses verloren gegangen ist, so sind 
die Lieder des Schi-king die einzigen erhaltenen Denkmäler 
der ältesten chinesischen Poesie. Sie zerfallen in vier Gruppen, 
deren erste unter dem Titel „Sitten des Reiches" fünfzelm 
Sammlungen volkstümlicher Lieder enthält, entsprechend den 
fünfzehn unter den Tschou bestehenden Vasallenstaaten, aus 
088 IT. Confucius imd sein Wirken. 
denen sie herrühren. Neben einfachen Naturhedern und Liebes- 
Hedern finden sieh auch in dieser Gruppe schon Lieder poM- 
tischen Inhahs, welche mit grellen Farben das Elend des 
Volkes und seine Bedrückung durch die Grofsen des Reiches 
schildern. In ihre Kreise führen die „kleinen Festlieder", 
welche die zweite, und die ,, grofsen Festlieder", welche die 
dritte Gruppe bilden, während in der vierten die „Opfer- 
gesänge" enthalten sind, welche zum Lobe verstorbener Kaiser 
und Reichsfürsten bei den ihren Manen dargebrachten Toten- 
opfern gesungen zu werden pflegten. Ilirer Form nach be- 
stehen die Lieder des Schi-king aus kurzen, in der Regel 
vier einsilbige Worte enthaltenden Zeilen, welche vielfach 
mit einander reimen. Eine vortreffliche deutsche Übersetzung 
des Schi-king lieferte Viktor von Straufs (Heidelberg 1880). 
3) Das Sclm-hiug oder das „kanonische Buch der Ur- 
kunden" enthält in achtundfünfzig Abschnitten die ältesten 
historischen Erinnerungen des chinesischen Volkes von dem 
halbmythischen Kaiser Yao (2350 a. C.) bis auf den Kaiser 
Ping-ivang (bis 720 a. C), ist aber doch keine Chronik, noch 
weniger ein zusammenhängendes Geschichtswerk, sondern eine 
Sammlung von L-rkunden, welche, wie die Überschriften der 
einzelnen Abschnitte besagen, allerlei Satzungen, Erlasse, Rat- 
schläge, Ansprachen und Unterweisungen von Kaisern, Fürsten 
und Usurpatoren nebst begleitendem erzählendem Texte ent- 
halten. 
4) Das Tsclmn-tsiu, „Frühjahr und Herbst", ist, wie dieser 
Name besagt, eine wirkliche Chronik und enthält die von 
Kong-tse selbst verfafsten und von 722 bis 480 a. C. reichenden 
Annalen seines Heimatsstaates Lu, unter gleichzeitiger Berück- 
sichtigung der Begebenheiten in den umliegenden Staaten, 
An den in trockner Weise berichteten Taten der Fürsten wird 
durch beigefügte teils lobende, teils tadelnde Bemerkungen 
eine Kritik geübt, welche der spätem chinesischen Geschicht- 
schreibung vielfach als Muster gedient hat. 
5) Das Li-lü oder ,, Gedenkbuch über die Bräuche ("?/)" 
ist zwar eine erst unter der Dynastie der Hau (206 a. C. bis 
221 p. C.) entstandene Kompilation aus altern Werken, wird 
aber doch zu den fünf Khuj oder kanonischen Büchern gerechnet 
3. Die fünf King (xlcr kanonischen Bücher. G39 
und ühertrifi't die übrin;on vier an Umfang bei weitem. Es 
behandelt einen Gegenstand, der dem Chinesen besonders am 
Herzen liegt, die L/, die Riten oder Bräuche, welche das 
Privatleben in Ehe und Familie, den Verkehr mit den Grofsen 
und bei Hofe, sowie auch den Ahnenkultus durch eine strenge 
läikette regeln. Sowohl diese Riten wie auch die ihnen bei- 
gemischten moralischen und pädagogischen Vorschriften werden 
vielfach auf Gespräche des Kong-fu-tse mit seinen Jüngern 
zurückgeführt. Eines der letzten Kapitel behandelt die in 
China von alters her in hohem Ansehen stehende Musik. Wie 
die Riten das trennende, so ist die Musik das verbindende 
Element im Leben. „Die Tonkunst ist des Himmels und der 
Erde Eintracht, das Ritual aber die Ordnung beider. Die 
Eintracht ruft alle Wesen ins Dasein; durch die Ordnung 
werden sie alle gesondert" (Schott, 1. c. S. 313). 
4. Die vier Schu oder klassischen Bücher. Unter 
diesem Namen werden vier Schriften befafst, welche von un- 
mittelbaren oder mittelbaren Schülern des Confucius auf- 
gezeichnet worden sind und viele im Gedächtnisse aufbewahrte 
Aussprüche dieses Weisen über Moral, Politik und Lebens- 
weisheit enthalten. So zunächst und vor allem 
1) Das Lun-i/ii, „die Unterredungen", Gespräche des Kong- 
tse mit seinen Jüngern, nicht eigentliche Dialoge, sondern 
Aussprüche, durch welche der Meister die an ihn gerichteten 
Fragen beantwortet und welche in der Regel durch die ein- 
förmige Wendung „der Philosoph sprach" eingeleitet werden. 
Hauptgegenstände derselben sind: die Pflichten der Kinder 
gegen ihre Eltern, der Untertanen gegen die Obrigkeit, die 
ohne Verzieht auf den eigenen Egoismus geübte Humanität 
gegen die Mitmenschen und die Anpreisung der Tugend im 
allgemeinen und ohne nähere Bestimmung. Wie die stoische 
Moral in der Schilderung des W^ eisen, so kulminiert die des 
Confucius in dem Begriffe des „Edlen", dessen Verhalten in 
allen Lagen des Lebens als Vorbild hingestellt und dem des 
,. Alltagsmenschen" entgegengesetzt wird. Als Voraussetzung 
(its tugendhaften Verhaltens wird das Weissen, vor allem 
Menschenkenntnis gefordert; ein Ausspruch des Confucius 
Deussen, Geschichte der Philosophie. I, lu. 44 
090 II- Confucius und sein Wirken. 
lautet: „Ich gräme mich nicht, wenn mich die Menschen 
nicht kennen, wohl aber wenn ich die Menschen nicht keime." 
2) Das Ta-lno oder „die grofse Lehre" ist eine kurze 
Abhandlung, welche ursprünglich einen Teil des lA-ld bildete 
und aus diesem späterhin herübergenommen und den vier 
Sdm eingereiht wurde. Als Grundgedanke desselben läfst sich 
bezeichnen, dafs, wer andere regieren wolle, zuerst sich selbst 
regieren müsse, und dafs der Weg zu beiden Reinheit des 
Herzens und Wissen sei. In dem ersten, angeblich von Kong- 
fu-tse selbst herrührenden Abschnitt des Buches heifst es: 
„Wenn die Alten die lichte Tugend offenbar machen wollten 
im Reiche, ordneten sie zuvor ihren Staat, wenn sie den 
Staat ordnen wollten, regelten sie zuvor ihr Hauswesen, wenn 
sie ihr Hauswesen regeln wollten, vervollkommneten sie zu- 
vor ihre eigene Person, wenn sie ihre eigene Person vervoll- 
kommnen wollten, machten sie zuvor ihr Herz rechtschafi'eii, 
wenn sie ihr Herz rechtschafien machen wollten, machten sie 
zuvor ihre Gedanken wahrhaftig, wenn sie ihre Gedanken 
wahrhaftig machen wollten, vervollständigten sie zuvor ihr 
Wissen" (nach Grube, S. 91). 
3) Das Tscimng-yung ^ „die ün Veränderlichkeit der Mitte 
(tschung)^\ ist gleichfalls aus dem Li-h den vier Sclm ein- 
gereiht worden, wurde von einem Enkel des Kong-fu-tse 
verfafst und behandelt in dem grundlegenden Eingangskapitel 
und zweiunddreifsig nachfolgenden, zumeist Aussprüche des 
Confucius beibringenden Abschnitten den schon in der Über- 
schrift angedeuteten Gedanken, dafs der Weise in der Mitte 
beharre. Ursprünglich und bei Kong-tse selbst scheint hierin 
die auch von Aristoteles vertretene moralische Anschauung 
zu liegen, dafs die Tugend in der Mitte zwischen zwei zu 
Fehlern werdenden Extremen liege. Dieser Gedanke aber 
schwankt namentlich in dem Eingangskapitel zu einem andern 
hinüber, welcher unter der angepriesenen Mitte das innere 
Gleichgewicht, die von Leidenschaften freie, nicht aus der 
Fassung zu bringende Gemütsstimmung des Weisen versteht, 
vermöge deren er (ähnlich wie der Stoiker durch sein -f^ 9ucröf, 
6|j.oAOYou;j.svwc ^f,v) mit sich selbst und der umgebenden Natur- 
ordnung in Harmonie sich befindet. Dementsprechend heifst 
4. l)io vier bchii oilcr klassischeu Büclier. (J«j]^ 
es im ersten Kapitel: „Den Zustand, da Freude und Zorn, 
Trauer und Heiterkeit noch nicht hervorgetreten sind, nennt 
man das innere Gleichgewicht (die Mitte); wenn sie hervor- 
treten und dabei das rechte Mafs einhalten, nennt man diesen 
Zustand die Harmonie. Dieses innere Gleichgewicht ist das 
grofse Fundament der \\'elt, und die Harmonie ist die die 
\Velt durehwaltende Vernunft (tao). Sind inneres Gleichgewicht 
und Harmonie vollkommen, so stehen Himmel und Erde fest, 
und alle Dinge gedeihen." 
4) 3Ii')i(j-t>ic, das vierte und letzte unter den klassischen 
Büchern, trägt den Namen eines Philosophen aus der Schule 
des Confucius. Mcng-tse (latinisiert als Mendiis) war geboren 
372 a. C. Er verlor in früher Jugend seinen Vater, wuchs 
unter der sorgfältigen Erziehung seiner Mutter auf und durch- 
zog dann, von einem Schülerkreise umgeben, als wandernder 
Lehrer die verschiedenen Fürstentümer, überall bestrebt für 
die sittliche und politische Hebung des Reiches zu wirken, 
ohne doch dessen zunehmenden Verfall unter der Dynastie 
Tschou aufhalten zu können. In dem Werke, welches seinen 
Namen trägt und nach einigen von ihm selbst, nach andern 
von seinen Schülern verfalst sein soll, ist von ihm stets in 
der dritten Person die Rede. Wir sehen ihn in Gesprächen 
bald mit seinen Schülern, bald mit Fürsten, Ministern oder 
andern Beamten, wie er, von der Überzeugung ausgehend, 
dafs der Mensch von Natur aus gut ist, die Grundsätze der 
Gerechtigkeit und Humanität predigt und durch Berufung auf 
die Beispiele der Vorzeit erläutert. 
Meng-tse starb, dreiundachtzig Jahre alt, 289 a. C, ohne 
in den nächsten Jahrhunderten die gebührende Beachtung zu 
finden. Erst 1083 p. C. wurde ihm der erste Tempel errichtet 
und zwei Jahrhunderte später wurde ihm ein Ehrentitel bei- 
gelegt, der ihn für den zweiten im Range neben Confucius 
erklärt. 
44* 
092 ^11- Laotse und das Tao-te-king. 
II. Lao-tse und das Tao-te-king. 
1. Lao-tse und sein Werk. Über Lao-tse (Lao-öU^ 
Lao-kiün), den zweiten der Männer, welche der chinesischen 
Kuhur ihr Gepräge gegeben haben, besitzen wir an sichern 
Nachrichten wenig mehr, als was oben (S. 679 fg.) von dem 
Historiker Sse-ma-tsien über seine Begegnung mit Confucius 
und sein übriges Leben berichtet wurde. Er soll geboren 
sein 604 a. C, als Geschichtschreiber im Staatsarchive von 
Tschou angestellt gewesen sein und nach dem Verfall dieses 
Staates im hohen Alter nach Westen gewandert und in der 
Fremde verschollen sein. Obgleich er hiernach um mehr als 
fünfzig Jahre älter als Kong-tse war, so ist er doch seinem 
Wirken nach insofern jünger, als Confucius durch seine 
Sammlung und Redaktion der ältesten Urkunden des Reiches 
das früheste chinesische Altertum gleichsam in sich verkörpert, 
während Lao-tse in seinem Werke, dem Tao-te-¥mg, durch- 
aus als ein origineller Denker erscheint.* Zwar preist auch 
er cap. 15 die Weisen des Altertums, spendet cap. 17 den 
alten Königen sein Lob, erklärt cap. 42 „Was andere lehren, 
das lehre ich auch" und empfiehlt cap. 14 sich „an das Tao 
des Altertums zu halten, um dadurch die Verhältnisse der 
Gegenwart zu beherrschen", aber schon die oben S. 680 mit- 
geteilte Aufserung dem Confucius gegenüber, „die Menschen, 
von denen du sprichst, sind samt ihren Gebeinen längst ver- 
modert", sprechen es aus und sein ganzes Werk bestätigt es, 
dafs die Gedanken des Lao-tse wesentlich auf eigener philo- 
sophischer Anschauung der Dinge beruhen, wenn auch, wie 
sich zeigen wird, das Tao, der Grundbegriff seiner Lehre, 
aus einer Umformung älterer Anschauungen hervorgegangen 
sein dürfte. Das Werk, welches seinen Namen unsterblich 
macht, sich über die ganze Literatur des Confucianismus wie 
* Obgleich der Begriif des Tao mit dem des indischen Bruliman eine 
grofse innere Verwandtschaft zeigt, so ist doch an eine von manchen an- 
genommene Abhängigkeit des Lao-tse von Indien wohl nicht zu denken, da 
die Ausgestaltung dieses Begriffs auf beiden Gebieten eine wesentlich ver- 
schiedene ist. 
1. Lao-tso und soiii Werk. 1^93 
ein Palnibauni über niedriges (Jehölz erh«?bt und übrigens 
^veit mehr in Kuropa als in China geschätzt wird, führt den 
wohl erst in spätem Jalirhunderten ihm beigelegten Namen : 
Tao-te-kinri, „das Buch (ki}i(f) vom Wege (taoj und der Tugend 
f/r)". Es besteht aus einundachtzig kurzen Kapiteln, welche 
angeblich nach der die Grundgedanken enthaltenden Einleitung 
(cap. 1 — 3) in zwei Büchern cap. 4 — 37 die metaphysischen 
und cap. 38 — 81 die moralischen und politischen Anschauungen 
enthalten. Indessen wogen die originellen, tiefsinnigen un<l 
bei dem Widerspruche der Kommentare und Übersetzungen 
nicht immer mit Sicherheit zu verstehenden Gedanken in dem 
A\'erke so wunderlich durch einander, dafs wir bei dem Ver- 
suche, die Hauptgedanken des Lao-tse systematisch darzu- 
stellen, für alle Fragen mehr oder weniger aus allen Teilen 
des Werkes schöpfen müssen. 
2. Philosophische Grundanschauungen: Das Tao 
als letzter Urgrund und als höchstes Ziel. Der Grund- 
begrift' der ganzen Philosophie des Lao-tse, das Tao, bedeutet 
erstens ,,Weg", zweitens „Vernunft". Dieser Begriff begegnete 
uns schon oben S. 682 in der alten Reichsreligion, in welcher 
oft von den Wegen des Himmels die Rede ist, die der Mensch 
erforschen und denen er sich fügen soll. Wenn diese Wege 
einem zwar nicht persönlichen, aber doch halb mythischen 
Prinzip, dem Himmel, Ticn, zugeschrieben wurden, so streift 
Lao-tse diese mvthische Hülle ab, redet nicht mehr von dem 
Tao als einer Willensoflenbarung des Himmels, sondern stellt 
das Tao als selbständiges und ursprüngliches Weltprinzip auf. 
Er versteht darunter die in der ganzen Welt sich oflienbarende 
vernünftige Ordnung der Dinge, welche dem menschlichen 
Handeln den „Weg" vorzeichnet, ihrem Wesen nach aber 
unerforschlich bleibt. In cap. 25 versetzt sich der Philosoph 
an den Uranfang, wo noch keine Dinge existierten, sondern 
nur das Tao allein*: ,,Die gänzliche Ununterschiedenheit der 
* Obiges Zitat nach Abel Remusat. In der Regel zitieren wir nach 
der zwar dankenswerten, aber nicht immer sprachlich gefälligen Übersetzung 
von Viktor v. btrauls (Leipzig lb70j. 
694 III. Lao-tse und das Tao-te-king. 
jetzt existierenden Dinge geht vorher der Entstehung Himmels 
und der Erden. 0, wie tief! wie stille! Alleinstehend und 
unwandelbar, sich in sich regend und keinem Verderben unter- 
worfen, kann es angesehen werden als Mutter des Weltalls. — 
Ich weifs seinen Namen nicht, nenne es aber Tao," — Weiter 
werden von dem Philosophen Himmel und Erde, diese Ur- 
wesen der alten Eeichsreligion , dem Tao untergeordnet; nur 
sofern sie das Tao in sich enthalten, können sie dem mensch- 
lichen Handeln als Richtmafs dienen; das Richtmafs aller 
Richtmafse ist allein das Tao : „Der Mensch richtet sich nach 
dem Mafse der Erde, die Erde nach dem Mafse des Himmels, 
der Himmel nach dem Mafse des Tao, das Tao nach dem 
Mafse seiner selbst." Die ganze Natur ist nur die Aufsen- 
seite des Tao; in ihr bleibt der Mensch befangen, solange er 
noch von Begierden getrieben wird; nur dem Begierdelosen 
offenbart sich das innere Wesen des Tao: 
,,Wer stets begierdelos, der schauet seine Wesenheit, 
,,Wer stets begierdehaft, der schauet seine Aufsenheit", 
wie es cap. 1 heifst. Und so wird es auch für den chinesi- 
schen Denker das höchste Ziel, sich seines begehrlichen natür- 
lichen Selbstes zu entäufsern, ganz in Tao aufzugehen und 
in seiner ewigen Ruhe zu verharren; cap. 16: „Wer erreicht 
hat der Entäufserung Gipfel, behauptet unerschütterliche Ruhe." 
Dieses Aufgehen in Tao ist die einzige Unsterblichkeit, welche 
Lao-tse kennt: „Wer das Ewige kennt, ist umfassend; um- 
fassend, daher gerecht; gerecht, daher König; König, daher 
des Himmels; des Himmels, daher Tao's; Tao's, daher fort- 
dauernd: er büfst den Körper ein ohne Gefährde" (cap. 16). 
3. Wesen des Tao. Aus den soeben angeführten Stellen 
ist ersichtlich, dafs Lao-tse, wie die meisten Philosophen der 
alten Zeit, zwischen dem Tao und der aus ihm entsprungenen 
Welt das Band der Zeitlichkeit bestehen läfst, dafs er aber 
im übrigen jede Ähnlichkeit des Tao mit irgendeinem der 
existierenden Dinge verneint. Daher ist und bleibt das Tao 
völlig unerkennbar; cap. 21: „Tao ist Wesen, aber unfafslich, 
aber unbegreiflich." Alle die verschiedenen Dinge entspringen 
3. Wesen dos Tao. (595 
aus ihm als dem rciiu'n, unterschiedlosen Sein, aber auch 
diese Bestimmung, sofern wir sie nur als eine empirische 
kennen, ist ihm abzusprechen, so dafs Tao im tiefsten Grunde 
vielmehr ein Xichtseiendes ist; cap. 40: „Alle Dinge unter 
dem Himmel sind entsi)rungen aus ihm als dem Seienden; 
aber das Sein dieses Seienden ist wiederum aus ihm als dem 
Xiehtseienden entsprungen.'' Mit allen andern Bestimmungen 
ist dem Tao auch der Name abzusprechen; cap. 32: „Das 
ewige Tao hat keinen Namen"; cap. 25: „Ich weifs seinen 
Namen nicht, nenne es aber Tao"; cap. 41: „Tao ist ver- 
borgen, namenlos." Es ist daher der Erkenntnis völlig un- 
zugänglich, wie die vielbesprochene Stelle cap. 14 sagt: ,,Man 
schaut es, ohne zu sehen : sein Name heifst Ji (farblos) ; man 
vernimmt es, ohne zu hören: sein Name heifst Hi (tonlos); 
man fafst es, ohne es zu greifen : sein Name heifst Wei (körper- 
los)"; die beigefügte Erklärung der drei geheimnisvollen Silben 
ist die der chinesischen Kommentatoren.* Dieses unerkenn- 
bare Tao ist, wie es cap. 4 heifst, „leer, ein Abgrund", in 
dem alle Bestimmungen ausgelöscht sind, als solcher aber 
doch „aller Wesen Urvater" und auch „des Herrn Vorgänger". 
(Das Wort „Herr", ScJiang-ti, dient im Chinesischen zur Be- 
zeichnung des unpersönlichen Tioi, Himmel, wenn er gelegent- 
lich als personifiziert erscheint); cap. 1: „Der Namenlose ist 
Himmels und der Erden Urgrund; der Namen Habende ist 
aller AVesen Mutter"; als dieser in der Tiefe liegende Grund 
alles Seienden wird Tao der „Talgeist", als die Urmutter der 
Wesen „das tiefe Weibliche" genannt; cap. 6: „Der Talgeist 
ist unsterblich, er heifst das tiefe Wei1)liche. Des tiefen Weib- 
lichen Pforte heifst Himmels und der Erden Wurzel." So 
ist Tao der Ursprung aller Wesen und zugleich die belebende 
Kraft in ihnen; cap. 51: ,,Tao erzeugt sie, seine Macht erhält 
sie, sein \\'esen gestaltet sie, seine Kraft vollendet sie : daher 
von allen Wesen keines, das nicht das Tao ehrte und seine 
Macht priese." Vermöge seiner Reinheit und Ruhe dient es 
* Nach Remusat wäre in den Silben Ji-hi-wei der Name des hebräi- 
schen Stammgottes Jehovah enthalten, und spätere Erklärer halten es für 
der Mühe wert, diesen seltsamen Einfall ernsthaft zu diskutieren. 
696 III- Lao-tse und das Tao-te-king. 
als Richtschnur des Handelns; cap. 45: „Das Reine, Ruhige 
wird der Welt Richtraafs." Aber nicht allen ist das Tao in 
gleicher Weise verständlich; cap. 41: „Hören Hochgebildete 
vom Tao, so werden sie eifrig und wandeln in ihm. Hören 
Mittelgebildete vom Tao, bald behalten sie es, bald verlieren 
sie es. Hören Niedriggebildete vom Tao, so verlachen sie es. 
Lachten sie nicht, so würde es eben nicht das Tao sein." 
Der Spott der Gemeinen ist ebensosehr wie die Verehrung 
der Edeln eine Gewähr für seine Realität. Nichtkenntnis des 
Tao ist Krankheit, sich dieser Nichtkenntnis bewufst werden, 
ist Heilung; denn weiter als zum Bewufstsein unseres Nicht- 
wissens können wir nicht kommen; cap. 71: ,, Erkennen des 
Nichterkennens ist das Höchste. Nichterkennen dieses Er- 
kennens ist Krankheit. Wen erst die Krankheit kränkt, der 
ist eben dadurch nicht krank. Der Weise ist nicht krank, 
weil ihn seine Krankheit kränkt. Daher ist er nicht krank." 
4. Die irdische Welt und ihre Gegensätze. Wenn 
auch Lao-tse sich mehr mit dem Tao und seiner Verwirk- 
lichung im menschlichen Handeln als mit der Welt der Er- 
scheinungen befafst, so tritt doch ein pessimistisches Bewufst- 
sein von der Wertlosigkeit, Vergänglichkeit und Nichtigkeit 
aller Dinge aufser Tao wiederholt in grellen Bildern hervor. 
Selbst Himmel und Erde haben keine Macht, dauernd zu 
wirken; cap. 23: „Wirbelwind währt keinen Morgen, Platz- 
regen währt keinen Tag. Wer macht diese? Himmel und 
Erde. Himmel und Erde können nicht länger ihre Macht 
zeigen, wieviel weniger der Mensch ! Wes Tun mit Tao über- 
einstimmt, wird eins mit Tao; der Tugendsame wird eins mit 
der Tugend; der Verderbte wird eins mit der Verderbnis." 
Die Gefühllosigkeit der Natur gegenüber dem Menschen und 
ihre innere Leerheit wird cap. 5 geschildert: „Himmel und Erde 
haben keine Menschenliebe ; sie nehmen alle Wesen für einen 
Heuhund (eine Strohpuppe). Was zwischen Himmel und Erde, 
wie gleicht es dem Blasebalg. Er ist leer und doch unerschöpf- 
lich", und hieran kann alle Kultur nichts ändern, cap. 55: 
„Alle das Leben erhöhenden Künste schlagen zum Übel aus" 
(wie Legge übersetzt). Die Körperlichkeit selbst ist eine Plage, 
4. Die irdische Welt und ihre Gegensätze. 607 
Clip. 1.'): „Wir lialxMi deshalb o-rofse Planen, weil wir den 
Körper haben. Sin<l wir erst ohne Körper, welche Plage 
haben wir?" Umsomehr ist vor dem Luxus zu warnen, mit 
dem wir dieses hinfällige Leben umgeben, cap. 53: „Sind die 
Paläste sehr prächtig, so sind die Felder sehr wüst, dit^ 
Speicher sehr leer. Bunte Kleider anziehen, scharfe Schwer- 
ter umgürten, sich füllen mit Trank und Speisen, kostbare 
Kleinodien haben im l'berflufs, das heifst mit Diebstahl prahlen, 
wahrlich nicht Tao haben.'' l'brigens dient das Böse in der 
Welt, um das Gute als seinen Gegensatz hervorzurufen, cap. l^: 
„Sind die sechs Blutsfreunde uneinig, gibt's Kindespflicht und 
Vaterliebe. Ist die Landesherrschaft in Verfall und Zerrüttung, 
gibt's getreue Diener", wie denn überhaupt die Gegensätze 
zusammengehören und auf einander hinweisen; cap. 2: „Er- 
kennen alle in der Welt des Schönen Schönsein, dann auch 
das Häfshche; erkennen alle des Guten Gutsein, dann auch 
das Nichtgute. Denn 
'o"^ 
«Sein und Nichtsein einander gebären, 
Schwer und leicht einander bewähren, 
Lang und kurz einander erklären, 
Hoch und niedrig einander entkehren, 
Ton und Stimme einander sich fügen, 
Vorher und nachlier einander folffen.» 
'O^ 
Daher der lieiHge Mensch beharrt im Geschäfte des Nicht- 
tuns", er zieht sich aus der Welt der Gegensätze auf das 
Gebiet zurück, wo es keine Gegensätze und keine Unter- 
schiede mehr gibt. 
5. Ethik des Tao-te-king. Wer, wie Lao-tse, über- 
zeugt ist von der Wertlosigkeit und Nichtigkeit aller Dinge 
aufser dem Tao, dessen Ethik bann nicht, wie die des Con- 
fucius, in moralischen Ermahnungen, im Aufstellen von Kegeln 
der Lebensweisheit ihr Genüge finden, sondern nur in der 
Zurückziehung aus der Welt der Gegensätze auf das eine, 
ewige Tao, und dieser Gedanke beherrscht denn auch die 
ganze Ethik unseres Philosophen. „Sich selbst zurück- 
ziehen, ist des Himmels Weg", wie es cap. 9 heifst. Der 
fi<J8 1^1- Lao-tse und das Tao-te-kuig. 
Weise wendet sich von der bunten Sinnenwelt ab und hält 
Einkehr in seinem eigenen Innern; cap. 12: 
,,l)ie fünf Farben machen des Menschen Aug' zu Kaub, 
Die fünf Töne machen des Menschen Ohren taub, 
Die fünf Geschmäcke machen des Menschen Mund verstört, 
Feldjagd und Pferderennen machen des Menschen Herz betört. 
Und Schätze, schwer erreichbar, machen des Menschen Gang verkehrt. 
Deshalb des Heiligen Reich ist seine Brust, 
Nicht Auojenlust." 
o 
jlier, im eigenen Innern, fmdet der Weise das Tao als den 
Urgrund der Welt und zugleich als sein eigenes Wesen, als 
seine Mutter, wie es heilst, und wird im Bewufstsein der 
Einheit mit dem Tao seiner Unsterblichkeit gewifs, cap. 52: 
„Die Welt hat einen Urgrund, der ward aller Wesen Mutter. 
Hat man seine Mutter gefunden, so erkennt man dadurch 
seine Kindschaft. Hat man seine Kindschaft erkannt und 
kehret zurück zu seiner Mutter, so ist des Leibes Untergang 
ohne Gefahr. Schliefst man seine Ausgänge, macht zu seine 
Pforten, so ist des Leibes Ende ohne Sorge. Offnet man seine 
Ausgänge, fördert man seine Anliegen, so ist man bei des 
Leibes Ende ohne Rettung. Braucht man seine Klarheit und 
kehrt zurück zu seinem Lichte, so verliert man nichts bei 
des Leibes Zerstörung. Das heifst Ewigkeit anziehen." Der 
Taolose ist vergänglich; wer in Tao eins wird, mit seiner 
Individualität in ihm aufgeht, ist in Tao unsterblich und 
mächtig; cap. 22: „Daher der heilige Mensch umfafst das 
Eine und wird der Welt Vorbild. Nicht sich siehet er an, 
drum leuchtet er; nicht sich ist er recht, drum zeichnet er 
sich aus; nicht sich rühmt er, drum hat er Verdienst; nicht 
sich erhebt er, drum ragt er hervor." In dieser Zurückziehung 
auf das eigene Selbst liegt die wahre Weisheit und die w^ahre 
Macht; cap. 33: „Wer andere kennt, ist klug; wer sich selbst 
kennt, ist erleuchtet. Wer andere überwindet, hat Stärke; 
wer sich selbst überwindet, ist tapfer." In seiner Selbst- 
losigkeit gleicht der Taohafte dem Himmel, welcher hier und 
öfter für das Tao steht, das ursprünglich die Wege des 
Himmels bedeutete; cap. 7: „Der Himmel ist bleibend und die 
5. Ethik des Tao-tc-king. 699 
Erde dauernd. Iliiumcl und Erde kininen deshalb bleibend 
und dauernd sein, weil sie nicht sich selbst leben. Drum 
können sie bleiben und dauern. Daher der heilige Mensch 
hintansetzt sein Selbst und selbst vorankommt; sich entäufscrt 
seines Selbsts und selbst bewahrt wird." Wie der Himmel 
wirkt der \\'eise ohne dafs er handelt; er streitet nicht und 
überwindet dennoch (cap. 73) ; wie der Himmel erhöht er das 
Niedere und erniedrigt das Hohe, mindert er das Überflüssige 
und ergänzt das Ungenügende, handelt er, ohne doch seinem 
Handeln Wichtigkeit beizulegen (cap. 77). Er verbirgt die 
Juwelen der Weisheit unter der Wolle der Unverständlichkeit 
(cap. 70). Über die Gegensätze des Lebens ist er erhaben, 
cap. 56: „Darum ist er unzugänglich für Anfreundung, unzu- 
gänglich für Entfremdung, unzugänglich für Vorteil, unzugäng- 
lich für Schaden, unzugänglich für Ehre, unzugänglich für 
Schmach. Drum wird er von aller Welt geehrt." Von der 
Welt zieht er sich zurück und findet alles in sich selbst; 
cap. 47: „Nicht ausgehend zur Tür, kennt man die Welt; 
nicht ausblickend durchs Fenster, sieht man des Himmels 
Weg. Je weiter man ausgeht, desto weniger kennt man. 
Weshalb der Weise 
Nicht hingeht und kennt, 
Nicht sieht und benennt, 
Nicht tut und vollend't." 
Im Gegensatze zur Vielgeschäftigkeit der Menschen empfiehlt 
unser Philosoph immer wieder das Nichthandeln als das beste 
Handeln; cap. 63: „Das Tun sei Nichttun, das Geschäft Nicht- 
geschäft, der Genufs Nichtgenufs, das Grofse Kleines, das 
Viele A\^eniges"; cap. 48: „Wer tut im Lernen, nimmt täglich 
zu: wer tut im Tao, nimmt täglich ab; nimmt ab und nimmt 
weiter ab, um anzulangen am Nichttun. Er tut nicht, und 
doch ist er nicht untätig"; cap. 64: „Wer tut, dem mifsrät; 
wer nimmt, der verliert. Daher der heilige Mensch nicht 
tut, darum ihm nichts mifsrät, nicht nimmt, darum er nicht 
verliert"; cap. 43: „Des Nichtredens Lehre, des Nichttuns 
Vorteil, wenige in der Welt erreichen sie"; cap. 26: „Das 
Euhige ist des Unruhigen Herr ; daher der Weise den ganzen 
700 III. Lao-tse und das Tao-te-king. 
Tag wandelt, ohne zu weichen von ruhigem Ernst. Hat er 
gleich Prachtpaläste, gelassen bewohnt er sie und verläfst sie 
■ebenso"; cap. 3: „Nicht ansehen Begehrbares, macht das Heiz 
nicht unruhig"; cap. 29: „Daher der Weise meidet das l'ber- 
steigen, meidet die Überhebung, meidet die Gröl'se." Er 
trachtet auch nicht nach Vielwisserei : ,,Wer das Lernen fahren 
läfst, hat keinen Kummer" (cap. 20) ; ,,Wer erkennt, ist kein 
Vielwisser, wer Vielwisser ist, erkennt nicht" (cap. 81). Der 
Weise liebt das Schweigen; cap. 2: „Wandel, nicht Rede 
ist seine Lehre"; cap. 5ß: „Der Wissende redet nicht, der 
Eedende weifs nicht." Sein Verhalten gleicht dem eines 
Kindes*; cap. 50: „Wer in sich hat der Tugend Fülle, gleicht 
dem neugeborenen Kinde"; cap. 20: „Die Menschen strahlen 
vor Lust, wie wer einen Stier opfert, wie wer im Frühling 
eine Anhöhe ersteigt: ich allein liege still, noch ohne An- 
zeichen davon, wie ein Kindlein, das noch nicht lächelt"; 
€ap. 10: „Wer dem Geist die Seele einergibt und Einheit um- 
fängt, kann ungeteilt sein. Bezwingt er das Seelische bis 
zur Nachgiebigkeit, kann er wie ein Kindlein sein"; cap. 28: 
„Und wieder kehrt er ein zur ersten Kindheit. — Und wieder 
kehrt er ein ins Unbefangene. — Und wieder kehrt er ein 
zur ersten Einfalt." In diesem Verhalten besteht die Stärke 
des Weisen ; weich und schwach ist besser als hart und stark 
(cap. 76); „Nichts in der Welt ist weicher und schwächer denn 
das Wasser, und nichts, was Hartes und Starkes angreift, 
vermag es zu übertreifen. Es hat nichts, wodurch es zu er- 
setzen wäre. Schwaches überwindet das Starke, Weiches über- 
windet das Harte" (cap. 78); Wer verzichtet, der gewinnt 
(cap. 44); cap. 46: „Wer sich zu genügen weifs, hat ewig 
genug"; cap. 72: „Keinem sei zu eng seine Wohnung, keinem 
zu beschränkt sein Leben." Das Bewufstsein der eigenen 
innern Stärke macht den Weisen bescheiden und friedfertig: 
„Wer tüchtig ist, Gegner zu überwinden, streitet nicht" (cap. 68) ; 
€ap. 67 : „Ich habe drei Schätze, bewahre und schätze sie hoch. 
Der erste heifst Barmherzigkeit, der zweite heifst Sparsamkeit, 
* Vgl. zu den folgenden iStellen des Tao-te-king Brih. Up. 3,5 (S. 43t) 
<ler Übersetzung) und Ev. Matth. 18,3. 
5. Ethik des 'lao-tc-king. 701 
der dritte lieilVt : Nicht waueii, im lieiche vornan zu sein. 
Barmherzigkeit, darum kann ich kühn sein; Sparsamkeit, 
darum kann ich ausgeben; niclit wagen, im Reiche vornan 
zu sein, darum kann ich der Begabten Oberster werden"; 
cap. 59: ,. Sparen heilst zeitig Vorsorgen; zeitig Vorsorgen heifst 
AVolihaten reichhch aufhäufen." So wird der Weise in seiner 
Zurückgezogenheit zum WohUäter der Menschen; er ist wie 
das Meer, welches sich gegen die Flüsse erniedrigt und doch 
ihr König ist (cap. 66): in demselben Sinne heifst es cap. 28: 
,,\\'er seine Hoheit kennt und hält Demütigung, ist aller Welt 
Talniederung" (Talniederung, welche alle herabströmenden 
Wasser in sich befafst); cap. 8: „Der höchst Gute ist wie 
Wasser: ^^'asse^ ist gut, allen Wesen zu nützen und streitet 
nicht; es bewohnt, was die Menschen verschmähen; darum 
ist er nahe am Tao." Er ist aller Welt nützlich, wie die 
Dinge, welche ihr Wesen unterordnen oder aufgeben, um 
andern dienstbar zu sein, wie die Speichen dem Wagen, wie 
der Ton den Geföfsen, wie die Fensteröffnungen, indem sie 
sich ausbrechen lassen, dem Hause (cap. 11); so wird er den 
Menschen ein guter Helfer und zugleich ein Erzieher (cap. 27); 
er wirkt auf sie durch sein Vorbild (cap. 28); er ist versöhn- 
lich und besteht nicht auf seinem Rechte (cap. 79); er vergilt 
Feindschaft mit Wohltaten (cap. 63); er behandelt Gute und 
Böse gleich, cap. 49 : „Den Guten behandle ich gut, den Nicht- 
guten behandle ich auch gut. Tugend ist Güte. Den Auf- 
richtigen behandle ich aufrichtig, den Nichtaufrichtigen be- 
handle ich auch aufrichtig. Tugend ist Aufrichtigkeit"; durch 
seine Nachgiebigkeit überwindet er das Härteste (cap. 43); er 
macht die Herzen der hundert Menschengeschlechter zu seinem 
eigenen Herzen (cap. 49); daher fürchtet er sich vor nie- 
mandem, nicht vor Nashorn und Tiger, nicht vor dem be- 
waffneten Feinde, ,, warum das'? Weil er keine tödliche Stelle 
hat" (cap. 50). Obgleich er sich mit dem Tao eins weifs, entzieht 
er sich doch nicht dem Leben, wie zu Anfang und Ende des 
Werkes versichert wird, cap. 2: „Alle Wesen treten hervor 
und er entzieht sich nicht. Er belebt und hat nicht. Er 
handelt und legt keinen Wert darauf. Er vollendet Verdienst- 
liches und besteht nicht darauf"; cap. 81: „Des Himmels 
702 ni. Lao-tse und das Tao-te-king. 
AVeise ist, wohltun und nicht beschädigen; des heihgen Men- 
schen Weise, handehi und nicht streiten." 
6. Politik des Tao-te-king, So oft auch unser Philo- 
soph das Nichthandeln, Stillesitzen, die Zurückziehung von den 
Aufsendingen auf das eigene Selbst empfiehlt, so will er doch 
nicht dahin verstanden werden, dafs der Weise sich des Ein- 
greifens in die Dinge und Verhältnisse der Aufenwelt ent- 
halte. Nicht Weltflucht verlangt er, sondern innere Befreimig 
von der Welt dadurch, dafs wir die in die Welt verstrickten 
Begierden in uns vernichten und gerade dadurch fähig werden, 
Wohltaten nach allen Seiten zu verbreiten. Nicht nur das 
rechte Verhalten des einzelnen sucht er zu regeln; auch das 
Wohl des ganzen Landes und Volkes liegt ihm nicht weniger 
am Herzen als dem Confucius, nur dafs er es auf ganz ent- 
gegengesetztem Wege zu fördern sucht. Seine Ethik fordert, 
dafs der einzelne Mensch fest stehe in Tao, seine Politik, 
dafs das Tao im ganzen Reiche ^ich verwirkliche; cap. 37: 
„Tao ist ewig ohne Tun, und doch ohne Nichttun. ^^'enn 
Könige und Fürsten das zu beobachten vermöchten, alle Wesen 
würden von selbst sich umwandeln. Wandelten sie sich um, 
und wollten sich auflehnen, ich würde sie niederhalten mit 
des Namenlosen Einfachheit. 
Des Namenlosen Einfachheit . 
Bringt aucli Begierdelosigkeit; 
Begierdelosigkeit macht ruh'n 
Und alle Welt von selbst das Rechte tun." 
Der Weise soll das Tao wie in seiner Person, so auch in 
Familie, Stadt, Land und Reich zur Herrschaft bringen, cap. 54 : 
„Führt er es bei sich selber ein, 
Dann hat die Tugend recht Gedeih'n; 
Führt er es ein in seinem Haus, 
Dann fliefst die Tugend reichlich aus; 
Führt er es ein in seinem Ort, 
Dann wächst die Tugend mächtig fort; 
Führt er es ein in seinem Land, 
Dann hat die Tugend Blütenstand; 
(j. Politik des Tuu-te-kiiig. 70)'» 
Führt er im ganzen Reich es ein, 
I)ann schliefet die Tugend alles ein." 
Das Tao verleiht dem Reiche Frieden, cap. 4ß: „Hat das 
Reich Tao, so behält man Arbeitsrosse zur Feldbestellung: 
hat das Reich nicht Tao, so weilen sie als Kriegsrosse im 
Auslande": cap. oO: „^^'er mit Tao beisteht dem Menschen- 
herrsehor, nicht mit Watfen vergewaltigt er das Reich. Wo 
Heerhauten lagern, gehn Disteln und Dornen auf. Grofser 
Kriegszüge Folge sind Notjahre. Der Gute siegt, und damit 
genug: er siegt, und ist nicht stolz; siegt, und triumphiert 
nicht; siegt, und überhebt sich nicht; er siegt und kann's 
nicht vermeiden; siegt', und vergewaltigt nicht"; cap. 31: 
„Waffen sind Unglückswerkzeuge, nicht des Weisen A\'erk- 
zeuge. Kann er nicht umhin, sie zu gebrauchen, so sind ihm 
doch Friede und Ruhe das Höchste. Er siegt, aber ungern. 
Es gern tun, lieifst sich freuen, Menschen zu morden"; cap. 57: 
„Mit Redlichkeit regiert man das Land, mit Arglist braucht 
man ^^'affen, mit Ungeschäftigkeit gewinnt man das Reich. 
Je mehr Verbote und Beschränkungen das Reich hat, desto 
mehr verarmt das Volk, je mehr scharf Geräte das \'olk 
hat, desto mehr wird das Land beunruhigt: je mehr Gesetze 
und Verordnungen kundgemacht werden, desto mehr Diebe 
und Räuber gibt es. Darum sagt der Weise: Ich bin ohne 
Tun, und das Volk bessert sich von selbst; ich liebe die 
Ruhe, und das Volk wird A'on selbst redlich; ich bin ohne 
Geschäftigkeit, und das Volk wird von selbst reich; ich 
bin ohne Begierde, und das Volk wird von selbst einfach"; 
cap. 7."): „Das Volk hungert, weil seine Obrigkeit zu viele 
Abgaben verzehrt. Das Volk wird schwer regiert, weil seine 
Obrigkeit sich zu schaffen maclit. Das Volk achtet den Tod 
gering, weil es Lebensübermafs verlangt"; cap. 65: „Die vor 
alters rechte Täter des Tao waren, klärten das Volk nicht 
auf, sie wollten es damit einfach erhalten. Das Volk ist schwer 
zu regieren, wenn es allzu klug ist. Durch die Klugheit das 
Land regieren, ist des Landes Verderben, nicht durch die 
Klugheit das Land regieren, ist des Landes Segen"; cap. 32: 
„Wenn Fürsten und Könige die Schlichtheit des Tao zu 
704 M- Lao-tsc und das Tao-te-king. 
bewahren wüfsten, alle Wesen würden von selbst huldigen; 
Himmel und Erde würden sich vereinigen, erquickenden Tau 
herabzusenken, niemand würde dem Volke gebieten, und es 
würde von selbst das Rechte tun"; cap. 80: „Machet, dafs 
das Volk ungern sterbe! dafs es nicht in die Ferne aus- 
wandere ! dafs es Schiffe und Kriegswagen habe, und sie nicht 
besteige, dafs es Panzer und Waffen habe, und sie nicht an- 
lege, dann ist ihm süfs seine Speise, schön seine Kleidung, 
behaglich seine Wohnung, lieb seine Sitte. Das Nachbarland 
ist gegenüber zu sehen, der Hühner und Hunde Stimme sind, 
gegenüber zu hören, und das Volk erreicht Alter und Tod, 
ohne hinübergekommen zu sein." 
IV. Einiges über die Fortentwicklung der 
chinesischen Philosophie. 
1. Der Taoismus. Die kühnen, hochfliegenden Ge- 
danken des Lao-tse scheinen im Volke nie tiefere Wurzeln 
geschlagen zu haben. Nur einzelne geistvolle, aber auch zum 
Phantastischen neigende Denker, wie Lieh-tse (450 a. C.}, 
Tschuang-tse (um 300 a. C), bei dem sich Mystizismus und 
Skeptizismus die Hand, reichen, Han Fei (gest. 233 a. C), 
Liu Ngaii (gest. 122 a. C), waren bemüht, die Taolehre fort- 
zubilden. Im weitern Verlaufe ging der Taoismus in zwei 
Richtungen aus einander, eine alchimistische, welche die 
Lehre des Lao-tse von dem Unsterblichwerden in Tao materiali- 
sierte, nach einem Mittel suchte, die Lebensdauer zu verlängern 
und zugleich auf künstlichem Wege Gold zu erzeugen, und 
eine populär religiöse, welche die Taolehre durch Auf- 
nahme von allerlei abergläubischen, aus dem Volksbewufst- 
sein geschöpften Vorstellungen zu einer Kunst der Geister- 
beschwörung gestaltete ; — abusiis optimi pessimus. 
2. Der Confucianismus. Einen allgemeinern und 
dauernden Einflufs gewannen in China die Lehren des Kong-ise 
und seines bedeutendsten Schülers 3Ieug-tsc. Zwar fehlte es 
2. Der t'onfucianismus. 7Q5 
nicht an Philosophen, welche entgogengesotzte Anschauungen 
vertraten, wie Y((n</-fsch/( (350 a. C), der für das höcliste Ziel 
in dem hinfälligen Menschenleben den Sinnengenufs er- 
klärte. Moh-ti (zwischen Kong-tse und Meng-tse), welcher die 
allgemeine Menschenliebe zu seinem moralischen Prinzip 
erhob und dadurch in Gegensatz zu dem die Pietät im Kreise 
der eigenen Familie über alles hochschätzenden Confucianis- 
mus trat, und Wnu-tsclniiuj (27 — 98 p. C), der an den Lehren 
des Kong-tse und Meng-tse eine weitgehende Kritik ül)te und 
daneben eifrig beflissen war, den Unsterblichkeitsglauben zu 
bekämpfen, woraus entnommen werden darf, dafs derselbe 
zu seiner Zeit auch in China angefangen hatte, Wurzel zu 
schlagen. Inzwischen stieg nach der Wiederherstellung der 
Bücher unter der Dynastie Hän das Ansehen des Confucianis- 
mus von Jahrhundert zu Jahrhundert, bis er durch Tschu-hi 
(1130 — 1200J, von dem noch weiter unten die Rede sein wird, 
diejenige Form erhielt, welche in China die herrschende ge- 
worden und bis auf den heutigen Tag geblieben ist. 
3. Der Buddhismus. Inzwischen hatte auch der Bud- 
dliismus, die dritte der in China herrschenden Lehren, seinen 
Einzug im Reiche der Mitte gehalten, und es waren besondere 
Umstände, welche es der Lehre des Buddha möglich machten, 
bei den nach aufsen sich geflissentlich abschliefsenden und 
jedem ausländischen Einflüsse abgeneigten Chinesen Bürger- 
recht zu erlangen. Die von Kong-fu-tse sanktionierte alte 
Reichsreligion (oben S. 681 fg.) war und blieb zum gröfsten 
Teile dem Volke vorenthalten. Nur der Kaiser darf dem 
Himmel (Tien), nur die Reichsgrofsen und höhern Beamten 
dürfen den Genien (ScJian) Opfer und Verehrung darbringen, 
das Volk bleibt auf den vorwiegend häuslichen Kultus der die 
Nachkommen unsichtbar umschwebenden und ihr Leben in 
unbestimmter Weise beeinflussenden Tsu, der Geister der 
Vorfahren, beschränkt. Diesem Alinenkultus bot der spätere, 
in der Mahäyänascliule durch Aufnahme der brahmanischen 
Mythologie sich immer bunter und krauser gestaltende Buddhis- 
mus eine festere Grundlage. Zwar steht der vom Buddhismus 
festgehaltene Seelenwanderungsglaube, der die Verstorbenen 
Deusses, Geschichte der Philosophie. I,iii. 45 
706 I^^- Einiges über die Fortentwicklung der chinesischen Pliilosophie. 
in andern Formen wiederkehren läfst und in dem Leichnam 
nur das ahs-elegte Gewand der Seele sieht, mit dem chinesi- 
sehen KuUus der Grabesstätten und dem geisterhaften Fort- 
bestehen der Ahnen in ihrer frühern Individuahtät genau 
betrachtet in unversöhnhchem Widerspruche, aber gemeinsam 
war doch beiden Anschauungen die VorsteUung des Fort- 
bestehens, und die grofse Akkommodationsfähigkeit des Bud- 
dhismus machte es möghch, über die erwähnten Differenzen 
hinwegzusehen und dem volkstümhchen ManenkuUus durch 
seine Vorstellungen von Buddha's und Bodhisattva's, von 
Deva's und wandernden Seelen eine festere Grundlage zu geben. 
Daher der Buddhismus trotz gelegentlicher Verfolgungen so- 
wie der Ungunst und Geringschätzung von selten der höhern 
Kreise der Gesellschaft im Volke tiefe Wurzeln geschlagen 
und bis auf den heutigen Tag sich in China behauptet hat; 
und so sehr sein Quietismus, der ihm eigene Pessimismus und 
die Hochhaltung des Zölibats der Rührigkeit, Lebenslust und 
dem stark entwickelten Familiensinn des Chinesen wider- 
strebt, so wenig läfst sich doch das Volk bis zu den höhern 
Kreisen hinauf abhalten, wie bei frohen Anlässen die Priester 
des Confucianismus, so bei traurigen Vorkommnissen die bud- 
dhistischen Mönche in Anspruch zu nehmen. 
Die erste Einführung des Buddhismus in China erfolgte 
ni p. C. unter dem Kaiser Ming-ti (58 — 75). Es wird erzählt, 
dafs er einstmals im Traume ein goldenes Götterbild über 
seinem Palaste schweben sah; dieses wurde als eine Buddha- 
statue gedeutet und veranlafste den Kaiser, aus Indien die 
ersten buddhistischen Jj]uJis]t>(''s oder Cramanas (chinesisch: 
Scha-men, daher unser ,, Schamane") nach China einzuführen. 
Bald folgten viele andere nach; in dem Mafse wie der Buddhis- 
mus in Indien durch den wiedererstarkenden Brahmanismus 
bedrängt ^vurde, wanderten die Bhikshu's aus, und schon um 
das Jahr 500 p. C. soll es deren in China nicht weniger als 
dreitausend gegeben haben; seit 335 p. C. wurde es auch 
den Chinesen gestattet, in den Orden der buddhistischen 
Mönche einzutreten. Zwar fehlte es nicht an Verfolgungen; 
Tausende von Mönchen wurden unter der Dynastie Thang im 
8. und 9. Jahrhundert vertrieben und ihre Klöster als Staats- 
3. Der BiuUlliismus. 707 
gut eingezogen, aber der Buddhismus hatte schon zu festen 
lioden in China gewonnen, wozu namenthch das Entstehen 
einer buddliistisclien Literatur beitrug. Immer neue Bücher- 
pc'hätze wurden aus Indien bezogen, man übersetzte die Sütra's 
und andere Schriften der Buddhisten ins Chinesische, und 
liäulig waren die Reisen frommer Pilger nach Indien als 
dem heihgen Lande. Am berühmtesten sind die des Fa-liien, 
welcher in Gesellschaft von andern Gesinnungsgenossen 399 — 
413 unter grofsen Beschwerden und Gefahren nach Indien 
durchdrang, von Peshawar bis zur Gangesmündung das heilige 
Land durchzog, von dort zu Schiff nach Ceylon gelangte und 
auf dem Seewege nach China zurückkehrte, — sowie die des 
HioKcn-Thsang, welcher ß29 — 645 die schon zum Teil in Ver- 
fall geratenen Klöster und heiligen Stätten der Buddhisten 
bereiste und mit einem grofsen Schatze von Texten und Bil- 
dern, Statuen und Reliquien in die Heimat hochgefeiert zu- 
rückkehrte. Nicht wenig trug es auch zur Befestigung des 
Buddhismus in China bei, dafs er durch seine Tempelbauten 
die Architektur, durch seine Heiligenbilder die Skulptur und 
Malerei beförderte und so dem Kunsttriebe der Chinesen eine 
willkommene Anregung bot. 
4. Der Neuconfucianismus des Tschou-tse und 
Tschu-hi. Seine endgültige und noch heute in China herr- 
schende Gestaltung erhielt der Confucianismus durch die 
literarischen Arbeiten des Philosophen TscJiou-tsr (1017 — 1073) 
und seines Nachfolgers, des berühmten Polyhistors Tschu-lii. 
Beide greifen auf das Alteste zurück, indem sie die beiden 
Prinzipien des Yi-]:h)(f, die Yatig und die Ym, aus einem 
gemeinsamen Urprinzip, dem Tai-li' („das höchste Aufserste") 
ableiten. Wir entnehmen darüber aus dem Tai-ld-tu des 
Tschou-tse folgende Stellen (nach v. d. Gabelentz) : 
„Ohne Prinzip seiend, ist es daher Urprinzip. Indem das 
l'rprinzip sich bewegt, (erzeugt es das Yang. Am Ziele der 
Bewegung angelangt, ruht es. In der Ruhe erzeugt es das Yin. 
Am Ziele der Ruhe angelangt, bewegt es sich von neuem. Bald 
bewegt, bald ruhend, — eins ist des andern Ursache. 17»/ ge- 
sondert, Yang gesondert, so stehen die beiden Grundformen fest. 
45* 
708 IV- Einiges über die Fortentwicklung der chinesischen Philosophie. 
„Das Yang verändert sich, das Yin gesellt sich hinzu: 
so erzeugen sie Wasser, Feuer, Holz, Metall und Erde; die 
fünf Elemente sind, vereinigt, 17« und Yang; Yin und Yang 
sind, vereinigt, das Urprinzip; das Urprinzip ist ursprünglich 
ohne Prinzip. 
„Das ursprüngliche Wesen dessen, was kein Prinzip hat, 
und die Quintessenz der Zwei (Ym und Yang) und der Fünf 
(Elemente) vereinigen sich wunderbar und gerinnen: die Norm 
des Kien (Yang) wird zum Männlichen, die Norm des Knn 
(Yin) wird zum Weiblichen. Die beiden Kräfte erregen ein- 
ander, durch Umwandlung erzeugen sie alle Dinge; alle Dinge 
entstehen durch Erzeugung, und die Veränderung und Um- 
wandlung ist unerschöpflich. — — Darum heifst es: Stellt 
man des Himmels Norm auf, so spricht man von Yin und 
Yang; stellt man der Erde Norm auf, so spricht man von 
Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Auch heifst es: Den An- 
fang ermitteln, das Ende erwägen, dadurch erkennt man die 
Bedeutung von Leben und Sterben. — Grofs ist das Yi-Jcing, — 
ja, es ist vollendet!" — 
Der von Tschou-tse durch Zurückführung des Yang und 
Yin auf das Tai-ki als gemeinsames Urprinzip angebahnte 
Monismus wurde vollendet durch seinen mittelbaren Schüler 
Tschu-Jii (1130 — 1200), der nach Grubes Darstellung den 
weitern Schritt tat, die materielle Welt nicht wie Tschou-tse 
als ein zeitlich Späteres aus dem Urprinzip abzuleiten, sondern 
die von Ewigkeit her bestehende Materie als ihrem Wesen 
nach innerlich vom Urprinzip abhängig (oder, wie wir sagen 
würden, als die Erscheinung des Urprinzips), welches dem 
Tschu-Jii zu einer vorweltlichen oder richtiger überweltlichen 
Vernunft wird, begriffen zu haben. „Inmitten des Himmels 
und der Erde gibt es Vernunft, gibt es Materie. Was die 
Vernunft anlangt, so ist sie hinsichtlich der Erscheinungen 
oberste Norm, die Wurzel, aus welcher die Dinge hervor- 
gehen. Was die Materie anlangt, so ist sie hinsichtlich der 
Erscheinungen unterste Anlage, der Stoff, aus dem die Dinge 
hervorgehen. — Die Vernunft ist nie von der Materie getrennt 
gewesen. Immerhin ist die Vernunft hinsichtlich der Erschei- 
nungen das Obere, die Materie hinsichtlich der Erscheinungen 
4. Der Neiicoiitiuianismus des Tschou-tse und Tsclui-hi. "(jQ 
(las l niciv. Ks ist zulässig, zu sa.üon, Vernunft und Materie 
hätten ursprünglich kein Früher und Später; will man jedoch 
durcliaus ihrem l'rsprung auf den Grund gehen, so wird man 
sagen müssen, dafs die Vernunft das Frühere sei. Doch 
bildet sie auch wiederum nicht ein gesondert für sich be- 
stehendes Wesen, vielmehr ist sie in der Materie enthalten. 
Gäbe es keine Materie, so fände auch die Vernunft keinen 
Aiihalts|)unkt. — Existiert diese Vernunft, so existieren auch 
Himmel luid Erde, gleichwie ohne die Vernunft weder Himmel 
nocli Erde, noch Menschen, noch Dinge existieren. — Gibt es 
Vernunft, so gibt es auch Materie, welche alle Dinge zur 
Erscheinung bringt und erhält. — Spricht man von Himmel 
und Erde, so ist in Himmel und Erde das Urprinzip enthalten; 
spricht man von allen Dingen, so ist in allen Dingen, und 
zwar in jedem einzelnen, das Urprinzip enthalten." 
Neben dieser Fortbildung der metaphysischen Spekula- 
tionen hat Tschu-hi das Verdienst, die Lehren der fünf King 
und der vier Schu einer Revision unterworfen zu haben, indem 
er durch seine Erläuterungen die von den Gegnern erhobenen 
Einwendungen widerlegte, die vorhandenen Widersprüche aus- 
■ghch und so den Neuconfucianismus begründete, welcher, 
von Seiten des Staates unterstützt, über Taoismus und Bud- 
dhismus in den höhern Kreisen das Übergewicht gewonnen 
und bis auf die Gegenwart belialten hat. Wir schliefsen mit 
den Worten, in welchen Tschu-hi am Schlüsse seiner Ein- 
leitung zum Ta-hio sich über seine eigene Arbeit ausspricht: 
„Wohl weifs ich, dafs der, welcher mehr unternimmt als ihm 
zukommt, nicht sicher davor ist, den Tadel der Nachwelt für 
seine Fehler zu ernten. Was jedoch die Regierung der Staaten, 
die Bekehrung der Völker, die Verbesserung der Sitten be- 
trifft, so wird der, welcher meine Arbeit über die Art und 
^^'eise, die Mittel, sich zu bessern oder sich selbst zu ver- 
vollkommnen und die Menschen zu regieren, studiert hat, 
sicherlich sagen, dafs es ihm nicht eine schwache Hilfe ge- 
Wesen."' 
V. Blick auf Japan. 
1. Vorbemerkungen. Das kleine, tapfere Inselvolk der 
Japaner teilt mit dem nördlichen Europa das Schicksal des 
Epigonentums. Wie die Germanen erst unter dem Einflüsse 
des Christentums und der griechisch-römischen Bildung zu 
höherm geistigen Lehen erwacht sind und dadurch der Wohl- 
tat verlustig gingen, die in ihnen liegenden Bildungskeime 
ungestört durch fremde Einflüsse zu entwickeln, ebenso und 
ungefähr gleichzeitig mit dem Eindringen des Christentums 
in Deutschland wurde Japan im 6. Jahrhundert p. C. durch 
die Einführung des Buddhismus aus Korea und China und 
der ihm nachströmenden chinesischen Kultur der Zögling einer 
ausländischen Weisheit, welche die in der Sdihito -Religion 
liegenden Keime einer rein nationalen Entwicklung teils er- 
stickte, teils wenigstens zurückdrängte. Und als nach den 
Zeiten des Verfalls, in denen auch der Buddhismus viel von 
seiner Triebkraft eingebüfst hatte, seit 1600 p. C. unter der 
kräftigen und weisen Herrschaft der Schoyim eine Wieder- 
geburt des nationalen Lebens erfolgte, da war es wiederum 
der Neuconfucianismus , welcher auf die bessern Kreise der 
Nation eine stärkere Anziehungskraft ausübte als der alters- 
schwache Buddhismus und als die Versuche, dem einheimischen 
Schintoismus neues Leben einzuhauchen. Immerhin trugen 
diese Versuche dazu bei, die grofse Umwälzung herbeizuführen, 
welche 1868 die Macht der Schogun brach, um dem mit der 
Schintolehre eng verwachsenen Kaisertum die so viele Jahr- 
hunderte lang entbehrte Machtstellung wiederzugeben. Aber 
eben diese Umwälzung war es, welche der europäischen Bil- 
dung die Pforten des Mikadoreiches in liberalster Weise öff'nete 
'J. Das alte Japan und die IScliiuto-Religion. 711 
uinl zum dritten Male Japan unter einen ausländischen Ein- 
flul's stellte, dem es noch bis auf die Gegenwart hin unter- 
lieo't. Wir wollen diese Skizze durch einen Blick auf die 
geistige Geschichte Japans in der Kürze erläutern, 
2. Das alte Japan und die Schinto-Religion. Nach 
<lem ältesten japanischen Geschichtswerke, dem im Auftrage 
einer Kaiserin 712 p. C. verfafsten Kodschiki, und dem um 
wenig später (720) chinesisch geschriebenen Siliony/ ent- 
sprangen am Schlüsse einer Ära von Göttergenerationen als 
Geschwister und Gatten Isaiiayi, der Urmann, und Isanami, 
das Urweib. Nachdem letztere bei der Geburt des Feuer- 
gottes gestorben ist, gehen aus dem linken Auge des Isanagi 
die Sonnengöttin Amuterasu oniikamt, „des Himmels leuchtende, 
grofse Gottheit", aus den übrigen Gliedern seines Leibes 
zahlreiche andere Naturgötter hervor. Ein Nachkomme der 
Sonnengöttin ist Dsclilmmu^ der erste Kaiser von Japan, mit 
welchem G(30 a. C. die japanische Jahreszählung beginnt, und 
dessen einhundertdreiundzwanzigster Nachfolger der jetzt re- 
gierende Mikado ist. Aus diesen Elementen, der Sonnengöttin 
Äntatcrfi.su, den Naturgöttern von Bergen, Flüssen, der Nahrung, 
der Krankheiten usw. sowie von vergötterten Menschen setzt 
sich als ein Ahnen- und Naturkultus die Rehgion des Schinto, 
.,des Weges der Götter", zusammen, welche in Japan gegen 
zweihunderttausend Tempel und Tempelchen besitzt, aus un- 
gefärbtem Holze, ohne Götterbilder, nur einen metallenen 
Spiegel, der ein Symbol der Sonnengöttin zu sein scheint, 
enthaltend. Sie werden von über fiinfzehntausend Priestern 
bedient, welche heiraten dürfen und deren Amt meist erblich 
ist. Die fünf grofsen Gebote der Schinto-Religion sind: Ver- 
ehrung des heiligen Feuers, Reinheit von Seele und Leib, 
Halten der Festtage, \\'allfahrten und Verehrung der Kami 
oder Manen, deren es viele Tausende gibt und deren Zahl 
durch Heiligsprechung von Seiten des Mikado immer noch 
vermehrt wird. Jeder Japaner wird bei seiner Geburt dem 
Schutze der Schintogottheiten seines Ortes anbefohlen, wie 
er andererseits nach seiner Familienabstammung zu einer der 
zwölf in Japan bestehenden buddhistischen Sekten gehört. 
712 V. Blick auf Japan. 
3. Der Buddhismus in Japan. Nachdem schon seit 
200 p. C. koreanische und chinesische Einflüsse in Japan be- 
gonnen hatten sich gehend zu machen, wurde unter dem 
Kaiser Kimmei im Jahre 552 p. C. der Buddhismus in Japan 
eingeführt, und mit ihm hieU chinesische Sprache, Literatur 
und Kultur ihren Einzug. Die Japaner gehören zwar, wie 
die Chinesen, zur mongolischen Rasse, sind aber nach ihrer 
Sprache, welche nicht, wie die chinesische, einsilbig, sondern 
agglutinierend ist, der ural-altaischen Sprachfamilie näher 
verwandt. Sie besitzen fünf Vokale und sechzehn Konsonanten; 
mittels dieser werden die etwa fünfzig nur auf einen Vokal 
oder Nasal endigenden Silben gebildet, aus deren mannig- 
facher Zusammensetzung alle Worte der Sprache bestehen, 
wie die der unsern aus den fünfundzwanzig Buchstaben. Jede 
Silbe wird durch ein Schriftzeichen vertreten, welches aus den 
chinesischen Zeichen durch Verkürzung oder Verstümmelung- 
gebildet wurde. Aber mit der Schrift war auch die chinesische 
Sprache in Japan eingedrungen und wurde, ähnlich wie im 
Abendlande das Lateinische im Zeitalter der Scholastik und 
während der gleichen Zeit, von 800 bis 1600 p. C, die Sprache 
der Gelehrten in Japan. 
Während der ersten Hälfte dieses Zeitraums nahm der 
Buddhismus in Japan beständig an Ausbreitung, wenn auch 
nicht an Vertiefung zu. Er assimilierte sich viele Elemente 
der Schinto-Religion, stellte die Verehrung von IJodliisattva's, 
wie 3Ianjiign, Avalohitervara (oben S. 180), und zahlreicher 
anderer Göttorwesen in den Vordergrund, errichtete viele 
tausend Tempel mit Götterbildern und gewann namentlich in 
den untern Schichten so festen Halt, dafs noch heute, wie 
bemerkt, jeder Japaner einer der zwölf Sekten des Buddhis- 
mus zugerechnet werden kann. Auch während der Zeit des 
Verfalls der Literatur (1200 — 1600) blieben die buddhistischen 
Bonzen die einzigen Träger der gelehrten Bildung in Japan. 
4. Neuconfucianismus und Gegenströmungen. In- 
zwischen hatte sich in der japanischen Reichsverwaltung eine 
bedeutsame Wendung vollzogen. Die Kaiser kamen oft in 
jungen Jahren auf den Thron und überliefsen naturgemäfs 
4. Ncuconfiiciiinisnius uiul Gegenstrüimmgen. 7i;j 
die Sor<>;en der Regierung ihren ersten Ministern, deren Würde 
nach und nach erbUcli wurde. So gelang es im Jahre 1185 
einem Minister aus dem Hause Ilinanioio, die Würde des 
Polizeiministers und des Grofsieldherrn, damit die ganze Ver- 
w altung des Landes nach innen und aul'sen in seiner Familie 
erblich zu machen und so das Institut der Schogun zu be- 
gründen, welche nach Niederkämpfung entgegenstehender 
Einflüsse von 1(303 bis 1868 in Japan eine ähnliche Stellung 
einnahmen wie der Majordomus im Frankenreiche, namentlich 
da der Schogun 1603 seine Residenz nach Yido (dem heutigen 
Tokio) verlegt hatte, während die Kaiser fortfuhren, ihr llof- 
lager in dem entfernten Kioio zu halten und dadurch mehr 
und mehr von dem Einflüsse auf die Regierung des Landes 
al)geschnitten wurden. Dem Kaiser blieb nur der Name und 
die Würde eines obersten Priesters der Schinto-Religion, sowie 
das Recht, Ehrentitel und Orden zu verleihen und mit den 
auswärtigen flächten Verträge abzuschliefsen. Der Schogun 
sorgte für die Mittel zur Bestreitung der prunkvollen und 
kostspieligen Hofhaltung, hielt aber den Kaiser von jedem 
direkten Einflüsse auf die Verwaltung des Landes fern, und 
auch mit den Daimio, den Vasallen, welche den Feudaladel 
des Reiches bildeten, konnte der Kaiser nur durch Vermitt- 
lung der Schogun verkehren. Unter der Regierung der von 
1603 bis 1868 auf einander folgenden fünfzehn Schogun genofs 
das Reich über zwei Jahrhunderte hindurch die Wohltat des 
Friedens, und ein \\'iederaufblühen von Künsten und Wissen- 
schaften war die Folge. Aber diese japanische Renaissance war 
zunächst und vor allem nur eine Wiedergeburt des klassischen 
Altertums der Chinesen. Zwar war das tonangebende Ele- 
ment nicht mehr, wie vordem, der Buddhismus, welcher trotz 
noch zunehmender äufserer Ausbreitung unter dem Volke in 
den Händen seiner trägen und unwissenden Bonzen mehr und 
melir in Stagnation geriet; vielmehr wandten sich die reg- 
samem Geister und die höhern Kreise der Nation dem Con- 
fucianismus zu in der Form, welche ihm die Philosophen der 
Dynastie Si()i(j und vor allem Tscliu-lii gegeben hatten. Seine 
Philosophie gelangte am Hofe des Schogun zum Range einer 
Staatsphilosophie, und das von ihm begründete System der 
714 V. Blick auf Japan. 
Sittenlehre wurde zu einer leitenden geistigen Macht in den 
Kreisen der höhern Militär- und Zivilbeamten des Reiches. 
Allerdings fehlte es auch nicht an Gegenströmungen. So 
glaubte Nakac lödschu (1608 — 1678) entgegen der oben S. 708 
nach Grube gegebenen Darstellung in der Lehre des Tschu-hi 
einen Dualismus zu finden, welchen er durch Identifikation von 
Vernunft und Materie, Weltseele und Weltstoff zu heben 
suchte. Yaiiuiga Söko (1622 — 1685) forderte Rückkehr vom 
System des Tschu-hi zum alten, echten Confucianismus, wäh- 
rend liö Dschinsai (1627 — 1705) die Lehre des Tschu-hi von 
der ursprünglich guten und erst in der Folge verdorbenen 
Natur des Menschen bestritt, die Existenz des Bösen als solchen 
überhaupt leugnete und nur eine Ausbildung der natürlichen 
Anlagen forderte. Im Gegensatz zu beiden vertritt Bussoral 
(1666 — 1718) das Prinzip des Utilitarismus und erklärt höhere 
moralische Forderungen für eine blofse Erfindung klügelnder 
Denker. Folgenreicher ist die Erneuerung des Schintoismus, 
welche durch Yamasald Ansät (1618 — 1682) begründet wurde, 
indem er die Philosophie des Tschu-hi benutzte, um die alt- 
japanischen Göttermythen zu erklären. Weiter ging Motoori 
Norinaga (1730 — 1801), welcher sich sowohl gegen den Con- 
fucianismus als auch gegen den Buddhismus erklärte und die 
einheimische Schinto-Religion von ihrer Vermischung mit bud- 
dhistischen Elementen zu reinigen bemüht war. Sein Schüler 
Hirata Atsutane (1776 — 1843) vollendete das Werk seines 
Lehrers und stellte ein System des reinen einheimischen 
Schinto auf, welches wesentlich beitrug, die Umwälzung von 
1868 vorzubereiten. Vergebens hatte um 1800 die Regierung 
alle Philosophie verboten, die nicht auf dem Boden der Lehre 
des Tschu-hi stand. Der Schintoismus, welcher im Kaiser einen 
Abkömmling der Götter verehrte, griff immer weiter um sich; 
man fing an, die Herrschaft der Schogun als eine unberech- 
tigte Usurpation der geheiligten Vorrechte des Kaisers zu be- 
trachten, und als auch die Daimio sich mehr und mehr vom 
Schogun abwandten und an den Kaiser anschlössen, kam es 
1868 zu jener grofsen Revolution, welche nach erbitterten 
Kämpfen den Zusammenbruch der Macht der Schogun und 
die Wiederherstellung der Souveränität des Mikado erstritt. 
ö. Beschlufs. 
715 
5. Beschlufs. Diese Wendung der Dinge brachte dem 
Lande 1890 eine konstitutionelle Verfassung nach abend- 
ländischem Muster, zugleich aber drang in dieser jüngsten 
I'eriode europäische Kultur in alle Hellichten des geistigen 
Lebens ein ; zahlreiche englische und deutsche Werke wurden 
und werden noch fortgesetzt ins Japanische übersetzt; die 
einheimische Literatur bildete sich nach ihren Mustern, und 
so geriet Japan zum dritten Male im Verlaufe seiner langen 
Entwicklung unter den Einflufs des Auslandes. Ob es dem 
begabten und für fremde Einwirkungen so empfänglichen Volke 
beschieden sein wird, diese geistige Fremdherrschaft zu über- 
winden und wie in andern Wissenszweigen auch in der Philo- 
sophie zu einer selbständigen Stellung zu erstarken, wird erst 
die Zukunft lehren können. 
Ende der ostasiatischen Philosophie. 
INDEX. 
Die Zahlen verweisen auf die Seiten, Sterne auf die Hauptstellen. 
A. 
(ihhäva (Nichtsein) 360. 
Abhidharma- Pitakam 124. 
ahhimäna 438. 
Ahhinavagupta 331. 335. 
abhinive^a 558. 
abhyudaya 348. 
abusus optimi pessinms 704. 
Acärya 172. 
Achillesferse 487. 
Achtteiliger Pfad 138. 153. 
<iris 537. 538. 552. 
Agoka 177. 
Ä(;rama''s, Lebensstadien 84, ihr sitt- 
licher Wert 93. 
<ularga 307. 
adharma (Untugend) 357. 
adhikaranam 393. 
adhyäropa 597. 616. * 622— 631. 643. 
Adi- Buddha 180. 
■adrisJitam 201. 350. 353. 354. 356. 
357." 372. 397. 597. 
Advaitam 616. 
Advaya-änaiida 620. 639. 
Aghora (Jiva 320. 
Agneya-puränam 289. 
Agnicayanam 390. 
uliam brahnia asmi 634 — 635. 663 f. 
(üiankära *56f. 437 f. 489 f. 553. 645. 
<ünhsä 94. 415. 526. 
Ahnenkultus und Seelenwanderung 
705. 
Ährenleser 83. 
airvarycmi 609. 
Ajätaratru 141. 176. 
äkäcam 351. 
Akkommodation an die Fassungskraft 
229. 583. 
Akkumulationstheorie 42. 67. *446. 
494. 598. 629. 652. 
Aktivität und Passivität 83. 
Alankärävatära 216. 
Allgegenwart der Seele 351 f. 371. 
Amaterasu Omikavn 711. 
änanda 624. 644. 645. 
Änanda 140. 
Anandaürtha (s. Pürnaprajna) 300. 
Ananta-vrrya 255. 
Anaxagoras 350. 
Anga's des Yoga 523. 525. 563 f. 
635. 667. 
Aniruddha ^11, = aliankära^Ci. 274 f. 
anubhava (Innewerdung) 373. 
Anugitä 10. 
anumänam (Folgerung) 228. *367f. 
*418. 475, bestritten 197 f., erwiesen 
204 f., Anumänam und Syllogismus 
379. 
Anushtliäna'?, 635 f. 664. 
aparatvam (Nähe, Priorität) 355. 
äpas (Wasser) 350. 
apaväda (Aufhebung) 631 — 632. (557 f. 
apavarga (Erlösung) 376. 
Apsychismus 161. 581. 
Index. 
717 
äptakämasifa kd spriJui 96. 
Aptanii;caiii'dan1cära 236. 
apurrain 31*7. 
arahdha-phala (in iUt Vergeltung be- 
griffen) 637. 670. 
Aräda Kähuiia 132. 137. 
A rJia ccrt ndrasii ri 236. 
Arhatd (Jina), sein Wesen 236. 
ArJKda's 231 f. 
nrifiltUi (Vorzeichen) 531. 
Aristoteles 623 f. 
arthäh (Sinnesobjekte) 373. 
arthdpatti (Selbstverständlichkeit) 
237. 
Arthasamgraha des Lauydkslii JBhd- 
skara 391. 
arthaväda 396. 
(i!<amprajndta (nirvija) samddhi 514 f. 
572. 
dt^anam 527. 566. 
Asita 127. 
Askese 558. 577. 
asmitd 520. 537. 557. 
dMika und nästika 1. 4. 
^Sim 465, Aiytiri und Pancapkha 17. 
409 f. 
Atharvaveda 11,8,32 umgedeutet 33. 
atindriyam und paroksham 420. 475. 
('diiKiH (Seele, Selbst) 351. *371, im 
Epos 22 ; = Leib 195. 196. 
Aiman-Purusha als Subjekt des Er- 
kennens 26 f. 
Atome 218. 248. 349 f. *352f. 384. 
Atomistik 548. 
Atyärramin 93. 
Aufreibung 253. 258. 
Aufseubewurstsein 223. 
Auszug der Seele 105 f. 
Av(dokUe(;vara 180. 712. 
dvaranarakti (Verhüllungskraft) 624 f. 
646 f. 
Avatdra's (Inkarnationen) des Vishnu 
35. 
avayavdh (Glieder des Syllogismus) 
379. 
nvidyd 163. 165. 167. 520. 523. 551. 
552. 554. 557. 587. 601. 616 f. 622. 
643. 
Avidyd, Mdyd und Prakriti 408. 
B. 
Bddardyana 389. 390. 583. 
Büluidaivaiyam 319. 
Bdhva 590. 
bcdam (Kraft) 61. 
h(utdha (Gebundenheit) 504 f. 
Begriff und Wort 407. 
Besitzlosigkeit der Bhikshii'a 172 f. 
Beweis für das Dasein Gottes 546. 
öJidya-lakshanä 633. 660. 
Bhagavadyitä 9. 36. 
Bhagavant 272. 
Bhdgavata's (Pdncardtrd's, Sdtvatä'Sy 
Ekdntin's) 35 f. 259 f. 
BhdUa veya - Upanishad 293. 
Bhäshdparicheda des Vigvandtha-Pan- 
cänana 347. 364. 
Bhdshyam des Vydsa 510. 
hhdva 449. *450 f. 462. 498 f., acht 
500, fünfzig 501. 
BhiksJiK^s, buddhistische 130, tägliches 
Leben 174, Bhikshu's und Upä- 
saÄa's 170 f. 
Bhqjardja 317. 
hliümi 529. 
hhütdtman s. linyam. 
Bimbisdra 140. 176. 
Bindung (bandha) 249 f. 
Bodhacittam 229. 
Bodhdyana 276. 
Bodhisattva'% 180, Bodhisattva^s und 
Buddha's 126. 
Brahmacärin 89. 90. 
brahmacaryam 526. 
Brahvia-mhndnsd 389. 
Bralmiün 37. 
Brahman, höheres und niederes 588 f., 
niederes 591 f., personifiziert als 
Brahman 30. 
Brahman-Ei 629. 657. 
Brahmanen, als Herrn der Schöpfung 
86 f. 
Brahmanöflnung 532. 
BraJimd Sahdmpatih 30. 137. 
Brahman und V<'r7«'393. *398. 
Brahman, Vishnu, Civa im Epos 31 f. 
Brihaspati 194.' 196. 202. 315. 
Brihat-samhitä 3(X). 
Bücherverbrennung in China 677. 
718 
Index. 
Buddha, Leben 125 f., Geburt 127, 
Visionen 128, Auszug 129 f., Er- 
langung der Buddbaschaft 135, Be- 
kebrungen 139 f., Wirkungskreis 
143, Tod und Bestattung 144. 
JBuddlKUiayä 132. 
iuddhi 436. 445. 648, = malu'ui 55 f., 
489. 
buddhi (Erkenntnis) 356. 373. 
haddhi und nianas 56. 
Buddhi und 2o<pia als scböpferische 
Prinzipien 33. 
Buddbismus 117, Gescbicbte 176 f., 
Dürftigkeit der Lebre 146, in Cbina 
705 f., in Japan 712. 
Buddbismus als pbilosopbiscbes System 
204, vier Sekten 207, vier Grund- 
sätze 207. 
Buddbismns und Cbristentum 88, B. 
und episcbe Pbilosopbie 19 f., B. und 
Sänkbyam 3. 160. 168 f. 
Buddbisten 630 f. 655, im Epos 19, 
ibre Verfolgung 181. 
Buddbistiscbe Sekten in Japan 711. 
712. 
Bussorai 714. 
C. 
■Qahurasvämm 391. 
(■ahda (Mitteilung) 370, (Ton) 356. 
^aii^tniaga, Dynastie 176. 
caitiDiyam 603. *616. 
fJaiva's 312 f. 
lldkali/ii 289. 
Cakravarlin 127. 137. 
QaUi 182. 
(Jäkyamuni 126. 
Candraqupta 177. 
(Jankara 2. 181. 183. 189. 579. *581, 
angegriffen 261 f. 
{Jankara-diriinjnya 181 f. 
(Jankar amicra 347 . 
(Järiputra 140. 
(Järiraka-hhäshyam 584. 
(Jär'iraka-mhnÜHsä 389. 
{■uriram (Leib) 372. 
Cdrväka'H *194f. 630 f. 654 f. 
■Caturantaram 269. 
'Qcsha 184. 
chalam (Verdrebung) 386. 
Chandaku 129. 
Cliina (;73f. 
Cbinesiscbe Gescbicbte 676 f., Mauer 
677, Reicbsreligion 681 f., Spracbe 
674 f., Scbrift 675 f., Cbinesiseber 
Volkscbarakter 673. 
drculus vitiosus 201. 285. 385. 
cittam 43. 53. 60. 321. 539 f. 543. 
552 f. 627. 648. 
Cittam und Purusha 554, und Vritti^^ 
555. 
Qivadrishti 327. 
Qiva im Epos 31. 
Qira, Umä, Skanda 32. 
Claudius, Mattbias 571. 
codandh (Antriebe) 100. 
coyilo ergo skdi 602. 
Confucianismus (Fortentwicklung) 
704 f. 
Confucius, s. Kony-fu-tse. 
coutradictio in adiecto 485. 
conversio 380, i^er accidens 369. 
Qramana (Asket) 145. 
Qranta - Sfi tra'' s und Grihya - Sütra' s 
397. 
Qri III atka lottara 32 1 . 
(Jrhnatkaranain 317. 
Qrhiiatkiranam 324. 
qruti, sinriti, dcAra 396 f. 
Quddhodana 126. 
Qüdra 114. 117, seine soziale Stellung 
87 f. 
Clinda der Scbmiedsobn 144. 
Qumja, Dynastie 178. 
QÜnyaka 527 f. 567. 
Qvetadv^pa 36. 
D. 
Daimio's, (Vasallen) 713. 714. 
Dauerlosigkeit 207, widerlegt 231 f. 
deductio ad ahsiirdum 382. 
Degeneration der Upanisbadlebre 580. 
Demokrit 352. 
Determinismus 75. 
Bevadatta 141. 
Devayäna 608. 
Bhamniapadam 1 23. 
dhüranä 528. 568. 
Index. 
719 
Maniiii (Tugend) 307. 
Dhannakiiti 217. 
(Un/(iii(t)n 528. 568. 
(//<• (Kaum) n.'il. 
Dilferenzieiuiigstheorie *447. 495. 
DifianiOara^s und Qt'et(hnbara''s 119. 
Dionysos = Qiv(( 30. 
Divination 683. 
Dirifuvaddnain 121. 
f?<).sV/a's 71. lOfi. 374. 
(b(iv((tr(i)ii (Flüssigkeit) 35(5. 
(Iruri/ani (Substanz) 349 f. 
Dreieinigkeit, indisclie 34. 
Dreistal) 454. 
(Irif'/iUutta (Mustersatz) 378. 
JJschimmu 711. 
dithkham (Schmerz) 357. 
Drdpnra 46. 
(h-esha (Abneigung) 357. 
dvija 89. 
E. 
Eindämmung 252. 
Einheit und Vielheit des Purusha 29. 
Elemente 597 f. 626. 647. 708, ihre 
fünfzig (tUialitäten 68 f., Elemente 
und Eigenschaften der Organismen 
73, Elemente und Sinnesorgane 67. 
373, Elemente und spezifische Quali- 
täten^ 65 f. 
Empedokles 350. 
Empirischer und metaphysischer Stand- 
punkt 593. 
Empirisches und transzendentales Be- 
wufstsein 437. 
Entitäten, fünf 246. 
Entsagung, als^ Gipfel der Tugend 81, 
besser als A^-amd's 95. 
i-'./tip-(]iJ.y. des Aristoteles 379. 
Epigonentum 710. 
Epikur 545. 
Epische Periode 2. 
AVrtJu/rt-Sameu 254. 
Erfordernisse, die vier 611. 641. 
Erkenntnis als Weg zum Heil 96 f. 
Erlösung 109 f. 253. 258. 375 f. *376. 
610. 
Erscheinung und Ding an sich 478 f. 
Eschatologie 504 f. 
Esoterisclie und exoterische Lehre 582. 
Ethik des Lao-tae 697 f. 
Evolutionen der Pvdkrili 52 f. 
Ewigkeit des Tones 199. 3S4. 385. 
394, des Veda 588. 
F. 
Fa Hielt 178. 707. 
faUacia fit/urae clütionis 386. 
Fata Moifjaiia 600. 669. 
Feiner Leih 628. 
Fisch und Wasser 26. 28. 55. 
Fliegen in der Luft 145. 340. 533. 
Fn-hi 676. 685. 
Fünfundzwanzig Prinzipien 52. 
Fünfundzwanzigster 27. 97. 
G. 
gandha (Geruch) 354. 
Garbha^rikdntamirra 342. 
Gdrndam 298. 
Gaud(ip(Ula 410. 616. 621. 636. 668. 
Gebetsmühlen 180. 
Gebote der Buddhisten, fünf 171, vier 
grofse 172 , Gebote der Jaina's, 
fünf 243. 
Gedanken, Worte, Werke 154. 243. 
249. 252. 290. 374. 
Gegensätze, einander hervorrufend 697. 
Geschöpf (pai;u) 317 f. 
Gesinnung als Wurzel der Handlungen 
80. 
Gewissen 77. 
Gnade Gottes 611. 
Gold 350. 
Gotama 361 f. 
Gott 272. 274. 307. 309 f. 313 f. 327 f. 
348. 351. 357. 371. *515f. 545 f. 
592 f. (323. 62(;. 644. 6S2. 
Götter, ihre Unsterblichkeit relativ 
(500, Götter im Buddhismus 138, 
Götter im Yoga 547. 
Gott, Geist, Nichtgeist (Rdmanuja) 
261. 
Gott und Götter 417 f. 
Govinda 337. 338. 340. 
Govindanüyalia 338. 
Griechisch - baktrisches Reich 178. 
Griechisch-indisches P»eich 178. 
720 
Index. 
Grihastha 89. 91. 
guna (Qualität) 353. 
Gnnakärikd 303. 
G^«mrt-Lehre, ihre Geschichte 48 f. 
Guna's 426 f. 480. 539. 619. 623, 
Verhältnis der Guna''% zu einander 
50, das AvyaJctam die Summe der 
Guna''s, das Vyaktam ihr Produkt 
47 f. 
Giqjta, Dynastie 178. 
gurutvam (Schwere) 356. 
H. 
Hän, Dynastie 677. 
Hau Fei 704. 
Haradatta 303. 
HarnjHä — BhagavadgHd 36. 
Hasenhorn 341. 
Hatliayoga 519. 
Heilige Wahrheiten, vier 225. 
Hcmacandra 252. 
Herakles -Vishnu 30. 
Heramba 259. 
hetu-äbhdsa (Scheingrund) 384. 
Heuhund 696. 
Heu-thu (Erde) 682. 
Himmel, allegorisch 114. 
Rhicnjänam 179. 
Hinströmung (äsrava) 249. 258. 
Hiouen Tlisang 178. 707. 
Hiranyagarhha 16 f. 489. 618 f. 628. 
65Ö. 
Hirata Atsutane 714. 
Hölle 108, allegorisch 109, Hölle und 
dritter Ort 608. 
huduk 308. 
I. 
icchä (Verlangen) 357. 
i^vara (vgl. Gott) im Yoga 100. Iqvara 
und Präjna 618 f. 623. 645. 
tqvarakrishna 410. *413. 465. 
rgvara-pranidhänam 545. 565. 
Idealismus und Realismus 471. 
Idealität der Aufsenwelt bekämpft 
540. 548. 
Ideal-Realismus 474. 
Indische und griechische Philosophie 1. 
Individuell, alles individuell 215. 
Indo-skythisches Reich 178. 
indriya^s (Sinnesorgane) 60 f. 372. 
439. 440. 649. 
Innenbewufstsein 223. 
Innenorgan 441 f. 491. 
Isanagi und Isnuami 711. 
Itö Dschinsai 714. 
J. 
Jannini 184. 277. 389 f. 
Jamals 231 f. 
Jainismus 117. *118. 
Jäjali und die Vögel 95. 
jalpa (Disputation) 383. 
Janaka und das brennende Mitliüä 82. 
Japanische Religion und Philosophie 
710 f., japanische Sprache 712. 
Jätakam 123. 
jäti (Albernheit) 387, nityasama 296 f. 
Jayanäräyana-tarkapancänana 347. 
Ji-hi-wei und Jehovah 695. 
Jina(Vardhamäna, Jnätiputra, Malid- 
vira) 118 f. 
Jinadattasuri 257. 
jwa 36. 71 f. 246. 648, bestritten 21. 
jivo. bei den Jaina''& 244. 
ßvanmukta 636. 668 f. 
jivdtman 371. 
jna 27. 
Jiiänaqn 213. 
jnänäd mokshah 96. 110. 610. 
JMnakändam 389. 
Jnänaratndvali 325. 
Jndtiputra (s. Jina) 142. 
K. 
kaivalyam *541 f. 562. 576 f. 
kdla (Zeit, Schicksal) 75. 351. 
Kdldgoka 177. 
Kdlaküta 32. 
Kalb und Milch 504. 
Kali 46. 
Kalpa's (Weltperioden) 46, ihre Dauer 
zwölf Millionen Jahre 47. 
Kami 711. 
Kandda 345 f. *347. 
Kanishka 178. 
Kant 564, Kantische Philosophie 625. 
Kanthaka 129. 
Index. 
721 
Knpila 17. i»4. 40S. *40'.t. Knpila 
und Hiramjdgarhha 17. 
Knpilavastu 126. 
h'aniiiikdnddin 389, Karmakdndam 
und Jininahänifain 588. 
K(in)i(t-))th)i('iii.td 389. 
Avrmrf» 168. 358.f. 538. 606; karman, 
das grofse Mysterium 162. 
Kasten 84, KastenpHichten 86, Über- 
gang in eine andere Kaste 536; Ur- 
sprung der Kasten aus dem Punisha 
S5, aus der Bralimanenkaste 85; 
Kastenwesen und Buddhismus 146. 
Kategorien des* Aristoteles 346. 
Kategorien des Xydi/ci 361 f., Reihen- 
folge 363, Frucht derselben 365. 
Kausalitätsformel 163. 
Kausalität und Identität 476. 594. 
602. 
Kiiiunci 712. 
King (kanonische Bücher) 681. 685. 
Klassenhäupter 676. 
A7t'f(rs 520. 551 f. 556 f. 611. 
Ko^a's 619. 627. 
Kodschiki 711. 
Kommentare, indische 5. 
Komj-fa-tse 683 f. 
Kong-tse, s. Kcmg-fu-tse. 
Konzilien, buddhistische 120. *177. 
Korpuskeln (pudgala) 248. 251. 258. 
Kosmisch-psychische Organe des Welt- 
schöpfers 38 f. 
Kosmologie 503 f., Kosmologie des 
Vedänta 593 f. 
Kräfte des Brahman 595. 
kramamukti 109. 278. 591. 609. 
Kri^agautami 129. 
Kristall 517. 589. 591. 
Kritam 46. 
Kriydyoga 520. 561. 
Kshapunaka''s (Jaina''s) 284. 
kshetrajha 25. *27. 53, kshetrajna 
und sattvam 54, 
kiia 686. 
Ku{'inagaram 144. 
Kumdrilabhatta 181 f. 185. 263. 391. 
630 f. 656." 
Kürma-purdnam 299. 
A'«r«'s und Pdndava'B 8. 
Dedssen, Geschichte der Philosophie. I, 
L. 
Lalita-vistara 121. 
Lao-tse 692 f., Lao-tse und Kong-fu- 
tse 679 f. 
Lebensdauer 599. 
Lebenselixier 337. 704. 
Leib 73. 598 f. 628 f. 651 f. 
Leibniz 224. 448. 456. 473. 
Leiden 487. 521. 543. 549. 
Leiden, alles ist Leiden 215, Leiden 
als Motiv der Philosophie 148. 413 f., 
Leiden dreifach 414. 
Leiden , heilige Wahrheit vom 148 f. 
Leidenschaftslosigkeit 561. 
Liebe zu Gott 280. 
Lieh-tf^e 704. 
Li-ki (Gedenkbuch der Riten) 688. 
linga(;ariram 648. 
Ungarn 63. 64. 424. 448 f. 470. 472. 
496 f. 627, Ungarn und bhdvd's 455. 
499. Ungarn und Ungin 368 f. 418. 
Liu Ngan 704. 
Lokdyatam 194. 
Liik. 12,20 102. 
Lumhin'i 127. 
Lun-yü (Unterredungen) 689. 
Luther 581. 
Luxus verworfen 697. 
31. 
Mädhava 3. 191. 584. 
Madhumdana Sarasvati 584. 
Madlwa (s. Pürnaprajna) 301. 
Madhyamandira (s. Pürnaprajna) 
288. 300. 
Ilddhyamikd's (buddhistische Nihi- 
listen) 216 f. 630. 
Malu'ihhäratani 2. ^ 8 f . 
Maluibhdrata-tdtparyanirnaya 288. 
3Iahdhhdshyam 508. 
mahdbhüta und bhüta 66. 
mahdn ätmd (s. buddhi) 41. 43. 54. 
435; mahdn und ahankära 57. 
Mahävardha 293. 
Mahdvastu 121. 
Mahdydnam *179. 705. 
Mahendra 177. 
Maiträyana-Upanishad 12. 
Maitreya 180. 
n. 46 
722 
Index. 
wanas 58 f. 352. 374. 439. 648; manas 
und indriya'?, 490. 604 f. 
Manasa als Urwesen 52. 
Manieren 308. 
Manjiigri 180. 712. 
Mariki und die Öchslein 82. 
Mann und Baumstamm 377. 
mantra 396. 
Manu 2. *11. 86; Manu und Ma- 
hdbhäratam 11 f. 
3Iära 135. 
Mark. 6,7 139. 
Materialismus 194 f. 
Materialisten im Epos 19. 
Matth. 5,17 156; 6,20 102; iJ,i^ 
573; 18,3 700. 
Maudgalyäyana 140. 
Maurya, Dynastie 177. 
m%rt 35. 165. 167. 266. 267. 291. 
323. 324. 329. 330. 333. 375. 408. 
601. 619. 625. 644. 
Mäyä und PraTcriti 23 f. 472. 486. 
Mäyä, Mutter Buddha's 126. 
Meditation 612. 
Megasthenes 30. 31. 
Melissos 371. 
Menandros 178. 
Mencius, s. Meng-tse. 
Memj-tse 691. 
Meru und die sieben Weltinseln 72. 
|jL£Taßaat? £i? äXXo -^hoc. 166. 167. 
Metaphysik des Yogasystems 543. 
545 f. 
Methode 6. 
Metonymie 633. 661. 
Metrik der epischen Zeit 3. 
Mikado 711. 714. 
Milinda (MlvavSpo;) 161. 
Milindapanha 161. 178. 
Mhnähsä 389 f., Mimänsa und Qrauta- 
Sütra's 393. 
Ming, Dynastie 678. 
Miny-ii 179. 677. 706. 
Mischkasten 87. 
Mischungstheorie 68. 446. 494. 598. 
629. 652. 
Mitleid 80. 
Mittel des Wissens 611 f. 
Moh-ti 705. 
moksha (Erlösung) 505 f. 
Mokshadharma 10. 
Monotheismus auf Moralität beruhend 
35, unpopulär 37. 
Moral, eine Erfindung der Schwachen 
78. 
Moralische Regeln 79 f. 
Moralität 613, allgemein verbindlich 
78, bezweifelt 78. 
Motiv der philosophischen Forschung 
467. 
Motoori Norinaga 714. ■ 
Mrigendra 315. 316. 318. 322. 323. 
Mücke und Feigenbaum 26. 27. 28. 
mukhya präna 605. 
Musik in China 689. 
Nachvedische und uacharistotelische 
Philosophie 1. 
Nägasena 161. 
Nairanjand 132. 
Nakae Tödschu 714. 
Nakuliga 307. 
NakuUqa-iJaQupata''?, 302 f. 
nämadheyam 396. 
Namengebung 290. 
Narasihha 259. 
Näräyana, etymologisch erklärt 41. 
Näräyanakantha 322. 
nashtam apy anashtam 519. 522. 550. 
nästika 19. 
Naturalist 630 f. 654. 
Neuconfucianismus 707. 709. 710. 
712 f. 
Nichts, alles ist nichts 215. 
Nichtsein relativ 263. 
Nichtwissen bestritten 262. 
nidäna^s, zwölf 163. 
nigraha-sthdnam (Abbruchsgrund) 387. 
nihgreyasam 348. 
Nüiongi 711. 
nimittam 449. 537. 
Nirgrantha''s und Updsaka^s 119. 
nirnaya (Entscheidung) 382. 
nirmi'nam 20. 83. 97. *111. 119. 129. 
13l'. 132. 138. *152. 169. 217. 310. 
609. 
nirveda (Weltverdrossenheit) 110. 
Index. 
723 
nirrijn satiKuJ/ii 529. 5*)1*. 
iiifltedd 3it(j. 
iiiyaina irl^) f. 
Nonnen, biuldliististhe 144. *175. 
Noininalismus und Healismus 348 f. 
Noviziat 171. 
Xrisinhd 341 f. 
in/äi/a 3G1 f. 3(J3. 
Xifäi/dkora des Bhhnäcdrya 364. 
Xyäyamdid des Mädfiavdcdrya 391. 
O. 
0»«-Laut 515. 546. 
Orjrane, aus dem Willen entstanden 
57. 
Organe, Funktionen, Schutzgottlieiten 
62. . 
Organische Wesen 72. 372. 457. 599. 
652. 
Ott est Ja femme .<* 102. 
P. 
paddrtha''s, sechs 346. *348, sechzehn 
361. 362. 
Padmanandin 244. 
PdU 121. 177. 
Pancarikha *18. 465. 
Pdhcardtrakam 299. 
Pd«crtr«/ra-Lehre 36. 
Fancardtrani 275. 284. 
Pdncardtra''s 259 f. 277. 
PancdrthahhdshyadijH'kd 307. 
jianc'ikaranam 494. 629. 651. 
l'dnini 2. "398 f. ■ 
pdrada 336. 
P(ir((}ndy(ii>iasdra 241. 
IKiranidtinan 371. 
jiaratvam (Ferne, Posteriorität) 355. 
parimdnaiH (Quantität) 355. 
parindfiKCs 524. 529. 569 f. 
l'armcnides 600, Parmenides undZenon 
579 f. 
Patahjali 184. 508. 
Paulus 179. 
Paiishkara 316. 
Perlmutter 265. 357. 
perseitas boni 357. 374. 
Pessimismus 610. 696. 
petitio ijrincipü oSj. 
Pflanzen 226, haben Wahrnehmung 
62. 72, Ptlanzenseele 6(K). 
Pflichterfüllung 84. 
phaliuH 375. 
Phalluszeichen 343. 
Pingald, Hetäre 82. 
Ping-ivang 688. 
Pitriydna (i07, Pitriydna und Deva- 
ydua railsverstanden 106 f. 
Piaton, Gorgias 78. 102, Sophista 359. 
Platonische Materie 625. 
Piatons (i|j.'j8pa o'pyava 556. 
Piaton und Plotinos 616. 
Plotinos VI, 1—3 359. 
Polarstern 532. tr— 
Politik des Tao-te-king 702 f. 
Potentialität und Aktualität 477. 
Potentielle und aktuelle Allwissenheit 
546. 
Prabhdkara 263. 630 f. 655. 
PrabudJtasiddhi 297. 
Pracastapdda 214. 
Prädestination 88. 280. 
pradyumna = manas 36. 274 f. 
Prakriti 522. 549, abhängig vom Atman 
23 f., unabhängig vom Atman 24 f. 
prakritüaya 100. 451. 514. 573. 
Praktische Philosophie 544 f. 559 f. 
pramdna'^ 236. 366. 395. *416f. 474 f. 
512. 555. 
Praineya-kamala-mdrtanda 235. 
prameyam (Erkeniitnisobjekt) 370. 
prdna, apdna, vydna, saiudna, uddna 
69. *70. 441. 492. 605. 627. 649. 
prdndydma 516. 527. *566. 
Prästabilierte Harmonie 473. 
Pratdpacandra 235. 
prdtimoktiha (pätimokkha) 122. 174. 
pi'atiprasava 521. 543. 
pratUya, samutpdda 163. 
pra1y(tl)hijüd 326 f. 
pratyähdra 528. 567 f. 
pratyaksham (Wahrnehmung) 366 f. 
Pravüranam 174. 
Pravrajyd 171. 
pravritti (Betätigung) 374. 
prayaina (Anstrengung, Wille) 357. 
prayojanam (Motiv) 377. 
Predigt von Benares 137 f. 156 f. 
46* 
724 
Index. 
pretya-bhdva (Zustand nach dem Tode) 
375. 
principiis ob)<ta 79. 
Prinzipien der Jaina's, fünf 24ß f., 
sieben 248 f., neun 254 f. 
prithaktvam (Einzelheit) o5.3. 
prithivi (Erde) 349. 
TipoXT)«!'^? 362. 
2)ropositio major und udäharanam 380. 
Protektorat der Götter 443. 492. 629. 
653. 
Psychologie des Yoga 543 f. 552 f., 
Psychologie des Yedänta 602 f. 
püralca, hiimhliaka, recaka 527. 566. 
Fürnaprajna (Anandaththa, Madhva) 
284. 
Furnsha 431. 484 f. 522. 539 f. 550. 
Purusha im Veda 38 f., Purusha und 
Lingam 434, Purusha und Prakriti 
25 f. 425. 
Pitrva-mun ünsä 389. 
Pythagoreer 686. 
Q. 
Quecksilbersystem 336. 
K. 
Eäg^kara 309. 
Makula 129. 143. 
liäjavärttikam 466. 
Mämakantha 321. 
Pämänuja 259 f. 270. 
rasa (Geschmack) 354. 
Basahndayam 337. 340. 
Easärnuva 336. 340. 342. 
JRaservara-siddhdnta 338. 341. 
Realismus, natürliche Neigung zu ihm 
29. 
Realität der Aufsenwelt 296. 367. 456. 
539. 540. 547. 
Reflexion 588. 
regressus in iniinitum 198. 210 f. 287 f. 
317. *352f! 
Relativitätstheorie 255 f., widerlegt 
259 f. 
Religionsstatistik 118. 
Religion und Philosophie 115 f. 
Renaissance, japanische 713. 
retah^ariram 64. 
Mishipatana 137. 
Ritualgesetz 587. 
rüpam (Farbe) 354. 
Sac-cid-änandadAO. 341. 590. 620. 639. 
Sadänanda 620. 636. 
Saddharma-pundarika)ii 180. 
Shashtitantram 466. 
Säkärasiddhi 341. 
säksliin 29. 
Salzklumpen 667. 
samädhi 513 f. 528. 569. *572f. 635. 
664 f. 666 f. 
sämänyam (Gemeinsamkeit) 359. 
sämänyam , vifjesha , samaväya , be- 
stritten 213. 
sämänyato drishtam 367. 370. 420. 
475. 
samäpatti 517. 572. 574. 
samashti und vyashti 617 f. 643 f. 
samaväya (luhärenz) 359 f. 
samgaya (Zweifel) 376. 
satncodanäh (Reizmittel) 100. 
samprajnäta (savlja) samädhi 514 f. 
572. 
savirädhanam 591. 
sanisära (Seelenwanderung) 101, an- 
fanglos 46. 596, seine Schrecknisse 
103 f. 
samsMra* 159 f. 167. 225. 3.52. * 358. 
401. 464. 518. 530. 551. 
samyay-darranam 119. *241 f. 587. 
samyag-jnänam 119. *242. 
samyak-caritram 120. *243. 
samyama 524. 528. 569. 
samyoga (Verbindung) 355. 463. 48(). 
523. 543. 549. 550 f., doppelsinnig 
434. 
Sanaka 342. 
Sanatsujätaparvan 9. 
Sangha, die Gemeinde 170 f. 
Sankarshana 43. 184, = Jiva 36. 274 f. 
sankhyä (Zahl) 354. 
Sänkhya-Kärikä 5. 287. *410. *413— 
466. Sänkhya-Kärikä und Mai- 
iräyana - Upatiishad 410. 
Sänkhyam 408, Sänkhyam und Bud- 
dhismus 409, Sänkhyam und Yoga 
Index. 
725 
409, Säfikhi/rn» und Yoqtt im Epos 
15 f., sankhinun und V(i//a (Retlexion 
und Versenkung) 9t). 
S('tnkhi/a-j})ara((tuit-l>]i('islii/(im 41 1. 
iS'(fn/,7^(/(('s, ihr Wej; nach dem Tode !>8. 
Sii)Vchi/(t-Si'(tr((''s 411. ti'Jl. 
Isänkhyasystem 4<i7 — 506. 
Sank}n/((-t<ittr((-kaK)iii((Ii 411. 
,v(i;< kt(to i kia 078. 
Sannt/äsin (Parivräjaka, Bhikshn) 
90.* 92. 
)<arga (Schöpfung i 488. 
Sarva-iUirriDia-samfiraha 3. *191f. 
Sarvajiiaräme^ara 340. 
mt-käri/a-väda 422. 478. 
sattvam 25. 273; sattvam, rajas, tamas 
427 f. 481 ; Sattvam und Purusha 
532. 534. 535. 
Sdurahheya 324. 
Sautribitika''s (problematische Idea- 
listen) 220. G30. 
Säljana l!>2. 
Scha-men ((^ramana) 70G. 
Äc/fOH (Genien) 682. 
Schang-ti (oberster Herr) 682. 695. 
Schicksal und Menschentat 77. 
Schi-hwany-ti 677. 
Schi-king (Buch der Lieder) 687. 
Schinto-Keligion 710. *711. 
Schisma 120. 179. 
Schlaf 556. 617. 
Schleier der Mäyä 625. 
Schmerz 97. 457. 
Siho-gun 710. *713. 
Schöpfungsbericht des Manu 39 f. 
Sthu (klassische Bücher) 681. 689. 
Schu-king (Buch der Urkunden) 688. 
Scotus Erigena 416. 471. 620. 
Sechstes "Jahrhundert v. Chr. 116. 
Sechsundzwanzigster 28. 
Seele 272 , so grols wie der Leib 
(Jainä's) 260, ihrer Natur nach 
allwissend 237 f., Seele und Brah- 
man 602 f. 
Seelenwanderung 357. 607 f., ohne 
Seele 161, nur bis in die Pflanzen 
(auch bei den Jaina^s) 247. 
Selbstmord 105, verworfen 103. 
Shaddurranam 4. 
Slias}iti((i)ilra»i 410. 4t')4. 
sid(llniiit(t (Lehrsatz) 37s. 
j Sidd/iärtha 126. 
I Siddliascna-väkya-kära 233. 
! siddhr^i 100. 436. 451. 453. 534. 536, 
siol)en Stufen 523. 562. 
Sihha 142. 155. 
Skaiida-jjiininitm 298. 299. 
Ska)idha's 157 f. 225. 
^mriti 556. 588. 
sneha (Klebrigkeit) 356. 
Sonia^aiiibhii 320. 
So)U(uian(laudtha 327. 330. 
Sonnenstäubchen 353. 
so2}hmna amphiboliae 386. 
sophisma fictae universulitatis 386. 
spar^a (Gefühl) 354. 
splwta 3!t5. 399 f. *402. 
Spinoza 398. 520. 558. 
srota'' - äpanna , sakrid-ägamin, an- 
ägämin 126. 
Sse-ma-taien 679. 
Sterben 607. 
Stigmatisierung 289. 
Strick und Schlange 270. 600. 643. 
647. 
strydinun potatornm 245. 
Stufen des Yoga 563. 
Sudhanvan 181 f. 184. 
sükuramuddavam 144. 
sukJiam (Lust) 357. 
stikshmacariram 605. 626 f. 648. 650. 
sukshma, nidtdpitrija, prabMta 497. 
Sundar'i 142. 
Simg, Dynastie 677. 
SHsJiumnd 607. 
sntram 22(5. buddhistisches 121. 
Sütra-Pitakam 122. 
Sütrd's, philosophische 4, Sütra's des 
Kydya 363 f. 
Sütrdtmau und Taijusa 618 f. 623. 
628. 650 f. 
Svarupa-samhodlianam 246. 
Syddväda (Relativitätstheorie) 233. 
* 2.55 f. 2.58. 
Syädvädamahjari 257. 
Syllogismus (indischer und griechi- 
scher) 379 f. 38U. 
Systeme der indischen Philosophie 4. 
726 
Index. 
T. 
Ta-hio (grolse Lehre) 690. 
Tai-ki 707. 
Tai-scha)!, heiliger Berg 684. 
tanmätra'& 63. 437. 438. *445 f. 626. 
648, tanmdtra^s und 6/i«to's 4*J4. 
Tänzerin 460. 469. 505. 
Tao (Weg des Himmels) 682, (Ver- 
nunft) 691, sein Wesen 695, Tao 
als Urgrund und höchstes Ziel 693 f., 
Tno und Tien 693, Tao und Brah- 
man 692. 
Taoismus (Fortentwicklung) 704. 
Tao-te-Jiinfi 693 f. 
tapas kritisiert 94 f. 
tarka (Überlegung, Widerlegung) 381. 
Tarkahhäshä des Ke^aiminii^ra 364. 
Tarkasamxjralia des AunainbhattaSil. 
364. 
Tarkikarakshä 297, 
Tathägata 126. 
tat tvam asi 267 f. 294. 632 — 634. 
646. 658 f. 
Tättowierung der Glieder 182. 
Tcdtvamuktävali 269. 
Tattmprakäga 318. 319. 320. 323. 
Tattvärtha-sütrain 241 . 
Tattvasamdsa 387. 
Tattvasamgraha 320. 
Tattva-väda-raliaayum 295. 
Tattva-viveka 284. 
tcjas (Feuer) 350. 
Tetralemma, buddhistisches 158. 216. 
Thang, Dynastie 677. 706. 
Theismus, bestritten 239 f. 
Theologie des Vedänta 588 f. 
Theragäthd und Therigdthd 123. 
Tief schlaf 606. 617. 644. 645. Tief- 
schlaf und Versenkung 635. 667. 
Tien (Himmel) 682. 
Tiere 357. 
Tierstimmen, Verstehen derselben 530. 
Tiertötung 467. 565, mifsbilligt 13. 94. 
Tod 104, eine Täuschung 101. 
Todesstrafe 94. 
Töne, sieben 69. 
Töpferscheibe 253. 254. 464. 506. 
613. 636. 
Totenknabe 682. 
Trapusha und BJiallika 137. 
Traum 617, Traumbilder 357. 574, 
Traumschlat 606. G50 f. 
Tyetd 46. 
Tn\aranam. die Zufluchtsformel 119. 
*125.' 
Tripitakam 121. 
Triratnam 119. 241. 
Trivritkaranam 629. 652. 
trislind (Durst) 19. 20. 82. *150. 157. 
' 163. 165. 169. 
Tropen der Jaina's, sieben 255. 
Tschou, Dynastie 677. 
Tschon-tse 707 f. 
Tsclmanq-tse 704. 
Tsclm-hi 677. 705. 707. 708 f. 713. 
Tschung-yung (Unveränderlichkeit der 
Mitte) 690. 
Tsclmn-tsiu, Annaleu 688. 
Tsin, Dynastie 677. 
Tsing. Dynastie 678. 
Ts« (Manen) 682. 
tur'iyam 617. 624. 646. 
Tuiäta 236. 
U. 
Übergangsphilosophie und Mischphilo- 
sophie 21. 
Übermensch 82. 
Udayäkura 330. 
Udraka 132. 137. 
Umdsvdti 251. 
Unfreiheit und Moralität 74 f. 
Unsichtbarmachung 531. 
Unsterblichkeitsglaube in China 683. 
698. 704. 705. 
updälii (einschränkende Bedingung) 
369. 587. 596. 603 f. 
Upddhydya 172. 
■upamdnam (Vergleich) 369. 
UpdsaJca^s und Ujidsikd^s 170. 
Uptasampadd 171. 
Upavarsha 401 f. 
Upavasatha (Beichtfeier) 174. 
ürdhvasrotas, arväksrotas, avdksrotas 
51. 
Urnhilvd 132. 
Utpaläcdrya 328. 
Uttara-uümdnsd 389. 
Index. 
727 
V. 
Vdcaka Äcarya 245. 250. 251. 
Väcaspntimirra 410. 
vädd (Diskussion) 383. 
Vaihhäsliikui (budilhistische Rea- 
listen) 227. 
Valreshikam 345 f. 
yai(;vän(na und T'/^r« 618 f. 623. 
629. 653. 
Vaitarani 108. 
Vajrapäni 180. 
Vändprastha 89. 91. 
Vardhamäna, s. /iwa. 
rarnn (Farbe, Kaste) 85. 
väritnyas 290. 
vaMu 539 f. 
Fd*w(iey« 44 = kshetrajna 36. 274 f, 
Vafiu(/upta 333. 
Vdtsyäijana 364. 
«^flj/M (Luft) 350. 
Terf«. getadelt 13 f. 19(5, Stellung des 
Epos zu ihm 12 f. Vedastudium 
527, Veda und Lehrsvstem 13. 
Veddnta 579 f. 
Veddntamra des Sadänanda 615 — 
638, Übersetzung 639—670. 
Yedäntasystem des Qankara 586 — 
614. 
Vedäntasidra''?, 583. Vedäntasidr. 
1,1,1 276. 298; 1,1,3 281. 298; 1,1,3 
282. 299; 1,1,4 282. 300; 3,3,33 
261; 4,4,i7 291. 
Venkatanuthu 272. 
Verdauungsfeuer 350. 
Vergeltung 596 f. 
Verhüllungsartiges -250. 
Vernunft und Materie 708. 
Verschiedenheit 285 f., Verschieden- 
heit der Auffassung des näm- 
lichen 217. 
vibhäfia (Trennung) 355. 
Vmutrs 101. 524. 530—535. 565. 
,575 f. 
y'^khd 143. 
vigesha 359. 447. 657, vit^esha's und 
avi{xsha's 65. 445. 494. 553. 
Vii-vandtha-hhattäcdrya 364. 
vidlvi 307. 396." 
Vidyänanda 251. 
Vier heilige Wahrheiten 136. 138. 
*147f. 
Vihära 173. 
VijnihiahlüksJtu 411. 621. 627. 
vikära (Verwandlung) und vivarta 
(Verkennung) 632. 657. 
vikshcj)a-rakti 626 f. 647 f. 
Vinaya-1' Uakam 1 22. 
Vishnu 295, im Epos 30 f., als All- 
gott 34 f. 
Vish HH-pu rä n a m 294. 
Vishnusvamin 341. 342. 
Vishnutattvanimaya 286. 
vitandü (Schikane) 383. 
V'da-rdya-stuti 240. 
viveka 468. 4tj9. 
Viveka-vüäsu 229. 
Voraussetzungen des Vedänta 622. 
639 f. 
Vorstellung und Ding 219. 
Vorzeichen des Todes 105. 
vox populi rox dei 682. 
Yrätya (Freibrahmane) 386. 
vritH''s 512. 555. 
Vritti des Bhojadeva 510. 
vyäkaranam 399. 
vyaktam 483. 
vyakfdiii und avyaktam 424. 469. 
478 f. 
vyäpakam und vyäpyam 368. 
vyäpti (Durchdringung) 367 f. 380. 
395, bestritten 197 f., erwiesen 
204 f. 
vyashti 43 (vgl. samashti). 
Vyüha's (Entfaltungen) des Vishnu 
36. 
W. 
Wachen 6.ö3; Wachen, Schlaf, Traum, 
Tiefschlaf 61. 
Wan-tschung 705. 
Wege (tao) des Himmels 700. 
Weib (Charakteristik) 73 f. 
W'elt-Ei 40 f. 43. 
Welten, vierzehn 652. 657. 
Weltgeist und Einzelgeist 616 f. 
Weltschöpfung im Epos 42, perio- 
disch 46. 595, Weltschöpfung be- 
deutet Abhängigkeit 45. 
728 
Index. 
Weltseele und Einzelseele 616 f. 
Weltuntergang 47. 598. 
Wen-wang 686. 
Werke 549. 
Werk und Vergeltung 76. 103. 
Werkresidua 521. 537 f. *551. 559. 
Werkvernichtung 612. 
Wiedererkennung 329. 
Wissen 306. 
Wissenschaft, höhere und niedere 588 f. 
Wortbrahman 14. 399. 
Wunder, buddhistische und christ- 
liche 145. 
Wüstenspiegelung 288. 
Wti-tvang 677. 
Y. 
Yagodharä 128. 
Yajurveda, weifser, vom Sonnengott 
dem Yäjnavalkya offenbart 13. 
yama 525 f., yama und niyama 564 f. 
Yamaga SoJco 714. 
Yamasalci Ansai 714. 
Yamiina 281. 
Yang-tschu 705. 
Yang und Yin 685 f. 707 f. 
r«o'676. 688. 
rasa 139. 
Yi-Tiinq (Buch der Wandlungen) 685. 
Yoga 64. 307. 309. *559, Yoga im 
Epos 14, Yoga als Weg zum Heil 
98 f. Yoga des Patanjali 507—578. 
Yogäcära''s, dogmatische Idealisten 
217. 630. 
Yogadeva 241. 
Yogapraxis 132, im Epos 98 f. 
Yoga-Sidra's 508. 511—543. 
Yogasystem 543 — 578. 
Yogin als Zauberer 332 f. 337. 
Yüan, Dynastie 678. 
Yuga (Weltalter), vier 46. 
Z. 
Zeit 248. 
Zeugung 599, Anteil von Vater und 
Mutter 73. 
Ziege und Bock 481. 644. 
Zufluchtsformel 171. 
Druck von F. A. Brockhans in Leipzig. 
Schriften von Paul Deussen: 
Conimentatio de Piatonis Sophistae compositione ac 
doctrina. (Bonn, Marcus, 18(i9.j Leipzig, F. A. Bruck- 
liuus. (»eh. 1 M. 20 Pf. 
Die Elemente der Metaphysik. Als Leitfaden zum Ge- 
brauche bei Vorlesungen, sowie zum Selbststudium zu- 
sammengestellt. Nebst einer Vorbetraclitung über 
das Wesen des Idealismus. Leipzig, F. A. Brockhaus. 
Fünfte Auflage. 1913. 8. Geh. 5 M. Geb. 6 M. 
Elements of Metaphysics: a Guide for Lectiires, translated by 
C. M. Duff. London, jMucmülan & Co., 1894. 6s. 
Les elenients de la metapliysiqiie. Traduction du Dr. Em. Nyssens, 
revue et approuvee par l'auteur. Paris, Perrin et Cie., 1899. 4 fr. 
Gli Elementi della Metafisica, con iutroduzione di Luigi Suali, 
Pavia 1912. 
Elements of Metaplivsics, translated into Sanscrit Verses by 
A. Govinda Pillai, Trivandrum (S. India) 1912. 
Das System des Vedänta nach den Brahma -Sütra's des 
Badaräyana und dem Kommentare des (^ankara über die- 
selben, als ein Kompendium der Dogmatik des Brahmanis- 
mus vom Standpunkte des (^^ankara aus. Leipzig, F. A. Brock- 
haus, 1883. Zweite Auflage 1906. 8. Geh. 12 M. Geb. 14 M. 
The System of the Vedänta, transl. by Charles Johnston, Chicago 1912. 
Outline of the Vedänta System of Philosophy accordiug to Shan- 
kara. Translated by J. H. Woods and C. B. Runkle. New York, The 
(h-afton Press. 1903. 01 1 net. 
Die Sütra's des Vedänta oder die (^äriraka-Mimänsä des 
Badaräyana nebst dem vollständigen Kommentare des 
(^aükara. Aus dem Sanskrit übersetzt. Leipzig, F. A. 
Brockhaus, 1887. Geh. 18 M. Geb. 20 M. 
Der kategorische Imperativ. Rede. Zweite Auflage. Kiel, 
Lipsius & Tischer, 1903. 50 Pf. 

on the philosophy of the Vedänta in its relations to Occi- 
dental Metaphysics, an address delivered before the Bom- 
bay Branch of the Royal Asiatie Society, the 25*'' February 
1893. Bombay 1893. one Ana. Leipzig, F. A. Brock- 
haus. 10 Pf. 
Zur Erinnerung an Gustav Glogau. Gedächtnisrede, ge- 
halten an der Christian-Albrechts-Universität am 11. Mai 
1895. Kiel, Lipsius & Tischer, 1895. 50 Pf. 
Über die Not-wendigkeit, beim mathematisch-naturwissen- 
schaftlichen Doktorexamen die obligatorische Prüfung in 
der Philosophie beizubehalten. Kiel, Lipsius & Tischer, 
1897. 50 Pf. 
Jacob Böhme. Über sein Leben und seine Philosophie. Zweite 
Auflage. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1911. (ieb. 1 M. 50 Pf. 
Vedänta und Piatonismus im Lichte der Kantischen Philo- 
sophie. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1904. 1 M. 
Sechzig Upanisliad's des Veda, aus dem Sunskrit über- 
setzt und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen. 
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1897. Zweite Auflage 1905. 
Geh. 20 M. Geb. 22 M. 
Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. j\iit einem Por- 
trät und drei Briefen in Faksimile. Leipzig, F. A. Brock- 
haus, 190L Geh. 2 M. 50 Pf. Geb. 3 M. 50 Pf. • 
Discours de la Methode pour bien etudier l'histoire 
de la Philosophie et chercher la verite dans les 
systemes. Paris, Armand Colin, 1902. 
Erinnerungen an Indien. Mit einer Karte und seclizehn 
Abbildungen. Kiel und Leipzig, Lipsius & Tischer, 1904. 
Geh. 5 M. Geb. 6 M. 
My ludian Reminiscences, transl. by A. King, Madras 1911. 
Vier philosophische Texte des Mahäbhäratam. Sanatsu- 
jäta-parvan — Bhagavadgitä — Mokshadharma — Anugitä. 
In Gemeinschaft mit Dr. Otto Strauss aus dem Sanskrit 
übersetzt. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1900. Geh. 22 M. 
Geb. 24 M. 50 Pf. 
Outlines of Indian Philosophy, with an Appendix on the 
Philosophy of the Vedänta in its Kelations to Occidental 
Metaphysics. BerUn, Karl Curtius, 1907. 2 M. 
Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upani- 
shad's. Aus dem Sanskrit übersetzt. Leipzig, F. A. Brock- 
haus. Vierte Auflage 1911. Geh. 3 M. Geb. 4 M. 
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode 
des Mahäbhäratam. Aus dem Sanskrit übersetzt. Leipzig, 
F. A. Brockhaus, 1911. Geh. 3 M. Geb. 4 M. 
Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer 
Berücksichtigung der Religionen (2 Bände in 6 Abtei- 
lungen). Leipzig, F. A. Brockhaus. 
Erster Band, erste Abteilung: Allgemeine Einleitung 
und Philosophie des Veda bis auf die Upanishad's. 
1894. Zweite Auflage 190(5. Geh. 7 M. 
Erster Band, zweite Abteilung: Die Philosophie der 
Upanishad's. 1899. Zweite Auflage 1907. Geh. 9 M. 
1. und 2. Abt. in einen Band geb. 18 M. 
The Philosophy of the Upanishads. Authorised English traus- 
lation by Rev. A. S. Geden. Edhiburgh, T. & T. Clark, 1906. 10 s. 6d. 
Erster Band, dritte Abteilung: Die nachvedische Philo- 
sophie der Inder. Zweite Auflage 1914. Geh. 16 M. 
Geb. 18 M. 
Zweiter Band, erste Abteilung: Die Philosophie der 
Griechen. 1911. Geh. 6 M. Geb. 8 M. 
Zweiter Band, zweite Abteilung, erste Hälfte: Die Philo- 
sophie der Bibel. 1913. Geh. 4M. Geb. 5 M. 50 Pf. 
In Separatausgabe zu haben sind: 
die 1. Abteilung des 2. Bandes unter dem Titel „Die Philosophie der 
Griechen". Geh. 6 M. Geb. 8 M.; 
die 1. Hälfte der 2. Abteilung des 2. Bandes unter dem Titel „Die 
Philosophie der Bibel". Geh. 4 M. Geb. 5 M. 50 Pf. 
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