Viktor Kraft

Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden

이윤진이카루스 2014. 12. 31. 14:36

 

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Ai-,idemie .d&r Wissensctfiarten in Wfen 
H»wt£s*«rfellfc 263. B»oi, 1. AMta alines- 
Die (rnindrornii'ii 
wissenschaftlichen Methoden 
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Or. Viktor Kraft 
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GddriKU *iu due MlUulii Am Jfrrfltfra and .%C:LFj»j.r-.- j | ■ n .... ; n i i; li • J'iuhI- 
1926 
HQlil^r-Hclilei'-IVrnptiky A.-G. 
4i'u]Jiu R. - i Z-nrn KjiJUmticiio*. H". 3 Mil. L.lll 
— Sjir-\cli3i-di«:* l-'ntorsucli'sn?*'! xcirCh ronofofii! diir PfcaMu'-H'itim DinkifD, d". 
- ?.br Eiitfctch.uii^^MicliLeliTSi iW aflflfciiteJwclifln. Folilik. 8'. 1W;J. &iSC 
— Use crei jxiriotaLiffciien Etliikcu. $*, LUJ4, 7,555) 
Uarlsi'li. R..I Diu cfculwhe GBtDcrutSt In del Suniiiia l-Uj-mrmds vn.u Wloinar- 
Ke-nMiili. R*. ili'li, 2.70 
Wallet, A,: Die Herknuf: ilen- BiintnriLLML. i". L'IilS_ iJSO 
ItijWrJ. E 1 . : L>i* Minrntartiiiiiilanlirfl^Ti il~r Nnljuu:illiibl(i.ll|i;k hi Allien. 
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- [II. fflierlk'fhnuiijwcsachiclihi 110*1 JiciifchuLUkr.t-l te il«* wugHnnr'Utiui 
Lilpw II. u«l . onnrtui Litim «c B n . i&ii:. £.— 
fiftHiiki. tf.r ]>i* HfrLiolliek flu* Jt!iTiitcrj|[D2le£iuiiu 111 Wuiri Mill lLarns) 
uul alire HiliHlsclirift&D, 8° l-'i". iJO 
— Din L'ri..iohi--'-:M DlW-MUt Iji <leii UJtwlanHjiiwn fl*T feo^Lbua l-rt Wj&n 
I, Tall, I-,'. I ;■!... Oi> 
<Jiililh.|!i. l Jn;r, l r ! KrltlfljLsh* BaitrllgQ Sttia 41., -IS. "nd ■!::. Hnsfe .^cs LLviiw. 
H?. 1:1 i vi. i.5i> 
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OflSII jiCl'K, Tli.; • PlMmim/he An&;i.lx« ITt ]>io CompuuiLiici dor pfivverfcg 1 ". 
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lJ3fl*T, A.: -\liii:iu:i-l i .-kMi> , riiiiin!iii:ii|i , iei-. suflgdi&fl ' Aliblingjgkeitiberielnuiijoii: 
&*. Lfti-Ti IML' 
— NaliiTWMWtianliifl imd PhUnsopliiie. L 6K lQil), .=■. |n 
— 1L S\ mi, r !.. 
Ui.iflH;l«:*i. K. tf,; KSojiilusMia "le? klh;?-ir-li.iTi Volior toil deii iihy^lUiillsiiliSL. 
EI^Buti'-'inrtrtii 4q9 : W**o5J*. L. imd II. &«■, INCrW. a-j>& 
C.I f. &*, 1910. 2.70 
^ iv. fi*. ilk 1 1 . us 
tliiL.tisgr^i'i. K_ Vnii: Die Arijl-Z'iJ-riij'i'i-.li.iiidt'ihtjU-HU. Jvir AYU'iu.<r L3>.>T licit lin-lSiuk:, 
I. H». ililU. 5,10 
[L S*. Jilt;:. 4.50 
Hiiliriii'i^ TJui Thnm ys U«pi4oT, T.i*ni*lxLo: TrikliniDf, Manuel .\liif..-.:iii'iiiln>:. 
Eiu.d Stuflji! ilimr tli™n SpTfltih^sTjraiiijii. S', IMS, ^20 
— I >» 1 r I'lerkfilt t'-iT *li- i! fi.B7p.liir ^ r . ITilfi. ii^tj 
KjiJJllkfl,. K-i Ails dMrWttlidWi .Jfe» liiir-iii-tlr &. 1 022. t"U 
— D-Ja iiUxutii arlLBlUi.u« Ali^init n!&- Vc=rsi]Ltliii,;*.u- ilfrTVeikti Aii^aitiDR. 
■ i-* il". 1.110 
Jiatalim.'rli.^ .F. ^f.! .Micn.^L.uilisiiuH Krji'j^Liiir rui Ki''i|wi?nifl"n-|i^l im 15. nud 
I.&. JalirhriniJert. L ItnLLciu^lii: iSflsmttlav iurn H».«f»* Muliuuini.ftils U, dut 
BroWenr, UFjt — H6l. JJit '* Tafeln uad 5fr TeiLiiitilirii. I& HiL-S, -'T..-.:.! 
Erelblg, .?. K.; dHar VV..Imi*lmur.f: tt 1 ^ 3*32. \.\\\ 
Akademie der Wissenschaften in Wien 
Philosophisch-historisehe Klasse 
Sitzu II gsberi elite, 203. Band, 3. Abhandlung 
Die Grundforraen 
der 
wissenschaftlichen Methoden 
Von 
Dr. Viktor Kraft 
a. 1'rofessor an ilrr University! Wien 
Vurgelegt in der Sitzung ;im 2i). April 1925 
<_Jedmckt aus don Mitteln <les Jerome- iuid Margaret Stonuorough-Fonds 
1925 
Holder-Pichler-Tempsky A.-G. 
Wien und Leipzig 
Koinmisstons-VerliJffer der Akademie der Wissensdiiiiten in Wien 
Druck yon Adolf Hokhansen in Wien. 
I. Die Methode der Wissenschaftslelire. 
1. Der doginatische Charakter der gegenwiirtigen Er- 
ic enntnis the orie und die Notwendigkeit einer metbo- 
disclien Begrttndung. 
Auch jener Teil der Philosophic- der heute in Hinsicht 
auf Wissenschaftlichkeit ihr fortgeschrittenster ist. die Er- 
kenntnistheorie. zeigt im Grunde burner noch die Ziige des 
alten Bildes: Sehulen und Richtungen stehen sich gegenuber. 
fiir jede wiehtige Frage gibt es mehrfache Antworten und das 
allgemein anerkamite Ergebnis ist diirftig genug. Die eine Ur- 
sache dat'iir. vielleicht die hauptsjiehlichste. darf man wohl in 
der Art und Weise sehen. wie die Erkenntnistheorie auch 
gegenwartig nocli bei iliren Problenistellungen und -Beant- 
wortungen vorgeht. Sie kommt zu ihren Ergebnissen teils auf 
dem Weg einer Analyse des BewuGtseins fiberhaupt (z. B. 
Ziehen. Cornelius), teils (lev Erkenntnis im allgemeinen (so die 
Xeu-Kantianer). Diese Analyse vollzieht sieh gewohntich nicht 
an konkretem Material, sondern sie bewegt sicli in allgemeinen 
t'berlegungen: sie entwickelt logische Konsequenzen aus den 
eingefiihrten Begriffen und Satzen. sie argumentiert in einer 
hochst abstrakten Dialektik. sie polemisiert gegen andere 
Meinungen, aber sie bemuht sich nur selten um einen mcthodi- 
sehen Naclnveis ihrer Aufstellungen. Eine Basicrung auf 
das tatsachliche Erkennen. eine Verifizierung am Konkreten 
ist nicht iiblich. Die Erkenntnistheorie geht fast durchwegs 
d o gm a t i s c h von sie stellt ilire Ergebnisse einfaeh bin. sie 
reiiit Bel)au])tungen an Beliaupttingeu, olme zu zeigen. wieso 
sie dazu gekoinmen ist. Hire Ergebnisse sind — im giinstigsten 
Fall — intuitiv gewoimen: die Unterlagen dafiir bleiben 
jedoch im Dunkeln. Aber allzuoft sincl die erkenntnistheoreti- 
selien Aufstellungen auch bloBe Knnst rukt ionen ohne 
Beziehung zum wirklichen Erkennen. Das wird ihr darum so 
leieht. weil sie sich fast ausschliefilich in Allgemeinheiten aller- 
hochstcn Grades bewegt. diese aber nur selten an das konkrete 
Erkennen ankntipft. und auch dann nur in einzelnen Beispielen 
l* 
4 V. K i a i t. 
und Ilinweisen. So kanu sie willkfivlich konstmieren und fte- 
hauptungen aufstellen, well ein Widerspruch derselben mit den 
Tatsaclieu des Erkennens nicht offenkundig wird. 
DaB das nicht cine Ubertreibung oder eine vorsclmelle 
A^erallgemeinerung und Aburteilung ist, liefie sich durch eine 
Analyse erkeuntnistheoretischer Sehriften dor Gegenwart. 
und zwar audi fiibrender Denker, gesclnveige denn von Jiin- 
gern und Sehulorn, in Hinsicht aid' ibren methodisclien 
Charakter unschwer erweiseu. Mir erseheiut alter die dogma- 
tische und konstruktive Art. in der die Erkenntnistheorie ge- 
wohnlich vorgcbt, so oi'feukundig, da 6 ich die ausfiihrliche 
Analyse einiger erkenntnistheoretischen Sehriften der jiingsten 
Zeit, welche hier folgtc, gkmbte streichen zu dtirfen, urn Raum 
zu sparen. Wer mit den Anspriichen an Wissenschaftlichkcit. 
wic sie in den Speziahvissenschaften iiblich sind — und nicht 
blot! in den Naturwissenschaften, auch in den Geschichts- .und 
den Sprachwissenschaften — an die Erkenntnistheorie heran- 
tritt, wird es nicht bestreiten. daB die Erkenntnistheorie im 
allgemeinen auch heute noch auf eine sehr unsolide YVeise vor- 
geht. Ein krasses Beispiel dogmatischen Verfahrens und be- 
ziehungsloser Allgemeinheit .bietet. Cohens Logik der reinen 
Erkenntnis ( s 1014). die gleich in den erst on Abschnitten die 
sclnverwiegendsten allgemeinsten Satze einfach hinstellt: die 
Erzeugung der Erkenntnis aus dem reinen Denken obne An- 
schauuug (S. 13), die Identitat von Denken und Sein (S. 15). 
den Ausgang der Erkenntnistheorie speziell von der mathe- 
matischen Xatunvissenschaft (S. 19)! Und dabei ist es dock 
Cohen gewesen. der die e r k e n n t n i s >t h e o r e t i s c b e Auf- 
fassung Kants (gegeniiber der metaphysUchen) vor allem ein- 
geleitet und die Vorherrschaft der Erkenntnistheorie im letzten 
Drittel des 19. Jahrbunderts mitbegrimdct hat. Einige wenige 
gibt es allerdings, welche Erkenntnistheorie methodisch aid 
Grund der tatsachliehen wissenschaftlichen Erkenntnis treibeu. 
In erster Linie sind da llaeh und Poincare zu nennen. auch 
Enriques. Aber auch Vaihinger. Becher, Dingier, Reichenbacb. 
Schlick suchen ihrc erkenntnistheoretischen Aufstellungen 
vom cinzelwissenschaftlichen Erkennen aus zu enveisen. 
Damit ist aber auch schon der YVeg klar, der beschritten 
werden nuifi. wenn es anders werden soil: die Erkenntnis- 
Die ' 'i a i id! n i iif en ilrr >\ i-.-.r-n.-chiisi liclti-n Md lioilrJi. 
lhciu-ie ni uii ihre Aufstelhmgen durdigangig b eg rli n d e n 
vrie jede and ere Wissenschaft. Sie muB niethodisch ihre 
Grundlagen aufsuchen und von diesen aits ihre Allgemein- 
heitea erarbeiten. den Kachweis fur sic evbringcn. sic iiicht 
eini'adi intuiliv und dngmatisch hinstdlen. Dor Zti stand will- 
ktirlielier Konstmktion \vird sofort unmoglich, wctin die Er- 
kemitnistheoi'ic gchnlten ist. iinmer wieder an eine Instanz zu 
appellieren. "\velche ihre Behauptungen unleugbar und ein- 
deutig als rich tig oder falsch enveist. 
Cud diese konkreten Grundlagen liegen wenigstens fur 
jenen Toil der Erkenntnistheorie, weldier sieh mil der wis- 
sc n soli a f t lie hen Erkenntuis befaBt. fur die Wissen- 
sehaftslehrc. in reidiliehstem Mail offen outage. Die Erkennt- 
nis. wie sie in den Wissensdiafteu konkret und tatsachlich 
vorliegt. inn 15 iliv die Wissensehaftslehre die Tatsaeheiignind- 
lage bilden. von der sie ausgehen und auf die sie rekurrieren 
imiB. Die Tat-sachlichkeit der msspiischaftliehen Erkenntnis 
ist davum fur sie eine erste und unbedingte Yoraussetzung. 
Man hat allerdings in kntischer Rigorositat geglaubt. 
audi diese Yoraussetzung fallen lassen zu niussen. Die Er- 
keiiidiiistlieorie darf Erkcnntms nicht :ils eine feststehendp 
Tatsaehe vornussetzen. sondem soil sie iiberhaupt erst be- 
griinden. Den Ausgang'spnnkt der Erkemitnistheorie nmS da- 
her eine vorlaulige ^kepsis in bezug* auf alle Erkenntnis bilden. 
Alio die EinzchWssensrhaften kminen nnr als A n s p r n e h 
darauf. Erkenntnis zu spin, gelt en; (lessen Bereditigung ist 
erst allgeinciu zu enveisen — (lurch die Erkenntnistheorie. 
Diese soil sieh aufbauen als die einzige vijllig voraussetzungs- 
lose Wissenschaft. Das ist das Programm. ivie es vor allem 
Volkelt 1 entwickelt hat. .Erkenntnistheorie ist die Wissen- 
sdiaft voni Oultigkeitsaitspruch des Erkennens.' Auch 
Wind el band in seiner Eiuleitnng in die Philosophic (S. 194): 
.Die 7 , at>;udie. von der die Erkenntuistheoric ausgeht. ist nioht 
die. dafi es Erkenntnis gibt. sondern daB -\vir sie in den 
Wissensdiaflen zu hahen b e a n s ii ru c h e n : und die Auf- 
gabe der Erkenntnistheorie ist. es. zu untcrsudien, ob dieser 
Ansprueii beroditigt ist.' 
Ganz abgesehen davon. daB man gar nu-ht ini Ernst 
unsere Wisseuschaften bezwdfelu kann — wenn man a her 
6 V. K r a i t. 
eimiial alle Erkenntnis problematisiert hat, gibt es gar niclit 
niehr die Mogiichkeit, sic wieder zu konstituieren. Demi wenn 
die Erkenntnistheorie so wie bei Volkelt mit einer subjektiven 
Selbstbesinnung anhebt imd ihr dabei nun an einem Puiikt 
die GewiBheit aufleuchtet. daB eine gewisse Art von Ge- 
dankenbeziehung — die detiknotwendige ■ — eine allgeinein 
giiltige ist. nicht mehr eine lediglieh subjektive. so ist das 
doch audi nur ein subjektives Erlebnis, eine personlidie 
Cberzeug'ung'. ein Glaube, der so subjektiv sein kann wie der 
an die Macbt der Gestirne. Man komint dainit liber den TJereieh 
des Subjektiven keineswegs liiuaus. Es setzt also eine der- 
artige Aufgabe an die Erkenntnistheorie voraus, daB wei lig- 
htens das erkenn t n i s t h eo r et i s c he Resultat von der 
allg'emeinen Problematik ausgenommen sei. daB es, obsehon 
nirgends sonst, so doch wenig'stens auf erkenutnistheoretischeni 
Gebiet wirklich Erkenntnis gibt — der typische Selbstwider- 
sprucli des Skeptizismus! Sollte die Erkenntnistheorie diese 
Aufgabe losen koniien. so nitiBte sie tiber ganz besondi*e 
Wege der Einsicht. verschieden von denen aller Spezialwissen- 
schaften. verfiigen. Sonst steht sie vor der unniogliehen 
Situation, den Xacliweis der Erkenntnis mit denselben Mitteln 
zu fiihren. deren sonstiges Ergebnis ftir problematisch 
gelten soil. 
Das Letzte. um das es sieh der Erkenntnistheorie liandeli. 
kann daher niclit der Naehweis sein. daB die Einzelwissen- 
sehaften mit Kecht Erkenntnis zu sein beanspriichen, — was 
eben selbst eine Erkenntnis sein miiBte. also Erkenntnis iiber- 
liaupt schon voraussetzt! — : das Letzte fur die Erkenntnis- 
theorie ist gar nicht die B e re c h t igung von Erkenntnis 
iiberhaupt. sondern die T a t s a c li 1 i c h k e i t von Erkenntnis. 
"Was uns wirklich Erkenntnis verbiirgt und gewiB macbt, ist 
doch niclit irgeudein drama.tisches Ereignis in unserem subjek- 
tiven Erleben, ein Innewerdeu, ein Gedankeublitz. sondern die 
Kiille und der Xusamnienhang- konkreter Erkenntnisse. die sicli 
gegenseitig so wunderbar stiitzen und tragen und immer weiter 
fruciitbar werden. 
Wenn aber nun die tatsachliehe Erkenntnis in den 
Wissenschaften dasjenige bildet. was der Erkenntnistlieorie. 
speziell der Wissenschaftslehre. als ihr spezifisches Material 
Die (ti'iuulfornieii tki' wi^sen^liaitliclioii Melliaden. i 
geg'eben ist, dann mufi sic es audi wirklich ihren Unter- 
suchungen zngrunde legem sie muB wirklich von der in den 
Wissenschnften vorliegendeu Erkenntnis ausgehen und ihrc 
Ergebnisse auf sie in methodischer Erarbeitung begriinden, 
wenn sie das allgemeine Wesen der Erkenntnis und die Be- 
dmgungen ihrer Geltung feststetlen will. Die Erkenntnistheorie 
geht jedocli im Prinzip heute noch so vor wie die Naturphilo- 
sophie vor Galilei: Was sie aus den tatsachliehen Verhaltnissen 
des Erkennens in den Wissenschaften fiir ihre Begriffsbil- 
dungen aufnehmen muB — mid das ist ganz nnvermeidlich, 
deun oline das fehlt dieseu der Inhalt und die Direktive — , 
das nirnni't sie s t i 1 1 s c h w e i g e n d auf. nicbt often auf einem 
methodischen Weg. Es sind Kenntnisse, die verstohlen ein- 
flieften und mitwirken, die als stille personliche Voraus- 
setzungen auBerhalb der ausdriicklichen erkenntnistheoreti- 
schen Eutwickhmgen bleiben — so wie die physikalischen Er- 
fahrungen hinter den naturpbilosophischen Spekulationen der 
Peripatetiker det- Mit-telalters und der Renaissance. Dafi dabei 
<iie tatsachliehen Yerhaltnisse im wissenschaftlichen Erkennen 
]iur unzureicliend hevucksichtigt werdeu, nur in zufallig her- 
aiisgegriffenen. uuvollstandigen Ansschmtten. ist mir natiirlicb. 
Die Zugrundelegung der tatsachliehen Erkenntnis muB in 
me t h o d i s e b e r Weise gescheheu. So wie die Naturwisseu- 
schaften seit Galilei gelernt haben. die Basierung auf die Tat- 
sacheu der Erfabruug ausdrueklich und methodisch dureh 
Experiment und Beobachtung' zu vollziehen, so muB sieb auch 
die Wissenschaftslehre bewuBt und methodisch auf die tatsiicb- 
liclie Erkenntnis in den Wissenschaften giiinden. Wenn sie 
ihre Ausfiibrungen gelegentlich durch einzelne Beispiele 
aus den Wissenschaften, aus einem beschritnkten Gebiet der 
Wissenschaft. illustriert. so ist das naliirlic-h ganz unzulang- 
lieh: es sind eben imnicr nur ad hoc herausgegrift'eue, nach 
Bedarf ausgewahlte Beispiele. abcr keine legitimierenden 
Nachweise. 
Es jierrscht nocli immcr jencs Unverstaudnis fiir die Be- 
deutung des konkretcn Falles fiir die Erkenntnistheorie und 
jeue Aiischauung. wie sie Kant, in der Vorrede zur 1. Ausgabe 
der .Kritik der ivinen VernuniV ziini Ausdruck bringt. Er sieht 
in der .Deutlichkeit der Anschauungen. das sind Beispiele oder 
8 V. K r n f I. 
andeie Erlautemugen in concreto', etwas, das .nut- in popu- 
larer Absieht notwendig' isl. bloKo Erleichtenmgen. die .die 
eigentlichen Kenner der Philosophie . . . nicht so niitig' habeu'. 
Darnacli wiire die konkrete Erkenntnis nur beispiels- 
weise heranzuziehen, blofi ais Erlauterung fur allgemeiue 
Ausfiihrungen. Das bildet aber gar nicht ilirc eigentliche Rollc. 
Die tatsachliehu wissenschaftliehe Erkenntnis soil vielmelir 
herangezogen wevden als der konkrete Fall, an dem die .Btruk- 
tur der Erkenntnis erst studiert wird. an dem man sehen kann, 
wie Erkenntnis t-iitsiU'hlich besehaffen ist; sie soil die iment- 
behrliche und unersetzliche Unterlage bilden. von der aus all- 
gemeinc Sa'tzc erst metliodiscb gewonnen werdeu. 
Die Wissenschaftslehre nuili die einzeliien Wissenschaften 
auf ihre erkenntnistheoretische Eigenart bin eiugehcnd unter- 
suchen. d.h. wie si« sieh unler dem Geltungsge^jchtspmikt dar- 
stellen. Sie mnti die einzelne Wissenschaft daraufhin analy- 
sieren. w;is die Eigenart Hires Gegenstandes und ihres Er- 
kenntniszieles ist und wie sie metliodiscb vorgebt: auf welciie 
Weise sie Hire Siitze begriindet. auf welcben ErkenntnisgruiuD 
lageu sie sieh aufbaut, welctie allgemeinen Voraussetzungen sie 
luacht und welclic Pvinzinieu sie zugmnde legt. Die erkenntnis- 
tbeoretisebe Analyse der konkreten Wissenscbafren muB das 
Fundament bilden. auf dem sieh alloin cine wirklieii vrissen- 
sehaftliche Erkciintnistheorie aufbauen kann. (.So hat audi 
sehon Reiehenbach ~ von einer .wissenschaftsanalytischeu 
-Methode' in der Erkenntnistbeorie gesprochen.) 
I. T m dabei alter zu Ergebnissen zu gelangeu. die nicht 
IdoB i'iii' eine einzelne Wissensebaft gelten. inn das YVeseni- 
liche von Erkenntnis uberhaupt festzustellen. mutt die Wissen- 
scbaftslehre sieh audi einer v e rgleie h e n d en Betrachtung 
bedienen. Sie mufi die Erkenntnisweisen der einzeluen Wissen- 
sehaften nach ihrer Eigenart in den oben angegebenen Hin- 
siehten vergleiehen un<l das Gleiebartige darin herausheben. 
SiemulH;a.t1ungsbegi'ifTsbildiAngen vollziehen, nm u\ enuittcln. 
welche Art en wissenscbaftlichen Erkennens bestehcn; und 
sie mutt iibergreifende Zusammenhangc zwiscben den Wissen- 
sehaften berausstellen. von der Art. welche genieinsame Voi:- 
aussetzungen. Grundbegriffe und Vrinzipien. sie verwenden. 
Die .Kategorien' und .Grundsatze' kann man iiherhaupt nur 
])K' (ij-uiitltoniLi'ii del- \\'i>SAMiML'lmftli<'ln'ii Mt.'t linden. '.I 
auf diese Weise metliodisch nachweisen. Bci Kant werden sic 
iji einer arcbitektonisehen Konstmktion einfach liingestellt. 
Windelbaud ' hat es bereits ausdrueklich zugestanden. daB die 
Kategorien nicht aus einem Prinzin deduziert, sondcrn nur 
eben konstatiert werden konnen. Wenn man die GIrund- 
begriffe und Prinzi]>ien nun nicht bloB zufallig entdecken. son- 
de m methodUch ermitteln und vullzalilig fesfstellen will, so 
kann das nur (lurch eine Yergleichuug der Griindbegriiie und 
(jrund-voraiissetzungen der Wissenschaften geschehen — was 
allerdings erst wieder durchgefuhrtc Axiomatiken der ein- 
zelnen Wissenschaften voraussetzt. 
Xur auf deni Weg einer vergleichendeu Betraehtung der 
wissensehai'tsanalytischen Resultate kann die Wissenschafts- 
lebre ihre Satxe wirklieh fur das gauze Gebiet des wissen- 
schaft lichen Erkennens zutreffend crweisen und den Nach- 
weis dafiir geordnet und alio Wissenschaften unrfassend geben. 
indem sie ihn nicht immer wieder fur jede einzelne Wisseu- 
schaft gesondert. sondern fur die Art en wissenscbaftlieheii 
Erkennens gibt. 
Dam it ist also klar. wie ein solider. methodischer Anf- 
l\ui der Erkeimtttisstheorif, 1 . smveif sie Wissenschaftslehre isi. 
vor sich gehen muB. Er erfordert zuerst eine Feststellung des 
tatsachliehen Wissensehaftsbestandes als ihre Orundlage. Die 
Einzclwissenschaften mussen gesammelt und jede in Hirer er- 
keuntnisthenretischen Eigenart deskriptiv bestimmt werden. 
Das habeu erkeniitiiistheoretisehe Mouographien der Einzcb 
wissenschaften zu leisten — die ( j s allerdings gegenwlirtig 
not'h viel zu wenig gibt. Dieses Material muB man dann ver- 
gleiclien und zusammenfassen. urn daraus die Art en wissen- 
schaftlichcn Erkennens uml die iibergeordneten Prinzipien 
und sehlieBlich das (iemeinsame und damit Wesenhafte aller 
wissensehaftlichen Erkenntnis iiberhaupt zu ermitteln. Die 
Erkeuntnistheorie bant sich damit auf in einer nionographi- 
>ehen w i s s e n s c h a i t s a n a 1 y I i s c h e n und in einer v e r- 
gl e i c h e n d e n Wisscnschaftslehre: erst darans erwitchst 
eine a 11 g e m e i n e syst em a t i s c h e Wissensehaftslehre. 
weh'he alle weitergehenden Fragen (nach dem Wesen 
der Wahrheit. deni Sinn der Realerkenntnis usw.) be- 
haudelr. 
10 V. K iii. J'l 
In der vorgezeiehneten Weise ist es oifenkuudig der Weg 
voni Besonderen zum AUgemeinon, der induktive Weg, den 
die Erkenntnislheorio einsehlagen muB, um iliren Dogma - 
tismus zu iibenvinden und ihre Ergebnisse wissenschaftlich zu 
begriinden. Es ergibt sich damit, urn das Eeclmersche Wort in 
bezug auf die Asthetik zu bentitzen, erne Erkenntnistheorie 
.von unteir gegeniiber der .von obcn'. wic sic iiblicli ist. 
2. Wisseiischaftslehre und Wescnsintuition. 
Wenn man aber nun wirklich von der Erkenntnis, wie sie 
tatsachlioh in den Wissenschaften vorliegt. ausgehen will, so 
kann das natiirlieh nur der gegenwartige Bestand der Wissen- 
schaften sein und ihve geschichtliche Enbvicklung bis liieher. 
Damit hat man aber nur eben einen bestimmten historischen 
Quersdmitt der Wissenschaftsentwicklung vor sich; und jeder 
solehe ist naturgemaB etwas Unfertiges. Zutalliges, Mangel- 
haftes. Die Wissenschaften weisen in ihrem inhaltlichen Zu- 
sammenhang nocli groBe Lueken aid. sie sind mit lrrtimiern 
und schiefeu Halbwahrheiten durchsetzt. Blanche grenzen sich 
iiudeutlii'h oder fehlerhaft gegen die anderen ab. maiiche sind 
in ihren Methoden unsicher. Man braucht sich nur in einen ein, 
zwei Jabrhunderte frtiheren Quersdmitt der Wissenschafts- 
entwicklung zu versetzen. urn das alles mit groBter Deutlidi- 
keit gegemvartig zu haben. 
Diesem jeweiligen historischen Znsland stcht die Wissen- 
sdiaft gegeniiber. wie sie allein als eigentliche Wissenschaft 
vorschwebt: als unverriickbares .System unwandelbarer Er- 
kenntnisse in klar gegliederten Ziisammeiiiiangen, den Einzei- 
wissenschaften. DaB sidi mit dieser zeitlosen Wissenschaft 
ein liistori sclier Wissenschaftsbestand. niemals deekt. audi 
nicht mit einem Aussdmitt derselben. ist klar. Er kann einen 
solehen nur als seinen unverganglidien. uberhistorischen 
(jelialt neben viol em rein Zeitbedingten, Niehtdazngehorigen 
in sich enthalten. Man mnB daher die reine. vollkommene 
Wissenschaft und die wi rkli eh e Wissenschaft einer be- 
stimmten Zeit mit Hirer rnvollkommenheit unbedingt un- 
bedingt aiiseinanderltalten: man darf nieht die erne fiir die 
andere nehmon. 
T J if < iniiKltui'iiH'ii tii'i \\"is>M-ii-clLatUi<'licu Mctliiulf n. 1 1 
Wenn tuaii also das. was als Wissenschaft zu einer Zeit 
vurliegt. cmpirisch feststellt mid untersucht. so hat man damit 
nnr ein Instoriscbes, ^andelbnres Cebikle von Wissenschafl 
zugrunde gelcgl. in deni sich Wahves und Falsifies. Kudyul- 
tigcs und Vergang'liches in unentwirrbarer Weise vermiseiii:. 
Der YVissenschaftslehre ist es aber nm die rein c Wissenschaft 
sin tun. Was soil ihr da ein induktiver Auflmu aui' die tal- 
s a c h 1 i c h o m issenschaftliche ErUeuntnis niitzcuV Bedeutet 
er nicht g-eradezu cine IiTeftihrung' fiir sieV Ist er nuter diesen 
Hmstanden nicht g-jinzlieh verfehlt und ausgeschlossenV Das 
ist der gTiuulsatzliche Ei invalid gegen eine induktive Begrlin- 
ilung der Erkenntnistheorie. wie or sich unter dnn Gesichts- 
punkt der idealen Wissenschaft und Wissenschaft slehre ergibt. 
Gibt es aber einen Weg zur wahren, uberhistorischen. 
.ewigen' Wissenschaft selbstV Einen solchen Weg hat nun 
Husserl zu zeigen untevnommen. 
Was die Wissenseliaftslehre ziini Gegenstand hat: die 
Wissenschaft uberhaupt und die Wissenschaften als .so und 
so g'eartete systematische Einheiteir i (I., 8. -.")) — das ist 
nicht etwas empirisch Wirkliches. Eine Wissenschaft bestebt 
so iveuig' ivie i» den Biiehern aneh in den einzelnen iatsiudi- 
lichen .Erkeniitnisakten'. BewutHseiusvorgangen dieser odor 
jenor Individuen. sondern sie besteht in Wahvbeiten; d. h. sie 
besteht nicht in den einzelnen. individuellen. zeitlieh bestimm- 
len Erkenntnise rl e bn i s se n als solchen. sondern nur in dem 
objektiven Gohalt darin, der fiir alle erkeunendeu Individuen 
einer und derselbc ist. Dieser identisehe Gehalt. die .Wahr- 
heif. d. i. der wahre Satz. ist aber weder mit detn wirklichen 
physiseben ErkenntnUevlebnis. noch mit einem Bestandteil 
oder foment an diesem identisch. sondeni er wird im Erlebnis 
innner nur g-emeint. bedeutet. .intentional erfai.lt' 4 (I.. S. 240j. 
.Der Mannig'i'altig-keit von individuellen Erkeniitniskoin- 
plexionen. in deren jeder d i e s e 1 b e Theorie — jctzt oder ein 
andevesmal. in diesen oder jenen Subjekten — zur Erkeuntnis 
kommt. entsprieht ebeu diese Theorie als der ideale identisehe 
Gdudt. Sie ist dann niclit aus Akten. sondern aus vein 
idealen Elementen. aus Wahrheiten. aufgebaut und dieses 
in rein idealen Formcn. in denen von Gruud und Folge' (ebd.). 
Da der Gegenstand der Wi.ssenscliaflslehre. die Wissenschaft. 
12 V. K i-ii II. 
:ilst) ctwas 1st. das ideal, nicht real existiert. kann or audi 
nicht an Tatsachen dor Erf alining" erforschbar sein, sundeni 
verlangt eine nichtempivische. apriorische Erkenntnis. 
Die Wissenschaft nnd die Wissenschaften kommcn als 
Gegenstande der Wissenschaftslehre ferner nicht in ihrcn zu- 
falligen historischen Auspi-agungen. in ihrem historischen Da- 
sein, auch nicht als Gat tun gen empirisehdiistorisclier Bil- 
dungeu in Betracht. soudern in ihrem We sen. d. i. in der zeit- 
losen nnd dascinsfrcien Art. wie sie das ideale Wesen der 
Wissenschaft iiherhaupt und der cinzelnen Wissenschaften als 
soldier ausnnicht. Sokhes Wesen la'fit sich nicht durch Er- 
f ah rung bestimmen. weil es der Erf ah rung- nicht angehort. 
sondern es wird intuitiv erkannt. Es ist in unniittelbarein 
Anschauen adiiquat faBbar r ' (S. 814). Das Wesen eines Gegen- 
standes leuchtet auf Grand der anschauliehen Vorstcllung 
eines solchen Gegenstandes auf. Eine solche .Wissensanschau- 
inig- ist aber nichts weniger als Erfahrung' im Shine von Wahr- 
nehmung. Erinnerung-'oder gleichstehendeu Akten und ferner 
nichts weniger als eine empirische Yerallgemeinerung. die in 
ihrem Sinn individuelles Daseiu von Erfahrung-seinzelheiten 
existenzial mitsetzt. Die Ansehauung erfafit das Wesen als 
Wesenssein und setzt in keiuer Weise Dasein' ■' (ri. 310). Es 
ist cine erfahnmgsfreje. a p r i o r i s c h e A n s c h a u u n g 
(Intuition), weil es eine uiunittelbare Vergegenwartigung ist. 
Husserl setzt also an Stelle einer induktiven Wissen- 
schaftslehre. die fiir ihn ein durchaus verfehltes. ungeeignctes 
Verfahren bedeutct cin intuitives Erfassen des Wesens der 
Wissenschaft (und der Einzelwissenschaften). Die Wissen- 
schaft si eh re fiillt nach Husserl mit der Logik zusammen 
und diese ist. oine .apriorische theoretische nomologische jd. i. 
eine, die (lurch .systeinatische Einheit des BegTiiudungszu- 
sammenhanges' und (lurch .ideabgesetzliche Allgemeinheit' 
charakterisiert ist j Wissenschaft. die auf das ideale Wesen dor 
Wissenschaft. als solcher, also nach Seitcn ihres Gehaltes an 
systcmatischeu Theorien mit AusschluG ihrer empirischen. 
anthropologischcn Seite. Beziehung hat 4 (1.. S. 242). Die Er- 
kenntnistheorie allerdings. die ein Glied der Phanomeiiologio 
bildet. ist keine nomologische. sondern eine deskriptive 
Wesenswissensdiaft r ' (S. 123). aber doch audi eine Wesen ?- 
.Die G-rundforraen der wissenschaftlielion llethodeu. 13 
wissenschaft- unci da rum intuitiv. Die Wissenschaftslehre ge- 
hiirt also jedenfalls. ob sie nun als Logib odor als Teil dor 
Erkenntnisfheorie gedaeht ist. zu den Wesenswissensehaften. 
We sen "\vird von llusserl der Tatsache gegenuber- 
gestellt. Diese, wie r^ie dureh die Wahrnehmung gegeben wivd. 
isl. burner elivas Individuelles: und individuell ist sie fur 
Husserl durch ihr Daseiu in einem bestimmten Zeitpunkt und 
[eventuell aiir-h!") an einem bestimmten Ort des Raumes in einer 
bestimmten Gestalt. Jede individuelle Tatsache hat aber audi 
einen .Realitiitsgehalt', der ebensogut. in jedem beliebigen an- 
deren Zeitpunkt und .an jedem beliebigen Ort mit jeder belie- 
bigen Gestalt sein konnte 1 '"' ^S.8). Dieser Reaiitatsgehalt. .das 
ini selbsteigenen Sein eines Individuums als sein Was Vor- 
findliche'. bildct das em pi rise he Wesen desselben; und 
dieses wird als .das entsprechende roine Wesen oder Eidos* 
erfafit. in dem die .erfahrende oder individuelle Ansehammg in 
Wesensanschaimng (Ideation) umgeivandelt' ivird ''' (S. 10). 
Jede Tatsache hat ihr Wesen und .alles zum Wesen des in- 
dividuums Gehorige kaan audi ein anderes Individmim 
habeir '• (S. 9). Das reine Wesen. das ainter Wesenswahr- 
heiteu vei'schiedenev AllgerneinheUsstufe' steht, ist etwas an- 
deres als ein fa eh das individuelle AVas : . Am individuellen 
Gegenstaud ist .ein Bestand an w e s en t lie iie n Priidika- 
bilien. die ihm zukommen mtissen. damit ihm andere. sekundare. 
relative Bestimmungen zukominen konnen'. zu uuterscheiden. 
Die Tatsache i>t fern or real, das We^en dag'egen irrenl 
oder ideal. Demi es kann nie zeitlich-rauinlieh individualisiert 
sein. wiihrend Rcales individuell ist, 
Jede Tatsache. andividuclles Sein jeder Art ist jendlichi 
zufallig"" (S. 9). Das Wesen dagvgen hat Notwendigkeit in 
sich. sof em es als .eidetische Besonderung und Yereinzelung 
eines eidetischen allgemeinen Sachvorhaltes 1 ° (S. 15), d. i. a.Is 
Spezifizienmg eines allgemeinen Wesens zu begreifen ist. 
Was Husserl somit als Wesen den Tatsaehen gegenuber- 
slelll. wird vor allem cladurch eharakterisiert. daft es nieht. 
an einer bestimmten Stelle in der Zeit und [event uell] im 
liaum lokalisiert ist und deshalb nicht real ist. und dafi es 
'nieht individuell. soudern allgemein isi. Solehes Wesen ist z.B. 
.Ton a' i!V'«ren fiber den realeu Touen a doit und damals auf 
14 V. Kraft. 
oiner Up\ge odor ehi«n - Ohoo usw.. .unci zuolierst Ton fiber- 
liau.pt ' gegenuber den individnellen Tonen. die jemals wirklidi 
waren' ; i'.S. 0). Solches Wesen ist audi .ganze Zahl' gegeniiber 
den einzebien ganzen Zahlen 1. -. -3 usw. in inf. 
Die Art. wie das Wesen uacli Husserl erkannt wird. 
ist das intuitive Erse liaucn, Dieses findet aber ducli 
nicht so vollig unmittelbar und selbstaudig und olme Yor- 
bediugungon statt. wie uns SmneseiiHlrtU'ke zutoil werden; son- 
dern man mufi von empirisdien Ansdiauungen (Wahrneh- 
mung'en, Erinnerungen. Pbantasievorstellungen) der indivi- 
duellen A'ereinzeluiigen. die einem Wesen ontspredien. aus- 
gehen. Yon den empirisdien Phanomenen gelangt man zur 
Erfassuug des Wesens duroh luehrfaehe Aussdialtungen. 
.Reduktioneir. Die allgcnieiiiste .Reduktion' ist die .eidetische 1 . 
.die voni psydiologisdien Phiinomen znm reinen Wesen . . . 
ubei'fuhrt - '' (^. 4). Dadurdi wird der T;i t s a c liengesidits- 
punkt ausgesdialtet und die Einstellung auf das Wesen her- 
gestellt. Aber es bleibt nodi iinnier eine Wesonslelire real or 
Pbanomene. .Andere Redukttonen. die spezifisdi transzenden- 
talen, reinigeu die psydiologisdien Pliiinoinon von dem, was 
ihuen Realitat und dam it Kinordnung in die reale Welt ver- 
loilit" 1 fS. 4). .Es liegt in der Eigenart der Wesensansehaunng. 
daft eiu Hauptstiiek individueller Ansehauimg. namlich ein 
Ersdieinen. ein Sichtigsein von Individuellem ilir zugrunde 
liegt. obsohon freilich keine Erfassung dessdben und keinerlei 
>Setzung von Wirkliclikeit: gewiR ist. dal.l infolge dessen 
keine W cseusaus c It a u u n g m i) g 1 i o h ist n h n e d i e 
f r e i e M o g 1 i e. h k e i t d e r B 1 i c k w e n d u n g auf e i n 
<^e n t s p r e i' h e n d e s» I n d i v i d u e 1 1 e s mi d d e r B i 1- 
d it n g* cines ex e m p 1 a ri s c h e n BewuBt seins . . .' 
I'm ein Wesen selbst und original' zu erfassen. kauri man von 
entsprediendeii e r f a li r e n d e n Ansdiauungen ausgdien. 
ebensowohl aber audi von n i e h t-erfalirenden, nidit-Dasein- 
erfassenden. vielmelir bloB einbildenden AnseJiatningeu'" (S. 12). 
Wenn wir z. B. das Wesen dor Wahrnelimung erfassen wollen. 
>o gesdiieht dieses, indent wir uns .in reiner Sdiauung. etwa 
von Wahrnehmung zu Walirnehmung bliekend. zur (Tegeben- 
lieit bringeu. was AVahrnehnmiig. Walirnelnnung an sich selbst 
— - dieses Idcntisdie belie bi^er tlieRender Wahrnehmuuu's- 
l)ift Ortiiulfonnoii der vissenschaMichen Methoden. 15 
singularitaten — 1st.' ' (>S. filo). .Aher das imdei't niciits davau. 
dafcl beiderlei Anschauungsarten [die empirische mid die eide- 
rise h el prinzipiell unterscbieden sind' 6 (Sx 12). Aber die empi- 
risehcn Ansehaiuingeu sind nicht eine G e 1 1 ungs ins t a n z 
in einem methodisehen Verfahron der Wesensermittelung, sie 
sind nicht eine Erkenntniscpielle fiir das Wesen. sondern sie 
sind liur dor psyehologisehe Aula B fill- das intuitive Ge.wahr- 
werden des Wesens. 
Audi Wissenscbaft ist ein AVesen' gegeniiber den cin- 
zelnen Theorien, Beweisen usw. Und die Wiasensdiaftslelire 
(als Teil der Erkenntnistbeorie) ist ,eine Wesenslehre nicht 
realer. sondern transzenrtental rednzierter Phanomene' 11 (?>. 4). 
Danim mutt audi die Wissenschat'tsJehre auf dem Wege der 
Wesensschau ihre Aufgaben losen. Diese forinuliert Husserl in 
den Log. Untersudmngen (I.- §(>(>. ,S. 241) dahin — wobei er 
allerdings eine Wissenschaftslehre im allgemeinsteu Sinn: von 
Wissenschaft iiberhaupt. im Sinn einer Logik, im Auge hat: 
AVa.s maeht das ideale Wesen von Theorie als soldier ans?' 
Welclies sind die primitiven wesenhafteu Begrift'e mid die 
reinen Gesetze, welche die Konstituentien von Theorie iiber- 
haupt. liilden? Die^e iiiiisseii demnach erkamit werden dadurch. 
dafi uns ihv Wesen auileuchtet, indeni wir von einzelwissen- 
sdinftlicher Theorie zu Tlieorie blickend mis zur (iegebenbeit 
bringen, was Tlieorie an sich setbst, als ,das Wfsen Hirer 
Form" (S. 241) ist. mid was zur Idee der Tlieorie weseutlieh 
gc-hort. Ans dieser tlieBt dann a priori und deduktiv die Spezia- 
lisierung' derselben in ihre mogliehen Arteu. die Einzehvissen- 
schaf ten 4 (S. 241. 242). Es ist also ein ganz anderer Weg als 
der einer induktiven Wissenschaftslehre. 
Die Wissensdiaftslehre gehott nach Hussevl zu den 
W fsen s-Wisseuschaften und diese stehen den T a. t s a c h e n- 
Wjssenseliaften als eine eigene. andere Art von Wi'Ssensebaften 
gegeniiber. Tatsachenwissenschaften sind Erfahrungswissen- 
sehaften; weil sie Dasein feststellen. grtinden sie sich auf die 
allein Wirkliohkeit gebende empirische Anschaming. auf die 
Erfahrung. Fiir die Wesenswissensdiaften liildet, we'll sie nicht 
AVirklichkeitsverhalte. sondern Wesensverhalte' erforschen. 
die ddetische Anschaming. die Wesenserschauung die Gritnd- 
lage. Was sie zur Erkenntuis bringen. sind 1. .die in unmittel- 
16 V. Kraft. 
barer Einsieiit zii erfassenden Wesensverhalte", die .eidetischen 
Axiome', 2. diejenigen Wesensverhalte, die ,aus solchen 
«axiomatisehen» Sachverhalten durch reine Folgerung er- 
schlosseu werden konnen.' ,Es raacht also das Wesen rein 
eidetischer |Wesens-]Wissenschaft aus, daB sie ausschlieBlich 
eidetisch verfahrt', daB sic lediglich auf Grand von Wesens- 
schau und ohne Erfahrungsbegrundung" Hire Erkenntuis ge- 
winnt fi (S. 17). Der tfimi eidetischer Wissenschaft schlieBt 
jede Einbezichung von empirischen Tatsaehen sowie von Er- 
keuntnisergebnissen empirischer Wissenschaften prinzipiell 
aus. Denn ,aus Tatsaehen folgen immer nur Tatsaehen* 6 (S. 18). 
Das Muster eidetischer oder Wesenswissenschaft ist die Jfathe- 
malik {! (8. 17). Die Wissenschaftslehre bant sich also nach 
Husserl nicht auf Eri'ahrungstatsachen and nicht indaktiv, 
sondern intuitiv und deduktiv auf. 
In der Wesenserschauung macht Husserl tatsachlich cine 
neuartige Erkenntnisweisc geltend. Wird das Wesen (z. B. der 
Theorie, als der Form von Wissenschaft iiberhaupt) unmittel- 
bar e r * c b a. u t, so bedarf es keines Geltungsnachweises, iiber- 
haupt keiner methodischen Begriindung dafiir mehr. Denn die 
intuitive GewiBheit, das einsichtige Gegebensein der Wesen 
und ih rev Grundbeziehungen bildet dann den letzten Geltungs- 
gnnid. Eine Wesenswissenschaft branch t, abgesehen von ihreu 
deduktiven Folgerungen, nuv auszusprechen. was sie erschaut. 
.Sie kann nur .einsichtig feststellen und das heiBt selbst wieder: 
durch original* gebende Aii'schauung aufweisen und es durcli 
L'rteile, die sich dem in ihr Gegebenen get-re u anpasseu. 
fixieren* c (S. ;-J(>. 44). Wie empirische Beobachtungen einfach 
angefahrt werden, so audi gewissermaBen .eidetische' Beob- 
achtungen in der Wosenssphiire. Denn .auch Wesenserschauung 
ist eben Anschauung. wie der eidetische Gegenstand [das 
Wesen | eben Gegenstand ist'. Es ist nur eine ,V e ra 1 1- 
ge m eine rung der korrclativ zusammengehorigen Begriffc 
«Ansehauung» und «Gegenstnnd»"'' (S. 11). 
Und so sind ja auch tatsachlich Hasserls Darlegungen im 
allgemeinen beschaffen: sie stellen einfach dogmatiscli bin. 
sucheu es einsichtig zu maeheu, was sich ihin intuitiv ergeben 
bat. Eine Nachprufung ist nur in der Weise moglich, daB man 
selbst die Einsieht in die betreffenden Wesensverhaltnisse e*e- 
Die OruiulformPii der wisspiiseliaftlit'lien Methoilpn. 17 
wimit — odor In ihr Xicht-bestehen: aber nieht in dor Weisc. 
dafi man die Stichhaltigkeit von BegTiin dung-en untersuclu. 
Wesen sind eben koine vernrittelten. abgeleiteten. sonde rn un- 
mittelbare Erkenntnisse. 
Bezeichnct die Wesensintuition nun den Weg\ uni die 
Aufg'aben einer Wis^enschaftslehre zu losenV 
Es ist gewiB anzuerkennen: Das Ohjekt. der Erkenntuis- 
theurie und dasjenig'e. was eine inethodische WUsenschafts- 
lehre zugninde legen ninB. konnen so wenig' wie die Erkennt- 
iiiserlebnis.se bestinunter Individuen in Zeit und Raum audi 
die durchsehnittlichen Lehrmeinungen irgendeines historischen 
Zeitpunktes sein. Was ftir eine Wissensehaftslebre in Betracht, 
kommt. bestelit allein in einem System von liberhistorischen. 
unwandclbareu Wahrheiten. Die Grundlagen der Wissen- 
schaftslehre werden nieht dnrch reale. zeitlii'h-ramnlichc Tat- 
sachen g'ebildeL sondern durch iduale. .zeitlose und daseins- 
freie* Sachverhalte. Wesen ini Sinn Husserls. — ■ Aber -\venn 
nun eine inethodische Wissenschaftslehre sich auf die "Wissen- 
schai'ten. wie sie gegremviirtig* tatsiichlieh voiiiegen. g'rihidet. 
so verliert sie sieh damit docli keineswegs in die realen, indivi- 
duellen Bewufitseinsvonran^e des wissenschaftlirhen Denkens: 
, sie zieht ja darin ebenso nur die .Wahrheiten 1 in Betracht, die 
zeitlosen. unperson lichen Erkeimtnisinhalte. al>er nieht person- 
liehe Ansichten bestimmter Individuen zu einer bestimmteu 
Zeit wie Husserls eig-ene erkenntnistheoretiselte Untersuchun- 
geu. Wenn man die Untersuehung-en der Wissenschaftslehre 
auf die tatsaehliehe Wissenseimft griindet. so geht sie damit 
also keineswegs von zufjilligen. historischen Einzeltatsachen 
aus. soudern bewegi sich durchaus im Bereich der .ewigeu 
Wahrheiten 1 . der idealen Wesen. 
1st nun der eigentliche und ausschlietiliche Weg\ Wesen 
zu erkenuen. die Intuition"? und diese darum die spezifisehe 
Erkenntnisweise aller Wesenswissenschaften'? Weuu die Wis- 
senschaftslehre das Wesenhafte wissensehaftlicher Erkenntnis 
tests t ell t. hat sie es nieht mit Wesen reale r Erseheiiningen. 
sondern schon von Gefiigen idealer Wesen. eben der wissen- 
schaftlichen Erkenntnisse. zu tun. mit Wesen und Wesens- 
beziehungen von hoherer Allgemeinheitsstufe. Darin stelit die 
Wissensehaftslebre nieht allein: audi Recht. audi Kunst sind 
Siuiinysbw. d. phi) -liist. Kl. 2t)3. Bd. 3. Ahb. 2 
18 V. K l ;< ft. 
ideale Wesenheiten wie (.lie AYissensehaft, uud die systemati- 
sclicn Wisseus.chaften von ilmeu sucben ebenso Wesenswahv- 
heiten hoherer Stufe. 
Alle diese Wissensciiaften mtiBten nun nach Husserl in- 
tuitiv und deduktiv vorgeheu. olme dabei die Mauuigfaltigkeit 
wissensehai'tlU'lier Erkenntnis. lebender mid toter Tlechts- 
siitzu, tatsachlicher Kunstwerke in ilusik, ilalerei usw. metho- 
dised, .aiidcrs als blofi beispielsweise. heranzuziehen, Sie wtir- 
den die Gnmdbegriffe und -ge-setze in uumittelbarer AVesens- 
ersehauung zu erfassen und das Erschaute nur auszusprechen 
liaben und einer weiteren Begnindung dafiir nicht bediirfeu. 
A'on dem ersehauten AVesen des Reehl.s, der Kunst uberhaupt 
ware deduktiv die Spezialisierung in ihre moglichen Arteii und 
Erseheinuugsformeu zu entwjckeln. Fiir die allgemeino Rechts- 
lelire 1st das audi tatsachlieh bereits im Sinne Husserls ver- 
sueht worden. 7 
Eine solehe Art von AVissenschaft 'ware die einer 
Tlieorie — wie deren Eigenart spater (S. 31 f.) dargelegt 
werden wird. (Es bleibe dabei unterdessen dahingestellt, ob die 
Au slangs sittze der Deduktion innerhalb der Tlieorie uber- 
haupt, mit iiituitiver Gewiftheit gelt en.) Damit wi'irde sieh die 
Frage darum drehen, ob die Wissensehaftslehre und jene an- 
deren Wissensciiaften jetzt wchon in der Form einer Tlieorie 
eutwiekelt werden konneu. Ueiin das setzt immer sclion einen 
hoben Zustand der Keife einer AVissenschaft voraus. Und der 
bereitet sich nur voi" in i n d u k t i v e r E r a v b e i t u n g ilirer 
Begriffe uud A'erkiiupfungsgesetze (siehe spater S. 1.")8f.)' ^* eL ' 
DiiTerenzpunkt ware also nur der. daB Husserl t'tir diese 
AVesenswisseiischaften einen vollkomiiienen Keif ezust and im 
Auge hat. withrend es fiir sie auch einen Vorzustaiid der in- 
duktiven Erkenntnisbildung von der tatsaehlichen AA'issen- 
schaft, Kunst, Reclitsnorni aus gibt. Auch fiir eine Theorie 
ware iibrigeus die Beziehung zu dieser Tatsaehlichkcit nicht 
vollstandig abgeschnitten; denn es ist fiir sie eine Verifizicrung 
erforderlich und diese wird eben in dieser Beziehung her- 
gestellt. 
Es laBt sieh aber doch auch zeigen. daB fiir die Erkennt- 
nis von AVesen der AVeg der reinen Intuition ein allzu summa- 
risches Verfahren darstellt, daB sie sieh, als wissenschaftliche, 
Die 'u-uiKlfoniiPii di'i- wi-^nx liiiftlidiou Jh:tliodi>n. li' 
uiolit einiaeh (lurch Intuition olnio wpjtere Begriindung mid 
Methode ergibt. 
I'm sogleich an das frtiher (S. 14) angefuhrte Beispiel 
Husserls anznkntipfen: wird das Wesen .Wahrnehinunir 
wissensehaftlich. also von cler Psychologic wivklieh in der 
Weise erkannt. daB wir mis .in reiner Schauung. von Wahr- 
nehmung- zu Wahrnehmung blickeml. zur Ogebenheit bring-on. 
was Waiiriiehnnuig . . . ist? L AVenn wir das tatsaVhliche Wr- 
iahren der Psyehologie ansehei)." m» linden wir vicluiehr din 
Methode oilier indtiktiven Oattungsliegritfslindung. Es wird 
I'iiig'fhciid. >ogar experimented uiitersucht. wodnreh sieh die 
Wahnieluiumg eiudeutig charaktei-isieren laBt. was sie vuii 
der Empiindung sicher nnterscheidi't: und es best eh t selbst bei 
liieser metbodisehen BegriiYsbildinig noch eine Unsicherheit in 
bezug auf die Definition der Wahrnehmung — ■ die dueh wold 
liniiberwindlich sein miifite. wenn man auf das blnBe C'ber- 
blieken zufalliger Wahrnebmungseinfalle angewiesen ist. End 
wiiro dann uuerluiupt z. B. das Kriterium der Veraidassung 
dnreh einen iiuBeren Reiz aid" tliese Weise zu finder)? Man wird 
vielleiehl sag-en. die Psychologie snllte anders vorgehen. ebni 
intuitu - . After ftetraditHi ivir t'men undervu Fall, ivo dif* 
Wissei^rhaft ein groBes Ergebnis hereits iinzweifelhaft ge- 
wunuen hat. in bezug auf die Art mid Weise ihres Yeiiahreus 
dabei. 
Wi" Wahrnehniung uder Ton oder Faroe ein Wesen be- 
zeichnet. ebenso aucli Warnie unci Bewegung und ttclnvere. 
Auoli in ihnen steht etwas Zeitloses. Allgenieines den einzelnen 
indivjdueilen Warine-. Bewegungs-. Schwere-Tatsaoheu g*egen- 
iiber. Es handelt sieli bier natiirlieh nicht darniu. wie diesc 
Wesen hHorisch erkannt worden sind. oder wie sieh psyehn- 
lngiseh der Froze ti ihres Erkennens voilzieht. sondern woraiif 
ilire (ipltung bendit. Um zu erkeimen. was z. B. das Weseu 
Sehwere ist. niufi man in der Xaturwisseusidiaft einen laugen 
Weg der Einsiehten gehen. (lessen .Meilensteine dureli die 
gro Bon Eutdeokungen Galileis. Keplers und Newtons bezeieh- 
net werden. Schwere defmier-t die Physik als einen be- 
sonderen Fall der allgemeinen Gravitation, als die Beschlen- 
nig'ung. welelie speziell die Masse des Erdkorpers der Masse 
eines anderen Korpers erteilt (oder zu erteilen strebt). Um das 
20 v. k r it ft. 
als giiltig einzusehen. inuB iiiiin ziiuachst die GesetzmiiBigkeit 
dor Sehwere-Erscheinungen: des freien Falles der Korper. mid 
zwar aller Korper in gieicher Weise. des Wurfes. des Pendels 
usw. erkannt habeu. theoretisch in klarer Begriffsbildung 
(Kraft. Gesehwindigkeit, Beschleunigung . . .) erfaBt unci 
experiment ell (Mcssung des Falles auf der schiefen Ebene. 
Fall aller Korper im luftleeren Raum mit durselben Geseliwin- 
digkeit . . .) erwiesen. Und clann muB man erkennen. daB diese 
SchweregesetzmaBigkeit sich einer viel allgemeinereu Gcsetz- 
maBigkeit, welche auch in der GesetzmiiBigkeit der Planet en- 
bewegungen zu ersehen int. einordnen und sich aus ihr ableiten 
liifit: dem Gesetz der Gravitation. Erst inclem wir Schwere 
ais Bewegungsantrieb gegen den Erdmittelpunkt. hin infolge 
der Gravitation begrift'en haben. ist das Wesen all der ein- 
zelnen Schwere-Erseheinung'en erkannt. Erst diimit wissen wir. 
was die GniBe der Schwere — das Gewicht — eines Kiirpers 
i'P ~ nig!) und die Sehwingungsclauer eines Pendels bestimmt. 
und weshalb sich das Gewicht eines Korper s> und die Schwin- 
gungszeit eines Pendels mit dem Ort auf der Erde iindert. 
we shalb sie vom Aquator gegen die Pole hin zunehmen. mit 
tier Eriiebung liber die Erdobertlache abnehmen usw. Fiir alle 
diese einzelnen Gesetzmafiigkeiten der Sehwere-Erscheinungen 
liiBt sich erst durch ihre Unterordnung' miter die Gravitation 
einheitlieh ein Wesen finden. 
Fm zu erkennen. was das Wesen .Schwere'. Schwere .an 
sich selbsf. als das Pdentisohe all der hidividuellen Schwere- 
Erscheinungen (-Tatsacben) ist, geniigt es also keiueswegs. 
von Schwere-Erscheiimng zu Sehwere-Erseheinung blickend. 
sich ihr Wesen .zur Gegebenheit zu bringeif — ist denn der 
steigende Ranch oder Luftballon und das schwingende Pendel 
von vomherein Iiherhaupt schon eine Schwere-Erscheinung? — : 
sondern die Wesenserkenntnis der Schwere ergibt sich erst 
aus einer Reihe von begriftlichen Zerlegungen und ideellen 
Konstruktionen. Jlessungen und SchluBfolgerungen. Sic er- 
gibt sich auf clem Weg der Induktion und der Folgeruug aus 
einer Theorie. Der Grand ihrer Geltung ist darum nicht blofie 
Intuition, sondern cine methodische Begriiiiclniig. 
llan konnte dieser Darlegung gegeniiber vielleicht sagen: 
Schwere ist kein .Wesen'. sondern eine Wesensbe z iehun 2'. 
Die Gruinlfoniien tier wis&cn*t)iaftlielipn Metlioden. 21 
ebeu weil sie die Massenanziehung der Erde bezeichnet, also 
eine Beziebung zwischen Bewegung und (einer bestimmten) 
Masse. Aber Masse, em nicht weiter zuriickfiihrbarer be- 
wegui)gsb§stimmender Umstand, muB doeli als ein Wesen an- 
gesehen werden, und an diesem konnte man denselben Nach- 
■weis fiihren. Auch Masse liiBt -sicli nicht dnrch ein bloBes f'iber- 
blicken von beliebigen Bewegungserscheinungen erschauen. 
Audi sie ist mir auf Griind vielfacher Induktion — Newton 
beruft sich selbst bei der Einfuhrnng dieses Begviff'es auf die 
1'endelexperimente von Iiuyghens n. a. — im Zusanimeiihang 
einer Theorie einzusehen. Es ist keine Rede davon. daB Un- 
intuitive GpwiBheit zukommt. (Vgl. spater S. 93 f.) 
So gut -wie Walirneliinung odor Ton ist aber auch Laut 
und Wort und Satz und Flexion ein Wesen. Denn sie alle sind 
nicht bloB individuelle Tatsachen, sondern auch unit Aus- 
nalime der Laute) zeitlose und allgeuieine Bedeutungen. Solche 
Wesen erkennt die Spvachwissensehaft nicht anders als in- 
dnktiv. Eine Gramma tik.kommt zu ihrem System von spracli- 
lichen Wesen (lurch Vergleichung und damit ITnterscheidung 
und ZusammenfaS'Snng eines empirischen Materials von Texten 
oder lebendiger Kede. -Die Entdecknng beginnt mit dem 
Nachstliegenden. Augenlalligsten; gleiche Erscheinungen mit 
gleicher Bedeutung schlieBeu sich sozusagen in zwei Bitndel 
Keihen znsammen. Das Wort lapidis z. B. gesellt sich einer- 
seits zu alien librigen Kasusformen von lapis und andererseits 
zu alien Genitiven singularis der dritten Deklination, die ja 
gleichfalls die Endung is haben und in gleichen syntaktischen 
Yerbindungen wie lapidis erseheinen. Die gleiche Erfahrung 
wird mit den Formeu des Genitivus singularis in den itbrigen 
Deklinationeu gemacht: und mm lehren Kongruenzfalle wie 
iiuius magui lapidis. alle diese Formen als gleiehwertig er- 
kennen. Andere syntaktische Analogien notigen ferner, den 
Genitiven des Plurals deneu des Singulars gleiche Formen zu- 
zusprechen. . . . : So besehreibt G. von der Gabelentz 1 ' die Art 
und Weise der .grammatisclien Induktion'. Es bildet also auch 
hier nicht Intuition die Grundlage der Wesenserkenntnis; von 
der Gabelentz fordert vieliuehr ausdriicklioh fur die gramma- 
tisclien Lehren eincu Xachweis. tier nur ein .induktiver Be- 
weis ; sein kaim. 
22 V. Kr.it. 
Die Wissensdiaft hat es im gvuBten Mali, mindestens 
ebensoviel mit Wesen als mit Tatsadien zu tun. Aber sie hat. 
es nur in selteneu Fallen, am haufigsten wohl in dor Fsydio- 
logie. zur Aufgabe. We sen unmittelbar von individuellen An- 
sdiauungen aus zu gewinnen. .Soust hat sie gewohnlich 
Wesensbez i e h ungen zu entwiekelu. Die zugrunde liegen- 
den Wesen fuhri sie dabei im Falle einer Theorie (des Fades 
z. B. die Wesen Bewegung. Oesehwindigkeit. Zeit. Kaum) 
d e f i n i t o r i s c h ein mid gewiunt sie nicht erst auf Grund 
von Anseliauungen. .Sie gelten gar nicht auf Grund von Intui- 
tion (vgl. spater .S. 98 f.). Wo es sicli aber wirldidi urn Wesens- 
erkenntnis handelt. wo die AVissenschaft Wesen (z. B. Wahr- 
nehmung) auf (irund von Anseliauungen gewinnt. geschieht es 
auf dem AYege der In dn kt i o n. Der Rekurs auf das tat- 
saehlidie Verfahren (lev Wissensdiaft liei der AYeseuserkennt- 
nis zeigt klar. daB sie keineswegs auf reiner Intuition beruht. 
sondern auf methodischer Begrtindung. Das 1st audi anders 
uidit nioglidi. 
Auch nadi Husserls Meiuung muB die Wesenserkenntnis 
imnier von individuellen Anseliauungen ausgehen: solche bil- 
dcn zum Vollzug der \A'esensei\>diauuiig (.Ide;\tioif) die not- 
wendige Basis" (S. 12). Audi n;idi ilnn kann also ein Wesen 
nicht fiiv sich allein. ohue konkrcte Fnterlagen erfaBt werden. 
Es best eh t snmit eine inneve Beziehung zwisdien der E r- 
kenntnis des AVesens mid den diesem entsprechenden An- 
sdiauungeu. Aber Husserl halt 1. sehou eine einzelue odev 
cinige beiiebige Anseliauungen fur geniigend. urn von ihneu 
aus in .ideierender Abstraktion" das Wesen zu erfassen. Das 
Wesen .Ton" ist zu erkeunen .als das aus deni individuel- 
len Ton leinzeln. oder dnreh Yergleidmng mit anderen als 
<-.Genieinsames») lierausziiseliauende Moment 1 " (§ 2. ^. '.)). 
I'nd 2. bilden sie ftir Husserl blofi den psyohologisdieii Au- 
la B ftir die (intuitive) Wesenserkenntnis. keinen Erkcnntnis- 
grmid dafur. Denn ftir ihn ist das im Wesen erfaBte identisdie 
Moment etwas. was a ls Allgemeines eo ipso uie in den ein- 
zelnen Anseliauungen selbst enthalten sein kann 4 (II/l, S. 157): 
sondern es ist eben ein 'died aus einem anderen Beieh, aus 
deni ideahii rfeiit. dem iudividuelle Anseliauungen immer nur 
e n t sp r e e h e n. T>arum konuen diese f fir Husserl uieht die 
Die Or unci for men tier \vi«..sonM-li;iftliclK>u Metlioilen. '26 
logische Grundlage fiir die Erkenntnis des Wesens scin — 
weil es eben in ihnen als solchen nieht entlialten ist: sondern 
das Wesen hat keine andere Grundlage als sich selbst. es wird 
einfaeh en t deck t im Reiche der Wahiiieiten. 
Aber indcm dem Wesen cloch individuelle Anschauungen 
en t sp re eh en. inclem es doeh das "Wesen in bezug an!' 
bestimmte Anschauungen ist. besteht auch dann eine zweifel- 
lose Aufeinanderbezielumg von allgemeinem Wesen und indivi- 
duellen Anschauungen als zugeho'rigen. Und diese Beziehung 
muB fiir die Erkenntnis des Wesens maBgebend werden. Es 
muB ausdrlicklich gezeigt werden. daB zu einein Kreis von — 
teihveise verschicdenartigen — Anschauungen gerade dieses 
als Wesen gehort. Wesen ist naeh Husserl als ein Gemein- 
sames und Identisches aus einzeliien Anschauungen .heraus- 
zuschauen'. Damit die Zusammeng'ehorigkeit von Wesen und 
Anschauungen gesichert ist. muB aufgewiesen werden: 1. aus 
welehen Anscliauungen u'berhaupt das Wesen .herauszu- 
schauen 1, ist, und 2. daB es darin das Gemeinsame und Iden- 
tische ist. Damit bilden aber dann auch die Anschauungs- 
grundlugen fiir die Wesens-Intuition nicht mehr den JsrioBeu 
AnlaB dafiir. sondern notwendige Bedingungen fiir die Ein- 
sicht. daB geracle dieses Wesen zu diesen und diesen An- 
scliauungen gehort. Sie gehoren wesentlich mit zu den Gel- 
tungsgruudlagen einer Wesenserkenntnis. 
Wenn von einigen beliebigen Anschauungen aus 
ein Wesen erfaBt werden soil, so ist dieRicbtung der .ideieren- 
den' Abstraktion und damit dieses AVeseu noch gar nicht e-in- 
deutig bestimmt. Deun einer oder einigen Anschauungen kann 
man v e r sc h ied cue Wesen zuordnen. zunaehst Wesen ver- 
seluedener Allgeineinheitsstufe. aber auch Wesen verschiedener 
Abstraktionsrichtuug. Von einigen Fallerscheinungen aus 
kann man z. B. das Wesen .Fair oder das Wesen .Bewegung' 
oder auch das "Wesen .Euftwiderstand' (oder .widerstehemies 
Hitter) erscbaueu (in psyehologischem .Sinn genoinmen). "Denn 
psyehologisch ist es gewiB oft genug der Fall. daB bloB von 
einigen Anscliauungen aus ein Wesen erschaut wird. Aber er- 
kenntnistheoretist'h ist das. was so intuitiv aufblitzt, damit 
noch lange nicht als giiltige Erkenntnis begriindet. Die groBen 
Einsichten leuchten in der Wissenschaft wold 2'cwolmlich so 
24 v. Kv.it. 
auf. Aber gerade da rails, da 6 diese erst noch in ihrer Geliung 
erwiesen werden miissen, wird es deutlich, daB aueh intuitive 
Einsichten nocli nieht unbedingt zug'leich audi die Gewiihr 
ihrer Giiltigkeit geben. Wenn man im Dariiberhinblicken uber 
beliebige Anschauungen ein Wesen erschauen will, so heifit 
das, es dem Zufall iiberlassen. von welcher Gruppe von 
Anschauungen man ausgeht und zu welcheni Wesen man ge- 
langt. Man kann damit ebenso leieht zu ganz einseitigen. un- 
zutreffeuden Wesensbestimmungen konuuen. Denn audi Wesen 
konnen .bald richtig, bald falschlich vermeint sein 1 ° (rf. 48). 
Es ist die Grundanschauimg- Husserls, daB Wesen eine 
u n m i 1 1 e 1 b a r e Erkenntnis, die ohne Zwischenglieder und 
-operationen sich ergibt, und nicht eine vennittelte, abgeleitete 
Erkenntnis darstellt. Man kann es Husserl ohneweiters zu- 
geben: Ein allgemeines Wesen kann nieht aus individuellen 
Ansehauungen abgeleitet. aufgebaut werden; es kann nur an 
ihnen erschaut werden. Aber damit ist sozusagen nur die ele- 
mentare Sachlage bezeidmet. Das Yerfahrcn der wissenschaft- 
liclien Wesenserkenntnis, dev Wesenswissenschaften. ist damit 
noeh keineswegs gegeben. 
Unmittelbare Erkenntnis ist nur moglich fiir Beziehuiv 
gen, bei denen ihre Glieder unmittelbar vorliegen und die 
daran allein eri'aKt werden konnen. Das ist der Fall bei un- 
mittelbaren Verhaltnissen der log'isehen Uber- und Unterord- 
nung, der logischen Konsequenz. der Gleichheit oder Versehie- 
denheit. DaB dies aus den gegebenen Vordersiitzen folgt, daB 
jenes als Besonderes unter jenes Allgemeine t'lillt, daB dies 
und dies g'leich ist. das kann man nur unmittelbar eiusehen, 
intuitiv erfassen. Es ist wirklieh ein Erschauen dieser A r erhiilt- 
nisse. ein ebenso Unmittelbar-Gegebensein wie in der sinn- 
liehen Ansehauuug. Aber das ist nur der Fall bei unmittel- 
barer log'ischer Konsequenz, Unterordnung. Vergleichung. 
Aber Wesenserkenntuis. wie sie in der Wissenschaft der 
Fall ist. besteht nieht einfacb in der Erkenntnis eines solehen 
Yerhaltnisses zwisehen unmittelbar gegebencn Gliedern, son- 
dern eines weit verwk-kelteren Beziehunggewebes. Die ein- 
zelnen Ansehauungen konnen nicht mehr zugleich iiberblickt 
werden. sondern miissen sukzessive herangczogen werden und 
die fiir die einzeluen Gruppen erschauten Wesen miissen dann 
Die Grimtlfornicn der wissjensL'kaiUiclicn Metlioden. 25 
identifiziert werden; das identisehe Moment (des Wesens) an 
ihnen spring! nicht sofort von selbst in die Augen, sondern 
muB erst durch Zergliederung und Yergleichmig aufgewiesen 
werden-, die Intuition mufi vorbereitet. herbeigeftihrt werden. 
Wenn man aber in dieser Weiae die Anschauungsgrundlagen 
fiir das intuitive Erfassen eines AVesens geordnet und 
vo 11 s t iindig zurechtlegt — was ist das dann anderes als 
ein methodisohes Erarbeiten, ein Nach w e i s e n oder 
1 j e g ]■ ii n d e n der WesenserkenntnisV 
Die wissenschaftliche Wesenserkenntnis vollzieht sich in 
einem geordneten Aneiuanderfugen vielei" zusammengehdriger 
Wesenseinsichten. Die einzelnen sozusagen elementarcn 
Wesenseinsiehten beruhen auf Intuition. DaB dieses Wesen zti 
diesen unmittelbar vorliegenden Ansehauungen gehort. das ist 
cine unmittelbare, unzuruckftihrbare Einsiclit., Aber fur kom- 
plexe AA'esensverhaltnisse. bei deneu die zugehorigen Anschau- 
ungen nicht mehr unmittelbar tiberblickt werden konnen. son- 
dern sukzessive aufgewiesen werden miissen, kaim es dem- 
gemaB eine unmittelbare. intuitive GewiBheit nicht mehr 
geben. Die Wesenseinsicht wird hier durch Zwischenglieder 
vemiittelt. (Vgl. die eingehende Analyse des Beweises durch 
Pasch 1 " I.: Urn einen Beweis als rich/tig einzusehen, muB man 
ihn in .Beweisschritte' zerlegen und iiber jeden einzelnen Be- 
weisschritt urteilen. -Bei dem Beweisschritt der einfachsten 
Art wird von einer Aussage zu eiiier anderen dadurch iiber- 
gegangen. daB der Inhalt derselbe bleibt. nur die Einkleidung 
sich geandert hat. Ich muB also, wenn zwei Wortgefuge vor- 
liegen, imstande sein. zu entscheiden, ob sie denselben Inhalt 
habeu oder nicht' |S. 360].) 
Hier beruht die Geltung auf der intuitiven GewiBheit der 
einzelnen Glieder und Hires Zu sammenhange s unterein- 
ander. Diese GewiBheit muB Sehritt fiir Schritt aufgewiesen 
werden. Und das ist es eben, was man methodisohes Verfahren. 
Begriindung lieiBt. Jeder einzelne Schritt ist intuit iv be- 
griindet. aber im ganzen ist der Vorg"ang diskursiv. Die Gel- 
tung der letzten Ergebnisse ist eine vermittelte. 
(Es ist klar, daB es deswegen bei konkreten Beweisen 
nicht erforderlich ist, alle solchen Schritte einzeln aufzu- 
weiseu. also jeden Beweis in einem litckenlosen KettenschluB 
26 V. K i a i t. 
zu geben. Es kommt nur darauf an. dafi die zweifellose Sicher- 
lieit vorhanden ist. daB Spriinge im Beweisgang ohneweiters 
dtireh den Naehwets der intuitiven Einzelsehritte ausgefiillt 
werden konnen. Denn das bildet die Grundlage der Giiltigkeit 
des Beweises. Es ist aber der Darstellung nattirlich nicht nur 
freigestellt. sondern geradezu geboten, aus der ideellen logi- 
schen SehluBkette nur die markanten Glieder herauszugreiCen. 
nur die Wendepunkte des Logisehen Gertankeuganges zu be- 
zeiclinen. in dcm BewuBtsein. daB die Ausfulhmg des fiber- 
sprnngenen, das VerfoJgen der Einzelschritte jederzeit mbg- 
lich ware; denn nur so wird die Cbersielit und das Verstandnis 
des Geltungszusammenhanges ermoglicht. Wei in Pasch 11 fur 
die Mathematik liickenlose Beweise verlang't. so hat inn dabei 
ofTenbar das Bewutitsein geleitet. dafci nur solelie die Oeltuug 
der Beweisergebnisse wirklieh gewahrleisten konnen. Aber 
das bedeutet einen ideellen logisehen Zusammenhang und es 
ist eine ganz andere Sache. wie weit man ihn jeweils expressis 
verbis darstellt und wie weit man ilni stillschweigend als einen 
selbstverstaudlichen Zusammenliang voraussetzen darf.) 
DaB audi Wesenserkenntnis einer methodisehen Begriin- 
dmig bedarf. maeht sieh auch fiir Hus.serl selbst melirfach 
l'iihlbar. Immer wieder begeguet man uamlieh bei ihm dem 
Bestreben. seine phanomenologischeu Wesensbestimmungen zu 
erweisen. Es tindet einmal i (II. 1., S. 417. V. § 21) semen 
ofTenen Ausdruck: ,Zur K e e h t ■£ e r t i g u ng unserer Begrii'fs- 
bestimmung [nandich des «intentionalen \Vesens» eines 
«Aktes»i kann zuniU'list der Hinweis auf t'olgende neue Reihe 
von Ideiitifiziernngen dicnlieh sein.' Vm seine Wesensbestini- 
muugen klarzulegeu. sehliigt Husserl selbst melirt'aeh ein Ver- 
faliren ein. das deutlieh einen Zug tragt, der seit Bacon und 
Mill als Charakteristikum der Iuduktion hervorgelmben 
worden ist. Vm die Yerseliiedenheit vou Wesen klarzmmichen. 
iiilirt ev ihre voueinander unabliangige Viiriierbarkeit an. 
Die Sonderung vonBedeutung und gegenstandlicherBezieimng 
z. B. wird damns klar. da 6 die ausgedriiekte Bedeutung ver- 
sdiieden sein kami: .Der Sieger von Jena — der Besiegte 
von Waterloo', und dock beiderseits derselbe Gegenstand ge- 
nieint, 1st: Napoleon: und ebenso umgekehrt 4 (II. I. Toil. 1. 
ij 12, 2. Anil.. S. 47), Ebenso ist es die unabliangige .Variation 
Ui« <.; in ml tVdiueiL di'[ \v]ft.-.eii^( linttlk'tifii }IWii<nlrit. 27 
(lev g-eg'enstandlicben Beziehimg" — .der eine Akt kann sich 
anf dieses, der a ml pre auf jenes (.b'g-enstandlicbe beziehen* — 
und die der .Akujualitar — GeoenstaiuUiehes kann in der 
Weise dues vorgestellten oder benrteilten oder erfragten . . . 
intentional sein — . durch weldie deren Yersdiiedenheit klav 
wird* i.V. § 20. S.418. ebenso S. U7, 418b Fur Husscrl Mild 
das freilieli nur .Beispiele" "* (rt.47) zur Yeransdiaulidiung' dcs 
2.11 erfassenden Wesens, keine Beweise. Es sind nur Hilfen fur 
das intentionale Erkennen des \\'e>ens. nieht melir. Aber man 
lirauclit nur diesen Wcg' der V o rb e re i t u n g der Intention 
weiter zu vert'olgeu. fur kompli'ziertere Kit 1 1 e auszubauen. so 
fuhrt er zur m e t ho d i s c h e n Erarbeitung' der Weseus- 
erkenutnis, zur Induktion. 
Es ist soinit dargetan: Audi wenn man mit Husserl von 
der Sdieidung- zwisdien idealem Wesen und realen Tatsaehen 
ausgeht. so kann Wesenserkenntnis sich nicht auf reiiie Intui- 
tion bernfen, sondern audi sie ert'urdert methodisdie BegTun- 
dung\ L'ud daiier ist, audi wenn die Wissensdiaftslehi'c als 
Wesenswissenschaft charakterisievt wird. fiir sie ein metlio- 
disdies und bcgTiindendes Yerfahren nieht zu umgehen. Dal;') 
ab* j r dahfil die IVis.scnsdiaft.i'iehrY' die UKIrhJJehe. koj;kre!e 
wi>*eusdiaftUdie Erkenntnis zur Grundlage nehmeu inufi. das 
drajigt sich ebent'als Husserl selbst auf. Der frage: AYas 
macht das ideale Wesen von Tlieorie als soldier nus?' scliiekt 
er die Feststellung- voraus; .Die Moglidikeit oder Wesenhaftig- 
keit von Theorie iiberhanpt ist naturlieh gesidiert durch ein- 
siditige Erkenntnis irgendeiner h e s t i in in t e n Tlienrie" ' (I. 
§ Ob. 2. Anil.. *S« 241). Damit ist die Beg'ruuduug' auf die tat- 
siiehliclie Wissenschaft fiir die Wissenschaftslchre im Prinzip 
anerkannt. 
Man wird also audi auf der Basis von Husserls 
Ansdiauungen und von seinen eigenen Begrii'fsbiklungen 
aus zu einer metliodisdi begriindeuden, induktiven Wissen- 
sdiaftslehre gefiilirf. Es ist nur eine Induktion an eineiu 
anderen Material als in den Erfalmingswissenschaften: nieht 
an einein empirisdi-realen. sondem an einem idealeu Material. 
Es ist ein Bestand an idealen AVulirheiteu'. den die WisMHi- 
sdiaftslehre mit der tatsaehlidicn Wissenschaft zur Basis 
ninunt. 
28 V. K r ii i t. 
3. Kritisclie Induktion. 
Xun bleibt fveilich der fragmentavisdie, uuvollkomiuene 
'.'harakter dieser tatsadilichen Wissensohaft uideugbar. Was 
gegenwiirtig an ■wissenschaftJicher Erkenntuis vorhanden ist, 
das ist natiirlich ebenso ein historischer Bestand, ltickenhait 
mid irrtumgemengt, wie zu irgendeinor anderen Zeit. Und 
dieser Oharakter bleibt uniiberwindlidi. Denn eine Auslese 
der wahren gegeniiber den vermehrtliehen Wahrheiten, der 
bleihenden Erkemituisse gegeniiber den verganglichen Irr- 
Tutnern vennag* nie eine Zeit selbst zn treft'en. Aueh die 
Wesensintuition ist dazu nieht imstande. Was sie erfafit, ist 
der zeit lose .Sinn von Denkerlebnissen. aber der ist nock 
keine zeitlose, .ewige' W a h r h e i t. Einem zeitlosen Sum 
k;inn ebensogut Wahrbeitswert zukommen als lrrUimscharak- 
ter. Und ein Kriterium der absolnten Wabrheit hat aneh der 
evkenntnistlieoretiscbe Intnitioniftmus nicht. Seine Wesens- 
selian kann ebenso siibjektiv mid bloB vermeintlich sein ,! 
fS.43) wie jeder andere Erkenntnisanspruch. Darum bietet 
audi er nidit das Zaubermittel, urn die .cwigen WahrheUeir. 
die wahre Wis^enseliaft aus den gegenwiirtigen Meimingen 
auszusoudern. 
f'ber die Unvollkommenheit der tatsaehlidien Wissen- 
sclial't kommt man nicht hinweg. Da rum kann aber nun die 
Zugnindelegung der tatsadilichen Wisseusehaft fttr die Wis- 
senschaftslehre nicht den Sinn haben. daB einfach die vor- 
liegende Art und Weise, die tatsaddidie Praxis der versehie- 
denen Wissensehai'ten deskriptiv festzustellen mid daraus 
iuduktiv Gattungsbegriifsbildungen zu entwickeln waren. 
Denn das hieBe, sich den Mangelhaftigkeiten der tatsaehlidien 
Wissenschaft ausliefern und sie in die Ergebnisse der Wisseu- 
schaftslehre mithiniibernehinen. Man wurde damit nur zu 
einem kulturgeschiditlichen Ergebnis kommen, nieht zu einem 
erkenntnistheoretischen. Es wird sick in den folgeudeu Unter- 
suehungeu mehrfach zeigen, daB das tatsachliehe Vorgehen 
der Wissenschaften. z. B. in der Induktion oder bei der histo- 
visdien Syutliese. nicht als erkenntnistheoretisch hinreichend 
und vollgiiltig anerkannt Averden kann — insot'erne njlmlich 
obne stidihaltio-e Berecbtigmig verallgemeinert oder allein 
Die GruiiiH'onnon der wit-swiischaftlicliuii Metlioden. 2v 
aus der Eiufiihlung heraus syiithetisch konstruiert wird. 
Es wird vielmehr day tatsachliche Vorgehen als unvollkom- 
men angesehen and ihm gegenliber die Forderung strenger 
logischer Sehliissigkeit geltend gemacht. Eine solche Forde- 
rung ist eine g run d sa tzl i c he An forderung, die an die 
tatsachliche Wissenschaft herangetragen. nicht aus ihr ab- 
geleseu wird. Es ist eine Anforderung auf Grand ernes be- 
stimmten Ideals von wissensehaftlicher Erkenntnis. An 
diesem wird das tatsachliche Erkennen zugleich gemessen. 
naeli ihm zugleich kritisc h beurteilt. Erkenntnis mid 
ebenso Wissenschaft ist eben ein Wert, und zwar ein idealer. 
nicht ein rein tatsac.hlicher. Pnd da rum ergibt sich in bezug 
auf die tatsachliche Wis sense haft die Kritik miter dem fie- 
sichtspunkt des Wertcharakters. die Prufung. inwieweit sie 
der idealen Forderung entspricht. 
Dieses Ideal stent- aber audi nicht wieder von vorn- 
herein (.a priori") gegentiber der tatsachlichen Wissenschaft 
fest. Sonst konnte man beispielsweise nicht erwagen uiul 
versuchen — wie es die Schule Diltkeys tut — . ol> sich die 
historische Kekonstruktion nicht doch auf einfiihiendes Yer- 
stehen griinden UeBe. Soudern dieses Ideal wird konatniiert 
erst im Zusammenhang mit- der tatsachlichen Wissenschaft. 
Von dieser aus soil das Ideal wissensehaftlicher Erkenntnis 
entwickelt werden. Erst dadiirch wird die sonst beliebige 
Festsetzung determiniert. Es hat keinen Sinn, ein Ideal will- 
ktirlich aufzustellen, ohne sich urn die Bedingungen seiner 
Realisierung zu ktimniern. Es handelt sich in der Wissen- 
schaftslehre also darum. an dem tatsachlichen wissenschaft- 
lichen Erkennen das klarzulegen, was damit eigentlich gewollt 
ist und was damit erreicht werden kann; die ohersten Gnivicl- 
siitze wissensehaftlicher Arbeit daran aufzusuchen und explizit 
zu fonnulieren: durch kritische Prufung der konkret vor- 
liegenden Wissenschaft den Begriff der idealen Wissen- 
schaft und Hirer Formen zu konstHuieren. 
Der Gesichtspunkt der Kritik ergibt sich dabei aus der 
Aufgabe. aus der Einstellung auf das Ziel einer einwandfreien. 
vorbildlichen und als soldier moglichen Erkenntnisform. Was 
als vorbildiieh. einwandfrci zu betrachten ist. das bestimmt 
ein leizter. allgemeinstei' Wertgesichtspunkt. der wirklicli 
30 V. K r :i ft. 
a priori, als von vornherehi feststehender zugruiicle liegen 
nmS, weil er unentbehrlieh ist. well sonst iibevhaupt nichts da 
ware, was die konkrete Gestaltuug ties Erkenntnisideals leitet. 
Worin dieser letzte Wertgesichtspunkt besteht, ob es der log'i- 
sche (Jharakter der Einheitlichkeit und Konsequenz i-st oder 
der biologische Charakter der .Okouomie 1 oder ein anderer. — 
das ist ein Problem fiir sich; das bet riff t nielit mehr die 
Methode, sondern die Grundlagen der Arbeit dev Wissen- 
schaftslehre. 
Die Wissensehaftslehre legt also nioht die tatsachliche 
Wissensehaft allein. sondern auch einen allgemeiusten Wert- 
gesichtspunkt fiir deren kritische Beurteilung zugrunde. Da- 
dureh veriuag sie sieh uber die blofie Absehrift der tatsach- 
lichen Praxis eines bistorischen Wissensehaftsstancles zu er- 
lieben. Damit geht aber auch eine im Prinzip willktirliche Fest- 
setzung in sie ein, eben die jenes Wertes. Dieser laBt sick 
nicbt mit Husserl als eine intuitive Einsicht in Anspruch 
nehmen. weil er in verscbiedener Weise gewahlt werden kann. 
Fuel dieser ('harakter der Festsetzung. die in mehrfaeher Weise 
zu treffeu moglich ist. koimnt dann auch bei der Konstituie- 
mjig der idealen Wissenschaft und ihrer Form en zur Geltung. 
Wenn es spiiter (S. 287 f.) als eine wesentliche Eigenart der 
Wissensehaft erklart wird. ihre Ergebnisse zu begriinden 
und damit einsiehtig und nachrecbenbar zu machen. so ist das 
eine solche Festsetzung. ein bestinnntes Ideal von Wissen- 
sehaft. F,s wilre aber auch ein Wissenschaftsbegriff denkbar, 
der diese Forderung fallen lafit und nur die systematische 
Ordnung behalt. Er wiirde freilich weniger leisten. Fiir das 
holier gespaunnte Ideal kommt es aber darauf an. zu zeigen. 
daB es moglicb ist. es durchzufuhren. Was man als Wissen- 
sehaft gelten lassen will, ist im Orunde ebenso Avillkurlich und 
Defiuitionssache als beim Kunstwerk oder bei der riittlichkeit. 
Damit ist der Sinn, in clem die Wissenschaftslehre die 
latsiichliche Wissenschaft zur Grundlage nimmt. wohl hin- 
reichend klargestellt. Sic untersucbt analytisch das konkrete 
Erkennen der vorliegenden W'issenschaften und leitet daraus 
iuduktiv die allgemeinen Verhaltnisse. Formen und Prinzi- 
])ien wissenschaftlieber Erkenntnis ab, dabei gele-itet von dem 
kritischen Gesichtspunkt grundsatzlicher Forderungen aus 
])it? (immlfornioiL <\or wisheiix-liuftlic-lieu Aletliotlpn. ol 
eineni idealen Wert. Man darf Hire Methode daber wohl als 
erne kritisch g'eleitete lnduktion bezeichnen. 
Der Xeu-Kantianismus erklart mit Betonung als die 
Methode der Erkenntnistheorie die transzendentallogische. Sie 
ist das Verfahren der F rages tell img: Wie ist Erf aiming miig- 
licbV Wie ist Mathematik, wie ist Wissenschaft moglich? Es 
ist das Verfahren der regressiven Analyse der erkenntnis- 
theoretischen Bedingungen, Voraussetzungen der Erkennt- 
ids. 12 Damit erweist sie sich aber dock eigentlieh nur als die 
spezifische Methode der Axiomatik. Es ist das wichtige Ver- 
fahren, die Voraussetzungen klarzulegen, aber es kann nicht 
das allgemeine Verfahren der Erkenntnistheoric oder wcnig- 
stens der Wissenschaftslehre bezeiclmen. Denn es setzt sehon 
ein ideales Erkennen voraus, um so fragen zu kounen und 
oin befriedigendes Result at erwarten zu diirfen. Es wird dabei 
die Unvollkommenheit der Wissenschaft, von der man aus- 
gehen kann. ganz vernachlassigt; oder vielmehr — ■ es wird 
dabei zum Problem, ob die tatsjichliehe Wissenschaft iiber- 
haupt die Grundlage bildet als dasjenige. nach dessen Mog- 
lichkeit und Voraussetzungen man fragt. Lehnt man ihre Zu 
grundelegung aber ab, dann kann man die Moglichkeit der 
Wissenschaft nur frei und ganz ohue Basis konstruieren — 
als vollig willktiiiiche Festsetzung'. 
II. Die Theorie. 
I. Die wissenschaftstheoretische Eigenart der 
Mathematik.* 
1. Der ideelle Charakter des Gegenstandes der Mathematik. 
Dq\i Gegenstand der Mathematik bilden in der Arith- 
metik (Algebra und Analysis) die Z ahlen. In ihrer einfaeh- 
sten Oestalt. sind es die positiven ganzen Zahlen, die 
.naturlichen 4 Zahlen. Ihuen ist als wichtige Evganzung die 
Null hinzugefiigt worden, erst im Mittelalter von den Indein 
her." Die erste groBe Erweiterung des Zahlbegriffes daruber 
hinaus ergeben im 13. Jahrhundert, aber bis ins 17. Jahr- 
* In bezii"- auf riiesen und den 1. Teil lies V. Abschnittea bin ich 
Hrn. Prof. H. Halin ftlr mehrfachen Rat zu besondorem Dank verpflichtet. 
32 Y. K r a f t. 
iiundert noch in ihrer Zulassigkeit bestritten. die n e g a t i v e n 
Zahlen. In ilinen wird eine none, eigene Art von Zahlen neben 
den positiven gesehaffen. urn die Aufgaben der Subtraktion in 
unbcschrankter Allgemeinheit durchtuhren zu konnen. Eine 
zweite grofie Erweiterung" bildcn die g e b r o e li e n e n 
Zahlen. welche eingel'iihrt wurden. uni die Aufgaben der Divi- 
sion ganz allgemein durehMhren zu konnen. — Neben den 
ganzen mid den gebrochenen posiiiven und negativen Zahlen. 
die als die .rationalen' Zahlen zusammengofaBt warden, wird 
abermals eine ganz neue Art von Zahlen in den irrationa- 
len Zahlen aufgestellt. Han wird zu diesen gefuhrt. indem 
sich Rechenopcvntiouen ergeben. die durch keine rationale 
Zahl gelost werden konnen. z. B. die Quadratwurzel a us jeder 
rationalen Zahl, die nicht selbst ein Quadrat ist. oder die 
zahlenmiifiige Bestimmung des Vernal tnis-ses von Kreisdurch- 
messer und -peripheric oder von Diagonale und Seite eines 
Quadrates. Der allgemeine Begriff der irrationalen Zahl und 
damit das System aller denkbaren Irrationalzahlen la fit sich 
auf verschiedene Weise entwickeln: entweder nut Dedekind 
durch den Gedanken eines Schnittes innerhalb der Reihc der 
rationalen Zahlen oder mit Heine. Cantor und Meray durch 
den Gedanken sozusagen eines Grenzwertes konvergenter 
Keihen von rationalen Zahlen oder mit WeierstraB auf eine 
dritte Weise. Im Wesen ist es der Begriff von Zwischenzahlen 
zwischen den rationalen Zahlen. urn durch sie ein Zahlen- 
kontinuum herzustellen. Diese neuen Zahlen werden mit Hilfe 
der rationalen Zahlen exakt ausgedriiekt. Fur die praktisebe 
Anwendung werden sie durch Keihen von Briichen als Nahe- 
mngswerten vert re ten. — Eine abermalige Erweiterung 
des Zahlbegrifies liegt endlich in den imaginjiren Zahlen. 
in denen ebenfalls eine ganz neue Zahlengattung eingefithrt 
wird. Es sind das die Quadra twurzeln der negativen Zahlen. 
Da zwei negative Zahlen multipliziert eine positive ergeben. 
kann keine der ,reelleiv Zahlen. d. i. der rationalen und irratio- 
nalen zusammen. der Forderung Geniige leisten. zum Quadrat 
ei'hoben. d. h. also mit sich selbst multipliziert. eine negative 
Zahl zu ergeben. Es ist dazu eine ganz neue Art von Zahlen. 
aufgebaut mit Hilfe einer neuen Einheit 1 — 1 = i. erforderlich. 
Desiialb wurden sie aber selbst von Descartes bei ihrer Ein- 
l>io Griinrtl'onncn der wissz-nsrlinftlir-hen M<4]mx];»ji. 33 
fiilirung (lurch Girard 1021) als amaginaV bestiitten und nlv 
gelehnt 11 (£. 89, Anm.). All das wind Erweiterungen des Zahl- 
beg'rilies tiber den Rahmen der natiiiiichen Zahlen welt hinaus 
(lurch Seh op fun gen neuer Zahlenarlen. zu dem Zweck, um die 
Rechenoperationen iti unbeschriinktei' Allgemeinheit dureh- 
fuhren zu konnen. Diese neugesehaffenen Zahlenarten folgen 
donselben Gesetzen, wie sie das Rechnen rait den natiirlichen 
Zalilen bestimmen (Hankels Prinzip der Permanenz der for- 
malen Gesetze). Die Gesetze der Yerkniipfung bei all den 
Zahlenarlen sind von der Art. .da 6 die schon bekannten 
Reeheuregeln im Gcbiete der naturlichen Zahlen als Spezial- 
I'alle in den neuen Regeln enthallen sind' 15 (§ 12). Dazu 
komraoii a Is die letzten. neuesten Erweiterungen des Zahl- 
begrift'es die transfiniten Zahlen. die unendlicben Mengen 
von versehiedener Maehtigkeit, deren Rechnnngsgesetze aher 
von deuen tier endlidieu Zahlen wesentlich abweichen, ferner 
die (■Juaternionen und andere hohere komplexe Zahlen und 
die sogenannten nicht-archimedischen Zahlen. 
Alle diese Erweiterungen des nrsprtinglichen Zahlbegriffes 
zeigen sieli anf den ersten Blick als rein ge d a nkli c h e 
Gehilde. ah Schopfungen von gedankliehen ilitteln. urn 
gedanklicbe Operatiouen nach den gleichen Regeln dureb- 
fiibren zu konnen. i^ie bezeichnen daher nicht Ve iiia.lt nisse der 
erfahrbaren Wirkliclikeit, sondern Beziehungen begrifflicher 
Inlialtc. die nur im denkenden Bewufttsein vorhanden sind. 
In diesem Sinne werden sie als ideelle Gebilde. im Gegen- 
satz zu realen oder pniziser: wahrnelimbaren oder auf Wahv- 
nehmbares notwendig zu heziehenden, bezeichnet. 
Die positiven ganzen Zahlen enthalten, als die ,natur- 
lichen' Zahlen. allerdings Verhilltnisse, die in der Erfahrungs- 
wirklu'hkeit vorkommen: sie bestimmen die iMehrzahl. die audi 
etwas empirisch Rcales ist; und auf Beziehungender iiaturlichen 
Zahlen lassen sicb (nach Kronecker) alle andere n Zahlen zu- 
I'tickffUiren. Trotzdem kann man aber nicht sagen, dafi der 
Gegenstand der Arithmetik ein realer ist. Denn fur die Arith- 
meiik ist. die Wirkliclikeit d<.T Zahlen und ihrer Bezie- 
luingon vollkummeu gieichgiiltig — wenn man uuter ,wirk- 
licb' oder .real' das Vorhandenscin in der konkreten zcitlich- 
raunilichen Welt der Natur oder des Bewutitsoins versteht im 
Sitzungsljei'. d. phil.-liist. Kl. 2QS. BiJ. 3. Abli. il 
34 V. K r a f t. 
Gegensatz zum zeitlosen Bereich des rwn ideellen Gehaltcs. 
Ks liegt gar nicht im Sinno (.lor Aritlimolik. solchc Wirklichkeit 
till" die Zahlen iu Ansprueh zu nehnien. Sie behandelt sic als 
rein gedankliche Inhalte, als ideelle Gehilde. Zur Wirklichkeit 
habeu sie nur die Beziehung, da 6 sie unter bestimmten Bedin- 
gnngen auf sie anwendbar sind. Weil die Zahlen niclit als 
wirkliehe Beziehungen, sondern bloB als ideelle in der Arith- 
metik in Betraelit konimen, braueht sie sie audi nicht aus der 
empirischen Wirklichkeit erst zu gewinnen. so wie das z. B. bei 
den Begriff en der Zelle und der Stoffe der Fall ist. Das, nm was 
es si eh in der Arithmetik eigentlieh handelt, ist die Ableitung 
der inneren Beziehung'en zwischen den Zahlen selbst. die sie 
als bloBe .Gedaukendinge" iu ihrem Bildungwgesetz eiuiach defi- 
niert und an den Anfang stellt. Es kommt ihr nur auf die 
logisch erweisbaren. durch Bechenoperationen erschlieBbaren 
Beziehungen zwischen ihren deiinitorisch festgesetztcnBegrifl's- 
iuhalten an, ohnc alle Beziehung zur Wirklichkeit. Darum mufi 
der Gegenstand der Arithmetik als ein ideeller bezeichnet 
werden, im Gegensatz zu realen Gegenstlinden (wie denen der 
Biologie, Geologie. Psychologies 
Dieser ideelle Charakter tritt an den beiden j (lugs ten Ge- 
bieten der Mathematik. der Mengenlehre und der Gruppen- 
theorie, wenn moglich noch deutlicher hervor. Die Mengcii- 
lehre handelt von dem allgemeinen Begriff einer Menge und 
den Beziehungen innerhalb einer solchen und den Beziehungen 
zwischen Mengen untereinander. Sie entwiekelt diese Bezie- 
hungen rein logisch aus den definitorisch aufgestellten Eigen- 
schaften der Menge. Dieser Begriff der Menge ist kein anderer 
als der abstrakte Begriff der Klasse und ihrer Individuen. 
Ebenso untersucht die Gruppentheorie die Yerkiuipftmgs- 
beziehungen zwischen abstrakten Objekten. Eine Beziehung 
zur Realitat kommt da nirgends in Frage. 
Niclit minder gilt dieser ideelle Charakter Mr den Gegen- 
stand der Geometrie — wiewohl sie. wie von Kant, so 
auch heute noch von den Philosopher! vielfach als Lehre vom 
wirklichenRaurn betrachtet wird. Ihre Grundbegriffe sindkeine 
Begriffe von realen Objekten oder deren VerhaRnissen. In den 
verschiedenen .Systemen der Geometric, der metrischen. der 
pmjektiven nsw., lassen sich die GnuidhegrinV auf zuci 
Die Grundformen der wissenscluiftlichen Metlmden. 35 
zuriickfiihren: auf einen Kl as sen beg riff, don Punkt, und einen 
Beziehungsbegriff. die Kongruenz. .der manchmal. wenn die 
Analyse nicht bis zu Ende gefuhrt ist. in Form eines Klassen- 
begriffes (Gerade. Streeke. Vektor) auftritt' 111 (S. 218). 
Die geometrisehen Grundgebilde: Punkt.. Linie. Flache. 
Raumkompartiment. uud diegeomotrischen Grundbeziehungen; 
daft ein Punkt auf einer Linie liegt, zwischen zwei anderen 
liegt. daB zwei Linien sieli sdmeiden usw. liaben fur die ge- 
wohnlicho Auffassiing einen Sinn, der nur von der .An- 
sehauung", der Raiimwahrnehmung her, verstanden werden 
kann. Was in ilmen dann mathemntisch gedacht wird. ist 
aber keineswegs dasselbe wie etwa die anschauliehen 
Gebilde. durch welehe sie illustriert warden (s. dazu spater 
S. 40 und 41). Es sind absolut eindeutigc Fest- 
legungen von S tell en im Ran in. Die anschau- 
liclien .Punkte', .Geraden'. .Ebeneir sind immer Teile des 
Wahrnehmungsraumes. die mit einem von ihrer rmgebung 
versrhiedenen qualitativen Inhalt erfiillt und dadurch abge- 
grenzt. individualisiert sind. Wenn wir mit ihrer llilfe raum- 
liehe Best i mm un gen trei'fen. miissen diese immer ungcnau 
bleiben. o<ler besser: gel ten sie innerhalb gewisser. durt-h die 
Beobachtungsmoglichkeit gegebener Genauigkeitsgrenzen. 
Wenn wir einen geograpliisehen .PunkP auf der Erde bestiin- 
men. (z. B. die geog rapid sc he Lange und Breite von Wicn). so 
stellt dieser .Punkf einen Toil des Raumes dar. der mehrere 
ijuadratkilometer groB ist. End wenn wir dieseu Raum- 
absehnitt aueh immer weiter einengeu bis auf einen winzigeu 
Fleck. — er bleiht dooh immer ein Fliiehenstiick. ein Raumteil. 
und er konnte diesen Chai'akter erst verlieren. wenn er — 
uiiter die Wahrnehmung'ssehwelle hinuntersinkt. Aber als 
letzte Grenze einer solehen fortgesetzten Einengung einer 
S telle im Raum laBt sieli ein Punkt. der nicht mehr ein Flii- 
chenstiick ist. wenigstens denken. Es ist eine immer schiir- 
fere Individualisierung innerhalb des Raumes — bis zur abso- 
luten Eindeutigkeit. die da mit vollzogen wird. Ebenso be- 
deutet die Gerade (und die g'eometrische Linie uberliuupt) die 
vollkommene Individualisierung eines '/ usa mm en hange s 
zwisohen solehen absolut individualisierten Raumelementen. 
Wenn soil Euklid der Punkt als jenes paradoxe El was ohne 
:)* 
36 V. Kraft. 
alio Au.sdehnung bezeichnet wird und die Linie als cine Lauge 
ohnc Breite und Dicke usw.. so ist tier eigentliohe Sinn dabei 
der, im Raume Stellen (und Beziehungeu zwischeu ilinen) zu 
isolieren und voneinandcr zu unterscheiden in einer absolut 
genauen Weise. Im Punkt, in der (leraden . . . -\verden die 
Mi tit el geschaffen. ura rnterschiede und Zusannnenhange im 
Raum. uiu rein raumliehe Lageverscbiedeuheiten und -bezie- 
hungen mit vollkonunen eindeutiger Bestimmtheit wenigslens 
denken zu konneu. Punkt. Gerade usw, sind die Fonnen. in 
denen die Individualisierung von Raumstellen und -beziehun- 
gen 1 e d i g 1 i e h il u r c h die raumliehe V e r s c h i c d e n- 
beit s e 1 b e r begriindet gedacht wird, wiilirend sieunsinder 
Erfahrung iramer dureh qua li ta ti v e Yerschiedenheiten des 
Raumerftillenden gegeben wird. und in denen diese Individua- 
lisierung als eine vollkom men e gedacht wird, wiilirend 
die anschaulichen Figuren (Punkte, Geraden . . .) als wenn 
audi nocli so kleitip oder sehmale Flaeheiistiicke (Raumteilo) 
immer nocli neue Raumunterschiede in sieh zulassen — wenig- 
stens in Gedanken. Punkt, Gerade . . . als geometrische sind 
somit geradezu idea le Gebilde. In ihnen sind rein ideelle 
Bestinimungsmittcl fiir den Kaum geseliaffen, denen so in der 
Wirklichkeit nichts entspricbt. Sie enuoglichen nur rein ge- 
da-nklioli eine exakte Bebandlnng raumlicher Yerhaltnisse. 
Ebenso ist. unschwer einzusehen, daB die Beziehungen der 
Kongruenz nicht eine solehe innerhalb der Realitat sein kann. 
Wenn Euklid die Kongruenz durcli die Moglichkeit der 
Deckung von Figuren definiert, welche wieder die Bewegung 
derselben voraussetzt. so kann das doch keine Zuruckfuhrung 
dieser Beziehung aid eine solehe der Wirklichkeit bedeutcn; 
man kann sie nicht von einer pbysischen Bewegung der Kor- 
per imRaum herleiten — wie Helmholtz 1SI — weil sich die mc- 
triseben Eigensehaften des Raumes nur mit Hilfe unveriinder- 
licher und nicht deformierbnrer starrer Korper. also idealer. 
bestiminen lassen. ,Nicht weil zwei Figuren deckbar sind. 
sind sie kongruent. sondem umgekelirt. [nur] weil sie kon- 
gnient, sind, konneu sie znr Deckung gebracbt werden' 1 '" 
(rf. 200). Die Kougruenzbezielumg ist eine selbstiiudige, un- 
zuriickfiibrbare Beziebung der Korrelation zwiscben Figuren, 
eine eiirone innere Besrielimm* zwischeu ideellen (Vbilden also. 
]>\i- t ininilfnnni'ti ilrr w J^seii-i/liiiHIicln.'ii Mi.'1]ioili'ii. ;> i 
Aber der .Raunr, auf den sich die geontetrischcn Begriffe 
beziehen. ist nun heuto gar niebt mehr so etwas wic der an- 
schauliche Raum. Die Geometrie hat aus ihm nur das 
.System der Anoi'dmuig ciner iJannigfaltigkeit tiberhaupt 
berausgehoben uiul zieht an ilnn blofi die reinen Beziehungen 
in der Auordnung eiuer hcliebigen JIaunigt'altigkeit. wenn sie 
nur inehrdimen.sional, d. i. in mehrfarhen Rcihen angeordnet 
ist- in Betracht. Dam it wird der .Raunr der Geometrie seiner 
spezifisclien, ansehaulidieu Eigenart ganz entkleidet; diese 
geliort der i nh a HI i c h en Besonderheii eines Anordnungs- 
gefuges zu. 
Die geoiuetrisehen Grmidbegrhre damkt, Gerade, Kbenc, 
Winkel. zwisehen, kongrnent . . .) iindern damit ihren Sinn: 
den alten. ursprunglichen der Euklidscheu Deflnitionen, der 
aits der Raumwahrnehmung an.sehaulich illuatrierbar ist. vcr- 
lieren sir* und erhalten einc viel allgemeinere formalc Bedeu- 
tung. Ini ersteren Shine bezeidmen die Grundbegrh'i'e Beschal'- 
fenheitcn. welclie dem ansduiuliehen Raum i n d i v i d u e 1 1 zu- 
konnuen, in letztevem Sinne nur solche, welche ihm mit jeder 
auderen lhiearen dreidimenshmaleu Mannigfaltig-keit gemein- 
sam sind: sie enthalten nur das. was lediglieli formale Besehuf- 
fenheit und Beziehung daran ist, was das allgemeiue Anord- 
uungsgel'uge darau betriilt. Sie stellen eiue huhere Allgemein- 
heitsstufe. eine .Formalisierung' dar. Die Grundbegriffe im 
a n s c h a ul i c h e n Sinne bedeuten demgegenuber schon eiuc 
in a t e r i a U-. qualitative ErfiUlung der GrundbegriiTe im 
I: o rm al en Shine. Sie gelien damit- also ii.be r das. was fur das 
rein Mathemattsche erfordcrlidi ist, hereits hinaus. Ihre an- 
sduudiehe Eigenart sniclt audi in den niatliematiscben Deduk- 
tionen selbst gar keine Rolle; es wird gar nie auf sie rekur- 
riert; es kommt dabei ausselilielSUcii auf die formalen. in den 
Aximnen festgelegten Eigensdiaften an 1T (I. H>8. KK)), 1 * (§ D! 
lit, n, S. Ill), 111). 
Der Begriff des I'unktes und die seiner Systeme bedeuten 
in der niodernen Geometrie blofie. Symbol e fur Klassen von 
beliebigen Objekten. welehe bestimmte Bedingungen erfiillen. 
Hilbert begiunt seine .Grundlageu der Geometrie 1 (18!M)) mit 
der Erkliirung in bezng aid dip geometrisdien .Elemente': ,YVir 
denken drei versehiedene Systeme v:>n Dingen. Die Dinge 
38 v. K in ft. 
des ersten Systems neunen wir Pimkte . . .. din Dingo des zwei- 
ten Systems nennen wir Gerade . . .. die Pinge dps dritten 
Systems neuneii wir Ebenen . . . ; .Wir denken die Punkte, 
Geraden und Ebenen in gewissen gegenseitigen Beziehungeu 
und hezekhnen diese Beziebungen dureh din Wuvte wie <4ie- 
gem>. «zwiseheu», ftparallek, «kongruent>. «i»tetig»; die ge- 
naue mid vollstandige Beschreibung dieser Beziehungeu erfolgt 
•lurch die Axiome der Geometrie.' Daher kanit man gegebeneu- 
falls n nter .Punkten' auch Kreise in einer Ebene verstchen 
und unter .Geraden 1 dann bestimmte Systemc von Kreiscn und 
audere sole he unter .Ebene'. Statt von Punkten und einer Ge- 
raden, auf der sie liegen. spricht man dann bloJi von zwei ver- 
schiedenen Klassen und einer gewissen Art von Beziehung. die 
zwiscben den Gliedern der belden besteht. Es ergibt sicli dann 
an Stelle der gewblinlielien Geometrie. wie sie in einem System 
von spezifischcn Bezielmngen zwiscben spezifischen Punkten, 
Geraden. Ebenen usw. besteht. ein System von allgemcinen 
IVziehungen zwisehen nur ganz allgemein bestimmten Klassen. 
Es stclH keiuen Kaum im gcwohnlichen, voni Ansehaulichen 
her verstandenen Sinn meiir dar, sondern ein bloB formalcs 
Beyjeliungs.- oder Orduungss.ystem. cine geordnete ^lannigfal- 
tigkeit. die .dreidimensional' ist, wenn sie sicli a us Beziehun- 
geii zwiscben drei Arteu von Gliedern aufbaut (aus ,Drei- 
Term-Relationen"). die aber cbensogut n-dimensional sein 
kann. mit beliebig vielen Art en. von Gliedern. Es ist cine 
Algebrai'sierung der Geometrie. Die Geometrie nennt Kussell 2 " 
(•$ ;J."i2) die Lebre von den zwei- und mehrdimensionaleu Kei- 
ben. .Die Frage, was die aktnellen Glieder soldier Ueihen sein 
mogeu, ist fiir diese Geometrie, welch e aussehlieftlich die Kon- 
seqnenzen der Bezielmngen untersuc.ht, welche sie zwiscben 
den Gliedern postuliert, gleiehgiiltig.' 
Dadurch, dafi sicli die Geometrie so in eine rcine Be- 
zitmungslehre uberfuhren liiftt, indem man die geomotrisdien 
Ekniente iibev ihre anschainmgskuidierte Bcsonderlieit binaus 
zu inhaltlidi unbestinimfen Klassen verallgemeinert. wird ein 
koutinuierlieher Ubergang von ihr in die Arithmetik bcrge- 
stellt. Denn eine snlehe rcine Beziehungslelire. eine Mikhe 
formale Geometrie l;iP>t sicli auch von den Gnmdbogrifl'en der 
Arithmetik. ja von der formnlen Logik her aufbauen. Indem 
Hit' Otuinll'ormi'ii der \visstfn>diaftlH-lieu MeUiodon. «->J 
man ausgeht von den Klassen und cine bestimmte Art von 
Beziehung zwischen den Gliedcrn derselben, die .roihen- 
bildende 1 , die eine bostimmre Ordmmg zwisdien ihnen in einer 
Keilie hcrstellt. ins Augc faBt, kanii man anf Grund der .Alm- 
liclikeit' von Rdhen in Hinsich.t auf ihre reihenbildendo Be- 
ziehung Ordnungstypen der Keihen aufstellen. Eine besonderc 
Art soldier Reilien sind die stetigen Keihen (wie die 
reellcn Zahlen). und sind nun dio Gegeustande einer Klasse 
niclit bloB in einer stetigen Reibe, sondern in Keihen von 
Keihen — Keihen 2. Stufe. :i. titufe und beliebiger weiterer 
(u-ter) Stufen — geordnet. so 1st ein solches Ordnungssystem 
dann eben dusselbe wie der formate .Kaum' der abstrakten 
Geometric: ein drei- bis n-.dimensionales ; Beziehungssystem ai 
I'S. # — 14;. Dainit ist cine Arithmetisierung der JIathematik, 
eine innere Honiogeneitat ihres Gesamtgebietes hergestdlt. 
Denn aus der Avithmetik heraus laftt sich das formale ("refuge 
der Geometric, die Stmktur ihres Beziehungszusammenhangos. 
aufbauen und die gewohnliohe Geometric (der Punkte und 
Union und Fladien usw.) stellt dann nur den ripczialfaU 
dieses allgemeinen Systems dar. in dem an S telle der allge- 
iiicincii Klassen und Beziphungen die ansehaulich versUind- 
lichen Kaumgebilde und Beziehungen treten. 
Die Geometric wie sic die Mathennrtiker beute betreiben, 
ist keineswegs cine Lehre vom wirkliehen Kaum. Als 
.wirkliclicr' Kaum kann dabei Zweifadies in Betradit kom- 
men: a) der (psyehologisdie) Wahruehmungsvaum. d. i. der 
jeweilige individuelle Sehnunn, in den gewohnlich alle Ranm- 
lirhkeitsbeitrage der anderen Sinne eingeordnet werden, odor 
audi bei Blinden der Tastraum, seiner allgemeinen Art nach, 
und b) der (.physi.sdie") Erfahrimgsraum, der eine. objektive 
Kaum. in dem sidi die materiellen Korper befmden und die 
Xaturvorgiinge abspielen. YVeder die raumliehen Verhaltnisse 
dcs erst en, noch die des zweiten hat die Geometrie zmn Gegen- 
stand — wenn sic audi zur Best i miming beider. der speziellen 
Art ilirer Raiimlidikeit, angewendet wird. Man kounte audi 
nicht sagen, daft dies ilir eigentlieber Zweck und die rein identic 
Geometric nur das vurbereitcte Uilfsmittel dafiir set. Denn 
sie muftte dann docli wie jede Wirklichkeitserkenntnis schlieB- 
Jich auf Erfalmmg reknrrieren. Beobachtimg heranziehen. 
40 V. K r ;1 H. 
zumindest eine Ycriiizierung suclieii, Davon ist abcr in der 
mathematischen Geometric keine Kede. Sie steht jeder empiri- 
schen Anwendung vollstiindig selbstiindig als etwas ganz 
Andersartiges gegeniiber. Die Geometrie hat wuhl .gewisse 
Verwaudtscliaften mit dem Raum der wirklichen Welt', aber 
sic besteht ,ohne irgendeine logische Abhangigkeit von die-sen 
Verwaudtscliaften:.-" In der Geometric handelt es sicii nidit 
inn den wirklichen Raum, sondern um .ideale Raume, fiir wel- 
che man kerne swegs reelle Existenz behauptet llG (S.217). Sie 
ist .die Wisscnschaft aller mdglicheu Raumesarten' (ib. S. 221) 
nnd der wirkliche Raum ist nur ein besonderer Fall derselben. 
.Zwisehen alien logisch moglichen Geometrien, die man theo- 
retisch begriinden kann, kanu die Erfahrung allein uns die zu 
wiihleu gestatten. welche wir auf die <'.reale v < Welt, d. li. auf 
die Welt uuserer Erfahrung anwenden werden' (ib. S. 122). 
Eine Lehre vom wirklichen Kaum (angewandte Gcometrie) er- 
tordert die Verifizierung ciner bestimmten Anzahl von Fostu- 
laten der reinen Geometrie durch die Erfahrung. Russell 2 " und 
mit ilim Conturat 1,; (S. 221) nenn.t sie deshalb uicht blofi eiuc 
(.mpirisehe Disziplin. sondern sogar eine ,Experimentalwisscn- 
schaft 1 mit Hilfe von sorgfiiltigeii Messungen. Die reine Geo- 
metric entwickelt dagegen eine ganz allgemciue Raum- 
lehre, ohne Riieksicht auf die Eigenschaften des wirklichen, 
des empirisehen Raumes. Ja, sie stelit diesem so fern. daB sieh 
■ schlietJlich ein geometrisch.es System entwiekeln kounte, in 
dem nicht einmal mehr der spezitisch raumliclie Charakter fest- 
gehalten wird. Die Geometric ist beute die Wissenschaft von 
n-dimcnsionalen Anordnungssystemen, nicht vom Wahr- 
nehmungs- oder vom physiseheiiRaum; auf diesen wird sie nur 
angewendet. Damit tritt der ideelle Charakter des Gegenstan- 
des der Geometric in der deutlichsteu Weise hen-or. In ihrom 
allgemeinen. formuleu Sinnc stelleu die geometnschen Grund- 
gebilde eine Art algebraischen Zeichen dar und damit bedeuten 
?ie offenkundig etwas reiu Ideelles. nichts empirisch Reales. 
Man wird viclleieht geneigt seiu. die ldealititt des Gegen- 
staudes der Geometrie fiir einc triviale Wahrheit zu halten; 
al)er niebt nur Philosopbcn wie -I. St. Mill, sondern aucb Mathc- 
nnuiker wie Paseh"- oder. Enriques 17 (II. K;\]i. IV. A) habon 
die Geometric als .Natnrwissensoliaft' auffassen wollen. welche 
Die H niiiill'oniii'ii dor wif^'ii.-vlin It lichen Mt'tlioilcn. 41 
sii-l) vor den nnderen Xaturwissensdiaftcn .iltulurch auszeich- 
net. dafi sic nur eine seiir geringe Anzalil von Begrif'f'en uud 
Gesetzen un mi ttclba r aus tier Er f a h ru n g zu ent- 
nehmen branch t l , als eine Wissenschaft. deren Anwendung auf 
die Wirklichkeit darauf beruht, .daft die geometrischen Be- 
gritfc urspriinglidi ge na u den em p i r i s c lien b j e k t e 11 
entsprachen, vrenn sic audi allmahlich niit einem Netz von 
kiinstlichen Begrif'fen ubersponnen vnirden, mn die thcoretisclic 
Ent/\vicklung zu fordern" ~- (Vonvort). .Punkt' ist dann cin 
.K(irper, desseu Teilung sich mit den Beobaditungsgreuzen 
nielit vertritgr 22 (0. S3j: mid .Linie' ist ein korperliches Ge- 
bilde, bei dem es unmoglich ist, muter Iiuiehaltmig tier der 
Bcobaditung gesteckten Grenzen verscbiedene \\ T eg& zwischen 
denselljen Punkten zuruckzulegen' (S.4). Die in der Erfahrung 
gegebenen Linien sind naturlich immer begrenzt. nicht unend- 
lich (S. 4). Opgen die Idealitiit der Geometric niacin audi 
Aster : "' (^. 2:J2, 2'i5) geltend: Es ist .ein Hauptmhler . . .. daft 
man. als selbstverstiindlidi, die anschauliche Existenz der geo- 
meirischeu Gebilde leiignet'. .Unter Punkten und Linien ver- 
otehen wir Grenzen. die als solche nnschaulidi faBbar 
sind ...',.... wohl aber wissen wir. daft' es gerade Linien als 
ansdiaulidie Gebilde gibt.' 
Mit Gebilden der sinnlidien Wirkliehkeit la'Bt sidi aber 
koine Geometric aufbauen. denn sie sind zu wenig priizise. .Es 
ware unmoglidi. ausnahm>IoseLehrsatze aufzustelleii, wenu man 
die empirisdieu Geradeu und Ebenen in ihrer Unvollkonimen- 
lieit beliefie und nicht einmal ihre raumlichc Begrenzt heit be- 
seitjgen konnte.' 1S Deshalb gibt es audi genug geometrischc 
Postulate, weldie iiberfiaupt nie an ansehaulidien Gebilden 
erfiUlt werden koimen. z. B. die Forderiing aus der Stetigkeit 
eincr Linie. dafi es zwischen beliebigen zweien ihrer Punkte 
immer mindc^tens einen dritten geben muB. Wenu die zwei 
Pimkle. d. i. visible Minima, gerade um die I ntcrsdiieds- 
sdiwellc voneinander cut fen it sind, ist es unmogilch. zwischen 
ihnen einen Punkt einzusdialten, denn er kimnte von bciden 
nicht nntersehieden werden (vgl. 17 . II. S.825). Die empiri- 
sdieu Gebilde dieuen aber audi fur Pasdi nur dazu, die 
Gnmdbegriffe zu crgeben; diese miissen dann jedoch fort- und 
umirebildet werden in einer rtichUing. wie sic (lurch die Be- 
42 v. k vl\ it. 
diirinisse (M nor strengcn Theorie gefordert ist. die aber illicv 
Has empirisdi Gegebene weit hinausfiihrt. .Empirisch in ilnvr 
iii'spriinglichen Form miissen die Begriil'e <>Pnnkt>. «Gerade -- 
usw.. damit mini albgemein giiltige Lehrsiitze aufstellcn kann. 
iiber ihren engen Giiltigkeitsbereich hinaus «erweiitert» wer- 
den; das geschieht rein nominalistiseh durch Einfiihrung einer 
mcrkwiirdigen Spreclnveise. die es erinoglicht, .audi weun 
gerade Liuien einer Ebeue sich im tiberschbaren Raum nidit 
sdmeiden. sie doch so zu behanrteln, als wenn sic sidi sclinil- 
ten' 18 (S, 28). Dadurch kommt man dazu. .uneigentlidie' Ge- 
rade. Ebenen. Strahlenbiindel, Schnittlinicn einzufiihren mid 
von ilnien gerade so zu sprechen, als witren sie wirklie-h vor- 
bauden. Das heiJJt: die«e Geometrie ist genotigt, in allergrofi- 
tem Ma Be mit Hngierten .Tatsachen' statt mit realeu, also mit 
ideellen zu arbeiten. Dicsc .naliirliche' Geometrie bat es so 
wenig miit empirischen Begrii'fen von realen Objekten zu tun 
wie die anderen Geometrien, audi sie venvendet eigentlidi 
ganz dieselben idealen Begriffe wic cliese. Audi hier ist dor 
Definition naeh ein Puiikt etwas, bei detu keinc Teile. 
also keine Ausdehnung in Betracht kommt. mid ebenso eiuo 
Lime etwas. bei dem keine Breilenausdeliniing ex deiinitionc 
zugelassen wird (.auf der es unmoglich sein mufiflj. . . . ver- 
schiedene Wege zwischen zwei Punkton zuritckzulegen' 2 - 
(8.4), ebenso: .Teile einer Flilche diirfenf!] nur in Punkteii 
oder Einien zusammcnstoBeu' (ebd.). Also dem Begviffsinhalt 
naeli sind audi bier Punkt. Lime. Flaclie genau dasselbe wie 
sonst. Es sind nidit die Begrifl'e selbst ungenaner. unbestimin- 
ter gefafit. Was in diesen Definitionen auBerdem nodi darin 
liegt, is.t vielmehv, daB sie eine Beziehung auf die E rfcih rungs - 
wirklidikeiit herstellen. Fiir die praktiscbe Verwendung liegen 
die so definierten Gebilde daim in der Erfahrmigswirklidikeit 
vor. wenu man faktisch keine Teile oder keine versdiiedenen 
Wege usw, miterscheiden kann, .olme die Grenzen zu ver- 
lassen. welelie durcb die Mittcl oder durch die Zwecke der 
Beobachtung gezogen sind' (jb.. 8. 3). Das heifit: uberall kann 
man sinidieho Objekte die Bedingungen der Definition erfiiL 
lend aimehmen. wenn es die Gcnauigkeit der Beobachtung 
uicht verbidet. Das ist aber etwas ganz auderes als ein ompi- 
ristisch-realistisdier Oharakter der Geometric, derail. daB sie 
Die (.ii'uiiilfoniirii der \vi wri i: ~cl i;i ft lichen Metliodfii. 43 
ihre GrundbegTiffe mid -gesetze .umnittelbar aus der Evf aiming- 
eiitnehmen' wiirde und dafi diese realen Objekten g'cnau ent- 
spnicben. Demi es wird dam it die Geometvie niebt auf die Er- 
fabrungswirkliebkeit begriindet. sondern bloB auf sie an- 
gewendet. Es wird damit die Geometric unter deni Go- 
sirbtspunkt entwirkelt, imviefem ihre fragios idealen Gebildc 
als durch siiuiliehe Objekte realisiert behaudclt wei'den durfen. 
Was eine solche aiaturlk'he' (.realistisdie 1 ) Geometric von den 
auderen eigentlich unterseheidet, das liegt al&o darin. daB sie 
auf die Bedingungen der Anwenduiig der Geome.lrie auf 
die Wirklichkcit eingeht. Audi Euriques 17 (II. S. 275) muB 
sdilieBlich den geumetrischen S a t z von seiner A n w e n d u n g 
unterscheiden. DaB die Approximationsmathematik nicbt obne 
Yoraussetzung der Pi-azisionsmatliematik, die empirisehe nicbt 
obne die ideale ila.tlienia.tik moglich ist, spi'icht audi Holder" 7 
(8. 397. 398) aus (vg! auch 24 t?. 134 bis 140). 
3. Die dednktive Methode der Matheinatik und die blolie 
Folgerungsgeltuns ihrer SStze. 
Im vorausgehenden ist meliri'adi auch sclnm die andere 
Eigeuart der Matheinatik bertihrt worden. die fur ihreu Tvis*en- 
sdiaftstneoretisdien Charakter so bedeutsani ist: ihre 
M e t b o d e. Die Matheinatik ist wirklidi das. was das 17. Jahr- 
hundert in ihr gesehen hat: die Wissensehaft der streng logi- 
schoii Deduktion aus klaren Praniisseu. Freilich ist es niclit- 
die Matliematik Euklids. die dieses Ideal verwirklidit. son- 
dern das baben erst die philosoplnsdi-mathematisehen Unter- 
sudiungen zur logisdien Grundlegimg der Matheinatik seit der 
zweiten Hiilfte des 19. JahrhunderTs in bewunderungswurdiger 
Weise geleistet. Dureli die Arbeiten von Frege. Dedekind. Hil- 
bert. Peano. Paseh, Poincare, Russell u. a. laBt sicli sowohl die 
Arithmetik als aueh die Geometrie als eine Folge von fonnalen 
Sddiissen aus einer bcstimmteii Anzahl von Pramissen — 
.Axiomeu 1 und Defhiitionen — darstellen. .Die Lehrsjitze wer- 
den ails den Grundsiitzen dednziert. si> daB alles. was znv l!e- 
gTunduug der Lehrsiitze gehdrt. <>bne Ausualmie sieb in den 
Gruudsatzen niedergelegt tindeu mutt"-- <"S..">). 
Darum stellt sidi uns die Matheinatik lieute anders dar. 
als sic Kant ersehienen ist und als sie gewiihnlidi den Philo- 
44 V. K r » f 1. 
sophen, ui (.'lit nur ilea Neu-Kantianern, noch erseheint. 2 ' 1 Selbst 
jeinaud, der niit der mocleriien Philosophic der Matliematik so 
vertraut ist wie Cassirer. 24 bleibt infolge seiner Bindung au 
Kant dock an den alten Ausehauungen huften. Kant Iiat die 
Satze der Matliematik bekanntlich als .synthetische Urtcite a 
priori' auf Grund einer ,reinen Anschauung' aufgefaf.it. 1st die 
Matliematik aber ciu System von strengen logischen Folge- 
rungen, so konncn ilire Siitze weder synthetisdi sein nodi sidi 
auf Anscbauung griinden. 
Kant a Unterscheidung von analytisdi und synthetisch, 
wie er sie in der Einleitung, IV, der .Kritik der reinen Ver- 
nunft' 2 detiniert, ist nicht hinreichend prazise. Er erklart dort: 
analytisdi ist ein Urteil, wenn das Pradikat ,versteckter 
Weise' im Subjekt enthalten ist, synthetisch, wenn es ganz 
aulierhalb des Subjektes Liegt. Ob dieses Verhaltnis der Ein- 
schlicBung nun stattfindet oder nicht, lal.it sidi aber offeiibar 
nur entseheiden, wenn das Subjekt, und eventuell audi das 
Pradikat, d e f i n i e r t wcrden. Aber audi dann kann der 
analytische oder synthetische Charakter nocfi ein r e 1 a t i v e r 
bleibcn, je nachdem, welche Definition man zugninde legt. 
Es kommt damit audi nicht inehr auf das logisdie Verhaltnis 
des .Prlidikates' zum .Subjekt/ innerhalb ernes Satzes an. 
sondern auf desscn Verhaltnis zur Definition des Subjektes, 
oder auf das Verhaltnis der Definitionen, also auf das Ver- 
haltnis eines Satzes zu anderen Satzen. Und damit wird dann 
der Sinn dieser Unterscheidung der: Alles, was si c h aus der 
Definition eines Begrifl'es logisch ableiten laBt. ist analytisdi, 
alles. was ihr hinzugefiigt wird. synthetisdi. Dahcr liiBt sicli 
diesc Unterscheidung mit Frege und Heymans, denen sidi 
Oouturat l " (S. 258, 259) anschlieBt. direkt dahin bestimmen: 
.Ein Urteil ist analytisdi, wenn es sich einzig mid allein aus 
Definitionen und Gnmdsatzen der reinen Logik ableiten lafit; 
es ist synthetisch. wenn. sein Beweis (oder seine Erhartung) 
a ndo re Daten voraussetzt als die logischen Grundsatze und 
Definitionen.' 
Dagegen hat jedoch C:\ssirer 2 " cingewendet. dafi Kants 
Bestimmung des Unte.rsehiedes von analytisdi und synthetisch 
nach dom logischen Verhaltnis von Pradikat und. Subjekt nur 
.cine populare Erklarung', eine vorlaufige -Nominaldefinition' 
Die Grundformen dor wiK.sensehaft lichen Met hod tm. 45 
sei (S. 88), .I'm zu einer giiltigen Eutscheiduiig fiber deu ana- 
lytisehen oder synthetiseheu Oharakter einer Aussage zu ge-- 
langen. g'euiigt es niemals, die Verkniipfung von Subjekt und 
Pradikat blol.1 nach ihrer formalen Seite ins Auge zu fassen. 
sondern es mufi hier stets zugleicli auf den «t nuissz c n d e n- 
1alen*> Ursprung derjenigen Krkenntnis reflektiert wer- 
den. die itn Subjektbegriff selher uiedergelegt ist' (S. :■]',)). Ist 
pin Subjektbegriff aus .transszendentaler Synthese' in.it Hilfe 
der reinen Anschauimgsformen oder Yerstandesbegrifi'e her- 
vorgegangen. so soil das Urteil als synthetisch gel ten. Wie es 
dann aber iiberhaupt analytische Urteile geben kann. wird 
dam it vollig fraglich. Demi Gassirer fithrt zwei Set ten vorlicr 
selbst aus, daB .j edes Urteil. das irgendwelchen Wert fiir den 
Foi'tschritt der Wissenschaft besitzen soil, seinem letzten Ur- 
spnmg nach synthetisch heiBeir mufi. Denn Analyse ist nur 
auf Grund einer vorausgegangenen Synthese moglich (S. HI). 
Synthetisch mufi dann auch alles heifien, was aus syntheti- 
schen Pramissen dnrch rein logiscbe Sehlufifolgerung ahzu- 
leifen ist. Das zeigt aber dann erst recht den relativen 
('harakter dieser Unterscheidung von analytisch und syn- 
thetisch. Nach dem Verhaltnis des Pnidikates zum Subjekt 
bctraehtet. ware ein Urteil miter den obi gen Bedingungen 
synthetisch; dasselbe Urteil ware aber zugleicli, nach dem Ver- 
iialtnis zu den Axiomeu betrachtet. analytisch, weil cs rein 
nach den Siitzen der Identitat und des Widerspruehes ah- 
geleilet ist. Jedenfalls wird damit das eine offenkundig, da (5 
es eine reine Detinitionssache ist. ob man ein Urteil analytisch 
oder synthetisch nennen will, \ Varum os sich aber bei der 
Krage. ob die Satze der Mathematik analytisch oder synthetisch 
siud. eigeutlicli handelt. das ist vielmehr: ob ihre iU'lUing 
lediglich auf den Oesetzen derLogik beruht oder 
auf and even Oeltungsgrundlageu (Aiisciiauiing odor audi 
nprinrischer intellektueller Synthese). 
a) In der Arithmetik. 
Die Siitze der Arithmetik griinden sich lediglich auf 
ilive logiscbe Ableitung aus den arithmetischen Axiomeu und 
meht auf ir<i"cndein<' Anschannng. Das hal die svstcmatisrhe 
46 V. K r a f t. 
Fjitwicklung dcr Arithmetik scit Frege zweifellos gemaeht. 
Knd das lit fit sidi auch an Kauts bekanntem Beispiel (in der 
.Kritik der reinen Veniimft'. s Einleitung, V) 7 -f- 5 = 1 2 
zeigen. Zur Klarstellung des eig-entliolieii Fragepunktes sei zu- 
uiidist bemerkt: Das .Subjekt', worin die Zahl 12 evcntuell ent- 
lialten sein soil, ist der gegebeuc Ansatz. mid das sind nidit 
die einzelnen Zahlen 7 und o mid das Zeichen ihrer Sum- 
mierung, sondern die Beziehung 7 + 5 zwischen ihnen. Zu den 
einzelnen Zahlen kommt darin als etwas Neues die Beziehung 
ihrer Srnnmo hinzu; und da. rum, geht die Frage, ob mit dieser 
Summenbeziehung zwischen 7 und 5 audi schou die Zahl 12 
implizite mitgegeben ist und daher nur analytiseh cntwickelt 
zu werden braucht, oder ob sie erst auf Urund von A n s e h a u- 
ung zu ihr hinzugefiigt wird. Dafi die Sunime von 7 und 5 
12 ist, lafit sich nadi Couturat 1 " (S. 209) deduzieren 1. aus den 
Definitionen der Zahleu 2 bis 12 als 1 + 1. 2 + 1, . . ., 11 -f 1, 
und 2. aus der Definition der Summe und. dem Assoziations- 
gesctz a + (b + 1) = (a + b) + 1. Auf Unind dessen ist 
7 + 5 = 7 + (4 + 1 ) = (7 + 4) + 1 , ebenso 7+4 = 7+3 + 
+ 1 (vereinfacht ohne Klainmern). ebenso 7 + :-J = 7 + 2 + 1 
und 7 + 2 = 7 + 1 + 1:7 + 1 = 8 (gemafi 1 ). daher 7 + 2 = 
= 8 + 1 = 9. demuach 7 + H = i) + 1 = 10, daher ebenso 
7 + 4 = 11 und endlieh 7+5 = 7 + 4 + 1-11+1 = 12. 
Dieser Satz wird also abgeleitet dureh Substitution identisdier 
Ausdriieke gemafi den arithmotischen Axiomen und erfordert 
nicht im geringsten die Zuhilfenahme von Anschauung. .Halt, 
man sicli vor Augen. dafi die Grundformeln der Buchstaben- 
rechnung Lehrsiitze sind. die durchaus nieht als tautologiseh 
bezeidmet werden dtirfen. so ist es klar. dafi dieso sogenannte 
«Recbnung» nichts anderes i-st als ein SddieBen auf Griuid 
dieser Lehrsiitze 12 ' 1 (S. 7). 
Kant argmnentiert fur den synthetischen ('harakter die- 
ses Krteils. dafi .der Begriff der Summe von 7 -j~ 5 uidits welter 
en thill t als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige'. und 
duB man den Begriff von eiiier solchen mogliehen Summe nodi 
so hinge zergliedern mag. ohne doeh die Zahl 12 anzutrcffen. 
Dies trifft aber nur zu unter der Bedingung. dafi man dabei 7 
lediglidi als eine bestimmte Klawse von Mengeti und 5 als cine 
andero Meiiirenklasse und deren Vereinigung zu e i nor 
Die G-rnmUorman der wissenschaftliehen Methoden. 4( 
Mengenklasse im Augc hat, aber nicht 7 und 5 als bestimmte 
*>liecler in tier Reibe der natiirliehen Zahlen. Dann ware es 
a Herding* iiiclit von vornherein zu sagen. welche Mengeu- 
klasse das ist. weil ja der Weg zu ihr fehlt. Kant glaubt ihn 
in einer Anschauung gegeben. .Nidit durch gedankliche Zn- 
sammensetzung der beiden Begrilio von 7 and 5 erhalto ieh 
den Begriff von 12. sondern durch Hire K on s t r uk tion in 
d e r A n ^ c. h a u u n g und durch ansehauliche Zusammen- 
>etzung der beiden entsprechenden Mengen behufs Bildung 
einer einzigen' (a. a. (I.). Kami Anschauung das aber wirklich 
leisten? Fiir kleine Summen wie 7 + 5 kann man noch da ran 
denken (z. B. durch Abziihlen an den Fingern). Aber wie soil 
ftir Summen von llillionen Anschauung nocli h elf en?! Wenn 
es aber wirklich so ware, daft jeder solcbe Summierungssatz. 
ja jeder arithmetische Satz iiberliaupt ein synthetlsehes Urteil 
auf Grrund rciner Anschauung ware, dann gabe es doch eine 
llnzahl von unmittelbar gewissen, unzuruckfiihrbaren, unbe- 
weisbaren lctzten Satzen! Es hatte das eine Atomisierung dor 
Arithmetik zur Folge, die zu ihrem systematisch-deduktiven 
Aufbau in paradoxem Gegensatz stunde. Darum kann nicht 
jeder einzelne arhhmetiselie Satz auf Anschauung gegriindet 
und in diesem Sinne synthetisch sein. 
Sobald man in 7 + 5 nur zwei isolierte Mengenklassen nnd 
■ ilirc Vereinigung zu einer daclite, Uefie sicli diese nicht nahev 
bestimmen. Es nitissen vielmehr darin die Zahlen als (Uicdov 
der Zaldenreihe (die Mengenklassen geordnet in die Zahlen- 
veihe) gedacht sein. Wenn man die Summe von 7 und 5 als 12 
orrechnen will, ist die Zaldenreihe und ihr Bildungsgesetz not- 
wendige V oralis se t zung. Nur wenn niit 7 und 5 audi 
schon gegehen ist. kraft Hirer Detinition und dessen. was diese 
impliziert. dafi 5 — 4+1 und 4 = <) + 1 usw. und dafi 7 + 1 — 
= 8 und 8 + 1—9 usw. ist. nur dann werden alle die Sub- 
stitutioneu moglieii. durch die man. 5 zu 7 hinzufugend, in. der 
Zaldenreihe bei 12 anlaugt. Ohne die Definitkmen der Zahlen 
nnd das Additions- und das Assoziatioiisgesetz vorauszusetzen. 
lafit sick eine Summe iibcrhaupt nicht bestimmen; audi ,An- 
sdiauung - hilft da nicht das geringste. Wenn man diese Salze 
aber eintnal voran^etzt. dann laBt sich audi jedo Smmne rein 
48 V. Kraft. 
logisch ableitcn. Uiul so allgeiuein: sind die Axiome gegeben. 
so folgen die arithmefischen Siitze rein logisch daraus. 
(Wcnn Holder 27 [§ 127J das Kantsche Beispiel als einen 
analytischen Satz bezeichnet. so hat das darin seinen Grund, 
daB die Unterscheidung von analytisch und synthetisch eben 
eine relative, weil von Deiinitionen abhiingige. ist. Demi er 
versteht nnter 7 mid 5 nicht die Zahlen. wie sie die Elemente 
der Arithmetik bilden, sondern nur die Zahlen als ,Stellen- 
zeichen' [§03J, wonach die Zahlen zunachst keinerleiBedeimiug 
haben sollen als die durch ihre Reihenfolge 1, 2, 3, 4, 5. 0, 7, 
S, 9, 10, 11, 12 gegebenen, wonaoh «Eins hinzufugen» nichts 
anderes heiften soil, als .zum folgenden Glied der Reihe tiber- 
gehen' [S. 303]. Dann ist allerdings 12 als Ergcbnis einer dcr- 
artigen .Addition' nicht ans den Voraussetzungen deduzierbav, 
sondern nur durch faktiscbe Abzahlung zu gewinnen: also in 
der Tat ein synthetiscbes Urteil. Aber die Zalilen sind dann 
eben nicht in dem Shine genommen, den sie innerhalb der 
Arithmetik haben. Fur groBere Zahlen hingegen gibt audi er 
den analytischen Oharakter des Summenurteils zu. .OfTenbai" 
ist z. B. die Bedeutung der Zahl 079 fur nns nicht durch ihre 
Stellung in der von 1 his zu ihr lhnfiihrendeu Zahlenreihe, 
snndern durch die Bedeutnng der drei Ziffern. ans denen sie 
zusammengesetzt 1st, und durch das Priuzip des dekadisehen 
Systems gegeben. Es ist also die Formel 679 = 0.100-}- 
7.10 + 9 als die Definition der Zahl anzuschen. Somit miif.'. 
das in dieser Formel niedergelegte Grteil als ein analytisches 
. . . bezeichnet werden' [S. 304].) 
b) la der Geometrie. 
Und ehenso sind die .Siltze der Geometrie weder syn- 
Ihetiseh. d. h. also nicht rein logisch ableitbav. noch griinden 
sie sicli auf ,An*chauung l . Das bekannte Beispiel. an dem Rant 
(a. a.O.) argumentiert, ist der .Grundsatz' — eigcntlich aber 
Lehrsatz. denn urn solche handelt es sich ja nud nicht urn 
Grundsatze, sonst lage die Sache ja ganz anders — : .Die gerade 
Linie zwischen zwei Punkten 1st die kiirzeste.' Er ist synthe- 
tisch. denn .derBegriff «derGeraden» enthivlt nichts vonGroBe. 
sondern nur eine Qualitat [die Geradheit]. Der Begriff des Kiir- 
zesten kommt also giiiizlich hhizu und kann durcli keiue Zor- 
Din GnmdforiiKMi dor wissenscliaftliclien Methoilen. 49 
gliedevung aus dem Begriffa (lev geraden Linie gezogen werdeu. 
Anschauung mufi also hier zu Hilfe genommen werden. ver- 
mitMst deren allein die Syn these [von Gerade als kiirzestei 
moglieh ist*. 
Audi hier liegt das. was Kant zur Autfassung dieses 
^aitzes .als synthetischcu veranlaBt hat und was diese anscbei- 
neud so oinleuchtend niacht, darin. daB er lediglich die darin 
ausdriieklk-h angegebenen BegriiTe in Betracht ziebt: die .Ge- 
rade als eine Linie vuu identischer Riehtung etwa und 
.kiirzeste' als GviiBe. Insofern sind beide allerdings einandor 
vollig frenid nnd das Priidikat kommt so gewjB als etwas vollig 
Xeues zum .Suhjekt hinzu. Aber insot'ern I it (.it sieh diese .Syn- 
these' audi nie zur GewiBheit erhelxm. Aus diesen ganz allein 
fiir sich hingestellten BegTilTen liiBt sich nie ein gemnetrisdier 
Satz herstdlen. audi nielit mit Hilfe von .Anschauuug\ WVnn 
man es zu sell en glaubt, daB eine Linie zwischen zvvei Punk- 
ten gerade und ziiideidi ktirzer ist als jede gebruchene oder 
gekriimmte Linie. - s so kann das doeli nicht den Gettungsgruud 
fur einen allgemeiuen synthetisehen Satz abgeben. Denn das 
ware eine sinnliche. .empirische' Anschaunng — ■ an die Kant 
gar nicht appelliert — und diesc konnte doeli immer nur eine 
schutzungsweise Langenverglcichung ergeben. die fiir sehr 
kleine rntersehiedr iiberhaupt unmoglich wird. Eine soldie 
kann eine exakte Bestimiuung' des Langenverhaltnisses nielit 
ersetzen. Die prinzipielle Ungenauigkeit imserer raumlichen 
Ansehauung- erfordert unbedingt den AusschluB der cmpiri- 
sehen Ansehauung als Beweisgrundlage in der Geometric 2 '' 
(S. 19/20). Man kann eben iiberhaupt nicht auf Grund von 
Kigfiiscliafieu sinnlielier Figuren ideale geometrisehe iSiitze 
ausspreeheti. Yon der Bet vac lit ung: der anschaulidien Eigen- 
schaftcn einzelner besonderer Figuren aus kann man nicht zu 
allgemeiuen Satzen konuuen. ilan muB uiclit sehen. snn- 
dern e i n s e b e n. wieso die gerade zugleich kiirzer ist als jede 
andere Linie. aus den klar erfaBten Eigenschaften der mit 
einer gebroohenen Linie oder Kuvv<! entsteheudeu Figur; man 
muB es einsehen — ganz allgemein und audi fiir die kleiusten 
[Tnterschiede. Dieses Einsdien vennitteln. heiBt aber eben 
b e w e i s e n. 
Sitmngsber. <i. phil.-hist. Kl. 2U3. Bd. 3. Abh. 4 
50 V. K r a f I. 
Aber rum mcint ja Kant gar niclvt. t\\\c empirisehc. sinu- 
liche, sonde ni eine ,reine" Anschauung, welche die bmden Be- 
stimmungeu .gerade' und .kiirzeste' zusammenbringt. welche 
uns die einander fremden geometrischen Elcniente als zu- 
sammengehorig prasentiert. Und die reine Anschauung — 
gleichgiiltig, was das nUselhai'te Wesen soldier zugleieh ein- 
zelnen und allgemeinen Anschauung* sein mag — manife- 
stiert .sich in der geometrischen Konstruktion.** Auf 
Grund von Konstruk ti o n werden die neuen Bestimmungen 
(2. B., daB die Winkelsumme im Dreieck gleich zwei Rechten 
ist, also auch. daB die Gerade die kiirzeste ist) mit dem Begriii' 
des Subjekts (des Dreiecks, der Geraden zwischen zwei Funk- 
ten) verbunden.*** Nur mit Hilfe von Konstruktion kann 
* ,Eine iiicht-emph'isclie Anscliauung. (He, als AnMchauung, ein 
einzelnes Objekt ist, aber nichlsdestoweniger als die Konstruktion 
eines Begriffes (ehier allgemeinen Vorstellung) Allgemeingiiltigkeit fiir 
alle nioglichen Anschauungen. die unter denselben Begriff gehoren, in 
der Vorstellung ausdriieken mu8' (Krit. d. r. Vern., Methodenlehre, 
1. Hauptstuek, I. Abschnitt). 
:i: * Ein geometrisdiei' ^atz wie der liber die Winkolsumiue tit's 
Dreiecks kommt nach Kant als niclit analytischei', sondern syntheti- 
sdier in dev Weise zustande: ,Ich soil nicht auf dasjenige selien, 
was ich in meinem Begriffe vom Triangel wirklieh denke (dieses ist 
niehts weiter als die blofie Definition), vielniehr soil ich iiber ihn zu 
Eigenschaften, die in diesem Begriffe nicht liegen, aber clock zu ihm 
gehoren. hinausgelien. Nun \M dieses niclit anders moglich. als daft 
icli meinen Gegenstand tden Begriff des Dreiecksi nach den Betlin- 
gungen entweder der empirischen Anscliauung oder der reinen An- 
scliauung bestimme. Das erst ere wiirde nur einen empirischen Satz 
(durch Messen seiner Winkel}, der keine Allgemeinheit, noch weniger 
Notwerid-igkcit enthielte, abgehen, und von dergleiehen ist gar nicht 
tlie Rede. Das zweite Yerfahrtm aber ist die mathematisehe, und zwar 
lii-er die geoniKrische Konstruktion, vermittelst deren ich in einer 
vcinen Anscliauung, ebenso wie in der empirischen, das Mannigfaltige, 
was zu dem Schema eines Triangels iiberliaupt, niithin zu seinem 
Begriffe gehort, hinzusetze, wodureh allerdings allgemeine synthetisclve 
Siitze konstruiert werden mtissen' (a. a. 0.). 
*** ,JIan gebe eineni Philosophen den Begriff eines Triangels 
und lasse ihn nach seiner Art ausfindig manchen. wie sich wold die 
Summe seiner Winkel zum Recliten verhalten moge. Er hat nun niehts 
als den Begriff von einer Fiigur, die in dri'd geraden Linien einge- 
schlossen ist, untl an ihr den BegrifT von ebensoviel Winkeln. Nun 
itiaii* cr dieseiu BosTinV naclKlenken, so langc er will, er win! niehts 
Die Grundformen der wissenscliaftliclien Methoden. 51 
mrm das Zusnmmenbesteben von g'eometrisehen Bezielmngen. 
wie sie den Inlialt der g'eometrisdien Leiirsatze ausmadien. 
erselien. Und Konstruktion 1st nacli Kant etwas, das sieh nur 
in der reincn Anschauung' vollzicht. das nur Anschauung' zum 
Gellung'sgrund hat. Dabei faBt Kant aber nnter KonMruktion 
Zweit'aches in einer Aquivokation zusammen: die Hilfskonslruk- 
tion, das Ziehen von Hilfslinien beim Beweis (s. die eben un- 
gefiihrte J>telle) und die Konstruktion ernes geometrischen Be- 
grilles (z. B. voni Dreieok) in der Anschauung (s. die *-\ 52 
anzufuhrende Stelle). Das ist also nach Kant das Wesentliche 
fiir die Giiltig-keit eines jeden g-eometrischen Satze.s: (Die 
Synthese mit Hilfe von Konstruktion und dadurch auf Grund 
von reiner Anschauung'. 
Xeli will gar nicht darauf eingehen. ob die Konstruktion 
wirklieh cine so allgemeine Beding-ung der Geometric ist — ■ 
in der analytischen Geometric, wo cs sieh bloB um Glei- 
chtmg'eu liandelt. wek-ho Hozielmngeu zwi.sehen Abstanden 
von eiuem Koordmatensystem ausdriicken, kann sie bloB fur 
den Ansatz der Gleichimgcn eine Rolle spielcn. die Ergeb- 
nisse aber \verden errechnet. Sondern man braueht nuv 
das Wesen imd die methodische Bedeutung der geometri- 
selicn Konstruktion selbst naher zu untersuchen und sich 
kiavzuiuaclren — und man wird tinden. dafi sie durchaus 
nicht ein synthetisches Verfahren ;uif Grund von Ansrhnuung* 
darstcllt. 
Neuf*& herausbrintren. Er kann den BejrniiT der grraden Linie oder fines 
Winke's oder der Zahl dm zergliedern und deutlieh machen, aber niebt 
auf andere Eijjensehaften kminnen. die in diesen Begriffen £~ar nicht 
liep'L'ii. Allein der Geometer liehme di<>:-e Fra<re vor. Er fanjrt nofort 
da von an. einen Triangrl zu konstruieren. Weil er weiB, dafl zwei 
rechle Winkel zusammen gerade >o viel austragen als alle beriihrende 
Winkel. die aus eiuem Punk to auf einer geraden Lhiie ^ezog'en werden 
konnen. zusammen. so verlangert er eine Seite seines TriangvU und 
bekommt zwei beriihrende Winkel, die zweien rechten zusammen gleicli 
stind. Nun teilt er den a'ufleren von diesen Winkeln, indem er eine 
Linn- mit der ire»'enuberstehenden SeiU' des Trianprels parallel zifihv. 
und sieht, daB liier ein auRerer beruhrender Winkel entspvinge. der 
einem /inneren g"leich ist usw. Er gelan^t auf solehe Weise durcli eine 
Kette von SchliUsen, i m m e r v o n d e r A n s c h a u u n g g' e I e i t e t. 
zur vollig' einleuchtenden und zugdeitdi all^emeinen Autlosnng: der 
Eragv in. a. 0. i. 
4-* 
52 V. Kraft. 
Fur Kant bcsteht. noch ein enger Zusammenhang zwischcn 
Konsitruktion und geometrischer Figiir. .So konstrutere ieh 
einen Triang'el. indem ich den diesem BegTiff entsprechenden 
Gegenstand cntweder (lurch bloBe Einbildung, in der einen 
oder nach derselben audi aid dein Papier, in der empiriselien 
Anschauung. beidemal aber vtillig a priori, ohne das Muster 
dazu aus irgendeiner Erfahrung geborgt zu liaben, darstelle. 
Die einzelne hingezeiehnete Figur 1st empirisch mid dient 
gleichwohl, den Begriff unbeschadet seiner Allgenieinheit aus- 
zudriicken. weil bei dieser empiriselien Anseluuiung innner niir 
aui' die Handlmig der Konstruktion des Begriffs, welehem viele 
Bestimmungen zur Ermittliing der Grofle. der Seiten und der 
Winkel ganz gleicligiiltig sind. gesehen und also von diesen 
Verschiedenheiten. die den Begriff des Triangels niclit ver- 
andern, abstrahiert wird' (a.a. <).). 
Dieser Zusammenhang zwischcn Konstruktion und Figur 
wird in mauchen neuesten Ausfuhrungen so gedacht: Geo 
metrisehe Satze werden mit Hilfc von Figur en bewiesen 
mid da rum auf Grund von Anschauung. aber nicht der empi- 
riselien. sondern einer reinen. Denn die geometrisehe Figur 
.stellt nicht den Gegenstand selbst dar. von dem der geometri- 
sehe Lehrsatz gilt und bewiesen werden soil, denn dieser kann 
nicht restlos in der Anschauung dargestellt werden, sondern 
sie «ilhistriert» ihn in einem einzelnen Beispiel. Aber dieses 
einzelne Beispiel erlaubt uns. in der Vorstellung sofort die 
gauze Keihe von Gegenstanden zu uberblicken. die durch Ver- 
kleinerung und YergroBerung aus ihr entstehen, soweit sie der- 
selben Steigerungsrcilie angehoren. Dadurch wird jenes Beispiel 
zum Reprasentanten der betreffendeii Gattung. ; So Aster ^ 
('S. 227/228). Ebenso Ziehen' 1 (§ 183. S. 788/789): Der Bewcis 
wird fiir die .eine gezeichnete Figur gefiihrt. dann aber auf 
a. lie solche. auf eine gauze Gattung iibertragen'. Beim Be- 
wcis fiir die Winkelsummc im Dreieck .stelle ich mir in der 
F^iantasie alio iiberhaupt nur denkbaren Dreiecke mit den 
verscliiedensten Winkeln und Seiten vor[!] und iiberzeuge 
mich dann. daB der am Droieck ABO gefiihrte Beweis durch 
die Verandevung der Winkel und Seiten gar nicht beeinfluGt 
wird. mit anderen Worten, daB fur den Beweis das gemein- 
schaftliciie Merkiual der Dreieckigkeit ausreicht. Auf Grund 
\ >']>.■ ( ;i uuilfoi'Jni'ii diT wis-rn-i- lull lichen Mi'lhink'ii. DO 
dieter Kinsidit verallgemeinere ich danu meiu Beweisergeb- 
nis\ Das gezeichnete (oder auch nur vorgestellte) .Dreieek 
ABC. an dem der Beweis gefuiirt wird, dient gewissermaften 
nur als Kenriiseutanf. weshalb Ziehen dieses logisehe Unding 
als .paradigmatischen .SchluB" klassifizicrt. Es ist der <ie- 
danke. da(5 Ansehauung, und zwar reine Anscliauung\ dadurch 
mitwirkt, dai5 wiv in der Yorstellung konstruierend alle mog- 
liehen Yeriindernngen unter be^thnmten Konstruktion^bedin- 
gungen durchlaufen und dafi mis dadureli die Ge seiz- 
in ;if5igke it der betreft'enden Figur. das ist von Lagebezie- 
hungen. in innerer Anschauung evident wird. Aber schon 
Holder 32 iS. 12) hut solchen Yorstelhingengegeniibereingewen- 
det, da 15 eiu sulches Durchlaufen und Oberblicken nur bei ganz 
einfacheu Figuren moglicli ist. Wie sollte uns aber solche 
Anschauung etwa bei Siitzen iiber den Zusammenhang und die 
Zersclmeidnng Riemannscher Flaeben. iiber die Struktur von 
Faehwerken usw. IeiteuV :h (§ 18. § 7. S. 114). Da liifit sie uns 
vollstandig ini Stieh und der sehlutifulgernde Beweis wird zur 
X o t wend igke i t. Aber dieses gauze Durchlaufen .aller 
nur denkbaven" Variationen einer Figur in der Phantasie 
findet so gar nicht statt. Em ist nii'ht cine Vorstellungsfulge. 
sondern eiue Uberleguug. Und .dadureli, dafi man alle an- 
schaulichen Yoraussetzuugen. be sonde rs f orm u 1 i ert. 
kann man die geometric he Deduktion selbst der Anschaulich- 
keit entkleideir S2 (S. 14). 
Geometvische Satze iiber das Dreieck. z. B. iiber seine 
Wiukelsumme. mit Hilfe von Ivonsiruktion einsehen, darl 
keineswegs heifien. da!5 man sich eint'acb auf die gezeich- 
nete als die .konstruierle' Figur beruft und damit auf die 
Verhaltnisse in der Ausebauung: man kann diese gar uiclit 
als ein selbstandiges. uvspriingliohes Datum zugrunde legen. 
Sondern .man darf keine Linie ziehen. keinen Punkt fest- 
seizen nnd naehher sich auf seine Bage berufen. ohne xn be- 
weis en. dal5 die Elemeute [ideell] existiereu und da gelegeu 
sind. wo man sich sie vorgestellt bar 1 " (S.-J^t). .Der wohl- 
gesehulte Geometer fragt bei jeder Hilfslinie. die er fur irgend- 
rinen Beweis zieht. ob es auch iminer moglieh sein wird, eine 
Linie von der verlangleu Art zit zielien" 1,h /S. (>). Day Be- 
weisen erfordert aber I'ramissen. vorgegebenc Sittze iiber die 
54 V. Km H. 
Eigenscliaften und Bezieliungen der geometrischen Elementc 
als Konstruktionsbedingungeu. Der Begriff und das heifit die 
Definition ist es. wodurch die Konstruktion bestimmt wird 
und woraus sie in Wahrheit Hire Beweiskraft zieht. .Alles. 
was als wahr behauptet wird «gema6 Konstruktion». kann 
auch als wahr behauptet werden «gemafi Yoraussetzung» oder 
«gemaB Definition^ u ' (S. 299). Wenn man eine anschauiiclie 
Figur zeic.huet. so bedeutet das uic-hts anderes, als daB man 
eine ideale Figur, deren Element e durch die Daten der Frage- 
stellung und die Definitionen gedanklick gegeben sind. in der 
Erfahrungswirklichkeit nachbildet. als Illustration, aber nicht 
als Grundlage und Erkenntnkquelle. .Man kann in wertvoller 
und gill-tiger Weise keine Figur konstruieren. die nicht schon 
durch die Daten oder durch die Definition bestimmt ware.' 
.Wenn man sagt: «Verbindeu wir die beiden Punkte A und B». 
so bedeutet dies in Wirklichkeit: «die zwei Punkte A und B 
bestimmen eineUerade. kraftderGeradendetinition selbst^llb.). 
Der Erkenutniswert der Konstruktion flieftt auch fiir 
Kant nicht aus den ansehaulichen Eigenscliaften der beson- 
deren sinnlichen Figuren — da waren gar manche falsche 
Verallgemeinerungen moglieh — sondern aus dem. was an 
den speziellen Figuren als allgcniein einleuelitet. Die ein- 
zelne -sijnnriche Figur ist mir das Bikl eines allgemeinen 
Schemas und nur von diesem aus werden die neuen geometri- 
sclien Bezieliungen. die .synthetiselr hinzukommenden Eigen- 
scliaften, erfafit. Ein allgemeines Schema ist aber nielits als 
cin Symbol fiir einen geometrischen Be griff, fiir den Begriff 
eincr Figur, d. i. geometrischer Bezieliungen. "Wenn es also 
in der Konstruktion und bei der Xuliilfenahmc anscliaulieher 
Figuren nur auf die Eigenscliaften oder Bezieliungen an 
So hematen ankommt. so lieidt das nielits anderes, als da6 
es dabei auf die Begriff e der eingefiihrten Figuren oder 
Bezieliungen. d. i. auf deren Definitionen ankommt. Was sich 
aus diesen ergibt. was fiir Bezieliungen zwischen diesen be- 
stehen. das soil, dadurcli (mit Hilfe von Konstruktion) einge- 
sehen werden. Welche Beziehungen aber zwischen definitions- 
gegehenen Sachverhalten bestelien, das ergibt sich durch 
Sell In Molgerung. das ist dann etwas rein Analytisches. nielits 
Svnthetiseiies mehr und die Satze iihor ffeometrische Uezic- 
!)if Gnimiloni'.on <ler M-U.seii^.'liai'tliolien Metliodeii. 00 
hungen benihen dam it nicht alii einer Auschuuungseviden/., 
sondern auf logischem Bcweis. 
An oh an dem eingangs angefuhrten Beispiel Kants, .die 
Gerade zwischen zwei Punk ten ist die kiirzeste'. llifit sich das 
klar und strikte zeigen. Man mtifi sich dazu nur klannaehen. 
was dieser Satz. wemi schon nicht enthalt, so doch voraus- 
sertzt. 33 Man kann die BegrifTe eines Lehrsatzes gar nicht, so 
wio es Kant tut. fur sich allein isoliert in Betracht zieheu, 
dcnn dann ist ihre Synthese auf keine Weise zu legitimicron, 
audi nicht duroh .Ansehaiiung\ Wenn man aber die V o r a u s- 
setzung'eii eines Lehrsatzes an Axiomen und Definition en 
Iiinzunimml. dann ergibt sicii diesev Lehrsatz auf rein logische 
Weise durch Schlufifolgcrung aus ihnen. Was die Konstruk- 
tion, in der die reine Ansehauung' zur G pitting kommen soil, 
leistet. ist nur das. dafi sie die Beziehungen. die zwischen den 
in Betracht gezogenen geometrischen Gebilden bestehen, aus- 
einanderlegt. Fur die Giiltigkeit geometrischer Erkenntnis 
kann man sich aber audi bei der Zuhilfenahme der Konstruk- 
tion nicht auf die Eigensehaften anschauliclier Figuren be- 
rufen, sondern aussdiUeBlicb auf Eigenschaften. welehe sich 
aus der Definition der Figuren und der Aufgabeiislellung er- 
gebeu. d. h. man muB auf die V orauss e t zungen des 
Lehrsatzes zuruckgehen und ihn aus diesen ableiten. .Die 
Geometric ... ist erst dann mathematisch eiinvandfrei. wenn 
alio Schliisse ohne Hilfe von Figuren. iiberhaupt ohne Hilfe 
von Ansehauung eingesehen werdcu koimeir : ' 4 . 
Dafi die geometrischen Sittzc lediglich formal c Konse- 
queuzen der Axiome sind. wird durch eitien iiberrasclienden 
und sonst unverstandliehen Sachverhalt erhartet. Die Satze 
der projektiven Geometrie Meiben audi walir. wenn man den 
undefinierbaren Gruudbegriffen des Punktes und der Geraden 
.einen ganz anderen Sinn beilegl. sofevn er nur dieselbou 
(in den Postulates ausgesprodieneu) Beziehungen befriedigt'. 
Wenn man in den Satzen der projektiven Geometrie .die 
Pimkte durch Ebenen und die Ebenen durch Punkte ersetzt 
und die Geraden in den Beziehungen belHfit. welche sie. sei es 
init den Punkten. sei es mit den Ebenen unterhalten'. bleiben 
die Satze audi mit dem neuen Sinn, den sie dadurch erhalten, 
wahr lhl (S. 102). ebenso audi, wenn man die Geraden durch 
5G V. K r « ft. 
Kreise. die Ebenen dureli Kugeln ersetzt ls (§ 8f.). .Diese 
Cbeitraguug aus einer Mannigfaltigkeit in eine andere ist aber 
nur unter der Yoraussetzung zulassig. dafi beide Jlannig- 
faltigkciten denselben Axiomen gehorchen und ihre Geometric 
sich nur ant" diese Axiome stittzt; sobald man Beweismotive 
nicht rein logischer |sondern anschauliehev| Herkunft zulieBe. 
ware diese Ubertragbarkeit niclit mehr a priori sicker' ls 
(S. 102). .Es muB in der Tat. wenn anders die Geometric wivk- 
lieli deduktiv sein soil, der ProzeB dcs Folgerns iibcrall unab- 
liangig- sein voni .Sinn der geometrischen Begriiie. wie er un- 
abhiing'ig sein muB von den Figairen; nur die in den beniitzten 
Satzen, beziehungsweise Definitionen niedergelegten Bezie- 
hung'en zwisehen den geometrischen Begriffen diirfen in Be- 
traolit kommen'" (>S.i)8). Gerade der form ale Charakter 
der inodenien Geometrie. in der .Puukr. -G evade 1 usw. nur 
■Symbole sind ftir etwas. das bestimmte Bedhigungen erl'tiUt. 
ohne dafi wir zu wissen brauchen. was sie eigentlicb sind oder 
wie sie sieh anschauungsmaBig' darstellen — gerade das gibt 
den deutliehen und unwiderlegliehen Beweis dafur, daB sie 
wirklieli ein System von rein logisclien ScbluBfulgerungeii 
Uildet und g'ar nicht aul' inhaHlieli bestimmter Anschaiiung 
beruhen k a n n. 
Da her im ganzen: nieht .Anschaiiung'. sondern nur logi- 
sche ritritigenz bildet den Grund ftir die Giiltigkeit der mathe- 
matiseheu Siitze. .Keine Berufung aut' allgemeine Eiusicht 
I Common sense] oder aid' Anschauuug | Intuition] oder aui' 
irgend etwas auBer f-trcng deduktiver Lugik darf in der 
Mathematik gebraucht werden. sobald die Priimrssen nieder- 
gelegt. sind"" (S. 145). 
In dem Rettungsrersuch der Kantschen Philosophic der 
Mathcmatik. den Cassirer gemaeht hat.'- : ' gibt er gerade das 
YYespntlielie. dab die luatliematischeu Siltze logisch aus den 
Axiomen abzideiten sind und dafi sie nieht auf Anscliauung 
beruben. vollstandig zu. Er versueht nur iiireu syntheta- 
se lien Charakter dadurch zu retten. daB er den Fnterscliied 
von analytiseh und syntbetiseii anders .erlautevt', als man tiin 
gewohnlieh versteht. Die niaMiematiseheii Siitze solleu syu- 
thetisch sein. weil die Axiome synthetiseb sind. aus denen 
sie rein logisth abgeleitet sind — also gerade erst durcb die 
Die ( .niinh'oi mi'ii iler wi*-.i.Mi-Hi;i it lichen ^letlio.lr'ii. 57 
I ogi s c h e Zu i* ti ekf it li rung auf synthetisehe riatze " 
(S. 15. 31). 41). Daft dies aber so wenig die Meiming Kants 
war. ais sie l>i^her dafiir gegolteu liat. geht aus dun friiher 
angefiihrten Stellen deutlioh liervor. L'ud (Jouturat h;it jeden- 
falls die von Cassircr angefulirten Stcllen a us dor Vernunft- 
kritik. die in desseiu Sinne lauten. mit Reclit ais eine Inkonse- 
quenz Kants. ais, einen inneren Widerspruch mit der ursprung- 
lichen Definition von analytiscii mid synthetiseh erklart. C'as- 
sirers Auffussnng ist eben eine Ansleguug Kants zur Har- 
mouisievung" der modenieii Matheiuatik, 
Ebensowenig ist es audi Hunigswald : " ; gelungen. die 
Kautsdie Tradition in der erkenntnistlieorethisdieu Auffassung 
derMathematik gegeniiher der neueu logisdien Durcharbeitung 
der .Matbematik aiifrechtxuerhallen. I'm die matbematisdu'ii 
Sjitze ais synthdisclm I'rteile a priori auf (irtmd reiner An- 
sduuiuug zu envei-,eii. ftihrt or vor allem an. dali die mathc- 
matischeu Satze und ihre Deduktiun niclit lediglk'h auf deni 
Satz des Widerspruclies (und dom der Identitiit) beruheti. 
sondern aueh nodi ein anderes, spezifisehes Prinzip eri'or- 
dern (S.43f.. S.5:'il: und diese< jst es. das ini Begriff der 
reiiien Ansc/tattuug .v^irt^n Atisdrttek tindet. Aber seiii Vcr- 
siicli, diesen Beg riff und dainit diese* andere Prinzip zu pr;i- 
zisieren. besteht daviu. daB er einfadi alle wirkliche oder 
vcrmeinUiohe Eigenart der mathematischen Erkeimtnis auf 
dieses* Prinzip der reinen Ansdiauuug iibertra'gl. projiziert: 
mc ist .Anscliauinig' wegen des .Moments der inrtividuellen 
l.!''stinmi((teit.' und .rein' wegen der Allgeineingtiltigkeit nnd 
Xotwendigkeit (5.50j: und er endigt infulgedcsseti mit deni 
Zugestiindnis: .man kann vielleieht bczweifeln, ob der Begriff 
der reinen Ansehanung mehr entbalt ais eine abgekiirzte und 
liur allzu leicht miBzuverstehende Bezeidinung fur die Eigen- 
art des mathematisdien Objekts- (S. 53). Die Ldsung des 
matliematisdien (ielturigspmblenis na«'h dieser Art dureh eine 
reiue Ansehauung. weleher die eigentiurilidie UeUungsai'it der 
Mathemntik von vornlierein zukommt. ist im oninde niehts 
anderes. ais wenn man die Wirknng des Opiums durcli eini j 
virtus dormiticanda erklart. 
Die Widersprudislosigkeit ist gewiB nidil das einzige 
Priuziji fiir ein deduktives System der llathematik. sondern 
58 V. K r ;i f t. 
es ist dazu audi nodi die speziellc Konstcllation der Aus- 
gangspunkte der Deduktioii erforderlich. wie sic dureh die 
Axiome und die Aufgabenstcllung geg - cben wird (s. d. folg. 
Abschn.). Aber das involviert keineswegs ein eigenes Gel- 
tungsprinzip reiner Anschauung. Wenn wir die eigentiim- 
liche Geltungsart der Maithematik wirklicb analysieren, so 
worden wir nirgends auf eine solehe s p e z i f i s e h e Geltungs- 
gnindlage wie reine Anschauung gefiihrt. Aber nur das. ob 
wir eine solche spezifische Geltungsgrundlage in der Ma-tlie- 
matik entdecken und anzuerkennen haben. ist der Sinn des 
Problems einer reincn Anschauung. 
Honigswald sueht aber audi genau so wie Gassirer den 
synthetischeu Gharakter der ma.thematischen Siitze trotz 
ihres Folgerangscharakters. der allzuoft offenkundig ist, damit 
zu begriinden. dafi sie auf ein s y n th e t i sch e s Prinzip 
zurtickgehen (S. 62). Aber er gelangt, damit folgerichtiger als 
Oaissirer zu dem SchluB: .Es gibt uberhaupt keine analyti- 
sclien Urteile* (S. 02). Man aieht daran wold zur Gentige, wie 
weuig stichhaltig und inhaltsvoll diesc ganzen historischen 
Begriffe und wie labil diese Konstruktioneh sind. 
Die mathematisehen Satze bilden also ein logisch in sick 
geschlossenes deduktives System. Dieses ist ftir die einzeinen 
Haupdgebiete der Mathematik seit dem Ieizten Drittel des 
10. Jahrhunderts immer vollstandiger entwiekelt worden. 
So hat seinerzeit Peano drei underinierbare Grund- 
begriil'e und ftinf unbeweisbare Grundsiitze und Padoa nur 
zwei Grundbegriffe und vier Postulate als diejenigen Grund- 
lagen aufgestellt. welclie hinreichen. urn die gauze Ari th- 
in e t h i k logisch daraus abzuleiten. Rusell hiugegeu hat iibcr- 
baupt keine undefmierbaren Grundbegriffe mehr benotigt, son- 
dern statt deren vier Definitionen als die erforderlichen Grund- 
lagen der Arithmetik eingefiihrt: eine Xominaldefinition der 
endlichen ganzen Zahl und die drei Definitionen der 0. der 1 
und. der auf eine Zahl n nachstfolgenden Zahl n -f 1^ wahrend 
die Verknupfungsgesetze (der Addition und der Multiplika- 
tion) auf die allgemein-logisohen Gesetze der .logischen Addi- 
tion" und .Multiplikation' zuriickzufuhren sind. 
Ebenso ist die Geometric als deduktives System rein 
logischer Folgerungen in ihren einzeinen Zweigen. der metri- 
Ilk' CliuudfoniifiL ilor wissoiwhafUu'liiMi Metiuxlen. 59 
schen. jtrojektiven usw.. eutwiekelt worden. Die Yoraussetzun- 
gen, welche zur logisehen Begrundung der m e t r i s c ■ h e n Geo- 
inetrie geniigeu, sind in den vcrschiedenen Systemen von 
Peano. von Pasch. von Hilbert. von Veronese mid von Fieri 
fonuuliert worden. Fieri hat ancli die Grundlagen der pro- 
jektiven Geometric in IT Postulaten (fur die Einschrankung 
auf den dreidimensionalen Raum in 19) formuliert. Dasselbe 
hat Peano fur ein andere.s System der Geometric mit IT Postu- 
laten geleUtet. welche 0. Vcblen nut' 12 uud Russell auf 8 
veduzieren konnte. Auf diese Weise stellt jede dieser Geo- 
metrien ein System von AbhangigkeLtsbeziehimgen dar von 
der Art. dafi ein Raum. wenn or die in den Postulate!! ausge- 
sprochenen Eigensehaften fd. i. Bezielnmgen) besitzt, liber 
dies diese und diese anderen in den Lehrsatzcn ausgespro- 
elienen Eigensehaften (Beziehungen) habeii wird lfi (S. 107. 2W>). 
In der ganzen Mathematik beruht also die Giiltigkei; 
der Lehrsiitze lediglioh darauf, dafi sie a us den Postulaten 
in it. logiselier Notwendigkeit folgen. Darin hat der zweite 
fundament ale Oharakter der Mathematik seinen Grund: die 
Notwendigkeit. mit der Hire Satze gelten. gegeniihev 
der blofleu Tatsaehlioiikeit der Geltuug in deu Erfahrungs- 
wissenschaften. Es ist die Xotwendigkeit als logisehe 
SchluGfolgerung. niehts andere.s, also cine relative Not- 
wendigkeit. in bezug auf die Axiome. 
3. Der deduktive Charaktcr und der Erkenntnisfortschritt 
in der Mathematik. 
Aber dieser Aufhau der ^lathematik als deduktives 
System auf rein logischer Geltungsgrundlage ohne Zuhilfe- 
nahme vou Anschauung gibt AnlaB zu schwenvicgenden Pro- 
blemen. Eines davon hat Poincare 37 (S. 1) in seiner glanzen- 
den We Up so ausgesprochen: .Die Mijglichkeit der ExUtenz 
einer mathematischen Wissensehaft scheint ein unlosbarer 
Widersprueh in sk-h zu >ein. Wenn diese WUseuschaft mir 
^eheinbar deduktiv ist. woher kounnt ilir dann diese voll- 
kommene [ r nwiderlegbarkeit. welche niemand zu bezweifeln 
wagtV Wenn im Gegenteil alle Behaupitungen. welche sie aui- 
>to\\t. sicli aus emamler dure!) die form ale Loj-'ik ableiten 
HO V. K m f 1. 
lassen. waruni best e I it die Mathematik dann nicht in einer 
uiigeheuren TautologieV Dor logisehe SehluB kann uns niehts 
wesentlich Neues lehren." In der Natur der Axinme kann der 
Grund fur die Fruditbarkeit der Mathematik nkdit* liegen. 
A Venn man sie a Is synthetische Urteile a priori bezeichnet, so 
lieiBt das nk'lit .die Sclnvierigkcit losen. sondern ihr mir einen 
Namen geben, nnd wenn selbst die Xatur der synthetischen 
Urteile fiir this keiu O'eheimnis ware, so tviirde der Wider- 
sprach niebt hinfallig, er wiirde nnr hinausgesehoben. die syl- 
logistisdie Beweisfuhrung bleibt unfabig. den gegebenen Yor- 
aussetzung'eii irgend etwas hinzuzufugen. diese Vorai^setzuu- 
gen reduziereu sk'h auf einige Axiome. und man konnte in den 
Folgerungen niclits auderes wiederfiuden'. Das ist eben der 
wesentliclie Grundzug alles syllogistischen (analytischen) 
Ye rf ah reus. Audi wenn man die log'isehen SehluBfolgerungen 
nidit in dem Shine nls analytiseb betracbtet. daB sie ledig- 
lich auf tletu Satz des Wklerspruohes heruhen. weil ihr Gel- 
tungsgrnnd darin liegt. daft ihr Gegeiiteil einen inneren Wider- 
spmch ergeheu wiivde. da!i sie also lediglich immanent e 
Momente herausstellen. sondern aueh, wenn. man die SchluB- 
folgonuigen imcli aufterdem ant' andere I'vinzipien als den Satz 
des Widerspruches grundet. so behalten sie doch aueh dann 
imnier noeh einen tautologisehen Charakter (so aueh Russell- 3 '' 
j>. -2031204). 
Wenn nun aber das Verfahren der ilathematik zweifellos 
ein rein syllogistisclies (analytisebes) ist — wieso is,t sie dann 
imstande. neue Erkenntnisse zu. liet'ern'.-' I'm das klarzustellen. 
■\volIen wir die Entwieklung eiues koukreten mathenuttisehen 
Lehrsatzes untersuehen. z. B. des binomischen Lehrsatze.s oder 
seiner Yorstufe: der Ftn'in einer ganzen Funktion von x vom 
Grad 11 s (nju-li 1:> . $ GO. S. 192 f.). 
Die Entwieklung nimmt ihreu Ausgang von einer allge- 
meiuen Aufgabenstellung: .Es handle sich inn die Bildung des 
Produktes der n Faktoieu F„ — (x 4- a,) (x -f- a.,) ('x + a.,) . . . 
. . . (x -f a n V — man geht also davon aus, daB man eine b e- 
sondere Beziehung zwischen /ablen his Auge faBt. Die 
Losung dieser Aufgabc wird diireh Amvendmig des Yerfahrcns 
der .malhematischen Induktloir gewonuen; Man reelmet zu- 
nachst die Aufgabe fiir eine beliebige Zahl. z. B. n —2. aus. 
Die Gnmdformen rler wis&enschaftlichen Methoden. 61 
d. li. man bostininiit.welclie anderen Beziehungen zwischen den 
bet.reffenden Zahlen naeh don Grundgesetzen dcr Addition and 
(lev .Multiplikation bestehen. wenn die Ausgangsbeziehungen 
zwischen ihuen bestehen. Fiir u = 2 ergibt sich F, -- x 2 -f- 
x («! -j- a 2 ) -j- i\ t iu. Dann bestimmt man diese konsekutiven Be- 
ziehungen t'iiv n + 1- also 8: F :; = x :t -f x 2 (a, -f a 2 -{ ■ a :i ) -|~ 
x (•A l a 2 -f ;i- ii s + ;i> *i«) -f- Ai a 2 a M . Aus dieser konkreten Be- 
stimmung fur eine heliebige Zahl n und fiir die niichst hohero 
Zahl n + 1 lafit sicli nun bereits die Gesetzmailigkeit ablesen. 
welehe einerseits zwisclien den Potenzen von x und den. 
.Koeffizienten' der Funktion: der Summe der Zahlen a-,, a 2 . . a n 
(-a,), der Summe der Produkte zu je zweien (1 a, a,), der 
Summe der Produkte zu je dreien (1 ;\ 1 a 2 a ;t ) und so fort und 
endlieh dem Produkte aller a^u .... a n (A D ). besteht und 
welehe andererseits die jeweilige Anderung (lev Potenzen 
und Koeffizienten bei weehselndem Wert von n beherrscht. 
Denn das. was in der Gestaltung einer solohen konsekutiven 
Beziehung (besonderer Art zwisclien Zahlen) durch die Art dor 
Ausgangsboziehung bestinunt ist und was dariu von dem 
wechselnden Zahlenwert abhangt. das tritt- schon an dem 
gegenseitigeu Verhaltnis der Gestaltungen dieser Beziehung 
fiir zwei aufeinanderfolgende konkrete Werte von n mit ond- 
giiltiger Deutlichkeit hervor. Denn dieses Verhaltnis bleibt 
infolge des Bildungsgesetzes der Zaiilenreihe fiir alle Zahlen 
das gleiehe. Diese GesetzmaBigkeit zwisrhen den Potenzen 
von x und den Koeffizienten der Funktion und die ihrer Ande- 
rung lautet. allgemein formuliert. so: 
F n = x" -f S a 1 x"- 1 + ^ a, a 2 x' 1 - 2 4- a 2 <i 2 a„.i x -j~ A n . 
(Der binonisehe Lehrsatz ergibt sieli damns, wenn die 
("Hinder a^ua, eiuander gleich und. dahcr Potenzen von a siud.) 
Was der binonische Lehrs.itz eigentlich hedeutet. ist 
dies; Wenn eine (besondere) Beziehung zwischen Zalilen 
(k -f n)" besteht. dann besteht naeli den Grundgesetzen der 
Keehenoperationen und dem Bildungsgesetz der Zahlenreihe 
ganz allgemein audi eine beslimmte andere Beziehung zwi- 
sehen diesen Zahlen (ebon x n -f n x"' 1 a -j- -A _ > x"-* a* -j- . . . .. 
der binonisehe Lehrsatz). Fine allgemeine gesctzmaBige Be- 
62 V. K r a f t. 
ziehung ist bier gewonnen worden auf einem Wege, (Lev sich 
unzweifelhaft in lauter syllugistisch deduktive Schritte auf- 
losen laBt. Was die Deduction hier leistet. ist, da 6 sie die all- 
gemeiusten (resetzmaBig^keiten der Axiome fur eine be son- 
de re vorgegebene Beziehung von Zableu bestimmend 
werden laBt unci dadureli eine neue besondere Beziehung ab- 
leitet. Zu dieser neuen Beziehung wiirde sie aber nicht hinfiihren. 
weim ilir nicht die Ausgangsbeziehung' als konkrete Bedingung 
fur die Deduktiou gegeben ware. Diese Ausgangsbeziehung. 
die Aufg-abe, wird nicht .selbst deduktiv gewonnen. Es kann 
wold deduziert werden. da6 diese neu eingefiihrte Beziehung 
odor Bedingung init den Axiomen vertraglieh ist, dafi 
sole lie new eingefiihrte spezielle Voraussetzungen zngleich mit 
den Grundvoraussetzungen erfullt sind — was besonders in 
der Geometric eine Kolle spielt. Aber die in der Aufgaben- 
stellung gegebene Beziehung tritt immer als etwas Xeues, Un- 
abgeleitetes. Ursprungliches tin. als ein selbstiindiger Anfang. 
Eine neue, besondere Beziehung zwischen Zaldcn ebenso- 
wold wie zwischen geometrischen Elenienten wird ins Auge 
gefafit, und das ist es eigentlich. was den Fortseliritt bringt. 
DalJ man von einer neuen Kon^tellation ausgeht, darin liegt 
der Grund, daB die Oeduktion etwas Xeues ergeben kann. daB 
sie nicht .in einer ungeheuren Tautologie' aufgeht. 
Das wird auch an den Kautscheu Paradigmen der Sumine 
von 7 und 5 oder der geraden Slrceke als der kiirzesten deut- 
lich. DaB man dio Sum me der beiden Zahlen. dafl man die 
gerade Strecke iiberhaupt als E n t f e rn u ngsgro Re im 
Vergleicli zu andoren Entfernung'sgroBen zwischen den beiden 
Punkten in Betracht zieht. darin liegt unbestreitbar etwas 
Xeues, das zu den Begriffen 7 und 5 und zum Begriffe der 
geradeu Strecke hinzukommt: das laBt sich aus diesen gewiB 
nicht ableiten. In dev Auf ga bens t e 1 1 u ng. im Rechnungs- 
ansatz. in der Ausgangskonstellation als soldier liegt eine 
S y n t h e s e ■ — das ist der wahre Kern an der Kantschen Auf 
fassung vom synthetiscben Charakter der ma'thematisclien 
Satze. Hat man aber in der Aufgabenstelluug die neue 
Beziehung (der Summe. der EntfernungsgroGe) einmal herge- 
stellt. hat man die Briicke zwischen zwei sonst f rem den. Be- 
griff (mi gesdilagen. so ergibt sich die Losung rein logisch 
Die Gruadformen der wissenseliaftlichen Methoden. 63 
deduktiv aus den Axiomen mid deii spcziellen Bestimmungon 
der Aufgabenstellung. 
Oder ein anderes, komplizierteves Beispiel: -In der Geo- 
motrie der Flachen vierter Ordnung ist os eine fundamental 
Frage, aus wie vielen voneinander getrennten Miinteln eine 
solehe Fla.cn c wenigstens bestehen kann. Das erste bei der 
Beantwortung dieser Frage ist der Nachweis. dafi die Anzahl 
der Flachenmantel endlich -seiii muB; dieser kann leie-ht auf 
funktiouentheoretischem Wege wie folgt geschehen: Man 
neltme das Vorhandensein unendlich vieler Mantel an und 
wahle da innerhalb eines jeden dureh einen Mantel begrenzten 
Raumteiles je einen Punkt aus. Eine Yerdicbtungsstelle 
dieser unendlich vielen ausgewahlten Punkte wiirde dann ein 
Punkt von einer solchen Singularitat sein, wie sie fiir eine 
algebraische Flache ausgeschlossen 1st' :tH (S. 413). Das Neue, 
Fruclitbare liegt auch hior in der Einfiihrung der besonderen 
Bedingungen fiir die Deduktion: in dem Ausgang von der 
Annahme unendlich vieler Flaclienmautel und der Auswahl je 
eines Punktes daraus. 
.Das Charakteristische der geometrischen F'orschungs- 
methode besteht darin, daB man immer und immer wieder neue 
Voraussetzungen einftihrt' ls (S.1P2) und nicht nur der geo- 
metrischen. sondern auch der arithmetischen. Dadurch allein 
wird der deduktiven Ableitung immer wieder das unentbehr- 
liclie Substrat besonderer Bedingungen gegeben. 
Der deduktivc Ciiarakter der Mathematik fiat die Funk- 
tion klarzulegen, dafi alle die Gebilde der Mathematik, welehe 
man auch immer ershmen und betrachten mag. keine anderen 
Elemente und Beziehungen erfordem als die, welehe in den 
Axiomen niedergelegt sind: sie hat die Indentitat ihrer Elemente 
und Beziehungen zu erweisen. Diesen Nachweis leistet die 
logische Ableitung aus den Axiomen. Aber die konkreten 
Bedingungen fiir die Deduktion mtissen ihr von auBen 
kommen, die kann sie nicht selbst erzeugen. Die sind das nicht- 
deduktive. das nicht-analytische, das synthetische Moment 
daran, das schopferische. Ihr Auftreten ist etwas Irrationales. 
wenn man so will, in dem logischen Gefiige. Da liegt auch in 
dev Mathematik der Punkt. wo die Intuition, die origiuale 
64 V. Kiaft. 
Ii.loi? einsetzeu muB. Dip Anregung. natiirlioh nur die An- 
regung. dazu bictet oft genug die Erfahrung. 
So hat z. B. Fourier zur matheniatischen Bewaltigung 
physikalischer Prol)leme (der Wanncleitnng) analytisehe Hilfs- 
mittel ausgebildet, die audi Mr die reine Mathematik Ergeb- 
nisse von gmfiter Bedeutung waren, und er hat selbst .in d**jn 
oiudriugenden Stadium der Natur die fruchtbarste Quelle der 
mathematischen Entdeckungeiv geseheu. ;n Ebenso ist, Mae 
Laurin duvcii die Berechnung der Ausdelmung eines Stabes mit 
der YVarme auf eine selir fruchtbare Ei it wick lung der Tnilnito- 
simalreehnung gefi'ihrt worden; auf die naeh ilim benaiinte 
I'otenzrcihc. 1 ' 1 
4. Die Unabhiingigkeit der Mathematik Ton der Erfahrung 
und Hire Erkenntnisqucllc — die ticltung der Axiome. 
Weil jeder Zweig der Mathematik oiu deduktives System 
ist, d ess en Satze sicli als logische FYdgvrungen aus <U>\\ Axio- 
nicn ergeben, berulit die Geltung der Mathematik offenkuiidig 
aussehliefilich auf der Stringenz der Logik. Sie kann weder 
auf Anseliauung noeh auf Ert'ahnmg zuriiekgehen. Die Mathc- 
matik ist. soweit ihre Go I tun g in Fragc kommt. von der 
Erfa lining vollstandig unahhangig. Darin liegt das dritte fim- 
damentale Merkmal der Mathematik in wissenschaftissystema- 
tiseher Hinsicht. Das ist ja audi mit der Idealitat ihres Gegen- 
standes gegeben. Sobnld es die Mathematik nicht mit realen. 
>ondern mit ideellen (regeusUinden zu tun hat. kann sie uifiit 
mehr erwarten. von der Erf a lining etwas iiber sie zu or- 
fahren. 
An dem hesonderen f'harakter der Maithematik als einer 
AYissenschaft. die nuabhangig von der Erfahrung rein auf 
Grand logisober Schliisse gilt, kniipft sieh aber wieder. ein 
viel behandeltes Problem: wieso eine soiclie Wis^uischaft 
itbeiiiaiipt moglich ist. aus -\veleher Erkenntnisijiielle auBer der 
Erfahrung sie denn schopft? Es ist so golaufig gewordcn durch 
Kants heriihmte Fragestolhnig: Wie siml synthetisebi 1 Urteile 
a priori in der Matbematik mid in dor Naturwissensoliaft und 
in der Metaphysik moglich V Er beantwortet .sie Mr die Matbe- 
matik bekanntlich dam ft. (Lafi er eine .reine'. nieht-empiriscbe 
.Anseliauung'. genauer: zwei Form en sinnlieher Anseliauung 
Die Gnmdforuien der wissensoiia ft lichen Methodon. 65 
iiberhaupt, Raum mid Zeil, einfuhrt (wobei es dahingestellt 
bleibe. inwieweit er die Arithmetik auf die reine 'Zeitanschau- 
ung mid die Mathematik iiberhaupit auch noch auf die reinen 
Yerstandesbegrifre begriindet). 
Bei dieser Frage nach der ,ErkenntiusqueUe l muB man 
aber zweilerei klar auseinanderhalten: den Erkeimtnisgrund 
ihrer Geltung mid ibren psychologisclien Ur sprung, die 
psychologisclien Grundlagen Hires lnhaltes. Hier liandelt es sieh 
in erster Linie um die Geltung. urn ibren Rechtsgrund. Hie 
mathematischen Lehrsatze gelten als SchluBfolgerungen 
rein auf Grand der logischen Gesetze; wie verhalt es sicli 
aber mit der Geltung der Axiome, von denen sie allele! tet 
werden? Yon dieser hangt ja die Art der Geltung des ganzen 
Systems ab. 
Die Geltung der Axiome kommt mm wieder in zwei- 
faelier Hinsicbt in Betracht: einmul in bezug aui: die darans 
ableitbaren Satzc — als die notwtmdigen und liinreicbendcn 
Pramissen; fur diese gelten sie mit logischer Notwendigkeit. 
L T m diese relative Geltung liandelt es sicli aber jetzt nicbt, 
sondern da rum, welche Geltung den Axiomen an und fiir sick 
-/ukommt, d. h. die Frage geht nach der Geltung der Axiome, 
wenn sie als isolierte Siitze fiir sieh genommen werden. 
In dieser Hinsicht hat m.an nun den Axiomen der llathe- 
matik seit jeher eine absolute Geltung zuge-sclirieben. Es 
war bis in die neueste Zeit die allgemeine Anschauung, die 
auch lvant geteilt hat, und zum groBen Teile best eh t sie audi 
heute noch, dafi die Axiome unm i tt e lbar gewiB, vun 
selbst evident sind. Das ist z. B. noch die Anschauung 
Frege-s 41 : ,Von artersher neiint man Axiom einen Gedanken. 
dessen Wahrheit feststeht, ohne jedoch dureh eine logische 
SchluBkctte bewiesen werden zu konnen.' 4 - Sie gelten durch 
sieh selbst. well sie die letzten .einfachen Grundtatsaehen' an- 
gehen (wie sicli nierkwiirdigerweise audi z. B. Hilbert ,;! |Ein- 
leitung] noch ausdriickt). 
Um diese absolute Geltung und unmittelbare GewiBheit 
zu erklaren, um den Grand dafttr zu linden, hat die Philosophic 
die verschiedenartigsleu Instanzen namhaft gemaeht. "Kant 
liat eine eigene speziiische Erkenntnisijuelle, eine reine An- 
x'haunng vor und neben aller enipinsclion, angrnoiiniieii. Die 
SiUuiigslier. d. phil.-liist. Kl. i'03. lid. 3. Alili. it 
66 V. K r a i t. 
Marburger Richtung des Neukantianismus hat dann den An- 
schauungseha.ra.kter dieser Erkenntnisquelle wieder fallen ge- 
lassen und sie als eine .intellektuelle Synthese' (so wie die von 
Kaiits reinen Verstandesbegrifi'en) bezeichnet. Ahnlich wie 
Kant nimmt audi Poincare eine Intuition, eine Synthesis 
a priori, an. Helmholtz und andere ha.ben dagegen die Axiome 
(der Geometrie wenigstens) auf die Erfahrung gegrundet. 
Diese starke Gegensatzlichkeit bildct das deutlidie Zeugnis 
dafiir, dafi die erkenntnistheoretisdie Begrtindung der abso- 
luten und unmittelbur gewissen Geltung der ma.thematischen 
Axiome die gro&ten Sdiwierigkeiten rait sicli bringt. Die Ent- 
wicklnng der Mathematik ini 1!). Jahrhundert hat aber iiber- 
dies die Voraussetzung dieser ganzen ProbleniSitellung, nam- 
lidi die absolute Geltung der mathematisclieu Axiome, aufs 
sdiwerste ersditittert, indem sie in den nicht-euklidischen Geo- 
m et rien gezeigt hat. dafi einige Axiome gar nicht unbedingt 
gtiltig sind. 
a) Erfahrung' als Oeltungsgruud. 
Die Geltung der mathematischen Axiome auf die E r- 
fahrung zu basieren. ist jedenfalls unmoglich. a us allge- 
meinen und besonderen Grimden. Helmholtz hat in seinen 
gliinzenden Abhandlungeii .Cber den Ursprung und die Bedeu- 
tung der geometrischen Axiome' (1870) und .Uber die Tat- 
saclien, die der Geometrie zugrunde liegen' (1808) deren 
empirisehen Charakter mit den eindringendsten Saeh- 
argumenten zu enveisen gesucht. Axiome wie dieses, daB es 
zwischen zwei Punkten nur eine Gerade als die kiirzeste Linie 
gibt, oder dieses, dati dureh einen Punkt auSerhalb einer Ge- 
radeu nur eine zu dieser Parallele mogiieh ist, oder das Axiom, 
das die Kongruenz der Figuren einfiihrt — solche Axiome 
sprechen besondere Bedingungen aus, welche nicht in jedem 
beliebig ausdenkbaren Raum. sondern nur in einem Raum von 
s])ezieller Art erfiillt sind. Riemunn hatte in seiner genialen 
Habilitationssdirift ,1'lber die Hypothesen. welche der Geo- 
metrie zugrunde liegen' (1854) untersucht. .weldie Eigentiim- 
lichkeiten des Raumes einer jcden von mehreren Verander- 
lichen abhangigen. kontinuierlieh ineinander iibergehenden 
Manuigfaltigkeit. deren Dii'i'erenzen alle miteinander qualitativ 
Die Gruudfyrmcii der wisscuschaftlicLen Methoden. 67 
vergleichbar sind, zukoramen, welche dagegen nicht durch 
diesen allgemeinen Charakter bedingt. dem Raum eigentiimlich 
se.ien ,4i (ri.G19). (Dieae Untersuehung ist aufier von Helm- 
holtz von Lie und neuerdings von Weyl weitergefuhrt worde"u.) 
Riemann hatte gezeigt und Helmholtz es bestatigt. da6 ,der 
Raum. als Gebiet meBbarer GroBen betraehtet, keineswegs dem 
allgemeinsten Begriff einer JlannigfaLtigkeit von drei Dimcn- 
sionen entspriclrt. sondern noch besondere Bestimmungen ent- 
hitlt. welche bedingt sind durch die vollkommen freie Beweg- 
lichkeit der festen Korper mit unveranderter Form na-ch alien 
Orten bin und bei alien moglichen Richtungsanderungen, ferner 
durch den besonderen Wert des KriimmungsmaBes" ernes 
Raumes" (S. 19). Diese besonderen Bestimmungen werden ge- 
fordert zur Ermoglichung der Kongruenz, welche die Grund- 
lage fiir alle Raummessung und damit fiir alle Eigensch.aften 
oder Beat immthei ten eines metrischen Raumes bildet. Denn 
Kongruenz setzt voraus, dafi ,feste Korper oder Punktsysteme 
in uuveranderlicher Form zu einander bewegt' uud zur Kohizi- 
denz gebracht werden konnen und daB die .Kongruenz zweier 
RaumgroBen em unabhangig von alien Bewegungen bestehen- 
d( j s Faktum hv if fS. (>21). Diese besonderen Bestimmungen, 
welche in den Axiomen der euklidischen Geometrie festgeleg.t 
werden, sind keine .Den kn o t w end igk eit e n\ die aus 
dem Beg rift' einer Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen uud 
Hirer MeBbarkeit oder aus dem nllgemeinsten Begriff eines 
festen in ihr enthalteneu Gebildes tind seiner freiesten Beweg'- 
Iichkeit liertlieBen 1 , sondern sic werden uus durcli die E r- 
f a lirung gegeben 1 " (S. 22). Das erhellt ferner daraus: 
Wenn die Geometrie auch die unvenindert beweglicben Raum- 
i'onuen nur als g e o me t r i s c h e Korper. Flacheu. Winkel. 
Linien betrachtet. so 1st dabei dodi auch eine physikali- 
s c h e Eigensebaft der Xalurkorper verwendet, die FestigkeiT. 
.Die geometrischen Axiome spree hen also gar nicht iiber das 
Verhaltnis des Raumes allein. sondern gleiebzeitig Uber das 
mechanische Verhalten unserer festesten Korper bei Bewegun- 
gen' ''' (S. lid). Denn .alle uusere geometriseheii Messungen be- 
ruhen aid der Yoraussetzuug, dafi unsere von uns fiir i'est ge- 
haltenen MeBwerkzeuge wirklich Korper vooi uuveranderlicher 
Form sind' ,: ' f'S. 2:!). uud das zeigt sieli audi darin. .daB je 
68 V. Kraft. 
nach der Art des Wohnraiimes [eines ellijitisohen oder hyper- 
bolischen auBer dem euklidischen] verschiedene geometrische 
Axiome aufgestellt werden miifiten' 1;l (S. 10). 
* Diese Argumentation des groBeu Forschers und Denkers 
trifft aher in unserem Sinne nieht zu. Sie betrift't zun&chst ein- 
mal nur den me t rrsch cu Raum, den Raum .als Gebiet meB- 
barer Gvoiten betrachtet'. Cher die Axiome. wekhe tiie Eigen- 
schaften des Raumes ausspreehen. soweit sie niclit auf MaB- 
verhaltnissen, sondern auf allgemeinen Lageverhaltnissen be- 
ruhen, des Raumes der topologischen Geomet.rie oder Analysis 
situs., ist dumit noch nichts gesagt. 
Die Argumentation Helmholtz' bezieht sich vor allem aber 
nur auf eine Geometrie dea wirklichen Raumes — das ist 
das wesentliche Moment; sie .stent unter der Voraussetzung. 
daB die Axiome die Eigenschaften des wirklichen Raumes 
aussprechen sollen. Und dariiber, welche met.rische Eigenart 
der wirkliche Raum aufweist, fcann n&turlich prinzipiell nur 
die Erfahrung entscheiden, das ist unbestreitbar. Eine solehe 
Feststellung ist sehon eine Sac-he der ange wand ten Geo- 
metrie. Sie hat nichts melir zu tun mit der reineu Geometrie. 
welche sich allgemein mit den verschiedenen lnetrischen Raum- 
arten in der euklidischen und den nieht-euklidischen Geo- 
metrien und dem ihnen alien gemeinsamen Raum in der Topo- 
logie befaBt und deren GesetzmaBigkeiten klarstellt. ohne sich 
urn ihrc YVirklichkeit oder Nichtwirklichkeit zu ktimmern. Und 
wena man nun nach der Geltungsart der Axiome diesev reinen 
Geometrie fragt, so kaim die Erfahrung deshalb darauf kelne 
Ant wort mehr geben, weil es ja doch Satze uber ideale 
Objekte, idcht uber empirische sind. Wie polite da die Er- 
fahrung etwas begriinden konnen! Die besonderen Bedingun- 
gen. welche zu der allgemeinen ilannigfaltigkeit von n Diiuen- 
sionen hinzukommen milsscn. urn die verschiedenen metrisehen 
Raumarteu zu ergeben, sind fiir die reine Geometrie vollig 
gleicbwertig; es werden njcht emige rtavon (die euklidischen) 
durch die Erfahrung gegeben, sondern sie sind alle hinsichtlich 
ihrer Oeltung ;ds Axiome der reinen Geometrie von der Er- 
fahrung vollig unabhangig. Niclit die Axiome der Geometrie 
— der Gemnetrien! — gelten auf Grmid von Erfahrung. son- 
J)ie CJnimlfoi'imML dor wi.s.soiisoluiftlii'lipii Methoden. 69 
dern die An wen dung- einer Geometrie auf den wirklichen 
Raum beruht auf Erfalirung. 
Cberdies werden aber die metrischen Axiomc nicht ein- 
mal fiir den wirklichen Raum dureh die Erf ah rung' eindeutig 
legitimiert. Demi wenn das KriimmungsmaB desRaumes gering 
ist, so laBt sich innerhalb der unserer lies sung zuganglichen 
Raume nicht eindeutig entseheiden, welche Art von Raum vor- 
liegt, weil die Abweichungen noch unter den Bcobaohtungs- 
grenzen bleiben konnen. Demi die fur uns mefibaren Raume 
sind im Vergleich zum Welt-all, auch wenn es endlich 1st, als 
sehr klein anzunehmen. 
Aber auch davon abgesehen, liifit sich die Geltung metri- 
scher Axiome fiir den wirklichen Raum nicfct einfach dureh 
Erfalirung begriinden, weil aufierdem auch noch gewisse Vor- 
aussetzungen in Betreff der JlaBstabe erforderlich sind. Die 
Erfahrungen, welche eine bestimmte — euklidische oder nicht- 
euklidische — ■ Geometrie legitimieren sollen, hiingen selbst 
schon davon ab, -was man als Mafistab, als starren Korper, als 
Gerade . . . betrachtet fs. spater S. 138 f.)- Denu die tatsiic h- 
liche Starrheit empirischer Korper laBt sich nicht durcb Er- 
falirung nachweisen. Helmholtz mufl selbst feststellen 1!1 (S. 2!)): 
.Fiir die Festigkeit der Korper mid Raumgebilde haben wir kein 
anderes Merkmal, als daB sie. zu jeder Zeit und an jedem Orte 
und nach jeder Drehung aneinander gelegt, immer wieder die- 
solben Kongruenzen zeigeu wie vorher.' Die empirische Fcst- 
stellung von Kongruenz erfordert also starre Korper als MaB- 
stiibe und Starrheit von Korpern wird wieder nur dureh Kon- 
gruenz erkaunt. Man niiiBte also einen absoluten Maftstab 
schon besitzen. Infolgedessen bleibt nichts fibrig. als fiir die 
empirische Raumme'ssung bestimmte empirische Korper als 
Starr (und bestimmte Linien — die Lichtstrahlen — als gerade) 
einfach anzunehmen. festzusetzen. Aber das ist naturlich nicht 
mehr Erfalirung, sondern Obereinkunft. Die Art des geo- 
metrischen Raumes, der sich zur Bestimmung des wirk- 
lichen Raumes verwenden lilBt, ist darum in Zusammenhang 
mit physikalischen Annahmen frei wiihlba r ■ — wie es sich 
in der Relativitatstheorie auch tatsachlich zeigt. Kur die Au s- 
wahl einer der verschiedenen metrischen Geometrien fiir den 
wirklichen Raum wird dureh Erfalirung bestimmt und nicht 
70 V. K rsi ft. 
einmal durch Erfahrung alleiu. sondern ruir im Zusiammenhang 
mit physikalischen Annahmen. Was durch die Erfahrung dc- 
terminiert wird. ist iiberhaupt kein geom e t ri scher Saeh- 
verhalt mehr. sondern eine Wechselbeziehung, eine Zusammen- 
arbeit von Geometrie und Physik zu einer gemeinsamcnTheorie 
der Natur, 
Die tatsachliche Erfahrung laBt sich verschieden inter- 
pretieren, sowohl im Shine der euklidisclien wie einer nieht- 
euklidisdien Geometrie. So konnte es dazu knmmen. daB das- 
selbe Argument, das Helmholtz fur den Empiriismns in der 
Geometrie gel tend macht. namlich die nicht-euklidischen Geo- 
metrien neben der cuklidischen, daB dieses selbe Argument 
Russell gegen den Empirismus ins Feld ft'ihrt — weil eben 
deswegen die Erfahrung nicht mehr einseitig fiir die euklidi- 
sche Geometrie zum Beweis angerufen warden kiinne "° (p. 373). 
Ein reiner Erfahrungsbeweis fur eine bestimmte Geo- 
metrie ist prinzipiell ausgeschlossen, weil es sich ja nicht urn 
rein empirische Verhaltnisse bandelt, sondern. urn ideale Ver- 
haltnisse auf der einen Seite und um empirische auf der ande- 
ren, und es daher auf eine Zuordniin g zwisehen beiden an- 
kommt. die deshalb kein Erfahrungsergebms se'm kunn. son- 
dern eine Festsetzung\ eine I'bereinkunft darstellt (s. spater 
S.00). Helmholtz spricht es ja selbst. aus " (8.018), daB ,wir 
es in der Geometrie stets mit idealen Gebilden zu tun haben. 
deren korperliche Darstelluug in der Wirklichkeit immer nur 
eine Annaherimg an die Fordcrungeu des Begriffes ist, und 
wir da rube i\ ob ein Korner fest, ob seine Fliichen ebeu. seine 
Kanten gerade sind. erst mittelst derselben Satze entscheiden. 
deren tatsachliche Richtigkeit durch die Priifung zu erweisen 
ware*. Deshalb hat Riehl w (S. 280) mit Recht Helmholtz ent,- 
gegengehalten: .Die Geometrie ist die Wissenschaft nicht der 
Raumm e s s u n g\ sondern der Ge seize der ilossung* raurn- 
licher Dinge." Die Geometrie iniflfc nicht. sic deduziert die 
MaBbeziehungen. 
Somit ist es klar, daB selbst die besonderen Bestimmun- 
gen des euklidischen Ruiimes gegeniiber einer allgcmeinen 
dreidimensionalen, meBbaren Mannigfaltigkeit und damit ein 
bestimmtes Axiomensystem als geometrisches nicht durch 
Erfahrung zu begriinden siud. Um so mehr gilt dies fiir die 
Diih onnidfornipn der wi^spiinfhnitliclien Methnden. 71 
inathematischcn Axiume ubcrhaupt. Wie sollte iliro Begriin- 
dung auf Erfahrung aiit'h tnuglieh sein. nachdem sie doch 
idoale Gcgenstandc. Gedankeugebilde betreffen und nicht 
empirisch-reale! Die Jlatheniatik ist wirklich cine in Hirer 
Oeltung von dor Erfahrung vollig unahhangige Wlssenseliaft. 
(Uber ihren gen e t i sc h e n Zusainmenbang mit der Erfah- 
ning siehe spa'ter S. 152 f.) 
b) Heine Anschauung ah Geltungsgrundlage. 
Wenn man die absolute Oeltung- und die unmittelbare 
Gewifiheit dor mathematischen Axiome rechtfertigen und er- 
klaren will, so bleibt nur eine Beraiimg auf eine spezifi- 
s c h e, ur sp riinglich e, ni cht- emp irisc h e Erkenntnis- 
quelle iibrig. mag sie im besondereu als reine Anschaming inler 
als eine ursprtingliche intellektuelle Synthese, als Intuition 
oder als .Wesenschau' bestimrat werden. 
Neuerdigs bat vor alien Poinearc eine intuitive Syn- 
thesis a priori als Geltungsgrund der Mathematik .vert re ten ' 7 
(•2. Buch, 3.-5. Kap.). Er hat lebhaft bestritten, dali die 
Mathematik auf die Logik zurUckgefiihrt werden kann, d. h. 
dafi man von den (undefmierbaren) Grundbegriffen und den 
(unbeweiabaren) Grundsatzen dieser Logik aus ,d* e ffanzc 
Mathematik begriinden konnte. ohne irgendein neues Element 
einzufiihren' (S. 148. 149), so wie Russell und Whitehead es 
wollen. Er bemttht sicli. zu zeigen. dafi man immer Prinzipien 
venvenden miisse, die der Mathematik spezifiseh sind und die 
sich nicht aus der reincn Logik begriinden lassen (S. 135). 
Da 1st vor allem das Prinzip der mathematischen Induktion. 
Sie konnen nicht als Definition en durch Postulate, als einfache 
i'lbereinkunft also, betrachtet werden, wie Russell es tut. Denn 
.urn das Recht zu haben. ein System von Postulaten aufzu- 
stellen. rnussen wir erst versichert sein, dafi diese Postulate 
keine Widerspriiche enthalten' fa.a.O.S. 1G8). Die einzig mog- 
liche Beweisfiilirung dafttr konnte aber — bei einer unend- 
lichen Anzahl von auf ihren Widersprncli zu priifenden Lehr- 
siltzen — nur mit Hilfe desselbeti Prinzipes der mathemati- 
schen Induktion vor sich gehen. urn dessen logischen Beweis 
es sich eben handelt (S. 138). Daher kann man das Induk- 
tionsprinz-ip nicht als einfache Definition cinfiihren. sondern 
72 V. K i a f t. 
mufi os als ,ein synthetisclies Urteil a priori', als eine .Intuition' 
aiisehen (-S.108, 169). 
Ich will gauz davon absehen. dafi die Axiomc eincs 
niodcmen Aufbauos der Arithmetik oder der Geometrie nicht 
immer unmittelbar einleuchten, so, dafi sie mis selbstverstand- 
lich erscheinen und wir sicher sind, dafi es gar niclit anders 
sein kann, sondern dafi man mitunter erst einer Oberlegung 
bedarf, urn sie einzusehen; z. B. das fiinfte Axiom der zweitcn 
Gruppo der geometrischen Axiome bei Hilbcrt 43 (§ 3), das 
Axiom der Anordnung: ,Es seien A, B, drei nicht in gerader 
Lime gelegeue Punkte und a cine Gerade in der Ebene ABC 
die keinen der Punkte A, B. C it riff t. Wenn dann die Gei-ade a 
durch einen Punkt innerhalb der Streeko AB geht, so geht sie 
sitets entweder durch einen Punkt der Strecke BO oder durch 
einen Punkt der Strecke AC Ich kann dieses Axiom nicht 
unmittelbar einleuchtend finden, audi wenn man , Punkt 1 und 
, Gerade' im alten euklidischen Sinne nimmt. Versteht man 
aber miter .Punkt' und .Gerade' usw. nach der Erklarung 
Hilberts in § 1 blofi .Systeme von Dingen', so 1st dieses Axiom 
und 'ebenso alle anderen um so weniger von selbst evident, 
sondern sie erscheineu bloB als willkiirliche Festsetzungen. 
Die Axiome sind mir die obersten, darum abstraktesten Siitze, 
die als die letzten logisch erforderlichen Pramissen des gan- 
zen Systems formuUert wurtlen. und gerade solche sind natur- 
gemafi weniger leielit verstandlich und nicht so unmittelbar 
einleuchtend als Satze von grofierer Konkretheit. Aber das 
ware ja nur ein p sy chologise he s Argument; es betrafe 
ja nur die psychologisehen Bedingungen dafiir, dafi unmittel- 
bare Gewifiheit sich einstellt. 
Das Weseutliche ist vi&lmehr das, dafi sich eine Geltungs- 
begriindung auf Anschauung oder eine derar-tige Erkenntnis- 
(juelle als mr/.ulauglich, als nicht liinreicheud stichhaltig er- 
weist. Ein Axiom kann auf Grand von Anschauungen durch- 
aus einleuehten — und doch nicht absolut gtiltig .sein. 
Wenn man sich das ebeu vorhin angefiihrte fiinfte Axiom 
der Anordnung durch eine Figur vcvanschauliclit A ^ B d. h. 
sich an einer empirischen Anschauung die Lageverhiiltnisse 
und ihre innere Gesetzma'fiigkeit zmu Bewufitsein bringt. so 
Die Gi'iiiidfoniicu iler wi^on^ehu ft lichen Mctlioden. to 
liifcit es sich einsehen. Aber ebenso leucht-et doch auch aus der 
Auschauung das Parallelaxiom ein: .In einer Ehene liittt sich 
durcli einen Punkt A auBerhalb einer Geraden a stet.s cine 
und nur eine Gerade zieheu. welehe jeue Gerade A nieht 
schneidet' * 3 (§ 7). lch kann wenigstens keiuen Unterschied 
darin zwischen beiden finden. Und doch gilt dieses Axiom 
nur fiir die euklidisehe Geometrie und ist ungultig fur die 
nicht-euklidteche. Satze, die sich ausschliefien. z. B.: dureh 
einen Punkt gibt cs 211 einer Geraden eine eiuzige — Ueine — 
unzahlige Parallele, sollen dann vermoge intuitiver Selbst- 
gewifiheit zugleich absolute Geltung haben! Von den beiden 
Eigenschaften, die nach Kant fur cine Erkenntnis a priori 
wesentlich sind: der Allgememheit und der Notwendigkeit. 
iehlt hier diese lctztere durchaus. Bei Kants reincr Anschau- 
ung war es einfach: da war der dureh sie gegebene euklidisehe 
Raura die einzige vorhandene Form von raumlieher Anord- 
nung, eine andere kam iiberhaupt nicht in Betracht. Darum 
konnte er ihn a Is die notwendige Form raumlieher An- 
ordnuug iiberhaupt erkliiren. 48 Diese Einzigkeit besteht. nieht 
mehr; darum fehlt einer Gewifiheit durcli reine Ansehauung 
iiaf diesem Gebiete mumiehr die Xotwewligkeit — das ist dio 
sebwenviegende Folge der seitherigen Entstehung nicht-eukli- 
discher Geometries Man konnte sehlieBHeh viellcicbt wenig- 
stens den Axiomen der Topologie cine Geltung auf Grund 
reincr Anschauung zusehreiben — aber sollen dann die einen 
Ax ionic iutuitlv geltcn und die andereu. ganz glcicliartigen 
nicht V 
-Reine Anschauung 1 bedeutet eine spczifische Er- 
kenntnisquelle fiir die Erkenntnis cles Ra times und — was ja 
keineswegs dassclbe ist — I'iir die Axiome der Geometrie. DaB 
bcidc cine solche verlangen und olme sie nicht aufzubauen 
sind, das bildct fiir den Neukantiauismus das Argument i'tir 
das Vorhandensein einer solchcn spezUischen Erkenntms- 
quelle. Am prazisestcn hat es Cassirer *'' g'elegentlich seiner 
Auseinandersetzung mit der Relativitakstheorie fommliert. 
.Der Punkt. an wclciiem die allgemeine Relattvitaitstheoric 
jene metliodische Voraussetzung, die bei Kant den Xamcn der 
;( rcincn Anschauung- iiihrt. implizit anerkennen mnB. IliiBi 
sich] genau bezeiehueu. Er liegt im Begiift der «Koinzidenz>^. 
74 V. K ra. ft. 
auf den sie den Inhalt und die Form aller Naturgesetze zuletzt 
zuriickfuhrt. Wenn wir dlo cinzelnen Ereignisse durch ilirc 
Raum-Zeit-Koordinaten x, \. x. ( x 4 , x\ x' 2 x' 3 \\ usf. bezeidi- 
-nen. sn besteht . . . a lies, was die Physik uns vom «Wesen>.- 
der Naturvorgange zu lehren vermag, immer nur in Aussagen 
iiber Koinzidenzen oder Begegnungen soldier Punkte.' .Die 
Raum-ZeLtmanuigfaltigkeit 1st niclits anderes als ein Ganzes 
derartiger Zuorduungen' (ri. 84). ,Mogen wir die «Wcltpunkte» 
x 1 x 2 x a x 4 und die Weltlinien, die aus ilmen resultieren. nook 
so abstrakt denken, indem wir unter den Werten x t x, x 3 x^ 
nichts anderes als irgendwelche mathematische Parameter ver- 
stehen: so erhalt sddieBlich die «Begegnung» soldier Welt- 
pun kte nur dann einen faBbaren Sinn, wenn wir jene «>[og- 
lichkeit des Beisammen», die wirRaum, und jene «Moglichkeit 
des Nacheinander». die wir Zeit nennen, schon zugrunde legen. 
Eine Koinzidenz, die nidit Tdentitat bedeuten soil, einc Ver- 
einigung, die auf der anderen Seite dennoch Sondenmg ist, 
da derselbe Punkt als verschiedenen Linien zugehorig gedadit 
wird: dies a lies fordert doeh schlieBlidi jene Synthesis des 
Mannigfaltigen. zu deren Ausdruek von Kant eben der Ter- 
minus der reinen Anschauung gepriigt word en ist. Der a.llge- 
meinste Sinn dieses Terminus, der bei Kant freilicli nicht 
iiberall gleieh scliarf festgehalten ist, weil sich ihm unwillkiir- 
licli speziellere Bedeutungeu und Anwendungen unterschieben, 
ist kein anderer .als der der Reihenform des Neben-. bezie- 
hungsweise des Nacheiiiander ubevhaupt.' .Das Zuordnen 
unter dem Gesichtspunkte des Beisammen und des Nebenein- 
ander oder unter dem Gesichtspunkte des Nacheiiiander: das 
ist es. was [der Philosoph] unter dem Raume und der Zeit, 
als «Formcn der Anschauung» versteht' — also nur das Ge- 
setz einer spezifischen Aufeiiianderbezielmng (von Punkten). 
X'ber die besonderen MnBverhaLtnisse in beiden 1st damit frei- 
licli noch nidits vorausgesetzt' (S. 85) — womit Cassirer eine 
apriorische Erkenntnis des euklidischen Raumes in 
Gegensatz zu Nat-orp und den anderen Neukantianem fallen 
mat. 
Was Oassirer damit als unzurtiekfuhrbar aufweisen will. 
nls letztes Fundament, als .methodisehe Voraussetzung 1 : die 
Die Grundformeii der wis.-en&duift lichen Metlioden. 'O 
.Re i hen form des Xeben-, beziehungweise des Xacheinandcr 
iiberhaupf. das zerfallt aber noch in zwei Grundbestandteile. 
Die allgemeine Anordnungsform der Reihe ergibt sich aus 
ciner "initellektuellen Operation, in der die Ordnungsgesetz- 
maBigkeit und die riiumliche Moglichkeit der Nebeneinander- 
ordnung und die zeitliche der Wiederholung zusammen ver- 
wendet wird. Die letzten Grundlagen sind somit die Ordnungs- 
gesotzmiifiigkeit, die eine A'erstiaudeshaudlung' ist und nicht 
eiue Anschauung. und das Nebencinauder und Nacheinander 
uberhaupt, die in den Sinnesda.ten mitgegeben sind. Ausge- 
dehntheit 1st eine durchgiingige Bcscliaffenheit an bestimmten 
Klassen von Sinnesdaten (visuellen und haptischen). aber 
nicht anders wie Buntheit oder Hell-dunkel eine durchgangige 
Beschaffenheit der G e si cbtsf elder ist. Das Neben- und Nach- 
einander ist gewifi etwas Spezifiscbes, aber nur so wie alles 
Sinnesqualitative. Es erfordert und ergibt fur sich noch dureh- 
tuis keine andersartige, keine .reine' Anschauung. Wenn so 
der Raum auf Grund der Beihenform des Nebeneinander auf- 
gebaut wird, so bedeutet das daher keine einhei tli eh e 
Grundlage. wie sie in einer reinen Anschauung vorausgesetzt. 
wird: sunderu es ist die allgemeine OrdmingsgesotzmaRigkeit. 
die an sinnlichem Inhalt zur Geltuug gebracht wird. Es liegt 
damit wohl das Gesetz einer spezifischen Verkntipfung vor, 
aber das Spezifische gehort dabei detu sinnlichen Inhalt an, 
und es wird dafiir nicht nielir und nicht anderes erfordert als 
die allgemeine Grundlage der Erkenntnisbildung uberhaupt: 
sinnlieh Gegebenes und gesetzmaBige Ordnung. ,Sinne' und 
.Verstand', aber keine .reine Anschauung', Der Raum ist, wie 
sich spiiter (S. 175) zeigen wird. ehrfach eine Theoric in 
bezug auf eine sinnliche Mannigfialtigkeit. Und soil ten die 
Axiome der Geometric auf dem Schema, der Moglichkeit. des 
Nebeneinander, als einer .reinen Anschauung' beruhen, d. h. 
aus ihr als einer speziiischen Erkenntnisquelle sich ergeben, 
so miiftten ihre verse hieden en Aximnensysteme infolgedessen 
alle in gleicher Weise absolute Geltung habeu! Gerade in der 
viel pragnanteren Formulierung. die Gassirer wie so oft vor 
den anderen Neukantianern voraus hat. wird es urn so deut- 
licher. daB sich eine spezifische Erkeuntnisquelle wie reine 
Anschauung nicht nachweisen lliftt. 
76 V. Kraft. 
c) Die Axiome aU Definitionen Oder als ableitbare Satze. 
Wieso und inwiefern golten aber dann die mathemati- 
schen Axiome, wenn sic weder auf Erf aiming noch auf einer 
spezifischen. nichit-empirischen Erkenntmsquelle befuhen? 
Dazu muB man zu allererst klar vor sich haben, w a s in den 
matliematischen Axiomeu ausgesagt wird. 
In dem deduktjven System der Mathem&tik. dcr Arith- 
metik sowohl als der Goometrie, wie es Hilbert ia ii} begrtindet 
bat, die nur mit Symbolen arbeitet, die wohl formal individua- 
lisie-rt sind, inhaltlich aber Beliebiges bedeuten konnen, spre- 
ehen die Axiome nur material unbestimmte, bloB formal 
charakterisierte Bezieliungen zwisehen ebeu solchen Elcmen- 
ten ans (die Bezieliungen a. /?, y . . . zwischen den Elementen 
a, b, c . . .). Die Axiome bitden hier die ,implizite ( Definition 
der mathematischen Gnmdbegriffe. Damit fmd&t die Frage 
ihrer Geltung ihre klare Beantwortung: Definitionen bean- 
spruchen iiberhaupt keine absolute Geltung; es sind freie 
Setaungen; sie stellen b\oB annahmeweise auf. Daher kommt 
den Axiomen einer solchen vollstandig formalisierten Mathe- 
maitik iiberhaupt keine absolute Geltung zu; sie sind weder 
wahr noch falsch. In ihnen werden einfach die notwendigeu 
und hinreichenden logischen Bedingungen fur die Deduktion 
als rein gedankliche Annalimen eingefiihrt. Mehr wird in ihnen 
nieht ausgesproehen, weder reale Tatsachen noch unbedingt 
gtilitige ideale Wahrheiten. Da rum ist es audi nich.t erforder- 
lich, eine absolute Geltung fiir sie — empiristisch odor intui- 
tionistisch — aufzuweisen. Sie gel ten iiberhaupt nieht, sie 
werden bloB hingestellt ,posito non coneesso'. 
Die formalisierte Ma;thematik hat aber in der let z ten Zeit 
eine sehr bedeutungsvolle Wendung genommen, die ihre Be- 
griindung tief bertihrt. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahr- 
hunderts hat die Ma t hermit ik eine uberrasehcnde und bcwuu- 
derungswtirdige Enlwicklung erfahren. In mehrfachen groBen 
Erweiterungen, deren letzte die Mengenlehre, die Gruppen- 
theorie und besonders der logische Kalklil waren, is-.t sie liber 
eino Goometrie und Arithmetik hinausgewaehsen zu einer ganz 
allgemeinen formalen Beziehungslehre. In den Sehriften von 
Frege, Peano, Whitehead und Russell u. a. ist der groBe Ver- 
sueh unternommen. die Gruiidbegriffe und Grundsiitze, welche 
Die Grundformen der wissensoliaitliehen Methodeii. 77 
ein System der Mathematik bis dahin als unbeweisbare und 
undefinierbare zugnmde leg-en muBte. selbftt wieder abzuleitcn 
aus den letzten, allgemeinsten Gruiidbegriffen und Grund- 
beziehungen eines Systems der formalen Klassen und Bezie- 
hungen iiberhaupt, einer neuen Logik. Wie die Geometrie 
ihrer fornuilen Struktur nacli aus der Arithmetik entwickelt 
werden konnte, so 1st wieder die Aritbmetik aus der Logik 
begriindet worden. .Durch die Definition der Kardinalzabl. 
durch die Theorie der [ma-thematischen] Induktioii und der 
«anzestralen» [sich iibertragenden] Beziebungen, durch die all- 
gemeine Theorie der Reihen und durch die Deilnftionen der 
arithmetischen Operationen ist es moglich gcworden, vieles zu 
generalisieren, das gewohnlich nur in Verkniipfung mit Zahlen 
bewiesen wurde* '" (p. 19o). Dadureh sind neue Zweige neben 
die Arithmetik getreten, die sich gar nieht uiohr mit Zahlen 
befassen, sondern mit deni Studiutn von Beziehungen im all- 
geineinen. Zahlt man sie mit zur Mathematik in diesem Sinne. 
so konnte Boole, der Begrunder des logischen Kalkuls, iin Vor- 
wort seiner .Laws of Thaugt' (1854) (nach 1,; S. 323) mit Reclit 
<sagen: ,Es gehort nicht zum Wesen der Mathematik. sich mit 
den Begriffeu Zahl und GroBe zu beschaftigen.' Erne solehe 
allgemeinste Bezielumgslehre fallt mit dem Gebiet der Logik 
zusammen, als einer Lebre von den formalen Beziehungen 
alles Denkbaren iiberhaupt. Die Mathematik geht damit in 
die Logik iiber, sich in sio enveitornd, die Logik setzt sich. 
a.ls in einem speziellen Teil, in der Mathematik fort. 
Die Grandsatze der Arithmetik; das kommutative 
und das assoziative Gesetz der Addition "(a + b — b + a. 
a + [b + c] = [a -f b] + c) und ebenso der Multiplikation 
(a, }> = !>. a, a [b. c] = [a. bj c) und das distributive Gesetz 
(jli -j- c]a = ba + ca) sind lange Zeit als unbeweisbare, nur 
durch ihre unmittelbare Kvidenz gewisse Axiome angesehen 
worden (so noeh von Heymans, a. a. 0., § 31. S. 127); sie 
konnen aber alle bewiesen werden, sobald man die Defini- 
tion der Zahl und die Definitionen der Grundoperationeii der 
Addition und der Multiplikation gegeben hat (vgl. z. B. -''). 
Diese bilden also die eigenrliehen letzten arithmetischen 
Grundlagen. Die Grundoperationen besehaftigen sicli mil den 
(irundbezieliungen zwisclien Zahlen: der Summe und dem 
78 V. Kraft. 
Yielfaehen. Aus dera Wesen der Addition HU5t sich die Ver- 
tausehbarkeit der Summanden einsehen — weil eine Anord- 
nung nur in den Symbolen vorliegt. aber nicht in der 
Sache des Rechnens"" (p. 114, p. 118) und so lassen sich 
audi die anderen arithmetischen Grundsatze einsehen. Nun 
hat Russell den Begriff der Zahl selbst lediglich mi:t Hilfe von 
Begriffen der allgemeinen Logik definiert: denen der Kinase 
und ilirer Glieder. der umkehrbar eindeutigen Aufeinander- 
beziehung.und der Ordnung (dagegen aber Oassirer- 4 , 2. Kap.. 
TIT. und Ricked, 80 ). 
Der Grundbegriff der Arithmetik is.t die Zahl. und zwar 
die naturliche. die positive gauze Zahl; denn auf diese, auf 
VerbaLtnisse der natiirliclien Zahlen lassen sich alle anderen 
Zahlenarten zuriickfuhren/' 1 
Weun man den Begriff der Zahl uutersucht. so muB man 
dabei zuniichst auf den Unterschied zwischen dem BegrilT 
der Zahl (einer Zahl iiberhaupit) und dem Begriff einer 1 
speziellen Zahl (den Begriffen der einzelnen Zahlen) 
achten. In dem einen Fall liandelt es sich uni den Gattungs- 
begriff aller Zahlen, in dem anderen uni die einzelnen Zahl- 
begriffe selbst. 
Eine spezielle Zahl (z. B. 12) ist niclit identisch mit 
einer Mehrzahl oder Menge konkreter Gegenstande von dieser 
Anzahl (z, B. 12 Apostel Johannes. Petrus, Matthaus . . .), sie 
bezeichnet vielmehr etwas, das alien Mengen konkreter 
Gegenstande von dieser Anzahl gemeinsam ist (den 12 
Aposteln und den 12 Monaten und den 12 Kantschen Kate- 
gorien . . .) und was diese von alien Mengen nnderer Anzahl 
uiLterscheidet (der Gharakter, ein Dutzend zu sein). Eine 
spezielle Zahl ist also das allgemeine Merkmal einer bestimm- 
1en Gattuug von Mehrheiteu oder Mengen. 
Eine Meuge oder Mehrheit bedeutet aber selbst sclion 
immer etwas GattungsmaBiges: sie schlieBt in sich. daft 
mehreres als in irgendeiner Hinsicht Gleichartiges zusammen- 
genommen wird. Eine Menge ist selbst schon eine Gattung 
oder Klasse. Daher ist eine spezielle Zahl als Gattung von 
Mengen eine Gattung von Gattuugen (Klasse von Klassen). 
12 ist. die Gattung aller Mengen (Klasse aller Klassen). welehe 
12 Glieder haben. 1 die Gattung aller .Mengen. welehe ein 
Die Grundformeii der vvissensehaftlichen Methods, iv 
Glied haben. Xull die Gattung aller Gat.tungen, welche kein 
Glied haben. 
Eine snezielle Zahl bezeichnet also eine Eigenheit. in 
der meltrerlei Mengen, Mengen von vcrschiedenartigen Gegen- 
standen, mit einander iibereinstimmen: eben die der gleiehen 
Anzahl der Gegenstande in jeder Menge. Aber dieser Be- 
griff der Anzahl, als bestimmter, darf ja nicht als gegeben 
gelt en. er soil ja erst in einer Definition konstituiert werden. 
Als das, was sich durch Abz allien der Gegenstande einer 
Menge ergibt, laBt er sich nicht bestimmen. Demi AbziUilen 
setzt ja die Zalil schon voraus, Aber man kann die Gegen- 
stande mehrerer Mengen in der Hiusicht mit einander ver- 
gleicben. ob sie -sich gegenseitig umkehrbar eindeutig zn- 
ordnen lassen, ob jeder Gegenstand der einen Menge anf 
einen und nur einen Gegenstand der anderen bezogen werden 
kann und eben&o umgekehrt. Wenn dann keiner ohne Ent- 
sprec-hung tibrigbleibt, so haben diose Mengen die .gleiche 
Anzahl' von Gegenstand en. Lassen sich aber die Gegenstande 
der einen Menge nicht der anderen, sondern nur einem Teil 
der anderen umkehrbar eindeutig zuordnen, so ist die An- 
zahl der Gegenstande versehieden; die der einen ist .kleiner", 
die der anderen .groBer. (DaB bei zwei Mengen A und B nur 
einer der drei Fitlle: A und E einander gegenseitig zuorden- 
bar oder A nur einer Teilmenge von B zuordenbar oder B nur 
einer Teilmenge von A zuordenbar, eintreten kann. wird durch 
die Voraussetzung der ,Wohlordeubarkeit" einer Menge ge- 
wahrleistet.) Was das heiBt: .gleiche. verschiedene (grofteiv, 
kleinerej Anzalil' ist also da mit demutorisch bestinunt: f> 
sind die Verhaltnisse umkehrbar eindeutiger Zuordenbarkeit 
der Gegenstande von Mengen. Dam it ist die Zahl als Kar- 
dinalzahl definievt. Eine spezicllc Kardinalzahl ist also eine 
Gattuug von Mengen: die Gattung all der Mengen, deren 
Gegenstande einander umkehrbar eindeutig zuordenbar sind. 
Jede solche verschiedene MengengatUmg wird durch cin 
(Zahl-)Zeichen individuell festgelegt. 
(Eine Zahl ist eine Gattuug von Mengen oder Mehr- 
heiten. I*t aber mm 1 eine Menge |.\lelirheit|V oder gar OV isi 
denu audi 2 eigeivtlich eine MelwheiiV ist davum 1 keine Zalil'.-' 
und I) uml 2? So wird es verstlindlich. daB die Grieciirn und 
80 V. Kraft. 
Amber auch tatsachlic-h 1 nieht zu den Zahlen gerechnet 
hiiben unci daB dio erst im 12. Jahrhundert im Abendland 
als Zahl eingefiihrt worden ist jaus Indien. wo sie urn 400 
nach Chris to gebildet wurde." I., 8. 158, 784]. ebenso 
daB urspriinglich in den klassischenSprachenneben dem Plural 
ein Dual bestand. Wenn man auch und 1 und 2 unter den 
Begriff der Zahl befaftt, no heiBt das, es nur als einen speziellen 
Fall ansehen, wenn eine Menge oder Klasse einnial nur ein 
Gliod oder keines oder zweiGlieder enthalt. Das bedeutet aber 
eine Erweiterung des Begriffes der Mehrheit oder Mcnge 
fiber den gewohnlichen Sinn, in dem sie immer mehrere 
Glieder umfaftt, hinaus, ihre Verwendung in einem allgemei- 
neren, eben mathematischen Sinn. Der Begriff der Zahl erweist 
sich damit als eine Begriffsbildung. in der aus der Mehrheit 
und dem Tndividuum und dem Paar und dem .kein' der allge- 
meine Charakter der An zahl herausgehoben i.st als ein 
hoherer Begriff, der nun alle diese als Sonderfalle unter sich zu 
befassen inrstande ist.) 
Es heruht auf einem MiBversUindnis, wenn Aster :!0 
(8. 255) meiut: die Definition der Zahl mit Hilfe des Begriff es 
der Menge .enthalt einen Lehrsatz, den wir nur verstehen 
konnen, wenn wir den Gegen&tand kennen, den wir als Zahl 
bezeichnen", geradeso wie wir .den Schall nieht als periodische 
Luftbewegung definieren konnen'. Dieser GegensUind, der 
Anzahlcharakter Zweiheit, Dreiheit, ist fur ilm vielmehr ein 
.nnmifctelbar gegebener Tatbostand' (8. 207). auf dem alle 
vveitere Zahlbildung benihit. ,Ebenso wie das Gleichheitspha- 
nomen Grund eines Gleichheits u r t e i 1 s ist. so ist auch das 
Anzahlphanomen Grund eines entsprechenden Urteils.' Der 
Anzalilcharaktcr — selbst wenn er auch (immer nur fiir ganz 
kleine Zahlen) unmittelbar gegeben ware — wird aber eben 
durch die ausgefiihrten Beziehungen von Mengen tatsacldich 
d e f i n i e r t. Die Zahl i s t eine Mengengattung. sie wird nicht 
erst eincr solchen als eine konkrctc Erf ttllung s u b s t i t u i e r t 
(sowie die Raumlichkeit einem formalen Beziehuugsgeftige). 
Mit diesen hesonderen Gattungen von ilengen oder 
Mehrbeiten liaben wir aber erst unter sich verschiedene Au- 
zahlen. erst Anzablen. die im Verhaltnis zueinander groBer 
oder kleiner sind. die toilweise ineinander euthalteu sind. Es 
Die Orundfonnen der wis.seiiscliaftliehen Methodeii. 81 
sind aber noch lange niclit die Zahlen (z. B. 12), die innerhalb 
der Zahlenreihe zuehiander (z. B. zu 11 und 13) in bestimmten 
fed ton Yerhaltnissen (der Aufeinanderfolge) atehen. DieZahlen 
in der Anordnung zur Zahlenreihe involvieren noch em anderes 
Moment: das der Ordnuiig. 
Eine Orduung besteht darin. da 15 die (jlieder derselben 
in eiuer gauz liescmders gearteten Beziehung. zueiiumder 
stuhen. Die Eigenschaften, welehe cine Beziehung Jiaben muB. 
uni eine Ordnung zn begriinden. bezeichnet Russell als 
1. ,asymmetrisch\ 2. .transitiv'. 3. .verkniipft' (.connected')" 
(.p. 31—34). 
Es gibt verschiedene Anordnuugen der naturlicheu 
Zahlen, je naeh den verschiedeaen Beziehungen, welclie zwi- 
schen ihuen bestehen {■/.. B. nach (ievade oder Ungerade). In 
der Zahlenreihe sind sie naeh der Gvofie angeordnet. Die 
Beziehung .kleiner (groBer) als' debniert Russell mit Hilfe der 
Beziehung der .nimiittelbaren Nacbfolgesehaft' zwischen zwei 
Zalilen 3 " (p. 35): Eine Zahl ist kleiner als eine andere, wenn 
diese jede .sich iibentragende 1 Eigenschaft der auf die erstere 
uaehstfolgeuden Zalil hat. Diese Eigenschal't, welehe vor 
;illem den nnturlichen Zalilen zukonnnt und sie von anderen 
Zahlenarten (z. B. den unendlichen. .transfmiterT Ka.rdinal- 
zahlen) unterscheidet, die .hereditiire". speziell die .induktive' 
Eigenschaft best eh t darin. dafl. wenn eine Eigenschaft einer 
Zalil zukoinmt, sie auch der nachstfolgenden Zalil zukomnit. 
Die Beziehung der .Xaehfolgeschaff zwischen zwei Zahlen 
wird aber wieder definiei't durch eine bestimmte Beziehung 
zwischen den Gegenstanden. welclie diese Zahlen als Mengen- 
gattungeu enthalten. Wenn von zwei Mengengattungen die 
eine die andere in sich en thai t und auBcrdem nur noch ein 
tdierschussiges Element, dann steht sie zu der anderen in 
der Beziehung. die .nachstfolgendc zu sein :;r ' (p. 23). Russell 
fiihrt somit die Beziehung der Xaehfolgeschaft auf jeues Ver- 
haltnis der Meugengattungen zuruek. daB der Untersehied 
ywischen iliren tTegeustanden nur ein Element betriigt. 
Da (3 man diese Beziehung des Untersehiedes urn eins als ord- 
nungshildende im obigen Shine beniitzt. um dadurch die natur- 
lichen Zahlen zu ordnen, darauf beruht also in letzter Linie 
die Zahlenreihe. Diese stellt damit selbst eine geordnete Xor- 
Sitzungsber. d. ftul -List. Kl. 203. Bd. 3. ALU. 
82 V. Kmft. 
in a 1 in e nge (-Klassej dar and das Abza U I e n hesteht daviu. 
dafi man die Glieder (Gegenstiindej einer beliebigen anderen 
ilenge den Gliedem dieser Xormalmenge. soweil. man elu'ii 
komnit. umkehrbar eindeutig zuorduet. 
Wie dcr Begriff der Z-ahl, so werden auch die arithineti- 
scben Grundbeziehungen. anf denen <lie Begrifi'e der Summc 
und des Yielfachen bcrulien. von Russell auf allgemeine logi- 
sche Grundbeziehungen zuiiickgefiilirt. Die Sumrae and das 
Yielfaohe bezeichnen Yerehiigungcn von Mengenga.ttung'en zn 
einer neuen, and die Verehiigung von ileugengattungcn ist 
nur ein Spczialfall der Zusamment'ussung' von Klassen (Gattun- 
gen) zu einor neuen Iiberhaunt: der .logiscben Addition 1 nnd 
Alultiplikation' (dagegen Riekert ""j. Die Axiomc der Arith- 
metik stellen dainit nieht inehr etwns urspviingliebes, Letztes. 
Unableitbares dar: sie lessen sirh selbst logisch ableiten aus 
den. allgemeinen Bcg'riffen nnd GmndsMzen der Logik. Sie 
sind g-ar nicht mehr Axiome im eigentlichen Sinne. 
Mit denselben rein log'i^clicn ilittdn lufcH sieh dann audi 
die Geometric, ids formal) siertc. aufbauen. Ich habe solum 
i'ruher (S. 3R. 39) nusgefiiln't. daB das System dcr raumliclien 
Bezieliungen. dcr geometrisehe Rainn. seiner forma len 
Stniktur naeh bloB ein Gefiige geordneter Bezieliungen zwisehen 
beliebigen Gliedern darstellt. Es liiBt sich aus der allgemeinen 
Klassen- nnd Beziehiingsk'bre durch die Beziehungsfonu der 
R e i h e. und zwar der stetigen Reihe hoherer Stufe (Ueihen von 
Reihen) entwickeln. Es miisseu auch bier keine anderen. neuen 
Elemente und Bezieliungen cingef'iilirt werden. Die Uir den Auf- 
bau einer t'ormalisiertcn Geometric crforderliclien lasseu sich 
mit den gnnz allgemeinen. nichtspezifiseben BegriiTen bestim- 
meii: die Elemente als Klassen ubcrhaupt und die Bezieliungen 
als formal bestinimte Relationen. also z. B. .zwisehen' als eine 
.syminetrisL-be'. .irausitive' Relation. Die Geome>trie bildet da- 
mit blofi cinen Tcil einer allgemeinen Relations- 
theorie so wie die Aritbmetik. Ein sokbes System darf man 
deshalb als .reine Geometrie - bezeichnen, weil es alles m a t b e- 
matisch AYesendiche einor jeden Geometric enlhalt. alles. 
was auch an einer Geometrip des anschaubaren Raumes. einer 
.Ausdehmmgsleiiro" niathematiseli allein in Betraeht koinmt. 
Fiir ein solcbes veliitionstbeoretisches Teilsvstem bedeuten 
Die (inindtuniKMi <f or w U*t'ii.-.<-liii ftliclicn Motliotlou. 83 
aber die gcometrisehen Axiome koine eigcwtlichen Axiome 
nit'hr. sondern sie fiihren nur spe/. ielle Bed i n gu ngen 
fur die Deduktinn innerhalb ernes grnfieren Systems defini- 
torisch oiii. Daft es diese spezielleu Bedingungen. d. li. diese 
t'ormalen Avten run Beziehungen uberhaupt gibt — ideell gibt 
naturlicb. d. h. dal.i sie denkbar sind — -, das wird durch den 
Beweis Hirer Widerspruehslosigkeit innerhalb des allgemeinen 
Systems einer Relalionsitheorie enviesen. 
Was lasher in der Arithmetik und in der Geometric 
Grundbegrif'fe und Grundsatze war. das 1st damit uuf die der 
Lug'ik zuruckgesehoben. Die gauze Mathematik liat sich in 
dieser Wei.se zu einer allgemeinsten Beziehungslehre erwei- 
tert oder in sie cingeriigt. Ihre bishcrigcn Axiome werden aus 
dcnen der Logik abgeleitet. sind also bewiesene Satze. Sie 
liaben dalier dieselhe Ait der Geltung wie die Axiome der 
Logik: cine absolute. (Die Axiome der Logik sind ja fiir den 
Gharakter der Xonugemaftheit. der das Wesen der GeLtimg 
ausmacht. konstitutiv — was bier nur vorausgesetzt werden 
kann.) Die .Mathematik gibt in die^em Sinne nur die spezielle 
Ausfuhrung von Debie^ten einer allgemeinen Relationstheorie: 
Es gibt — ideell. >\. h. es lassen sich denketi — Individual 
und Klassen und Kelationen: durcli die Beziehuug der um- 
kchrbar eindeutigeu Zuordnung. die sich zwischen den Indi- 
vidual von Klassen gedanklich her st ell en la'ftt. lassen sich 
bestimmte Klassen von Klassen bilden — die Kardinalzahlen: 
die Kelationen lassen sich denken als .symmetriseh' oder 
.asyiumetriseh". als .trausitiv oder .iutransitiv 1 : und bei einer 
gewUsen asymmetrisehen transitiveu Relation zwischen jenen 
Klassen von Klassen ergibt sich die Zahlenveihe usw. Diese 
Relatiouseiiisichten gelten alio mit derselben Sicherhei<t wie 
die Logik. 
AI»er dam it hat die Arithtnetik nur die endlichen gauzen 
Zahleu zur Yert'uginig. W'enn sie uueudliche Ueiheu von sol- 
cheu und von Briichen und unendliche gauze Zaldeu und uu- 
eudliche Mcngeu behandeln will, so erfordert das erst noch 
die Annahme. dafi r> unendlicli viele lndividueu gibt :;r ' (Gh. DiJ. 
Denn Russell lia.T den Begrift' der (speziellen) Zald knustituicrt 
als den einer ('attuug von gleichznhligen .Mengeu und er hat 
daraus die Zaldeiireihe konstiuiiert durch Ordiuuig dieser 
6* 
84 V. Kraft. 
Mengengattungen nach dem Unterschied um ein Element. Das 
setzt aber voraus, daB Menken you Gegens-tauden schon 
irgendwie gegeben sind. denn um die Zahlen mid die Zahlen- 
reihe zu gewinnen, werden diese Menken nur mehr vergli- 
chen mid ilire Gattungen g'eordnet. 
Aber um die unendliche Zahlenreihe, um die Arith- 
metik in ihrer Gauze zu hegrunden, braucht doeh auch 
Kussell zwei neue Axiome: das .Axiom der Unendlichkeif — 
daft es unendlich viele Zahlen g'ibt — und das der ,Auswahl\ 
Diese gelten nicht unbedingt. niclit miit der Logik iiberhaupt. 
sondern nur in unserer Welt. Sie stellen daber Postulate dar. 
Viele Siitze der Arithmetik gelten deshalb nur in der Form: 
Wenn es unendlich viele Zahlen g'ibt, dann gilt . . . Weil 
aber die Arithmetik in ihrer Gauze nicht olme die unendliche 
Zahlenreihe aufgebaut werden kann, darf man wohl sagen: 
Die Arithmetik als v oils tit ndiges System, und damit die 
Mathematik iiberhaupt, gilt auch als bloBes relationstheoreti- 
sches Gebiet nicht unbedingt, sondern nur bedingt. bei be- 
stimmten Voraussetzungen; sie stellt ein hy p o t h e t is ch- 
deduktives System dar. Denn ihre Satze lassen sich nur zu 
einem Teil absolut gultig aussprechen, zum gvoBfiren Teil 
aber nur auf Gnind von Voraussetzungen entwickeln. 
Damit ist audi bereits die Geltungsart der Arithmetik 
fes-tgestellt, wenn man die llathematik nicht als formalisierte. 
sondern mit material bestimmten Begrif't'en ins Auge fa fit. 
Denn in der Kussellschen Ableitung werden ja schon die 
Zahlen selbat konstituiert und nicht blofi symbolische Sche- 
mata eingefiihrt wie bei Peano und Hilbert. Die Zahlen und 
die Grundbeziehungen werden ja hiermit explizit deliniert. 
Es ist daher damit schon die material bestimmte Arithmetik 
begriindet. Und sie gilt eben als hypothetiseh-deduktives 
System. 
Das ist ganz unzweifelhaft auch fur die Geometrie 
als eine Lehre von den Raumen im eigentlicheii Sinn. Denn 
man kann die geome.trischen GrundbegriiTe (Punkt zwisclien 
. . .) im spezifisch rliumlicben Sinne nicht definieren. .Riue 
Nominaldefinition des euklidischen Punktes, die auf bio So 
Begrif t'e sich griindete. sich nicht auf irgendwelche Wa h r 
nelimungen bezoge, kann es nicht geben. Denn si< s miifitc 
Die Grund forineu der wisseiiseluiftliehen Metlioden. 85 
zusammen mit den tibrigen euklidischen Axiomen den ,l J unkt' 
vollstandig und eindeutig bestimmen. Nun lassen sich doch 
aber samtliche Satze der cuklidisdien Geometric, audi als 
Satze iibcr Inbegrit't'e dreier Zahlen deuten, also gibt cs keine 
Definition des euklidischen Punktes. die nur auf einen Gegen- 
stand oder eine vorgegebene Klasse von Gegenstanden pafite 
(eben den Punkt inheres Gesichtsraumes). was doch die Norni- 
naldeiinition gerade leisten will'" (S. 406). Daher ist zur 
mebr als formalen Bestimmnng der geometrischen Grund- 
begrif'fe noch eine Beziehung auf Wahrnehmung erforderlich 
und in diesem neuen Sinne konnen sie nur in der Form von 
Postulaten. als willktlrliche Setzungen eingefiihrt werden. In 
derartigen Axiomen werden nicht ubsolut sichere Grundwahr- 
beiten aufgeziihlt. welehe die Geltnng des ganzen Folgerungs- 
gebaudes zu verbiirgeu imstande sind; sondern in i linen wer- 
den offenkundig einfach die Voraussetzungen ausgesprochen, 
welehe logiseh erforderlicii sind. urn die Lehrsatze logisch ab- 
lciten zu konnen. Es sind nicht Axiome im alt en Sinne von 
absolut giiltigen, selbst evidenten Wahrheiten, sondern Postu- 
late, freie Festsetzungen. Annahmen (aber nicht in bezug auf 
die Wirklichkeit. sondern auf ideelle Tnhalte). Erst in der 
auf den wirklichen Rjium angewandten Geometrie kommt die 
Geltung eines Axiomensystems in Betraeht, aber auch bier 
wioder nicht als solche von unmittelbar selbstgewissen Fun- 
da njentalsatzen. sondern als eino riickwirkend begriindete 
(■Jeltung. durch die Dbercinstinunung der Folgesatze mit der 
Erfahruug. 
Wenn ich nun die Ergebnisse der Erorterungen zusam- 
menfasse. so stellen die mathematischen Disziplinen einen 
Wissensehaftstypus. eine Art wissenschaftliehen Erkennens 
vor \m< bin. welehe folgendermaBen charaktersiert ist: Eine 
Wis^ensrhaft, deren Objekte nicht als reale in Betraebt 
komiucu. sondern blnft als ideelle. nls rein gedankliche Setzun- 
gen und deshalb audi geradezu ideale Objekte sein konnen; 
diese Wissenschaft entwickelt als ein System von rein logi- 
sdien Folgerungen aus einer Anzahl von klar aufgewiesenen 
Ansgangssatzen (Axiomen. Definilionen). welehe die notwen- 
dige und hinreicboude logische Bedingung fiir die Folgesatze 
bilden. Infolgedesnen gelten die Lehrsatze lediglidi auf Grund 
Ob V. K r ;i ft. 
cier Logik. Die Ausgnngssatze haben jc nach ilircni .Sinn ent- 
weder die (ieltung von Delinitioncn, also uberhaupt keine abso- 
lute (Kiltigkeit. odor die (Joining von auf (Jrund dev allge- 
meineii Logik ableitbaren Siitzen. Uaher ist eino solehc YY'is- 
senschaft fiir sich alleiu. soferue sie nicht auf die Erfahrungs- 
wirklichkeit angewandt wird. in ihrer (Jeltuug von dev Er- 
fa lining' unabhangig. Im g-anzen stellt sie ein hypotlietiseh- 
deduktives System dar. 
Man ba-t da mm diese Art von Wissenschaft, wie sie die 
Mathematik darstellt, den Wissenschaften von realen Objek- 
ten, den Realwissenschaften. die sicb auf die Erfahrung griin- 
den. als apriorische Idealwissenschaft gegeniibergestellt — so 
als eine bereits konventionelle Einteilung in Eislers Hand- 
worterbuch der Philosophic (2. Autl., herausgegeben von 
Mulier-Freienfels. 1922. S. 702); ;tuch Stumpf grcnzt in seiner 
Einteilung- der Wissenschaften-" 3 die Mathematik gerade durch 
die Versehiedenheit ihrer Methode gegen alle iibrigen Wissen- 
schaften ah. Es soli aber nun im folgenden gezeigt werden. 
dalS dieser Wissensehaftstypus der Mathematik nicht so iso- 
liert dasteht und daft ilmi die Kcahvissenschafkm nicht 
wesensi'remd und gegensiltzlich gegenuberstehcn. 
IT. Dio wissenselml'tst-heoretische. Eijreuart 
dor Meclianik. 
Es fiillt gegenwatig nicht leieht. die Meclianik zuni 
(iegonstand einer konkreten erkenntnistheovetischen Analyse 
zu niachen. iveil die klassisehe Meehanik Xewtons und seiner 
Nachfolger durch die allgemeine Relativitatstheorie eine voll- 
standige theorerisehe Emgestaltung erfahrt. leh sollte daher 
entweder beide oder doch eher die letztere dev Analyse zu- 
grunde legen. Mit Rficksicht auf die Kompliziertheit der Kela- 
livitatstheorie wird man es aber begreitiich und erlaubt fin- 
deu. dafi ieh im folgenden die viel einfaeheren und elemen- 
tareren Grundlagen der klassischcn Meehanik zuni Ausgangs 
punkt nehme und an ibuen den prinzipiellen erkenntnis- 
theoretisciien Oharakter der Meehanik aufweise: sonst miHHe 
ieh entweder eine weitaus umstandliehere und selnvierigeve 
Oaiicgung der Kelaiivitiitstheorie vorausschicken oder statt 
\)'w < inuuijoruirn iUt \\" ir-^i^tL-t U.i li I it-li* 1 h Mcthodvn. S7 
deren sit. 1 einhich v o raussotzon. was man lieute gewil.l 
nodi nielii allgemeiu tun darf und wad der Klarheit sehr ab- 
tniglich wiirc. Was sich aber an der klassisdien Medianik als 
ilirc allgemeine erkenntnisitheoretisdie Eigenart erg'ibt. das 
gilt nielit minder audi fur die rd;ttivita)siheoretLsdie iiccha- 
nik. ,ja os tritt in dieter nur nodi viel au--gepragter hervnr. 
Penn die Umgestaltung bi'trilTl jn nur den Inhalt. nielit die 
Erkenutnisn eise. 
1. Die Hechanlk als indiiktire und als deduktive 
Wisscnsckaf't. 
Die Mechanik nimnit einc sulci ie Cbergangsstellung zwi- 
schen llathematik und empiviseher Reutwissenschaft ein. daB 
sic ilirem wissensdiaftslheoretisclien Chavakter nacli sowohl 
mit, der eiuen wie mit der anderen g-leidiartig gehalteu wovdeu 
ist. .Die Englnnder lehren die Meehanik wie eine Experimcm- 
lahvissensdiaft: aui' dem Kontinent stellt man sie stets als 
due. mehr uder weuiger deduktive Wissensdiatit und als eilie 
Wissensdiaft a priori dar. also al.s etwas wie die Mathema- 
iik' n (.S. !)1). Und es ist, niobt am Ende eine Sadie der blofien 
D a rs t o I [ urig : systematisdi-JeJukhV oder iiidiiktiV gtiio- 
ralisiereud. ob die Media ink die^s oder jeties (iesieht go- 
winut sondeni es bedeutet eineu priuzipiellen Unterschied in 
der inneren Struktur. im Geltung-^aur'liau dicser Wi.ssenschafL 
Die .Meehanik laBt sich in eiuru- ganz gleiclmrtigen Weise 
aufbauen wie die Mathematik. Sdt Xewton, eigentlich schon 
seit Descartas. gdit sie aus von nxiomatiseben onmdsiitzen 
i Dcnnitinnen und Bewegungsgesetzen) und entwiekoU ilire 
LehrsJitze daraus in logisdien SddnBfolgerungen mil Hilfe der 
analytisehcn Geometric. So erklavi z. B. Hertz'' 4 (S. 0. ebenso 
S, 1(52): Jn der Tat sind die aut'gezahlten BegTii'te und Sar;:e 
nidit nur notwendig. sondeni auch hinreidiend, urn den ge- 
samten Jnlnilt der Medianik aus ihnen mit Denknotwendig- 
keit zu entwickeln und alle iibrigen sogenanntcn l J rinzipien 
als Lehrsittze und Folgerungen aus besonderen Voruussctzun- 
gen erseheinen zu Iassen." Die Medianik geht so nicht von 
eiupirisehen Tatsadien aits und enveist aus diesen Gesetze; 
sie geht nidit induktiv vor. sondern deduktiv. So wie die 
Mutliemalik liat sie in ihren Gruiidbeu'riffen: Raum. Zeit. lie- 
SS V. K r a. It. 
wegung (unci damit audi Geschwindigkeit unci Beschlcunb 
gung), Masse und Kraft (oder Energic). dip El em en te klar 
auf'gewiesen und in den geumetrischen Beziehungen und clcn 
Beweguugsgesetzen die Beziehungen zwischen diesen, die 
Verkniipfungsgesetze. fovmulieit und ist dadurch imstande. 
alie ih re Lehrsatze als strenge Folgerungen daraus 211 ent- 
wickeln. Die Mechanik stellt damit genau so ein deduktives 
System dar wie die Mathematik. Aber ebeiwo audi ein 
i d e e 1 1 e s. h y p t h e t i s e h - deduktives System? Da 
scheint der fundamentale Unterschied zu Hegen. Man wird 
sagen: das deduktive System ist uur eine Form der Darstel- 
Inng. nur diese ist die gleiche, dabei aber dock der Inhalt ganz 
verschieden: bei der Mathematik ein ideeller, bei der Media- 
nik ein realer. Es sind eigentlich rein induktive Ergehnisse. 
die nur systematisch und darum deduktiv dargestellt werden. 
Denn die Meciianik ersclieint andererseits dock immer 
als ein Zweig der Physik, als eine Wissenschaft von der 
W i rkl i e h kei t. und ihre Grundbegrift'e und -beziehungen. 
ihre Axionie. werden demgemafi als Ausdruck realer Verhlilt- 
nisse betraeh'tet. Infolgedessen hat man aber die Ausgangs- 
slitze der Mechanik vielfach, ja zumeist als induktive E r- 
fah ru ngs e rgebn i sse angesehen. So ausdriicklich Xew- 
ton und Ampere (Vgl. :,s 10. Kap., §i; 4. 5). Demgemaft crklart 
YVundt (Loglk, IF. S. 408): Xewtons I'rinzipien 1-eiteu .aus alb 
gemeinen, durch lnduktion gefundenen Erfahrungssatzen' die 
mechanisdien Erscheinungen ab: ebenso (S. 410 — 412) in be- 
zug auf Lagranges Mechanik. Holder"" (S. 21): Die Mechanik 
braucht fiir ihre Deduktionen Voraussetzungen. .von dene 11 
wohl allgemein angenommen wird. dafi sic der Erfabrung ent- 
stuiumen . . .' Und Streinz : '\ Das ist vor allem audi tier Stand- 
punkt Machs. denich weiter untendarlegen werde. Klarspridit 
diese Auffassung audi Hertz aus. Er un.terscheidet scharf 
eitien Tell der Mechanik. die Kiuematik. der wie die reine 
Mathematik behandelt wird und unabhangig von der Erfah- 
rung ist, und ,die Mechanik der niateriellen Systeme'. welche 
.fiir Gegenstande der aufieren Erfalmtng" gilt und sich darum 
audi auf die Erfahrung stilt zt. .Den Anted der letzteren aber. 
so weit er nieht schon in den GrundbegritTen enthalten ist. 
werden wir zusammeufassnn in eine einzige allgemeine Aus- 
Mir (I'niiulfuriiieii Jit wiKM'iinclniflliclieu MetlioiK-rt. ol' 
sage, welehe wir aid Grundgesetz voranstellen. Eine spiitere 
noebmalige Bemfung auf die Erf alining iindet dann nieht 
mehr statt 1 :>,t (S. 157). Uud deni entsprediend liiBt er der 
Formulierung seines .Grundgesetzes' cinen ausdriicklichen Ah- 
scbnitt iiber -die Berechtigung" des Grundgesetzes' folgeir' 1 
(^. 1631'.), hi dem er dieses als ,da-s wahrseheinliche Ergebnis 
allgemeinster Erfahrung' in bezug auf die materiellen System e 
der Natur zu begxiindeu sucht und es in einem darauffolgen- 
deu Abschnitit aiber die Zerlegung des Grundgeset.zes ; auf 
zw-ei Aussagen iibor Erfahrungstatsachen von grofier Allge- 
meinheit zuruckfiihrt (S. 107). 
Wenn aber die Dcduktionsgruudlagen der Meeiianik Er- 
fahrungssJttze tiber Yerhaltnisse der Wirklichkeit sein sollen, 
'bum mii Jit e die Meeiianik einen ganz anderen Aufbau habeu. 
als sie ibn seit Newton tatsachlich hat. Der deduktiven 
Eiitwicklung der mechanisehen Satze miiBte zunachst einmal 
eine induktive Feststellung ihrer Ausgangssatze voran- 
gehen. Man kann ja die Grundsiitze der Mechanik nieht als 
Axiome im Sinne von ietzteu einfachen Grundtatsacheit' hin- 
stellen. als Aussagen tiber die Wirklichkeit. die an und fiir 
sich gewifi sind. Man mtiftte vielmehr auf Grund von Erfah- 
mngstatsaclien oder Experimenten die GesetzmiiBigkeiten, die 
sie aussprechen, entwickeln. 
Macli hat audi in seiner Geschichto der Meeiianik einen 
ausfiihrliehen und konkreten Nadrweis fiir den empirisehen 
Oharakiter der Grundsiitze der Mechanik unternomnien. Sie 
ist fiir i tin der Weg. uni den Ursprung und dam it in seinern 
Shine den Geltung'sgrund der meclianisclien Grundsiitze aufzu- 
kliiren. Er sucht im einzelnen zu zeigen, wie die Fundamental- 
sit tze der Mechanik auf elementaren E r fa h ru ng en fnjien: 
So gleioh fiir das Hebelgesetz — das ja noeh Lagrange 
ausdriicklich als ernes der drei Grundprinzipien der Statik an- 
t'tihrt. 
Die Voraussotzung des Archimedes, dafi gleiehschwere 
Grolien in gleicher Entfernung vom Unterstiitzungspunkt im 
Gleichgcwicht sind. fufit auf einer .Mcnge negativer und posi- 
tiver Ph'fahrungen', vor nllem. ,dafi nieht nur die Gewichte. 
sondem aueh die Entfermmgen vom Sitiitzpnnkt fiir die Gleich- 
gewichtsstorung- maBgebend. d:ifi sie bewegungsbestimmende 
90 v. k r iif t. 
I'mstande shid' ''** (I. Kap.. 1.. S. ]-2). Einc andere .wiehtige. 
wenn aueh unseheinbare Erfahrung' ist die, .daB an einer einen 
l'linkt ergreifeuden Kraft Orofie mid Kiclitung maBgebend 
ist' (S. 4(1). Aber .wenn wir sehon dio bloBc Abhangigkeit d<>* 
(.Heiehgewiehtes voni (iewicht mid Abstnnd iiberhaupt nieht 
aus mis h e ra u s p h i 1 u s o p h i e von kounten. sondeni aus 
der Erfa lining* holen muBteu. nni wio viel weuigev werden 
wir dio Form dieser Abhangigkeit. die Pvopoviionalkat jvom 
Gewicht zimi Abstain!] auf sp e kula t i vent \Vege finden 
kouueir (S. Hi), Mitch zeigt (t>. Hi— 11)). wie Arehimedes und 
seine Naohfolger bis Lagrange bei ibren Beweisen [fir das 
Hebelgesetz das Wesentlirbe desselben — namlieh .daB dio 
(gleichgewichtsstorcnde) Wirkung einos <Jewieiii.es P im Ab- 
stand L von der Achse dureh das Produkt I'.L (das soge- 
naiinte 'Statisehe Moment) gemessen soi* (M. 10) — burner 
sehon stillsehweigend v o rauss e t z o n. Man komni't .wenig- 
stens auf dieser Stufe nictit zum Verstiindiiis des Hebels. wenn 
man nielit das Produkt P.L als das bei der Gleichgewicbts- 
stonuig MaBgehende in den Yovgangen ersrfia'tf' (^. 21 ). 
Das fiiv da,s Gleichgewicht. am Hebel Bestimmende. das Hebel- 
gesetz. kaiui also nieht durch bloBe Cberlegung goi'nnden 
werden. sondern mnB aus der Erf ah rung geholt. in deu 
realen ompirischtn Yorgangen entdeekt werden. Ebenso steht 
es urn das Closet z des Krafteparallelogrammes: .Sobald man 
direkt oder indirekt zu deni Prinzip des Ivrai'leparallnlogram- 
mes gofiihrt worden ist und dasselbe ersohaut bat. ist dam- 
sel be ebensogut t-ine B e o ba cli t u ng als jede andere' (S. 50). 
Und d;is bildet aucli den r-eitungsgrund. Xur aus Miftlvauen 
wegen eines Irrtums sueht man naeh einom Beweis fiir eine 
ueue Kegel, .deren Giiltigkeit man bemei'kt zu imben glaubf 
(S. 80). .Der Beweis der Kiehtigkeit einer neuon Kegel kann 
dadureh erbraelit werden. daB diese Kegel oft angcwandi. mit 
der Erfahrung vergliehcn und unter den versehiedonsteu TTni- 
standen erprobt wird. Diese r ProzeB vollzieht sich im Laufe 
der Zcit von selbst. Dor Entdeeker wunscht aber rascher 
zum Zielo zu kommen, Er vergieicht das Ergebnis seiner Kegel 
mit. alien ihm geliuiligen Evfahrungeu. mit alien iilteren. bereits 
vielfach erprobten Kegeln und sieht naeh. ob cr auf koinen 
Widerspruch stoBr (S. 80). AVenn aber die Kegel naeli Vcr- 
Die i ■ i 'iinli\i:"!i!t.'ii ikr \vi>.-r:i-tli;i 1 1 lie lien Mi'llnnU'ii. •) 1 
lauf finer entsprechenden Zeit geniigend oft direkt crprobl 
wordcn 1st. geziemt es der Wisscnsehaft zu erkenncn, dafi ein 
n i) d e r e r B e w e i s g ;i n z u n not i g g o w o r den i s t, da 13 
es kcinen Sum hat. eiue Kegel fur mehr gesichcrt zu halteu. 
indeni man sic auf andere stiitzt. welche (mir ctwas fruher) 
auf ganz demselben Wegc der Beobachtung gewonnen worden 
ist. dad cine besonnene und erprobte Beobachtung so gut ist 
als cine andere" (S. Sli. .Wir kdnneu heute das Hebelpnir/a'p. 
die statischcn Momente. das Prinzip der schiefen Ebene, das 
Prinzip dev virtuellen Yerschiebungen. das Krafteparallelo- 
irranuu a Is rlu r eh g 1 e i c li "vv e r t i g e 13 e o 1) a e h t u n g g e- 
fdiulcn auseheu' (.S. #2). Xacli Mach werden also die media- 
niscben Oesetze intuit iv, ja .instiuktiv' (S. 2'.i. 81) gefundeu 
und dann (lurch vielfaclie Erfniirung erprobt. 
Und dem entsprechend. benriiht sich Maeh durchgangig 
und aiwfuhrlich zu zeigen. dafi die Mechanik itire firuml- 
gesetze auf dem YVege der Erfahrung gewonnen hat, wie fur 
das Hcbelgesetz so ftir das der schiefen Ebene und das des 
Krafteparallelogrammes und das der virtuellen Versehicbun- 
geu usw. Deshalb liegt v<> r dem deduktiven System der Media - 
uik historiseh ein breites Feid von Einpirie und dieses breite 
Fundament von Erfahrungen darf man nicht aehtlos bciseke 
lassen oder stillsehweigend zugrnnde legen. sondern man 
mil 13 to es klar aufweisen. wenn die Gruudsatze der Mechanik 
daraufliin aU indnktive ErfahrmigssiUze liber Yerhiiltnisse der 
Wirklichkeit gelten sollen. 
3. Die FandaincntnlsHtze der Mechanik — keine 
Erfahrungsslitze. 
Sind die Deduktionsgrundhigeu der Mechanik aljer wirk- 
lich E r f a h r ung s s a t z e . ; Sind da.s. was sie aussprechen. 
durch Erfahrung gegebene — odor wic Maeii noch bestimmler' 
sagt: durch Beobachtung gegebene — Beziehungcu von Tat- 
lichen V 
Dazu mu 13 vorerst ausgesprodien werden. wann etwas 
als .Erfahrungssatz/. anzusehen ist. Formal kann man als Er- 
falirungs^itz eine Aussage delinieren. die lediglieh auf Gnind 
von Erfahriuiir snlt. Aber was ist. ebpu .Erfahvuni!'?!' 
'■)2 V. Krall. 
Was a Is Erkeiintnis auf Ed'alming bandit, durch Erfu li- 
ning gegeben wird. das ist zunachst einmal die Feststellung 
von k o 11 k r e t e n E i n z e 1 1 a t s a c h e n d u r c li W a h r- 
n e hm ling- (im natiirrichen Verlaul' oder im Experiment). Das 
ist ferner die Feststelluug von Beziehuiigen zwischen sol- 
chen koiikre.ten Einzeltatsachen. die durch mehrfache 
Wahrnehmungcn oder durch Beobachtungs r e i h en mit Hilt'e 
von Gedachtnis mid Aufzeielmungen gegeben werden. Bezie- 
bung-en wie die der regelmiiGigcn Aufeinanderfolge. des wie- 
derholten Zusammeuvorkommens. von statistiseheti Gleich- 
fiirmigkeiten usw. Und es ist schlicBUch im weiteren Siime 
aueh die Feststellung von Tatsaehen durch Schliisse aus 
solchen durch unmittelbare Wahrnehmung gegebenen Tat- 
saclien anf Grund der Naturgesetze, z. B. der Ursacheu aus 
lien Wirkimgen. Erkenntuistheoretiseh stellen diese Tatsachen- 
reststellungeu freilich durchaus keinen einheitliclieu elemen- 
taren Geltungsgrund dar. sondern eineu komplexen Geltungs- 
tatbestand; es wirken da mehrerc Geltungsinstanzen zusam- 
men. Schon dem einzelneii Wahrnehmungs- (kantisch: Erfah- 
nings-)Ui"teil licgen ,ja gewtsse allgemeine r.kategoriale') Inter- 
preitationsprinzipien des rein Gegebenen xugrunde. Und solche 
erfahrungsgegebenen Tatsachenbezieliungen i'uBen auf Voraus- 
setzungeii mid sind vielfach schon das Ergebnis einev logischeu 
Verarbeitung der unmittelbareu YVnhmehmungsdaten. Hier 
sind jedoeh die Eriahrungssiitze in ihrer erkenntnistheoreti- 
>cheit Eigenart hinreichend gekenuzeichnet, wemi man allge- 
inein sagt: Erfahruugssatze im eigcntliclieu Shine sind Aus- 
sagen iiber Tatsaehen, deren Geltung. abgesehen von den Er- 
keniitnisprinzipien und den iogischen Gcsetzeu, lediglich und 
vollstiindig durch Wahrnehmung begriindet i^t. 
Da nn handelt es sicli daritm. in welchen Siitzen die 
Deduktiousgrundlagen der Mechauik zu schen sind. Das 
'System der Jlechanik ist auf vcrscliiedene Weise entwickelt 
wnrdeu: die ileehanik hat — so sehr sie anch ihrem Inhalte 
nach selt Lagrange fest geblieben ist — ■ gcrade in ilirem axio- 
matisehen Aufbau Wandlungeu erfahren. 1'Jas erste mechani- 
sche System war das Newtons. der ihm vier .defmitiones' und 
drei .axiomata sive leges motus' zugninde legte. Das zweite 
epochale System, war das Lagranges. das zum .klassischeir 
D ! e Grnnttforiium dor wissenscliaftliclien Mellioclen. "3 
System der Mechanik ward und in der ersten Halfte des 
19. Jahrhunderts ziemlich allgemeine Geltung erlangle. Ihm 
gegeniibor ist im ietzten Drittel des 19. Jahrhunderts von 
Hertz und von Boltzmann das System der Mechanik aid none 
Weise entwickelt worden: das letzte, netieste System ist, heme 
die Relativitivtstheorie. 
Was in den Fundamentalsatzen der Mechanik ausge- 
sprochen wird.'"' 7 ist: wovon die Bewegung in ihrer Bestimmit- 
lieit, abhangt und wie sie besthnmt wird. Es sind die Faktoren 
der allgemeinen Gesetzmaftigkeit der Bewegung und ihre Be- 
ziehung, wie sie im Gmndgesetz der Bewegung (f = mb) 
mathematisch quantitativ genau ausgesprochen ist. Dieses be- 
sagt. dafi die Anderung der Geschwindigkeit (oder der Rich- 
lung) einer Bewegung der Kraft direkt und der Masse des be- 
wegten Korpers verkehrt proportional ist. Dieses Grundgesetz 
kann aber mm keineswegs als ein reines E r g e b n i s d e r E r- 
fahrung. als eine nackte Erfahrungstatsaehe, wie Mach sagt, 
gelten ■ — das hat Poincare 37 (S. 99 — 107) uhersiehtlich dar- 
gelegt. 
Um es empirisch nachzuweisen. nmfi man die drei Grflfien 
(Beschleunigung. Kraft, Masse) messen konnen. Das ist aber 
nur moglich, wenn man dazu bestimmte Vor a u s s etzu n- 
gen macht; so hinsichtlieh der Kraft Voraussetzungen. 
welche es ermoglichen. die G 1 e i c h h e i t von Kniften zu deft- 
nieren: niimlich 1. das Prinzip der Gleichbeit von Wirkung 
und Gegenwirkung und 2. die Konstanz gewisser Kriifte 
(wie z. B. des Gewichtes eines Korpers) nach GroBc und Rich- 
tung. Das sind sclbst aber keine experimentell oder empirisch 
erweisbareu Gesetze. sondern Definitionen. Ubereinkommen. 
willkiirliche Annahmen. 
Ebenso ist Masse zu messen erst moglich, wenn man 
bestimmte Voraussetzungen macht. Betrachtet man das Ver- 
haltnis zweier Mass en als das umgekehnte Vcrhaltnis der 
B e s c h 1 e u n i g u n g e n. welche sich zwei Korper gegenseltig 
erteilen. so ist es nur dann moglich, durch das Experiment zu 
bestatigen. dafi dieses Verbal tills unveranderlich ist, also die 
Masse auf Grund von Erfahrung festzustellen (was Mach 
als .seinen zwei ten .Erfahrungssatz' der Mechanik zugrunde 
legt r " ; |S. 2()8I). wenn man das Prinzip des Krafteparalleln- 
94 V. K raft. 
grammes 11 ml die Hypothese ron ZentralkWiften einruhrt. l>enn 
die beiden Korper sind empivisch nicht allcin vorhaiiden. son- 
dern eriahren audi von den. ubrigen Korper n Besehleunigun- 
gen. Uni die gegenseitigen Besebleunigungeu der beiden Kur- 
per allein festzustetlen. muB man ihre tateiichlichen Beschleu- 
nigungen in Komponentcn xerlegen und uii'ter diesen die Kom- 
ponenie Hirer gegensehigen Beschleunigungen von don ande- 
ren unterscheiden. Das set'/.t aher voraus. daB das Vorhaudeii- 
sein anderer Korper die gegeuseitige Beseldeuuigung'serteilung 
zwcier Korper nicht. heeintraehtigt. sondern daB sich die von 
seiten niehrercr Korper einern erteilten Besehleunigung'en ein- 
i'aeh addieren — - und das wieder, daB sich zwei Korper gegen- 
seitig in der Richtimg' ihrer Yerhindung-slinie anziehen (ilachs 
erster .Erfahrung.-^atz';. Das, ist aber die Hypothese von Z'-n- 
tralkrafteu. .Aiier haheu wir das Reeht. die Hypothese von 
Zentralkrat'ten zuzulassen':' Is-t diese Hypothese streng exakt? 
1st es gewiB. daB sie dureh die Krfahrung niemals widerlegt 
wirdV AVer wagt das zu bejahenV' " 7 (S. 104. 105). Ohne der- 
artige Hypothesen bedeuten die Classen aher nur Koet'tizienten 
der Beschleunjgung (S. 100). 
Das (irundgesetz der Bewegung- spricht also nichi ein- 
fach Erfaliriing-statsaeheii aus; es gilt ja nur unter bestinnnteu 
Yorau^setzung'cn, nur wenii man bestimmte Annahmeu niacht. 
Was Maeh (a. a. O.j als Erfahrmigssatze hinstellt: daB sich 
Korper gegenseitig' entgegengesetzte Beschleunigungen in der 
Riclnung ihrer Ycibindungslinie bestiinmen und daB die Be- 
srhleuniguugen. welehe mehrere Korper an einem Korper be- 
stinimen. voneinander nnabhangig sind. — das liiBt sich nie 
direkt in der Erfahrmig beohachten. Demi was mi? in der Kr- 
f aiming wirklich vorliegt. sind komplizierte Bevegungs- 
erschehmngen innerhalb einer vielfaltigen Korpenvelt: e-* 
sind, im Shine der niechamschen Fundanientalsatze, nur iminer 
die R o s u 1 1 i e re n d e n a>is mehrfaehen Bescbleu;iiginige)i 
in nieliii'achen Riclitungeu. DaB diese gegebenen Resiiltie- 
renden sich in KomponenLeu aufloseu lassen. wodurch sieh das 
({ arize auf das emfaehe Verhaknis der gegenseiligen Beschleu- 
iiiguug zweier Korper in der Richtuug ihrer Verhindungslinie 
zuriiekfiiliveii laBt. das isl nicht empirNcl! gegeben. sondrm 
"bio Gnnulfonnen der w isscti^riiiiftliclion Motlioctpn. <'0 
aus doin empirisch Gegebenen erschlossen und 1st mir erschlieB- 
bar. wonn man die aufgewieseuen Voraussetzungen zulaBt. 
Das eigontliche Erl'ahrungs- (induktivo) Ergebnis hi n - 
sichtlieh der ilassenanziehung liegi in den Kcplerschen Ge- 
setzen vor. als Gesetzen iiber Plauelenbahnen. also von dirck- 
ten Objekten der astronomischen Beobachtung. In ihnen sind 
die Beobachtungeti von Tycho-Brahe als Gesetze fornmliert 
— ■ wie sich Duheni" s (S. 200) ausdruckt. Das Xewtonsehe 
Gesetz dor Jlassenanziehung dagegen laBt sich- nicht einfach 
ans diesen abloiten, denu es eiuliiilt melir als indnktiv fest- 
gestellt ist: es zerlegi die GesetzmaBigkeit der Balmen in die 
Faktoren Kraft, unci Masse. -die sich nielit mehr direkt beob- 
achten. sondern nur daraus konstmieren lassen r,s (8. 257 — 2(>0_). 
Der dabei grnndlegende Satz vom Parallel o- 
gramm der Krafte laBt sich keineswegs vollstiindig auf 
Erfahrung zuriiekfuhren. wie Mach will. Xaeh ihm folgt er 
unmittelbar aus clem Satz tiber die gegenseitige Unahhiingig- 
keit der von mchreren Korpem einem Kbrper erteilten Be- 
seiileuiiiguugoir''" (S. 208) und diesen Satz erklart er fur 
eineu Erfahvungssatz (S. 49). Das Prinzip des Krafteparallelo- 
grammes besagt: Zwei Kriifte. welehe an einem Punkt an- 
greifen, lassen sich (lurch eine Kraft crsetzen, welehe in GroBe 
und Richtimg der Diagonale eines Parallelogramnies ent- 
spricht, (lessen .Seiteu in Riddling- und GroBe den beideu 
Krai" ten entsprechen; und umgekehrt lit fit sich eine Kraft, als 
solche Diagonale aufgei'aBt. in zwei Kriifte zerlcgen. Newton 
und Varignon, die zuerst diesen Satz klar ausges]>roclien 
haben, leiten zunachst die Zusanimensetzung zweier Be- 
w eg ung en ab. und zwar auf geometrischem Weg. und er- 
weitern sie dann audi auf die Kriifte. weil diese den von 
ihnen in gleichen Zeiten hervorgebracblen Bewegungen (Be- 
schleunigungen) proportional sind. Dafi dor Satz voni Kriifte- 
parallelogramm aber freilich deswegen doch kein blofi geo- 
me ^ ri s c h e r Sa.tz ist. wie Bernoulli glaubte. zeigt Mach 
liinliinglich. indem er die Erfahnmgen darlogt, weleher dieser 
Satz iiber die blofie Geometrie hinaus voraussetzt: .daft das 
Gleichgewiehts- oder Bewegimg'sbcstimmende einer Kraft 
nicht nur in dereu GroBe. eondern audi in deren Richtimg 
liefft' (S. 45). ferner. daB niehrore auf eineu Piuikt wirkende 
9b" V. Kraft. 
Krafte durch eine ersetzbar sind (S. 49), endlich. .dafi die 
Resultierende nicht nur in die Ebene der Krafte und in die 
Halbierungslinie des Winkels zwischen ihnen, sondern audi 
in den spitzen Winkel nine in fa lit' (S. 40). Diese Erfahrungs- 
argumente bedeuten aber doeh nocli keinrn Eriahrungs- 
be w c i s fur ilm. Ein -soldier ist deshalb a u sge sc h 1 os sen. 
well der Satz aufierdem nodi eine Voraussetzung hat. die 
nicht durch Erfahrung enveisbar isit: .die Unabhangigkeit der 
Krafte voneinander. namlich dafi die Beschleunigungen. 
welche mehrere Korper einem Korper bestimmon. voneinander 
unabhangig sind. llaeh nennt zwar audi dies einen 
(seinen dritten) .Erfahrungssatz (ri. 49), — aus dem er ebeu 
den tiatz des Krafteparallelogrammes uumittelbar folgerl. 
Aber liefie sich denn je die gegenseitige I'nabhangigkeit dev 
Beschleunigungen direkt durch Erfahrung fes>t-stellen? In der 
Erfahrung lieg't doch immer nur eine ResuHierende vor 
und wenn man die.se als aus ungestorten, unabhangigen Kraft- 
wirkungen hervorgehend auffafit. sie auf solclie zuriickfuhrt, 
so ist das doeh nur erschlossen und angenommen. Die Unab- 
liiingigkeit erweist sich .als eine F o 1 g e und als Boding u n g 
bekamiter Ta.tsachen'. wie ilach einmal \»ei Gelegenheit 
Stevins sagt (S. Hi)), aber nicht als eine Erfahrungstatsache 
selbst. Sie ist eine Annabnie, die man der Aulrassung der Er- 
i'ahrungstaiTsachen zugrunde legt. ein Prinzip. Es kann in sei- 
neu Folgerungen durch die Erfahrung bestatigt werden, 
aber es kann niclit selbst direkt durcli Erfahrung konstatiert 
werden. 
Man hat. auch huige Zeit das Prinzip des Krafteparallelo- 
gra mmes zu beweisen lniternommen. es also aus andeven 
Slitzen gefolgert. Darboux hat '" die logischen V o r a u s- 
setzungen dafiir abschliefiend aufgewiesen: 1. dafi die 
Resultierende von n Vektoren (Grofien mit eiuer Riehtungs- 
bestimm<theit) e i n d e u I i g bestimmt 1st. 2. dafi sie sich nicht 
a ndert. wenn man beliehig viele solche Vektoren durch ihre 
Resultierende ersetz t. '}. dafi sie von der Lage der Vektoren 
gegen das Koovdiiiatensystem unabhangig ist. 4. dafi sich 
gleichgeriehtete Vektoren addieren. .Aber in ncueren Dar- 
stellungen der Mechanik treten die Beweise fur das Parallelo- 
gramni iiberhaupt nicht melir auf" r " (S. -14 — 4(>). Es wird viol- 
'[lie (.rnnrlt'ormcii tier w -is.seiiK.-ha ft lichen Methodea. 97 
mehr die Kraft, die auf einen materiellen Punk! ausgeiibt wird. 
als Yektor. der an diesem Punkte lokalisiert ist, d e f i n i e r t ''" 
und damns folgt dann. daB die Kraft den Gesetzen des geo- 
metrisehen Vektors gehoreht. Das ist alter der klarste Beweis 
dafiir, daB man es bei diesem Prinzip nicht mit einem Erfah- 
ruagssatz zu tun hat. sonde™ mit einer Annahnic. 
So liiBt sich durchgehend zeigen, dafi der ganze Aufbau 
der Mechanik nieht auf reinen Erfahrnngsergebnissen, sondern 
auf Voraussetzungen. auf definitorischen Annahmen ruM. Die 
Statik, d. i. die Lehre vom Gleichgewicht. von der Acjuivalenz 
der Kriifte. geht von einigen grundlegenden. aber empirisch 
vollig unerweisbaren Voraussetzungen aus. die damit auch fur 
die ganze Mechanik fundamental sind. Da ist eine Reihe von 
Annahmen iiber din (quantitativei!) Eigensehaften der Kriifte: 
1. daB zwei Kriifte gleich sind, die sich in entgegengesetzter 
Kichtung das Gleichgewicht halten. 2. daB -sich Kriifte von 
gleicher oder entgegenge.setzter Kichtung algebraisch summie- 
ren. 3. daB 'sich verschieden geriehtete Kriifte nach dem Ge- 
setz des Kriifteparallelogramnies zusammensetzen; auBerdem 
die Voraussetzung der Verlegbarke.it der Kriifte in der Rich- 
tung ihrer Angriffslinie (vgl. ■' : , S. 42). 
in den Grundbegriffen und -beziehungen der Mechanik 
werden die erfahruugsmiiBigen Bewegungsverhaltnisse so z e r- 
legt. daB sie sich als gesetzmiiBig ergeben. Es werden 
ihnen solche einfache Verhiiltnisse zugrunde gelegt, .sie werden 
so k o n s t r u i e r t. daB sie GesetzmiiBigkeit auf weisen. Diese 
ganze Konstruktionsweise anzugeben. das ist das Wescn der 
mechanischen Fundamentalsiitze. Sie geben die Anweisung, wie 
die bcwegungsbestimmenden Umstande auf die an der Bewe- 
gung beteiligten Korper und deren Yerhaltnisse aufzuteilen 
sind. Sie geben die Grundziige einer Theorie der Bewegung. 
Das beweist audi der Zwiespak, der hinsiehtlieh des 
einen bewegungsbestimmenden Eaktors: der Kra fit, beat eh t. 
Die Kraft liiBt sieh fur sich allein nicht empirisch konstatiereii; 
was empirisch vorliegt. ist die Bewegung oder das Gleich- 
gewicht. Eben deshalb war es moglich. daB man die Kraft 
zuerst nicht der Besclileunigung, sondern der Geschwindigkeit 
proportional setzte wie Descartes oder dem Quadrat der Ge- 
schwindigkeit wie Leibniz. Und deshalb konnte man aneli ver- 
Sit/ungslier J. pliii.-liist. K'l. -j0:(. 1M 3. Abli. 7 
98 V. K V :l t t, 
suchen, die Kraft als einen eigenen bewegungsbestimmenden 
Umstand iiberhaupt auszusehalten, wie es Lord Kelvin in 
seiner Hypothese der Wirbelringe skizzient hat, bei deneu ge- 
wisse Bewegungseigenschaften den Anschein von Kraft en er- 
zeugen. oder wie es Hertz durch seine Auffassung eines jeden 
imiteriellen Systems als Te i 1 systems andever Systeme ver- 
suclit hat, d. h. indem er neben deu siehtbaren Massen nocli 
verborgene unsichtbare. mit den ersteren durch Bedingungen 
gekoppelte Massen angenommen Imt. und so die von Kra ft en 
erteiltcu Beschleunigungeu durch solclie von Massen erteilte 
ersetzt ha*. Und hente hut man. wenigstens in der Dynamik, 
die Kraft als einen eigenen Faktor. namlich als Ursa c he 
von Beschleunigung. Iiberhaupt fallen gelaissen. Da ist .Kraft' 
nur mehr eine .abkiirzende Bezeiehnung fur die Tatsaehe, dafi 
ein Massenteilchen eine gewisse Beschleunigungskomponente 
besitzf r,T (S. 54), ein Hilfsbegriff. Aber in der Statik ist die 
Kraft nocli immer ein eigener bewegungsbestimmender Um- 
stand (nicht bloB an Beschleunigung, tandem auch an anderen 
Wirkungen zu erkennen). welcher durch Gewichte (oder durch 
die Federwage) gemessen wird. .Eine allgemeine Einigung 
iiber diese beideu Auffassungen des Kraftbegriffes ist lusher 
nicht erzielf 57 (Aum. 154). 2T (§ 140), 86 (§ 5—13). 
An das Verhaltnis zum Begriff der Kraft kniipfen sich in 
erster Linie die YVandlungen. welch e innerhalb der Mechanik 
bis zum Auftreten der Relativitatstheorie vor sich gegangen 
sind. Zuerst hat man die Mechanik lediglich mit Hilfe von 
bloB von der Entfenmng abhaugigen FernkrUften, ohne Ein- 
fuhruug von Bedingungen, aufgebaut (Newton, aber auch in 
ueuerer Zeit wieder Boltzmann): dann (in der klassischen 
Mechanik) mit Hilfe von Fernkraften und Bedingungen; 
schliefilieh in neuerer Zeit ohne Krftfte, nur mit Hilfe von 
Bedingungen (William Thomson, J. J.Thomson. Hertz) ' ,: a.u. (>. 
und 3 " (S. 407). In dieser weehselnden Rolle liegt docli wohl 
der klare Beweis. datl zum mindesten die Kraft als bewegungs- 
bestimmender Umstand kerne Erfahrungstatsaehe ist, ^sondern 
eine Anuahme, eine koustruierte Gese-tzmaBigkeitskomponente. 
Das luBt sich ganz allgemein fur die Zuriickfiihrung der 
wirklichen Bewegung auf die bewegungsbestimmenden Um- 
stande der Mechanik auch von einer anderen Seite her zeigen. 
Die (Iniiulfoniien dor \\'i>-erwlinftli<'li' i u Mcthoden. 99 
Mit der Bedingtheit der Bewegung durch Masse mid Kraft 
steht das Prinzip der T rag he it in engster Verbindung; 
ja in seinera eigentlichen Sinne ist es, wie Mach zuerst er- 
kannt hat'"'" (S. 268). in dem Grundsatz iiber die gegenseitige 
Be&cbleunigungserteilung zweier Korper schon ehigeschlossen. 
I>a ei' diesen fur einenErfahrungsssUz erkliirt, miiBte also auch 
ilas Tragheitsprinzip ein soldier sein. Aber auch in seiner krili- 
schesten Formulierung laBt sicli dieses durchnus nicbt eini'aeb 
dei" Eri'atmmg entuehmen. durch experimentelle Beobachtung 
veritiziereu. wie Poincare ehenfalls : ' ,T (S, 9'i — 99) gezeigt hat. 
DaB der Satz der Tragheit in seiner alten, Newtonschen 
Fassung: ein Korper, der keiner Kraft unterworfen ist. ver- 
harrt in dem Zustand der Rune oder der ge radii nigen, gleich- 
formigen Bewegung, keinen Erfahrungsbeweis zuliiBt, i&t klar. 
Wie sollte man den Zustand, dafi ein Korper keiner Kraft 
unterworfen ist. experimentell hers tell en? Man mufi den un- 
moglichen Gesicbtspunkt eines sicli selbst uberlassenen, ganz- 
lich unbeeiniluBten Kiirpers vollig nusschalten: denn auch 
die Geradlinigkeit und Glekhformigkeit seiner Bewegung hat 
nuv einen .Sinn, wenn man das Bezugssvstem dafiir angeben 
kann. Wenn man nun niclit melir mit Newton ein absolutes 
Rezugssystem fiir alle Ortsveriinderuugen im absoluten Raum 
(so wie eine Normaluhr dafiir in der absoluten Zeit) annehmen 
kann und auch ein Surrogat dafiir. wie es die Losungsversuche 
von 0. Neumann. Streintz. L. Lange oder \V. Wien geben 
wollen. als unmoglich evkannt hat. so ergibt sich der gauze 
Gesichtspunkt als unhaltbar. 
Man muB den Satz dor Triigbeit vielmehr ganz anders 
formulieren. dam It fiir ihn iiberhaupt ein Erfahrungsbeweis in 
Betracht kommen kann. Man muB das. was er eigentlich be- 
sagen will, klarer dahin aussprecben: Eine Andcrung der 
Gesehwindigkeit Coder Rube) eines Korpers erfolgt nur untcr 
der Eiuwirkung einer Kraft: oder nocli voraussetzuugsloser: 
die Besehleuniguugen der Korper haugeu nur von ihrer gegen- 
seitigen Lage und ihren Gescbwindigkeiten ab. So en thai t das 
Gesetz der Tragheit in der Tat nichts anderes als Machs crsten 
Erfahrungssatz. In dieser Form ist es tateachlioh durch die 
Erf alining bestatigt — so weit es die Aslronomie betrifft. 
Naeh den Keplerschen Gesetzen 1st die Bahn eines Planeten 
100 V. Kraft. 
vollstandig da roll seine Anfangskige unci seine Aiil'angs- 
gesdtuindigkeit bestinmit, Aber es ist. iiicht audi fur dus 
ganze Gebiet der Physik experimentdl verifiziert uud es laBt 
sidi auf diesem gar nidrt vollstandig verifizieren. Demi bei 
den physikalisdien Ersdieinungen spielen audi Bewegungen 
unsiditbarer Korper. der Molekiile, eine Kulle. und weuti hier 
die Besdileunigung eines unsiditbaren Ivbrpers sidi ;nts den 
Lagen und Gesdiwindigkeiten der mit ibni gegebenen Korper 
nadi dern Triigheitsgesetz nodi nicht ergibt, so konnen wir sie 
als noeii von anderen. uiisiditbaren Korpcrn (so den .verbor- 
geuen Massen' bei Hertz!; ahhangig annelimen. So kanu hier 
das Tragheitsgesetz durdi die Erfahrung weder bestatigt noch 
audi widerlegt werdeu. Es ist nur fur einen Tei] des Ge- 
bides, ftir das es gilt, durdi Erfahrung .sidiergestellt: es wird 
aber weit dariiber hinaus in der allgemeiiisteii Weise als giiltig 
a n ge u o in ni e n. Es ist. ebon ein Prinzip. kehi Evfafirungssatz. 
Dieser Charakter tritt nur urn so deutlicher hervor, wenii 
nun die Relativitatstheorie an die Stelle des Trligheitsgesetzes 
ein anderes und viel allgemeineres Grundgesetz hinstellt: Die 
Bewegung eines materielleu Punktes geht so vor sidi. da6 sie 
im Raum-Xeit-Ivontinuum. bestimmt durch drei Raumkourdi- 
naten und eine. Zeitkoordinute, eine geodiitisdie L-inie (d. i. 
eine kiirzeste Linie in einem gekriimmten Raum) darstedlt. 
Alter audi dieses neue Grundgesetz kanu so wenig durdi un- 
inittdbare Erfahrung bestatigt werdeu wie das alte. denn es 
ist ja nodi allgemeiner als das klassisdie Traglieitsgesetz. 
Dieses ersdieint jotzt als eine Gesetzmafiigkeit unter speziellen 
Bedingung'eii: wenn .kein merklidier Einfluft gravitierender 
.Massen best eh r. Pas neue Prinzip ermoglicht dagegen Triig- 
ttdts- gerade so wie Gravitationswirkuugen als Ergebuis einer 
und derselben Gesetzmafiigkeit zu fa.ssen , '' 1 (S. 80. 40. 47). Es 
is* eine Verallgemeinerung dcs hislierigen Prinzips und muB 
da rum dessen erkenntnistheoretisdien Charakter teilen. 
Klar lat.it sidi der eigeuartige erkenntnistlieoretisdie 
(■liarakter des Prinzips in seinem Unterschied voni Er- 
f all ru ngssa t z audi an dem Grundgesetze der Stat ik auf- 
wciseu. dem P r i n z i p d e r v i r t u e 1 1 e n (Gesdiwindigkeiten 
uder Versdiieliungen oder) Arbeit. Es besagt: In einem Be- 
diiiguno'en untenvorfeneu (verhundeiieiO System, aid' das 
(Jii.> (■niinlioi'ineii ili'i' wis^'MM-hiit'lliflit ii Mef linden. 101 
irgendwekhe Kriifte einwirken, besteht dann Glekhgewkht. 
wenn die Versehiebungen in alien moglkhen Beweguugsrkh- 
tungen aufgehoben werden, d. h. wenn die Summe der Arbei- 
ten, die von den Kraft en bei einer virtuellen Verschiebimg des 
Systems geleistet werden. fi'ir alio ziiJiissigen Versehiebungen 
innerhalb des Systems versehwindet 3T (S. 07. 71). 1; (3. 429). 
Dieses Grundgesetz kann man nur fur die Falle nachweisen. 
wenn man das starre System als aus Punkten gebildet betrach- 
tet. die in unveriinderlkher Entfennmg dureh entgegen- 
gesetzte gleiehe Kriifte gehalten werden, welehe in den Riclv- 
tungen der Verbindungslinien von zwei Punkten wirken; oder 
.wenn Pnnkte des Systems auBerdem auf vijllig glatten Fla- 
chen oder Kurven gezwungen sind zu bleiben. respektive Teile 
soldier Systeme mit vbllig glatten Oberfladien sich beriihren 
usvv. (.time Zweit'el kann man in der Schilderung 'sokher Ver- 
haltnisse weitergehen; in alien derartigen Fallen lafit sich 
dann erweisen". daB die Arbeit dabei Null is:t r,T (S. 71). ,l)a^ 
Beweisverfahren stfitzt sieh also auf die Feststellung, daB das 
Prinzip fiir die elementareii Falle gilt: den freien Pnnkt. 
den auf einer Flache beweglichen Punkt, die verbuudenen 
Pnnkte. auf oinaiider rollende Fliielien usw.. mid diese Fest- 
stellung vollziebt sich dureh einc direkte Vergleichung der aid 
diese Falle bezhglkhen Experimente oder die Vergleichung 
der dureh das Versehwinden der virtuellen Arbeit gegebenen 
Gkiehgewichtsbeding'ung mit anderen speziellen Gleieli- 
gewichtsbedingungen. die man auf Grund vorhergehender Ex- 
perimente (bewulJter oder unbewu titer) als bekannt ansiehf 1T 
(S. 429. 4;i0). .Kin allge m e i tie r Beweis [fiir das Prinzip] 
kann natiirlieh auf diesein Wege . . . nicht erbracht werden 
and man wird so genotigt. das Prinzip fiir den Fall ganz 
unbe s t im m t gel a ss ener Bedingungsglekhungeu als 
eine Regel anzusehen. deren Folgen tatisaehlich mit der Er- 
f ah rung in Einklang sind' r,T (S. OS. 09). Audi Wundt (Logik. 
IT 3 . S. :Wo. HSS) hat sehon bemerkt, daB Lagranges .Beweis' 
des Prinzips der virtuellen Arbeit mit Hilfe des Geselzes des 
Flasehenzuges kein wirklicher Beweis ist. sondern ,nur die 
Bcdeutung der Veranschaulicluing eines a.xiomatiseh ange- 
nommenen Prinzips' haben kann. Allc Beweise fiir dieses 
Prinzip gehen .doch inimer von der Voraussetzung. von 
102 V. lira ft. 
Systemen diskreter Punkte mil ehicr endlidieu Anzahl you 
Freiheitsgradeu ;uis. wahreud der Satz selb.st audi fin- Systems 
mit unendlidi vielen Graden der Beweglidikeit zur Anwen- 
dung gebradit wird und in dieter Form schon von Lagrange in 
seiner Herleitung der Gleidigewichtsbedingungen der Fliissig- 
keiten bentitzt wurde 4 :,: (S. 72. 73). Das Prinzip der virtuellen 
Arbeit ist in seiner Allgemeinheit unerweisbar. es ist 
due Annahme. ein Prinzip, keiu Erfahruugssatz." 2 Es gibt 
die Grundlage fiir eine Theorie des GleK'hgcwidUes — und 
nicht niir des Gleiehgewidites, sondern audi der Bewegung 
uberhaupt. Demi dieses Prinzip der Gleiehgewichtisbedingun- 
gen, auf den Fall eines in Bewegung befliuUiehen Systems 
iibertragen, ergibt .in einer rein log'ischen Cberlegung' das 
D'Alembertsdie Prinzip. das Grundgesetz der Dynamik ,T 
iS. 77). Pud dieses Prinzip isl aquivalent mit den ubrigen 
Grundprinzipien der Mechanik: mit dem Gaufrschen Prinzip 
des kleinsten Zwanges und dnrch dieses wieder mit dem 
Hertzschen Grundgesetz; ebenso aber audi mit dem Hamil- 
tonschen Prinzip und mit dem Prinzip der kleinsten Wir- 
kuug : ' 7 (S. 92. 'X\). Alle die Pr'uizipe der Mechanik. DilTeren- 
tial- wie lutegralprinzipe. nehmen dahor Teil an der Pner- 
weisbarkeil des Prinzip s der virtuellen Arbeit in seiner 
absoluten Allgemeinheit: ;sie lassen sich ebenfalls nur partiell. 
fur bestimmte Bedingungen, naehweisen; aber daruber hinaus 
sincl sie Annahmen. 
Dieses eigenart.ige VerhaLtnis der mediaussehen Funda- 
mentalsatze zur Erfahrung tritt bei der klaren logiseh-erkennt- 
nistheoretisehen Durcharbeitung, welche Hertz dem Aufbau 
der Mechanik hat zuteil wenlen lassen. in vollstcr Offenheit 
hervor. Der Anteil der Erfalirung. .soweit er nicht schon in 
den Grundbegrif'i'en enthalteu is>t\ fafit sich bei ihm in eine 
einzige allgemeiue Aussage zusammen. das .Grundgesetz'. Das 
Grundgesetz betrachtet er .als das wahrscheinlichc Ergebnis 
allgemeins'ter Erfahrung. Genauer gesprochen. ist das Grund- 
gesetz eine Hypothese oder Ann a lime, welche viele Er- 
fahrungen einschlieSt, welche durch keine Erfahrung wider- 
legt wird, welche aber uiehr aussagt. als durcli 
s i c h e r e Erf a li r u n g' zur Zeit e r w i e s e n w e r d e n 
k a nn' 7 " 1 (S. ] 57). llinsichllicb ihres Verbal tnisses zum 
Die i;niiKlii>nm.\<! der « i-^en ~c_h;i ftliiheii Melhcxien. J 03 
Grundgesetz lassen skh niimUch die materiellon Systeme der 
Natur in drei Klassen einteilen. ,Die crate Klasse umfafit 
solehe Korpersy steme . . ., welche den Bedingungen tier 
freien Systeme nach dent unmi'ttelbaren Ergebnis der Krfah- 
nmg[!J geiriigen (z. B. starve Korper. welche sich im lceren 
Raum. oder vollkommene Fltissi<rkeiten. welche sich in ge- 
scblosseuen GefaBen bewegen[!]). Aus den Eri'ahrungen [!] 
an solchen Korpersy st emeu ist das Grundgesetz abgeleitet. 
In Hin si chit dieser ersten Klasse stellt es eine nackte Evfali- 
rungs'taitsache dar (S. liiii) — was freilich nacii den voraus- 
gegangenen Erorterungen keineswegs der Fall Lst, wic es ja 
audi sdiou der innere Widerspruch von ,Erf;ihnmgen' in be- 
zug auf die Bewegung von .vollkommenen Fliissigkeiteu' 
offenbart. .Die zweite Klasse ummBt solehe Korper systeme, 
welche nur dann . . . dem Grundgesetze folgen. wenn der un- 
mittelbaren sinnlichen Erfahnmg gewisse annehmbare Hypo- 
thesen liber ihre Natur hinzugefiigt werden' (z. B. .Systeme, 
in welehen die Fernkraite, die Krafte der Warme und andere. 
nicht immer voltstiindig verstandene Bewegungmirsache 
sind'). .Hinsichtlich dieter zweiten Klasse von natiirlichen 
tfystemen tragi. da* Grundgesetz den Character einer teils 
sehr. teils ziemlich wahrsehein lichen, aber stets. soweit wir 
sehen, einer zulassigen Hypothese' (S. 164). .Die dritte Klasse 
der Korpersy.steme enthalt soldi e Systeme, deren Bewegun- 
gen sich nicht ohneweiters als notwendige Folgen des Grund- 
gesetzes darstellen lasscn und fur welche auch keine be- 
st inim ten Hypothesen angegeben werden konrien, duroh 
welche sie miter das Gesetz gefiigt wiirden 1 (z. B. alle orga- 
nisch belebten Wesen). .Unsere Unkcnntnis aller liierher ge- 
horigen Systeme ist aber so groB, daB auch der Beweis nicht 
gefiilirt werden kann. daB solche Hypothesen unmoglich 
seien und daB die Erscheinungen an diesen Systemen dem 
Gesetz widersprechen. Hinsichtlich dieser dritten Klasse von 
Korpersy stcmen tragt also das Grundgesetz den Oharakter 
einer zuliissigen Hypothese' (S. lGf>). Daraus geht wohl zur 
Gentige hervor. daB das Hertzsche Grundgesetz der Mechanik 
— mid ebeoso jedes der anderen mit ihm aquivalenten — fiber 
die wirklicbe Erfahnmg hinausgeht. Die Fundamental sat ze 
der Mechanik sind durchaus nicht einfach der Erfabrung ent- 
104 V. Kraft. 
nomnien: sie sind vic-hnehr fiber die Erfahrung hinausgehende 
Annahmen. durch welehe wir die Erfahrungstatsachen in eiu- 
heitlieher GesetzmaBigkeit zu erfasseu vevmogen. 
Wenn man die Prinzipe der Mechanik aber deshalb .in- 
duktive heuristische Annalrmeiv neiuit (wie YoB *"' 7 , S. 117), 
so 1st damit ilir erkemituistheoretiseher Charakter nieht rich- 
tig bczeichnet. Sie sind dureliaus nicht otwas so Vorlaufiges 
wie heuristische Annahmen. sondern sie sind die notwendigen 
Bedingungeu. itm die 'tatsik'hlieheu Bewegungsvorgange als 
gesetzmiiBige zu begreifen. Sie sind die konstruierten allge- 
meinsten Obersatze t'iir eine deduktive Ableitung der Bewe- 
gungsvorgange. Daduveh, daft man eine Beziehung von allge- 
meinster Gesetzimitfigkeit ausnahmsweise einiiihrt. gewinnt 
man die Mog'Iichkeit, aiif Grund deren Bewegungsvorgange 
unter speziellen Bedingungeu durch Kolgerung abzuleiten und 
so gese<tzmaftjg zu bestimmen. Diese « p e z i e 1 1 e n Ergebnisse 
kann man aber dann rait den Erfahrungsverhaltnissen direkt 
vergleiebeu und sie dadnrch verifizieren. In diesem Sinne 
werden die Prinzipe dann auch durch die Erfahrung legiti- 
miert. Aber das ist doch etwas auderes als wirkliche Erfah- 
vungssatze, Diesev gauze Auf ban; die Aufstellnng eine? Ge- 
KetzmaBigkcit.sprinzip-; iiber das Erfahrungsgegebene liinaus. 
die deduktive Entwicklung der be-ionderen Erseheinuugeu 
danuis und die nacliiolgende Verilikalion devselbcn durch die 
Erf ah rung und dam it die indirekte. riiekwirkende Begriiudung 
des Prinzips durch die Erfahrung — dieser gauze Aufbau ist 
der einer Theuric. Es ist em deduktives System auf Grund 
von Annahmen mit eiuer indirekten Art der Begriindung durch 
die Erfahrung. 
3. Der ideale Charakter des Gegenstandes der Mechnnik. 
Wenn man sich die wissenschaftstheoretische Eigenart 
der Media nik weiter klamuu'ht, so evkeiuit man, da 15 Hire 
S;iUc ga.r keiiie Erfahrungssiitze sein k (.inn en, denn sic 
beziehen sicii auf Vcrhaltnisse, die so in der Erfahrung gar 
nicht angetrolfen werden. sondem erst kunstlieh aus ihr her- 
ausprilpariert sind: sie stellen gar nicht wirkliclte Erfahrungs- 
ergebnisse fest, V.m das einzusehen. mufi man nur die wirk- 
Uehen empirisohen Bewegungen ins Auge i'assen. 
I)ii* < ■rnndiin turn i]?r ivi.-.-t-iiH-ljiit'lliiOj^ji Metlivdoii. 105 
DaB es (jcschwindigkcit und OeseliwiiKligdveitsanderung. 
Beschieunigung und Verzogerung gibt. 1st gewiB eine Erfah- 
rimgstatsacbe. ebensogut wie die. daft es Bewegung iiberhaupt 
gibt. Aber durch die Erfahrung werden uns uumittelbar imiuer 
nur konkrete. individuelle Beweguugsvorglinge gegeben. die 
darin besteben. daB Rich die gegenseitiigen Entfernungen von 
Korpern mit der Zeit andern. Es sind Bewegungen in Hirer 
gaiizeu Kuniplizierthei't durch vielfache gegenseitige Einwir- 
kungen der Korper. durch Reibung. Elastizitiit usw. Die ge- 
setzmaBige Beziehung zwischcn Beschleunigung, Kraft und 
.Masse, welcbe das Gnmdgesetz der Bewegung ausjspricht, 
kami aber in den wirkliehen Bewegung^vorgangen inimer nur 
in der Weise aufgefundeu werden, daB man sie zerlegt in eiu- 
zelne Komponenten der Bedingtheit. So wird der Luftwider- 
stand abgespalten und die Reibung auf der Oherilache oder in 
Flussigkeiton usw.. und es wird die Bewegung ohne Riicksieht 
auf ein widerstehendes ilittel, fre-i von alien Bewegungshinder- 
nissen. betuachtet. Ein soleher Vorgang wird aber in der Wirk- 
liebkeit nicht angetroffen; er Uifit sich aucli im Experiment 
n i edit vollig herstellen, sondem immer nur nngenahert. Der 
Luftwiderstand liifit sich in der Torvieellisdien Roll re fast ganz 
ausscbalteu. die Obertlaehenreibung- lafit sich sehr verniindern. 
aber niclrt ganzlich besekigen. Es ist ein Vorgang unter aus- 
gewablten. vereinfacliten. unter kiinstlichen Bedingungen. ein 
idealer Vorgang, fur den das Gruudge-<e1z der Bewegunir 
aufgestellt wird. Die Begriffsbilduiigen und Sutze der Mecha- 
nik fassen innerhalb der komplexeu em pi rise hen YVirkliehkeit 
nur ganz bestimmte Abhangigkeiten ins Auge: die reiue, unbe- 
hinderte Bewegung in ibren einfaclien. elementaren Beziebun- 
geu (vgl. aucli Wundt. Logik. IP. H. 412). Audi dort, wo die 
Mechanik ihre Aufgabeustellung den in der Xatur gegebeuen 
Bedingungen mogliehst anzunahern sucht (Elastizitat. Reibung 
... in Betracht ziebt). komieu ihre Verhaltnisse mit denen in 
<ler Erfahrung- nie vollig (tbercinstimmen. Es tst der Verlauf, 
den die Bewegung annehmeu wiirde — weun die VerhaLt- 
nisse anders wiiren! Dem ^ie sich annaliert, nach MaSgabe 
des Zuriicktretens der stiirenden I'mstiinde. Es sind einseitige 
Abhangigkeiten. Bedingtheitek o m p o nent e n der wirk- 
licben Bewegung. welche dam it i^nliert herausgehoben und 
106 v. k ii.it. 
untersucht werden. Diese Art von Bewegung ist denmach in 
ihrer Reinlieit eine ideale. 
Weil fur diese Art von Bewegung alle storenden Modifi- 
ka.tionen ausgesehlossen werden, ergibt sich ihr Verlauf auch 
anders ahs in der Erfahrung. Es gilt fur 'sie, was in der Wirk- 
lichkeiit ausgesehlossen iat: die vollstandige Umkchrbarkeit 
eines jeden Bewegungsvorganges — weil eben jeder Bewe- 
gungsverlust infolge von Reibung usw. fehlt. ,Wenn wir uns 
fragen. worin denn eigentlich die vollig neue Auffassung Culi- 
leis besteht, der er so grofiartige Forsclumgsergebnisse ver- 
dankt und die ihn zum eigentlichen Begrunder einer exakten 
Dynamik macht, dann mii^sen wir diese Frage am ehesten 
wohl dahin beantworten. da(3 Galilei den Begriff des i d e a 1 e n, 
als von Bewegungshindernissen freien dynamiscben Prozesses 
schuf und fur die ideale Bewegung das Prinzip der U m k e h r- 
barkeU aufstellte' 88 (S. 54). Ebenso sagt Mach 30 (S. 33): 
.Das genaue statische Verhaltnis ergibt sich durch Ideali- 
s i e r u n g und A b s e li e n von den storenden Umstanden.' 
.Der Hcbel und die schiefe Ebene sind gerade so selbstge- 
s c h a f f e n e ideale b j e k { . e der M e c ii a n i k, w i e die 
Dreiecke ideale Objekte der Gcometrie sind. 
Diese Objekte allein konnen den logischen Forderungen voll- 
kommen genugen. welche wir i li n e n auferlegt haben, 
Der physische Hebel gentigt ilinen nur .so weit, als er sich 
dem idealen nahert. Der Naturforscher .strebt. seine Ideale der 
Wirklicbkeit anzupassen.' Hiermit gesteht .also Mach selbst 
zii — was sich allerdings mit seiner allgemeinen empiristischen 
Auffassung nicht vertragt — , daB die Mechanik auch darin der 
M.athem.atik gleicht, da6 sie von idoalen Objekten bandelt. Sie 
untersucht gar nicht. die Bedingtheit der Bewegung durch die 
wirklichen, empirischen Korper (den physischen Hebel. die 
physische Rolle . . .). sondern durch ideale Objekte: sie 
betracbtet den Hebel als vollkommen starr oder abcr als bieg- 
sam, jedoch homogen und vollkommen elastiseh, ,was in der 
Praxis nie realisiert werden kann' offenkundig, oder sie 
betrachtet bei der Fortpflanzung der Wellen auf der Ober- 
fliiohe einer Fliissigkeit diese als eine homogene. unzusammen- 
driickbare und vollkommen plastische Masse. ,eine hypotheti- 
■scho Substauz. die naturlich in der Natur nirgends existiert' ni 
Die i iriiiidfonnt't) dcr wisseiiM-liiil'Uii'lieii Mi-lliuden. 107 
i,S. 1—4, g§ 439— 44(i). Sie legt allgemein ihren Unterwiiehuu- 
gen vollkommen starre Korper zugrunde, d. i. solche von abso- 
lute nicht bloi3 — wie in Wirklichkeit — relativ uiiverander- 
lieher geometrischer Gestalt. Sie behandelt audi die Bewegung 
der Korper nur mit Hilt'c eines idealen Hilfsbegriffes: des 
materiellen Punktes und diskreter uud kontinuierlicher Punkt- 
sy Sterne. Er ist von Laplace in dem Sinn eingefuhrt worden, 
daG in ihm dem geometrischen Punkt nur die Bestimmungeu 
hiuzugefugt sind, dafi er mit Masse bdiaftet und der ELuwir- 
kung von Kraften miterworfen und beweglich gedacht ist. 
Xoch bei Poisson und Kirchhoff bedeutet der materielle Punkt 
die Existenzialisierung des Unendlidi-Kleinen, ernes mathema- 
tischen HUfsbegrifies! Erst von Maggi" 1 und nach ihm von 
Love 60 ist er eimvandfrei definiert worden (nach ST , S. 24). 
All das sind r e i n g e d a n k 1 i c h o M i 1 1 e 1 zur Bestim- 
mung der wirklichen Bewegungen der physischen Korper. Sie 
sind auf die wirklichen Bewegungen anwendbar, aber sie gebe'u 
nicht- empirische Eigenschaften derselben — gerade so wie 
audi die Genmetrie auf die physische Wirklichkeit nur an- 
wendbar ist (vgl. dazu audi 2+ ± Rap.. VI). 
Alter os sind deswegen doeii aiicii wieder nicht eigcntlielic 
Fiktionen, wie Vaihinger w ihre Idealitat mifideutet: sondern 
es sind abwtrakte Isolierungen von Teilgesetzmjiftigkeiten zwi- 
schen Gliedern. die mit absolute r Prazision bestimmbar ge- 
dacht sind und iiissofeni ideale Orenzwerte darstelleu, damit 
zwischen ilmeti die Bcziehungen mit absoluter Genauigkeit 
gelten konneu. Was die ilechanik mit ihren idealen Gebilden 
(Hebel. Rolle. absolut starrer Korper. materieller Punkt . . .) 
eigentlich will, geht dahin, da8 sie damit, GesetzmaBigkdten 
der Bcweguug in praziser Form ausspricht. Der ideale Hebel, 
die reibungslose Rolle der ilechanik sind nur ein spezieller 
Ausdruck fiir das Gesetz der statischen Jlomente (fur eine ge- 
.*>etzmai3ige Bezidumg zvdsehen Kraft rich tung", Ang'riff spunk t 
und Drehpunkt). Diese GesetzmaBigkeit ist aber nicht die der 
wirklichen Bewegnng. sondern sie ist nur eine Kompo- 
nente darin: in ihr ist nur eine von den mehrfachen Abhan- 
gigkeitsbeziehungen, dureii welche die wirkliche Bewegung 
tatsachlich bestlmmt wird, isoliert herausgehoben; in ihr ist 
eine e i n f a c h e G r u n d b c z i e h u n g innerhalb der tatsach- 
108 v. K ni ft. 
lichen Bewegung.sbedingtheit. die immer eine niebrfadie ist. 
aufg'estellt. In dicser Isolierung einer einfaehen Ahhangig- 
keitsbeziehung unci der Koustruktion vollkoinmen pilizisev 
Glieder dafiir licg*t die Idealitlit der mechanischen Objekte. 
Demi diese einfaehen Alrhangigkeiteii sind in ilirer Tsoliertheit 
und Oenauigkeit in der Erfahrung uie zu beobachten; die 
empirisdi wirkliche Bewegung zeigt sie audi ini besten Fall 
iinmer nur angenithert. Dam.it erweist es sidi als grundsatz- 
licli, da 15 die Medianik gar nieht Erfahrungen iiber den Ablaul 
von Bcweguugsvorgangen in der Wirklichkeit ausspricht. son- 
dern vielmehr ein System von isolierten einfaehen Abhangig- 
keitsbeziehungen. von idealen Gesctzmafiigkciten der Bewe- 
gung gibt. Diese konnen alter von der Erfahrung a us nur 
ko n s t ru i e rt werden. Sie konnen jedoch von der Erfahrung 
in der Weise bestlitigt werden. daB sieii die Art der wirkliehen 
Bewegung einer sole hen idealen einfaehen Abhangigkeit urn 
so mehr a n n a" h e r t. je weniger a n d e r e Bedingungskompo- 
ii en ten daran beteiligt sind. oder da(5 die Abweidmngen davon 
auf solche andere zuriiekgefuhrt werden konnen. 
4. Die Mcchanik als hypotlietisch-deduktiyes System. 
Die .Medianik stellt also ein ideales und damit ideelles 
Geba'ude dar so wie die Jlathematik; und ebenso ein hypo- 
thecs c, h - deduktives System. 
Weil es sich in der Meehanik nicbt urn konstatierte Er- 
fahrungstatsacheu in bezug auf wirklidie Bewegungsvorgjinge 
handelt, soudern um die koustruierteu einfaehen Grund- 
bediiigtheiten einer idealen Bewegung. so sdilagt sic audi 
einen anderen methodiseheii Weg ein als sous* eine empirisehe 
Wirklichkeitswissensdiaft. Statt von der Beobaehtung* der 
Einzeltatsacheu auszugehen und zu der gencrellen Zusammen- 
fassung derselben fortzusehreiten. legl sie konstruicrte elemen- 
tare GesetzimiBigkeiten zugrunde und geht von diesen aus 
deduktiv in der Riditung auf die tafesachliche Bewegung 
weiter. Deshalb muB sie zuerst die Bedingungen. von denen 
sie ausgeht, kiar angeben. Aus diesen annahmeweise einge- 
fuhrten Vordersatzen hat sie dann Folgerungen zu entwickeln. 
um zu zeigen. wie sidi unter der Voraussetzung der einfaehen 
Grundbeziehungen spezielle Fiille darstellen. (Dabei wird 
Die t '< liUidiorntvti tier »v;s^eiis(-} ( o('t)icl)e:i Mfilnxlpn. 109 
aiu'h das Experiment ieren charakteristiseherweise eben- 
i'alls aus dor Wirkliehkeit in die Sphare der Reflexion verlegt: 
als Gedankenexperiment an Stelle ties wirklichen. zur Klar- 
stellung der Abhangigkeit dureh Variation der Bedingungeu 
wie Mach u,i S. 180 f. ausfuhrt.) Erst die Ergebnisse 
dieser rein gedanklichen Entwickliiug konnen dann mit der 
empiriseb wirklichen Bewegung verglichen werden. Das bat 
>icli sogleieh i>ei Galilei als das eigenlumlielie Yerfaliren der 
Meehanik gezeigt '' : '' (S. 48, 49) ,iT . Zuerst setzt er per deiinito- 
nem den Begrift' der gleichformig besehleunigten Bewegung 
fest (als derjenigen. bei der die Geschwindigkeit gleich der 
Zeii wiichst) und leitet dann davans geometriseh die Hanpt- 
eigenschaften dieser Art von Bewegung" her. inshesondere das 
Gesetz. daB die durchlaufenen Kaume wie die Quadrate der 
Zeiten zunehmen; schlieBlich untersuebt er, durch das Ex- 
periment an der sehiefen Ebene, <>b dieses Gesetz fiir die in 
der Xatur vorkonmieudeu besehleunigten Bewegungen zutrift't. 
Also Defmitionen und Axiome als Ausgangspunkt und auf 
Grand deren strenge Deduktion — das ist se it tie in der eigeut- 
licbe Erkenntnisweg der Meehanik geworden. 
Er bedeutet cine gruudsatzliche Verseluedeuhei.t. gegeu- 
iiber reiuer Erfahrimgserkenntuis. Die Meehanik baut sicb da- 
mit in der Weise auf. daB sie klar und ausdriieklicb ilirt: Ele- 
mente und deren Grundbeziebungen (Verkiitipfungsgeselze) 
augibt: Raum- und ZeitgroBen in mathcmatisehen Beziehungen. 
Kraft, und Mas-se (als .bewegungsbestimmende Umstande'. als 
.Koefiizienteir raumzeitlicher Beziehungen — was sie darubev 
hinaus .eigentlich' sein mogen. bleil>t vollig im Dunklen) und 
die mechanischen Brinzipe. und indem sie aus diesen Elemen- 
ten und Beziehungsgesetzen miter Einfuhrung spezieller Be- 
dingungen ein System von mechanischen Satzeti deduktiv ab- 
leitet. Das Fruchtbare, Erkenntniserweiternde sind dabei — 
das hat sicb sehon bei der Mathematik gezeigt — eben diese 
^-pezielleii Bedingungen, die Aufgabenstellung. Dieser Erkennt- 
uisweg bedeutet. also, daB die Meehanik ihre Dbjekte und deien 
Beziehungen selbst koiistituiert und in einem deduktiven 
System ent-faltet gerade so wie die Geometric. Und das ist 
nieht MoB cine Form dpr Da r s t el 1 un g indnktiver Ergeb- 
nisse. sonderu es lieyt im \V e s e n dieser Wissenschafi. Das 
UO V.Kraft. 
darf man nicht verkennen. Sie handelt von idealen Gegen- 
stiinden, ihre Ausgangspunkte haben nur annahmeweise Gel- 
tung — das unterliegt nicht der Willkiir der Darstellung. 
Denn durch diese Erkenntnisweise gewinnt die Mechanik 
etwas, was sie als reine Erf ah rungs wissenschaft nie gewinnen 
konnte: die Einsicht in den inneren Zusammenhang der mecha- 
mschen Verhaltnisse untereinander infolge Hirer Deduzierbar- 
keit. Vermoge der Idealisierung auf Grund isolierender Ab- 
straction ist sie imstande. die Bewegmig aus Grundbeziehungen 
zwischen elementaren Fakfcorcn abzulei t e n, statt «ie bloB 
empirisch feststellen zu konnen. .Nun erst konnen wir die Tat- 
sachen, mit exakten Begriffen operierend. selbsttatig 
reknnstruieren, wissenschaftlich, 1 o g i s c h b e h e r r- 
s c h e n* — so spricht sich audi Mach 3a (S. 33) aus. Indeni die 
Mechanik von Elementen und Beziehungsgrundgesetzen aus- 
geht und in einem deduktiven System die mechanischen Satze 
als Folgerungen daraus entwiekelt, iibersieht sie klar die 
inneren Beziehungen zwischen ilinen, die No t we ndigke i t, 
mit der sie sich aus einigen wenigen Grundvoraussetzung'en 
ergeben. Wenn man z. B. nach Archimedes das Verhaltnis von 
Kraft und Last am Hebcl als umgekehrt entsprechend dem 
Verhaltnis von Kraftarm und La&tarm mit Hilfe des Satzes 
tiber die Schwerpmikte deduziert (vgl. "', § 12 t! \ S. 2 — 5). 
so wird damit dieses Verhaltnis durchsichtig als etwas. das so 
sein mufi. nicht bloB annahernd so ist. Im mechanischen 
System werden die einzelnen Sittze verstandlich als Spezial- 
i'alle, als Folgen ganz weniger Prinzipe oder gar nur cines ein- 
zigen Grundgesetzes. In ihm schlieBen sie sich zusammen zu 
einer einheitlichen GesetzmaBigkeit. Das ist das GroBe, das 
das deduktive System der Mechanik leistet: dafi es die einzel- 
nen Satze tiber die Bewegmig als notwendig unter be- 
stimmten Voraussetzungen einselien laBt: man sieht nicht bloB. 
d a B s i e bestehen. sondern w a r u m sie bestehen. 
Wenn man fur einen Satz einen Beweis. eine deduk- 
tive Ableitung sucht. so hat das seinen Grund nicht einfach 
darin, dafi sich sein Entdecker ,miStrauisch gegen sich' — wie 
Maclr" 5 (S. 31. 80) sagt — gegen einen allfalligen Irrtum zu 
sichem sucht. .DaB der wissenschaftliohe Beweis . . . nur aus 
der Erkenntnis der Fehlbarkeit der Forseher hervorgegangen 
Die (irurulfornu-Mi drr wii-seiisi-iiaft lichen Methoden. Ill 
sein kann 1 : " ; (S. 29). ist jedenfalls zu eng. Seine logisch- 
erkeinitni'stlieoreti'sche Fuuktion Iiegt in dor Aut'deckung ernes 
logischen Zusaminenhanges: cines Folgeverhaltnisses, einer 
konsekutiven Notwendigkeit. ,Wird cin [mechanise lies] Ver- 
liaknis auf solchem Wege wiedergefunden. so hat es eiueii 
hohei'cu Wert als das Ergelmis eines messenden Experi- 
mented, welches von jenein immer etwas abweicht' — gesteht 
Maeh selbst. zu (S. 33). Ein moderner Galilei konnte mil den 
Hjlfsmitteln unserer Teehnik die FallgesetzmaBigkeit (lurch 
direkte Beobachtung ennitteln. Er konnte* eineu frei 
fallenden Korper kinematographisch aufnehmen und dann die 
Aufiiahme mit einem Zelmtel der urspruiiglichen Geschwindig- 
keit ablaufen lassen unci daran das Verhaltnis von YVeg und 
Zeit direkt ausmessen. Eine sole he Feststellung wiirde aber 
bei jeder Wiederholung an einem neuen Wirkllchkeitsfall ab- 
weiehende Werte ergeben. weil ja die den Fall beeinflussenden 
Umstande (Korperoberflache, spezifisches Gewicht. Luff- 
stromungen . . .) immer verschiedeu sind. Es wiirde sich nur 
eine annahernde RegelmaBigkeit, ein Oszillieren urn einen 
Miltehvert ergeben. Das Verfahren hingegen, das Galilei tat- 
sachlicli eingesehlagen hat, steht einer solchen rein empirischen 
Feststellung so gegeniiber. wie wenu man die Winkelsumme 
im Dreieek nicht durch empirische Ausmessung wirklicher 
Dreiecke, sondern durch Forgerung aus den Konstruktions- 
bedingungeu bestimint.. Ev konstruiert den Fallvorgang selb'wt 
auf Grund bestimmter vereiufachter Bedingungen. die er als 
Annahmen einfiihrt, er konstruiert einen idealen Fallvor- 
gang und kann an diesem die GesetzmaBigkeit des Fallens mit 
maithematischer Sicherheit deduziereu. Diese ideelle Theorie 
des Falles laBt ihn die GesetzmaBigkeit aus den Be din gun- 
gen des Vorganges verstehen: sie gibt ihm viel melir. als 
empirische Feststellung je geben konn.te: eine strenge Gesetz- 
nuLBigkeit. ableitbar aus d'ui klar ilberblickten, allerdings idea- 
len Bedingungen. Es ist, ein prinzipiell andersartiges Wissen. 
Die Ei'kenntnisleistung der Theorie ist nicht bloB eine .okono- 
mische Zusammenfassung der Erfabrungen' in einer Formel 
f (ir lieiiebig viele Falle. sondern die Einsieht in das Bedin- 
gende der Falle und damit in die Xotwendigkek, So hat 
* Den Himveis ilarauf verdanke Mi Prof. Lam pa.. 
112 V. K. I'll ft. 
Newton durch seine Theorie der Gravitation erkanirt. da IS die 
Bahnen der Hinnuelskorper nicht bio ft Ellipsen, sondern iiber- 
haupt Kegelschnilte sein konnen, was wcit melir war. als die 
bloBe Beobachtung ilm lehren komite. 
Mit all dem liabe ich eingehend gezeigt, dafi die Mecha- 
nik, emgegen der Aui'fassung mancber hervorragender Deuker. 
nicht eine Summe von indukt.iven Erfahrungssatzen iiber die 
Wirklichkeit darstellt. sondern dalS sie den davon sebr vei- 
^chicdeiien Cliarakter einer Theorie nnd als solehe ganz den 
Charakter eincs ideellon deduktiven Systems wio die Mat he- 
ma tik aufweist. Diese Theorie soil allerdings die w i r k 1 i c h e n 
Bewegungsvorgilnge gesetzmaBig .erklaren' oder .beschreibeir. 
das heifit aber nnr: dieses System wird in seinen bcsouderen 
Ergebnissen znr Erf ah rung in Beziehung gesetzt 
— nnd dadurch wird sein ideeller Charakter verschleiert. Aber 
wenn man es einmal von dieser seiner Anwendung auf die 
Erfahrungswirklichkeit loslost nnd fiir sich betrachtet als das. 
was es ist, so tritt der Charakter eines ideeilen deduktiven 
Systems nnverkennbar hervor. 
Das System der Mechanik handelt eigentlich nicht von 
real en Tatsaehen. sondern — in der Sprarhe Hus^erls — von 
idealen Wesensbeziehungen: nnd es griindet ■sich nicht aid 
Erfahrungssatze. sondern es konstitniert sich auf Gnu id vor- 
ausgesetxter Elements uml Bezielnmgsge'setze, die in Axiomen 
formuliert werdeu nnd die- an nnd fiir sich keine andere Gel- 
tung als die von Annahmen oder von Derinitionen haben. Tn 
ihnen warden uur die Yoraussetzungen ausgesprochen. die, man 
einfiihr.t nnd zugrunde legt. die .Grundannahmen". wie sie 
Boltznmim "" bezeichnet. Aber diese Grundannahmen sind an 
nnd fiir sich gar keine Annahmen in bezug auf die Wirklicb- 
keit. keine Annahmen von empirischen TatsachengesetzmalSig- 
keiten — sie wollen es gar nicht sein; sondern cs sind willkur- 
licb aufgestellte liediuguiigen. t'rei gewahlte Ausgangsposi- 
tiunen. Da* zeigt sich schon in der Formul i erung, wie sie 
in dem letzten vorrelativistischen System der Mechanik. bei 
Boltzinaim. eingefubrt werden. z. B. die Grundannahme 'J: 
.dalS die Ennktionen = (t). 'i ftj und /. ft) . . . erste nnd zweite 
Differentialquotienten habeu solle n [!]. die nirgends unend- 
lieh werdeu' fS. 10). Odpr beim I'rhrzip der Gleichheit der 
Hie Gnmdformeri der wissenaehaftlichen Methoden. 113 
Wirkung und Gegenwirkung (S. "22): .Damit die Bewegung 
richer eindeutig bestimmt. 1st, nehmeii wir nocli an[!], duB 
die nati.iflif.lie cindeutige Funktion der Entfernung r, welche 
die Kraft gibt, Mr alle in Betracht kommenden Werte des r 
cine unendliebe erste Ableitung hat. . . .' Der Charakter von 
willkui'licheu ideellen ftetzungen, den die Axioine der ilccha- 
nik haben. wird auch noeh dadurch onviusen. daft sie si eh teil- 
weise auswechseln lassen. Es haiigt von unserer Wahl ah. 
von welcheu Grundannahraen wir ausgehen wollen. .Die Mbg- 
lichkeit, einen Teil unserer Orundannahmen durch andere all- 
gemeine Prinzipieu zu ersetzen, will ich keineswegs lengnen. 
Ja, man kdnute sogar statt von dem Begriff der Beschleimi- 
gnng von der Gleichung der lebendigen Kraft ausgehen . . .' 
(S. 23). 
Die Grundannahmen der M.eo.haiiik haben also fiir sich 
allein ihrem ganzen Charakter nach nur definitnrische, nieht 
reale Geltung; sie stellen einfach bin. Die gauze Mechanik 
triigt damit den Charakter eines liy p o the.t i sch-deduk- 
liven Systems so wie die llathematik, und dieses ideelle 
System wird nur auf die Erfahrnngswirklichkeit angewen- 
det, d. h. 7,u ihr in loglsehe Beziehung gesetzt, wenn man es 
als eine Zurechtleg'uiig* der w i v k 1 i c hen Bewegungsvor- 
gange auff'aBt. Es kommt damit die Bcziehung auf die Er- 
f alining' noeh hinzu. Aber sie gehort nicht wesentlieh mit 
znm Charakter des Systems. 
Das zeigt sich in idjerz engender Weise darin, dafi das 
ideelle System audi von ihr ganz losgelost und rein auf sich 
gestellt werden kann. Das hat Russell im Oh. 51-J seiner , Prin- 
ciples of Mathematics' getan. wo er die Mechanik als ein rein 
ideelle* hynothetiseh-deduktives System ohne Rucksicht auf 
die empirisclie Verifikation, geradezu als Zweig der reinen 
Mathema.tik, behandelt. Er hat da ein solches System einer 
.ration ale n Dynamik' in strong axiomatischer Weise entwor- 
fen. Wie bci cinem System der Geometrie werden die Voraus- 
setzungen. deren es hedarf. die Grundbegriffe und -bezielLiin- 
gen, als Axiome, d. i. als Grundaiiuahmen eingeiiihrt. Das 
sind 1.. der Raum als eine n-dimensionalc (nicbt bloB drei- 
dimen.sionale!) Reiho mid die Zeit als eine omdimensionalo 
Heihe: 2. materielle Punkte (Einheiten) als da.s Raum- und 
Sitznngsber. J. jiliil.-Uist. Kl. 2uJ. I'.d. 3. Abh. H 
114 V.Kraft. 
Zeiterfullende, das. was einon Raumpunkt itnd einon Zeit- 
punkt einnimmt; dev materiellc Charakter wird in diesein 
Shine hic-r niclit dureli den der Substanz mit Eigenschafteu. 
sondern nur dureh das Veriialtuis zll Raum und Zeit deuniert: 
als eine eigenartige (.mehr-eindeutige') Beziehung zwisehen 
Raum- und Zeitpunkten. eino Korrelation (Verkniipiung) zwi- 
schen alien Moment en der Zeit und emigen Punkten des 
Raumes; 3. die Undurohdringlicbkcit als die A usscli 1 i e- 
Uung'sbestimmung, daE zwei materiellc Pimkte nielit im 
.selben Zeitpunkte denselben Raumpunkt einnehmen konnen 
(und ebenso nicbt derselbe materiellc Punkt im selben 
Momente zwei Raumpunkte, wolil aber denselben Raumpunkt 
in zwei Zeitpunkten), das heifit l.ach 2.: zwei Raumpunkte 
sollen nicht d em selben Zeitpunkt korrelativ zugeordnet wer- 
den; 4. die Unzerstorbarkeit als die Dauer, das Jmmervorhan- 
densein ernes materiellen Punktes in der Zeit, indem er ent- 
weder denselben Raumpunkt behalt oder ihn kontinuierlich 
wechselt, das heiBt nach 2., daB jede korrelative Zuordnung 
von Raum- und Zeitpunkten eine kontinuierliehe Funktion be- 
st immt (unter der Yorausset/.ung, daB die beiden Reiben des 
Raumes und der Zeit koutmuierlieh siiul). Die Dynamik er- 
fordert ferner die Einfiihrung de,r Kausalbeziehung in einer 
ganz allgemeinen Form, als eine Beziehung, vermoge dereu. 
wenn zwei ,KonfigTirationen.' (Bewegungsbestimmtheiten) zu 
zwei Zeitpunkten gegeben sind, die Konliguratiun zu einer 
anderen Zeit bestimmt ist, also eine besondere (.mehr-eindeu- 
tige') Beziehung zwischen irgend zwei Konfiguratioiieu von 
Raumpunkten und ihren Zeiten und einer dritten Zeit als 
e in em Beziehungsglied (.Referent') und der Konfiguration 
zur dritten Zeit als and e rem Beziehungsglied (.Relatum'); 
.die S p e z i f i k a t i o n dieser Beziehung erfordert fiir eine anf 
die Erfalinmgswirklichkeit anwendbare Dynamik den BegritT 
der Masse' (p. 481) als ernes .kons tauten Koeffizienten' (p. 48:1). 
AuBerdem musscn noch die Bewegungsgesetze eingefiihrt ver- 
den als BeziehungsgesetzmiiBigkeiten zwischen den Beziehuu- 
gen. die in den Axiomcn 1. bis 4. ausgesprochen sind. Russell 
hat in dieser Weise alle logisehen Bedingungen fiir ein ideelles. 
hypothetisch-dednktives System der jUechanik in allgemein- 
logisehen Begriffen axiomatisch formuliert. 
Die Grundformen der wissenscliaftlicben Metlioden. 1 15 
Dafi sich dieses ideelle System von seiner Beziehung auf 
die Erfahrung vollstandig ablosen und fur sich ailein selbstan- 
dig, ganz «o wie die Mathematik, behandeln liifit, das wird 
schlagend dadurch erwiesen, dafi auch eine Mechanik auf 
Grund durchaus irrealer Voraiissetzuugen entwickelt wor- 
den ist, eine nielrt-newtonsche Mechanik so wie die nicht-eukli- 
dische Geometric. Es lafit sich z. B. die Zeit a-ls eine vierte 
Variable betrachten, welche nicht blofi — wie in Wirklichkeit 
— stets wachsen mufi, sondern auch negafiv (in der Mechanik 
umkehrbarer Prozesse) oder gar imaginar werden kann 57 
(S. 30, Anm. 60 b). Das sind ebensowenig miifiige Spekula- 
tionen wie die nicht-euklidischen Geometrien. Ihre Bedeutung 
und ihr Went liegt darin, dafi sie die Einsicht in den inneren 
notwendigen Zusammenhang und in die erforderlichen beson- 
deren Bcdingungen geben; er liegt eben in dem, was die wesen- 
hafte Erkennt nisi ei stung eines deduktiven Systems ausmacht. 
In diesen Gestaltungen der Mechanik liegt der zweifel- 
lose Bewels dafur, dafi in ihrem System ganz dieselbe Wissen- 
schaftsform wie in den Systemen der Mathematik vorlieg't: das 
ideelle, hypothetisch-deduktive System. Denn in dieser rein 
ideellen Mechanik tritt nicht eine ganz neue Behandlungsweise 
der Mechanik auf, sondern es ist nur das theoretisehe System 
der gewohnlichen Mechanik, aber eben fur sic-h ailein, ohne 
Bezielmng auf die Wirklichkeit. 
III. Das ideelle bypothetiscb-deduktive System in 
anderen Wissenschaften. 
1. In der Pkysik. 
Damit habe icli eingehend gezeigt, dafi der Wissen- 
schaftscharakter der Mathematik audi einer Real wissen- 
schaft wie der Mechanik zukommen kann. Sie ist aber nicht 
die einzige derartige Wissenscliaft; auch die theoretisehe Phy- 
sik weist ihn auf — wenn auch noch lange nicht in einer so 
durchgebildeten Form wie die Mechanik. Auch die theoretisehe 
Physik 'Strebt ein System an, das von axlomatischen An- 
nahmen, in denen die Grundbegriffe und -Bezichungen einge- 
fiihrt werden. ausgeht und daraus deduktiv die Gestaltungen 
fiir besondere Bedingungeni ableitet. Auch der Oharakter des 
8* 
116 V. Kraft. 
1 d e a 1 e n lit lit sich fur das theoretische System in der Physik 
imschwer nachweisen. Hire Eutwicklungen behandeln immer 
nur ideale Falle, Verbal tnlsse un-ter vereinfachten. ausge- 
wahlten Bedingungen, die doshalb mit der empirischen Wirk- 
lichkeit immer nur nahezu iibereinstimmen. ,Wir sind vollig 
unfahig, irgendeine physikalische Frage mitt els der einzigvoll- 
kommenen Methode. namlich durch Betrachtung der Umsteinde, 
welch e fur die Bewegung jedes einzehien Teiles jedes in Rede 
stehenden Korpers von Einflufi sind. exakt und vollstandig zu 
losen.' ,Doch kann man fast jedes Problem der gewohnlichen 
Teile der Physik leieht approximativ durch Einf tinning 
einer Art von abstrakter oder vielmehr gegen eine Grenze hin 
verschobener Annahmen losen' |U (V. Kap., Einleitung, § 444, 
§ 438 % 7. u. 9. Kap., vgl. audi Wundt, Logik, IT, 3, S. 399). 
In dieser Art eines idealen deduktiven Systems wird die 
■theoreti'sche Physik z. B. in den Vorlesungen iiber theoretische 
Physik von Helmholtz, 1897, dargestellt oder in Poincares 
.Oours de physique mathcmatique', 1889. Wenn auch noch 
nicht die ganze Physik in einem einheitlichen, geschlossenen 
System aufgebaut werden kann, so gibt es doch emzelne Ge- 
biete derselben. fiir die dies der Fall ist, so die Elektrodyna- 
mik. die Thermodynamik, die Gastheorie; Hilbert hat bereifcs 
die Gastheorie und die elementare Strahlungstheorie, d. i. den- 
jcnigeti .phanomcnologischen Teil der Strahlungstheorie, der 
unmittelbar auf den Begriffen der Emission und Absorption 
beruht', streng axiomatiseh zu entwickeln versucht. 09 Und er 
hat auch ausdriicklich erklart. dafi ,iiberhaupt die Moglichkeit 
naheriickt, dafi aus der Physik im Prinzip eine Wissenschaft 
von der Art der Geometrie wird'. 70 Das stellt wohl die prinzi- 
pielle Gleichartigkeit des Systems der theoretischen Physik 
mit dem mathematischen System ins scharfste Licht. 
2. In der Volliswirtschaftslehre. 
Es ist aber keineswegs — wie man auf Grand der Mocha- 
nik und der theoretischen Physik glauben konnte — der 
mat h ematische Gehalt. eben der Einschlag von Mathe- 
matik, wodurcli auch in anderen Wissenschaften ein ideelles 
deduktives System enthalten ist, so dafi es dann doch nur 
immer die Mathematik allein ware, welche diesen Charakter 
1 Jie <.! ru ud formeii der wissenscJiuftliebeu Jletlioden. Hi 
triigt. Es ist vielmehr cine cigene Art des Verfahrens, cine 
mcthodische Form, welche das Meritorische einer Wissenschaft 
selbst boti'ifft. Nicht die Eint'iihrung von llathematik. sondern 
die Einfiihrung id ealisie r te r Bedingungen mid die 
Deduktion daraus ergibt ein solches ideelles deduktives 
System. Es liegt uberall vor. wo cine dcduktive Theorie 
aufgestellt wird. Das zeigt sich deutlich in den Fallen, wo 
Wissenschaft en in der Wcise einer Theorie vorgehen, bei denen 
das Mathematische nur eine unwesentliche oder gar keino 
Rolle spielt. 
In der Volkswirtschaftslehre herrscht seit mehr als einer 
Generation ein Streit urn die Jiethode und dahinter ura das 
Erkenntnisziel und den ganzen crkenntnistheoretischen Cha- 
rakter dieser Wissenschaft. Die kl assise he Richtung der 
Volkswirtschaftslehre, die ihrer Begriinder (Quesnay, Smith, 
Ricardo) und deren Schiller, hatte keine einheitliche Behand- 
lung ihres Wissensgebietes. Sie ging teils induktiv vor, teils 
aber auch (insbesondere Ricardo) konstruktiv. Gcgen ihre 
Art erhob sich im Gefolge der historischen Rcchtsschule (Sa- 
vignys u. a.) eine h i s t o r i s c h e Richtung auch in der Volks- 
wirtschaftslehre (Roscher, Knies. Hildebrand um die Mifcte 
des 19. JahrhundSrts, spater, gegen Ende des Jahrhunderts, 
Schmoller, Brentano. Knapp u. a.). Sie st elite diese Wissen- 
schalt mehr oder weniger konsequcnt auf eine historische und 
statistisehe Erforschung der Wirtschaft ein, auf die tatsach- 
liche Feststellung ihrer Entwicklung und ihres gegenwartigen 
Zustandes. aber auch auf eine Feststellung ihrer Entwick- 
lungsgesetze (oder -Typen). Dieser historischen Schule trat 
aber nun wieder C. llenger. der Begriinder der osterreiehi- 
schen Schule. entgegen (in seinen Untersuchungen iiber die 
Methode der Sozialwissenschaften und der polrtischen Okono- 
mie insbesondere, 1883) und forderte eine ,exakte : . strong 
theoretische Behandlung der Volkswirtschaftslehre. 
In seiner methodisclien Untersuchung, die vou vorbild- 
licher Klarheit ist. schied er lange vor Windelhands bonihm- 
ter StraGburger Rede iiber ,Oeschiehte und Naturwissenschaft : , 
1894. an die dann Rickerts Oegenuberstellung von natur- 
wissenschaftlicher und gesehichtlicher Bcgriffsbildung erst an- 
kniipfte, scharf und prinzipiell zwischen der Ge*chichte als 
118 V. K r;i ft 
einer auf das Indi viduell e gerichteten Wissenschaft und 
den auf das Generelle gerichteten, den ,theoretischcn' Wis- 
senschaften (a. a. 0., S. 3f.). Auf dem (iblicheu Gebiete der 
Volkswirtschaftslehre hat man drei verschiedene Gesichts- 
punkte der Forschung zu unterscheiden: den historischen, den 
eigentiich theoretischen und den pra litis c hen (S. 7). Der histo- 
rische Gesichtspunkt richtet sich auf die einzelnen konkreten 
Erscheinungen der Volkswirtschaft in Vergangenheit und 
Gegenwart und auf ihren individuellen Zusammenhang in 
Raum und Zeit. Der theoretische Gesichtspunkt richtet sich 
dagegen auf die im Wechsel der einzelnen Erscheinungen 
wiederkehrenden .Erscheinungsformen', auf das generelle 
Wesen und die generellen Zusammenhange, die Gesetz- 
maBigkeiten. Der praktische Gesichtspunkt gelit hingegen 
nich-t 'auf das, was ist, sondcrn was sein soil, auf die Grund- 
satze fur das zweckmaSige Handeln, wenn bestimmte mensch- 
liche Zwecke erreicht werden sollen. Daher ist die Geschichte 
(und die Statistik) der Volkswirtschaft und ebenso die Volks- 
wirtschaftspolitik und die Finanzwirtschaft etwas durchaus 
anderes als eine theoretische Volkswirtschaftslehre. 
Das Ziel einer solchen: Erkenntnis der generellen volks- 
wirtschaftlichen Erscheinungsformen, lafit sich aber auf zwei 
Wegen erreichen: einerseits indeni man, von der ,vollen empi- 
rischen Wirklichkeit' atisgehend, darin die typischen Erschei- 
nungsformen aufsucht. in denen sich die Erscheinungen er- 
fahmngsgemaB wiederholen, und die faktischen RegelmaBig- 
keiten in der Koexistenz und Aufeinanderfolge der realen Er- 
scheinungen feststellt. Das ist der ,realistisch-empiriische' 
Weg, der aber immer nur zu bloB ungefahren, nicht zu stren- 
gen Typen und zu nicht ausnahmslosen Regelmafiigkeiten 
fiihren kann, weil ,kaum jemals zwei konkrete Phanomene, 
geschweige denn eine groBere Gruppe von solchen eine durch- 
gangige Ubereinstimmung aufweisen' (a. a. 0., S. 34, 35). 
Strenge Typen und exakte, ausnahmslose Gesetze lassen sich 
nur auf einem anderen Wege gewiuuen. Man muB die e i n- 
fachsten Elemente der Wirklichkeit aufsuehen. in .einer 
nur zum Teil empirisch-realistischen Analyse, d. i. ohne Riick- 
sicht darauf, «b dieselben in der Wirklichkeit als selbstan- 
dige Erscheinungen vorhanden, ja selbst ohne Riicksicht 
Dio (iniiult'oriiK'n dt'r wi^Mciiscliiiftlidieu Jlethoilcu. 1 19 
darauf, oh sic in ihrer vollen Kcinheit iiberhaupt selbstlindig 
darstellbar sind'. Kur so gelangt man ,7.11 qualitativ atreng 
typischen Erschchmngsformen' (S. 41). Man hat nicht die 
KegelmaGigkeiten in der Aufeinanderfolge usf. der realen 
Phanomene 1 zn untersuchen, sonde rn .vielmehr, wie aus den 
vorhin erwabnten. den einfachsten. zum Teile geradezu 
unemp iri s die n Elemonten der realen Welt in ihrer 
(g 1 e i c ■ h f a 1 1 s ime m p iris c h e n) Isolierung von alien 
sonstig'en Einfliissen sich kompliziertere Phanomene ent- 
wiekeln, mit steter BcrueksicMigung des exakten (g lei eh fails 
idealen!) MaBes' (S. 41, 42). Demnach ist die Aufgabe der 
theoretischen Volkswirtscbaftslebre .die Erforschung der ur- 
sprunglichstcu, der elementarsten Faktoren der menschliehen 
Wirtschaft, die Feststellung des MaBes der beziiglichen Phano- 
mene und die Erforschung der Gesetze, nach welchen kompli- 
ziertere Erscheinungsformen der menschliehen Wirtschaft sich 
aus jencn einfachsten Elementen entwickeln' (S. 45). Eine 
solehe Wissenschaft kann 1111s mtturgemaB nicht die voile 
empirische Wirklichkeit der menschliehen Wirtschaft, sondern 
nur eine besondere Seite oder Komponente derselben ver- 
stehen lehren und pie darf .deshalb aueh vernihrftigerweise 
nicht unter dem Oesichtspunkte des einseitigen empirischen 
Kealismu'S beurteilt werden' (S. 42, 43). 
Die 'theoretic-he Volkswirtschaftslehre, wie sie Menger 
da besehreibt, entspricht offenkundig genau dem Wissen- 
schaftstypus der Tlieorie, wie er vorhin aufgestellt worden 1st. 
Das Merkmal. das an dieser Volkswirtschaftslehre vor allem 
in die Augeu fallt und das aueh am ersten Widerspruch erregt 
hat. ist die Abstraction. Sie betracbtet abstrakfc isolierte und 
damit idcale. kirns tlic he Oebilde und Verhaltnisse: den ledig- 
lieh nach seinem Interesse haudeludeii .homo oeconomicus', 
vereinfacbte Verhaltnisse des Angebotes und der Nachfrage 
usw. Indem sie die Wirtschaft in eleinentare Bestandteile zu 
zerlegen und deren elementare Beziehungen aufzu&tellen be- 
miiht 1st, gibt sie eine Konst rukt i on von Gesetz- 
m a B i g k e i t s k m p n c n t e n fiir die tatsaehliche Wirt- 
schaft — ganz so wie die mechanische Tlieorie fiir die tat- 
sachliche Bewegung. Und von diesen vereinfachten Bedingun- 
gen aus sueht sie die wesenhaften (nicht die konkreten) Er- 
120 V. Kraft. 
sehchiiingen der AVirtschai't durch Seiilufifolgerungen herzu- 
leiten mid sie dadurch in ihrer gesetzmaBigen Bedingtheit und 
damit Notwendigkeit mid damit wieder in iliver strengen. un- 
bedingten Allgemeingtiltigkeit fiir jede Wirtsehaft beliebigei' 
Entwieklungsstufe der Vergangenheit wie der Gegen wart 
(a. a. 0. S. 40) zu erfassen. AIL das sind die typischen Merk- 
male ernes idealen deduktiven Systems, einer Theorie. 
Indera man den erkenntnistheoretischen Chai'akter einer 
solehen Volkswirtschaftslchre als den einer Theoric erkanut. 
ergeben sich daraus aber sogleich bestimmte Konsetjucnzen 
fiir sie. Erganzungen und Richtigstellungen des von ibr ent- 
worfenen Bildes. Die vereinfachten Bedingnngen des Wirt- 
schaftslebens. von denen sie ausgebt, konnen bloB als An- 
nahmen eingefiihrt werden, nielii mit dem Ansprucb, festge- 
stellte Grundtatsachen des Wirtsehaft slebens zu sein. Es sind 
rein gedankliche Setzungen isolierender Abstraktion, keine 
Siitze tiber die Erfahrungswirkliehkeit. D&s ist besonders von 
der Kritik oft verkannt wordeti. z. B. von Ingram 71 (S. 150 
bis 172) gegen Ricardo, von Gide und Rist 73 (S. 618) gegen 
die .hedonistische' Schulej, und alle die Einwa'nde, namentlich 
des His'tofismus. gegen die I r r e a I i t ii t der Yoraussetzungeu, 
welche eine theoretische Volkswirtschaftlehre zugrunde legt, 
werden damit hinfallig. Auch die volkswirtschaftliche Thcorie 
stellt ein by p o t h e t i s eh -deduktives System dav. Daher 
liang't aber die G e 1 1 u n g dieses Systems von der Bestlitigung 
durch die Erfahrung ab. Diese ganze Konstruktion wirtsehaft- 
licher GesetzmiiBigkeiten niufi erst noch in ihren Ergebnissen 
am tatsachlichen Wirtschaftsleben gepriift werden und erst 
durch die entsprechend festgestellte Uberemstimmung da- 
mit erhalt sie ihre Gultigkeit. In diesem Punktc ist Monger 
nicht zu voller Klarheit gekomnieit. Dcnn er erklaxt uicht nur 
(S. 41). daB die .Ergebnisse der theoretisehen Forachuug' 
-nicht an der vollen empiriscln-'n Wivklichkcit gepriift werden 
diirfeiv. sondern er macht auch nirgends den Versucb — und 
ebenso nicht die anderen Thcoretiker der Volkswirtschafts- 
lchre — . die Theorien nach Art der natunvissenschaftlichen 
an ausgewahlten, besonders giinstigen Fallen der Erfahrung 
zu verifizieren. ilit dem Charakter der Theorie ist aber auch 
klar, daB die Zerlegung der Yolkswirtsehaft in element-are 
Die (!rutidf<inin'ii di:r wissensctiaUlicheii Mothodeii . 1J1 
Faktoren und da rum die Aufstellung der vereinfachten, idea- 
len Bedingungen fin- die Deduktiun nur moglioh wird auf, 
Grund einer vorausgehenden Analyse und induktiven Erfor- 
aehung der tatsachlichen Wirtsehaftsersdiehiungen. 
Es ist also unzweifelhaft eine T li e o r i e des Wirtschafts- 
lebens (eigentlich speziell der Volkswirtschaft), um die es sich 
da handelt. Die h i s t o r i s c h e Richtung der Volkswirtschafts- 
lehre bestreitet zwar die Moglichkeit mid Berec.htigung einer 
solchen wissensehaftlichen Behandlung der WirtsehaFt. denn 
sic bestrehet — wenigstens in ihren radikalen und prinzi- 
piellen Vertretern (Schmoller) — die Moglichkeit absolut all- 
gemeingiiltiger Gesetzmafiigkeiten, d. i. iiberall und allezeit 
gleichfonniger Abhiingjgkeiten im Wirtschaftsleben; sie sieht 
darin immer nur eine indiv idu ell e, unvergleiehbare Man- 
nigfaltigkcit und darumlediglieh li i si o risch c sObjekt, Aber 
die Historiker der Wirtschaft sind selbst inkonsequent ge- 
worden. Sie haben doch auch eine Klassifikation der 
festgestellten Wirbschaftatatsachen gegeben und typischc Ent- 
wicklungsstufen aufgestellt. Man will und kann auf Erkennt- 
nis von Allgemeinem eben auch in der Volkswirtscbaiitslehre 
mcht verzichten. 
Allgemeine .Erschehmngsformen' des Wirtschaftslebens 
lasseu sich auf zwei Wegen erkennen: auf dem der Induktion, 
des empirischen Nachweises der Allgemeinheit als Tatsachen- 
bcziehung, und auf dem der Theorie. Der Wcg der Theorie ist 
bereit.s vielfach be'.schritten word en. fast so lange sohnn. als die 
Volkswirtschaftslehre besteht. Solum Ricardo hat seine Grund- 
gesetzc der WirtsehaFt, die der Gnuidrente, des Lohnes. der 
Verteilung, auf Grund abstrakter Konstruktionen entwickelt. 
.Er bewegt sich in einer Welt von Abstraktionen. Von mehr 
oder weniger willkurlichen Voranssetzungen ausgehend, leitet 
or deduktiv von diesen seine Folgenmgen ab ( 71 (ft. 156). Er 
arbeitei mit den idoalcn Begriffen eines .na t ii rl i c hen' 
Preiscs. Arbeitslohnes. Gewinnes gegeniibcr don schwankenden 
wirklichen Preisen. Lohncn, Gewinnen. Ricardos Methode ist. 
ihrer Tendenz nach. wenn auch nicht klar duivbgcfiihrt. die 
der Theorie. Hire Incite und griiiulsatzliche Verwpndung hat 
diesi 1 aber gevade in der modernon Volkswirtscliaftslehre er- 
fahren. .Gerade in dont Augenblick. als die Lehren der histo- 
122 V. Kr.t'f. 
rischen Schule im Zenith standon, gegen 1872 — 1874, bean- 
spruchten mehrere hervorragende Volkswirtschaftler gleich- 
zeitig in Ostcrreich, in England, in der Schweiz und in Ame- 
rika mit Nachdruck fur die National ok onomie das Recht, sich 
als exakte Wissenschaft aufzubauen oder, wie sie sagten, roine 
Okonomik zn isein' 72 (S. 558). 
Das Wesentliche diescr .neoklassischen' Sclmle liegt da- 
rin. daB sie das Wirtschaftsleben nicht in seiner vollen empi- 
rischen Tatsaehlichkeit betrachtet, nach all den konkreten 
Vorgiiugen und mannigfaltigen Erscheinungen und mit all den 
Mativen, die darin wirksam siud, so wie die historische Schule 
es will, sondern nur unter dem Gesichtspunkt einer Abst rak- 
tion : der Wirtschaftlichkeit des lediglich nach dem Prinzip 
der Okonomie wirtschaftenden Menschen. Sie leugnet nicht. 
daB das menschliehe Handeln und damit das Wirtsehaften 
audi von 'anderen Motiven bestimmt wird; aber sie iiberlafit 
es den anderen. den soziologischen und den historischen Wis- 
senschaften, sie zu studieren. ,Die Menschen werden nur noch 
als Kriiftc betrachtet. die durch Pfeile wie in den Zeichnungen 
eines Lehrlmches der Mcehanik dargestellt werden. Es handelt 
sich darum, nachzuweisen. was sich aus iliren Beziehungen 
untereinander oder ihren Ruckwirkungen auf die Umwelt er- 
gibt' 72 (S. 589). Als das Prinzip der GesetzmaBigkeit, welch e 
diese Beziehungen behcrrscht, stellt die osterreiehische Schule 
(0. Menger, Sax, Wiener. Bohm-Bawcrk u. a.), die heute auch 
in Amerika zalilreiche Anhangcr hat. das psychologische Prin- 
zip des ,Grenznutzens' auf; die .mathematische' Schide hin- 
gegen (vor allem Stanley Jevons und Walras), heute in alien 
Landern mit Ausnahme von Frankreich vertreten, sieht es 
in dem Prinzip des wirtschaftliehen Gleichgcwichtes. Jn 
Suinma fiihrt die neuc Schule die gauze AVirtschaftswisseu- 
schaft auf cine Mcehanik des Tausches zuriick und glaubt sich 
hierzu urn so mehr berechtigt, als das hedonistische Prinzip, 
«das Maximum an Befriedigung mit dem Minimum an Anstren- 
gung zu erreichen», nur ein Prinzip der reinen Mechanik ist* 72 
(S. GOO). Die math emati s die FormuHerung 1st dabei aber 
nicht wesentlich: sie wird nur dort erfordcrt, wo es sich urn 
quantitative Beziehungen handelt. Aber sie 1st es keines- 
wegs, welche die Form der Theorie mit sich bringt — wie 
Die (i rnml for mou dor wissousoliii ft lichen Motliodcn. 12o 
ja aueh die osterreichische Schalc bei ihrer volkswirtsdiaft- 
lichcn Theorie von ihr ganz absielit. Aus angenommcnen Be- 
dingungen werden die Folgerangen gezogen und so die wirt- 
sclniftlichen Gesetze des Tausches, der Preisbildung, des Loh- 
nes usw. entwickelt. So geht C. Menger in seinen .Grund- 
siitzen der Volkswintscliaftslehre', 1871, vor und ebenso Wal- 
ras z. B. in seiner .Mathematischen Theorie der Preisbestim- 
mung der wirtsebaftlichen Giiter', 1881, u. a. Sobald Menger 
in den ersten drei Kapitclu die grundlegenden Begriffsbildun- 
gen vollzogen hat. geht er. urn die Gesetze der Tauschbezieh- 
hung, der Preisbildung usw, zu bestimmen, von idealen Fallen, 
von vereinfachten Bedingungen aus — er beginnt immer 
wieder: .Setzen wir den Fall . . .' (8. 153, 154, 155, 157, 1G0, 
162. lf>3 usf.I) — ■ und erschlieBt daraus das fur die wirt- 
schaftlichen Beziehungen Bestimmende. Dasselbe Verfahren, 
nur in mathematischer Weise prazisiert, treffen wir bei Walras 
an. Nachdem er die GrundbegrifTe des Tausches. des Marktes, 
der Konkurrenz usw. defmitorisch eingefiihrt hat. deduziert er 
aus klar ubersehbaren Bedingungen das Gesetz der Preis- 
bildung usw. — ■ unter Zugrundelegung des Prinzips, daB ftich 
bei freier Konkurrenz von selbst da^ wirtschaftliche Gleich- 
gewicht (von Angebot und Nachfrage usw.) herstellt, und unter 
der Voraussetzung — ebenso wie bei Menger — gewisser psy- 
ehologischer Gesetzmafiigkeit des menschliehen Handelns. 
Diese gauze Art, Yolkswirtsehaftslehre zu treiben, be- 
deutet also cine deduktive Theorie auf Grand abstrakter Kon- 
struktion der elementaren Bedingungen des Wirtschaftens. 
Nur der hochst. wichtige Endalfcsclmitt in der Theoriebildmig: 
die Prufung der decluktdven Ergebnisse an konkreten Fallon 
der Erfahrung fehlt hier. [Tnd diespr Mangel der empirischen 
Geltungslegitimierung ist wohl der Grand fiir den Widerstand 
gegen diese Art der Vollvswirtschaftslchre und fiir den Ein- 
wand der Wirkliehkeitsfremdheit und der Willkiirlichkcit 
gegen sie b usher gowesen. 
8. Ansatzc In der Geomorphologie und Soziologie. 
Eat, man einmal die YVisscnschafWorni der Theorie in 
ihrer Eigenart erkainit. so putdec-kt man sie auoh dort. wo sie 
ers-t ansatzweise auftritt und wo man sie gar nicht erwarten 
124 V. Kraft. 
wiirde. So z. B. in tier Go omorphol ogie. Die Grund- 
begriff e fur die erklarende Besehreibung der Landschaften 
werden you YV. M. Davis in der Weise entwickelt, daB er von 
einer .Ur-Landoberflache' ausgeht, welche durch cleu friseh- 
gehobenen Meeresboden gebildet wird. Dureh die Erosion, 
die nacli empirisch bekannten Gesetzen wirkt, werden die ur- 
spriinglichen Formen derselben tiber eine Folge von Zwischcn- 
formen verschiedener Stadien (junge, reife, alte) in Endformen 
iihergefiihrt 74 (Kap. V d. deutsehen Ausg.). Dieser .schcma- 
iische Begriff der ErO'sionszyklen und ilirer Entwickhmgs- 
stadien entbalt. mehr als eine blofie Systematik morpholo- 
gischer Typen; denn er stellt nicht einfach empirische Gattun- 
gen der Oberflachenformen, die sich induktiv crgeben, zusam- 
men. sondern in ihm wird deutlich cine deduktive Ableitung 
tier mtiglichen und notwendigen Formen aus einfachen Bedin- 
gungen versucht. Und diese Ausgangsvoraussetzungen sind 
ideale: .wir stellen uns vor, dafi Meeresgrund rasch gehoben 
wird . . .' (S. 81). Von ihnen aus- werden deduktiv ,Ideal- 
formen' (S. 88) abgeleitet; ihre Entsprechungen in der Wirk- 
liclikeit sind dann aufzusuchen und durcli sie zu besclireiben. 
So unvollkommen diese .evklitreude Jlcthode der Beliandlung 
der Fonnen des Landes' (S. $8) auch ein ideelles hypothetisch- 
deduktives System vors'tellt, es ist dock mchts anderes als 
ein solches, das damit eigentlich erstrebt wird — was bei der 
Kritik 74 diesei - Method e blshor verkannt worden is-t. 
So auch in der Sozio logic (oder riehtiger: in einem 
Programm der Soziologie), Die Art, in der Diirkhcim "' zur 
Aufstellug der soziologiscbeii Typen gelangen will, 1st deut- 
lich die einer deduktiven Tbcorie, wenn auch in den erst.cn 
Ansiitzen. Er will ausgehen von der Definition der .einfachen 
GesellschafV. mit der die soziale Entwicklung beginnt. .Unter 
einer einfachen GesellschaH inuli jede GeselUehaft verstanden 
werden, die keine anderen einfaeheren cinsehliefit' (S. 111). 
Dieser Forderung enfcspricht nach ihm die Horde odcr der 
Clan, ,1st diese r Begriff der Horde oder der monosegmen- 
taren tiesellschaft einmal aufgestellt, sei es als historisr.he 
Kealitiit oder als Poslulat dev Wissenschaff |!|. so ist der not- 
wendige StiUzpunkt gegeben und die vollstiindigc Stufenleitcr 
der sozialen Typen zu konstvuieren [!]. Man wird so viele 
Die Grundformen der wissensehaftlichea Methoden. 125 
Grundtypen unteracheiden, als Kombinationsmoglichkeiten der 
Hordeu uutereinander und der durch deren Verbindung erit- 
standenen Gesellseliaften vorhanden sind.' So kommt man 
zu ,einfacheii' und .zusammengesetzten' polysegmentaren Ge- 
sellschaften, fiir die man tlann die entsprechenden .Beispiele" 
(S. 112) — eigentlich Bestatigungen — ■ in der Wirklichkeit 
aufzusuchen liat. Die charakteristischen Eigenschaften einer 
ideellen hvpothetisch-deduktiven Theorie sind auch da dent- 
lioli vorhanden: der idalc und konstruktive Charakter, die 
deduktive Ableitung und die nachfolgende empirische Veri- 
fikation. Dabei sieht man aber aus den Erf'ordemissen einer 
Theorie heraus nun sogleich, dafi, wenn man die sozialen 
Aggregatformen aus einem zugrunde gelegten .elementaren so- 
zialen Aggregat' (S. Ill) ableiten will, die dafiir unentbehr- 
liche Angabe der V e r b i n d u n g s g e s e t z ra a fi i g k e i t 
dieser Aggregate uutereinander fehlt. Mag das Ganze auch ein 
Programm sein und noch dazu eines, dessen vorlaniige Un- 
aust'iihrbarkeit offenbar ist; ja mag man das voreilige Dedti- 
zieren ohne hinreiehende Erforsehung der Tatsachen unter die 
Kinderkrankheiten einer werdenden Wissenschaft rechnen — 
es zeigi, doeh gerade, wie tief das Bediirfnis nach Einsieht in 
den inneren Zusammenhang und eben deshalb nach einem 
deduktiven System gegeniiber blofier empirischer Aufsamm- 
lung in der Wissenschaft iibprhaupt wurzelt. 
IV. Die Wisseuschaftsform der Theorie. 
Damit ist wold hinreichend gezeigt. dafi der eigcn- 
tiimliche Wissenschaftstypus des ideellen hypothetisch-deduk- 
tiven Systems nicht lediglich der Matheraatik zukommt? 
sondern auch anderen Wissenschafteii, in erster Linie der 
.Uechanik. also einer R e a 1 wissenschaft, aber auch anderen 
Realwissenschaften. wenn auch nicht in ihrer Ganze, so doch 
teihveise. Damit ist diese YVissensehaf'tsform als cine all- 
gem eine erwiesen; sie ist nicht IjloB die spezifiseh mathe- 
maiische. sondern diese ist nur ein spezieller Fall einer ganz 
allgemeinen Wissenschaftsform. Cud diese nllgemeine Wissen- 
schaftsform, in der sonst das ideelle hypot-hetiseh-deduktive 
System vorliegt. ist die Theorie. 
126 V. Kraft. 
Das logische Wesen eiiier Theorie besteht darin, dafi 
von klar ausgesprochenen Grundannahmen ausgegangen winb 
daraus mit logischer Strcnge dureh Einfuhrung spezieller lie- 
dingungen Folgerungen abgeleitet werden und diesc darauf 
mit der Erfahrung verglichen und so an ihr vcrifiziert werden. 
Die empirische Verifikation bildet aber ehien eigenen und 
andersartigen Abschnitt. Sie experimentiert, beobaclitet und 
vergleicht die deduktiven Ergebnisse mit der Beobachtung. 
Sie fiihrt daunt oinen neuen. andereu Geltungsgrund ein: 
Erfahrung, wiihrend die eigentliehe Theorie hinsichtlich ihrev 
Geltung von der Erfahrung vollstandig unabhangig bleibt mid 
lediglich auf der logischen Stringenz beruh.t. Die Verifikation 
kiipft nur an die speziellen Folgerungsergebnisse, an die 
..Randwerte" einer Theorie an. Das eigentliehe deduktive 
Refuge der Theorien liiftt sieh daher von der VeriflkatioiL 
ohneweiters losliisen und fiir sieh betrachten.Dann bestelit sie 
in einem ideellen hypothetic eh- deduktiven System genau so, 
wie das der Mathematik es ist. 
Denn fiir eine Theorie ist der deduktive Charakter 
wesentlich; sie ist ein System von Folgerungen und a Is solches 
ganz unabhangig von der Erfahrung. Eine Theorie ist immer 
auch ein h y po th etis eb -deduktives System, denn die 
Deduktionsgrundlagen, von denen aus sie folgert, sind nicht 
— wie an der Meehauik ausfiihrlich gezeigt wurde — Erfah- 
rungssatze in dem Sinn, dafi sie Erfahrungstatsachen konsta- 
tieren, sonde rn frei gewahlte Annahmen. (Cber ihr Verbal tnis 
znr Erfahrung siehe spiiter S. 158 f.) Und diese Grundannahmen 
sind immer idea le, d. i. solche, welche sieh mit den crfah- 
rungsgegebenen Verhaltnissen der Wirkliehkeit nicht voll- 
standig decken. sondern a u s g e w a h 1 t e. v e r e i n f a c h t e 
bJedingungcn hinstellen. Eine Theorie weist somit alle die 
wesen tliehen Eigenschaften eines hypothetiseh-deduktiven 
Systems auf. In der Form der Theorie eines groBeren oder 
kleineren Gegenstandsgebietes stellt dieses also eine ganz all- 
gemeine Art von Wissenschaftsgestaltung dar. 
Sie bedeutet einen ganz andersartigen Aufbau der 
Wissenschaft, als in den nichttheoretischen FMahrungs- 
wissenscliaften. Die Grundbegriffe und Grundbczieliuugen 
sind nicht erst induktiv zu erarbeiten. sondern sie werden als 
Die Gnmdformen der wissenschaftlichen Methodea. 127 
freigewablte Annahmen cingefiihrt und klar und ubersiehtlich 
an den Anfang gestellt. Auf Grund dessen kann man dann 
ganz selbatandig vorgehen und dureh Einftihrung besonderer 
Kombi nation en der Elemente selbst die Bedingungen der zu 
ermi'tteluden Yerhiiltuisse festlegen und genau bestimmen. 
Das iat die grundsiltzliche Art wisseuschaiJtlichen AuEbaues in 
oiner Theorie. 
Das erste Erfordernis dafiir ist demnach. dafi man die 
Elemente und ihre VerknupfungsgesetzmaBigkeit vollstandig 
und genau anzug*eben vermag. Nur wo das der Fall ist, wird 
eine Theorie mdglich. Dabei ist es aber bis zu einem gewissen 
Grade beliebig, welcbe man als die letzten undefinier- 
baren Begriffe und unbeweisbaren Satze gelten lassen will. 
Sie sind niclit immer eindeutig bestimmt, sondern auswechsel- 
bar. Sie werden ausgesprochen in einem System von Axiomen. 
In den deduktiven Ableitungeu innerhalb der Theorie 
werden die Grundbegriffe aber immer nur als Glieder der 
Bcziehungen verwendet, wclche als die Grundbeziehungen auf- 
gestellt worden sind. Eine liber das Formale hinausgehende 
inhaltliche Bestimmtheit der Grundbegriffe ist daher logiscb 
nicht erforderlich und, falls vorhanden, logisch iibersehiissig. 
Eine Theorie ist logisch eben nielits als ein deduktives Be- 
ziehungssystem. Ihre unmk'telbare Gliltigkei.t bet riff t immer 
nur Beziehungen. 
Daher sind die in den Grundbegriffen eingefuhvten 
Elemente fiir die Theorie dadurch binreichend bestimmt, eben 
Glieder dicser Beziehungen zu seiu. Dureh die Gnmdbeziehun- 
gen werden zugleicli die Grundbegriffe in einer fiir die Theorie 
ausreicbenden Weise festgelegt, wenn sie aueh ihren indivi- 
duellen inhaltlichen Eigenschaften nach dabei vollig unbe- 
stimmt bloiben. Sie werden zwar nicht ihrer maierialen Eigen- 
art nach explizit defimert, aber doeh eindeutig nmschrieben, 
implizit definiert. 715 Die Grundbeziehungen (z. B. .gleich' 
oder .zwischen') stellen aber selbst wieder etwas Undefmier- 
bares, Letztes dar. Auch sie konnen nicht direkt inhaltlich 
bestimnit, explizit definiert werden und diirfen auch nicht. ein- 
fach vorausgesetzt werden. Aber auch sie lassen si eh in einer 
hinreichenden Weise indirekt prazisieren — dureh dasjenige, 
was sie innerhalb der Theorie von einander imlerseheidef: 
128 V. Kraft. 
das ist das spezielle Verkniip f ungsgesetz fur eine 
solche Beziehung. "' Diese Verkniipfungsgesetze sind es darum 
eigentlich, welehe rein logiseh den Inhalt dor Axiome bilden. 
Die Axiome sind an und fiir sich, ohne Beziehung auf die 
empirische Verifikation, keine Urteile, die absolut wahr oder 
falsch wilren. sondern sie geben nichts als die logischen Vor- 
aussetzungen fiir das deduktive (axiomatische) System. Sie 
sind freie Annahmen, willkiirliche Setzungcn ohne Wahrheits- 
ansprucli. 
Das Axiomensystem einer Theorie mufi, urn logiseh voll- 
komnien zu sein, den beiden Forderungen geniigen: der Un- 
abhiingigkeit der einzelnen Axiome von einander ■ — ■ sonst 
liefien sich noch einige auf die anderen zuriickflihren — und 
ihrer Widerspruchslosigkeit — sonst liefien sicli keine ein- 
deutigen Folgerungen daraus ziehen. Solange man die Axiome 
fur absolut giiltig durch Selbstevidenz halt, muB die Wider- 
spruchslosigkeit ernes Axiom ensystems nicht erst bewiesen 
werden. So Frege 41 (S. 821): ,Die Axiome widersprechen 
einander nicht, da sie wahr sind. Das bedarf kernes Beweises.' 
Fin solcher wird daher aber sofort notwendig. so-bald sie nicht 
mehr durch Selbstevidenz gelten. Die Widerspruchslosigkeit 
eines Axiomensystem s lafit sich nur dadurch erweisen, daft 
man ihm Satze der Arithmetik .substituiert und dann in den 
Folgerungen daraus zu bewiesenen Oder beweisbaren Siitzen 
der Arithmetik gefuhrt wird 1X (S. 15. 10). Dazu audi -' 
(S. 82»). Die Widerspruchslosigkeit der Arithmetik selbst hat 
in letzter Zeit erst Hilbert 7S zu demonstrieren versucht. 
Aus den Axiomen als Pramissen werden die Folgerungen 
als rein formale Konsequenzen aus Substitutionen durch 
Identitaten gezogen 11 (S. 38), nicht auf Grund irgend kon- 
kreter, weitergehender inhaltlicher Bestimmtheit als sie in 
den Axiomen gegeben ist. Infolge dieses rein formalen Fol- 
gerungscharakters zusammen mit der materialen Unbestimmt- 
heit der Gnmdbegriffe wird es daher moglich, dafi eine Theorie 
auch mehrere inhaltliche Interpretation en zulafit. Denn 
die in den Axiomen geforderten Eigenschaften sind nur r e 1 a- 
t, ive. Eigenschaften von Gegenstandcn im Verhaltnis zu ein- 
ander. nicht absolute: und es kann daher sein. dafi mehrere 
Arten von Gegenstanden diese relativen Eigenschaften auf- 
I)i« f;nni<lforni<>]i d«>r wissoriscliiiftlidu'ii Methoden. 129 
weisen, d. i. in diesem gegenseitigen Verhiiltnis zu einander 
stehen imd da.mil den Bediugimgen der Axiome genugen. Eine 
sole he Theorio ist dann tiir mehrere Arten von Gegenstanden 
venvendbar. .So Bind beispielsweise die Gleichungen, welohe 
die Vorgange der Warmeleitung, respektive die der Fliissig- 
keitsstromung und die der Kraft e im elektrostatischen Felde 
bcherrsi'hen, in alien drei Fallen gleic-hlautend: es bedarf in- 
folgedessen nur einer pas.senden rbersetzimg* des In halts, 11111 
die Resultate der einen Theorie auf die Gegenstande der an- 
deren nnmittelbar zu ubertragen' " (S. 848). .Vollkommen 
axiomatisch hat z. B. Ohristoffel die C'hertragbarkeit der Dif- 
ferent ialgleichiingen der Warmeleitungstheorie auf die Theorie 
des Welthandels begriindet und diese Gleichungen so al>- 
geleitet, da 13 Hire Gfiltigkeit fiir beide Problem e nnmittelbar 
einleuchtet' IS (S. 115). Das axiomatische Yerfahren ist, wie 
sieh dami't zeigt. nicht bloB eine Met hod e der neueren Mathe- 
matik. sondern die der Theorie uberliaunt :iS (S. 406). 
Das sind die wesentlichen Eigeuschaften der allgemeinen 
Wissenscliaftsforiu des hypothetisch-deduktiven Systems odor 
der idealen Theorie. die sich uns ans der vergleichenden Be- 
trachtung konkreter Wissenschafteii ergeben haben. Das Spe- 
zifische dieser Wissenscbaftsform liegt darin. daB man den 
Boden der Erfahrung-swirkliehkeit verliifit und ideale Ver- 
haltnisse konstruiert, aus denen man seine Schlusse zieht. 
Warum man das tut. erklart und recbtfertigt sich aus dem. 
was man damit an Erkenntnis gewinnt. Man muB von verein- 
fachten. selbstgewahlten. idealen Yerhaltnissen ausgeben. um 
die Bedmgungen vollstandig zu kennen, weil nur dann eine 
deduktive Ableitung der speziellen Yerhaltnisse moglich wird. 
Indem man sie deduziei't. werden sie als Ergebnis einer ein- 
heitliehen GesetzmaBigkeit dargestellt. und damit als not- 
wendig — und nicht bloB tatsachlich — erkannt. Der Sinn und 
'Wert dieser Wissenschaftsform liegt in ihrer besonderen Er- 
kenntnisleistung. Sie allein gibt Einsicht in eine groBziigige 
GesetzmaBigkeit spezieller Verhaltnisse. Indem sie diese als 
Folgen einiger einfacher Grundbeziehungen erkennen laBt, gilit 
sio weit mehr, als was blofi empirische Feststellung und Gat- 
tung'sl)eg"rin"sbildung g'eben kann: Einsioht in den notwendigcu 
inneren Zusammenbang eines Gcgenstandsgebietes. Es ist also 
Sitzungsber. d. [jhii.-bist. XI. 2C3. lid. 3. Abh. tl 
130 V. K r;i!!. 
mehr als bloB pine okonomisch-asthetische Zusammenfa'ssung 
und Klassitikation induktiver Ocsetze (wie Duhem r,s . 2. Kap.) 
nnd keineswegs eineSaehe tier bloBen Darstellungsform; es is* 
nicht. .so. daB man induktive Ergebnisse nachher in eine syste- 
matirto.be deduktive Form briugt. sondern urn das zu k n n n c n. 
mnB man el was Neues leis'ten: die Konstruktion der 
Tatsaehen zu einer einheitliehen G e s e t z m :i R i gke i t. zu. 
einem in sioh geschlossenen System, 
V. Theorie und Erfakmngswirklichkeit. 
1. Die Auwemluna der Matliematik. 
Eine vergleiebende Betra.oh.tung der Wissensehaften hat 
also ergeben. daB das hypothetisch-deduktive System, die 
Tbenrie, eine allgemeine Art wissensehaftliehen Evken- 
neus. niolit bloB die spezielle Eorm der Ma.thema.tik ist. Aber es 
soheint dooh ein wesentlicher Unterschied zu bestehen 
zwisehen deiu hypolhotiseh-dediiktiven System in der ilathe- 
inatik und in den anderen Wissensehaften: dort ist es vollig 
selbstandig und sieh selbst genug, von der Wirkliohkeit vollig 
uiiabliang'ig': hier dagegen siiid es iiielvts weuiger als lediglieb 
ideellc Systeme. sie sind durchaus auf eni]>irisobe Wirkliohkeit. 
bezogen. vielmehr sogar: sie bilden die thooretisehe Grund- 
lage unserer Wirkliohkeitserkenntnis. 
lm Grunde ist. aber das Verhiiltnis des deduktiven 
Systems zur empirischen YVirklichkei.t doeb das gleiche. Aueb 
die .Matliematik jinde-t ja die ausgedehnteste Anwendung auf 
die Wirkliohkeit im Zahlen und Messen roaler Objekte. in der 
TJestimmung und Berechuung des empirischen Raumes naeh 
geomotrisehou Gesetzen. Audi die Matliematik will nicht 
imnier bloB ideelles System, sondern- als angewandto. auob 
Wirklichkeitserkenntnis sein. Ein T'ntersebied zwisehen dem 
hypothetiseh-deduktivon System in der Matliematik und in 
den Realwissensehaften Iiegt nnr darin. daB das mathemaitisehe 
selbstandig- fiir sich allein entwickelt wird. s-onst hingegen nnr 
mit Riicksiebt auf die Erfahrung. Aber da wie dort tritt ein 
ideelles System zur Erfah rungs, wirkliohkeit in Erkenntnis- 
beziehung und es kniipft sicb daduroh an die wissenschaft- 
liche Form des ideelleu Systems allgemein, das Problem: Wieso 
!*ie i ■nunlfoi men iler wissMiM-iuiiniolirn Mctlnxli'ji. io\ 
konnen Grundsatze iiher ideellc N'erhaltuisse. welche von der 
Erfahruug unabhanir/ig.' oder iilior alio Erfalu'iiii<r hinausgeheud 
einfach definitorisch hing'estellt werden. zuErgebnissenfiUiren, 
die mit den Erfaluaingsta'tsaehen iibereinstimmen — wenig- 
slens uahezu, in einer auBHiordentl'u-lien AnnaherungV 
Fur die Mathematik ist es da-; Problem der Anwen- 
dung': Wieso kann oin ideelles apriorisches System auf die 
Erfahrung'swirklielikeit angeweiidet wei-den? Shid die Zahlen 
.freie Schopfung'en des meiischliehen 'leistes". wie Dedekind 
sag"t (a. a. ".. S. \'IIT u. 21). und ebenso die geometrisc.hen 
'ipbilde — wieso lassen sic sieh aber dann aid die empirisehe 
Wirkliehkeit anwenden? 
Dazu muB zuerst klargestell't werden: Was heiBt .Er- 
f a li r u 11 g s w i r k L i c li keif? leli meine damit die Erde nmL 
die Menschen und die Elemente usw. als einen Bereich, der 
als .wirklich' charakterisiert wird im Gegensatz zu bloB ge- 
dachten. ideelleu GegenManden und Beziohungen. und dm 
wir immer ntiv mit Hilfe von E r f a h r un g' erkeunen konnen. 
Es sind die (Tegenstande. auf welche Pliysik und ('beniie 
und die biolog-iseheiie Wissenschaften. Gesehich'te und 
Psychologic usw. sicli beziehen. Weim die Erkenntnistheorie 
finden sollte. daB diese Erfabrung-swirkliehkeit liu.r in .Er- 
se heinungeir des BewuBtseins besteht und keine Existeux. 
nuBcrhalb desselben. .an sieh" besitzt. so ist das fur uns gleich- 
jri.il tig-. Es handelt sicli dann eben um die Anwendung' auf 
diese .Erschcinung'swirkliclikeit". Es handelt sicli nieht um 
eine weitere erkeimtmstheoreWsehe Interpretation von .Er- 
falirung'statsatdieir. ob realistisch uder idealistiseh. (lb der 
Kaum eine BeschafTenheit der Welt an sicb oder eine mensch- 
lich-suhjektive Anschauungsfonn ist. blcibt aUo viillig aufier- 
liall) unseres Gesicbtspuuk:to.s. Er ist jedenfalls die unab- 
streifbare Form unserer empi rise hen Wirkliehkeit. Enter 
. Erf almmg's wirkliehkeit wird niclits anderes verstanden als 
die olijekliven Tatsachen. wie sie auf Gmnd von Wahrnehmun- 
g-en und induktiv erkannt werden. (im erkenntnistheorctisch 
nn'igiichst voraussetzungslos zu bled ben. braitcht man dariu 
niebts anderes zu seben a.ls einen g-eordneten Ziisaminenhang 
von Sinnesdaten. Es handelt sicli dann hei der Anwendung' 
einer Theorie auf die Erfahrung'swirklicbkeit eigentlicii darum: 
132 V. K raft. 
Wieso lafit, sich ein ideelles System auf den Zusammenhang 
des sinnlich Gegebenen anwendenV 
Die andere Frage ist: was heiBt .An w endu ng'V Ein 
einfaehes Beispiel fiir die Anwendung bildet die Triangulierung 
bei dor kartographisehen Landesyermessung. Sie beruht an!' 
dem geometrischen Satz. daB ein Dreieck vollstandig be^timnit 
nnil daher zn bcreehnen ist, wenn eine Seite nnd die beiden 
anliegendeu Wink el bekannt, sind. Man miBt dosha lb eine 
geeigueto Strcoke der Erdnberiliiche aufs genauesto ab. be- 
stiumit von iliren Endpunkten aus (lurch Visiercn die Winked, 
welche die Strecke mk den Ricbtuugen zu einem markanton 
I'uiikt der Erdobertlache (einer Bergspitze z. B.) biklet. und 
b e r e c !i n e .t daraus die beiden anderen Dreieckseiten. welche 
die nicht meBbaren Entiernungen zwischen den Endpnnkteu 
der Grundlinie nnd dem anvisierten Punkt darstelleu. Die 
An wend ung besteht somit, darin, daB man in Beziehungen 
eines ideellen Systems konkre-te Werte auf Gi'nnd von Erfah- 
riing einsetzt nnd dann die Werte. die Kick daraus dem System 
goniaft ergeben, wieder als s-nlcho der Erfahrnng betrachtet. 
Das fundamental Bedentsame da bei ist abcr das. daB diese 
Cbertragung dos theoretisc-Iien Ergohnisscs nut (tie. Erfalirtings- 
wii'klielikeit {lurch die Erfahrnng bestiitigt wird. Man kann 
die aus einem Triangidieningsdieieek errechnete Entfern'iing 
zweieir Erdoberflachenpunkte auch aus anderen Triangulio- 
rungsdrcieeken berechnen, oder aueh auf Grund astronomiseher 
Ortshestiminungen, und man "\vird annahernd denselben Wert 
erhalten. Das theoretiseh gefnlgerte Ergebnis ergibt sich also 
aut'h von anderer Seite her. vnn anderen Erfahrungsdaten aus: 
oiler es liiBt sicli eventuell audi direkt auf Grund von Erfah- 
rnng feststelleu. Es wird sn oder so dureli die Erfahrnng 
.verifizierf. DaB dieses Znsnmmenpussen oder selbst Zu- 
sainmenfallen' konk refer theoiretischer und. empirischer Werte. 
in dem die f'bereinstimmung der Theorie mit- der Erfahnmg 
liosteht, uberhaupt der Fall i.st. das ist eine Tatsache. Fnd 
ini Problem der Anwendbarkeit haudelt es sich urn das theore- 
tische VersUindnis und die Erklarung dioser Tatsache. 
Fiir Kant, hi die Erklarung dieser Tatsache ein Fa eh. 
Die Mathematik gilt, mufi gelten fiir den ganzen Bercich der 
ErFahrnug. weil Hire Siitze auf Grund reiner Anschaniing gel- 
l)ii> ( it iinillmiiion ili-r wi.-suisilm it Ik-hen AI«-t litxlrn . 133 
ten. welehe die a priori notweudige Form dersyuthetis.clien An- 
ordnung alios Sinnlichen iiberhaupt ist; also weil die mathe- 
matisehen ^iilze auf derselben apriorisehen Anseliauung b«- 
ruhen. aid der zugleicli oiue oiv+te Synthesis, eiue ordnende 
Zusammenfassuug des sinulieh Gegebenen zur Erfahrung be- 
rulit. Die apriorische Bedingimg aller Erfahrung ist zugleicli 
das Geluingsfundanient der Matkematik. 
Aber i j .n ist beii'le nicht mehr zu bestreiten. daU die 
matheniatisdien riiitze uud selbst die mathematischen Axiomc 
nieht von einer reinen Ansekauung Geftung erknlien. Dauu 
wird aber iiire Geltung fiir die Erfahrung zuin Problem. Es 
lies teh t zwar audi danu noeli e-ine weitg-ehendc Analogic 
zwisdien dor crkonntLiLs-tlieorctist'lieu S'tellung der matliema- 
tischen Axknne und den reinen Anschauungsfornien zur Er- 
fahrung. Demi wie nach Kant die Ansdumungsforineii den 
konkreten Auf ban der Erfahrung sdion von vornherein be- 
stiiiiinen. so audi die Axiome der Matliematik, AVenu audi 
unsere v u r wissensdiaftliche Erfahrung von den Axiomen tier 
.Mathematik nichks weifi — die wi sson s e h a. f 1 1 i c h o Er- 
fahrung baut sick dock sehon durch die Beuutzimg der Mathe- 
matik im .Messen. Zaklen und Beredmen auf; diese liegt ihr 
deshalb als wesentlidie Vorausset'/.uug sehon zugrunde. (aid 
so konnte man vielleieht meinen, dafi audi dann so wenig ein 
Problem dor empirisehen Ainvendbarkeit der Ma'tliema.tik be- 
st ekt wic bei Kant. Abvr man mul,'> dock i'ragen: Wieso kaun 
die Mathematik einer wisseusdmitlidien Erfahrungsbikluug 
iibei'haup't zugrunde gelegt werden? Konkrete Erfahrung er- 
l'ordort ja vor allem aueli Sinnesdaten (in Beobaoktung 
und Experiment). Kami man nun fiir die Oi'dimng des sinn- 
lidt Gegcucncu jedes be lie big o- Axiomensystem zugnmde 
legen? 1st es oine Sadie der t'reien YVahk welches wir uns aus- 
denkeu, mid liilit sieh ein jedes im sinnlick Gegebenen durch- 
fuhrenV <Mer hat die Ainvendbarkeit von Axionicnsysteinen 
aid' das Sinnliehe innere BedingungenV und weldie? Das soil 
nun im Folgenden untersudit werden. 
I'm die allgenieiuste Bediugung fiir die Ainvendbarkeit 
einer Theorie klarzulegen. gehe ioh von dem einfaehs.teu Pall 
dessen nus. daft ein abstraktes dedankengebilde auf einen 
konkreten Fall an-rewendct wird: von der Anweudung ciu<:r 
134 V, Km it. 
Definition. iSie bestebt dariu, dafi man priift. ob der kon- 
krete Saehverlialt — em ideeller oder einpivischer — die in 
dor Definition fesfgestelften ^ierkmale aufweist. (Da rum wird 
in tier Mathematik [seit Kmneckerj die .Forderung' der Ent- 
sehcidbarkeiV an jede Definition gestellt: essoll jedesinal. wenn 
ein konkreter Saehverlialt vorlieii't. auf Grand der Definition 
zu entseheiden sein. ob der dariu eiugefulirte tle^ri f'f auf ibn 
anwendbar ist oder nieht ] " IS. o57j.) Daruach verlang-t die 
Amvendung' einer T li e o v i e auf die koiikvete Erfahvung die 
Priifung', ob der Sacliverhalt. der in den Axiomen als ein 
ideeller festgcsetzt int. in dcm betreft'euden Erfuhnuig'sp'biel 
konkret aufzuweisen i.st: d. b. die axioinatischen Ueziehungen 
niiUseu dnrcli empiriseh ^e^eliene und koutrollierbarc Oaten 
befriedigt werden. also sieh zwisdien soichen herstellen lasseu. 
Sofern die Axiome aber bloB formal bestimmt sind, erforderl 
das dalier eiiie Z u <» vd nu n «* der empiriseben Daten zu den 
Elementen der Theorie. 
a) Die Grundlagen der Anwendbarkeit der Arithmetik. 
Es soli zmmchst die Urundlag'e der Anwendbarkeit fur 
die Arithmetik untersucbt werden. Die all^'emeine Bedin- 
i>*ung ihrer Auwendbarkeit auf die Eri'alirung'swirklichkeit ist. 
daft dieses Wirklielie ziildbar ist: und die Bedmgmigen der 
Zahlbarkeit werden g/egebeu durcli das Wesen der Zahl. Da 
-deb die Zabl explizit dctuiieren la (it. lasseu sieh die Hedin- 
gung'en der Zahlbarkeit uud dam it der Auwendbarkeit der 
Zahl auf die Wirklichkcit klar angeben. 
Wenn wir auf (Jrund der (S. 78f.) voraus^e^angeueu Ana- 
lyse des Zahlbeg'rilfes noehmal iiberblieken. was der Zald in 
letzter Lime zugTuiule lieg't. so ist es ei'steus die, (Ivundtatsaelie 
der Mehrheil (der Menge). die Grundtatsacbe. die spraehlich 
durcli den Plural ausgedriiekt wird. Melirbeit crfordert aber 
nieht durehaus Individueu. sondern nur Individualisierbares. 
l/nterscheidbares . das aber in irgendeiner Hinsicht g'lcich- 
a rt i »" ist. cine ^emeinsame BeselialTeuheit oder Eeziehung' 
aufweist und dadureh als eine Menge oder Mehrheit. d. i. 
Klasse. zusanuneufalSbar wird. 
Aber Zald ist nieht einfaeh Mehrheit. sondern ein beson- 
deres Mom em an einer Melirbeit. dasjenige, woraul'hin Mehr- 
Die * irumlforiiieiL iler wis*iMiM-li;tfU it-lieu Melhodeii. 130 
heiten verglichen werden: die .quantitative 1 Gleichheit odor 
Versdiiedenheit (Bestjinmtheit) g-eg-eniiber aller .qualitativen' 
— ■ so kann man dieses Moment umselireiben, aber es niciit 
wci'fHf a uf audeivs zuriickruliren. Eine M c !i rh e i I von 
Gegviistanden — niciit realen. soiuUu'n Denkgeg-enstanden! — 
heiflt: in q u a nt i t a t i v e r Hinsieht g'eiten sie als gleidi, als 
dasselbe. Aber dasselbe ist in ihnen mehrfaeh vorlianden; 
und in der Art dieses niebrfarli Yorhandenseins eines 
>elben sind die Mehrheiten v e r s i- h i eden — das ist eben 
die .quantitative' Hinsidit. Audi die geg-ensekige Zuordnung' 
der (Jeg'enstande der Mengen ist nur der einfachste Weg\ um 
das Verhaltnis von konkreten Mehrheiten in eben dieser Hin- 
sidit festzustellen. Als qualitativ dasselbe bilden die Gegen- 
stande einer Menge cine hohere Eiuheit, eben die Menge als 
Giattung (Klasse). Aber nucli in quantitative!' Hinsicht. als 
Mehrl'aciwSe'tzungen cities selben lassen sic >idi zu einer 
hoheren Eiuheit zusamiuenfcissen: zur Mengen-Gattung" als 
Auzahl. Xaeli der Yersclnedenheit in der Art des Mehriadi- 
Vorhandensein eines selben sind sie als individuelle Anzahlen 
eharakterisiert. Anzabl ist ein suezilisches Moment . eine ur- 
spriingiiehe. uiizuriidifuhrbare Be^timmthcit an enier Mehr- 
heit von Gegens-tandeu. Die natiirlidie Zahl snricht dahcr 
einen Ursadiverhalt aus. Die Zahlen sind wohl eine .Schopfung 
des Geistes' — ■ so wie es eben jede BegTif'fsbildung- ist. Tn 
einer Zahl werden gleiehzahlige Mengen von Geg-enstanden 
zu einer hoheren Eiuheit zusaninieugefafit, die nur fiir den 
(Joist besteht. A he:* die Bestimmtlieit. weldic die mi'turlidieit 
Zahlen damit festleg-en, ist etwas. das an jeder Mehrheit ob- 
jektiv vorlianden ist. Wenn einmal die Elemeiite einer Menge 
geg-eben sind. so ist die Zahl derselbcn etwas Festes, [Jnver- 
riiekbares. 
Damit liegt der Gnmd fiir die A u w e n d b a r k e i t der 
Zalileu auf die Erfahrungswirkliehkeit klar zutage. 1st eine 
Zahl ilirem ^Vesen naoh ein g'a.ttungsmaBiges Moment (zweiter 
Stufe) an jeder Meng'e. so liiJit sidi liberal! dort. wo eine 
Klasse. also eine Mehrheit vorliegt- audi eine Zahl feststellen. 
Sobald unbes'iimmte Mehrzahl vorlieg't. lafit sie sidi zur be- 
sTiminten Anzabl prazisieren. uinrh Yergleiehnng- mit alien 
anderen Mehrzalilen. namlidi dureh Zuordnung zur sredank- 
13(1 V. k r it. ft. 
lichen Normal- und Univei'saloirdimng der quant itativen 
Mengengattungen — tier Zalilenreihe. Da diese einfadie Be- 
diugung einer Mohrlieii odor Menge empirisdi su leicld und 
so oft. erfiillt ist. konneu audi in dor Erfahrmig in so aus- 
gedelmtem MaI5e Zahlen festgostellt, werdcn. 
M it der Anwendharkeit der Zahle.11 ist audi die der 
Aritlmietik zunadist wenigstens in dem Sinno gegeben. da 15 
die Anzahlen von empirisch realen Menge n in sol die rciu 
g e d a n k 1 i c ii e Beziehungeu zu einander gehruclit werdeu 
konnen. wie sie die Arithmetik in Betradit zieht. So kanu 
man den Pmzentsatz der Blonden in einer Bevolkerungs- 
nicii^e als rt'tiL gedanktidtos Yerluiknis Uestimmeu. Die An- 
wendbarkeit der Arithmetik ist daunt txher nodi nidit audi 
in dem iSinne gewahrleistet. da!5 man aus den bekami'ten 
Anzalden realer Teihuengeu dio Anzahl der realen (iesaml- 
mengen erreehnen kann, so wenn ein Beam tor aus den ur- 
spriinglich ubernommenen, den ausgcgebenen und den ein- 
gelaugteii Stuokeit von verredienUaren Drue.ksoiien die bei 
ihm gegenwiirtig erliegende Anzahl derselbcn bestimmt. L T nd 
wenn diese mit der unmittelbair abge'/.ublten Anzahl derselbeu 
uiclit fitimmt uud er mm jiuoli den fehlendeu Slue ken wler 
nadi einem Bechenf elder oder naeh einem lrrtum im 
Kedimmgsansatz sueht, so beruht das ulles nodi auf der 
Vuraiissetzung, daft die aritlunetisehe rfuunnievung und ^uli- 
traktion der Anzalden realer Teilmeng'cn eine Anzahl ergibt. 
welehe dieselbe ist wie die itatsachliche Anzahl der vealen 
(lesamtmeuge. Diese Yoraussetzuug ist dadureh gerex-ht- 
fertigt, dafi iiberall. wo K lass en (Mengen) vorliegen. audi die 
Bezielmngen der logksdien Addition und Multiplikation be- 
stehcu — so fern iiherhaujtt Logik in dor Wirklidikeit gilt. 
Weil die arithmetiseben Grundbeziehungen auf die allgemein- 
sten Iogiseben Bezieliungeu zuriiekgehen. so miisseu audi sie 
in der Wirklidikeit. wo empivisdi Klasseu gegeben sind. zwi- 
scben iinieu bestehen. Waruni und inwieweit die Logik in der 
"Wirklidikeit gilt oder die Wirkliehkeit eine logische Struktur 
hat. das ist eine eigeue. eine arnlere Krage. 
DaB is o 1 e h e Art en von Bezi eh u ngc n zwisehen 
Mengen. wie sie die Arithmetik rein gedankiidi betraehtef: 
die Vereinignng vim Meugen zu einer neiieii Menge oder die 
Hit; (!niii<lf<;rnn.'ii (Lit wissiMW-liutlliclu'ii MoIIkhIoii. \oi 
Yerminderung einer Menge um einc Teilmenge derselben. 
oder die Abhangigkeit von JJengen voneinander in hirer 
Anderung usw„ auch reallter in der Erf a lining bestehen. 
heitit aber nur. daft die Beziehungen. auf donen die arithmeti- 
schen (Jrundopera-tionen henihen. in den empirisch gegebenen 
Klassen objckitiv fundiei't sind: es heifit aber uicht. dati 
realiter vor sich gehendc Yereinigungen von Mengeji 
i z. B. vi m zwei gleicheii Yohunina Wassersloff nml oineni 
gleicheu Yolumen Sauerstoff) immer den arithmetisehen Be- 
ziebungen cutsprechen nilissen (drei Volumina Washer ergeben 
miissenj. Das hat- wieder weitcre (physikalisch-chemische) 
Yoraussetzungen: daft sich die E lenient e von Mengeu bei dor 
realen Yereinigung niclit verandern. Daft dies tatsachlieli 
oft der Fall ist, 1st nun eine viell'aehe Erfahrung. lm arith- 
metiseheu Begnft' der .Siunine odor <[er Dit'ferenz . . , ist ja 
nur (his allgemeiu formuliert. was in den vielfachen Fonnen 
des Hinzufiigeus. Dazukommens oiler Yvegnehnicns nsw. kon- 
kret erfahren wordon ist. Aber es ist eine eigenc. neue Er- 
fahrung; es ist mit der bloBen Amvendbarkeit der Aritbmetik 
noeh niclit gegeben. 
Die <Triiiidla£-c fi\ r die Amvciulliarkeit der Anilinictik 
anf die Erfahrungswirklk-hkeit liegt also darin. daft die Be- 
schafTenheil. welciie fur die Zahl wesentlich ist (Klasse. Menge. 
Mehrheit, d. i. Fnterscheidbares. aber in irgendeiner Hinsicbt 
als gleichartig Zusanmieiifafcibares) und die Grnndarten der 
Beziebungen zwischen Klassen (Mengen. Mehrbeitcn). welehe 
die Arithmetik betraehtet. in der Erfahrung an wirklichon 
'iegenstiluden oder Yorgangen anzutL'eff'en sind; dati mo nicbt 
mehr wie in der Arithmetik blofi gedanklich vorausgesetzt 
werden. sondern empiriseh zu konstatieren sind. daiS es 
Klassen saint ihreu Beziolnuigen wirklidi gib(. "Weil das em- 
piriseh Wirklicbe die Besehatienheit und Beziebungen aur- 
weist. seiche die Arithmetik in der Zahl und ihren Keehnungs- 
operathmen rein gedanklich voranssetzt und isoliert bebandell. 
danini gilt von ihni die gauze Arithmetik mit all deiu. was sic 
an Beziebungen zwischen Zahlen rein gedanklich ersehliefit. 
Es g'ilt. weil es sich daniit gar niebt um i.'twas Zweites. An- 
deres, Xenes nehen dem arithmetisehen (Jebalt. sondern nur 
um ein und dieselbe eben in der Arithmetik wesentlicbe Be- 
138 V. K raft. 
schan'enheit unci Beziehung handelt. Diese sind hier nur noch 
autferdem zugleieh in einem konkveten Fall eminriseh wivk- 
lieh vorhanden, sie liegen in Yerbindung mit anderen Be- 
selui tfenheiten vor — das Zahlbare dor Erfahningswirklieh- 
keit besthmut immer ben a ante Zahloti. wahrend es die 
Arithmetik immer nur mit unbenannten, .re'men' Zablen zu 
tun hat — unci darum gilt nun das. was von der a r it li- 
me t i s eh en Bcschatt'enbeit uml Beziehung gilt, ebon zugleieh 
aueh in Verbindung mit anderen Eigenschaften und fur etwas 
Wirkliebes. Fiir dais, was sich aus der arithinetisclien Be- 
wchaffcnheit und Beziehung ergibt. ist das aber eigentlieh 
eiu glek'bartiges und zufallig'es Superplus. Die Arithmetik 
gilt somit fiir die Erfahrungswirklichkeit, we.il odor soferu 
die Logik gilt, weil dann die Erfahrungswirkliehkeit die Be- 
sdiafi'enheit und die Beziehungen aufweist, welohc die Arith- 
metik gedanklieh yoraussetzt. 
b) In der Geometrie. 
Anders liegen die Yerhaltnisso bei der Geometric, denu 
die geometrisdien Grundbegriffc mid -beziehungeu lassen sich 
ini eigentlidi raumlicheu Sinn nicht e/xplizit detiuieven. Was 
sich an ihneu definitorisch i'assen laBt. das 1st cin System 
von Relationou zwisdien Syml>olon. bei dem alios. Bezieltuu- 
gen und Beziehung'sglieder nur formal (allgemein logisch) 
bosfmimt ist, inlialtHeli aber vollig nnbestimmt bleibt. Es 
kann daher Beliebiges in dieses System eingesotzt word en. 
sofein es nur die axiomatisdi feslgesetzten forma len Bedin- 
gungen erfiillt. Urn den geoinet rise lien Grundbegriffen den 
spezitisdi r it uml i c h en Sinn zu geben. den der euklidischen 
.Definitioneir. muB man sie bereits auf die in der \Vahr- 
nebmung vorlieg'ende Riiumlichkeit an w ende n: d. li. cs 
werden Elemente uiid Beziehungen aus dieser in die formalen 
Symbole und Reladonen eingesetzt. Die geometrisehen Grund- 
begrifl'e ini euklidischen Sinn enthalten cine zweifache Be- 
stimintbeii: die formale. rein mathematisdie und zugleieh 
aueh eine nur von der Ansehauung her erfaBbare — die 
spezitisdi raumliche. Diese Anwendung bend it daranf. daft 
Relationeu v-ou der formalen Art. wie sie die Axiome fest- 
setzen, in der Erfahrung in conrreto. d. i. zugleieh mit einem 
Die GniiulfoniitsLL der whseusoliii tHirliou Mctlioiloii. La a 
ansehauliehen Gchalt, aufzuweisen siud — eben in don spezi- 
lisdi raumlidien Verhaltnissen. ,Zwisdien' ist- audi als an- 
schaulich riiumliche Lag'ebeziehung' eine .symmetrische 4 . .tran- 
sitive' Kelatlon. Kin Stein lieg't zwisehcn zwei Steinen wie ein 
geometrisdier Punkt zwisdien zwei Punkteu; und wie ein 
Punkt. einer Ebene. so g-ehort ein Farbenfleck einer Ober- 
Haehe an. 
Die^c l>ereits inhaMiche Erfullung des fonnalen Kela- 
lions'systems in der speziiisdi-raumlidien ( Jemnetrie ist es. 
weldje die Anwendung der Geometric auf den empirisehen. 
wirklk'hen Raum. das will sagen auf die inoglichen Lage- 
beziehungen oder Lagerung-smoglichkeiten der realen Korper 
vermittelt. Die idealen geometrisdien Gcbilde Lassen sich 
dabei uatiirlidi in der Erf ah rung- nieht wiedertinden. 
Demi was man nun als Glieder der Beziehungen an 
Stelle der Synibole aus der Walmiehimuig'sraumliehkeit heraus- 
nehmen kann. das ist in dieser nirbt an und fur sieh schon 
vorgezeidmet. sondern da lieg't der Ang'elpunkt der gedank- 
lidien Sehopfung- in der Geometric. Ein natiirliches Element 
der Kiiumliehkeit lieg't in der K:\um\vahriiehinung; nieht vor. 
Ks ans iJir lierzustellen. dannn beiniihcii sidi die Yersiu-he 
einer .uatiirlidien' Geometric wie <lie von Pasdi" oder 
lljehnslcv. 7 '' Irgendeine Art der raumlidien Gebilde. wie sie 
in der Raum\vahrnehnlulsg■ auftreten (z. B. sebr sdmiale Strei- 
feu und ihvni Schnitt.punkt\ vgl. -- S. 4). als Elemente einer 
geoiuctrisdien Raumlehre zu nehnieii. verbietet die Forderung' 
der Prazision. Das wiirde keine Geometrie von absoluter 
Genauigkeit ermog'liehen. Daruin ersinnt man den .Punkt' als 
jenes ausdehnungslo^e Etwas der euklidisehen Definition. Er 
und spine Zusanimenhangsfonnen fGerade. Ebene . . .) sind 
nieht etwas. das in der Rainnwnhrnehmnng' vorzufinden ist. 
man madit audi nieht ihren Sinn klar. wenn man sie als 
Ldc a 1 i s i e r u n g dessen bezeu-hnet. was man in dieser vor- 
liiidet: sondern ihr Sinn 1st. anzugrhen. wie sich innerbalb 
der Wahrnelmning-sraumlidikeit Be/.iehungen von der g-efor- 
derten fonnalen Art und ibre Trager vollkommen prazisc 
bestimnteii oder wenigstens bestiiuuit den ken lassen. Der 
Sinn des geometrisdien Punktcs und der iibrigen idealen 
Gebilde ist. wie friiher (S. 35 F.) aiisgefiihrt. der. eine Stelle 
140 V. K r ii f t. 
mid einen Stellenzus.ammeuhang in der ansehaubaren Kautn- 
Uclikeit. a Is absolut identitizierbar. mit volliger EindeiLligkeit. 
uhue vagen Rand mid Ungenauigkeit bestiinmt zu denken. 
Ki bedeutet. daft (.lie Ausdeimung einer HaumsU'lle unter- 
h a lli ile y (j c n a u i g' k o i I s "'renze der Best immnng 
bleiben muB. so dafi sich also p rak t i s c h keine .Mehrdeutig- 
keit mid Ungeuauigkert- ergibt. Es ist. also nur eine relative 
Ausdehnung-slosigkeit im Yerhaltnis. zur Genauigkeitkgrenze. 
die den geometriseheu Punkt als tatsachliches Raumelement 
charakterisiert. Und die a bsolnte Ausdehnuugslosigkeit. 
die ilini theoretisch zugesciirieben wird. ist eigeutlieh nur alm- 
oin (iriMizwert zu verstelien. den man allein in Beti'acht 
ziehen kann. sobald es sich inn kunkrete Beslimniung walir- 
nehmungsgegebener' GroBen uberhaupt nieht handelt. (Vgl. 
audi die Eutwicklung des Dil'i'erentiales durdi Pasdi "".) Der 
spezilisdi raumliehe Sinn der euklidisdien Elemente liiBt sidi 
nur in einer solchen Beziehung aid die wahrnehmbare Raum- 
liehkeit herstelleu: als das Be s t i m in u ngsge s e t z fur 
sie — die Bestimniung der konkreten Raumbeziehungen bis 
zu jener Grenze zu fiiliren, wo empirisch die Untcrsehicde 
uberhaupt auflioreu. 
An dem Beispiel fiir die Anwendung der (Jeoinutrie, 
das ich sdion fruiter (S. V$2) berangezogen habe, an der Landes- 
verniessnng mit Hilfe der Triangulierung. wird sofort deutlii'h. 
daB weder die ausgenie'ssene Streeke eine geometrische t!e- 
rade. nodi ihre Endpunkte und der anvisierte Punkt geo- 
metrisdie Punkt e sind. Denti wenn audi die Grundlinie heute 
aid l j- 2 genau ausgemessen werden kann. so liaben, da sie 
diirdisdinittlich 5 km betrag't. ihre End.punkte' trot'/, alldem 
iminer nodi einen Spielmum von 5 mm. Es "\vcrden nieht die 
Entt'evmnig und die Winkel zwisohen g e o ni e t r i s c Ii e n 
ausdehnungslosen Punkten. sondern zwisehen physischen 
Punkten gemessen, die eine durch die Messungsgeiiauigkeit 
besthmnte Ausdeluiung hai>en. also (sehr kleine) Raunipar- 
tien sind. Die praktische Eindeutigkeit der empirisdien 
Mal.>be>:tinimungen besteht nafurlich nur fiir den Ert'ahrungs- 
bereieh. aber nieht mehr in Beziehung auf die I'eine. ideale 
(Jennie trie. Denn da die Mafibestimmungeii auf (J mud von 
Siuiieswahrnehmunu inuner nur innerhalb von Oenauigkeitn- 
Die ('l-riHitlfonii<>ii der wissctisfliaftliclicn Mntlioden, 141 
grenzen gel ton, so legeu sie in bezug anf die rciiie Geometrie 
nicht bestimmte Grofien, wondern nur S p i-e 1 rii um e fur 
GroBen fe st . ''" (S. 10. 17.) Denu die durdi sie gegebenen 
GroBen sind innerhalh dor Grenzen, die durdi dio moglieho 
Fehlergrofie gezogen sind. variabel. Das ist iibrigens ebenso 
bei mechanisdien mid physikalisrhen GroBen der Fall mid 
kann audi beim Roe linen m it Zahleu (z. H. Logaritiimen, die 
nur bis auf so und so viele iStellen genau sind) der Fall sein. 
.Wir arbeiten bcim wirklicheu Zaldenredmen gar nicht mit 
abstrakten Zahlen. sondem mit den den abstrakten Zahleu 
zugehorigen E-Funktioneir (d. i. der groBten ganzen Zalil, die 
in der Funktion einer gegebenen Zalil entbalten ist).'"' (S. 14. 
11. 12.) Im Erfalmuigsbereich ist hingegen praktiscii fur 
irelirdeutigkcit desbalb kein Raum, weil die andeven mathe- 
matiseh noeh tiK'igliohen Werte alio untcrhalb der Fohlergrenze 
bleiben. 
Bei der Anwendung der Geometrie in der Lnndesver- 
messung verhalt es sicii so, daft man die reale Eutferuuug 
zwiso.hen zwei solehen physischen Punkten und die Winkel 
mit einem dritten empirisch bestiiimit und diese konkreten 
Werte den entspredienden Element en eincs geo met vi- 
se ben Dreiecks subs tit inert-, sie als die konkreten Werte 
in einem geometriseben Dreieck nimmt. Darans werdon 
(lurch B e v e c h n u n g n a c h den g a o m e t v i s e ii e n 
G esctzen zwel neue konkrete Werte fur die beiden anderen 
Seiten dps g e o ni e i ri s c h e n Dreierks gewonnen und diese 
werden wieder zugleieb a Is die empirischeu Werte der eut- 
sp'redienden realeu Entfermmgen zwisehen den entsprechon- 
den physiselieu Pmikten angenommen, ohne diese cmjiiriseh 
bestimmt zu haben. Die Auwendung der Geometric auf die 
Erfahrungs'vVirklichkcit best eh t also in einer wechselseitigen 
Vert ret uiig von geometrischen und pliysisclien Punkten 
(ebenso Gcraden, Kreisen . . .). wobei die physischen Punkte 
(Geradcn . . .) keincswegs Punkte und Gerade im geometri- 
schen Sinn sind. Die Auwendung besteht in einer gegen- 
seitigen Zuordnung dieser ganz versdiiedenen Elemente. 
Die Gruniltrage der Anwendung ist daher ilie: worauf diese 
Zuordnunii' beruht. 
142 V. Kraft. 
I )iis frste Evfovilernis diesiu' Amvendung gcbt dahin. 
klarzustelleti. was empiriseh als Punkt. als K an m element zu- 
zuorduen ist. 
Es ist bereits dargelegt vamlon. daft der ideale gen- 
met ri'sehe Punki die Idee fler abs-olut individualisierten. 
vollig eindeutig gemaeliitenRaunistelle bedeutet. Der physiseho 
1'unk't stellt hingegen cine blofi re 1 a t i v individiialisierle 
Raumstelle dav. d. h. cine bio 6 nach MaBgabe unserer Hes- 
smigsgeiianigkeit oder des Me^sungszweckes individualisierte. 
So wird eine Bergspitze als * trt im Raum (lurch pin Trian- 
gulicrungsgeriist festgelegt. also bis auf die Uicke der S tango 
genan. Aber sic ist doeh inunerhiu soweit individiialisiert. 
als wjr ,sie eben braiudien. Die 1 n d i v i d u a 1 is i e run g 
der Raumstelleu — das ist das Gemeinsame zwischen geo- 
metrischem and physiseliem Pmikt. das die gegenseitige Zu- 
ordnung herstellt. .Punkt' bedeutet. die Untersebeidung and 
Fixieruug rein raumlieber Verschiedenheit. von Untersehieden 
im Raum als soleheiu. mid diese setzt die Geome'trie mit ab- 
solute!' Genauigkeit mid Eindeiitigkeit getrnli'en voraus; in 
der empirischeii Ainvendmig ist sie dagegen inn* mit einer 
fur unscrc MessimgsiHOgUelikoit. bestolienden. also iTlativm 
Eindeiitigkeit mid Genauigkeit getroffen. Aber praktisidi 
si nd die Raunistclfen audi auf diese Weise vollstandig in- 
divklualisiert and unzweifelhaft Ulent'ifizierbav. 
Physiscbe Punkt o (z. E. Pevgspitzen) besiimmen Gevade. 
and zwar empirisehe Gerade. niclit geometrische, das beiftt. 
nicht streng eindiineiisionale. soiidevn dreidimensionale Ge- 
bilde. Eine llefileine. audi ein Fadenkreuzmittelpunkf. den 
man mit einer fernen Bergspitze. zur visiiellen Deckung bring! . 
hat ja docli immer aneh eine Diekc nnd deshalb anch die 
Gerade. die dadurch bestimmt wird. J'hysische Punkte ,be- 
s/timmen' empirisehe ({evade, das heifit zuiseben zwei physi- 
schen Punkten kann man nnr eine Gerade. einen solcben 
Raum strei fen. legen (z. B. eine Scbnuv spannen oder visieren) 
— weiin sie gentigend \rei-t votieinander abstefien. Demi die 
Ausdelmung dieser Punkte. z. B. der Tviaugnlierung'sstange. 
gestaltet dann keine Mehvdeutigkeit ibrev geraden Vevbin- 
dungsliuie. wean die Abweiohungen dieser unter dor Grouzo 
bleihen. bis zu der die Genauigkeit der Messung im boson- 
Die (.lriiiulioriiien der wissenscliaftJielifiL Methoden. 14o 
rleren Fall reieht oder erforderlieh ist. Das ist nur rter Fall. 
wenn das Verhiiltnis zwischen der Dicke der Punkte und dor 
Liinge der Strecke ein sehr kleiner Bruch ist. Wenn aber die 
physischen Punkte zu nahe beisammen liegeu, so crheben 
sich die moglichen Abweiehungen tiber diese Grenze. 'weil 
dann die GroRe dor Strecke viol zu nahe an die Dieke 
herauriickt. 
Die physischen Punkte bestimmen also empirisehe Ge- 
rade zwischen sich und diesc bilden mi'teinander Winkel. die 
sich cbenfalls mit einer praktisch hinreiehenden Eindeutigkeit 
crgeben. 
Was bei der Anwendung der Geometrie empirisoh als 
Punkit, als Gerade usw. gelt en darf, das ist denmach bio (J 
durcb das praktische Bediirfnis der jeweiligen Genauigkeit 
bestimmt. Es ist empirisch somit etwas Wechselndef. «ehr 
Versehiedenes: ein Punkt eine Xirkelspitze (l>eim Zeichnen) 
oder eine Bergspitze (bei der Vermessung) oder audi ein 
Himmelskcirper (in astronomischen Berechnungen), eine (do- 
rado eine gespannte MeBleine oder eine Visierlinie durcb die 
Dicke eines Fadens. . . . Was fur die Anwendung' der Geometrie 
als Punkt, als Gerade betrachtet werden darf. lafit sich also 
je nach dem Gesichtspmikte der Messung frei wjihlen. Es ist 
eine relativ willku rli c be Zuorclnung. auf der damn, die 
Anwendung der Geometrie fuBt. 
Die Geraden-Setzung erfordert in der Erfahrungswirk- 
lichkeit aber dariiber hi nans nocb b&sondere Voraussoitzungen. 
denn es ergibt sich nichit eindeutig, was in der Wahrnehmungs- 
wirklichkeit als Gerade zu betnvebton ist. Denn was eine 
Gerade ist. laBt sicli nicbt explicit definieren, sondern nur 
durch Beziehung auf raumliche Wahrnehmuug atifweisen. 
Was uns alter in dieser als Gerade enscheint. reicht noeh nicht 
hin, uni die Anwendung der Geometrie auf die Erfahrungs- 
wirklichkeit zu fundieren. Denn der blofle Sinneseindruck 
kann ketn binlangliches Kriterium dafiir abgeben. oh im 
real en Kaum eine Gerade vorliegt; das lafit sich objektiv in 
ietzter Linie nur durch Yisieren bestimmen. also mit Hilfe dos 
Li ebtst rabies, oder dadurcli, dafi man eine Linie als die kiir- 
zeste Entfernung zwischen zwei Punkten erweist (wio beim 
gespannten Fadon) oder als Acbse starrer Korpor. die bei 
144 V. K r a ft.. 
Hirer Rotation in Ruhe blcibt. DaB aber der Lichtstrahl selbst 
gerade ist und der gespanntc Faden und die Rotationsachse. 
daB sie in beliebiger. auch unendlicher Yerlangening die 
Eigenschaften der sinnenfalligen geraden Strecke bewahren. 
das biklet dahei eino Grundvoraussetzung. Tmd es kann niolit 
me lir soin als eine Voraussetzung. eine Annahme, denn es 
gibt kein objektives Kriterium fur die G evade. Wir konn.ten 
auch andere geometrische Annahmen in bczug auf empirische 
Ivorper und Erscheinungen machen. 
Wenn wir tatsachlich die euklidische Gerade als die 
Gerade betrachten. .wenn wir sagen. daB die euklidische 
Gerade eine wirklie he Gerade ist', .so bedeutet das haupt- 
saehlieh. daB sie von gewissen wichtigen. naturlichen Gegen- 
stlinden wenig abweicht. von denen die niehteuklidisehe 
Gerade stark abweicht " l (S. 45). Es gibt kein absolutes 
Kriterium fur die Gerade. auch nicht im Zusammenhang mil 
Bewegung. .Enter alien deukbaren Bewegungen gibt es einige. 
von denen die euklidisehen Geometer sagen. daB sie mit 
keiner Umgestaltung verbunden sind. und es gibt andere. von 
denen die nichteuklidischen Geometer sagen werden. daB sie 
mit keiner Umgestakung verbunden sind. Die euklidisehen 
Geraden bleiben in den ersteren. den sogenannten euklidisehen 
Bewegungen euklidische Gerade. wiihrend die nichteuklidi- 
schen Geraden keine nichteuklidischen Geraden bleiben. In 
den Bewegungen der zweiten Art oder nichteuklidischen 
Bewegungen bleiben die nichteuklidischen Geraden nicht- 
euklidische Gerade. wiihrend die euklidisehen Geraden keine 
euklidisehen Geraden bleiben. Es ist also nicht bewiesen. 
daB es unvermint'tig sei. die Seiten des nichteuklidischen 
Dveiecks gerade zu nennen; man hat nur bewiesen, daB 
es dann unbegriindet ware, wenn man dabei bliebe. die 
euklidisehen Bewegungen Bewegungen ohne Umgestaltung 
zu nennen; man hiitte aber ebenso gut bewiesen, daB es 
unvcruunftig ware, die Seiten des euklidisehen Dveiecks gerade 
zu nennen. wenn man die nichteuklidischen Bewegungen Be- 
wegungen ohne Umgestal'tung nennen wurde'. sl (i-\ 45. 4(1.) 
I 'iid .wenn wir sagen. daB die euklidisehen Bewegungen die 
wirklichen Bewegungen ohne T'lngestaltung sind. so geschiebt 
Die Grimdformen det wissenscliaftliehcii Methoden. l4o 
das n ur. well gewisse natiirliche Korper. die festen Korper. 
imgeralir solche Ilewegungen erloiden 1 / 1 (S. 40.) 
Es is:t daher einc Sache der freien Entischeidung, die 
niclit unter rein geometrischem. sondern zugleich el ten so sehr 
miter physikalisehem Gesiehtispuuk't erfolgt. was man als 
^erade .ansieht. 
Die enklidiscben mid die nichtenklidischen Geometrien 
unterscheiden sich erst, sofem es die Geometrie mit Mal?i- 
bestimmungen zu tun hat, als metrisehe Geometrien. Die An- 
wendung einer solchen metrischeu Geometrie erfordert aber 
nun aufierdem Feststellnngen dartiber. was empirisch die 
MaBgrnndlagen bilden soil. Fiir die enklidisclie Metrik 1st 
Kongruenz wesentlieh. Kongruenz im raumlichen Sinn heifit. 
daft Pnnkte mit konstanter Entfernung zur Koinzidenz ge- 
bracht werden koniien. Kongruenz lit.fi t sich daher nur ver- 
inoge konstanter Entfernung feststellen. Konstante Entfer- 
nung aber lafit sich empirisch nur durch Messung mittels 
eincs Alatistabes feststellen. Dieser itmfi dabei selbst konstant, 
unverandert bleiben, d. h. ein starrer Korper sein. Dafi das 
der Fall ist. laftt sich nun empiristii auf keine Weise kon- 
statieren — das wiinle j:i erfordern, dafi wir einen nbsoluton 
Mafistab haben. Demi Messen ist niehts anderes als Yer- 
gleichen. Messen kami daher immer nur ein Verb alt nis 
ergeben: dnfi zwei Entfenumg"en gleieh sind. aber nicht, daft 
eiiie Entfernung konstaut gcbliebeu ist. (Vgl. 89. S. 1.1.) ilau 
kann nur bestimmte empirische Korper auf Gruud ihres 
pliysikaliseh-chemisehen Yerhaltens als starr a n n e h m c n. 
Das bildet daher eine letzte Voraussetzuug fiir alle empiri- 
rische Kongruenz best immung mid da mit alle geometrische 
Mafibestimmung im empirischen Rauni. 
Es miissen also bes.tirnnito V uraussetz u n ge n 
ii I) e r g e o m e t r i scbe E i g e n s c b a f t e t) p h y s i s e h e r 
Korper mid Vorgiinge gemaeht werden, urn die Geo- 
metrie als metrisehe nut die Erfahmngswirkliebkeit nnwenden 
zu konnen. Wiirde man and ere Voraussetzuugen maehen 
(hinsiehtlich der Geraden v.. B.), als man sie tatsaehlich 
macbt. sn wiirde der reale Ramn eine andere geometrische 
Struktnr anfweisen. Die euklidische odor niohteuklidisrhe 
Struktur des Raumes hangt so davon ab. was wir als Gerade 
Sitzunjfsbei. d. phil.-liist Kl. 2U3. Bd. s. Abh. 10 
146 V.Kraft. 
zugrunde legem .Wir kennen im Raume geradlhnge Dreiecke, 
deren Winkelsumme zwci Recliton glcich ist. Aber wir kennen 
ebensowohl ' krummlinige Dreiecke. deren Winkelsumme 
kleiner 1st als zwei Rechte. Die Existenz der einen i^t niclit 
zweifelhafter als die der anderen. Den Sciten der ersiteren 
den Namen Gerade zu geben hoiftt: die euklidische Oeometrie 
annehmetV sl (S. 43, 44.) Gaufi hatte gehofft, anf astronomi- 
schem Wege entseheiden zu konnen. ob der wirkliche Raum 
die GesetzmaBigkeit der euklidischen oder der nicbteuklidi- 
schen Oeometrie aufweist. Denn im letzteren Falle miiBtc 
der Winkel, den ein Fixstern mit den Endpunkten des Durcli- 
messers der Erdbahn bildet, die Parallaxe, positiv, aber immer 
uber eineni bestimmten Wert (im Lobatschefskysdien) oder 
eventuell neg'ativ (im Riemannschen Raum), im ersteren 
dagegen positiv, aber beliebig klein sein. .Aber was man in 
der Astronomie die gerade Linie nennt, ist einfach die Balm 
des Lielitstrahles. Wenn man also, was allerdings unmoglieh 
ist, negative Parallaxen entdeeken konnte oder beweisen 
konnte. daB alle Parallaxen oberlialb einer gewissen Grenze 
liegen. so hiitte man die Wahl zwischen zwei SchluBfolge- 
vungen: wir konnten der euklidischen Geometric cntsagcu 
oder die Gesetze der Optik abandern und zulassen, daB 
das Lieht sieh nie.ht gen an in gerader Linie fortpflanzt.' - i7 
(S. 74.) 
Wir konnen nie den Raum als solchen erforschen. 
sondern immer nur die Lag"ebeziebungen zwiscben Ko rp e m, 
also die geome t ris ehen Eigenschaften immer nur im Zu- 
sammenhang mit p hysika. I i t> chen Eigenschaften. Und 
darum ist es uuserer Wahl iiberlassen. was wir an den Er- 
fahrimg'staitsac'ben als GesctzmaBigkeit des rcinen Raumes 
und was wir als GesctzmaBigkeit der BeschaiTenheit den 
Ivor per betrachten wolleu. Eine Veranderung mit der Ent- 
fernung z. B. kann als g'esetzmafiige physikalische Besehaffen- 
heit der Korper gedeutet werden. Sie konnte aber audi als 
EintluB des absoluten Ortes gedeutet werden, wie das Mr eine 
uichteuklidisdie Oeometrie ert'orderlich ware. .Die Erfahrungs- 
tatsachen lassen uns nur die gegenseitigen Beziebungen der 
Korper erkennen, keine von ihnen bezieht sieh (oder kann 
sicli bezielien) anf die Bezieliungen der Korper /.urn Raume 
t)le Grundformen der wissenpchaftliclieu Melhoden. 147 
oder auf die wechselseitigen Beziohungen der versehiedenen 
R:unn1eiIe.' :,T (S. 81.) 
Durum, .gestattet jede beliebige Erfahrimgstatsaclic eine 
Interpretation in dor euklidischeu Hypothese, aber sie gestat- 
tet eine sole he gleichfalls in der nichteuklidischeii Hypo- 
theses 7 (S. 78.) Es kann sich gar kein Widerspruch aueh 
zwischen dcr nichtenklidisehen Geometrie und den Erfah- 
rungstatsaclien ergeben. wcil man durch entsprecheude phy- 
■sikalise-he Annahmen die Erfahrungstatsachen im Sinn e frier 
jeden Art von Geometrie auslegen kann — ■ wofiir ja die Rela- 
tivitatstheorie jetzt das glanzendste Beispiel bietet. Die 
geometrische Boschaffenheit des roalen Raumes wird daher 
durch die reine Erfahrung gar nicht. eindeutig bestimmt. Denn 
welche Geometrie auf die Erfahrungswirklichkeit ange- 
wendet werden kann, hiingt da von ab, w e 1 c h e Voraus- 
setzungen wir machen. D&B 'sich aber die ideelle, abstrakte 
Geometrie iiherhaupt auf den realen Raum anwenden lii.Bt, 
berultt sornit darauf, daft wir iiberhaupt Voraussetziiu- 
gcn liber die Zuordnung geometrischer Beziehungen zu den 
empirisclien Lagebeziehungen der Korper einfuhren. 
Die Anwendung der Geometrie zur Bestimmung des empi- 
rischen Raumes und der Korper, der Erfahrungswirklichkeit, 
beruht somit einerseits darauf. daft die empirisch-raumlichen 
Bezieliungen solche sind. welche auBer ihrer inhaltlichen 
Eigenart zugleioli auch die formale Boschaffenheit aufweisen, 
wie sie in den Axiomen festgelegt ist. Aber urn diese Be- 
ziehungen zu gewinnen, miissen andererseits erst in bezug auf 
ihre Beziehungsglioder gewisse Yoraussetzimgen gemaclil 
werden. daruber. was empirlsch als Punkt, als Gerade, als 
konstante Entfernung (starrer Kfirper) anzusehen ist. Das 
ist nicht empirisch eindeutig gegeben. sondern es sirnl selbst- 
getrotl'ene Zuordnungen. verschiedtm wahlbare Festsetzungen. 
Worauf gr Linden sich nun diese Vorau&setzungen? Mit 
welchem Rechte diirfen wir diese Annahmen machen? Man 
kommt mit diese r Frage an eine der bedeutsamsten, aber auch 
der schwierigsteu und umstrittensten Problemgruppen einer 
Philosophic der Mathematik nicht nur. sondern der theore- 
tischen Philosophic Iiberhaupt. Bei der An* wort darauf wird 
man iinmHtolbar an die entscheidenden Auffassungen fiber 
10* 
148 V. Kraft. 
das Yerhaltnis von Erkenntnis und Wirklichkeit herangcfulirt. 
Genau imisehrieben handelt es sich um die sachlichen 
Bezielmngen zwischen idceller Theorie und empiriseher 
Wirklichkeit. Ein Gegensatz der Auifassung' macht sich da- 
bei immer wieder gel-tend: die idealist ische und die realistisehe 
Auftassung der Erkenntnis in ihrem Yerhaltnis zur Wirk- 
lichkeit. Gerade fur die Geometric hat jede der beiden in der 
Gegenwart ihren bedeutenden fachkundigen Anwalt gefundeu: 
die crste in Poineare, die zweite in Enriques. 
Weil unsere Yoraussetzungen iiber die Zuordnung geome- 
triseher Bezielmngen zu den empirisehen Lagebeziehungeu 
der Korper immer nur im Zusammenhang mi.t Aiinahmen 
iiber das physikalische Verhalten der Korper zu machen sind, 
und weil diese Annahmen in mehrfach versehiedener Weise 
gemacht werden konnten, so dafi jede Erfahrungstatsache 
durch geeignete physikalische Annahmen im Sinne jeder 
beliebigen Geometrie sich deuten lieBe — ■ daraus zieht der 
Idealismus den SchluB, daB diese Annahmen niciit die Ver- 
haltuisse der Wirkli chke i,t geben konnen, daB sie niehts 
sind als rein ideelle Hilfsmittel. Sie konnen gewechselt werden; 
darum betrachtet er sie als willktirliche Annahmen, als 
bloBe Vereinba run gen, denen keine wirklichen Beschaf- 
fenheiten des realen Raumes eiitsprechen. Die metrischen Be- 
ziohungen in den ge ometri.se hen Axiomeu sind in bezug auf 
den wirklichen Raum niclrt reale Lagebeziehungen, sondern 
nur rein ideelle Bezielumgen. die wir zwischen dem Raum- 
erfiillenden im Geiste hergestellt haben, um es zu ordnen. Und 
darum beruh.t die Zuordnung unserer geometrischen Eleraente 
und Bezielmngen zu den empirisehen Lageverhaltnissen auf 
willkiirlichen Vereinbarungen. Die gemeinsame Grundlage 
der verschiedenen geometrischen Interpret at ionen ist das bloBe 
Koutinuum des topologischen Raumes. ,ln diesem urspriinglich 
gestaltlosen Kontinum kann man sich ein Netz von Linien 
und Flachen denken. Jlan kann welter daliin iibereinkommen, 
die itaschen dieses Xetzos als untereinander gleich zu betraeh- 
ten. und nur durch diese fiber einkunft wird das meGbar ge- 
wo.rdene Kontiuumn der euklidische odor niehteuklidische 
Raum' S1 (S. 48). Man kann vom wirklichen Raum ebenso 
wenig sagen. daB er euklidiseh oder daB er nichteuklidisch ist. 
Die GruudfoiiiR'U tier w i^eiihelmEUiclien Metliodeu. 149 
mid cs kaim ebensowenig Erscheinungen geben. welehe in 
einem Raum der einen Art moglich in dem der anderen An 
abcr unmoglieh waren. als es Langen geben kanii. welehe 
man imr in e i n e m MaBsystoni abmessen kann. in einem 
anderen aber niclut 37 (S. 75). Die verschiedenen Arten soldier 
Cbereinkunft tiber die Zuordnung von geometrischen unci em- 
pirischen Yerhaltnissen (z. B. die versehiedenartigen Vor- 
aussetzungen liber die Gerade) sind theoretiseh alle glcich- 
wertig. Man konnte ebenso gut. die eine wahlen wie die anderc. 
Was uns eine ganz bestimmte Art der Zuordnung (z. B. die 
euklidisclie) zu wahlen veranlafit. ist, daB claim .das wissen- 
schaftliche System der empirischen Erscheinungen einfacher 
mid danim bequemer wird als bei anderen. 
Da setzt a.ber nun die Einwendung der r e a 1 i s i i s c h e u 
Auffassung ein. Es ist nicht einfach die Bequemlichkeit, die 
Okonomie, welehe uns bestimmt, die eine Annahme den an- 
deren vorzuziehen, sondeni es sind gute, sachliche G-runde. 
Die versehiedenen Annahmen sind nielit theoretiseh gleich- 
wertig, gleich moglich, sie konnen nur so erscheinen, weim 
man in unserer tivt*ii clilichen Welt .eine systematische Fehler- 
quelle\ eine neue GesetzmiiBigkcit annimmt. Das audit En- 
riques in einer Kritik Poincares zu zeigen 17 (II.. S. 266 f., 274 f.). 
Welehe geometrischen Eigenschaften wir dem wirk- 
lk'hen Raum zuschreiben sollen. ist nielit eine Sache reiner 
Willkiir, sondeni einer Ubereinstimmung in den Beziehmigen 
mid ini Verhalteii der Korper in der wirkliehen Welt. Das 
konkrete Zurgeltungkoinmen der geometrischen Beziebungen 
ist in der Erfahrungswirkliebkeit an niehtgeometrische. an 
physikalisehe Fabtoren gebunden. Ms g e o m c t ir i s c h e 
Lagebeziehungen der Kdrper ergeben sick daratis diejenigen. 
welehe iibrigbleiben. wenn man die eigentlieh physikalisehen 
Beziehungen (in Gedanken) ausschaltet, d. i. welehe als kon- 
stant besteheii bleiben. wahrend die.se variieren. .In unserer 
Welt sind die Korper meBbar in bezug aufeinander dank der 
Moglichkeit. sie unabhangig von der Veranderung ihres phy- 
sikalisehen Zustande.s zu bewegen; die Erwarmung, die Ab- 
kuhlung. der Druek verandern allerdiugs die fiir die Messuug 
ei-forderlh'hen Vergleichselemente. aber diese Veranderung ist 
zufallig in bezug atif die gegenseitige Lage der Korper, des- 
1 50 V. K r a f t. 
halb branch* sich die Geometrie nicht urn sic zu bekummem.' 
Die Gcrade ergibt sich als uusgezeiehnete gemeinsame Eage- 
hezielunig' in den vielfachen, ganz verschiedenartigen physi- 
kalischen Erscheinungen: als Achse (d. i. Linie tier I'ube- 
"wegt-heit) bei der Rotation starrer Korper. als Linie des Licht- 
st rabies, and als Symmetrieliuie der Strahlungserseheiuuugen 
in einem homogenen Medium, als Tragheitsbahn usw. 17 (S. 2(>8j. 
Alio diese verschiedenen Erscheinungen stimmen dariibcr 
tiberein, daB sie eine Art der Lagebezieluing aufweisen, welche 
si eh unter dem geometrischen BegriiT der (euklidischen) Ge- 
raden subsumieren und dureh diesen Begriff rein und iso- 
liert aussprechen lafit. Das 1st die bedeutuugsvolle Grund- 
tatsache. welche uns berechtigt anzunehmen, daB die Oerade 
eine reale Lagebezieluing, eine 'Bestimmung dps wirklichen 
Raumes ist. Und so ganz j-vllgemein: Die Voraussetzungen 
iiber die geometrische Beschaffenheit der Korper, welche der 
Geometrie als metriseher zugrunde gelegt werden miisseu, wer- 
den auf Grand ernes ausgezeichneten Sachverhaltes in den 
empirischen Erscheinung'en gewjihlty. Es .;slnd phy.sik,alisch 
hochst wahrscheinliehe Annahmen tiber die Ert'ahrungswirk- 
Uchkeit. Man kann. wie be! alien Ert'ahrangserkemitnissen. 
die Mogliehkeit nicht ausschlieBen. daB sie sich durcli neue 
Erfahrungen als falscli erweisen konnten. sie sind also keincs- 
wegs eine a priorisehe. fur alle Erfalining notwendigc Bedin- 
gung. Aber sie sind uns immer dureh den jeweilig bekannten 
empirischen Sachvcrlialt aufgenotigt und durch ihn motiviert, 
nicht, willkiirlich und bloB als die bequemsten gewahlt. 
Insoferne die Geometrie angeweudet wird. crhalten ihre 
Axiome die Bedeutung von Annahmen tiber die Lagebeziehungen 
dcs realen Raumes. von Hypothesen. Man nimmt an, daB 
darin. in der Auseiiuinderteilung von gcometrisciier und physi- 
kailischer Beschaffenheit der Korpcr. etwas Reales: speziflsche 
Beschal'i'enheiten der Erfahrungswirkliehkeit, crkannt wird. Die 
miteinander unvcrtraglichen Axiome der verschiedenen nietri- 
schen ("euklidischen und nichtcuklidischeiO Geometrien stelleu 
demgemaB ebenso viele vorsehiedene Hypothesen fiber die 
Beschaffenheit des empirischen Raumes dar. Nur einer 
Gruppe von ihnen konnen die wirklichen Raumbeziehun- 
gen entsprechen — welcher. das muB die Erf a hvung cut- 
TJie CiruixlEmnien der wisseuschaftlicheii Mcthoden. lol 
scheiden. Und wenn sic es audi nur ;uif Gmnd der vorher an- 
geiuhrten piiysikaliseh-geonietrisehen Vonmssetzimgen tut, so 
sind diese doch nicbt willkuiiiche Vereinbarungen, sonderu 
sachlieh begriindeie und geforderte Hypothetfeu. Wenn wiv 
aber beute nicbt inehr sagen konnen wie Enriques 17 (8. 290): 
Kach deru augenblickliclicu Stand unserer Kenutiiisse ,kanu 
Her physikalische Raum also als euklidiscb betraehtet werden 
niit einer Annk'herung. welche die derzeitige Genauigkcits- 
grenze unserer vollkonmieusten Instrunietite ubers'Cbreitet', 
weil devRaum sicb bei einer VeritizierungderallgcmeinenRcla- 
tiviUW'Stiieorie andcrs darstellt, so erfolgt eine solehe Wand- 
luug unserer Anscbauungc-u ebeu deshalb, weil ims ne.iio 
pbysikalisehe Griinde dazu notigen. An dem allgememeii er- 
kenntnistbeoretischen Sachverhalt wird dadurch molds ge- 
undert. 
Die gemeinsame Basis fiir dic.se entgegengesetzteu Auf- 
fassungen iiber das Yerhaltnis von Geometric und wirkliebem 
Ha u in und damifc iiber die Gnmdlage ihrer Anwendbiirkeit. die 
ideaHstische und die realistisohe, bildet der erkeuntnistbenrcti- 
sche Tatbestand. daft die Geometrio sich nieht unmittelbar auf 
dieErfahningamvenden lafit. sonde™ daRmanVorausse'tzungeu 
iiber die Zuordnuug von geometrischen und empiriscbcn Yer- 
haltnissen einfiilirt. Yoraussetzungen. welche in Hinsieht auf 
den anderweitigen. physikalischen Zusammenhang der cmpiri- 
selien Erschemungen passend gewahlt sind. (Was ilas 
lieifit: -])asseud gewahlt'. vgl. S. 15(1. 157.) Xur dadurch. wie 
Me diese Yoraussetzungen erkenn.tnistlieoretisch qualifizieren. 
uuterscheiden sieh die beiden Auffassuugen vuneinander. 
Sie sind nur verscbiedene Deutungen des Sin no s der 
fur die Anwendbarkeit erforderliehen Voraussetzungen. 
Fiir die eine benihen diese auf willkurliehpr Ohereiiikunft. 
xiim Zweckc der bequemsteu Ordimng der Erscheinungen, 
fur die andere auf empirischer WahrscheinliHikeit. darauf, dnfi 
>ie zutrei'fende Hypothesen iiber die Wrhaltuisse der AVirklicli- 
keit sind. 
Fiir die ganze Frage der Anwendbarkeit der Matliematik 
auf die Kri'ahmugswirkliehkeit is), abcr ernes von Bedrutimg, 
Wenn die Matliematik aueh hinsiehtlicb ihrer Geltung v<m 
der Erfahrung viillig unabhangig ist. so besteht deshalb doe!) 
152 V. K raft. 
nk'ht cine vollige Frenidheit und Iletcrogeneitat zwisehen 
ihnen. wio et-iva zwischen eiuer ,reineu Anschauung' mid der 
.iSinnlichkei.t', zwischen urspriiuglieher .Form' mid ebenso 
selbstiindigem .Stoff der Erfahrung, die man dann betide dureh 
eino naturgesetzliclie Fuukthm aneinander binden raiifi. Wcnn 
auch die Gebildu und Beziehungen dor Mathematik etwas 
Ideelles, ja teihvei.se etwas Ideales sind, genet i sc h gehen 
sic doeh durehaus atif die Erfahruiig zuriick. 
Es sind die Yerbaltuisse ompi ri s eh er Mengeu. von 
Mengen empivischer Gegeustande, welehe die genet ischc 
Grundlage fur die Bildung der Zahlbegriile geben: eine auf 
einma! (iberschaubave und lei el it zu bemcrkende Wiederholung 
gleichartiger Gliedev (2. B. Jagdtiere oder Gera.te derselben 
Art), mid <!ie deutlich merkbare Yersehiedenheit in soleher 
Wiederholung hoi uugleiehzahligeu Mengcn (z.B. 2 mid 5Keun- 
tieren) und die gegenseitige Zuordenbavkcit bci gleiehzahligen 
Meugen (z. B. o Renntieren mid Fingern), die A'erminderung 
einer Menge oder die Zusainmenleguug zweier Mengen us,w. 
Das si nd .a lies einerseits Yerhaltnisse am Erfahruugsgegebenen, 
an dem sie andererseifs das BewuStsein dureh seine allgemcine 
Funktion der Aufeinanderbeziehung. der Vergleichuug und 
Fnterscheidung' zur gesonderteu Auffassung bringt. Es ist 
keine besondere sezifi.se he Bewufitseinsi'nnktion der Syn- 
these. eine .im Gemiit iiereitliegende' Auschauungsform dafur 
erforderlioh oder dariu zu entdecken. Aus jenen allmahlieh 
aufgefatSten Yerhaltnissen und Beziehungen des Erfahrnngs- 
gegebenen siud dann in abstrakten Yerselbstandigmigen die 
BegriiTe der Arithmetik entwickelt worden: Der Begriff der 
Anzahl. dem nieht blofi die versehiedenen Melirheiteu. sondern 
aueh Eins mid Keines subsumiert wiirden, eine Hegel der 
Unterseheidung und Ordnung der Anzahlen: die Bildungs- 
gesetzmaBigkeit der Zalilenreihe. die Beeheiioperationen u.sw. 
Da>s Urphanomen des mehrfaeh Vorhandenseins. des Sich- 
wiederholens eines Gleiehen — das ist die empirische Grund- 
lage der Zabl; an ihm hebt sich das Moment der Mchrzahl 
und drvs der Einheit ab und die versehiedenen Arten der 
Yielhek. Diesc werden dureh das kunstljehe Mitt el eines Ge- 
.setzes der Zahlhildung untcrseheidhar gemaeht. individuali- 
siert; aber es werden damit doeh nur Momente am Em- 
]>it; < Iruudforiiieu tier \visceii»t'li;iftliclicn .Metliodoii. 1d3 
pirisehen abstract isoliert mid dann selbstandig weiter- 
gebiklet. 
Ebeivso bildet cine gauze Jlenge you YVahrneliimings- 
ergebnissen. von iiiechanischcn mid physikalischen Erfabrun- 
gen die Grundlage, von der aus die geome tri scheu Be- 
griffe konzipiert worden shid. So sind die Begriffe. welehe dem 
geome trisc hen Begriffe der Linie zugrande liegen, ungefiihr 
folgende: zuuachst die vielerlei Geaicbtsbilder ve-u Grenzen, 
von Ivanten, von Gegenstanden mit versehwindender Dieke 
gegenuber ihrer Langeuerstreckung. welehe a Lie das f ertige, 
vollstandige Bild von Linien vor uns hinstellen, dann Wahr- 
nehmungen von der Art. dafi erne tiber eine Flache bin.- 
S'trcieliende Spitze eine Spur hinterlafit, welehe uns die E r- 
zeugung einer Liuie durch einen .Punkt' darstellt; dann 
die Wahrnelrmungen l)eim Heriihren und beim Abtasten von 
solchen Gegenstanden mit iiberwiegender Langenausdehuung 
oder von Kan ten, Wahvnehnmngen, welehe ims ebenfalls toils 
die vollstandige Lime, teds ihre Erzeugungen geben und 
aufierdem, ebenso wie Blickbewegungen. noeh die Mogliclikeit 
klar miaelien. sie audi umgekebrt zu durchlaufeu — was dann 
goometrisch in der Umkehrbarkdt der Punktfolge in einer 
Linie (der linearen Ordnung) ausgesprochen wird. Und die 
Erfabrungsdafen. welehe den Begriff einer Geraden er- 
steheu Iassen. liegeu in ma n nigra e hen Erfalirungeu tiber im 
selben Sinn ausgezeichnete Eigenschaflen. Ein diinuer Lieht- 
strahl gibl mis das fertige Bild einer Geraden. Die Spur eincs 
Korpers, der sich IxMa.ndig aid dasselbe Ziel zu (in derselben 
Richtung) bewegt. zeigt uns ihre Erzeugung. In der gespann- 
ten Schnur ha ben wir sie als die kiirzeste Entfemung vor 
uns. Die Gerade als Linie stetsgleicher Riohtung '/.eiehnet sioh 
audi in eigenen Korperbewegungen ohne Ricbtungsande- 
rmig aus — sowic dieKriimmung durch andersariige kinaslhi 1 - 
tiseln; Emptiuduugen — . und sic zeielmet sich aueh dadurcli 
aus. dafi ein gerader Korper von stark iiberwiegender Langen- 
ausdelmimg. in seiner Langsrichtung gesehen, auf semen Quer- 
schuitt zusannuensclirumpft. Dafi ein soldier Korper von alien 
Sciten als Gerade gesehen wird oder einen geraden Sehatten 
wirft. zeigt uns die (Jerade als die Linie. deren Projektionou 
wiedt^r Gerade sind usw. (vgl. dazu 17 . IT, Kap. 4. B; zu den 
1 54 V. K r a i t, 
enipirischeiiGrundlagen derDreidimensioiialitat desKaumes *\ 
T. Teil. 4. Kap.). 
Derart sind die Erfahrimgen, welche den Anlafi und die 
Grundlage fur die Bildung dor unit hematic chen Begrii'fe er- 
geben. In einem ProzeB der Abstraction, der Isolierung imd 
der Verschmelzung bauen sich auf ihnen die math em a Use hen 
BegrifTe als etwas Neues auf. Der geomelrisc.be Begriff der 
Linie oder vielleicht noch deutliehcr der Geraden entsteht nicht 
als bloBe Abstraktion aus dem sinnlichen Bild der Linie oder 
der Geraden, sondeni erst auf dem Boden der mannigfachen 
Erfahrungen; deim er cnthalt welt mehr als das bloBe sinn- 
liche Bild. Er is>t, aber auch nicht oinfach der Niederschlag 
der Erfahrungen, er cut halt ja etwas Ideales, Nicht-mehr- 
Erfahrbares, sondern er stcllt auf der Basis all der Erfahrun- 
gen etwas Neues auf, er konzipiert eine Beziehung, welche 
die mannigfachen Erfalmmgen einheitlich zusammenfaBt. 
welche als eine GesetzesmiiBigkeit in ihnen alien entdeckt 
werden kann, welche etwas Obergeordnetes, Gemeinsames iiber 
sio stellt. 
Der mathematische Begriff wurzelt genetisch in der Er- 
fahrung: er wurde nicht cntstehen ohne sie: aber er envaohst 
nicht unmittelbar aus ihr, sondeni erst durch abstrakte Isolie- 
rung einzelner sehr allgemeiner Momeute und Beziehungeu an 
ihr durch .Formalisierung' des Empirischeu und iibe-rdies durch 
Idealisierung (wie bei den geoiuetrisehen Begriffen). 
2. Theorie als Wirklichkeitserkenntnls. 
a) Die Verifizierbarkeit einer Theorie. 
Wird die Mathematik auf die Erfalmiiigswirklichkeit 
angewendet. so sind die Mechanik und die theorotische 
Physik und die anderen Theorien schon von vornherein ztir 
Wirklichkeitserkenntnis erdacht. Die Mecbanik crklavt. 
die wirklicben Bewegungen der physisehen Korper .auf der 
Erde und am Himmel in ihrer Gesetzmafiigkeit und bildet 
darum auch die Grundlage fiir eine reiehe teehnische Amven- 
dung. fiir don Maisehinenbau mid den Hochbau usw. Des- 
gleichen gibt die theoretische Physik die GesetzmaBigkeit 
wirkliehen optisehen, elektromagnetischen usw. Yorgiinge. 
Die (Iriiiidformcn tier wis.-ejisdia ft lichen Methoden. lOD 
Eine Theorie wird als Erkeimtnis der Wirklichkeit c r- 
wiesen durch die erapirische Verifikation, durch die Ober- 
einstimmung Hirer Ergebnissc mit der Erfahnmg. So 1st die 
Mechamk verifiziert einerseits durch die tatsiichliehe Bewegung 
freier fester Korper auf der Erdoberflache (beim Fall, beim 
Wurf usw.), iinderseits durch die tatsachlichen Bewegungcn 
der Planeten. Im ersten Fall verlangt allerdings die Beriick- 
siclitigung des Widerstandes der Luft eine .Erganzung des 
bewegten Systems durcli die umgebende Flussigkeit, d. b. 
ernes Systems, das schwerer zu bestimmenden Verbindungeu 
uiiterworfen isf. Im zweiten Falle geniigt es ,fur die Haupt- 
fragen der Astronomie', wenn man die Himmelskorper ,als 
Punkte oder als homogene Kugeln oder Ellipsoide odor als 
Korper betraehtet, deren Diehtigkcit mit einer gewissen 
OleichmaBigkeit nach dem Mittelpunkte zu wachst' 1T 
(II, S. 438). Beide Verifikation sgebiete konnen durch eineVer- 
gleichung der astronomischen Beobachtungen mit gewissen 
irdischen Experimenten teilweise mit einander verknttpft wer- 
den. Die Berechnungen der Planetenbewegung auf Grimd der 
mechanisehen Theorie werden durch die Beobachtung mit einer 
bewundemswerten Gemiuigkeit bes>tatigt. ,namlich mit einer 
Abweichung von 15 Winkelsekunden oder 1 Zeitsekunde bci 
der Bewegung des Mondes innerhalb 2 1 /* dahrhunderten und 
mit der hochsten Abweichung von 8 Winkelsekunden oder 
1 i.. Zeitsekunde bei der Bewegung des Merkur in einem Jahr- 
hundert (eine Verschiebung des Perihels urn 41" — welchc 
jetzt durch die Rclativitatstlieorie aufgelost wird). .Fur die 
anderen Planeten bleibt diese Abweichung unterhalb eincs 
Winkels von 2", obgleieh sie in beztig auf den Knoten der 
Venus und da,s Perihel des Mars zu merkbaren Fchlern fuhrt' 1T 
(S. 439, 440). Die Verifikation. welche die Mechauik durch 
das Funktionieren der Maschinen erfahrt, gestaltet sich lun- 
gegen komplizierter. Denn .die Kriifte. Massen, Verbindungen 
und Bewegungen, die uns als siohtbare Be stand telle 
der Erscheimmg sich darstellen, geniigen nicht mehr zu Hirer 
Bcsthnmung. Man imiB vielmehr daneben storende Fnk- 
toren in Betraclit ziehen, und zwar in erster Linie die Rei- 
bung. an die sich Ersclieinungen der Erwanmmg. Elcktri- 
sierung usw. anschliefien' 17 (II. ri. 442). In diesen Fallon 
156 V. K r » ft. 
stellt die Mechanik nur dann inehr als bloB .eine grob an- 
genahent e Erkeimt.ni.is' dar, ysofern es gelingt, die Gesamt- 
Iiei.t der siehtbaren Oaten zu erweitern'. indem man neben 
ihr .eine hypo the tische unsichtbare Well; als .fiktives Zwischen- 
g'lied zwischen den realen Gegenstiinden' konstruiert (a. a. 0.). 
In diesen Fallen bleibt eine genauere Yerifikation also ,ab- 
hangig von der Annahme anderer Hilfshypothesen' (S. 448). 
So werden die Theorien als Erkenntnis der Wirklichkeit 
vim der Eriahning bestiitigt. Sie sind aber doch eigentlich 
ideelle Systeme. Wenn sie Wirklichkeitserkenntnis da.rstellen, 
so heifit das somit, daft ein ideelles hypothetisch-dediiktives 
System in einer sachlichen (nicbt bloB genetischen) Be- 
ziebung zur Erf aiming steht. Niir darin kann die Wirklichkeits- 
bedeutnng ernes ideellen Systems liegen. Diese sachliche Be- 
zi cluing besteht darin, daB eine Theorie einen Kreis schon 
bekannter Tatsaeben vollstandig zu erklaren, das ist aus ihren 
Annahmen zu deduzieren vermag und daB audi alle 
weiteren Folgerungen aus ilmen mit Erfahrung-statsachen tiber- 
einstimmeu, mit schon bekannten, aber bis dah in unaufge- 
kliirten oder mil, dadureh erst neu aufgct'iindenen - — womit 
dann die Yerifikation besonders schlagend wird. So ist Max- 
wells elektromaguetische Theorie des Lichtes dadureh verifi- 
ziert worden, daB H. Hertz imstande war, elektromagnetische 
Wellen experimentell zu erxeugen. Wcnn aueh die Folgerungs- 
ergebnis.se. zu detien eine Theorie fiihrt. und die beoba.cliteten 
Tatsachen nur nabezu ubereinstinimen ; so lassen sicli aber 
die Abweiehungen begriinden und ihre Grenzen beslimmen. 
Auch die anna h evade Cbereinstimmung von Theorie und 
Wirklichkeit hat ihren Grund und ihre GesetzmaBigkeit; sie 
ergibt skh aus beider Yerhliltnis: es sind nicbt vollig dieselben 
Bediugnugen. welche die Theorie ihren Folgerungen zugrunde 
legt und welche fiir den realen Naturvorgang bestehen — weil 
die Tbeoric eben vereinfachte, idealisiertc Yerhaltnisse 
behandel't. Diese nur annahernde Ubereinsfhnmung ist welt 
entfenit von cincm vageu JTngefahr; auch sie ist deduzierbar. 
Darait ergibt sieh aber die Frage: Wie kann eine Theorie, 
das ist ein ideelles hypothetiseh-deduktives System, das doch 
von willkurliohen Annahmen ausgeht. zu Ergebnissen fiihren, 
welche mit den Erfahrungslatsaehen ubereinstinnnenV Das 
Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden. 157 
kann nur sein, wenn die Annalmie. auf welehe die Theorie sich 
aufbaut, von vornherein gerade in H in sic lit auf die ft r- 
f&h rungs tat sa chen gewahlt sind. Die Axiomc, die 
Grundannahmen eines theoretischen Systems, werden in 
freier Setzung aufgestellt; sie konnen ohnc Bticksieht auf 
die Erfaihrungswirklichkeit gewahlt werden — dann ergeben 
sie cine irrealc Theorie, wie z. B. cine nicht-newionsche 
Mcehanik; und wie konnen audi so gewahlt werden, daB die 
Folgcruugen .a us ihnen mit den Erfahrungstatsaehen moglichst 
ubereius'timmen. Das wird dadureli erziett, dafi in den Grund- 
annahmen die a 1 1 g e m e i n e n V o r a u s s e t z u n g e n fiir 
eine deduktive Ableitung. also ein gesetzmiiBiges YersUindnis 
g ewisser konkreter Tats a e li e n, welehe empirisch 
(experimentell oder durcli Beolmehtung) festS'tehen, konst.ru- 
iert werden. Da ten wie die des Falles auf der sehiefen Ebene 
oder wie die Orter und llmlaufszeiten von Planeten geben die 
konkreten empirischen TaJsachen der Bewegung; die Fall- 
gesetze Galileis und die Keplerschen Gesetze weisen eine enste 
Gesetzmafiigkeit darin auf; diese GesetzmaBigkeiten Iassen 
sich durch das Gravitat.ionsgesetz wieder als Folgen einer all- 
gemeinereii Ge.setzmaftigkeLt verstehen: die allgemeinen Vor- 
aussetzungen fiir diese werden dann von einer Theorie der Be- 
wegung, wie sie die Jlechanik darstellt. entwickclt. Wenn man 
das Ganze einer Theorie einmal von den verifizierenden Ta t- 
sachen aus uberbliokt. so kniifift sich an diese eine Keilie 
immer allgemeiiierer Aufstellungen — ■ als die unigekehrte Fol- 
gerungsreihe — , die niit den Axiomen als den allgememsten 
Voraussetzung'en endct. Eine Theorie leg't, bestimmte Er- 
faliruugstatsaelien als gesetzmaCttg zureeht und konzipiert 
daniit eine allgemeine GesetzmiiBigkeit fiir ein Erseheinung-s- 
gebiet, eine Erscheinungsgattung; sie stellt die logisehen Er- 
fordemisse da fiir auf. In den Grundannalnnen einer Theorie 
werden die Bcdingimgen formuliert, unter denen sich be- 
stimmte reale Erseheinungen gesetzmiiBig konstruiercn 
lassen. unter denen ihre Rationalisierung moglich wird. Weil 
die Grundannalnnen einer Theorie, s-ofeni die*e real gelten soil, 
von vornherein so gewahlt werden, da 6 sie den allgcmeiuen 
logisehen Uberbau iiber Erfahrung-stalsachen, eine Gesetz- 
maBigkeitskonKtruktion derselbeu bilden. darum konnen sie 
158 V. Kraft. 
danu zn Folgerungen ffihren. wolche imni( j r wiedor von dor Ei- 
fahrung bostatigt werden. 
b) Theorie und Erfahrung. 
Wonn die Axiom e oder Ornndannahmcn einer Theorie 
in Hinsicliit auf die Erfah rungs tatisaehen gewahlt werden solleu 
als die allgemeinen Voraussetzungen fiir einc GesetzinilBigkeit 
derselben, ho heiBt, das, daB die Erfahrung in ge wissem 
Si nne m it, wi rken muB bei der Aufstellung der Axiome. 
Deim diese Annahmen konuen nieht rein spekulativ ausgedacht 
werden. Sie sollen ja Wirklichkeitserkenntnis sein and ,Eigen- 
seliaften der Natur kaim man sieh nicht ntit Hilfe selbstver- 
stiindlicher Annahmen aus den Fingem saugen, sondern sie 
miissen der Erfahrung entnommen werden' ™ (Zusntz 1, 5. Aufl., 
S. 55")'). Die Grundannahmen einer Theorie konnen nur auf- 
gestellt werden. wenn «ie durch Erfahrungswissen hinreichend 
vorbereitet sind. Das ganze Gebiiude einer Theorie: die schein- 
bar willkiirlichen Grundannahmeii und die seheinhar be- 
liebigen speziellen Bedingungen fiir die Dednktion und 
die (label erstauuliche schlieBliehe Cbereinstimmung der Fol- 
gerungen mit der Erfahrung — - das ist nur moglich. weil so 
und so viel Erfahrungswissen bei seiner Aufricbtung leit-end. 
richtunggebend beteiligt ist. Machs Werke zeigen eingehend. 
wie beim Aufbau der meehanischen und der phyisikalisehen 
Theorien iiberall Erfahrungen mitwirken und bewufit oder 
stillscliweigend vorangehen. 
Die Eleinente und Beziehungen. mit dencu eine Theorie 
arbeitet. (z. B. Besehleunigung, Masse, Kraft), sind doc-h nur 
von der Erfahrung aus komipiert, wenn sie auch dann rein 
formal (wie bei Russel lerliglich als Beziehungen zwischen 
Kaum- und Zeitpunkten) gefaBt werden. Sie envachsen aus 
einer Umfonnung (Ideal isie rung) der ErfahrungsverhiiLtnisse; 
eine Theorie konstruiert isolierte und vereinfachte Bediu- 
gungsverhaltnisse, indem sie gewisse Eigeuschafton der Er- 
fahrungswirkLichke>it festliillt, andere fallen laBt. Dazu muB 
aber ein Ert'ahrungsbereich so durcligearbeitet soin. daB man 
imslande ist. die letzten Eleniente und ihre Beziehmigen 
herausznpraparieren. Erst wonn ein Erfahrungsgobiot analy- 
Die GninAformen der wissenschaftlichen Metkoden. 159 
tiseh erforsoht ist. wird es moglich. die idealeu Bausteine fiir 
oino Theorie desseibeu in dev notwendigen Prilzision zu knn- 
zipieren. 
Das zeigt sieh besonders deutlieii in den Gnindanuahmen 
der neuen relativitatstheoretischen Mcchanik; das gilt aber 
ebenso fiir die der klassischen Meehanik. Der neue Massen- 
begriff wurzelt in neuen Ergebnissen der Elektrodynamik be- 
wegter Korper (Medien), wie sie die Ersdieinungen bei den 
Kathodenstrahlen und den Radiumstrahlungcn mit &ic!i ge- 
braclit haben. Infolge der Selbstindnktion der ausgescbleuder- 
ten (negativ) elektrisch geladenen Teilchen nines Kathoden- 
st rallies (oder bci der Strahlung in einem spiegelnden Hohl- 
raum) zeigt die elektromagnetisclie Energie ein genau solches 
Verbal ten wie Tragheit, wie Masse also. Redmungen (Abra- 
hams) und Versudie (Kaufmanns) fuhren zu dem Sehlusae, 
dafi die Elektronen uberhaupt keine andere Masse als die 
sc-heinbare Tragheit der elektromagnetischen Energie haben. 
.Die Redlining zeigt, dad diese tiktive Masse mit der < ie- 
schwindigkeit variiert.' Und eben diese Ersdieinungen bei den 
Kathoden- und den Radium strahlen haben Bewegungen von 
imgeheurer Gesdiwindigkcit (von 1 / 3l( bis 3 /» der Lichtgeschwin- 
digkeit) neu in den Gesiddskreis gebradit. .Was man fiir 
Kathodenkorpuskelu gezeigt hat. hat man auf alle Korper 
atisgedehnt 47 (;■*. Bueh, 1. Rap.. 8. 188). Masse bestehf. allge- 
inein in dem tragheits-analogen Verhalten der Energie und 
daher 1st Masse nieht konsfcant, sondern mit der Gesdiwindig- 
keit veranderlich (nur it ngefa.hr konstant bei Gesdiwindig- 
keiten bis zu 1000 km in der.Sekunde, daruberhinaus wachsend 
bis zu unendlicher GroBe bei der Liditgeschwiudigkelt). Auf 
so vielfachcn Erfahrungen und Hypothesen bant sieb der neue 
Massenbegriff .auf — als eine umfassendste Hypotbese. l : n<l 
ebenso basiert der alte Massenbcgrif'f Xewtons auf vielfachen 
Erfahrungen, auf den Pendelversucheu von Huyghens u. a. 
iiber das VerhaTtnis von Masse und Gewieht. 
HeiBt das aber dann nicht. dad die Grundlageu einer 
Theorie doch induktive Erfahrungsergebnisse sind oder wenig- 
stens selbstandig begrtindete Hypothesen? Es heifit nur, dafi 
man die Voraussetzungen. die man fiir eine Theorie madi). 
a u f G v i! n d von ErfahriingslatsadH-u fund solbstaudiiivn 
160 V. Kraft. 
Hypothesen) wahlt. daB die Annahmen, die man einer 
Theorie zugrunde legt. (lurch bestimmte Erfahrungsitat- 
sachen (und Hypothesen) gefordert werden. Alter es >sind 
immer — -als Grundlagen einer Thcorie — so wenig als fest- 
stehende Erfahrungsergebnisse auch fiir siclx sehon begriindete 
Hypotheses. Nieht so lieg't die Sache, daB man Ergebnisse 
hat, die (lurch Erfahrung erwieseu oder wenigstcns als Hypo- 
thesen wahrseheinlich sind, und sie nun zu Grundlagen eines 
deduktlven Systems, einer Theorie, nimmt, so daB die Folge- 
rungen desbalb fiir die Erfahrungswirklichkeit gelten, weil die 
Voraussetzungen an und fur sieh schon dafiir gelt en (als 
induktive Erfahrungssatze oder Hypothesen), sondem immer 
liegt es bei einer Theorie so, daB ihre Grundlagen erst dureh 
die Veriiizierung ihrer Folgerungen riickwirkend Giiltig- 
keit erhalten, aucli wenn sie von vornherein in dem Sinne 
von Hypothesen iiber die Verhaltnisse der Wirklichkeit auf- 
gestelit sind; fiir sich allein haben sie keine hinreichende 
Gultigkeit. Denn in dem Sinne. wie sie die Grundlagen der 
Theorie bilden, gehen sie, wie gezeigt (S. 93 f.). als Ver- 
allgemeinerungen iiber das (lurch Erfahrung Gegebene (oder 
Wahrscheinliche) immer hinaus. .Was man fiir die Kathoden- 
korjmskeln gezeigt hat, hat man auf alle Korper ausgedehnt!' 
Das Recht dazu muB sich aber erst aus der Verifizierung 
der Eolgerungen daraus erweisen. Und da rum kann sieh aucli 
die neue Mechanik nur in der Weise aufbauen: Nehmen 
wir an. daB sich die Korper in einem Raum-Zeit-Kontinuum in 
geodatischen Linien bewegen und daB die Masse nur von 
den vorhandenen Korpem und ihrer relatives Lage zu einander 
abhangt und daB... usw., dann ntufi z. B. das Licht in 
einem Gravitationsfeld abgclenkt werden oder dann ergilit 
mcIi eine siikulare Perihelverschiebung des Merkur urn 41" — 
was tatsachlich der Fall 1st (-oder nieht der Fall ist). Die Ge- 
setzmaBigkeit, w T elehe eine Theorie aufstellt, wird an einem 
speziellen Bcreich als Beziehung von Erfahruugsfcatsadien auf- 
gefunden und festgestellt; diese wird dann verallgemeinert. 
sie wird als GesetzmaBigkeit fiir einen allgemei ncn Be- 
reieli ausgesproehen, indent man erkennt, daB sie nieht von 
den speziellen Bedingungen dos gegebenen empirischeu 
Falles abhangt. daB darin vielmehr eine allgemeinere Ab- 
1)iV Grundforiiieii der wissensehaftiichen Methoden. 161 
hangigkeitsbeziehung maBgebend 1st. Als solche sitellt sie dann 
aber nur eine Annahme dar. Aus dieser angenommenen Er- 
weiterung lassen sich aber neue Folgerungen ableiten, und 
indem diese von der Erfahrung bestatigt werden, wird damit 
auch jene verifiziert.* 3 Dieser Aufstieg zu einer allgemeineren 
GesetzmaBigkeit bedeutet aber immer die Entdeckung eines 
Neuen: die Aufstellung eines (ibergeordneten Gemem'samen 
(z. B. fiber dem Fall und dem Wurf und der Planetenhahn 
die Massen-.Anziehung'). und dieses ist eine originelle. geniale 
Idee, die nicht einfach von der Erfahrung abzulesen ist. Und 
insofern fiihrt eine Theorie liber das in der Erfahrung wirklich 
Gegebene immer hinaus — so sehr sie auch immer nur auf 
dem Boden der Erfahrung erwachsen kann. Die Grundlagen 
einer Theorie werden nicht im eigentlichen Sinn .der PJrfahrung 
entnommeiv. wie Maeh (a. a. O.) sagt. Sie sind nicht empirisch 
gegeben oder beobaehtbar und sie konnen auch nicht einfach 
erschlossen werden. weil die Obersatze dafiir fehlen: 
eine Theorie bant sich ja gerade durch die Einflihning neue v 
ldeen, neuer Abhangigkeitsbeziehmigen auf. Die Gruud- 
annahmeii konnen nur konstruiert werden als Hilfsmittel 
zur Zuriickfuhrung der empirisch gegebenen Erscheimmgen 
(z. B. Bewegung) auf gesetzmafiige Bedingungen. 
Damit ist ein klarer Einblick in das prinzipielle Ver- 
haltnis von Theorie und Erfahrung gewonnen. Wenn eine 
Theorie fur die Eriahximg , swirklichkeit gelteu soil, so kann 
ihre Aufstellung nur Hand in Hand rnit der Erfahrung er- 
folgen. Aber das bedeutet noch keineswegs, daB damit die 
Grundlagen einer Theorie durch Erfahrung selbstandig, direkt 
begriindet wtirden. Das Axiomensy stem einer Theorie ver- 
mag immer nur als freie Setzung aufzutreten, nicht als fiir sich 
induktiv begriindete Hypotheisen. Die Erfahrung bildet — 
auBer der Verifikation — nur eine E n «t s t e h u n g s bedinguug 
fiir eine Theorie. All das, was frtiher iiber die Mitwirkung der 
Erfahrung am Aufbau einer Theorie gesagt warden ist, be- 
steht nur in genetischer Hinsicht. Diese Mitwirkung wird un- 
sichtbar, wenn das hypothetisch-deduktive System fertig da- 
steht. Unter dem Gel tuugs-Gesicbtspunkte trltt die Er- 
fahrung in einer Theorie uberhaupt nicht fruher als bei Hirer 
Verifikation als Instanz auf; sie wird erst zur Realitatspriifung 
Sitznngslier. il. pliil.-hist. Ki. 2(13. Bii. 3. Al.li. 11 
162 . V. Kraft. 
der theoreti'schen Konsequenzen angerufen. Innerhalb des 
reinen Folgerungssystems spielt sie geltungsmaBig iiberbaupt 
keine Rolle. Denn hier folgt ja alles aus den Grundannahmen 
mit logischer Notwendigkeit. Da rum gilt das deduktive 
System in sich unabhangig von der Erfahrung. Und audi fiir 
die Grundannahmen selbst bildct diese nur eine g e n e t i s c h e 
Voraussetzung. nicht eine direkte Grundlage ihrer Gel tun g. 
Sie sind nur indirekt mit der Erfahrung geltungsmafiig ver- 
kniipft durch den riicklaufigen Folgerungszusammenhang' mit 
den verifizierenden Tatsadien. 
Die Erfahrung wirkt also an der Aufstcllung einer real 
giiltigen Theorie in zweifaoher Hinsicht mit: unter dem Ge- 
siditspunkte der Gelt ting* ledig'lich bei der Yerifikation als 
empirisehe Restatigung theoretischei* Folgerungen; und isoust 
nur in gen et i s eh e r Hinsicht als Ausgangsbasis fiir die Ge- 
staltung einer Theorie, als Material fiir die Bildung ihrer Bau- 
steine, als Direktive fur die Wahl ihrer Grundannahmen. als 
Anregung fiir die Stellung der speziellen Aufgaben. In 
g*enetisehem Sinne trifft es zu. weim Wundt, (Logik. IF 1 , 
S. 400. 4. Absclin.. 1. Kap.. 1 e) sagt: .Xaehdem durch Analyse. 
Induktion und Abstvaktion die allgemeinen Yoraussetzungen 
iiber die Grundlagen liestimmter Xaturvorgange sowie die Ge- 
setze. denen sie folgen. gewonnen sind. beginnt das Geschaft 
der physikalischen Deduktion.' Abet* er hat nicht rechi. wie 
er es meint — womi er z. B. da.s Gesetz der virtuellen Ver- 
schiebungen bei Lagrange ein .aus urspriinglicher Induktion 
gewonnenes Gesetz' nennt (S. 412. 410): im Sinne der Gel- 
timg*. Denn die gesetzmafiigen Verhaltnisse. die eine Theorie 
aufstellt, lassen sich nicht aus der Erfahrung direkt entnehnien 
oder enveisen oder logiseh ableiten. sondern es ist gerado die 
Leistung einer Theorie. iiber dem Erfahrungsgegebenen eine 
rationale Fvonstruktion (die einer moglichen GesetzmaBigkeit) 
aufzufiihren und den Xachweis dafiir aus der Erfahrung auf 
einem Umwege zu ermoglichen. indent sie das, was sie nur als 
Ann a lime einfuhren kann. in iliren Folgerungen an der Er- 
fahrung priift. 
Obwohl eine Theorie eine nicht-empirischc. ideale Kon- 
struktion ist. kann sie doch fiir die Erfahrungswirklichkelt 
gelten. weil ihre Grundannahmen so gewilhlt werden. dafi die 
hie Grunctformeii der wissensetaftliclien Methoden. 103 
Folgerungen daraus mit der Erfahrung ubereinstimmen. TJnd 
man wird dadurch in stand gesetzt, solche Annahmen aufzu- 
stellen, da6 man bei ihrem Entwurfe von den Erfahrungsver- 
haltnissen ausgeht und auf Grand einer Analyse derselben und 
durch deren Vereinfachung und Idealisierung die Glieder und 
Beziehungen des Systems konzipiert. 
c) Mehrfachheit und Einfachheit der Theorien. 
Die Geltung fiir die Erf ah rungs wirklichkeit wird einer 
Theorie durch die empirische Yerifikatkm zuteil. Was die.se 
besagt, ist streng genommen nurdies: Airs den Grundannahmen 
der Theorie lassen sich Folgerungen Ziehen, welche mit 
empiriseh konstatierten Tatsachen (innerhalb der Fehler- 
grenzen) ubereinstinimen. Die reale Geltung einer Theorie be- 
ruht also darauf, daB sie die allgemeinen Voraus- 
setzunge n. fiir die Gesetzmafiigkeit und damit Deduzierbar- 
keit von gegebenen empiri s e Ii en Tat sac hen auf- 
stellt. Aber die Aufgabe. diese Vorau.ssetzungen zu linden, hat. 
keine vollig eindeutige Losung. 
Durch die Yorifikaition werden nicht die einzelnen 
Axiome, sondern es wird das System derselben bosttUigt, 
denn sie werden ja nicht direkt. sondern nur als die gemein- 
samen Obersatze der verifizierten Folgerung bestatigt. Es sind 
daher innerhalb des Systems immer Ersetzungen und Ver- 
schiebungen moglich. Die Grundannahmen werden immer 
indirekt, durch Yermittlung des logischen Verhaltnisses von 
Besonderem und Allgemeinem verifiziert. Denn die verifizieren- 
den Tatsachen sind immer besondere, ;spezielle, die Annahmen 
immer allgemein. Yom Besonderen aus ist aber das Allgemeine 
nicht eindeutig be&timmt; man kann zu einem gegebenen Urteil 
mehrfache Obersatze kon&truieren, aus denen es sich 
logkeh ableiten laGt. Deshalb 1st es prinzipiell moglich, dafi 
sicli audi zu gegebenen Tatsachen die allgemeinen Voraus- 
setzungen auf mehrfache Weise konstruieren lassen. Die- 
se 1 b e n Tatsachen konnen eventuell durch verschiedene 
Theorien erklait werden. Die Geschichte der Optik bietet in 
dem Kampf der Emissions- und der Undulationstheorie dafiir 
eine ganze Reihe von Beispielen (vgl. ss Si ). Aber auch die Gegen- 
164 V. Kraft. 
wart: Die verschiedenen Axiom ensy stem e. auf welehe die 
modern e theoretische Physik aufgebaut werden kann, hat 
Carnap ss zusamniengestellt. 
Zwischen verschiedenen mbglichen Theorien entscheidet 
nicht die Verification, sondern ein ganz anderer Gesichts- 
punkt: der der Einfachheit. Diejenige Theorie ist den 
'anderen vorzuziehen. welehe die wenigsten s p e z i el 1 e n Vor- 
aussetzungen, die nur fur das betreffende Gebiet von Erschei- 
nungen gelten, einfiihrt. welehe mSglichst nur mit den all- 
gem ein en Voraussetzungen groBerer Wissenschaftsgebiete 
anskoinmt. urn die tatsachlichen Erscheinungen daraus her- 
zuleiten. Eine eingehendere Bestimmung dessen, was Ein- 
fachheit einer Theorie bedeutet. hat Carnap (a. a. 0.) speziell 
in Hinsicht auf die physikali sch e Theorie gegeben. Die 
Forderung der .Einfaehstheit' kann auf verschiedene Art ihre 
Erfiillung nnden: durch die einfaehste Gestalt der Grund- 
annahmen oder aber durch die einfaehste Form der .Betschrei- 
bung'. der deduktiven Ableitung das betreffenden Erschei- 
nungsgebietes. Die beiden gehen keineswegs Hand in Hand. 
Ftir die Physik z. B. sind die einfachsten Axiome die der 
euklidischen Geometric und der New ton sch en Mechanik; die 
allgemeine Relativitat<stheorie hingegen wahlt die Axiome so. 
daB die deduktive Darstellung der mechanisehen Vorgange 
moglichst einfach wird, und kommt dadurch zu einem kom- 
plizierteren geometrischen System (dem der Rieraannschen 
Geometi*ie fur vier Dimensionen) und zu neuen komplizierteren 
Grundgleichungen. Die Einfachstheit kann sicli lediglich auf die 
Axiome einer Theorie beziehen oder auf die deduktiven Er- 
gebnisse. Uber die Einfachheit einer Theorie entscheidet so 
jedesmal ein anderer Gesichtspunkt. 
Wenn man die ta'tsaehliehen Verhaltnisse in den Wissen- 
schaften tiberblickt. darf man aber wohl sagen, daB die will- 
kiirliche Wahlbarkeit der Grundannahmen und damitdie mehr- 
fache Moglichkeit von Theorien in bezug auf dasselbe Tat- 
sachengebiet faktisch (loch einer starken Einschrankung 
unterliegt. Es ist vor allem das Stadium des Werdene in 
der theoretischen Bewaltigung eines Tatsachenbereiches — und 
da kann man freilieh fragen: wann 1st dieses abgeschlossenV — . 
in dem sicli tatsaehlich mehrfache Theorien gegemiberstehen. 
JJic Unmdfoniiuu <ler wisseuschaft lichen Methoden. 16o 
Aber sofern sie nicht vergehen. formen sie sieh immer melir 
in einer Richtung urn, sie konvergieren: es notigt sieh eine 
Form, deduktiven Zusammenhanges zunehmend aus der Sadie 
selbst heraus auf. Das ist doch wohl das Bild. das die histo- 
rische Entwicklung der versehiedenen Theorien eines und des- 
sclben Tatsachengebietes (z. B. der Optik) zeigt (vgl.* 4 ). Die 
Theorienbildung wird determiniert mcht nur durch die empiri- 
sehen Taitsachen, welche sie erkl&ren soil, z, B. die Erscheinun- 
gen der Ringe in periodisehen Abstiinden bei den Versuchen 
mit einer sehr diinnen, konzentrisch zunehmenden Luftschicht 
z wise-hen Glasflachen 83 (S. 192, 193), die Erscheinuugen einer 
gege nseitigen Beeinflussimg der Lichtstrahlen in Aufhebung 
oder Veratarkung (Interferenz) 88 (S. 262, 263), die Beugungs- 
crscheinungen usw.: die Theorienbildung wird aucli determi- 
niert durch bestimmte Grundbeziehungen, welche in den ver- 
sehiedenen Erklarungsweisen dieser Tatsachen in gleicher 
Weise festgelialten werden: daB das Licht ein p e ri o d i s c h e r 
Vorgang ist, daB dieser einander a u f h e b e n d e Zustande 
aufweist u. a. .Brewster besprach z. B. die Period izitM der 
Emissionstheorie und jene der Undulationstheorie und kam 
schlieBUch zu dem Ergebnis, daB beide die Grofie d besitzen. 
welche bei der Betniclvtung der Newtonschen Ringe zutage ge- 
f order! wird. Xur bedeute! sie in der einen Theorie etwas 
anderes als in der anderen . . .' S4 (S. 59. 60). Es gibt feste 
Ptinkte in der Theorienbildung. allgemeinste Beziehungen. 
welche den versehiedenen Theorien eines Tatsachengebietes. 
sofern sie richtig sind. geiiieinsojn sind und die von diesen nur 
auf verschiedene Weise nmschriebeu werden. In solchen Tn- 
varianten zwischen den versehiedenen Theorien darf man wohl 
eine fakrtische Begrenzung der prinzipiellen. Mehrfachheit von 
Theorien desselben Tatsachengebietes sehen. 
d) Realistische und idealistiache Interpretation der Theorie. 
Die einfachere Theorie hat den Vorrang vor der kom- 
plizierteren (in diesem oder in jenem Sinne) — das kann zu- 
nachst nur den Sinn haben: sie ist das handlichere Werkzeug, 
sie ist nls gedankliehes Instrument i'iir die Ordnung unserer 
Erfahrungen okonomischer. zweekmitBiger. brauchbarer. 
106 V. Kraft. 
(So bei .James 1 ' 1 S. 38.) Poincare vergleieht y7 (S. 33) die 
Tlieorie einem blufien K at a log- der (experimentell gewonue- 
nen) T&tsachen. also einer willkurlichen, bloB mehr oder 
weniger praktisehen Ordnung derselben, die aber nicht selbst 
Tatsachliehes ausspricht. (Analog Dull em ST [8. 20'J] mid 
Dingier m a ' J .) DaB nur die einfachere Tlieorie den wirkliehen 
Verhaltnissen entspricht — da von kann man nur dann 
sprechen, wenn man erstens die Grundannahmen eiuer Theorie 
als Hypo the sen iiber die Wirklichkeit auffaBt und auBer- 
dem die Voraussetzung macht, daB die Wirklichkeit nacli 
dem Prinzip der Einfachheit, dein .Gesetz der Sparsamkeit' 
gebaut ist. 
Die Grundannahmen einer Tlieorie konnen allerdings 
liieht selbst mit der Wirklichkeit ,iibe rein stim men' in der 
Weise, daB ihnen cmpirLsche Tatsachen unmittelhar ent- 
sprechen — denn sie enthalten ja idealisierte (vereinfachte) 
\ r erhaLtnisse, sondern sie konnen re ale Geltung nur in d e m 
Sinne beanspruehen, daB sie die elementaren Abhiingigkeiten. 
die letzten einfachen Beding'ungen, dureh welclie die wirk- 
lichen Vorgange bestimmt werden, hypothetisch aufstellen. 
Die Mechanik konzipiert in ihren Prinzipien Komp on en- 
ten der GesetzmaBigkeit in Hinsicht auf die cmpirisch wirk- 
liche Bewegung. 
Aber sowohl die Autlassung, dafi die Grundannahmen 
einer verifizierten Tlieorie daunt zugleich Hypothesen iiber die 
bedingenden Faktoren der Wirklichkeit darstellen, als audi 
die, daB sie bloBe gedankliche Hilt'smittel. Hilfskonstriiktionen 
gewissermaBen sind, bedeutet schon erne Interpretation 
des rein wisseiischaftlichen Taitbestandes. 
Die Alternative fiir die Interpretation des Verhaltnisses 
der Deduktionsgrundlageii mid des deduktiven Systems iiber- 
haupt zur Erfahrungswirklichkeit ist diese: Erne Tlieorie 
realer Erscheinungen stellt entweder ein bloBes System von 
ideellen Bestinimungsmitteln ohnc Wirkliehkeitsbedeutuug — 
ohne reale Entsprechung — dar oder aber emeu Zusammen- 
hang der GesetzmaBigkeit en der realen Ersclieinungen. Die 
Grundannahmen sind dementsprecliend entweder bloBe Uber- 
einkommen, deren Qualifikation statt ,wirklichkeitsgultig : 
vielmehr .brauchbar'. .leistungsfahig' lautet. — oder Hypo- 
D'u: (.irmnlfuriiieii di-r wisseiisdmlltlicheii Jlethoden. 167 
r h e s e u iiber re ale Bedingtheiten der empirischen Erseheinun- 
gen. Es ist dor Untcrschied realistischer und idealistischer 
Interpretation, der sich dam it wieder geltend macht Al>er un- 
bcruhrt davon, fur die eine wie fiir die andcre Auft'assung. 
beruht die Beziehung der ideellen Theoric zur Erfahrungswirk- 
lichkeit, ihre Verifizierbarkeit. daranf, dafi die Grundannahmen 
s o g e \v a b 1 1 sind. dafi sie zu deduktiven Ergebnissen ftthren. 
die ink der Erfah rungs wirklichkeit nidglichst ubereinstimmen. 
Darin liegt in jedem Fall der Grand der Harmonie zwischen 
Tbeorie und Wirklichkeit. 
VI. Die G-eltung der Erkenntiiisprinzipien. 
Es ist im Vorausgebenden untersucht wurden, in welcher 
Weise Theorie als Erkenntnis der Erfahrungswirkliehkeit fun- 
gieren kann. En ist daunt ganz allgemein die Beziehung 
zwischen oinem ideellen hypothetiseh-deduktiven System und 
der Erfahrungswirkliehkeit dargelegt worden. Die so ge- 
wonnene Einsicht wirft aber nun wieder ein klares Licht auf 
den Ausgangspunkt zuriick, auf das Verhaltiiis der Geometrie 
oder besser der Geometries, als ideeller hypothetisch-deduk- 
tiver Systeme, zum realen Raum. Geometrie. angewaudt auf 
die Erfahrungswirkliehkeit. also als Bestmnnung des realen 
Raumes betraclitet. ist nichts anderes. als eine Tbeorie der 
empirischen Raumlichkeit. Es ist eine Theorie ispeziell der 
A u s d e h n u n g s verhaltnisse an der Erfahrungswirkliehkeit. 
der mogliehen Lagebeziehungen der Korper — das ist. der er- 
kenntiiistlieoretische Oharakter uuserer Raumerkenntuis. 
Damit wird das erkenntnistlieoretische Wesen dieser 
philosophisch so wichtigen Erkenntnis gegeniiber all den 
mannigfachen rationalistischen und enipiristischen, psycho- 
logischeu und metaphysisehen Auffassungcn derselben klar: 
vor allem der gelaufigsten und ausgebildetsten Raumauffassung 
gegeniiber. der kantischen und neukantisehen Aufiassung als 
apriorische Ansehauungs- Oder Ordnungsfonn. Nach dieser be- 
ruht das Verhaltiiis der Geometric zur Erfahrung, ihre An- 
wendbarkeit und damit also die Erkenntnis des realen Raumes 
auf dem eigenen Geltungsgrund der Geometrie: auf der apriori- 
sehen Synthese auf Grund .reiner Auschauung" — oder audi 
168 V. K r a Ft. 
rciiicu Den kens [Wi der MaHmrger delude) — . jedent'alls a n f 
i J run d einer apriorischen .Ordnungsform' fiir die 8innlichkek. 
Die Auwendbarkeit der Geometric ist infolgedessen von vorn- 
herein fiir alle Erfahrung gewift. Was das aber fiir eino uigen- 
llimliehe Geltungsgrundlage ist, cine T apriorische Ordnungs- 
form der Sinnliehkek', das ist nicht tiberall so ganz klar. 
Der eigentliche historisehe Sinn dieses Begriffes bei Kant 
wird von den streng erkenntnistheoretisch gerichteten Neu- 
kantianern ■selbst schon aufgegeben. ,DaB der Raum nur die 
«subjektive Bedingung der Sinnlichkeit» sei. «nnter dor allein 
n ns iiuBere Ansehaming moglich» ist: daB er an der beson- 
deren «Beschafienheit unserer Sinnlichkeit», an der «Rezeptivi- 
tat des Subjekts, von Gegeustanden affiziert zh werden». 
hange. somit «a priori im Gemtite gegeben^ sei; daft man 
daher «nur aus dem St-andpunkte eines Menschen» von diesem 
Kaume reden konne, wahrend wir «von den Anseliauuugen 
anderer denkender Wesen gar nicht urteilen konnen, ob sie an 
die namlichen Bedingungen gebunden seien» (Kant, Krit. d. 
r. Vern.. § 3, .Schliisse aus den obigen Begriffen'.b), sind 
Thesen. die auf dem Wege transzendentaler Begriindung nicht 
nur nicht erwiesen oder je erweislich. sondern dem reinen 
Sinne der transzendentalen Methods geradezu -widersprechend 
sind'" 1 (S. 311). Es heifit das. die Bedingungen zur Moglioh- 
keit der Erfahrung .gleichsam hhvtor der Erfahrung. in der 
eigenartigen Bescbaffenheit eines erst wie aufier der Welt 
stehend. dann in sie eintretend gedachten «Subjekr,s» unserer 
Anschauungen' sehen (a. a. O.). Eine solche .subjektivisrische 
Begriindung der Erkenntnis auf eine besonderc Organisation 
uuseres Geistes' ist erkenntnistheoretisch un&tatthaft 91 (S.322. 
313). Denn sie giht gar keine erken ntn isth e o r e ti s eh e 
Begrundung ihrer Giiltigkeit. sondern fiihrt sie auf naturgesetz- 
liche Verursachung zurttck; sie gibt eine psycliologische Meta- 
physik der Erkenntnis aus dem Gedankenkreis der Vermogens- 
psychokigie heraus. 
Die modern e e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e Umdeutmig 
dieses Begriffes der apriorischen Anschauungsform vollzieht 
sich dadurch, daB die psycliologische FunktionsgesetzmaBig- 
kcit in eine O rd nn ngsgesetzmiiBigkeit. verwandell wird. 
.Weisen wie das Mannigfaltige der Erscheinungen «i n ge- 
Hie <r rujitifornieii dt-r wiK.-L-n&chufdieiieti Mcf.luw!**ii. Ib9 
wissen Ve r ha 1 1 ni s s en g eo r d n e t wen ten kaim» - — 
dies nnd nnr dies besagt der viel miBverstandene Terminus 
;<Form der Anschauung». Zeit nnd Raum stellen rtar: die Form. 
d. Ii. die gesetzmaBig bestimmte Art der Ordnung. gemiifi 
welcher alles Mannigfaltige der Erscheinungen in den Verhalt- 
nissen des Nach- und Nebeneinander ,angeschaut\ d. h. kon- 
kret vorgestelH wird. Hierbei 1st das Ordnen selbst Leistung 
des synthetisdien Denkeus, N"ieht also die Tatigkeit des Ord- 
nens bedeutet die Zeit- und Raumanschauung ,ai (S. 268. 209). 
sondeni die Art und Weise, in der sich uns die Ordnnng an 
dem Mannigfaltigen der Sinnlic-hkeit allein vollziehen kann. 
Raum (und Zeit) 1st. also ein Ordnungssystem, ein mehrdimen- 
sionales (und ein eindimensionales) Gefiige. Und dieses wird 
nach Natorp und der Marburger Schule nicht durch Anschau- 
mig, sondern durch synthetisches Denken aufgebaut. Es sind 
also .Anschauungsformen'. die eigentlich .reine Denkbestim- 
mungen' 01 (S. 280) sind. Aber sie sind doch nicht bloB etwas 
rein Mathematisches, sondern zugleich ,B e dlngungen mog- 
lieher Erf ah rung'. ,Die Empirie wird dureh sie der reinen Ge- 
selzlichkeit des Denkeus erschlossen* H1 (S. 279) — und da liegt 
der Angelpunkt des Problems. 
Fur den Xeukaiiitiauismus steht es wie fur Kant von 
v o r n h e r e i n f est. u n a b h a' n g i g v o n d e r Erf a h r u n g. 
daB das geometrisehe Ordnungssystem, oder viehnehr ein be- 
stimmtes gpometrisehes Ordnungssystem. aueh fiir die riinm- 
iichen Verbaltnisse der E rf ah rungs wir kl i c likei t gilt. 
Der Grundgedanke Xatorps. der sk'h dariiber am cingehend- 
sten ausgesprochen hat, i»t der: Die Beschaffenheit des realeu 
Raumes 1st uberhaupt nicht durch Erfahrung bestimmbar. 
denn zwischen den verschiedenen geometrisehen Raumen kann 
man iiber ihre Wirklichkeit nicht durch Erfahrung entscheiden. 
Denn was durch empirische Messung uberhaupt festgestellt 
werden kann, sind E i gens chaf ten der Korper und ihre Be- 
wegungen. nicht Eigenschaften des Raumes; .er ist fiir jede 
Art erapirischer Bestimmung schlechterdings unfmdbar 1 
(ebend.). Die Entscheidung zwischen den geometrisehen 
Raumen in bezug auf ihre empirische Anwendung wird also 
nicht durch die Erfahrung getroffen. aber audi nicht durch 
willkiirliehe i'rbereinkunft wie tiei Poincare n. a., son- 
HO V. K raft. 
deru vielmelir durdi cine a p ri o ri s e Ii e. von a 1 1 e r Er- 
f ah rung u n a b h ii ng i g e Deduktion aiii* den Bo- 
ding u ligeii tier M o g 1 i c h k e i t d e r E r i a h r u n g. 
Dureh sie wird unter den geometrisdien Raumen, obsdion sic 
alio .glcicli denkmdglidr sind* 1 (S. 321_), docii ein Raum 
a priori vor den anderen ausgezeiehnet, der eukli disc. lie. 
(Ebeuso sind fiir Aster 30 [S. 242] ,die Satze der cuklidischen 
Geometrie die emzigeu, die als synthetisdie Siitze a priori der 
Ansehauung entnommen werden mid anf diesem Weg [ein- 
sdilieftlich des Parallelaxioms] begriindet. werden koimen'. Die 
nidit-cuklidisdie Geometrie 1st dagegen nur .eine letztenEudes 
willkiirliehe, nur widerspmchslos moglidie Variation der- 
selben' [ebend.]). 
Xur der euklidische Raum mach't namlich nach Xatorp 
¥j x i s t e n z bestimmung moglich und damit Naturwissensehait 
iiiul Erfahrung iiberhaupt 91 (S. 322). Das laBt sich zwar niclit 
aus formal-logischeu Grtinden, d. i. -\veil das Gegenteil — ein 
Raum von grijflerer Dimensionenzahl und eineni positiven oder 
negativen KriimmmigsmaB — logisch widerspreehend ware 
(6. 808), wold aber aus .transzeiideutaler Logik' .nach Grtinden 
a priori' uuabhiingig von der Erfahvimg einsehen (S. 317). Rein 
mathenuvtisch sind a.lle mogliclien Raume von beliebiger 
Dimensionenzahl und niit beliebigeut konstanten oder ver- 
anderlidiem Krunimungsniafi gleiehbereehtigi:. Aber aus den 
.Bedingungen einer nioglichen Exist euzbestimmung' ergibt sich 
die Notwendigkeit. einer Einwch rankling dieser Beliebigkeit. 
Aber .wenn es sidi nicht uin blofie abstrakte Denkbarkeiten, 
sondern urn die Moglichkeit von Existenzbestimmung handelt'. 
danu ist damit .die neue Bedingung gestellt, daB die Richtun- 
gen und Dimenskmen im Raum, in einer ge s e hi o s sen en, 
v on vornheroin n u r a 1 s e i n z i g denkbaren s y s t e m a t i- 
s [■ li e n York u ii p f u n g miteinander stehen mtissen' (S. 304). 
.Dieser Forderung aber gentigeii. wie (in §§ 5. G) gezeigt. 
nicbt die Bestimmungen nidit-euklidischer Raume. die zuletzt 
idles in unendlicher Unbest imnrtheit zuriicklassen wurden. 
sondern ihr gentigt allein, eben kraft seines Eigendiarakters. 
der enkl i d i s cb e Raum 4 i'S. 310). 
Dureh seine innere, rein mathematisdie Besdiaf'lenlieit 
hat also nadi Xatorp ein ganz bestimm<ter Raum von voru- 
I)i<: (.iniiiiUunniMi dur w issuiisdiuftlidien MuUiodeu. 171 
herein, vor aller Erf aiming den Vorrang vor alien anderen 
i'tir die Anwendung auf die Erfahrung. auf das .Existenz- 
Denken'. .Seine Wahl wird nicht durch die Erfahrung be- 
stimmt, denn wie kanu gar nicht durch Experiment und Be- 
obachtung besitatigt und widerlegt werden (S. 314, 316), son- 
dern durch .reine Denkgrundlegung' (S. 31G) wird a priori be- 
stinimt. welelier Raum der Erfahrung zugrunde zti legen ist. 
Badureh wird erst die Vorausset-zung ftir Experiment und Jie- 
obachtung geschaffen, werden sie erst .moglich' gemacht 
(ebend.). Als der allein anwendbare ist. ,der euklidische Raum 
weder eine absolute Denknotwendigkeit noch eine reine Er- 
fahrung statsache oder etwa eine Hypothese, deren Wahrheit 
oder Unwahrheit der En tsche idling der Erfahrung unterlage. 
sondern eine .notwendige' Yoraussetzung in dem bestimmten 
Sinne, daB er bedingend 1st fur .mogliche Erfahrung', bestimm- 
ter: fiir die eindeutige gesetzniitliige Bestimmbarkeit von 
Existenz in der Erfahrung. Er beruht also nicht auf einer 
Xotwendigkeit des Denkens iiberhaupt, wohl aber des E r- 
f a h r u n g s d e n k e n s, des Denkens von Existenz. Das Uuter- 
scheidende liegt in deni Hinzutritt der Bedingung der Einzig- 
keit. nicht irgendwelcher besonderer rltiimlicher Bestinmmn- 
gen, die mitsammen die Koexistenz der Binge gesetzmiifiig 
darstellbar niachen' (S. 312). Bie euklidische Geometric — und 
sie allein — gilt fiir die Erfahrung, weil sie — und sie allein — 
eine a priori notwendige Bedingung fiir eine gesetz- 
maflig geordnete Erfaliruug ist. Diesc .Xotwendigkeit ist also 
nicht absolute Benknotwendigkeit, audi nicht subjektive An- 
schauungsnotweudigkeit. sondern die rein objektive Kotwen- 
digkeit der einzigen Bedingung eindeu tiger Be- 
s't inun barkei t zeitraumlicher Yeranderung, die sonst, vom 
SUuidpunkte abstrakten Denkens und Rechnens ebeiiso wie 
vom Standpuukte blotter Erfahrung-. in absolute r Unbestiumit- 
h'eit verbleiben mufite' (S. 323). 
Ich babe Natorps Lehre vom Raum deshalb so ausfiihr- 
lich dargestellt. weil sic eine wirkliche Begrtindimg der nen- 
kantisehen Lehre versucht — und weil man damn sieht, wie bald 
sich die konventionellen erkenntnistheoretischen Anschauuu- 
gen als unzutreffend enveisen, wenn sie eimnal aus ihrer 
darubeisehwebenden Alliremeinheit heraustreten. sich in Zn- 
172 v. k m ft. 
sannuenhang mit der konkreten Wissensehaft formulieren. 
Nach Natorn liegt der Grund der Geltung einer Geometric filr 
die Erfah rungs wirklichkcit in der apriorischen. von aller 
Erfahrung unabhangigen Ei n sieht in ihre Notwendigkeit als 
Bedingnng der Erfahrung. d. i. einer Ordnung der sinnlichen 
Erseheinungen. Die Erkenntnis des realen Raumes lafit sich 
also naeh neukantischer Auffassung a priori deduzieren. Es 
ware wirklich, wie Wellsteiti 18 sag*, ,eine Erkenntnis von un- 
gehenrer Tiefe und gewaltiger Tragweite', wenn sich .aus 
transzendenhtlem Grund'. also aus einer Analyse der .Bedin- 
gungen der Moglichkeit der Erfahrung', d. h.: ihrcr absolut 
noitwendigen Voraussetzungen ergabe, daS die raumliche An- 
ordnung der Erseheinungen nur in der Form des euklidisc-hen 
Raumes eiudeutig bestimmt, sonst dagegen .unendlich unbe- 
stimmt' ware. Aber eine solehe apriorische Deduktion ist nur 
eine dialektische Konstruktion ganz nach Hegelscher Art. Der 
Jicweis' da fur, ,dafi das Hinausgehen iiber drei Dimensionen 
(und zwar eukli,discher Konstitution) in unendliche Unbe- 
stimmtheit fuhrt', bewegt sich, wie es nicht anders sein kann. 
in Gedankensprtingen und fufit auf willkiirlichen Voraus- 
setznngen. 
Der Kern seiner transzendeutalen Deduktion des eukli- 
dischen als des realen Raumes ist: Pie Vorgange dev 
Xatur sind. .abstrakt genonunen. in jedem von unendlichfach- 
miendlichen Raumeii konstianiter oder beweglieher Verfassuug ; 
darstellbar 1 ' 1 (S. 323, 324). Soil aber nicht alles in uneudlich- 
fach-unemilicher Unbestimmtheit verbleiben (£. 324), so mufi 
man sich irgendwie fiir eino-n von ihnen entseheiden konuen. 
Nur das f order t die .Moglichkeit der Existenzbestimmung. Dn- 
bestimmt ware das Raumsystem der Wirklichkeit aber audi 
dann nicfrt, wenn diese Entscheidung im Zusammenhange mit 
der physikalisehen Erfahrung getroffen wird' miter dem Ge- 
siehtispunkte der einfachsten Annahine. 
Es ist aber die grim dsatzli eh e Lehre des Nou- 
kantianismus, daft sich diese Entscheidung a priori, unab- 
bangig von der Erfahrung, durch .reine Denkgrundlegung' 
(S. 316) treffen und mit endgiiltiger Sicherheit treffen laflt. 
Diese Entscheidung ist nach ihm durchaus ,nicht vvillkurlich. so 
oder so wiihlbnr. oder auf die Festlegung dmch denkfremde 
Die Grundfortnen der wissensehnftlichen Methoden. lTo 
Fakfcoren (Ert'ahning) angewieseir. soudem es existieren .Be- 
stimmungsgesetze die in sich so bestimmt sind, daB es 
durch sie moglich wird, bestimmt zu maohen, was ohne sie in 
halt-loser Unbestimmtheit verbleibeu mtifite' wl (S. 824)! Was 
nun a priori die Wahl des euklidischen Raumes bestimmt, urn 
ihn der Erfahrung (der .Existenzbestinimung') zugrunde zu 
legen, ist die V oralis setzung, daB die ge rings te Zahl von 
Bestimmungsstiicken, d. i. von Dimensionen und Richtungen 
zu wahlen sei. die fiir .einen einzigen und damit geschlossenen. 
zugleich bomogenen und stetigen Zusammenhang raumlicher 
Bestimmung notwendig und hinreicheud ist' " (S. 305). Das 
ist ;\ber, wie man nach den friihereu Ausfiihrungen iiber die 
Theorie nun sogleich erkennt. niclits auderes als das Prinzip 
der Einfachheit in bezug auf die Axiom e. und damit 
zeigt sich das, was Natorp a priori zu deduzieren meint. als 
eine Wahl von GesetzmaBigkeits-Konstituenten nach Art einer 
The or i e. 
Denn es ist eine Tauschung, wenn Natorp glaubt, die 
Geltung gerade der euklidischen Geometrie fiir die Erfahrung 
als eine apriorische notwendige Bedingung der Erfahrung 
deduzieren zu konnen. es als ein absolut f estate hendes Er- 
gebnis beweisen zu konnen. Wo sind die Obersatze, die apriori 
feststehenden Grundsatze, aus denen er das deduzieren 
kOnnte? 1st es etwa der Satz. <laB durch den .Sinn' von 
nach 1 und den .Gegensinn' von 1 nach (oder von nach 1') 
eine einzige .Richtung' definiert ist 01 (S. 306)? Und der Satz. 
daB .die Richtungsanderung ihrer Natur nach zirkular' ist 
(ebend.)? Und die anderen Voraussetzungen, auf denen sein 
.einfacher' .Beweis' fiir ,die Beschrankung [der Raumordnung] 
auf drei Dimensionen, und zwar euklidiseher Konstitutioiv 
(ebend.) beruht? Die Axiome der euklidischen Geometrie als 
Definition der Eigenschaften des empirischen Raumes sind A n- 
n a time n — und konnen nichts anderes sein. 
Wenn wir untersuchen — wie es fruher gesehehen ist — . 
wie die Wirklichkeitsgeltung einer der Geometrien tatsachlicli 
entschieden wird. so sehen wir. daB sie tiberhaupt nur in Zu- 
sammenhang mit Erfahrung. aber nicM unabhangig von ihr 
mOglich ist. Wenn die euklidische Geometrie in Hinsicht auf 
die Erfahrungswirklichkeit bisher einen Vorriing vor den 
1?4 V. Kraft. 
andercn hatte. so begriindete sich das damif, dafi, mit gewisseu 
naheliegenden physikalisehen Aimahmen (Geradheit des Licht- 
weges usw.). die raumlichen Beziehungen der empirischen 
Korper ihr entsprechen. d. h. so sich am bcsten darslellen 
lassen. Wenn es audi zutrifft, daB die empirische Messung nicht 
direkt einen der geometrischen Raume zu verifizieren vermag. 
weil sich immer die physikalisehen Voraussetzuiigen fur die 
Messung dazwischen schieben. durch deren geeignete Abiinde- 
lung theoretiseh jede Geometric die empirischen Raumhezie- 
hungen darzustellen imstande ist und also in ihnen realisiert 
gefunden werden kann — wenn somit audi das geometrische 
Raumsystem fur die Erfahrungswirklicbkeit prinzipiell will- 
kiirlich wiihlbar erscheint. so vollzieht sich seine Wall I 
doch nicht (wie Natorp will) lediglich .nach Griinden a priori' 
(S. 317): der geometrische Raum wird nicht nach seiner im- 
nianenten ge om e trUchen Einfachheit. weil er an sich der 
einfachste ist. ohne Berucksiehtigung der Erf ah rung fiir die 
Erfahrungswirklichkeit gewahlt. sondern nur darnach. daB die 
emp i ris c hen Ve rh altn is se sich so am ein fa c list en dar- 
stellen lassen. nicht bloB geometrisch. sondern audi physika- 
lisch. Das zeigt die Wandlung, welehe die geometrische Be- 
stimmtheit des realen Raumes in der Relativitatstheorie er- 
t'iihrt-, aufs deutlichste. Der Raum wird hier von veriinder- 
1 i e h e m KrumniungsmaB (= auBerhalb. positivem innerhalb 
ein&s Gravitation sfeldes) gedadit, ehen deshalb, weil dadurch 
die ganze physikalische GesetzmaBigkeit ihren einfaehsten Aus- 
druck gewiinit. 
Aber noc-h etwas beweist diese Wandlung in der Raum- 
auffassung durch die Reladvitatstheorie: daft es erne blofie 
Annahme ist, wenn man diesen odev jenen goometrisdien 
Raum der Erfahrung zugrunde legt, — und nicht eine apriori- 
sche Xotwendigkeit, ein unwandelbar a priori feststehendes 
Ergebnis. Es ist eine Annahme auf Gnmd der ganzen Er- 
fahrungssachLage, immer durch eine bessere ersetzbar, aber 
nicht ein unwiderrufliches Diktat fiir die Erfahrung, ein vor- 
gegehenes Schema, in das das Erfahrbare, ohne selbst dazu 
etwas beizutragen. ohne selbst daftir relevant zu sein, einfach 
eingeordnet wird — wie es der a priori bestimmbare reale 
Raum des Neukantianismus ist. 
l)ic Grundformea tier wissensehaftliclicn Methodon. 1*5 
All das zusammen erweist es zur Geniige, daB die Gel- 
tungsart der Geometrie als angewandter in bezug auf die Er- 
fahrang'swirklichkeit. also die Erkenntnis des realen Raumes. 
ganz die einer Theorie ist. Die GesetzmiiBigkeit des realen 
Raumes lafit sich nicht in .reiner Denkgrundlegung' ohne Be- 
ziehung auf ,Denkfremdes (Erfahrung)' aufstellen, .sondern nur 
als Annalime gerade mit Rticksiclit auf die Erfahrungsverhalt- 
nisse. Und sie laBt sich nicht als erne absolute Bedmgung der 
Moglichkeit der Erfahrung unabhangig von dieser (.a priori 1 ) 
1'iir sich feststellen, sondern nur in Beziehung auf die empiri- 
schen Erscheinungen als diejenige Annahme, durch welche (zu- 
sammen mit anderen Annahmen) diese Erscheinungen den ein- 
fachsten systematischen Xusanunenhang gewinnen. Das ist 
doch ganz der Oharakter einer Theorie. Es ist eine Raum- 
theorie. eine Konstruktion der reinen Raumlichkeitsgesetz- 
maBigkeit. isoliert fur .sich entwickelt. so wie die Mechanik 
eine Theorie der reinen (isolierten) BewegungsgesetzmaBigkeit 
ist. Der Raum iat nicht etwas fur sich allein (a priori) Be- 
stimmbares, sondern die abstrakte Abspaltung einer der Be- 
stimmtheiten der Erfahrungswirklichkeit neben anderen (den 
physikalischen...); und die Scheidung zwischen diesen und 
der rein raumlichen Bestimmtheit kann nur mit Rucksicht auf 
das Erfahnmgsgegebene getroffen werden. Der Raum ist 
ebenso nur eine Seite. nach der bin dieses sich gesetzmaBig 
konstruieren liiftt. wie die Masse oder die Zeit. Aber alle diese 
Konstruktionsriehtuugen, diese Bestimmtheitsarten hangen 
gegenseitig von einander a.b; sie mu-ssen so gestaltet we-rdou. 
daB sich daraus die einfachste Theorie der (GcselzmaBigkeit 
der) Erfahrungswirklichkeit ergibt. 
Das ganze schwierige und immer wieder miBverstandene 
Verhaltnis von Geometrie und Erfahrungswirklichkeit, geome- 
trischen und empirischen Raumgebilden und -beziehungen tritt 
damit in ein Mares Licht. Das Problematische dieses Verhalt- 
nisses knupft sich daran. daB die Raumgebilde und -beziehun- 
gen der Geometrie (Punkte. Gerade, Ebenen . . .) ideal e sind. 
Abstraktionen. denen die empirisch feststellbaren nicht ohne 
weiteres entspreohen. Gewohnlich hat man ein so-lches Ent- 
sprechen auf ganz falschen Wegen gesucbt: einerseits. indem 
man die idealen geometrischen Gebilde in der Erfahrung 
176 V. Km ft. 
r o a L i s i e r t linden will: aiKlerseits,.iudeni man auf Grand der 
empirisch festst ell bare n Raumverhaltnis.se eine Geometric, 
sogar eine tier idealen k on forme Geometrie. aufbauen will. 
Hekles bedeutet den Empirismus in bezug auf die Geometrie. 
Derm in dem einen wie in den anderen Fall mu&te sieh die 
Geometrie empirisch beg-runden lassen. Has ist aber prin- 
zipiell unmuglich, weil si eh auf Grund der nnscharfen empiri- 
schen Raumgebilde und Beziehungen. die immer nur innerhalb 
gewisser Grenzen genau bestimmt sind, keiue strenge Exakt- 
heit erreichen la.Bt. Empirisch bestimmen zwei .Punkte* nur 
dann eine .Gerade', wenn sie nicht zu nahe beisammen liegen! 
Empirisch schneiden sieh zwei .Gevade' nur dann in einem 
.Punkt'. wenn der Winkel zwisehen ihnen nicht zu klein ist! 
Die Axionie einer solchen empirischen Geometrie der 
Wirkliehkeit mtiflten reine E rf^hrungs satze scin. Wieao 
kann man aber auf Gnmd von Erfahrung behaupten (wie 
Hjelmslev 711 , S. 42): ,In jedem Viereck mit drei rechten Win- 
keln muB j!l der vierte Winkel auch ein reehter sein?' Oder: 
.Durch jeden Punkt lafit sieh eine und nur eine Gerade senk- 
recht zu einer gegebenen Geraden Ziehen?' (Gerade empirisch 
laftt sieh dueh eine rfenkrechte. je grofiev sie wird. urn so 
weniger eindeutig konstmieren. 
Infolgedessen werden bei den Yersuc-hen. eine Geometrie 
aus der Eifahvungswirklichkeit heraus zu begrtinden, statt 
dessen die Axlome der idealen Geometrie immer stillschwei- 
gend zugrunde gelegt und nur auf die empirische Wirkliehkeit 
iibertragen (so bei Paseh 02 und bei Hjelmslev). Es lassen 
sieh eben nicht die Verhaltnisse der idealen Geometrie in der 
empirischen Wirkliehkeit realisiert entdecken Oder aus ihr 
ompiristisch entnehmen. Es ist ein prinzipieller Irrtum. wenn 
Hjelmslev 7fl (S. 40) meint, dafi die formale, abstrakte Geo- 
metrie nur ,eine bequem abgerundete Formulierung der Resul- 
t-ate der praktischen [empirischen] Geometrie' sei. Sic ist 
etwas ganz anderes als diese. Eine Geometrie der Wirkliehkeit 
kann nur statistische, ungefahre RegelmaBigkeiten ergeben, in 
bezug auf die exakte ideale Geometrie nur Niiherungs- 
werte. Diese let-ate re gibt allein vermoge ihrer Exaktheit 
strenge Allgemeinheit und Einsicht in die Notwendig- 
keit der speziellen Beziehungen. 
fJie Grumlformeu der wisssGnscliaftlielien Metliocteii. 1<7 
All das besagt eben: Die ideale Geometrie stellt in bezug 
auf den enipirischen Rautn cine T h e o r i e dar. Die raumlichen 
Verhaltnis.se der Erfahrungswirkliehkeit sind darin nicht. niir 
anf eine eigene Gesetzmatiigkeit gebracbt. sondern sie sind zu 
diesem Zweck auch in vollkommener Prilzision ausgedacht. 
Die melir oder wenig'cr eng unigrenzte Stelle an oder zwischen 
enipirischen Kbrperu wird zur vollkommen gen an nnd oin- 
deutig bestinmiten nnd damit zum ausdehnungslosen Punkt: 
eiii Streifen von blofi vorwiegender Liingenausdehnung nnd in 
der Natur burner begrenzt. wird zur rein eindimensionalen 
Linie verengt nnd zur Unbegreuztheit evweitert. und eben so 
eine burner nur sehr kleine. nahezu ebene Platte zur unend- 
lichen vollkoinmenen Ebene usw. Erst diese ideaien Gebilde 
ergebeu die geeigneten Glieder. zwischen denen die in den 
Axiomen aufgestellten Beziehungen vollkommen genau gelt en 
konnen; erst dadnrch koimnt iiberhaupt dieses gauze Bezie- 
bungssystem von absolute)* Prilzision und GesetzmilBigkeit zu- 
stande. Die ideaien geometrischen Raumgebilde und -bezie- 
hungen diirfeu nicht in den enipirischen gesucht, mit ihnen 
identitiziert werden, sondevn sie stelien zu ihnen so wie die 
Maschinen der Jlec.hanik (Hebel, Rolle...) zu den wirklichen: 
als idealisierte Elemente einer Theorie, welehe eine abstrakt, 
isolierte. spezifische GesetzmiiBigkeit des Wirklichen aus- 
spricht. Das 1st das eigentliche Verhaltnis. 
Die \ - ei*schiedenen (euklidischen und nicht-euklidischen) 
Geometrien sind in bezug auf die ErfahrungswirkliehkeH: eben 
verschiedene mogliche Theorien der Ra'umlichkeit, der reinen 
AusdehnungsgesetzmaGigkert. Sie stelien mehrfache Moglich- 
keiten dar. wie sich aus den Erfahrungeu raumlicher Aus- 
dehnung ein GesetzmaBigkeitssystem konstruieren liiftt. Uns 
sind nur endliche Strecken. Parallele. nur begrenzte Raume 
beobachtbar gegeben; wie sie sich ins Unendliche fortgesetzt 
und erweitert verhalten. d. i. denken lassen. ob sie z. B. in 
sich selbst zurticklaufen. in v i e 1 fa c h e Parallele auseinander- 
fallen, die sich nur aid' der kurzen endlichen Wtrecke empirisch 
nicht unterscheiden lassen usw.. das ist empiriscli nocb niebt 
cindeutig bestinunt. Zwischen diesen Systemen kann die Er- 
fahrmig nicht direkt (durch Messung) eutscheiden, sondern 
nur mit Zuhilfenalnne physikalisclier Yoraussetzungen fin 
SiUungslier. d. pliil.-liist. Kl. 203. P.d. :i. Abh. \t 
1?S V. Kraft 
bezug auf den starren MeBkorper u. a.). Nut das Gesamt- 
system beider. einer Geometrie und bestimmter physikalischer 
Annahmen kann durch Erfahrung bestatigt oder widerlegt 
werden, nieht eines von beiden K-orrelaten t'iir sich allein. 
Welche Geometric sich als die der Erfahrung'swirklichkeit er- 
gibt, hang-t davon ab, welche physikalisehen Voraussetzungen 
man macht. Darum sagt der Idealismus: Eines von beiden, die 
Geometric oder die pbysikalischen Annahmen. ist willkurlich 
wjihlbar; das andere ist damit dann in bestimmter Weise ge- 
fordert, damit das Gauze der Erfahrung entspricht. Welclie 
physikalische Annalimen man macht, hangt aber doch wieder 
aufs engste mit den iibrigen pbysikalischen Erkemi'tnissen (Er- 
falmiiigen und Theorien) zusammen. Die .Wahl' der pbysika- 
lischen Annahmen und damit der Geometric, welche darauf- 
liin durch die Erfahrung gefordert ist. wird somit durch den 
Gesamtzusanimcnhang der Nature rkenntnis bestimmt, durch 
die Rilcksicht anf seine Einfachheit. Die beiden Korrelate 
evgebeu sieh in der Weise, daw darnach der gauze System- 
ziisammenhaug der Erfahrung'statsaeheu ein moglichst ein- 
facher wird. Eine empirisch gultige Geometrie liifit sich mir 
als Theorie aufstellen. Was zwisehen den verschiedenen 
Gcometrien (als Theorien) entseheidet. ist nicht der Gesichts- 
punkt. welche fur sich die einfachste ist, sondern welclie 
sieh am besten in das Gesamtsystem der Erfahrungserkenutnis 
einfiigt, welche dieses am einfachsten gestaltet. 
Was hierniit fiir die Raumerkenntnis gezeigt worden ist 
— ihr Theoriecharakter — hat aber eine allgemeine und prin- 
zipielle Bedeutung. Der Hauni ist ja nicht die einzige Ord- 
nungsform fiir die wissenscliaftliche Erfahrung. Hire systema- 
tische Einheit baut sich auch noeh auf anderen Ordnungs- und 
Beziehungsformen auf (der Zeit, der ,Kausalitat\ der ,Sul>- 
stanz'...). Denn reine Erfahrung (Sinneseindriicke und ihre 
crfahrenen Beziehungen) gibt noch nieht das, was die Wissen- 
schaften an Beobachtungen und Messungen und Abhaiigig- 
keiten aufstellen. Sie muB dazu erst geordnet und .inter- 
pretiert' 1,B (S. 98, 99) werden, d. h. ein Erfahrungsdatum muB 
auf die anderen in bestimmter Weise bezogen werden. Die 
Wissenschaft braucht daher Prinzipien der Ordnung unrl der 
Aufeinanderbeziehung ■(dev .Interpretation") fiir die Er- 
.bio (.iruiKlfornipn dei* wi.-sen^kaMicheu Metlioden. 179 
fahrungsdaten. Das ist die historiscbe Einsicht und das Kecht 
des kantischen Kritizismus gegeniiber dem Empirismus. Aim- 
so wenig wie die Ordnungsform des Raiim.es konnen aueh diese 
Priiizipien als ursprimgliche Funktionen der riynthese oder als 
synthetisebe Urteile a priori im kantischen und neukantischcn 
Shine gelten. So wenig wie die Raumerkcnntnis ist audi die 
physikalische Erkenntnis oder irgendeine andere Erkenntnis 
der Erfalmmgswirklichkeit praformiert durcli apriorische Not- 
wendigkeiten, sondcrn die fuudamentalen Ordnungs- und Be- 
ziehungsformen. welche die Wissenschaften entlialten, werden 
gerade im Xusammenhang'e init den cmpirisehen Ersohcinun- 
gen niit Riioksicht auf ihre Beschaffenheit konzipiert. Sie wer- 
den der wisseii'sebaftlichen Erfahrung nielit eigentlich zu- 
g'runde gel eg t. sondern mit ihr anfgebaut. 
Das wlirde eine wcitergehende. uml'angreiche Analyse 
und Vergleiehung der Wissenschaften erweisen. Alter nur das 
ware derWeg. uni das Problem der Kategorien und der .apriori- 
sehen' Grundsatze auf eine in e t h o d i s c li e Weise zur Losung 
zu bringen. Kant hat seine Tafel der Kategorien und seine 
Grundsatze in dogmatischer Konstruktion einfach hingestellt 
und seine Nachfolger leben von diesem traditionellen Erbe. 
Pm die konstitutiven Priiizipien der wissenscbaftliehen Er- 
kenntnis alter methodisch zu ermitteln, muG man in sachlieher 
Analyse die letzten Voraussetzungen der einzelnen Wissen- 
schaften aufsuchen und sie auf Grund nmfassender Verglei- 
chung in allgemeinster Weise formulieren. W&ren alle Wissen- 
schafteu bereits axiomatisch aufgebaut, d. b. in ihren not- 
weudigen und hinveiohenden Vonuissetzungen klargestellt, so 
liatte man in dem genieinsamen obersten Axiomeusystem die 
konstitutiven Priiizipien der Erkenntnis — das System der 
Kategorien mid Grundsatze — gegeben. Man sieht'aber damit 
sogleieh. wie nmfangreich und wie voraussetzungsvoll eine 
solche Aufgabe sit-li darstellt und wie sehr ihre Losung durch 
eingehende Spezialuntersuchungen vorbereitet werden muB. 
Gleielnvohl wird man aber das eine sehon naeli dem 
Bislierigen als prinzipielles Ergebnis voraussagen konnen: Die 
G el t ung der konstitutiven Erkemitnisprinzipien erweist sieli 
als anders begriindet. als es der kanlische und nQukantiscbe 
Kritizismus darstellt. Yielfacli begniigt sich dieser damit. die 
180 V. Kraft. 
Unentbehrlichkeit apriorischer Erkenntnisgrundsatze auszit- 
liihren. ihr Dasein zu J'eiern' ■ — ■ wie man im Slil mnnelier 
Xeukantianer sagen konnte. Wo er aber auf ihre GeLtungsart. 
mid -grundlage eingebt, da liebt er hervor, daB die.se Gtiltig- 
keit eine absolute, unwaudelbare mid eine der Erfahrung 
gegeniiber vollkommen sell) s tan dig fundierte ist. 
Wie die Bestimmtheit von Raum und Zeit.. so deduziert 
Natorp ,J1 (7. Kap., § 3) aueh eine unveranderliche Substaiu 
als apriorische Bestimmtheit der Erfahrungwirklichkeit — 
die dann freilieh (im § 4) miner als Energie bestimmt vv-ird! 
Ledigiich aus den Bediugmigen des ,Existenz-Denkens' er- 
sehlieBt er den Substanzcharakter. Da es im blofien Raum wie 
in der bloBen Zeit nur leere S t e 1 1 e n gibt, 1st in ihnen allein 
keine Veriinderung moglich. -Es sclieint [!] also etwas beiden 
an ftich Fremdes, ein anderweitiger Zeit- und RauminhaH 
binzutreten zu miissen' (S. 348). ,Irgendein noch sonstwie zu 
bestimmendes Etwas im Raum (nach Kants Ausdruek: 
jReales') wird so gedacht werden miissen, daB es wecbselnd 
andere und andere Stellen im Raum einnimmt' (S. 349). ,Und 
zwar 1st, wenn in dieseni Wechsel die Einheit des Existierenden 
streng gewahrt bleiben soil, die weitere Voraussetzung im- 
erlaBlich, daB es zuletzt iminer dieselben Elemente des- 
selben, somit allein (zeit-raumlich) Existierenden seien, die 
in der Zeit ihren Ort. und zwar stetig wechseln. Daraus folgt 
[eigentlich: damit ist gegeben, nicht: folgt!] das groBe Gesetz: 
daB aller in der Zeit und im Raum geschehende Wechsel nur 
S t e 1 1 e n w e c h s e 1, also gegenseitige Lageanderung i m m e r 
der selben Elemente eines und dcsselben Existierenden, 
dieses also, abgeseben von dieseni Stellenwechsei. unver- 
anderlich (weil notwendig auf einzige Art bestimmt) zu 
denken ist 1 (Ebend.). .So ergibt sich allein durch die logische 
Forderung der eindeutigen Bestimmtheit des Seins in bezug 
auf Zeit und Raum die notweudige Voraussetzung einer un- 
veranderliei) sieb erhaltenden S u b s t a n z d e s G e s e b e b e n s 
oder eines .Realeiv, welches nach dieseni seineni reinen Be- 
griff notwendig zu denken ist als in seinem Gruudbestand 
immer sieb selbst identischer, also ungewordener und unzer- 
storlicher, nicht vermehrbarer noch verniinderbarer. aueh 
keiner Qualitatsiinderung uuterlicgcnder. dagegen im Raum 
Die Grundformen der wisspnsclmftliehen Metlioden. lol 
beweglicher Kaumin halt, deni niit diesem alien durchaus 
nur solche Bestimniungen beigelegt siud, welehe dem in Kaum 
and Zeit Existierenden zufolge des Inhalts dor Begriffe Zeit, 
Raum und Existenz und des erkenntnisgesetzlichen Verhalt- 
nisses dteser Begriffe untereinander notwendig zukomnien' 
(S. 349. 350). 
Also vollig unabhangig von aller konkreten Erfalirung. 
in .reiner Denkgrundlegung', aus .transzeudentaler Logik' h or- 
alis wird bier der Substanzcharakter des Erfahrbaren aufge- 
stcllt. Durch reines Denken wird er als no-twendige Vor- 
a u s s e t z u n g fur eine e i n d e u ,t i g c B e s t i m m t h e i t des 
Existierenden (also der Erfahrungswirklichkeit) und dainit als 
Bedingung der Moglichkeit der Erfalirung iiberliaupt a priori 
.crwiesen'. Die Bedingungen moglicher Erfalirung und damit. 
die Grundbestimmtlieiten der Erfalirungswirklichkeit stehen 
also audi nach der neukantischen Lchre von vornhereiu 
(.a priori*) fest. und zwar unverriickbar ein fur allenial: sie 
lassen sich unabhangig von jeder konkreten Erfalirung durch 
reines Denken fa priori) feststellen, Daher sind sie aueh end- 
giiltig und absolut; sie konnen sich im Verlaufe des konkreten 
Erkennens menials tnelu* iindevn. Wie .das grofie Ge.setz' der 
Substanz so bestehen audi der eitklidisehe Raum und die abso- 
lute Zeit und ilie .Kausalitiit' usw. als absolute apriorische 
Gesetze des Krfahrungsaufbaues; sie bildon eine .Bigengesetz- 
liehkeit de^ Erkennens'. 
Aber wenn man die fill* die Erfalirung konstitutiven Er- 
kenntnisprinzipien wissensehaftsanalytiseh und wissensehafts- 
geschichtlich iintersucbt. so ist es offenkundig, dad sie we der 
a b s o 1 u t e n d g u 1 1 i g. n o c h v o 1 1 k o m men s e 1 b- 
standig gegeni'iber der Erfalirung gelt en (wie 
naeh der neukantisclien Lehrc). Wie sich das fiir die Be- 
stiinmtheit des einpi rise hen Raunies vorhin gezeigt hat. so 
liefie es sich fur den ^ubstanzcliarakter des Erfahrbaren eben- 
falls zeigen. 
Aus den allgemeinen Bedingungen der Erfalirung hat 
Xatorp dednziert. dafi alle Yeranderung nur raumlicher und 
zeitliclier .ritelleiiweehsel" cines uuverauderlich Existierenden 
scin kann. Das gilt aber ausdriicklich nur fiir cine Vorande- 
nuiii'. die niclit nur in tier Zeit. sondern audi im Raunie vor 
182 V. K raft. 
sich geht. Die rinbstanz stellt nach ihm gerade oine Yer- 
kn tip fung zwischen der Raumordnung und der Zeit ord nil ng 
her. Und die Raumordnung betrachtet Xatorp a Is eiue a 1 1- 
g" em cine Anordnungsform a lies Erfahrbaren; denn sie isl- 
es, welelie erst iiberhaupt Gleiehzeitigkeit ermoglicbt. .In dor 
cindiiiiensionalen Ordnung der Zeit ware fur einen soldi en 
[Funktionalzusammenhang p a r a 1 1 c 1 c r Yeranderungsreihen | 
iiberhaupt koin Rkvtz; es muR also die S i m ul t a no rd nu ng. 
die Ordnung der Koexistenz hinzutreten. also die rluimliclie 
Ordnung'" 1 (S. 347). Dann lassen sidi aber seelischc Er- 
seheinungen (z. E. begrift'liches Denken. Wiinsdie. ritimmun- 
gen) ulM3iiiau.pt nicht als etwas Unraumliches auft'assen. wic 
das vielfadi geschieh.t; denn sonst ware keine Oleichzeitigkeit 
derselben moglich. Wenn aber audi das Seelische in den Raum 
eingeordnet, lokalisiert wird. dann wiire es zugleidi wieder 
■s u b s t a n z i c 1 1 zu denken: als Ortswechscl derselben 
Eleniente! Das zcigt. daB die Substanzialisierung gar koine 
allgcmeine Bedingung der Erfabrung iiberhaupt bildet. 
sondern niir fiir eiucti be s t im in t e n Erfalirmigsbereich in 
Betracht konmit. Und sie ist aid' einen solclien deshalb ein- 
gesehninkt. weil sie (lurch die R esc ha f f en he i t des Er- 
fahrbaren naiiegelegt. nicbt aber durch eine apriorisehe 
t'berlegung gefordert wird. Em .unveraiiderlicher Raum- 
inlialf, der bloB seinen Ort wechselt. ist eine Ann ah me. 
und zwar — wie das eine eingehende Wissenschaftsanalyse zu 
zeigen hittte — eine Annahme aus AulaG innerer (qualitativer) 
Beziehungen zwischen shmlichen Erseheinungen. vcrmoge 
deren sic in gesetzmaBige Zusanimenhange untereinander zu 
bringen und als abhangig von identischen Beziehungszentren 
(eben als Erseheinungen von Substanzen) zu verstehen sind. 
Es ist cine Annahme aus bestimmten Erfalirungsverhaltnissen 
heraus, eine Annahme, fiir die aber eben in bezug auf an de re 
Erfahrungsverhaltnisse oder auf a lie gar keine Yq ran las sung 
besteht. DaB es in aller Veranderung ,zuletzt immer dieselben 
Eleniente desselben Existierenden seien, die nur in der Zeit. 
iliren Ort wcchseln' B1 (S. 349), — das ist die gedanklich oin- 
f a c h s t e Annahme. aber docli eben nur eine Annahme, und 
ihre Giiltigkeit hangt ganz <davon ab. ob sie sidi in der Er- 
fabrung durdiffihren. verifizioren lafit. Da rum kann man die 
J) if I iniLiili'ornit'ii «lci' \\ ir^eu^L-li;i(tlidn.'ii Mistliciden. lo<> 
Substanz audi uicht als eine unbedingt, eudgiiltige uud uu- 
wandelbare Form der Ordnung der Erscheinungen anseheii; 
und der Kamnf. der seit Hume uud Mach gegen sie gefiihrt 
wird, urn sic zugunsten blotter Fuuktionalzusammenhange der 
sinnlidien Erscheinungen auszusehalten oder daliin umzu- 
deuten, beweist, daB ihre Unentbehrlichkeit odor ihr Sinn fiir 
die AA'issenschaft keineswegs feststcht. Auch das Erkenntnis- 
prinzip der Substanz kann weder als absolut giiltig, als un- 
aussehaltbare Bedingung des Erfahrungsaufbaues. noeli als im- 
abhiingig von der Erf ah rung angesehen lverden, sondern nur 
abs eine Annahme. welehe auf Grund der Besdiaffenheit des 
Erfahrimgsgegebenen gemaelit wird. 
Eliensowenig steht die Zeit abgesehen von jeder Er- 
f aiming und endgiiltig (.a priori - ) als Ordnungsform aller 
empirisdieu A'eranderungen fest. Das zeigt sieh gerade durch 
die RehUivitiitstheorie mit ihrer tiefgehenden Waiidluug der 
Zeitaulfassung aufs klarste. Die G 1 e i c h z e i t i g k e i t. funda- 
mental fiir die Zeitordnung. auch fiir die Verandenmgsf olge. 
IS lit sieh nnr mit Hilfe einer em p i ri s c hen Bestimmung: 
der Lichtgesehwindigkeit. defmieren. sofern man ihr einen 
fiir die realeii Ersdieimingen relevanten Sinn beilegt, und 
basiert dabei auf der Annahme (dem 1'riuzip) der K o n s t a n z 
der Lichtgesdnviudigkeit. Die zeitlidie Ordnung wird damit 
vim eiuer Bewegung und damit vom Rauni abhangig. der ja 
selbst wieder seiner realen Bestimintlieit naeh eine A n n a li m e 
in Zusamenhang mit empirisehen Verhiiltnissen (Aquivalenz 
von triiger und schwerer Masse) ist, der sieh in einer T b e o r i e 
aufbaut. Auch die Zeit ist die Konslruktion einer Ordnung (der 
Veriinderungen) mit Rucksicht auf die E r f ahru ngs verhiilt- 
nisse, nicht eine Ordnung, die von vornherein auf Grund .reiner 
Anseluuuing" oder .reiner Denkgrundlegung' fertig feststeht 
uud iu die das Erfahrbarc bloti einzuordnen ist. Audi die Zeit 
ergibt sidi in einer Th'eorie, als eine Tlieorie der Ordnungs- 
gesetzmaBigkeit fiir Veriinderungen. Das ist die Art ihrer 
Geltuug. 
Was nun fiir den Raum ausfuhrlich gezeigt. fiir die Zeit 
und fiir die Substanz skizziert worden ist. da« wlirde sieh 
(lurch nine umfassende Analyse und Vergleiehung der AVissen- 
schnften a 11 go me in fiir die I'nndameiitalen Ordnungs- und 
184 y. Kraft. 
Beziehungsformen der wissensehaftlichen Erf ah rung nach- 
weisen lassen: daft sic weder fur sich allein, unabhangig von 
konkreter Erfalirung, feststehen. noch mit absoluter Sicherheit 
und Endgultigkeit, daft sie vielmehr Annahmen sind, gerade 
mit Rucksicht auf die Eh'fahrungsvcrhaltnisse. urn darin emeu 
geordneten, gesetzmaftigen Zusamenhang herzustellem d. h. urn 
sie den logischeu Forderungen gemaS denken zu konnen. Sie 
sind die Konstruktionsprinzipien zur Rationalisierung dcs Er- 
fahrungsgegebenen. genauer: der erlebnisgegebenen Erschei- 
nungen. (Daft sich ein solehes rationales System nur kon- 
S'truieren laftt, indein man die erlebten Evscheinungen auf 
— angenoinmene — nichterlebte Realitat bezieht und (lurch 
solche ergiinzt — diese Annahme einzufuhren ist gerade der 
Sinn des Substanzprinzips [in rcalistischer AuiTawsung] — 
und nicht. indein man die erlebten Evscheinungen bio 13 zu 
einander in Beziehung setzt, das ist scbon eine Saehe des 
meritorischen Aufbaues eines solchen Systems.) Das empiri- 
sche Welt.bild'. Weltsystem stellt die jeweilige Losung dieser 
Aufgabe eines rationalen Systems des Erfahrbaren dar. Es 
steiit nicht nur im einzelnen. soudern aueh im ganzen, in seinen 
fundameii'talen Oruudziigen. niclit endgiiltig und unvevander- 
lieh fest: es ist prinzipiell wandelbav. Demi seine Konsti- 
tiienten. die Ordnungs- und Beziehungsfnrmen. die Erkenntnis- 
prinzipien, sind nicht durch Urfonnen der Synthese (anschau- 
liclier oder intellektueller) als ursprung'liche. naturgesetzliehc 
Funktionen bestimmt: sie werden audi nicht durch .reine 
Denkgi'undlegungen' als unveranderliche Ordnuugsschemata 
vor aller Erfalirung fertig gegeben. sondern sie werden erst 
in und mit der Erfalirung. in Zusainnienhang mit den zu ord- 
nenden Erscheinungen entwickeli und begriindet. Sie ent- 
decken ja gerade den Wcg, auf dem sich die logischeu For- 
derungen in dem gegebenen enipirischen Material durchsetzen 
lassen. Sie bezcichnen die (lesetzmaBigkcits- und Vereinheit- 
liclumgsmoglichkeiteu. die Ratioualisierungsmoglichkeiten des 
Erfahrbaren. Darum sind sie aber prinzipiell immer nur An- 
nahmen, Voraussetzungeu. Sie gclten in dersclben Art wie die 
Prinzipien der Mechauik: Hire Oeltung ist nicht an sich. 
sondern r ii c k \v i r k e n d v o n d e r E r f a h r u n g h e r be- 
griindet als n o t \v e n d i g c V o r a u s s e t z u n g e n f ii r d i e 
Din Gniiult'oniieu tier wis-sen^oli a f tl icrlien Mothodcii, lbt> 
R a t i o nali s i o run g des Erfahrbaren — ub es alter audi 
hi n r e i e h end o Yoraussetzungen dafu'r sind. das ist aller- 
'dings eine andere Frage. Nur in diesem Shine kann man sie 
a Is .Bedingungen der Moglichkeit. der Erfahrung' bezeidmen 
— ■ and da's ist ein ganz andere r als der Kants and der Neu- 
kantianer. Die Erkenntnisprinzipien der Erfahning gelten als 
die Konstituenten einer univer sellen Theorie des Er- 
fahrbaren — nnr so lafit sieh das fundamental Problem der 
Geltiing der .Ka.tegorien' and Erkenntnisgrundsatze olme 
Metapliysik and ohne Dogmatismus Loseu, niir so lit fit sieh ihre 
Geltiing wirklich erkenntnistheoretiscli verstehert — and iiber- 
haupt begriinden, freilich nieht als eine absolute, ewige. 
sondern als eine bedingte. daruin prinzipiell nnr wahr- 
s ch e i n 1 i e h e. 
Den Erkenntnisprinzipien eine absolute Geltiing zu 
sieheni. dafur ist aucli die Kantsehe und ueukautsehe Art Hirer 
BegTiindung vollstandig' unzureicliend — das lafit sieh prin- 
zipiell zcigen. 
Nicht selten meint man ubcrlmupt, dafi mit dem Xaeh- 
weis der Aprioritiit der Erkenntnisgrundsatze auch sclion 
ihre (Fell u n g' begrt'iiHlPt se\. .A priori' bedrntet aber zu- 
niiolisr einmal: nielii ans E r f a h r u ug zu begTuudeu: das 
ist der Sinn, indeni .a priori' alleiu zweifellos und berech- 
tig't ist. Die Erkenntnisgrundsatze sind damit nnr in ihrer 
rnziiriickfulirbarkeit auf die Erf ah rung eharakterisiert. als 
die letzten logischen Bedingungen fiir wissenschaftliohe Er- 
kenntnis: es bezeichnet also iiloB ihre relative Geltiing 
fur das Erkenntnissystem so wie die der Axiome einer Theo- 
rie. Eine absolute Oeltung* ist damit noeh nicht gegeben. 
Bei Kant verbindet sieh aber mit diesem negativen Sinne 
des .a priori' noeh' der andere. positive: aus .reiner Vernunft' 
fini Aveitesten Sinn: reiner Ansehauung und Verstandes- 
begriffeuj stammend and giiltig. In der Geltiing- auf Grund 
.reiner Vernunft' liegt daher der Augelpunkt der Kantschen 
Begriindung der Erkenntnisgriindsatze. .Heine Vernunft' als 
ErkenntnisgTund hat aber nun beim hist o rise hen Kant 
einen zweifaehen Sinn, einen erkenntnistheoretisehen mid 
cinen psychologist-hen. Die apriorischen Grundlagen der Er- 
kentitnis gel ten auf Gnuid der Auseliauung's- und Verstandes- 
180 
V. K J- ;, i'1. 
formen. Diese wenlen als die Formen des Zusanmienhanges 
in der sinnliehcn Gegebenheit nnd der transzendentalen Appcr- 
zepticjn zur Einheit ernes Bewntttseins iiberhaupt verstanden 
und darum mtisseu sie unbedingt fur alle Erfalirnng. d. i. ein- 
licitlichc Synthese des sinnlicli Gegebenen, gotten . In dioser 
Charakteristik als Zusammenhangs- und Eiuheitsbedingungen 
— des Bewutitseins, der Erkenntnits — liegt aber bei Kant 
ein Doppelsinn: dev von realen und von idecllen Be- 
dingnngen, von realer nnd von idccller Einheit. Einerseits 
erseheinen die Anschanungs- und Verstandesformen a Is ur- 
spriingliche Anft'assnngsweisen und syntbetisehe Fmiktionen 
des erkenuenden Geistes. als Erkenntnisverniogen im Sinne 
^einor Anthropologic Der Rauin wird an prinzipieller rfteUe 
(Krit. d. r. Yern.. § ;-J) eingcfUlirt .als die formale Beseliaf- 
i'enheit [des .Subjekts|. von Objekten aftiziert zu werden'. und 
cbenso (§6) die Zeit. .Weil nun die Rezeptivitat des Subjekts. 
von Gegenstanden aftiziert zu werden. notwendigenveise vor 
alien Anschaunngen dieser Objekte vorhergeht. so laBt sich 
verstehen, wie die Form aller Erscheinnngen vor alien wjrk- 
lieheii Wahmehmungen. niithin a priori, im Gemiite gej-cbon 
sein konne.' Und gleichfalls an prinzipieller Stolle (am Be- 
giime der Deduktion der reiuen Verstandesbegriffe. § l.i): 
A'erbiiiduiig eines Mannigfaltigen iiberhaupt kann menials 
dnrch Sinne in mis koiumen nnd kann also audi nk'lit in dev 
reiuen Form der sinnljchen Anschauung zugleieh mit ent- 
balten sein; denn sie ist ein Aktus der Spontaneitat der Vor- 
stellungskraft: und da man diese. zum Unterschiede vim der 
Sinnlichkeit. Verstand nennen mull .so ist alle Verbindnng ... 
eine Verstandeshandlung l 
Auf eine solrhe p s y c hoi ogi s e h e Basis kann man 
nber die Erkenntnisprinzipien nieht stellen. damit ergibt sich 
iiberhaupt kein Geltungsgruud — das ist heute wohl ge- 
nugend klar. Und doeli spricht audi der Neukantianisums 
nocli nnd immer wieder von den Erkenntnisprinzipien in 
eiuem gewissen Zwielicht als von einer ,Eigengesetzlichkeit 
des Erkenneus', ' n von einem .festen Gesetz des Geistes'. von 
eineni selbstandigen .Bereit-h der Formen' gegentiber der 
-Mannigt'altigkcit des Sinnlielien 4 " (S. 78. 88). Ein solehes 
Gesetz, nuiRte entweder eine reale odor eine ideal r GeseU- 
l)ii> (innnlt'orriimi ilcr wifwuwliiil'tliclien Metlitxh-n. 187 
mnBigkeit sdn. Als reale ware ^ie aber ■sell.^t erst zii er- 
we-tson uitd niclit von vornlierein gcwiB. Wenu man es niclit 
einfach dogmatisch beluiupten will — was bei Kant aller- 
dings der Fall ist — . da 6 es sol die urspriingliebe Einbeits- 
funktionen des .Geistes' gibt (was 7,ugleicb die Yoraussetzuug 
einer Seele ndei- seelenloser Funktionen erforderO und daB sie 
in fix 1 u den Ordnmigs,- und Bezieluuigsformen des Kaumes. 
der .Substanz usw. bestelieu, so konnte es dock nur das Er- 
gebnis einer Analyse und Yergleicbung des iatsacblicbeu Ei- 
kennnns. ;ils<i einer indnktiven FestsfeUuug sein. Z. B. in 
der Bildung der geonietrisehen Erkenntnisse und der Kanni- 
vorstelluug iiberhaupt UiBt sich eine GesetzmaBigkeit ent- 
decken als eine idontisebe Bediugtheit iu den einzetuen 
Baumbestinmiungen. Diese GesetzmaBigkeit kann man dann 
dem .Geisj' als Erkcnntnisfunktion. als urspningbche Organi- 
sation zusdueiben. Eine soldie induktive Aufwei^iiug' wiirde 
aber dock niclit die absolute Sidieiiieit verbuvgen konnen. 
die der Kritizismus beansprucbt; es wiirde nur eine Hypotbese 
sein konnen. welclie die Tatsaclie. daB sich ini Bewufitsein 
cine einheitliche ranmlicbe Anordnnng von Sinnesdaten zeigt. 
or k 1 ii r I durd) eine gesetziniiBige Funktion im r e a 1 e n Be- 
wuBtseinszusaminenliang. 
Wenn aber mit den Gesetzen des erkennenden Geistes 
idee Me gemeiul shut, dann bedenten sie niehts anderes als 
die Grnndbeziebungen. wie sie in Axiom en nnfgestellt wer- 
den. iDul damit kommt ihnen iiberliaupt noeh keine absolute 
Geltung ?.u. Demi eine umuittelbare Sdbstgewiflheit — das ist 
friiber (S. 71 f.) gezeigt wordeu — ■ kann man tiir sie niclit in 
Ansprucb nelimen. 
In Kants AufTassung der Fornien der reineu Vermin ft 
als Formen der Vereinlieitlichung in einem BewuBtsein liber- 
han.pt liegl aber audi der Gedanke. der dann besonders in 
der iieukantischen Ausleguug in den Vordergrund gestellt 
worden ist: daB diese Einheitsformen die notwendigen, un- 
erla'Blidien Bedingnngen fiir Erkpjintnis darrytellen. Erfnh- 
nmg ist geordnete A'erkuupfung des siimlidt Gegebeuen, 
und weil diese ohue die Einheitsformen, welclie in den Er- 
kcnntnisprinzipien fonmiliert werden, niclit moglidi ist. darum 
nn'issen diese unbedingt und notwendig gel.ten. Sie sind daiuil 
188 V. Kraft. 
nieht nichr als reale Bedingungen der BewuBtseinseinheit, als 
synthetische Funktionen im psychologischen Shine, sondern 
als ideelle Bedingungen des Erkenntnisaufhaues gefafit. Sie 
bilden die unerUUMicben Yoraiis^etzungen iiir die Geltung. t'iir 
die Begriindnng — nicht die Eats tenting — der Erfahnings- 
erkenntnis. Bam it ist aber wieder nur ihre relative Gel- 
tntig in bezug auf Erfahrung gesichert; wir liaben wieder die 
erste, die negative Bedeutiing des ,a priori' vor ims. Aher 
eine ab'solute Geltung ist anf diesetu Wege nicht zu ge- 
winnen. Demi eine derartige .teleologisdie' Begriindnng der 
Erkenntnisprinzipien ist gar keine .andere als die der Grund- 
aimaiimen einer Theorie. Die Erkenntnisprinzipien fun- 
dieren logiseli das System der Erkenntnis: fiir dieses gelt en 
sie a priori. Aher an mid fiir sich. unabhangig davon, hahen 
sie iiherhaupt keine absolute Geltnng. sondern ihre GelUing 
begritndet sich erst dadnreh. daB dnrch sie, bei ihrer 7a\- 
grundelegnng. koii k re t e Erkenntnis t a t sii chl i eh zu 
gewinnen ist. Durch die Ta.tsachlichkeit von Erkenntnis wird 
erst rtickwirkend die Geltung der Erkenntnisprinzipien ver- 
biirgt — wie liei einer Theorie iiberhaupt. 
Der Grund ft'ir ihre Geltung liegt. also daviu. daft sir 
logisch fiir die konkrete Erkenntnisbildung erforderlich siml. 
Fnfolge dieses Verhaltnisses werden die Erkenntnisprinzipien 
notwendig von der konkretcn Erkenntnis her niitbestimmt 
— so wie von einein gegebenen Besondereu aus das dazu 
passende Allgemeine mltliestiiumt ist. Und das heiBt. daB 
sie vom unniittelbar Gegebenen. al.-i dern zu Yereinheitiichen- 
den, mitbestininit werden. Die Erkenntnisprinzipien sind die 
allg - emeinsten Form en der Konzeptionen, die es ermoglichen, 
das Gegebene in einer gese-tzmaBigen, rationalen Weise aid'- 
zut'assen. zu ordnen. Sie stcllen die Grundaunahmen einer uni- 
verselleu Theorie des Gegebenen dar. Ob und inwieweit sieii 
dieses einer solehen fiigt — das ist eine Tatsachcnfrage. die 
Frage ihrer Verifizierung. Dabei wird sich die rest lose Ratin- 
nalitat oder sehlieBliche lrradoualitat des Erkeuntnisinaterials 
offenbaren. Als die Grundannahmen einer solcheu Theorie 
miissen die Erkenntnisprinzipien in Hinsieht anf dieses 
Material gewahlr, konzipiert werden. 
Fiir Kant und die Nenkantianer bleibt es ein Hatsel. 
l)ie (.i-rnnd fornien der wisseiisclinftlielipn Metlioilon, lbH 
wieso eig'entlieli das sinnlieh Gegebene sich den iipriorisehen 
Einheitsformen genial enveist. mid die.se somk dafiiv gelten 
konnen. Es 1st bozeiehneud dafih", dafi z. B. Honigswald '' 4 
(S. 892) die Frage, wanmi gerade die euklidische Geometrie 
— ■ seiner ileinung nach — - allein t'iir die Erfahning gilt, 
iiberhaupt ablehnt, weil sio nielit eine erkeuntnistlieoretiseiie. 
d. i. eine G el tungs frage, sondern ,eiue Frage nach dem Grunde 
dor Tatsaehe dieser Geltung' sei nnd da m it entweder eine 
psycfiologisehe Frage: .Wie kommt die den Bedingungen der 
enklidischen Axiome gemafie empirisehe Anschauung zu- 
S'tandeV oiler eine me t a ]>hy si * c he Frage: AVarum ist 
unsere empiriselie Ausehauuug gerade den Bediiigmtgen der 
enklidischen Axiome gemafiV 1 — also eine i'lir den Kritizis- 
nnis unlosbare. transzendente Frage! Wie wenig dieses Pro- 
blem der Gbereinstimmung zwiselien dem ■smnlicli Gegebenen 
nnd den apriorisehen Einheitsformen voin Xeukautianismus 
erf a fit nnd gewlirdigt wird. zeigt der Losungsversuch Riehls. 
Die Erkemitnistheorie ,sueht aus dern Begrift'e dor Erkeniitnis 
die Bedingungen abzuleften, unter denen die Ersclieimmgeu 
selbst, die Objekte des Naturerkennens, gegeben werden. nnd 
gelangt auf diesem Wege zu Grumlsatzen der Erfalmmg: sie 
beweist. daG es Dinge geben irnifi. die mit den Uostulaten 
der Erkenntnis notwendig libereins;timmen. eben die Objekte 
der Erfahrung' 4,i fS. 284). Aus dem B e g r i f f e der Er- 
kennfnis ,die Bedingungen abzuleiten. unter denen die Er- 
sc-heinungen gegeben werden'. ist mimoglich. denn das 
miifiten doch reale Bedingungen sein: aus einem Begrii'fe. 
d. i. dureh Deduktion aus einer Definition, kann man 
aber nur idee lie Bedingaingen ableiten. Ein Beweis. daB 
es diesen Forderungen entspreohende e m p i r i s c h e < > b j e k t p 
geben mufi, also der logische Beweis ernes Daseins. ware 
nur moglich, wenn er von Ta t sac h en-Fe s ts tellu n- 
gpn ansgelien konnte. So aber ist dieser .Beweis' nichts 
anderes als der ontologische GottesbeweU auf erkenutnis- 
theoretischem Ge-biete! Kant selbst ist von einem solchen 
Fcbler nnd Selbstwiderspruch frei, denn bei ihm sind ja die 
Bedingaingen der Mog'lichkeit der Erfahrung zugleich, als 
seelische Einheitsfunktionen. reale Bedingungen. Das ist 
die tiefe Wuvzel. weshalb sich die psycholngischc Auffassnng 
190 V. Km ft. 
nicht ztigunsten einer rein erkenntnistheoretisehen aits seincm 
System ohne dessen Zerstbrung ausschalten lafit. Audi 
Gassirer 4 '" 1 (S. 87) glaubt die .prastabilierte Harmonie zwischou 
ilathematik mid Physik' (d. i. Erfahrung) damit erklilren zu 
konnen. daft ,schon jede physikalische .Setzung, jede ein- 
fachste GroSenbestimnmng. die durch das Experiment und 
die konkrete Messung festgestellt wird. . . . bestimmte lo- 
giseh-iuatheniatische Konstanten in sich scliliefit* " (S. 87). 
Das wiirde aber mir dann erne hinreichencle Krkl;irim^' sein. 
wen u unsere apriorisehen Bestimmungsmittel zu dem kon- 
kreten Gegebeuen niclit in einem sachlichen Verhaltnis. das 
sieii in dor Durchfiilirbarkeit und innercn Obereinstimmung 
der Bestimmiingen uffenbart, stehen miiftten. sonderu wcnn sich 
dies )jei jeder beliebigcn Wahl der Bestimmungsmittel in 
g'leieher Weise erg8.be. Das widerspricht aber dem neukanti- 
sclien Anspruch auf absolute, unwandelbare Geltung der 
apriorisehen Erkenntnisprinzipien. Sind sie al)er nicht will- 
klirlich wiihlbar, dann bedarf die tmgehinderte Durchfiihrbar- 
keit soldier Bestimmung. die Eignung der apriorisehen Be- 
stimmungsmittel ftir das Gegebene oder die GemiiBheit des 
Gegebeuen in bezug auf die Bestimmung'smittel doch erst der 
Erkliirung. Und diese kann nur darin gefunden werden. daB 
die Erkenntnisprinzipien eben mit Riicksicht auf die Art und 
die Verhaltnisse des Gegebeuen gewahlte Anna lime n sind. 
Damit konnen sie aber nicht, mehr ein absolnt giiltiges Wissen 
von der Struktur der Erfahrungswirklichkeit -sein. das von 
vorn herein eindeutig und un wan del bar fiir alio 
Ewigkeit feststeht. Als Annahmen sind sie vielmelir priii- 
zipiell auf mehr fa die Weise moglieh und audi der An de- 
rung ausgesetzt. Da rum konnen sie nur als wahrsehein- 
1 i c li gel.ten. 
Das zeigt ja die Oeschichite des Substauz-, des Kausali- 
tatsbegriffes, das zeigt jetzt die Relativitatstheorie fur den 
Raum- und Zeitbegriif. Aueh wenn sich die Relarivitats- 
theorie nicht als stichhiiltig erweisen sollte, so mac lit sie es 
doch zur Tatsache, daB solehe tiefgreifende Wandlungen in 
bezug auf die Grundformen der Erkenntnis uberhaupt in Frage 
kommen konnen, dafi diese also nicht unwandelhar ein fiir 
allenial feststehen. Donn die Relativitatstheorie miiBte sonst 
bie Cirufidfonnen tlei* wlsseusctuiHliclieii Metlioilen. l'Jl 
von voni lie rein fur ungiiltig erklart werden kb'nnen. wcil 
sie erne Abandernng dor imabimderlichen Ordmuigsformen der 
Erkenntuis enthalt — was ja aueh Dingier NH in gewissem 
Sinne versucht lia,l. Eine derartige Kritik vermag sie aber 
durehaus nicht zu erschiiUern, wie Reichenbaeh ir '*' gut 
gezcigt hat. Und die Neukaiitiauer haben audi in ihrer 
Stellungnahme zur Relatjivitatsitheorie eine solche Kritik 
keinesweg's geltend ssu mac-hen gewagt; sic ha ben vielmehr im 
(iegenteil. um Raum und Zeit als absolute, a priori fest- 
stehende, von der Erfahrung unberiihrbare Ordnungsformen 
aufreclitznerhalten. eine befremdliehe Unabhangigke i t 
zwischeu Kaum und Zeit als reiuen Ansehauungsformen nnd 
ihrer empirischen Bestimnmng, wie sic die Relativitatstheorie 
minmebr gibt. behauptet, so Sellien" 4 und Schneider. ir,r ' wo- 
mit aber dann. gauz en.tgegen dem eigentlichen kautischen 
Sinne. die Bestimmtheit des Erfahrbaren durcb die apriori- 
schen Ordnungsformen iiberhaupt aufgegeben ist: oder man 
hat die mhaltliche Bestimmtheit der Ordnmigsformciu die 
a priori feststehen soil, im wesent lichen preisgegeben. weil 
ins Allgemeinste zunickgeschoben, wie Oa-ssirer, 4 '"' der. da- 
nut liber Kant bewullt Mnausgehend. nnr die allgemeiiu 1 
Reihenform ernes stetigen Neben-, beziehungsweise Nachein- 
ander iiberhaupt (S. 85) mehr als die unwandelbare (durcb 
.reine Anscbauung' gegebene) Ordmingsform erklart. alle 
metrisc lie Bestimmung des Raumes dagegen aus ihr aus- 
sehaLtet nnd bereits der Erf. aiming uberlafit, also gar nicht 
mehr als ewig guitige .synthetisc.be Urteile a priori' be- 
trachtet. (Vgl. dazu l36 .) Cher Raum und Zeit. d. h. die Be- 
rechtigung der Relativitatstheorie wird nicht die Cberein- 
stimmung mit apriorischen Erkenntnisformen. sondern nnr 
die Erfa lining entscheiden; ob die Konsequenzen der neucn 
Raum- und. Zeitauffassung von der Beobachtung bestatigt wcr- 
den oder nicht — ■ das wird allein der Grund sein, daB sie gilt 
oder nicht. 
Die Erkenntnisprinzipien sind keine absoluten 
CJrundsatze wie der Kantianismus glaubt. Es gibt keine 
anderen absoluten Grundsatze als die der t'ormaleii Logik. 
Und gewisse formale Prinzipien wie das der Einfachheit. 
Xnr die.so bildrn eine letzte. umvandolbarc. unaiifhebbare 
192 V. Kraft. 
Grundlage der Erkeniiitnis; sie allein stehen wirklich .a priori 1 , 
d. i. unbedingt und ,fiir alle Ewigkeit' f^iiltip: und unabhiingig 
von der Eri'ahrung test. Alle anderen Erkenntnisprinzipieu 
sind, streng genonmien, nur Annahmen zur Durdisetzung der 
log'isdien Gesetzmilfiigkeit ini Erfahrungsmaterial. 
Das alios ist freilich nur eine Yerallgemeinerung von 
der Wissenschafitsanalyse in Itezug auf das eine oder andere 
Erkennlnisprinzip aus. und ilsr Recht miiBte erst, dureh 
weitere Wissenschaftsanalysen und -vergleidiungen erwiesen 
we rd en. 
III. Die Induktion. 
1. Die geschichtliche Entwicklnng des Problems 
der Induktion. 
Bekanntlieh hat sehon Aristoteles (Top. A», Akademie- 
Ausgabe 105, 12) von deni Syllogismus. der SchluBfolgerung 
vom Allgenieinen auf weniger Allgemeines. die smcvuv-,-, die 
.indnctio' in der lateinischen Cbersetzung des llittelalters. 
als den logischen Weg vom Einzelnen zum Allgenieinen 
(i, a.7.'z twv y.aO' h.y.n-.'y> i-\ ih. '/,x0:a5u scsSo;) untersdiieden. 
Das Beispiel, das er dort gibt, ist eine eharakteristische Ver- 
allgemeinerung: der sadikundig'c Steuermann ist der bestc. 
ebenso der Wagenlenker — iiberhaupt ist in jeder Sadie der 
Bewtc der Saehverstandige. Es ist ein Cbergang von emigen 
besouderen Fallen zu einem allgenieinen Satz. eine amvoll- 
standigo' Induktion. An der Stelle, wo er ausfiihrlieher iiberdie 
ir.a^uijfi spricht (Anal, prior. II, 23), betrachtet er sie hin- 
gegen als ein SdduBverfahren auf Grund a Her Einzel- 
instanzen {h.x^yr, -^ -av:uv), als .vollstaudige' Induktion. 
Sein bekanntes Beispiel ist: Mensch. Pferd. Maulesel sind 
langlebig; sie sind audi gallenlos, also sind die gallenlosen 
Tie re langlebig. Der logische Nachweis <\e^ Allgemeinen aus 
dem Einzelnen beruht hier darauf. daB alle Einzelinstanzen 
— - bier sind es genera. — die ini SdduBsatz ausgcsprodiene 
Bezieluing — hier die gleiehzeitigen Eigensehaften der Lang- 
lebigk&it und der Gallenlosigkeit — aufweisen. Der all- 
gemeine Satz wird hier gewonnen dureh bloBe Zusammen- 
fassung der vollstiindig augefuhrten Einzelinstanzen. .per 
Die Gnmdfornien cler wissenseliaftlieliou Metlicxlen. 193 
enumerationem simplicenv. Aber bei Aristoteles spielt die 
Induktion iiberhaupt kerne Holle; sic taucht nur ganz aus- 
nahmsweise auf und bleibt unbestimmt. 
Erst Bacon stellt im Novum Orgauon die Induktion dem 
Syllogismus als ein eigenes, andersartiges logisches Verfahren 
in prinzipieller Gegeniiberstelluug entgegen (in der distributio 
operis: ,nos demonstrationem per wyllologismum rejieimus'); 
er stellt sie deshalb audi der arist-otelischen Induktion ent- 
gegen: .Ka euim de qua dialeotici loquuntur quae proeedit 
per enumerationem simplicem, puerile quidam est...' (distri- 
bntio opens, ebenso lib. I, 105). Die neue, bis dahin noeh 
nicht angewendete, ja noch nicht versuchte Art der Induktion 
muB ganz anders vorgehen als dnrcb einen bloB auBerlichen 
Rekurs auf die Vollstandigkeit der Einzelinstanzen: sie muB 
cine methodische Sichtung und Priifung" von Einzelinstanzen 
auf das, was an ihnen gemeinsam, invariabel, gesetzmafiig ist, 
vomeiunen — das ist Bacons neuer und groBer Gedanke. Und 
audi das Grund^ltzliche dessen. wie diese Au"s sonde rung 
des GesetzmiiBigen zu vollziehen ist. hat er bereits erfaBt: 
ein Vergleichungs verfahren mit Ililfe der Variation der In- 
stanzen. Diese seine Auifassung der Induktion stelit als das 
Wesentliche und das Dauernde iiber all den [jnzuianglich- 
keiten im Einzelnen vor uns. Gegeniiber einer bloiSen Stat ist ik 
des Tatsachlichen soil die Induktion eine Entdeckung des 
Notwendigen werden. .. . . inductionis formam inveniendam, 
quae ex aliquibus gen era liter concludat; ita ut instantiam 
contradictoriam inveniri non posse demonstretur.' !)r ' 
Bacons Lehre von der Induktion ist dann im 19. Jahr- 
hundert in direkter Aiikniipfung an ihn von I. HerscheL " ,; 
I. St. Mill" 7 und W. WhewelP 8 fortgefiihrt worden. 
,Dem unsterblichen Bacon verdanken wir die vollsUindige 
Vcrktindig'ung des groBen und frucbtbaren Prinzipes und die 
Entwieklung der Idee, dati das Gauze der Naturwisscnschaft 
in einer Keihe iuduktiver Verallgemeinerungen besteht, an- 
fangend mit auf das Umstandlichste festgestelHen Einzel- 
beiten und fortgefiihrt bis zu allgemeinen Gesetzen oder 
Axiomen. die in ihren Aussagen jeden untergeordnetcn Grad 
von Allgemeinheit umt'assen. . . ii,li (S. 108, vgl. auch 118, 119). 
Und ebenso beruft sich audi Mill, gorade wo er begiimt. seine 
Sitr.miffsber. <]. [.liil.-Iiisl. 111. 2M. 1IJ. J. Abli. 13 
194 V. Kraft. 
Jlethode der Induktion au^eiuanderzusetzeu, auf Bacon: .Wir 
miissen einige von den Antozedenzien grtrennt autreiieu und 
beobachten konnen. was aus ihnen folgt. oder einige von den 
Folgeerscheinungen und beobachten. was ihnen vorangeht. 
Wir miissen mit einem Wort die Kegel Bacons befolgen. die 
Umstiinde zu variieren' I,T (II, S. 70). Audi WheweU bezieht 
sich in der Vurrede und in der Einleitung ausdriicklich auf 
Bacons Werk — wic ja audi schon der Titel anzeigt und wie 
es der autiere Aufbau seines Werkes in Aphorisnion und er- 
liuiternden Aiisfulirungen nach Art Bacons bezeugt. 
Bei Bacon war es die .Form* der Naturerscheinuugen. 
welche duroh die Induktion ermitteLt werden sollte. Ihitl 
.Form' hatte bei ihm die doppelte Bedeutung von Wesen 
einerseits und Ursache andererseits '■''■' (K. 57). Herschel bat 
als da.s Ziel der Induktion die Erforschung der Kausalgesetze 
ausgcsproehen. Das (>. Kapitel seines genannfen Werkes tragt 
die Uberschrift: ,Von der ersten Stufe der Induktion — die 
Entdeckung der nachsten Ursaehen und die Gesetze von dem 
niedrigsten Grad von Allgemeinheit und dereu Bestatigung* "" 
(S. 148. 15'ij. Fnd ebenso hat die Induktion bei Mill dieses 
Ziet. .Festzustelleu. welches die iirsitcltlichen Gesetze sind. 
tlie in der N.atur waken, die Wirkungen jeder Ursaehe und 
die Ursachen aller Wirkungen zu bestimmen — ■ ist daher das 
Hauptgeschaft der Induktion. und nachzuweisen. wie dieses 
7,u geschehen hat. ist dieHauptaufgabe der induktiveiiLngik' 0T 
(I. Book Ilk Chapt. 0, $ ■■> SchluB: 1. Bd! [Werke. 2. Bd.l. 
S. 06. 4). 
Das Gruudsatzliche von Bacons luduktionsmethode ist 
im Novum Organon 11.16, ausgesprochen: .Est itaque induc- 
tionis vcrae opus primum... reject io sive exclusiva naturarum 
singula™ in quae non inveniunlnr in aliqua instant ia. ubi 
natura data adest. aut iiivciiiiintur in aliqua instantia. ubi 
natura data abest: a lit inveniuntur in aliqua instantia 
crescere. cum natura data decrescat; aut decreseere. cum 
natura data crescat. Turn vero post rejectionem et exclusi- 
vam debiiis modis lactam, secundo loco... manebit . . . forma 
affirmativa. solida et vera et bene termiuata.' Dazu dienen 
die Tafeln der positiven und der negativeu Instanzen und der 
gradweisen Abstut'ung und die prarogativen Instanzen. Der 
Die G-rund forme n der wissenschaftlielien Methoden. 19o 
Gmndgedanke ist dor. dureh Vergleichung eiuer Art von 
Xaturerschcinimgen das Wesenhafte, Invariable, die kon- 
btanten Beziehungen, welehe. ein ursa'chlicbes Verhaltnis oder 
eine Gattung ausmachen, festzustellen. Vnd zwar sod die 
Aussonderung dicscr Beziehungen dureh A us sc hi ieGung 
des Xichtzusanmiengehorigeii erfolgen. durcli eine Art Rest- 
methode: Es .soil festgestellt werden, was alles bloft wechselnde 
zufallige Beziehung ist — dann wird das untrennbar Zu- 
sanimengeborige allein iibrig- bleiben. Das stellt nun al lor- 
ding* eine liisbare Aufgabe niir miter ganz bestimmten Be- 
dingungeu dar: wenn nitmlich die Zahl der auszuschlieBenden 
Verknupfungen nieht nur eino endliche. sondeni audi eine 
beschriinkte ist — wie es Bacon in bezug aid' seine ,einfachen 
Xaituren' ja auch angenommen bat (vgl. '"" Introduktion § 9). 
Das heiSt, es mufi eino vollstandige Disjunktion vorliegen. in 
der alle Glieder bis auf eines ausgescblossen werden konneu. 
Dieses bildet danu die gesuchte konstante Verknupfuiig. A ist 
entweder mit a odor b oder c oder d verkniipft — mit b, e. d 
nicht, also mk a. Damit laBt sicb dieses Verfabren aber in ein 
syllogistiscbes iiberfuhren — wie Sig-wart (Logik. II. Bd.. 
$ 98. 4) gezeigt bat. 
Diose Bedingungen des Baeonschen Verfahrens sind 
jedoch im allgenieinen nicht gegeben, weder die vollstandige 
Disjunktion noeb die Ausschliefibarkeit aller Glieder bis auf 
eines. 1st festgestellt. daft nur ein Teil der Disjunkitions- 
glieder blofi zufallige Verknupfungen darstellt. so verbtirgt 
das nocb keineswegs. daB der verbleibende Rest eine gesetz- 
mafiige Yerkniipfung bildet. Daher lafit sich die Sondermig 
der variablen und der konstanten Beziehungen auf demWege 
der Aus schl i e filing des Xichitzusammengehorigen im all- 
gemeinen nicht durchfiihreii. Hier setzen darura die Vcrbesse- 
rungen der Baeonschen luduktionsmcthode an. 
E,s ist eigentlieh Hersehel. der die Grundziige der neuen 
Fassung der Induktionsmethode, wio sie bei Mill vorliegt, 
bereits entwickolt bat — was ja Mill sclbst" 7 (B. III. Gh. 9. §8) 
anerkennt. Er nimmt oi'fenkundig den Gruudgedanken Bacons 
auf. Das Ziel der Indukiioii sieht er. wie schon gesagt, in der 
Ermittlung der Kausalgesetze. AVenn aber mehr als eine 
Crsaobe da /.u sein scbeinen sollto. so musson wir un^ be- 
13* 
196 V.Kraft. 
miihen, neue Tatsachen zu find en odor, wenn das nicht 
gelingt, li er v orzub r i ngen [dureh das Experiment], bei 
denon jede dieser Ursachen. eine nach der andern, felilt, wah- 
rend jene dennoch in dem fragliehen allgemeinen Punkt iiber- 
einstimmen'*' 1 (2. Teil, G. Kap., £. 144). Die .allgemeinen 
Regeln zur Leitung mid Erleichterung der Aufsuchung der 
gemeinschaftlichen Ursachen einer groBen Menge zusammen- 
gestellter Tatsachen' stellt er dinm eatsprechend den Mevk- 
nialen der Kausalbeziehung auf (S. 145). Diese wind 1. .unver- 
anderliche Verknupfung', 2. .unveranderliches Ausbleiben der 
Wirkung bei Abwesenheit der Ursache", ;1. .Verstarkuug oder 
Veniii nd e rung der Wirkung bei zunehmender oder abnehmen- 
der Intensitiit der Ursache', 4. .Proportionalitat der Wirkung 
zur Ursache bei alien Fallen direkter ungehinderter Tiitig- 
keit', 5. .Umkehrung der Wirkung bei einer Umkehrung der 
Ursache' (S. 145). Darnach schlieBen wir: .1. daB, wenn in 
unserer Gruppe von Tatsaehen cine vorkommt, bei der irgend- 
eine bezeicbnete Eigentiimlichkeit oder ein begleitender Um- 
stand felilt oder entgegengesetzt ist, diese Eigenitiimlichkeit 
nicht die gesuchte Ursache sein kann': .2. daB irgendein Um- 
stund, worm alio Tatsaehen oltne Ausnabmc iibevemstinimen. 
die fragliche Ursache oder, wenn nicht, wenigstens eine Seiten- 
wirkung einer und derselheii Ursache sein kann; ist nur ein 
UbereinstimmuiigspuiLkt vorlianden. so wird diese MogHeh- 
keit zur GcwiBheit: sind aber ihrer niehrere vorhaiiden, so 
konnen auch raelirere zusammcnwirkeiide Ursachen da sein' 
(S. 157). Das 1st nichts and e res, als was der 1. Kanon bei 
Mill besagt: .Wenn zwei oder rnehr JusUuizen der zu er- 
forschenden Erscheinung nur einen Umstand gemein haben. so 
ist der Umstand, in dem allein alle Instanzen iibereinstimmen, 
die Ursache (oder Wirkung) der gegcbenen Erscheinung' " 7 
(B. Ill, Oh. 8, § 1). Wir schlieBen ferner: ,3. daB wir die 
Existenz einer Ursache nicht leugnen diirfen, fiir welchc ein- 
hellige Uberemsthnmung starker Analogien spricht, wenn es 
auch nicht ersichtlich ist, wie eine solche Ursache die Wir- 
kung sollte hervorbringcn konnen . . .'; A. daB entgegengesetzte 
Tatsaehen zur Entdeckung von Ursachen ebenso lehrreich als 
direkte sind; z. B. beim Rosten von Eisen in einem ver- 
schlossenen Gefa'Be vermindert sich die Luft darin und die 
Dk- (inindlornion dor \v i -^ e 1 1 scl j a f tl iclie n Metboden. 197 
iibrig bleibende Luft ermoglicht keine Verbrennimg' mehr; 
daher ist der Teil der Luft. der zur Rostbildung verwandt 
wird, derselbe, der die A'erbrennung unterhalt 00 (3. 158). 
Also: wenn dieser Beslandteil der Luft vorhanden ist, 
dann ist Rost mid dann audi Verbrennung moglich; wenn 
er nicht vorhanden ist (infolge von Rost), dann audi 
keine Verbrennung. Da rait ist doch wohl sclion das ge- 
meint, was Herschel dann in seiner 7. Regel viel klarer 
und scharfer formuliert: ,Wenn wir zwei entweder von 
der Natur hervorgebrachte oder absichtlich von uns selbst 
hervorzubringende Falle auffinden konnen, welcho genau in 
alien Stiicken mit Ausnahme eines einzigen ubereiustimnien, 
in diesem einen aber von einander verschieden sind, so nmB 
des-seu Einflufi auf die Hervorbringung der Erseheinung, wenn 
es einen solchen bat, merkbar werden. 1st es in einera Falle 
zugegen und in einem anderen ganzlich abwesend, so wird 
das Eintreten oder Ausbleiben des Phanomens entsdieiden, ol) 
jenes die Ursache desselben ist oder nicht...' (S. 159). Es 
ist das, was noch pniziser Mills 2. Kanon aussprielit: .Wenn 
eine Iiistanz. in der die zu erforschende Ei*scheinung ein- 
tritt, und eine Iiistanz, in der sie nicht eintritt, jeden Urn- 
stand bis auf einen gemein haben, indem dieser eine nur in 
der ersteren eintritt, so ist der tlmstand, in dera die beiden 
Instanzen von einander abweichen, die Wirkung oder die 
Ursache oder ein unevlafilicher Teil der Ursache der Er- 
seheinung' 07 (TIT, 8, § 2). YVir schliefien ferner, ,5. dafi Ur- 
sachen sehr h&ufig bloB durch eine Anordnung unserer Tat- 
sachen nach dera Grade der Intensitat, welcher einer be- 
sonderen Eigensehal't zukoramt, offenbar werden, obgleich 
dies nicht notwendig erfolgen muB, weil entgegenwirkende 
oder abjindernde Ursachen zu gleicher Zeit tatig sein konnen'; 
und ,(>. daB solche entgegenwirkende oder abandernde Ur- 
sachen unbeinerkt vorhanden sein und die Wirkungen der 
gesuchten Ursache vcrniehten konnen in Fallen, welche olme 
diese Ein wirkung* zu unserer Klasse der gunstigen Tatsachen 
gehoren wiirden, und daB daher Ausnahmen oft durch Ent- 
fernung* oder gehorige Beriieksiclitiguug soldier entgegen- 
wirkender Ursachen aufgehoben werden konnen' w (S. 158. 159). 
Der Inhalt der 5. Regel ist nodi praziser im 5. Kanon Mills 
198 V. Kraft. 
gefaBt: .Jede Erseheinung. die sieh in irgendciner Weise ver- 
andert. so oft si eh cine andere Erseheinung in einer beson- 
deren Weise verandert, ist entweder eine Ursaehe odor cine 
Wirkung dieser Erseheinung oder hangt mit ihr durch irgend- 
ein ursachliches Yerhaltnis zusaniinen 1 U7 (III. 8. § 6). Die 
9. Kegel Herschels endlich lautet: .Yerwiekelte Phanomene, 
bei denen verschiedene zusammenwirkende entgegengesetzte 
oder vollig von einandcr unabhangige Ursachen zugleich 
wirksam sind, so dafi eine zusammengesetzte Wirkung damns 
hervorgeht. konnen durch eine Sonderung der Wirkimgen 
aller bekannten Ursachen. so gut. die Natur des Falles es 
crlaubt, vermittelst des Raisonnements entweder oder durch 
Benifung auf die Erfahrung so vereinfacht werden. dali nur 
noeh eiji Phanomen gleichsam als Residuum zur Erklarung 
iibrig bleilrt"" 1 (S. 161). Ganz dasselbe enthalt nur wieder 
ctwius genauer. Mills 4. Kanon: ,Man ziehc von irgendciner 
Erseheinung den Teil ab. den man durch friihere Induktioucn 
als die Wirkung gewisser Antezedentien kenut. und der Rest 
der Erseheinung ist die Wirkung der iibrigen Antezedentien' nT 
(III, 8. § 5). Es ist bczeichnend. dafl Mill aueh eines seiner 
iiusfiihrlichen Beisjriele von Induktion. nanilich das der Ur- 
saehe fiir die Taubildung nach Wells, von Herschel fiber- 
nommen hat. 
Mills vier. eigentlich fiinf Methoden der Induktion — 
die Methoden der C'bereinstiinniung und dos Untersehiedes 
(und der Kombiuation beider). die Restmcthode und die der 
Parallelveranderung — sind historlsch und sachlich Welter- 
ftihrungen des Verfahrens, das Bacon in den Tafeln der posi- 
tiven. der negativen und der grad-\vei.seu Instanzen und in 
den prarogativen Instanzen en two rf en hat. Als die Orund- 
idee von Bacons Induktionsverfahi'en hal>e ich schon vorhin 
angefuhrt: das Gesetzmafiige an Xnturerscheinungcn durch 
dercn Vergleichung uuter versciiiedenartigcn Umstanden aus- 
zumitteln. Das ist audi der leitende Gedauke fiir die Millschen 
Methoden. 
Aber freilich — es ist nin welter Schritt von dem primi- 
tiven Verfahren Bacons zu den Methoden Mills. Die Bacon- 
schen Tafeln der positiven und negativen Instanzen usw. sind 
eigentlich nur Material sammhtngeit f.Iiuiusinodi collect io 
Die GnimUoriueii Jfr wissenschaftliclieii Muthodcn. U9 
facienda est . . .'"''' il. II, XT]) unter einem hestimmten leiten- 
dcn Gesichtspunkte: der f'be re in s t i m m ung von Er- 
seheinung-eii in einer bestimmten llinsieht (.instantiae oon- 
venientes') in der .tabula esseutiae et pracsentiae 1 . der V c r- 
s e h i e d e n h e i i sonst v e r \v a n d t e r Erschciniingen in 
ebon dieser llinsieht in der .tabula ubsentiae in proximo' und 
der Zu- und Abnalirne (Intensitatsvariation) in dieser Hin- 
sicht unter verschiedenen Bedingungen in der .tabula graduum 
sive eomparativae\ Das methodisehe Verfaliren. in dem aus 
dieseni so vorbereiteten Material ein Ergebnis gewonnen wird. 
ist erst die Vergleichung und die AusschlicBung des nieht 
ii be vail und umrennbar miteinander Verkuiipften. Die ver- 
schiedenen Tafeln sind also bei Bacon nur Gliedcr eines 
metbodi.sf.ben Pruzesses. in dem sieh die einzelnen Gesichts- 
puukte erganzend zusammensehliefteu. Bei Hersehel und Mill 
sind die Gesichtspunkte, welche die Verwertung der Instanzeu 
leiten, weitaus klarer und scharfer bezeiebnet: aber es sind, 
bis auf die Restmethode. dieselben Gesichtspunkte wie bei 
Bacon: Vbereinstimmung. Verschiedenheit verwandter Er- 
scheiuungen. parallele Variation. Aber sie sind jeder fur sieh 
zu einem vollkommen selbstandig'eu. allein binveichenden In- 
ductions verfaliren ausgebildet; sie sind nicht mehr blo6 Teile 
e i n e s Pruzesses. 
Mills MetlHiden werden vielfach aueh heute noeb als die 
klassisebe Eonnulierung des Induktionsverfahrens. betrachtet. 
Es ist eben seitbev wenig Bedentungsvolles dariiber gesagt 
worden. Der emniristischen Begriuiduug Mills gegeniiber bat 
Apelt 100 eine aprioristische versucht; aber sie beruht auf einer 
verfehlten Aufi'assung der Induktion aU .disjunktivcv Ver- 
nunftschlufi' fS. 17) aus einev Einteiluug als Obersatz und einer 
dieser entsprechenden kopulativeu Aufzahlung als Untersatz: 
den Mittelbcgriff bildet ,ein divisiv aus seinen Teilen volb 
sUiudig- gebiidetes Gauzes' (S. V.)). Z. B. ,Ohersatz: Das 
Sonncnsystem besteht aus der Sonne und den Planeten: 
Merkur. Venus, Erde, Mars, den Astevoiden. Jupiter, Saturn, 
["raiuis. Neptun. Untersatz: Merkur bewegt .sich v<au Abend 
gegen M org en uni die Sonne; Venus bewegt sich in dersclbeu 
Kichtung mil die Sonne usw. Sridufisatz: Alle Planeten be- 
200 v. Kraft. 
wegeu sich voin Abend gegcn Morten um <!io Sonne" (S. 17). 
Die Aul'fassung ist abcr oftenkundig liur fur die ,vollstandige' 
Jnduktion moglich (S. 34, 104). Bei der unvollstandigen In- 
duktion liegt hingegen nur erne .unvollstandigc Kenntnis (lev 
Einteilungsglieder ciner Sphiiro, der Teile eines Ganzen' vor. 
Darum hat auch ein SchluB von diesen nur teilweise ge- 
gebenenGliedem a\if dasGanze nur Wahrsehemlichkeit (S. S(>). 
Der Berechtigungsgrund fiir den InduktionsscbluB liegt dar- 
naeh in der .Verbindung' der Teile zuni Ganzen' (S. 19). Die un- 
vollstandige Tnduktion eriordert aber auBerdem nocli gewisse 
.leitende Maximen', die a priori bedingt sind (S. 41, 49, 53), 
fiir den Ubcrgaug von den unvollstandig gegebeuen Teilen 
auf das Gauze an Stellc der bloB assoziativen Envartung des 
Ahnliehen. Dadurch unterscheidet sich die rationale von der 
empirischen Induktion. — Es ist wold iiberflilssig, zu be- 
merken, daB die Induktion der Wissenschaft fiir gewohnlieh 
mit einem SchluB auf Grund einer vollstandigen oder unvoll- 
standigen Eiuteilung nichts gemeiu hat. 
Auch Sigwart (Log. § 93. bes. 11—17, § 94—97) versurht. 
die Induktion vollstandig auf den Syllogismus zuriickzufubren, 
aber in einer viel enistcren Weise. A Vie es schon Mill ausge- 
sprocben hat (B. "111. Ob. l>. § 1). ruht die Induktion auf 
dem Prinzip. daB es in den Erscheiuungen Gleichformigkeit. 
GosetzmaBigkeit gibt. Nur vermdge dessen konnen wir aus 
einer Anzahl von (in gewisser Ilinsieht tibercinstiinmenden) 
Einzelheiten auf ein Gesetz sehlieficn, konnen wir von dem 
empirischen partikuliiron Urteil ,alle bekaimten A sind B' zu 
dem unbedingf allgemeinen Urteil .alles, was A ist. ist B' m i t 
Reclit tibergehen. Aber dieses Prinzip der GcsetzmaBigkeit 
selhst UiBt sich nicht erweisen. nicht aus den Tatsaeben 
und nicht aus der Logik rechtfertigen. Es ist ein ,Postulat 
unseres Erkenntnisstrebens'. Es ist .die allgemeine Voraus- 
seUung', .daB das Gegebene notwendig sei', d. h. daB die 
gegebenen Einzelfalle Fallc einer allgemeinen Regel seien, 
oder mit anderen AVorten. dafi sie sich aus einem allgemeinen 
Obersatz deduzieren lassen (S. 382). .Die Aufga.be der 
Induktion ist, diese allgemeine Regel zu finden.' Und sie findct 
sie, indem sie die Obersatze konstruiert. aus rtenen die ge- 
gebenen Falle mit syllogistiscberNohvendigkeit Eolgen (S.3S3). 
Dit! ( iriiinlfoi'iucu tier wisM.Mix'liiitllklit.'ii Methodon. 201 
Diese Obersatze sind die allgemeinen Satze, welehe die In- 
duktlon aus Einzelfallen gewinnt. Diese sind aber .niemals 
im strcngen Sinne bowiesen, sondern logisch betrachtct 
Jiur Hypothec en' (S. 388). Sie konnen nicht als unbedingt 
rich tig, sondern mir als moglieh erwiesen werdeu. ,Denn 
zu jedem SchluBsatze sind verschiedene Praniissen denk- 
bar, aus denen er hervorgehen kann' (S. 384). Der Nachweis. 
daB cine Ausnahme von der verallgemeinerten Beziehung mi- 
ni oglich ist, laflt sich von der beschrankten Anzahl der be- 
obachteten Falle aus nie erbringen. Es laBt sich nur die II n- 
wahr s cheinl i chke i t nachweisen, daB uns in dem Kreis 
unsererErfalirung negative Instanzen entgangen waren (S.429). 
Induktionsergebnisse gelten also immer nur mit Wahrschein- 
li dike it. 
Als den Weg nun, auf dem sich dieses induktive Rcduk- 
tionsverfahren ini einzelnen vollzieht, bezeichnet Sigwart 
aiisschliefilich ilills vereinigte Methode der Uberein&timmung 
mid Differenz (S. 423); alle anderen Methoden sind unzulang- 
lieli. Wissenschaftliche Induktion erfordert aber auch nodi 
eine genauere. quantitative Bestimmung der induzierten 
Beziehung, nnd in der Vernachlassigung dieser quantitativeu 
Bestimmung sielit Sigwart den ,Hauptmangel in der Logik 
Mills wie in der Bacons' (S. 427). 
Sig warts Aufrassung der Induktion — im AnschUift an 
Jevons 1 " 1 — als ein .Reduktionsverfahrcir, das von Einzel- 
f alien aus einen allgemeinen Obersatz aufstellt. hat jedenfalls 
die allgemeine logische Struktur der Induktion wesent- 
lich geklart. Aber sie trifft nicht denjenigen Punkt, der gcrade 
ftir die Induktion charakteristisdi ist: den Grund der Verall- 
gemeinerung auf einige wenige Fiille bin (vgl. spater). 
Sie trifft ebenso ftir die Theorie zu, eben fiir jede Aufstellung 
eines Allgemeinen auf Grund von Einzeltatsachen. Eine bin- 
reichonde Theorie der Induktion bedeutet also auch sie 
noch nicht. 
Gegeniiber Sigwart hat Erdmann in seiner eingehenden 
Analyse der Induktion 102 diese als ein von der Beduktion 
wesensvers'chiedenes und auf sie nicht zuruckfiihrbares, vollig 
eigenartiges Verfahren bezeichnet (8. 209). Und demgemaB ist 
man dazu arofiihrt worden. so wie die Deduklion sich auf dem 
202 V.Kraft. 
Syllogismus aufbaut, auch fur die Induktion cine spczifisehc 
elementare Sehlufiweise zu suchen, die iliren logisehen Kern 
bildet. Wundt behauptet (Logik II, 1. Abschn., 2. Kap., 3 a. 
4. AuiL S. 323, 324) einen spezifischen Induktionsschlufi, den 
A'crbindungsschluB', der die Umkehrung des ,exemplinzieren- 
den Subsumptionsschlusses' darstelle. (Auch Drieseh 14;! 
|S. 7 — 12] entwickelt die Induktion als aimgekehrte Operation' 
gegeniiber der Deduktion.) Hat dieser die Form: MP, SM, SP. 
so soil jener als (lessen Umkehrung lautcn: SP. SM, MP. Kin 
soldier Schlu.fi soil aber immer mehrdeutig sein, well er als 
.VerbindungsschluB" nur tiberhaupt cine Bezichung 
zwischen den im Schlufiurteil verbundenen Begriffen herstellt, 
ohne die Art dieser Beziehung naher zu bestimmen. ,Diese 
Unbestimmtheit aufzuhebeu und dadurch zu allgemeiueu 
Satzen von apodiktischev Geltung zu gelangen, ist die Haupt- 
aufgabe der induktiven Methode' (S. 24), die dem emfachen 
InduktionS'SchluG gegeniiber ein zusammengesetztes 
(analytiscb.es und synthetisches) Verfahren ist. Abcr die 
logische Fundierung der iuduzierten allgemeinen Satze ge- 
scliicht nicht durch die induktive Methode. sondern durch 
einzelnc Verbindungssehltisse. Besonders auf der crstcn Stnfe 
der Induktion .eutfernt sich der logische Vorgang noch wenig 
von dem einfacheu Verbindung-sschlufi, den wir oben als 
Grundform der Induktion kennen lcrnten' (S. 25). 
Wenu man die Vorauswetzungen einerseits und das Er- 
gebnis auderseits bei der Induktion in der Form eines einzigen 
.Schlusses' zusammenfassen will, so wiirde er allerdings die 
obige Form erhalten, welche die Umkehnmg des gewohnlichen 
Subsumtionsschlusses darstellt. Aber das ist dann eben gar 
kein log-is ch stringent er Schlufi, Was logiscli aus den Prii- 
mi swen eines solchen Jnduktionsschlusses' wirklich folgt ■ — ■ 
sofern itberhaupt etwas daraus folgt ■ — . ist nicht ein a 11- 
genie iner Satz wie der faktisch induzierte, sondern nur 
ein partikularer. denn es gibt ja bei der Induktion nur partiku- 
liire Vordersatze. Nehmen wir das traditionelle Beispiel der 
Logik fur einen Subsumtionsschlufi: Alle Menschen sind sterb- 
lich. NX ist ein Mensch, NN ist sterblich; dessen Umkehvung 
wiirde also einen JnduktionsschluB' darstellen: NN ist sterb- 
lich, NX isi ein Menscb. Menschen sind sterblich. Das folii't 
Die (Jrundt'unium dor \vis*seu»clia ft lichen ilctliodeu. 203 
alicr luKurlich nicht aus dieseu Pramissen, sondem mtr der 
partikulare Satz: e in Mensch ist sterblich. Abev auch die bc- 
hauptete Unbcstimmtheit besteht nidit, wenn man den Mifrtel- 
begrift' nur. wie er in den Prainissen gegeben ist. strong fcst- 
halt. Denn sie konmit bei Wundt nur durch eine Aquivokation 
zustande, indcm er den MittclbegrifT tier Vordersatze im Schlufi- 
satzt; niit einem allgemeineren vertuuseht. fur em G I i e d einer 
Gattung die Gattung selbst setzt. Z. B. NN ist blond. NX ist 
ein Exemplar der Gattung Meusoh: da kann ein logischer 
ScliluS nur lauten: Ein Exemplar der Gattung Mensch — 
aber niclit: die Gattung Mensch — - ist blond. Eine indivi- 
duelle Eigenschaft ist hier mit einer Summe gattungs- 
maiiiger Eigenschaften verknunt't: diese Verkntipfung ist 
selbst aber eine individuelle. Erst wenn man die ganz neue 
Frage aufwirft. ob diese Verkiiupfung eine gattungsmiiBige ist 
oder nicht, also ob die individuelle Eigenschaft niclit auch 
eine gattungsmafiige ist. ergibt sicb eine Unbestimmtheit. 
Diese Frage ist aber mit den Vordersatzen noch nicht gegeben. 
hoclistens nahegelegt. Die Bezielnmg zwischen der als indivi- 
ducll vorliegenden Eigenschaft (blond) und den gattungs- 
mal.Hgcii Eigenschaften (Mensch) ist wohl durch din Vorrter- 
saitzo herg&stellt, aber in deni ganz bestimmten Sinn, daft sich 
hier in einem Exemplar der Gattung eine individuelle Eigen- 
schaft mit den gattungsmaBigen verbindet. Dariibcr geht 
aber die Frage, ob die vorliegende Eigenschaft blofi eine 
individuelle oder ebenfalls eine gattungsmafiige ist. durchaus 
hinaus. ITnd ihre Beantworfuug, die ja der .Induktions- 
schluft' noch nicht geben kann. weit er sic ja erst aufwerfen 
soil, stellt erst wieder von neuem das Problem, a ufwele h e m 
Wege diese unbestimmt aufgenommeue Bczielmng zu (te- 
st immen ware — ebeu das Problem der Induktion! 
Was also AYundt als Induktions- oder Yerbindungs- 
schlufA hinstellt. ftilirt also streng logisch entweder iiberhaupt 
zu gar keinem a 1 1 g e m einercn Ergebnis, als in den Yorder- 
satzen vorliegt — and ergibt somit keine Induktion: oder wenn 
man wirklieh aus ixirtikularen Priimissen einen allgemeinen 
riatz folgern wollte. dann ist es kein logisch stiehhaltiger 
Schluft, sondern ein logisches TTnding. Es giht keinen spezili- 
scheu Induktionsschluft gegenuber dent Svllogismus. 
204 V. Iv r ;i f t. 
Gerade eincn wolchen behauptet aber auch' Ziehen in 
seiner Logik (§ 132). Er fulirt den JnduktkmsschluB' als 
eiiic Art der .mittelbaren' Schliisse, die nicht mit Hilfe eines 
Mittelbegriffes vor sieh gehen, neben dem .AnalogieschluB 1 
und dem .paradigmatischen SchluB' an. ,Der Induktions- 
schluB ist (jin mittelbar fortschreiteuder, ohne Mittelbegvift 
gezogener SchluB, bci dem auf Grund mehrerer Pramissen, 
welche ahnlichen Subjekten S', S", S'", usf. dasselbe Pra- 
dikat S zuordnen, irn SchluBurteil einem den S ubergeord- 
netcn Allgemeinbegriff S^ dieses S gleichfalls zugeschrieben 
wird.' ,T)er Allgemeinbegriff S g bedeutet die Gesamtheit aller 
iiberhaupt denkbaren, also bekaimten mid imbekanivtcn kon- 
similen [d. i. untereinander im pragnanten Sinn ahnlichen] 
Begriffe' (S. 768). Z. B. ,Natrium, Kalium nnd Lithium sind 
elektropositiv; Natrium. Kalium und Lithium sind Alkali - 
metalle (als Alkalimetalle untereinander ahnlich); all e Alkali- 
metalle sind elektropositiv (oder dem Allgemeinbegriff «Alkali- 
inetall» kommt als. wei teres Merkmal Elektropositlvitat zu)' 
(S. 770). 
Wic bei Wundt Unbestimmtheit, so haftet audi liier Un- 
sicherheit immer diesem SchluB an. .Die Gcwifiheit ernes In- 
duktionsschlusses ist niemals mit derjenigen ernes Syllogis- 
mus zu vergleichen.' Bei ihm. ist auch schon ,die formale 
Richtigkeit stets zweifelhaft'. .Da** SchluBurteil bleiU. stets 
problematisch.' Es kann Jidehstens cine sehr groBe Wahr- 
scheinlichkeit beanspruchen' (S. 773). Und das ist der SchluB, 
den Ziehen selbst auf der naclisten Seite ,das wichtigste pro- 
ductive SchluBverfahren, iiber das wir verfugen, und die 
Grundlage fast des gesamten Fortschreitens unserer Begriffs- 
bildung' neunt! Diesc pvekiire Sachlage wird auch dadurch 
nicht geiindert. daB Ziehen dann nocii die Bedingungen fiir 
das .Maximum der GewiBheit' eines Induktionsschlusses angibt: 
Es ist da mi zu envarten. weim die .An swab 1 der Subjekte 4 
gemafi Regehi nach Art der Bacon'schen getroffen wird 
(S. 774—780). 
Es bedavf nicht vieler Wovte, vim zu zeigen, daB evne 
solche Verknupfimg wie der von Ziehen konstruierte Iuduk- 
tionssehluB iiberhaupt. kein logischer SchluB ist. Sic ist nicht 
bloiS unsichcr, s^ndevn gcvadezu falsch. Das zeigt em Bei- 
Die Grundformen der wissensckaftliclien Methoden. 205 
spiel wie dieses, das ganz nach Art des Ziehenschen Beispiels 
gebaut ist: Gold. Eisen, Blei sind schwerer als Wasser; Gold, 
Eisen, Blei sind als Jletalle untereinauder almlich; alio 
Motalle wind schwerer als Wasser — mit Ausnahme von 
Natrium, Kalium u. a.! Oder: Lowe, Tiger, Panther haben 
einziehbare Krallen, sie sind als Raubtiere untereinander 
almlich, alle Kaubtiere haben einziehbare Krallen! Man kann 
so iiberhaupt nicht schlieBen. Es ist unbegreiflich, wie man 
solche offenbare Paralogismen iiberhaupt als logische Pro- 
zesse erklaren kann. Unci es ist nicht minder unbegreiflich, wie 
man meinen kann, die ganze grofie Arbeit einer Induktion 
lasse sich logisch auf drei Glieder einer Schluflformel redu- 
zieren. Die logische Begriindung fiir das Induktion sergebn is 
kann man nicht durch einen unmittelbaren Ubergang von 
partikularen Vordersatzen auf einen allgemeinen SchluBsatz 
gewinnen — dafiir gibt es keine logische Rechtfertigung. 
Eine solche spezifische Art des ErschlieBens gibt es als 
logische nicht. Man kann sich nur wundern, daft Manner 
wie Wundt und Ziehen solche logische Unmoglichkeiten 
lehren, und dazu noch als Fundament der wichtigsten wissen- 
schaftlichen Methode. 
Es kommt damit die Schwierigkeit zum Ausdrucke, 
welche die theoretische Fundierung der Induktion bisher ge- 
niacht hat. Man hat sie einerseits dadurch iiberwinden wollen, 
daft man eine eigene SchluBweise, einen speziflschen Induk- 
tionsschluB dafiir konstruiert hat. Sie hat aber anderseits 
auch dazu gefiihrt, daB man die Mdglichkeit einer logischen 
Begriindung der Induktion iiberhaupt verneint hat. 
Man hat damit nur die erkenntnistheoretische Stellung 
Humes wieder eingenommen. Ist das Ziel der Induktion der 
Nachweis von Kausalgesetzen, so hat in bezug darauf be- 
kanntlich Hume schon erkliirt, daB kausale GesetzmiiBigkeit 
niemals erwiesen werden konne. Ursachliche Verkntipfung 
heiBt nichts anderes als bestandige (.notwendige') Ver- 
kntipfung. Erfahrung lehrt uns aber nur tatsachliche Ver- 
kniipfung in bestimmten Fallen kennen. AVir nehmen an, 
daB es sich almlich wie bei den Gegenstanden, die in der 
Erfahrung gegeben waren. auch bei denjenigen verhalten 
miisse, welche auBeriialb des Bereiclies unserer Erfahrung 
206 V. Kraft. 
liogen; wir sind jedoch nicmals imstanrto. dieses zu beweiseiv 
(S. 123). Die Yernllgemeinerung iibov die bestimmien be- 
obachtet.cn Falle hiiiaus fur all e mog'l i e hen Falle lKBt sich 
weder durch die Erfahrung noch aus dor Vernunft rational be- 
griinden. Sie ist vielmehr .allein durch die Assxiziation zwi- 
sclien unseren Yorstellungen bedingt 4 (S. 124). Miteinandcr 
wahrgcnommene Erscheinuugen assoziieren sicli und Wieder- 
holung festigt die.sc Yerbindung ull( i $i e bestimmt unsere E r- 
wartung. wcnn cine derselben gegebeu ist, weil sie unseve 
Einbildung'skraft bestinunt. Die Induction heruht somit 
lediglich auf einem p.syehologisehenNatiirgesetz. nichtauf einer 
logischen Grundlage. 
Gnnz dieselbe AuITassung bat Mach von der Induktion. 
Im Falle der unvollstandigen Induktion liat der SehluB von 
einigen auf alle Falle -gar keine logische Berechtigung. Wohl 
aber konnen wir durch die ilacht der Assoziatiou, der Ge- 
wohnheit uns psycbologisch zu der Erwartung gestimmt 
finden. dafi' alle Falle sich so wie die beobachteten verhalten 
werden 1 " 4 (S. 308). DemgeinaB sieht Mach auch in den Er- 
gebuissen der luduktion. den Xnturgesetzen. nicht Kegeln der 
objektiven Xaturvorga'nge. sondern Regain unseres subjek- 
tiven Verluiltens: ,Einschrankuugen. die wir unter der Leitung 
der Erfahrung unserer Erwartung vors.chreiben' (S. 441, 450). 
Die Induktion bedeutet infolgedessen fur Mach gar nicht cine 
Methode wissenschai'tliehcn Xachweises. .sondern vielmehr den 
])jsyehol'Ogirichen ProzeB. in welehem neue Einsichten gc- 
wonnen werden. .Vor allein ist diescr ProzeB kein logischer, 
obgleich logische Prozesse als ZwLschenglieder und Hilfsmittel 
eingeschaltet sein konnen' (S. 81 8). Die allgcnieinen Gedanken. 
die auf diese Weise gefundcn werden. mtissen erst auf ilire 
Haltbarkeit an der Erf a lining (durch Beobachtung und Ex- 
periment) gepriift werden f^. 810). .Wahrend die Deduktion 
schriittweise methodise!) vorgeht. findet die Induktion in Spriin- 
gen statt. die auBer dem Bereich der Methode liegen. Dad 
Ergebnis der letzteren mufi deshalb nachtritglich durch die 
Deduktion gerechtfertigt werden' (S. 818). 
Am schlirfsten ist die irrationale Auffassung der Induk- 
tion von Stohr 1 "'' zuin Ausdrucke gebracht worden. Die Induk- 
tion ist nicht logisch. sondern nur psychologisch zu verstehen. 
Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden. 207 
Sie besteht in eiuer assoziativen Einpriigung des Gleichzeiti- 
gen und ciner dadurch determinierten Reaktion, die von der 
Phantasievorstelhmg des crregenden Ereignisses odev deren 
Yerwirklidiung begleitet wird, weniider.an sich gleiehgultige 
Begleiter A' des crregenden Ereignisses B eintritt (S. 223). 
Diese .Einpriigungen und assoziativen Reaktionen sind be- 
ziiglich der Verga ngenh e i t E r f ah ru ngs ta t s a c h e n. 
die miter den Begriff der hi she r geltenden Gleirhheit der 
Wirkungen bei Gleichheit. der Ursachen gebracht wcrden 
konnen:... beziiglicb der Zukunft sind sie cine Hoff- 
n ung. die ohne unser iogisches Zutun entsteht' (S. 220). 
Eine Hoffuung — ■ denn .es ist nicht ehmisehen. wie man bc- 
weisen konne, daB die Zukunt't der Vergangenbeit gleichen 
miisse' (.S. 228). Man ,wird daher zugestehen miissen. daB die 
Bescbreibung der induzierten Erwartung' nur von heute aid 
morgen wabr ist. und jederzeit falsch werden kann. Die fort- 
dauernde Wahrheit dieser Beschreilamg kann nicht hewiesen. 
sondern nur erlcbt werden" (S. 229). Und diese Hofl'nuug en.t- 
stelit ohne unser Iogisches Zutuii in uns. Denn es 1st .eine 
Illusion, daft wir aus der Erfalmmg heraus einen SchluB auf 
die Zakiiid't zogen und daB erst dieter SehliiB unser Gemiit 
bewegt und unsere Handlungen bestimmt". .Damit unsere 
imaginatorisclien und motorisclien Reaktionen in Gang ge- 
bracht werden. dazu genii gt. das Walten der Naturgesetze. ohne 
daB wir von dieseu Gesetzen etwa.s wissen mussen' (S. 228, 
229). Der .sogenanute Tnduktion.ssehluB' ist .keine Denk- 
operation. sondern ein Reizleitungsvorgang\ .Es handelt sich 
nicht urn ScMitsse. sondern nzti Reaktionen." 
Das heiSt also: Die Induktiou allgemehier rtiitze auf 
Grund der beschrankten Erfalmmgen der Vergangenbeit laBt 
sich nicht. logisch aufbauen und rechtfertigen. sondern nur 
als eine tU'tsacliliche Reaktionsweiso auf die t'mgebung hin- 
nehmen. Es gibt keiuen ration alen Ree ht sgru n d fiir die 
allgemeinen Satze der Krfahrungswissenschai'ten. sondern nur 
einen unwillkiirlich sich einstcllendoii Glauben au sie. Und 
dieser Glaube liedeutet. als naturgesetzlieh determiuierter. 
nicht m eh r als irgendein anderer. Das spricht Stohr selbst 
mit aller Offenheif. und Konsequenz aus (^. 2'M)). YVenn wir 
auf Grund von Erfalmmg an eine iuduzicrte ^esetzinaf'iigkeit 
208 V. Kraft. 
g'lauben, so ist das genau dem gleiehzuhalten, wenn wir aus 
einem Wnnsch, einem "mneren Bediirfnis tie vans an eiwas 
glauben. Es ist eine E i ns e i t igk e i t, wenn die .Induktion 
(lurch Erfahrung als die einzig mog'licho Wurzel des Glaubens, 
dei- ttbevzeugung. der Erwartung liingestelH" wird. Audi 
durch unseren Willen kann Glaube, Oberzeugung entstehen. 
.Wenn der iuduzierte Glaube nur eine spezifisehe Reaktion auf 
die Unigebung- ist, .so bleibt die Moglichkeit einer spezifisdien 
Reaktion auf Lieblingsvorstellungen, auf Tdeale, auf innere 
Lebensschwierigkeiten und Lebensnot often. Wenn uns eine 
Vorstellung so im Getmit bewegt und zu Handlung-eu ver- 
anlafit, als ob sie eine ■sinnfallige Wirklichkeit ware, dann 
ist sie eben Inhalt eines boulogenen Glaubens.' Und dieser 
Glaube gilt nieht weniger als dor durch. Erfahrung iuduzierte. 
.Soweit die beiden Glaubcnsarten nieht inhaltlich in einen 
Widerspruch kommen, sind sie offenbar vertraglich und ihre 
Berechtigung ist nach dem Grade der Lebeusforderlichkeit 
einzuschatzen.' Fur diese .psychologisierende Anffassung des 
Induktionsschlusses' (S. 229) bat er kcine logische Bereeh- 
tigungmehr, sondern nur eiue biologische Grundlage. Damit 
ist aber audi jede empirisdie Gesetzeswissensdiaft als, ratio- 
nale verneint. Sie wird zu einem irrationalen Phanomen wie 
der Glaube an ein Paradies oder an Pamonen. 
So stelit es also heute uiu das Problem der Induktion. 
Begriindung auf das logische Unding eines spezifischen In- 
duktionsscblusses oder Negation einer logischen Begriindung 
fiherhaupt ist das letzte Ergebnis. Und dock ist die Induktion 
die grundlegende und allgcmeinste Metbode tier Erfahrungs- 
erkenntnis! 
2. Der allgemeine Charakter und das Problem 
der Induktion. 
Wenn es sich da mm bandelt, iiber das logische Wesen 
der Induktion ins klare zu kommen, so gilt es zunachst ein- 
mal festzustdlen, wodurch dieses Verfahren eharakterisiert 
wird, wie es sich gmndsatzlich gestultet. Das soil, unsever 
mctbodisclien Eorderung gemaft, durch den Riickgang auf kon- 
krote Fiille von Induktion ermittelt werden. Icb wiilile dafiir 
Die Grundfornum der wissensehaftliclien llcthoden. 209 
zunaclist einen moglichst einfachen Fall: die induktive Auf- 
stellung des Volumgesetzes gasfijrmlger Verbindungen durch 
Gay Lussac und Alexander v. Humboldt. 1 "" 
Die quantitativen Verhiiltnisse der Volumina, in denen 
sich Gase verbinden, sind zuerst an der Yerbinduno- von 
Wasserstoff und Sauerstoff entdeckt worden. Gar Lussac und 
Humboldt haben zuerst in 12 Versuchen 100 Volumteile 
Sauerstoff und 300 Volumteile Wasserstoff durch den elektri- 
scheu Funken entztindet und den verbleibenden Gasriickstand 
gemessen. Es ergab sich, daB 100 Telle Sauerstoff im Mittel 
198*7 Telle Wasserstoff gebunden lia.tten. Dieses Ergebnis er- 
fubr aber noch erne Korrektur. denn als sie den venvendeten 
Sauerstoff mit Schwefelalkali untersuchten, fanden sie eincn 
Ruckstand an SticksW von 0'004 auf 100 Teile. Wird darauf- 
hin das obige Ergebnis auf rein en Sauerstoff umgerechnet. 
so ergibt sich. daB 100 Teile Sauerstoff 199*89 (abgerundet200) 
Teile Wasserstoff verbraucht haben. In einer neuen Reilie 
von 12 Versuchen cntziindeten sie dann ein Gemenge von 
200 Volumteilen Wasserstoff und 200 Volumteilen Sauerstoff. 
War in der friiheren Anordnung der Sauerstoff giinzlich ver- 
braucht worden und nur Wasserstoff iibriggeblicben. so wurdc 
in dieser der Wasserstoff giinzlich aufgebraueht und es blieb 
nur Sauerstoff tibrig. und zwar im llittel 101'7 Volumteile. 
so daB 200 Teile Wasserstoff 98*3 Teile Sauerstoff gebunden 
Mitten. Aber auch dieses Verhaltnis erfuhr erne Korrektur. 
denn auf Grand von Experiment und Berechnung lieB sich 
auch eine Verunreinigung des venvendeten Wassersitoffes 
durch 0*008 Teile Stickstoff feststellen. Wird darnach das 
Ergebnis der zweiten Versuchsreihe umgerechnet. so erhalt 
man nahezu das Verhaltnis 100:200 fur die Verbindung von 
Sauerstoff und Wasserstoff. Auf Grund dieser 24 Versuche 
und der 2 Erganzungsversuche zogen Gay Lussac und 
Humboldt den allgemeinen SchluB auf das Volum verhalt- 
nis bei der Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff tiber- 
liaupt: .Durch diese Griinde scheint es uns geniigend dar- 
getan zu sein, daB 100 Teile Sauerstoffgas sehr nahe 200 Teile 
Wasserstoffgas zu ihrer Sattigung erfonlenr (S. 10). 
Was damit fur die Verbindung von Wasserstoff und 
Sauerstoff gefunden war: ein eiufachos Volumverhaltnis fiir die 
SiUmigsber. d. phil.-hist. Kl. 203. Bd S. Ahh. 14 
210 V. Kraft. 
Verbindimg von Gaseu. das slellte Gay Lussae dann auch fiir 
die Verbindung einiger anderer Oa.se (fiir die Verbindimg 1 von 
Ammoniak ntit Boriluid. Kohlendioxyd nnd Chlorwasserstoff) 
direkt durch Experiment e fest unci envies es fur zahlreiche 
andere Gase (lurch Bcro c li n u n g der VolumverhaLtnisse 
aus der Gasdichte bei Yfirbindungen. bei denen die Dichte 
der anderen Gase oder die Verbindungsgewichte der nicbt 
gasformigen Stof'fe pchon bekannt waxen. Auf Grund (lessen 
hat Gay Lussae es als Gesetz ausgesproehen. daft .die Ver- 
bindungen von Gasen niiteinander stets naeh den allereinfac li- 
sten Verhaltnis-sen [Hirer Volumina] vor sich gehen' (S. 80). 
Kin anderes. komplizierteres, aber dabei klassisches 
Beispiel von soldier Iiidiiktion auf Grund von Experimenten 
bietet Pasteurs beruhmte Widerlegung der Urzeugung. 1117 Urn 
das Problem der Urzengung zu entseheiden. war es notwendig, 
in einer eiinvandfreien Weise festzustellen. ob aueh die nieder- 
sten bekannten Grganismen (Infusorien, Bakterien, Pilze) 
ledigleich aus Keimen entstehen oder auch oline solche durch 
Urzeugnng. Um die sich immer wiederbolende Entstehung 
soldier Grganismen bei all den Git rungs- unci Fiiulnisvor- 
giingen aus; Keimen erklaren z\\ kiinnen, muftte zuniichst 
festgestellt werden, ob in dem Staub. der gewohnlich in der 
Luft schwebt, solche Keime in einer dafiir hinreichenden An- 
zahl vorkommen. Das geschah durch Versuche: Luft wurde 
durch ein mit Schiefibaimiwolle gefulltes Rohr hindureh- 
gesaugt, wobei die in der Luft suspendierten festen Teilchen 
durch die Wolle zuriickgehalten wurden. AYenn die Wolle 
dann in einem Gemisdt von At her und Alkohol aufgelost wurde. 
so konnte man den Staub allein gewinnen. Unter dem Mikro- 
skoj) zeigte er eine Menge \'on Korperchen sehr verschiedener 
Art. die den Keimen der niedersten Grganismen vollig glichen. 
Durch Berechnung ergibt sich. da8 die Anzahl solcher Keime 
eine geniigend groBe ist. aber sehr mit dem Zustande der 
Atmosphare sctnvankt. 
Dann muBte in einer jeden Zweifel ausschlie&enden 
Weise — bis dahiu batten die Versuche daruber zu wider- 
sprechenden Ergcbnissen gefiihrt — experimentell festgestellt 
werden. ob in einer Flussigkeit und Luft, in der die etwa 
vorhandenen Keime dnrcb Erhitzen getotet worden sind und 
Die Grimdforuien der wissensehaftliehen Methoden. 211 
ii cue nicht eindringen konneu. wJihrend gleichwohl alle Lebens- 
bedingungeu fur sie vorhanden sind. Mikioorganismen ent- 
stohen oder nicht. Pasteur konnte experimentell zeigen. daB 
ziickerhiiltiges Hefewasser unter diesen Bediugungen keine 
Spur von Organismen aufweist, sonderu sicli jahrelang un- 
verandert. ohne Garung. erhalt; ebenso Urin: ebenso Milch. 
wenn sie ii b c r 100 ° erhitzt worden 1st. Und Pasteur konnte 
— ■ was ebenso wichtig ist — - audi die Falle vollstandig auf- 
klaren, in denen die Versuche clem widersprechende Resultate 
crgaben, d. h. in denen trotz Erhitzen von Fliissigkeit und 
Luft Mikroorganismen und Garung - auftraten. Zuckerhaltiges 
Hefewasser g'ing' abcr nur dann in Garung iiber. wenn bei 
den Yersuchen zum AbschluB gegen die iiuBere Luft eine 
Quecksilberwanne beniitzt wurde: und die Milch gerann nur 
dann, wenn sie bloB auf 100" erhitzt worden war. Pasteur 
zeigte nun durch Experimente, daB im ersten Fall eine In- 
fektion durch Keime eintritt, die von der Oberllache oder aus 
dem Innern des Quecksilbers oder von den YVanden der YV'anne 
stammen, da in einer sterilisierten Fliissigkeit und Luft so- 
gleich Organismen auftreten. sobald man ein einziges Qneck- 
silberktigelchen aus einer solchen Wanne hineinbringt, Organis- 
men jedoch ausbleiben. wenn man das Quecksilber vorher 
gekocht hat. Pasteur zeigte ferner experimentell, dafi die 
Keime speziell der Organismen, die im zweiten Falle (dem 
der Milch) entstanden. gegen Hitze besonders widerstandsfahig 
sind und erst bei ztrka 127° absterben. 
Auf Grund dieser Ergebnisse iiber die vollkommene 
Sterilitat von garungsfahigen Fliissigkeiten bei roll standi gem. 
AusschluB von Keimen konnte Pasteur endlich den expert - 
mentelleu Xachweis ftihren. daB der aus der Luft gewonnene 
Staub wirklich Keime von Organismen enthalt, und zugleich 
audi den Xachweis. daB durch die Sterilisierung die Lebens- 
bedingungen fiir die Organismen in den Fliissigkeiten nicht 
vernichtet werden. wie man bis dahin eingewendet hatte. 
sondern immcr vorhanden sind. Weim er in solche sterilisierte 
und lange Zeit unverandert gebliebene Fliissigkeiten Asbest- 
pfropfen mit Staub aus der Luft einfuhrte. entstanden regel- 
maBig solche Mikroorganismen wie sonst an der freicn Luft. 
14* 
212 V. Kraft. 
dagegen nie, we mi die Pfropfen vorher gegluht oder iiber- 
liaupt nicht mit Staub beladen waren. 
Dureli alle diese Feststellungen zusammen ist nun 
allgemein enviesen, daB, wenn irgendwo niederste Lebewesen 
entstehen. sie imnier aus Keimen entstehen. die in der Luft 
suspendiert sind. Dies wird noch dadurch bestatigt, daB. sobald 
zu wenig- Keime in der Luft vorhanden sind. audi kerne Mikro- 
organismen entstehen. Pasteur brachte vier Ballons mit Hefe- 
wasser mit der fveien Luft auf einer Terrasse naeh einem 
heftigen KegenguB, sechs kurze Zeit mit Zimnierluft. zehn mit 
der ganz ruhigen Luft in den Kellern der Pariser Sternwarte 
in Berlin rung; von den erst en blieben zwei, von den zweiten 
vier. von den letzten neun vollig* unverandert. Er HeB fern or 
in zwanzig Ballons. welehe bis zu einem Drittel mit Hefewasser 
gefullt und im ubrigen luftleer waren. Luft vom tlachen Land. 
in andere solcbe zwanzig Luft aus einer Bergeshohe von 
850 m. in wieder andere solche zwanzig Luft aus einer Holic 
von 2000 m eindringen; von den ersten zwanzig blieben zwolF. 
von den zweiten funfzehn und von den dritten Ballons alle 
bis auf einen unverandert. Damit hatte er experinientell go- 
zeigt, daB aueh Luft. die gar keine chemische oder physikali- 
sche Veriinderung erlitten hat. unter solchen Verhaltnissen. 
welehe fiir die Verbreit-ung von Keimen ungiinstig sind. 
steril bleibt. 
Es mufi sieii aber niclit in jedem Fall Induktion auf Ex- 
periniente stlitzen. Sie kann auch auf Beobachtungen in der 
freien Natur. sozusagen auf Beobachtungen des natiirlichen Ge- 
schehens fuBen. So hat Richthofen llis die Einsicht in die Bildung 
des LoB gewonnen, indem er dessen Eigenart in den LoBland- 
schaften des nordlichen China studierte. Auf Grund seiner 
authentischcn Kenntnis vieler derselben konnte er durch Ver- 
gleichung auf das Chereinstimmendo bin zunachst feststellen. 
was fiir den chinesischen LoB gattungsmafiig gilt: die mlirbe 
Beschaffenhe'it. die Zusammensetzung aus feinem Ton und 
etwas feinem Sand und kolilensaurem Kalk. die eigenartige 
Textur dureli senkrechte. verzweigte Kanalchen. die Ein- 
schlusse lediglieh terrestrer. nieht manner und fluviatiler Art. 
die rngesehichtetheit und seine von der ileereshohe unab- 
hangige Vcvbreitung. Jn dersclben Weise stellte er die 
Die Grundt'ormcn der wisseuschaftlichen Metlioden. 213 
(nittungsmerkmale tier nioiigolisoben 8;dzsteppen test, auf 
(inntd eigeuer und fremder Beobachtungen: ilache Mulden. 
in der Mitte ein Salzsee. AbfhiBlosigkeit. ridiuttablagerung von 
den Fdsraudeni aus, Staubstiirme und deren Xiedersddage. 
Lurch die klare Ubereinstimmung (.Analogic' S. 79) in der 
i H.icrfladiengestalt. der Lagerung usw. zwischen den LoB- 
lieekeu und den Steppenbvuken und direkt aus Aufschliissen 
f risen angezapfter randlicher Steppenbeeken lieB sieh die 
'deichartigkeit (Jdcntitaf S. TO) des dunesischen LOB mit 
dem mongolisdien Steppenbodeu mid die Entstehuug der LoB- 
becken aus ehemaligen Steppenbecken erweisen und daunt der 
diinesische LoB als aerile Biklung aufklaren. Liesen Zu- 
sammenhaug xwisehenLofibedeckung undabfluBlosem Step pen- 
gebiet als Entstehungsbedingung dafiir hat. Eichthofen dann 
audi fur die groBen Ldftgebiete in den anderen Evdteilen (in 
Asien nodi im eranischen Hoehland. in Europa am Rhein und 
an der Donau usw.. in Xord- und in Siidamerika) aufgewiesen, 
Einen anderen Typns vnn lndnktion auf Gvund von Be- 
obaditung zeigt endlich der folgende Fall. Hann bat gezeigt,'"' 1 
daB die mitteleuropaischen Luftdiiick maxima und -minima 
nielli, ivie mail bis dahin iibenvieg-end glanbte. iliermischen. 
sondern dyuamischen Ursprungs sind. Audi er ging dabei vom 
eingehenden Studium eincs spezielien Falles aus. des Luft- 
druckmaximumt- vom 23. Janner bis 3. Feb mar 187(1 "" und 
besonders des vom 12. bis 24. November 1889 und des 
Minjmums vom 1. Oktoher 1880. Auf Grimd der Beoh- 
;iciuungen von neuu Iiohenstationen in den Alpen. zweien 
in Siidfrankreich und der auf der Sehneekoppe stelite er die 
Luftdruck- und Temperaturverteihing wahrend des Maximums 
im November 1889 in einer Hohe von 2000 m test und konnte 
daraus audi die meteorologischen Yerhaltnisse in einer Hohe 
von 2500m mit hinlanglidier Genauigkeit berechnen. Aus den 
Tabcllen dartiber liefi sich zeigen. daB audi noeh in dieser Hohe 
ein Luftdruckmaximum mit alien semen charakteristischen 
Eigcnschaften bestand. das mit der Lage ties Maximums an 
der Erdobertliidie ubereinstimmte. daB dieses also in >ehr 
groBe Hohen mit derselbeu Intensity hinaufreidde. daB jedoch 
die Luft in diesen Hohen dabei sehr warm und trocken war — 
mit einem Warmeiibersdiuft von 0" liber das G'ewohnliehe 
214 V. Kraft. 
Temperaturmittel der entsprediendcn Zeit in dor Periode von 
1851 bis 1880 — im Gegensatze zu der Kalte imd Feuditigkeit 
der Luft an der Erdoberflache- Diese warme Luft kain aber 
nicht von Stiden. nach der ganzen Wet'terlage. bei der teilweise 
sogar nordliche Wiude herrsditen: audi war selbst bei eineiu 
Fohn am 0. und 10. Oktober 1889 weder die absolute Tern- 
peratur nodi die Teniperatursteig'crung so grofi. Sic war audi 
keine Wirkung der Sonnenstrahlung. weil die tag-liehe Warme- 
fichwankung* gerade auf den Hdlien sehr goring war. im Gegen- 
>atze zur Erdoberflache. wo sie sehr grofi war. Die kalte und 
feudite Luft an der Erdoberflache nahm nur eine Schiebt von 
800 bis 500 m ein. die warme und trockene dagegeti die ganze 
Luft masse im zentralen Gebiete des Barometermaximums bis 
3 km Hohe. In derselben Welse zeigte dann II a mi aus den 
Tabellen, daB bei deni Luftdruckmiuimum am 1. Oktober 1880 
die Luft in der Hohe von 2500 m um 4'3 " kalter war als die 
Mitteltemperatur dieser Zeit und trotz der friiheren. warmeven 
Jahreszeit kalter als die des spiiteren Maximums. 
Was damit, 1'iir ein Maximum und ein Minimum ge- 
funden war. dafiir hat Hamt dann die B e s.t at i gung durdi 
eine Untersuchung der meteor-ologischen Verhaltuisse (Tem- 
peratur. Feuchtigkeltsgehalt, Bewolkung und Windriclitung). 
die am Sonnbliek (3000 m) bei den je 51 Maxima und Minima, 
wahrend der Zeit vom Oktober 188G bis Dezember 1890 be- 
obachtet worden waren. gegeben. Zur Yergleichuug mi,t den 
gleichzeitigen Yerhaltnissen an der Erdoberllaclie wurden die 
korrespondierenden Beobadituugen von Isold herangezogen. 
Zur Ausschaltung der zufalligeu Variationen innerhalb eines 
Tages verwendete er dabei imnier die Tagesmittel der 
meteorologi'sehen Werte und zur Ausschaltung der zufalligeu 
Variationen der absolut en Werte ihre Abweidmngen von 
den 30jahrigen Mittelwerten der Peri ode von 1851 bis 1880. 
Den 27 Maxima der Winterlialbjalire entsprachen fast aus- 
nahmslos audi an der Erdoberflache Maxima iiber den Osl- 
alpen. Die Maxima an der Erdoberllaclie reichen somit zumeist 
mindestens bis 3 km Hohe hinauf. walirsdieinlich aber weit 
dariiber hinaus. In den rf ommo r halbjahren dagegen werdcn 
die meteorologischen Verhaltuisse der hoheren Luftschichten 
duvch die aut'steigeuden Luftstrdmungen infolge der gesteiger- 
Die Grundformen der wisseiischaftlichen Metlioden. 215 
ten Erwarmung der Xiedenuigen gestort und verschleiert. Die 
Luftdruek mini m a auf dera Somiblick fallen in den aller- 
meisten Fallen im Somnier wie im Winter mit solchen an der 
Erdoberfliiche zima-mmeu. Aus den Tabellen dcr Soimblick- 
beobactitnng'en ergab sicli nun. dati zu den Zeiten der Erd- 
oberflachenmaxima der Snnnblick seine hoehsten Tempera- 
turen hatte. zu den Zeiten der Erdobernaebenminima bingegeu 
eiu wenig tiefere Teinperaturen als die mkitleren der entspre- 
chenden Zeit. llann zeigte ferner aui" Grund der Mittelwerte 
bei den Maxima nnd Minima der drei Winter 1887 bis 1889 
von elf iStatiunen. die hi verschiedener Hohe zwisehen O'lOm 
und 8100 m gelegen waxen, daB nacli der vertikalen Tempera - 
turverteilung in einer Luftsaule von 3 km Hohe iiber Mit-tel- 
europa audi die mit tier e Temperatur derselben im inneren 
Berciche der Maxima stets holier war als in dem der Minima. 
Endlich envies Hann aus der Aufstellung des Thermometers 
auf dem Somiblick. aus einem theoretischen Widerspruch im 
gegenteiligen Fall und aus der Ubereinstinimuug mit Beohaeh- 
tungen bei Balloufahrten zur Zeit von Luftdruckmaxima und 
-minima. daB die auf dem Somiblick beobachteten Verbaltnisse 
nicht nur .speziell fiir einen Bergesgipfel, sondern fiir die Ver- 
haltnisse in der freien Atmosphare gelten. Dureh alle diese 
Feststellungen wird erstens erwiesen, daB die europaisehen 
Luftdriu'kmaxiina einen warmen Kern und die Minima einen 
kalten Kern haben und dieser mindestens liber 3 km Hohe 
reicht. Zweitens wird dadurcli widerlegt, daB die Luft- 
druckmaxima auf relativ kuhlerer Luft und die Minima auf 
warmerer Luft bc-ruhen und die antizyklonalen und die zyklo- 
nalen Bewegungeu der Luftmassen dureh das groBere spezi- 
lische Gewicht der ktihleren und das geringere der warmeren 
Luft entstehen. Denn dieser Temperaturcharakter trilt't nur 
an der Erdoberflache zu mid kehrt Mich schon in einig'er Hohe 
um. Die europai.schen Luftdruckmaxima und -minima konnen 
daher iiberhaupt nicht thermischen Ursprungs sein. sondern 
es 1st aus allem vielmelir zn schiieBen. dafi sie durch die auf- 
steigende und die niedersinkende Beweguug der Luftmassen 
entstehen und die Tempemturverhaltnisse derselben durch die 
Erwannung- und damit Trockming der niedersinkenden und 
durch die Abkuhlung* unter ^Condensation ihres Wasserdampfes 
216 V. Kraft. 
der aut'steigenden Luftinasse erst hervorgerufen werden. Mit 
dieser Auir'assung werden auch andere Eigenschaftenderselben, 
z. B. ihr horizontals Wandem. erst reolit verstiindlich. Darnaeh 
sind die Luftdruckmaxima und -minima also dynamischen IV 
sprung*. 
Die Induktion wird in den allgemeinsten Umrissen da- 
durch charakterisiert. daB sie einen allgemf inen Saehver- 
halt auf Grund von Erfahrung feststellt. Der allgemeine 
tfaehverhalt kann in einer allgemeinen qualitativen (Beispiel 
Hann!) oder einer tjuantitativen (Beispiel Yolumgesetz!) oder 
kausalen Beziehung (Beispiel Richthofen und Pasteur!) be- 
stehen, kann also jedenfalls als G ese tzimiBigkeit bezeichnct 
werden. 
Die Erfahrung, auf welcher die Aufstellung des allge- 
meinen Sachverhaltes beruht. besteht in E i n z e 1 1 a t s a c h e n. 
welche entweder experiment ell oder durch Beobachtung fest- 
gestellt sind. Diese Eriahrungstatsaehen sind immer t'iir die 
Induktion des allgemeinen Satzes von grundlegender. ent- 
seheidender Bedeutung. 
Aus den aiigefuhrten Fallen von Induktion ersiebi man 
aber schon jetzt. daB die Ta-tsachen doch keineswegs die aus- 
schlieBliche und einzige Geltungsgrundlage bilden, wie man 
vielfach zu meinen scheint (z. B. Erdmann 1 " 2 ). Jedes Experi- 
ment und jede wissenschai'tliche Beobachtung bedarf erst der 
Interpretation, urn eine wissensehaftlich bed eutung-s voile 
und verwertbare Aussage zu ergeben — wie v<or allem Duhem r '* 
(8. Kap.) gezeigt hat. Diese Interpretation t'ulit auf den Be- 
griffsbildungeu und Satzen nicht nur der betreffenden YVissen- 
sclraft, sondern auelf anderer web dariiber hinaus. Es wer- 
den daher immer noch eine Menge allgemeiner Sittze 
als schon bekannt vorausgesetzt (im ersten Fall z. B. die vielen 
i-hemischen Gesetze. im zweiten Fall auBer solchen auch die 
Gattungen und die Lebensbedingungen der Mikroorganismen. 
im dritten erne Menge geolngischer, im vierten meteorologiscber 
Erkenntnisse — und damit auch deren theoretische Yoraus- 
setzungen aus der Physik, Mathematik usw.), aber auch. gauz 
allgemeine Grundsatze. vor allem jenes Prinzip. das auch Mill 
schon (3. Buck, 3. Kap.. § 1) als grundlegende Yoraussetzung 
Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden. 217 
lur die Induktion anfiihrt: das der Gleichfbmiigkeit des Ge- 
sehehens oder der Gesetzmafligkeit (vgl. dazu 1U ). Die allge- 
meinen Voraussetzungeii werden .spate r noch deutlicher hervor- 
treten. Zunachst soil aber noch auf die beiden ersten Momente 
naher eingegangen werden. 
Die Induktion gewinnt einen ailgemeinen JSatz immer auf 
der Basis von Tatsachen. Diese tragen an und fiir sich nur 
den Charakter individueller Einzeifalle. Es sind ,Befunde'. 
die so irgendwo und irgeudwanu gemacht word en sind. Das 
zeigt sich besonders sehon und deutlich in der angefiilirten 
Abhandlung Pasteur s (S. 81. 32). .Am 9. August richte ich 
mehrere Ballons von V 4 1 rlauminhalt wie folgt her Am 
13. August sind in alien Ballons organisierte Gebilde vor- 
handen Der zweite Ballon 1st in der Xacht vom 15. zum 
16. August umgefallen, weil er sich infolge von Garung mit 
Gas gefullt hatte...' (ebenso S. 35 — 38). Ebenso war en es 
aber auch bei Gay Lussac und Humboldt zwolf individuelle 
Falle, in denen sie ein Gemenge von beinahe 100 Teilen Sauer- 
stol'f und beinahe 300 Teilen Waaserstoff und 0'022 Teilen 
Stickstoff (nicht r einen Sauerstoff und Wasserstoff) durch 
den elektrischen Funken entzfindeten und sieben verschiedene 
Werte des Buckstandes erhielten. Es sind also einzelne indi- 
viduelle Ereignisse. ganz so wie historische. welche die SchluB- 
grundlagen fur die Induktion bilden. 
Eine Induktion erwachst dartim immer aus dem ein- 
gehenden Studium einzelner tjesonderer Falle oder ernes spe- 
ziellen Gebietes. Das Volumgesetz der Gase ist an dem Volum- 
verhiiltnis, in welchem sich Sauerstoff und Wasserstol'f ver- 
binden. entdeckt worden und die Feststellung dieses Ver- 
haltnisses wieder fuBte auf zwei Versuchsreihen von je zwolf 
Versuchen und .einigen Erganzung-sversuchen. Die Bildung des 
LfiB hat Richthofen an den LoBlandschaften des nordlichen 
( 'hina (und zwar im besonderen des Beckens von Si-ngan-f u 
usw.) und aus ihrer Beziehung zu den Steppen Zentralasiens 
erkanut. Pasteur hat die Bedingungen der Sterilisierung an 
Hefewasser, Milch und Urin crforscht und Harm hat die Ver- 
haltnisse der Luftdruckmaxima und -minima an dem Maximum 
im November 1889 und dem Minimum im Oktober 1889 ge- 
funden. Der speziclle Fall bildet aber fiir die Induktion nicht 
218 V. Kraft. 
bloft genetisch den Ausgangspunkt. er bildet audi die Beweis- 
grundlage. Vora Einzelnen aus wird das Allgemeine niciit nur 
cntdeckt. sondern es muB audi von diesem aus enviesen 
werden. 
Daf Induktionsergebnis besteht nun keinesweg's in einer 
blofien Verallgemeinenmg des" empirisdi fes>tgestelltcn Sach- 
verhaltes. so daB dicker selbst sc lion das induzierte Gesetz dar- 
stellen wiirde. sondern dieses ist im Vergleiche zu den Tat- 
sachengnmdlagen etwas Nem j s. das aus ihnen erst beraus- 
gcholt, abgeleitet wird. Was durcfi Beobachtung fcststeht, ist 
eine Beziehung zwisehen Tatsachen. und Tatsachen sind immer 
etwas Individuelles. Z. B. ?taub aus der Luft der Rue d'Ulm 
in Paris hat im August 1857 in Hefewasser Schimmelpilzc be- 
st immter Art erzengt. Die Beziehung. welche die Induktion 
auf Grund der Beobachtung als gese t znuiBige aufstellt. 
bezieht sich aber nidit ledig-Iicli auf individuelle Erscheimmgen 
dieser Art. sondern auf bestimmte Gattungen von Erschei- 
nungen. Staub aus der Luft erzeugt in Nahrsubstanzen Mikro- 
organismen. 
Das induzierte Gesetz steht zu den Tatsachen. welche 
seine Gmndlage bilden, zugleieh in dcm Verhaltnis. daB es 
aus einem viel reicheren individuellen Tataachenkomplex 
nur einige Bestimmtheiten heraushebt. Das von Hann 188!) 
studierte Maximum und Minimum stand in engstem Zusammen- 
hang mit der ganzen jeweiligen Wetterlage. mit den meteoro- 
logisehen Verhiiltnissen iiber dem Atlantisehen Ozean, mit be- 
stimmten ZugstraBen und Niederschlagsmengen usw. Was 
empirisch vorliegt. sind immer Erscbeinungskom pie xe. Er- 
scheinungen in vielfaehem Zusammenhange mit anderen: was 
daraus induziert wird. ist eine herausgeloste allgemeine Be- 
ziehung zwisehen bestimmten Momeiiten an solchen Erschei- 
nungeii. In den mannigfaltigen tatsachlichen Zusammenhangen 
der Erscheinungeu werden damit El em en t ar zusammen- 
hange oder einzelne Zusammenhangskomp onen t en aufge- 
sucht. Das induzierte Gesetz ist eine Abs«t raktion aus den 
tatsachlichen Erscheinungszusammenhangen. Erst dadurch 
wird eine GesetzmiiBigkeit, eine Gleichformigkeit im Welt- 
geschehen koukre-t erfaBbar. 
Die Grimdfornien der wissensehaftlielien Mctboden. 219 
Dafi bei der gleiehen Uesu m t lagc derselbc komple x e 
Erfolg- eintritt. hat fin* die Wiss ens chart keine Bedeutung. weil 
man mit der Wiederkehr genau derselben Gesamtlage nicht 
reehnen kann. Es kommt der Wissenschaft nur auE die Wieder- 
kelir von Teilerfolgen bei teilweise gleiehen Umstanden 
(oder den gleiehen Te ilbedingungen) an. Was sie erkennen 
will, siiid Zusamnienhaiige zwischen Komponenten der 
wechselnden Gesamt situation en. Aber aueh hierbei handelt es 
sich nicht da mm, daB uuter den g'leichen indi viduellen 
I'mstanden der gleiehe individuelle Teilerfolg eintritt. 
;-ondern allein darum. dafi miter den gleichen generellen 
Umstanden der gieiche g e n e r e 1 1 e T e i 1 erfolg' eintritt. Was 
die Wissenschaft in ihren Gesetzen aufsucht. sind Yerkniipfun- 
g-en zwischen Momenten oder Komponenten der Erseheiuungs- 
komplexe, nnd zwar Yerknilpfuugeii zwischen generellen 
Teilerscheinungen. zwischen Ersclieinungsgat ■tungen, nnd 
zwar identische Yerkniipfungen zwischen Erse bei nungs- 
gattungen. nicht etwa audi g' e n e r e 1 1 e Yerknupfuugen. 
Gattungen besonderer Verkmipfungsweisen. Das Prinzip 
der Gleichformigkeit prazisiert sieh damit zu dem Prinzip der 
GesetzniaBigkeit: Es bestehen identische Bezielmngen zwischen 
Erscheinung'sgattungen (oder generellen Momenten an Erschei- 
nung'en). 
Wenn man auf Grund von Tatsachen ein Gesetz indu- 
ziert. so inufi also die damit gegebcne Beziehung zwischen in- 
dividnellen Ersclieinungen zu einer Beziehung zwischen 
Erseheinungsgattungen erweitert. werden. Die in der Induktion 
zu leistende Verallgemeinerung besteht somit. genauer be- 
stimmt. darin. daB die indi v iduellen Ersclieinungen. in 
denen die Beziehung immer vorliegt. durch Ersciieinungs- 
gattungen ersetzt werden musseii. Damit geht man aber 
oft'enbar tiber den gegebenen Tatbestand hinans. Daher 
kann audi die Begriindung' dafiir noch nicht durch die Tat- 
sachen selbst gegeben sein. sondern man muB sie anderswoher 
nehmen. 
DaB es sich bei der Induktion urn die Ermittlung eines 
a 1 1 g e m e i n e n Satzes handelt, ist nicht unbcstrittcn ge- 
hlieben. Wundt behauptet (Eogik. IT. Band. 2. Kan.. 3a. 
:->. Aufl.. .S. 22) von Mill, nacli ihm sei die Induktion nicht 
220 V. Krai t. 
eigentlich ein SchluB vom Emzelnen auf das Allgemeine. son- 
deni vom Einzelnen auf Einzclnes, da wir zunaehst imnier nur 
in einzelnen von den vorausgegaugenen iihnliehen Fallen einen 
iihnliehen Erfolg envarteir. (Diese Behau|)tung scheint mir 
allerdings mit Unrerht get an, weil ilill mehrfaeh !3. Buch. 
1. Kap.. § 2. 2. Kap.. § 1] die InduktLon klar und unzweideutig 
als .Verailgemeinerung' aus der Erfahrung". als .die Yerrich- 
tung bezeichnet. dui-ch die man allg'emeine Wahrheiten ent- 
deckt und heweist'.) Eine unmittelbare Cbenragung dessen, 
was in einigen Einzelfalten gegoken hat. aid' emeu neuen 
diesen ahnlieben Fall kann aber immer nur emeu psyeho- 
logischen Vorgang bedeuten. nicht eine logisclie Ver- 
kniipl'ung. Es kann sich nur darauf beziehen. daB man :tat- 
s;i chlicli den Inhalt friiherer Erfalirungen unwillkurlich auf 
riiien neuen Fall iibertragt. daB unsere Er warning in bezug 
auf cinen neuen Fall direkt dnreh die Erinnerung an fn'ihere 
ahnliche Falle bestinnnt wird, ohne den Zwischengedauken 
an einen allgemeinen Sachverhalt. Aber logisch ist eine solclte 
Fbeitragung von Einzelfall zu Einzelfall unmoglich. Denn 
daB etwas in einigeu Fallen der Fall war. kann nie ciuou 
Erkenntnisgrund dnfiiv nhgcbein daB es am-h in einem andeven 
ahiilichen Fall <o sein muB. Wenn z. B. der Witteruugsverlanf 
iles Winters und Frith jahres 1928 24 dem Witterungsverlanfe 
derselben Jahreszeiten ini Jahre 18.. ganz ahnlich war. so 
tieg't darin an und fur sich noeh gar ketne Biirgscbaft. daB 
audi im Jahre 1924 ein cbensoleher riomnier wie im Jahre 
IK. . darauft'olgt. AI it R ec h t kann man von einzelnen Fallen 
auf einen neuen Fall nur durch das Aledium des A 1 1 g e- 
m e i n e n schlieBen. Nur wenn eine Allgemeinheit iiber den 
einzelnen Fallen besteht. hat man einen Erkenntnisgrund. eine 
Berechtigung fiir die Cbertragung eines Sachverhaltes von 
einzelnen hekannten Fallen auf einen neuen. 
Denn logisch ersehiieBen laBt sich etwas nur. weim dafiir 
eine logische N o twend igk e i t, besteht. wenn es — rational 
— so sein mu B. nieht einfaeh so 1st oder sein wird. Denn das 
letzterc ware Sac he einer uumittelbaren Tatsachenfeststellung, 
nieht logischer Folgerung. Nur wenn das Einzelne durch eine 
notwendige Beziehung erkcnntnismaBig miteinandcr verbunden 
ist. laBt sich von einem aus auf das andere schlieBen. Eine 
Die Griindformeu der wissenscliaftlichen Methoden. 221 
solche rationale Notwendigkeit liegt aber nur in der Allge- 
meinheit vermoge des log'isclien VerhaltnUses von Allgemeinem 
und Besonderem. Soil sich die Ubortragung eines Sachver- 
haltes von einzelnen Fallen auf andere uberhaupt logiscli rocht- 
fertigeu lassen. so erfordert -sic also das Zwischenglied eines 
Allgenieinen. Die Induktion kann da her nicht als Schlufi vom 
Einzelnen auf Einzelnes verstanden werden. sondern nur als 
logisehe Ableitung eines Allgemeinen von Einzelnem aus. 
Induktion ist .Verallgemcinernng aus der Erfahrnng". Sie 
i>t daher ein SohUeftun vom Gegebeuen auf Nichtgcgebenes. 
vom t eilweise Gegebenen auf die Ge saint he i t einer 
K lasse. Deshalb bat schon Mill (im 1. Kap. des 3. Buches. § 1. 
seiner Logik) die sogenannte v oil s tii. ndige Induktion aus 
dem Bereieh der eigentlichen Induktion ausgeschlossen. Man 
darf in ilir nicht die wahre. vollkommeno Form der Induktion 
sehcn. wie dies Apelt z. B. tut. deim was die vullstaudige von 
der uiivollstandigen Induktion unterscheidet, 1st ja gerade. daB 
bei jener die Instanzen. auf deneu der SchluBsatz beruht, 
v oils t a ndig gegeben sind. Hier geht der SchluBsatz liber 
das in den Yordersatzen unmittelbar Gegeben e gar nicht 
liinaus. Er faflt eiitweder eine gegebene bestimmte Anzalil von 
Finzeltatsachen blofi als Summe, evontuell in einer Kollektiv- 
bezeichnung' zusammcn. wie in dem Beispiel Apelts (S. 17) von 
den Vlaneten. Der SchluBsatz behauptet dann einfaeli das von 
der Gesamtheit, was in den Vordersatzen von jedem Einzelnen 
bebauptet worden ist. Oder es tritt zu den geg'ebenen Iustanzen 
uocb die ausdriiekliche Feststelluug hinzu. dafi sie eine Gattung 
ersehopfend darstellen. dafi sie alle moglichen nder tatsaeh- 
licbeu Art en einer Gattung bilden. Dann ergibt sich ein ein- 
faeher Syllogismus. z. B. Natrium. Kalium. Lithium, Rubidium. 
Casium sind elektropositiv. Natrium . . . Oasium ^ind a 1 1 e 
Arten der Gattung Alkalimetalle, alle Alkah'metallc sind 
elektropositiv. Audi da liegt- kerne eigeutliche Verallgemeine- 
rung vor. Die vollstandige Induktion stellt iiberhaupt kein 
logisches Problem. 
Aus der Unvollstandigkeit der Tatsachengrundlagen 
einerseits und aus der Verallgemeinenmg anderevseits ergibt 
>ic3i da-s Problem der Induktion. Es kniipft sich an den Gcl- 
tung.sjmmd der Yorailgemeinennu!;. Wodurch werdeu wir be- 
222 V. Kraft. 
vechtigt, iiber die einzelnen bokannten Falle, die an und fiir 
sich nieht mehr sind ills eine bestiranite Anzahl individueller 
historiseh-geogra'phiseher Tatsacheu. hhiiuiszugeheii zu einer 
Behauptung. die sich audi ant' andere. nieht erfahrene, noch 
unbekanute Tatsachen erstreckt. zur Behauptung ernes a U g e- 
ni e in en SachvevltaltesV Auf welche Weise ist das recht- 
niiiBig- mog'lieh? 
3. Die Elndeutlgkeit der Tatsachen-GruiHllagen. 
Induktiun titellt einen gesetzniaBigen Zusammeuhang 
lest. Infolgedessen ist. es fiir ihre Methode grundlegeud, wo ran 
dieser erkannt wird. Die Millschen Methoden Ziehen dafiir 
iiire Schliisstgkeit aus einem Prinzip, das bei Mill nieht aus- 
gesprochen ist, soudern stillschweigend vorausgesetzt wird. 
Wenn die Methoden der Cbereiustimmung und des Untevscliieds 
und der Parallel veranderimg' Kausalverhaltnisse ergeben, so 
yesrfiieht das rermuge des Grundsatzes: Wenn eine Erschei- 
nung inimer da ist. wenn eine andere da ist und i miner fehlt, 
wenn diese andere fehlt, oder sich iindert. wenn die andere 
sich iindert. dann besteht zwischen lieiden ein gesetzmiiBiger 
Zusnmmeuhang. Da*; beruht darauf. daB ein Kausal- Oder Bc- 
dingungsverhiiltnis, gesetzmiiBiger Zusammenhang', Abbiingig- 
keit durch den Cliarakter der Konstanz oder Invaria- 
bility t definiert wird: daB Erscheinungen in ihrem Auf- 
treteu immer miteinander in einer identischen Beziehung vev- 
knupt't sind. wenigstens in dem Shine, daB, wenn einmal real 
die einen olme die anderen vorhanden sind. sich das durch 
eine Stoning'. Durchkreuzung, (jberlagerung infolge anderer 
uaehgewiesener oder uachweisbarer Zusammenbiuige evklaven 
liiBt und so die Zusammenhangsbezithung wenigstens in ge~ 
d a n k 1 i c h e r K o n s t ru k t i o n als eine kons/tante herstellen 
und aufvechterhalten lii&t. Die (.iesetzmaBigkeit einer Be- 
ziehung ltifit sich in klarer, niclitmetaphysischer Weise nur 
auf diese Art clchnieren — gegeniibor den wechsehiden zu- 
fivlligen Yerkntipfungen als eine invariable Yerknupfung'. 
Daraiis wird es verstandlieh. warum das Yerfahren der 
Induktion sett jeher. von Bacon bis Mill, in Methoden der 
i'bereinstimmung' und der Differenz gesucht worden ist. Denn 
Die Grimdfonneu der wisseuschaftlielien Methoden. 223 
Miit' diese Weise wird eben gerade das aufgesuoht, "was dann 
ist. wenn das uud das andere ist, oder was ohne dieses nieht ist. 
Durch Yergleiehung veisohiedener Fiille auf das Uberein- 
stimmende und analoger auf das Fnterseheidende bin wird er- 
mittelt. was daran gleicli bleibt gegenitber dem. was variiert. 
Ebenso geht offenkundig die Methods der parallelen Yerande- 
rung darauf hinaus, dieses Verhaltnis der Kovariation als 
etwas zu erweisen, das bei der Variation im. einzelnen unver- 
iindert bleibt. Alles das sind Yerfahren zur Feststellung von 
lnvariabilititt durch A'ergleichung bei Variation. Das ist der 
eigentliche Sinn der Millschen Methoden, sle sind in ihrer 
Dreiheit — die Restmethode ist eigentlich ein gewohnliches 
deduktives Yerfahren — nur besondere Fonnen dafiir. Weil 
tilr die Induktion das zu Yerallgemeiuernde als das Invariable 
definiert wird, daruni sind ibre Methoden naturgemafi solche 
der Yergleieluing auf Invariabilitat. 
Wenn man den Sinn der Induktionsmethoden so ver- 
stetit. wird es audi erklarlich, wieso man die Berechtigung 
zur induktiven Verallgemeinerung zu dem Umkreis der zu- 
grundegelegten Erfahrungen in Beziehung setzen und mit 
diesem wachsen lessen koiinte, wie z. B. Mach 104 (S. 304): 
.Die Bildung eines allgemeinen Urteils auf diesem Wege [der 
unvollstandigen Induktion] ist keine Augenblicksangelegenheit. 
die sich im einzelnen allein vollziebt. Alle Zeitgeuossen. alle 
.Stande. ja gauze Generationen und Yolker arbeiten an der 
Befestigung oder Korrektur solcher Induktionen. Eine je 
groBere zeitliehe und raumliche Ausdehnung die Erf ah rung ge- 
winnt. desto seharfer und umfassender wird die Kontrolle der 
Induktionen.' Es ist nieht etwa. din grofie Zald der Fiille an 
und fiir sich, welche die GewiBheit erhoht — wie sich sparer 
(S. 229 ft'.) nocli zeigen wird — , sondern die immer breitere 
Durchpriifung auf Invariabilitat. ITnter den verschiedensten 
Bedingungen ist die.se gepriift und bestiitigt worden — darin 
liegt der eigentliche Grund fur das wachsende Vertraueu auf 
die Zuverlassigkeit mit der Vielzahl dor Fiille — mit der Viel- 
zahl ve r s oh i e den a r t iger. nieht gleichartiger Fiille. 
Die Induktion kann die Invariabilitat eiuer Beziehung 
nur auf Grund einer Anzahl von Fallen feststellen. Wieso 
liiBt sich nun auf Grund derer erkennen. daB eine Beziehung 
224 V. Kraft. 
invariabel istV niclit einfacb vermuten inul erwarten — als 
psychologischcs Verhalten — . sondern mit logisch-erkenntnis- 
theoreitiseher Stichhalfigkeit behaupten? Die Millscheu Metho- 
den enveisen sich dafiir. wenn man sie eingehender priift. als 
unzureichend. Wenn man die Induktionsmethoden Mills auf 
die komplexen Ersehciuungeii. der Wirklichkeit, die immer aus 
einer Menge von ineinandergreifendeu Ursachen resultieren. 
ohneweiters anwenden wollte. so wurde man die wunder- 
lichsten .Gesetze' erhalten. T)enn die Verkniipl'ung von Er- 
scheinungen oder Merkmalen in einigen Fallen, .in zwei 
oder meiireven Instanzen'. wie es bei Mill (3. B., 8. Kap., 
§ 3) mid audi bei Sigwart CLogik, § 95, 11) heifit. gibt nocii 
keine Gewahr fur iiire Konstanz. Daran kniipfen sich ja. die 
ernsthaften Eimvendungen 112 gegen die Millsclien Methoden 
— die iibrigens Mill selbst schon zum groliien Teil gesehen 
mid beriicksichtigt hat (im 1(1. Kap. des 3. Buches ,Von der 
Vielza.hl der Ursachen und der Yerflechtung der Wirkungeiv 
und im 17. Kap. ,Yom Zufall und seiner Elimination'). 
Die Methoden Mills setzen. um stichhaltig zu sein. Fiille 
von i d e a 1 e r E i n f a c li li c i t der zu crforsdienden Unistitnde 
voraus: so. daft immer tlipselben Wirkungen auf dieselben Ur- 
sachen zuriickgeheu. Denn nur dann kann man das gemein- 
same Amezedens A der in der Erschemung a ubereinstimmen- 
den Fiille nach der t'bereinstinimungsmethode als die Ursache 
von a anselien. Sonst kunnte in dem Spiel des Zufalls einmal 
die Ersclieinung a auf die Ursache B, das andcre Mai auf die 
Ursache *' zLiriickgehen und die gemeinsame Ersdie'mung A 
moglichevweise uberhanpt keine Rolle spiclen (vgl. Reichl 
a. a. 0., S. 190). Ebenso ist es fiir Mill eine Yoraussetzung 
da 8 die Wirkung einer Ursache immer voll zur Geltuug kommt 
und niclit im Gewirr der Kausalketten aufgehoben oder ab- 
geandert wird. Denn nur dann kann man von dem Ausfall 
der Erschcinung a beim Feb leu des sonstigen Antezedens A 
nach der Differenzmethode auf ein Kausalverhiiltnis sehlieBen 
oder audi im Falle des Fehlens der Evsclieinung a bei Vor- 
handensein von A dieses als nichtkausal eliminieren. Es konnte 
ja. sonst die Wirkung von A dureh eine Gegenwirkung paraly- 
siert und die Erscheinuno- a dadurch austrebliebcn sein. oder 
Die Grundfoi'iiieu der wissenschaftliclien Metlioden. 22o 
aber sie konmte audi dureh cine andere Frsache hervor- 
gerufeu sein. 
Ein schones Beispiel daftir bieten die Erfahruugeu. die 
Pasteur mid seine Vorganger (Schwann) bet den Versuehen 
iiber die Sterilisierung von garungsfahigen Fliissigkeiten ge- 
macht haben. Seit dem Streite zwischen Xeedlnun imd Spallan- 
zani in der zweiten Halfte (ies 18. Jahrhunderts iiber die Tat- 
sachlichkeit der Urzeugung handelte es sich darum, experi- 
mentell festzustellen, ob organisehes Leben (z. B. Infusorien 
oder Schimmelbildung) in Zusammenhang' mil Ganing oder 
Faulnis nur aus Keimen oder von selbst eutstehen kann. Dureh 
Erliitzen einer gaiungstahigen Fliissigkeit mid der Luft in 
einem Glasballou totete man die Keinie und trotzdem zeigte 
sich nach einiger Zeit Garung und Sehimmelbildung in der 
FliiS'Sig'keit. Also konnten Keinie die Ursaehe fur die Ent- 
stehuug dieser Organismen niclit sein — so dnrfte man nacli 
der Dii't'erenzmethode schlietien. Han batte zwei ganz gleieh- 
artige Fade: eine garuiigsfahig'e Fliissigkeit und sauerstoft'- 
haltige Luft, die sich nur in einem Punkt unterschieden: in 
dem Vorhandensein oder Fehlen von Keimen infolge niangelu- 
der oder vollzogener Erhitzung; da aber in be i den Fallen 
die Erseheinung: Bildung von Organismen. eintrat. konnten 
Keime ihre Frsaehe niclit sein. Dieser fck-hluB war falseh. de*- 
halb. weil die erhitzte Fliissigkeit und Luft. dureh das Hinein- 
spielen einer unerkannten Ursaehe von neueni mit Keimen 
infiziert worden war. Denn in dem Quecksiiber. welelies in 
diesen Versuclien den Abschlufi gegen die auBere Luft hesorgte, 
waren immer organische Keime enthalten und gerieten von 
da aus in den Versuchsballou. wie Pasteur dann nachwics 1 " 7 
(S. 8M. 77. 78). 
Das zeigt deutlich. wie wenig selbst die Unterschieds- 
niethode oh ne we iters einen Schluft auf die Gesetzmjiljig- 
keit einer Beziehung gestattet. Das ilitspielen des Zufalls kann 
ganz untaugliche Unterlagen daMr ergehen und den wahren 
Sacliverhalt vollig verschleiern. ilill erklart, selbst (H. Bucb. 
Kap. 10. § 2) die Fbereinstimmung'smethode (niclit aber die 
['nterschiedsmethode und die vereinigte Methode der Fber- 
einstimmung und des Fnt-ersehiedes) bei einer Yielzahl von 
Ursachen fiir unsicher. .AYenn die Anzahl der vcrglichenen 
Sitzuiigsber. d. phil.-hist. Kl. 'J03. Bd. 3. Abh. 15 
226 V. Krai t. 
Falle "■eviiig- ist\ hat tier SohluB aus der Ubereinstiniinung 
auf die Ursachlichkcit .keinen wirkliehen Wert' (a. a. ().). 
Ei- selbst will deshalb den sUirenden EinfluB des Zufalls dureh 
die Berucksiehtigung finer moglichst groBen Zahl von Fallen 
eliminieren. 
In den ii'uch komplizierteren Fallen alier. in denen die 
Wirkungen sich verflechten und die Ursachen ineinander- 
greifen. versagen die induktiven llethoden Mills nach seiner 
eigenon Erkliining iiberhaurit. Die Deduktion allein ist im- 
.-.tande, diese .Verwieklungen zu entwirren, und die vier Metho- 
den vermdgeu wenig mehr als eincrseits PramUsen fur unsero 
Deduktionen. andererseits die Bewahrheituug derselben zu 
liefern 4 (3. Buch. Kup. 10, § 3). 
Die Millsehen Induktionsprinzipien. wemi sie auf komplex 
bedingte Ersclieinungen. wie sie tatsaehlich vorliegen, ange- 
wendet werden pollen, .sind nieht imstande, die Invariabilitat 
einer Beziehung zu verburgeu. Sie fiihren nur in Fallen von 
idealer Einfachheit zu eineni sicheren Ergebnis. Solehe sind 
nns aber nie von selbst gegeben. sondern sie miissen erst her- 
gestellt werden. Es muB die storende und venvirrende Mit- 
wkmig anderer Kunsalverhaltnisse (Beziehungen). die unter 
dem Gesichtspunkt eincs hestiiiinit.cn Kuusalverhaltnisses 
als .Zufair erschcinf, ausgesehaltet oder wenigstens aufgedeckt 
werden. Dadurch wird erst die geeignete Grundlage fiir eine 
zutreffende Yergleichung der Fa lie geschaffen. Die Millsehen 
Methoden verlangen also erst die Erfullnng bestimmter Be- 
dingmigeii, urn (iberhaitpt anwcndbar zu werden. Weim nach 
diesen Regeln die Invariabilitat einer Beziehung an einer be- 
sehrankten Anzahl von Fallen zweifellos enviesen werden soil, 
so ist dafiir mehr erforderlich als einfaeh eine Anzahl (,zwei 
oder mehrere - ) beliebiger Fiille. Die Millsehen Induktions- 
regeln gewalirleisten ein verallgemeinerungsfahiges Ergebnis 
erst unter bestinnuten I'mstaudeii. unter gewissen Kiiuteleu, 
durch welehe man der .Ausschaltung des Zufalls' in den zu- 
grunde gelegten Fallen, d. i. ihrer Vergleichbarkeit, Richer wird. 
a) Das statistische Verfahren. 
Znr Aussi'baltnng des Zufalls hat Mill selbst schon, wenig- 
stens fiir die rbereinstimmungsmethode, emeu Weg angegeben. 
Die Gruudformeii der wissenschaftlielion .Methocten. 2J7 
Es soil die Vergleichung nicht bloB auf e i n i g e Falle. sondern 
auf eine moglichst groBe Zahl von Fallen basiert werden. In 
dem MaB. als die verglichenen Falle vervielfiiltigt werden. 
wird .die eigentiimliche Unsicherheit der ire t bode verriugert' 
mid sie komint .der Gewifiheit inmier naher' (.'J. Buch, Kap. 17. 
§ J). Das fuhrt liaturgemaB zu einer Wahrscheinlic-hkeits- 
rechnung liin. Denn bei einer wie groBeu Yervielfaltigung der 
verg'lichenen Falle man schlleBen darf. .daB ein beobachtetes 
Zusammentreffen von Erscheimmgen nicht die Wirkung des 
Zufalls ist*. sondern ein Gesetz. das hangt von einem relativen 
rberwiegen dieses Zusammentreffens iiber sein allgemein wahr- 
scheinliches Auftreten ab (3. Buch. Kap. 10. § 2: Kap. 17, § 2). 
i'nd um den Zufall in jenen Fallen zu eliminieren. .in denen 
die Wirknngen der zufalligen Verkniipfung von Ursacbcn mit 
den Wirkungen einer bestandigen Ursache fortwahrend in 
ehis verschmolzen sintl*. greift Mill zu einem s t a t i s t i s c h c n 
Yerfahren (3. Buch. Kap. 17. § 3). Stellen wir .so viele ver- 
schiedene Yersuehe als moglich an. bei denen wir die ver- 
nintlichen Ursachen A unverandert erhalten. mid linden wir. 
daB die Resultate .um einen gewissen Punkt beruni sehwanken". 
daB .verschiedene Versuclisreihen (miter so mannigfaltigen 
Umstanden als moglich angestellt) dasselbe mittlere Ergebnis 
liefern. vorausgesetzt. dafi sie zahlreich genug sind. dann ist 
dieses mittlere oder Durchsclniittsergebnis — der der Ur- 
sache A zukommende Anteil der wandelhare Rest ist die 
Wirkung des Zufalls' (3. Buch, Kap. 17. § 3). 
Wenn so das Hineinspielen des Zufalls. das die Ver- 
gleichbarkeit der zugrunde gelegten Falle stort, durch die 
groBe Zahl dieser Falle aufgeboben werden soil, so wird damit 
die Induktion schlieBIich auf die Basis einer Statist ik gestellt. 
Der Appell an die groBe Zahl bringt es mit sich unci die Art. 
wie Mill das Eliminationsverfahren beschreibt, zeigt es deut- 
lich, daB es niehts anderes als ein stat istip.cb.es Verfahren ist. 
Es ist die Art wie z. B. die Meteorologie in zahlreicben Fallen 
verfahrt. Das ist schon aus der Induktion Hanns in bezug 
auf die Luftdruckmaxima zu ersehen, bei der die Grnndlagen 
fiir die Vergleichung mittlere Werte. also statistische 
Resultate bilden. Koch deutlicher wird aber diese Rolle der 
15* 
228 V. Kraft. 
Statistik an einer anderen Induktion Hanns: tier der jahrlichen 
Periode der balbtagigen Luftdriickscbwankung. 111 
Der Lut'tdruck weist naeh Beobachtungen s e i t 2(10 J a li- 
re 11 tiiglich eine doppelte Sehwankung* auf. ,welche mit einer 
an kosmische Erscheinungen gemahnenden RegelmaBigkeit 
fibera.il auf der Erde auftritt' — eine Art Ebbe mid Flut dcs 
Luftmeeres. Die Amplitude dieser riehwankung andert .sich im 
Laufe des Jahres. Hami hat nun auf Grund der Monats- 
niittel dieser Amplitude von 177 filler die gauze Erde ver- 
teilten Orten gezeigt. daB das Hauptminimum dieser Ampli- 
tuden auf beiden Hemisphareu wenigstens bis 45" Breite. 
damit fur 71 " ■'„ der ganzen Erdobertlache. im Juni oder Juli 
stattfindet, also zur Zeit der iSonnenferne der Erde. und daB 
zwei Hauptmaxima zu den Zeiten der Aquinoktien, wenn die 
Sonne am Aquator s.teht. stattfinden und ein sekundares Maxi- 
mum im Janner. also zur Zeit der Sonnennahe der Erde. Daraus 
liiBt sich dann der wiehtige .SchluB ziehen. dafi die tiigliche 
Luftdrucksehwankung mit der Intensitat der Sonnenstrahlung 
auf die Erdatmospluire zusanimenhangt. weil sie mit der groBe- 
ren und geringeren Sonnennahe parallel variiert. 
Es 1st ein Beispiel ganz im Sinne Mills: Es bedient sicli 
der Ubereinstimmung'smetbode (durch die vielfachen Beobaeh- 
tung-sorte). und die Yorausse'tzung' fur diese. die Befreiung von 
den Zufiflligkeiten der Einzelfalle. wird durch Fundiening auf 
eine besonders groBe Zahl von Beohachtung-en gewonnen. Es 
sind M i 1 1 e 1 werte von stiindlichen Barometerbeobachtungen 
durch melirere Jahre hindureli (ausnahmsweise auch nur ein 
..lain* hindurcli) an 177 Ortcu. 
Urn die Invariabilitlit einer Beziehung zwischen Erschei- 
nuugen (Momenten an Erscheiiuiugeu) zu ermitteln, zeigt sich 
also .als ein erst or Weg der. die betrefTenden Erscheinungen in 
einer groBen Zahl von Fallen zu beobaehten und direkt fest- 
zustellen. ob zwischen ihnen eine invariable Beziehung be- 
steht oder nicht. Demi nach dem (lesetze der groBen Zahl 
werdeu die zufalligen Ivo'inzidenzen immer wieder variieren 
und sieh dadurch aufheben. die anderen dagegen werdeu sich 
unmittelbar als konstaut herauslieben. Die Invariabilitat wird 
dadurch unmittelbar aus der Statistik abzulesen seiu. Die Vor- 
aussetzungen. welche dieses Yerfahren der Scheidung zwischen 
Die Grunclt'ormon cl«r wisftenscliaft lichen Methoslen. 229 
zufallig unci nichtzufallig oder invariabel dureh statistische 
Konstanz erfordert. haben Zilset 114 . Reiehenbach 11 ' unci 
Kaila 1111 in einem Prinzip der gleichmaBigen Streuung des 
Zufalls klargestellt. 
Aber man muB sich bei alldem klarmachen. was die 
groBe Zahl der Ealle eigentlieh leistet und leisten kann. Was 
cine Statistik enveist, ist eine Konstanz zunachst nur fiir das 
beobachtete Tatsachengebiet; dartiber hinaus bleibt sie an und 
t'iir sich durchaus unsicher. Ein Hesetz geht durum immer 
liber einen statistischen Behind prinzi()ieU hinaus ■ — als eine 
Yerallgemeinerung desselben. Diese verlang't deshalb auch Hire 
eigene Berechtigung'. 
Eine Statistik ist etwas anderes als eine luduktion. 
Eine Statistik vermag gewiB eine invariable Beziehung auf- 
zudecken, aber iminer nur fur eine Anzahl lustorischer Fiille. 
t'iir einen bestimmten Zeitraum, fur ein bestimmtcs (-iebiet. 
Eine Statistik ist ja niehts anderes als eine Zusammenstellung 
\'un Einzeltatsachen. unci darum konncn auch ihre Ergebnisse 
nicht dartiber hinausgehen; sie gelten nur innerhalb cler zeit- 
liclien und raumlichen Grenzen des Beobachtungsfeldes. \Va> 
Hanns Statistik tatsachlieh zeigt. ist. dafi die Monatsmittel der 
Am])Iituden der taglichen Luftdruekschwankung in Sidney in 
den Jahrcu 1001. bis 1005. in Santiago de Chile in den Jaliren 
1013 bis 1015. in Cordoba (Argent mien) in den Jahren 1887 
bis 1802 unci 1804 bis 1808 usw. eine ubereinstimmende jahr- 
liciie Periode aufgewiesen haben — inehr nicht. Wir nehinen 
nur dartiber hinaus an. daB sich diese statistische Gleichformig- 
keit an diesen Orten in die Vergangenbeit unci in die Zukunft 
fortsetzt. Dazu gibt tins aber die bloBe Statistik an und fiir 
sich noch kein Recht. DaB in Rom die mittlere Jahrestempera- 
tur nach den Beobaehtungen von 1855 bis 1880 15'8" war. 
besagt noch nicht. daB dieses Mitt el auch dartiber hinaus ein 
konstantes. gesetzmaBiges sein muB. 
Eine statistische Gleichformigkeit kann ja auch bloB fiir 
ilen beobachteten Zeitraum gelten und nicht melir dartiber 
hinaus. denn die Yerlialtnisse koiinen sich entweder konti- 
nuierlicii oder aber sprunghaft andern. In der Zeit von 1855 
bis 1875 befanden sich die Gletscher der Alpcn fast durch- 
wegs in einem kontinuierlichen Riickgang. Wie wenig man 
230 V. Krai t. 
aber diese begrenzte Gleichformigkeit hat to verallgemeinern 
din-feu. zeigt die darauffolgende Zunahme der Gletsdier bis 
1885. So stellt audi llann 117 ausdriicklich die Forderung. ,nur 
Temperaturmittel. die aus gleichen Perioden [der Beobaehtung } 
abgeleitet oder auf solche reduziert sind, bei Temperaturver- 
gleichuugen innerhalb beschrankterer Landerstreckeu zu be- 
iiiitzen 1 wegen der .Veranderlichkeit der Mittelwerte infolge 
der unregelmaBigen Warmesehwankungeir. Audi wenn die 
statistisehe Gleichformigkeit einen grciBeren Zeitrauni, ein 
groBeres Feld umspannt. erhalt man dadurch keineswegs 
mehr Recht zur uiibeschrankten Yerallgemeinerung. Nicht 
eiiimal eine groBere oder geringere Wahrseheinlichkeit. auf 
<Trund der bisherigen Gleichformigkeit auf eiue kiinftige zu 
schlieBen. ergibt sich rein aus der Statistik selbst — sondevu 
nur. wenn man zugleicli audi der Fortdauer cler bisherigen 
Bedingungen gewiB ist. u liter deuen die zu verallgemeinernde 
Beziehung steht. Demi woran liegt es. daB man eine Gleich- 
formig'keit von 20 Jahren, wie die des Gletscherriickganges 
zwischen 1855 und 1875, nicht hatte verallgemeinern diirfen. 
daB man dagegen ein statistisches Ergebnis von funf odor 
nocli weniger Jahren. wie die jahrliche Periode der taglichni 
Luftdmekschwankung in Sidney und in Santiago de Chile usw.. 
nls eine welt dariiber hinausreiehende Gleichformigkeit be- 
haupten dart"? (')dev daB Haim die Tempeni'turverhaltnissc. die 
allein auf dem Sonnblickgipfel wiihrend so und so vieler Luft- 
druckmaxima und -minima beobachtet worden waren. dazu 
beniitzen konnte. urn seine Beobachtungen an dem einen Maxi- 
mum und .Minimum von 1879 zu best ii tig-en. und zum Bang einer 
GesetzmaBigkeit zu erheben? 
In dem einen Fall, dem des Gletsclierruckg^inges, war 
man nicht versichert. daB die Verhaltnisse. miter denen der 
Riickgang eingetreten war. dauernd dieselben bleiben. Es war 
vielmehr von vomherein. aus auderen Erkenutnissen hcrans. 
anzunehmen. daB der Gletscherstand von der Xiederschlags- 
menge und den Wanneverhaltnisseu abhangt. und diese konn- 
ten ebensogut sich andern als koiis-tant bleiben. In dem andern 
Fall liingegen kennt. man bereits dietiigliche Luftdrucksdiwan- 
kung als eine Er.seheinung von beinahe kosmischer Kegel- 
nmBigkeit. mid daher muB diesen Oharakter audi eiue jahr- 
Die Grtmdfornien der ivisscnsebaftlirliea Metlioden. 2ol 
liehe Peri ode derselben aufweisen. Im letzteu Fall endlieh 
evsab man nus dem Vergleiehe niit ancleren liohenstationen. 
daB die Temperaturverhaltuisse des Sonnblicks zur Zeit des 
ersten Luftdruckmaximums nichts Lokales, sondern etwas all- 
gernein fiir Ilohen Typisches waren. und any dem Vergleiehe 
mit gleiehzeitigen Freiballonfahrten. daB sie nieht bloB fur 
Bergesgipfel. sondern ftir die hoheren Schichten der freien Luft 
als solehe gal ten. Und daraus, daB die (zahlreichen) Maxima 
und Minima des )5oiinbliekgipfels wiihrend fi'iuf J allien zum 
allergroBten Teile d i e s e 1 b e n Yerhaltnisse aufwiesen. koimto 
man erkennen. daB diese Yerhaltnisse-auch nichts bloB Tem- 
poriires. sondern fast jedesrnal so waien. so oft man sie unter- 
suchte. Weil man nun die Maxima und Minima als i miner sieli 
wiederholende. gattungsmaBige Erscheinuugen keimt. deshalb 
darf man schlieBen. daB das. was sieh in einer groBeren Zahl 
derselben. wodureh das Zufallige elimiuiert wird. uberein- 
stimmend zeigt. sieh immer wiedcr zeigen wird. daB daher 
auch dieselben. Temperaturverhaltnisse wie auf dem Sonnbliek 
in den Jaliren 1880 bis 1890 uberall im Bereich eines europai- 
schen Maximums oder Minimums herrscheu. Alle diese Kennt- 
nisse sind notwendig, um das Hinausgehen iiber die zeitliche 
und lokalo Beg re nz the it eines statistischeu Ergebnisses ins 
Allgemeine logisdi zu reohtfertigen. Die Berechtigung zur 
Verallgemeinerung hiingt also daran. daB man weiB oder 
zeigen kann. daB die Verhaltnisse. welehe fur das statistisch 
erfaBte Gebiet bestimmend sind. auch dariiber hinaus zutreffen. 
d. b. selbst wieder etwas hivariables sind. Diese Kenntnis 
muB also immer zur Statistik noch hinzukommen. sie niufi 
entweder aus anderen sehon vorhandenen Q.uellen zu schopfen 
sein oder eigens begriindet werden. 
Das Verhaltnis von Induktion und Statistik stellt sieh 
so dar: Wenn das Oesetz der groBen Zahl in der Erfahrungs- 
wirklichkeit gelten soil, so ist die Unabb a ng'igkei t der 
beobachteten Element e von einander dabei Voraussetzung. 
Deshalb kann man umgekehrt. wenn ein statistisches Ergeh- 
nis eine dem Gesetze der groBen Zahl nieht entsprechende 
Hjiufung oder Koustanz zeigt. daraus auf eine A bhang ig- 
keit unter den Elementen schliefien. Aber das kann man 
dock eben nur fiir die tats-ichlich beobachteten Verlialtnisse. 
232 V. luaf t, 
AVeim man aber behaupten will, daB man dam it keine partielle. 
sondern eine absolute Koustanz vor sieh hat, so muft dazu 
noeh eiiie neue Yoraussetzung erfullt sein: daB dieses .System 
von Elementen da sselbe bleibt, daB e.s .sieh nicht iindei't. 
Das 1st eiiie begriiTIiehe Selbstverstundliehkeit, abev daB es 
audi iit der Wirklichkeit der Fall ist, muB immer erst 
veruiirgt wevden. Das wird es, wenn wir wissen, daB das 
■System unter konstanten Bedingungen steht. Dieses Wissen 
mnfi also zur bloften Statistik noeh hinziikommen: darin liegt 
eine fiber die Statistik hinausgebende Aufgabe der Induktion. 
Demi was die Induktion ergibt. ist ja logisch etwas ganz 
Neues gegeniiber jeder beliebigon Anzahl von Fallen: die. AU- 
gemeinheit. Darum kann man diese aus jener logisch nicht 
ableiteu. Die stati^tisc.he Aussehaltung des Zuialiigen durch 
die groBe Zahl ergibt wohl eine begrenzte. cine temporiire 
oder lokale Gleiehiovmigkeit. Aber das eigentliehe Problem 
der Induktion: Wie kann man von einer Anzahl von Fallen 
aui: alle schlieJiSen? liiBt audi sie immer noeh olTen. Demi 
logiseh steht es zweifellos so. wie es sclion Leibniz in der Voi'- 
rede zu den Xouveaux essais uud wieder Sigwart (Lug. II, 
§ 93, 17, 11. 8) u. a. ausgesprochen haben: Auf (Jrund der 
bloBen Zahl der Falle. mid ware sle noeh so groB. liif.lt sieh 
nie ein allgemeiner Satz mit Reeht anfstellen. Man muli 
dazu mehr wissen. es muB dazu, wie sieh gezeigt hat. noeh 
die Koustanz der Bedingungen trcten. 
b) Das experimentelle Verfahren. 
» 
Die statistische Met bode der groBen Zahl giht also, unter 
gewissen Voraussetzungen, einen Weg. urn uns zu vergewissern. 
daB eine Beziebung keine zufflllige. sondern eine invariable 
ist, weil sie sieh also ausgezeichnet erweist entgegen dem 
I'rinzip der ^leiehverteilung des Zufalligen. Es gibt alter aueli 
-noeh einen anderen Weg. urn uns eine Beziebung a Is nicht 
zul'allig. als konstant oder invariabel zu gewiibrleisteu — den 
experimentellen. 
Aueh dieses Verfahren muB sieh letzten Kndes darauf 
richteu. dureh Vergleiehung die Koustanz einer Beziebung bei 
Variation ihrer Begleititnistande festzustellen (Vgl. spiiter 
S.'236f.).denn GesetzmaBigkeit ist el>en nur als Invariabilitat 
Die (4rundFornieii rlpr wisRcnsHmftlk-heiL Mel )i mien. 233 
erkeimbar. Aber die .Sieherheit. daB diese Kuustnnz niolit eine 
blofi zufallige ist. sehopfen wir liier nicht au,s dem Ausgleidi 
des Zufalls bei einer groBen Zahl. sondem schon aus cinigen 
wenigen Fallen. Einige mit hinreichender Sorgfnit angestellte 
K x |i e r.imo n t e kdnuen genugen, urn eine Induktron drmmf 
zn griinden. Zwei Keihen von je zwolf Yersudicn und zwei 
Erganzungsversuchen waren es. auf Grund deren (lay Lussac 
und A. v. Humboldt das Volumgesetz der Gase fiir Sauer- 
stoft' und AVasserstoi'f enviesen. Fnd weim Pasteur 1 " 7 (S. 80) 
gelegentlieb in einer Aiuuerkung (!) bemerkt, er babe das Ex- 
periment der Sterilisiemng einer garung'sfahigen Flussigkeit 
dureh Erhitzen mehr als fimfzigmal wiederholt und innner mit 
demselben Erfolg, so will er da in it sein Yersuebsergebnis 
keineswegs auf diese i'unfzigfache Wiederholung a Is suldie 
grimden, sondem sie client ihm nur zur Kont.rolle seines 
Experiments, das ebenso fiir sich allein oder in zweii'adicr 
Wiederholung- die Beweisgrundlnge bilclen kann. Die stnlisii- 
selie Ubereinstimmung bildet hier erst ein sekund a r e s 
Beweismittel, urn die Aussehaltung' des Zufalls zu bekraftigen. 
DaB man die Yergleichung auf Invariabilitat bin auf blulJ 
einige Falle besdiranken darf. das Hegt ;in d? 1 * besonderen 
V'ualifikation dieser Fitlle: ihrer E indeutigkeit. Das Ex- 
periment ennoglicht es. das Bcstehen oder Nichtbesteheu einer 
Beziebung miter solehen Ihnstanden zu beobacbten. welche 
eiuen Zufall von vornherein ausseblicBen, denn wir kennm 
genau die Umstaude. unter deneu eine Beziehung im Ex- 
perimentalfall aufgetreten ist. 
1st das aber bei der uniibersehnubaren Vielzald der Um- 
stiinde nichl unmoglicbV Jede Tatsacbe und jede Tatsadien- 
beziehung stelit ja in eiuem ganzen Komplex von Fmstauden 
darin. theoretisdi ist sie mit der ganzen augenblicklichen Welt- 
Inge verkniipft. Und wenn wir audi innner nur emeu kleinen 
Ausschnitt darnus gegeben erhalten und ins Auge fassen 
kuuuen. so siud wir docli gar nie siclier. ob <larin audi nur 
alle wesen t lichen Fmstande enthalten siud oder ob nieht 
solche im Verborgenen bleiben. Was gehort nieht alles zn den 
i'mstandeih unter denen sich die Pasteursebeu Experimente 
ereiguet haben! Die meteorologiseben Yerhaltuisse aller dieser 
Sommertage des Jahres 1857, die inneren und auBeren Er- 
234 V. Krai t. 
lebnisse Pasterns, tier Verkehr in der Rue d'Ulm urw.! Die 
TJmstande, miter deneu eine Erscheinung im Experimentalfy.ll 
tatsjichlich aufgetreten ist. oinzeln auzugeben. 1st deshalb 
wegeu Hirer Unzahl mid Unhekannthe.it allerdings, ausge- 
sehlossen. 
Eine Diiierenziorung dor Umstande wird nur in dev 
Weise moglich. daB man sie in Gruppen soudert nach ilirer 
Bedeutung fur das Zustandekommen der Erscheinungen. iu 
.wesentliche' und .unwesentliche\ Von dem groBeren Teile 
der Begleilumstande wissen "wir bereits naeh nnserer bisherigen 
Kenutnis soldier Erseheinungen. daB sie in keinem konstanlen 
Zusammenhang mit der betreffenden Erscheinung stelien, denn 
sie konnen variieron. da sein oder felilen. olme daB die Er- 
sdieinung damit kovariiert. Der Luftdruck. die Zimmertem- 
peratur kann lioeli oder niedrig sein. es kann Sonnensehein 
bcrrschen oder kiin.stliehes Lioht oder Dunkelheit — das Ent- 
stehen oder Niehtentstehen von Mikroorganismen in den Glas- 
ballons geht damit. nieht Hand in Hand. Durch ih re Variabili- 
tat werden diese Tmstande -rtls gleichgiiltige. unwesentlidie 
charakterisiert. Aber von einigen andcren Begleitmnstiiuden 
wissen wir das nieht'. und diese miissen nun daranfhin gepriift 
werden. ob sie u n ent belt rl i che Begleitumstandc siiid oder 
nieht. Das ist es. was das Experiment zu enlscheiden hat. 
Das Experiment geht darum immer hervor aus einer 
g'enau prazisierten Fragestellung'. auf die es eine eindeutige 
Autwort gibt. Welches ist das Yerhiiltnis der Gasvolumiua bei 
der Yerbindung von WasserstnfT und ijvui erst off? 1st es ein 
konstantes und einfachesV Verhindert hinreicliende Erhitzung 
die Ganmg und die Entstehung von ilikroorgauismen in einer 
garungsfahigen Fliissigkeit ? Die Frage. die das Experiment" 
beautAvorteu soil, stellt ihm eine bestimmte Beziehung zwisdieu 
bestimmteu Gliedem bin und diese hat. es zu priit'en. 
Die Grundfrage ist aber nun dabei die: wieso konnen 
wir auf die Frage an das Experiment eine eindeutige Anwort 
findenV — eindeutig in dem Sinne, daB man keinen Zweifel 
zu heg'en hat. ob in dem Experimentalergebuis nieht etwa bloR 
zut'allige Konstellation vorliegt. Wieso kann man die Uncnt- 
behrliehkeit von Fmstanden fiir eine Ersehehiiiim*. d. h. In- 
Die Unindformen der wi^^enscljaftlicheu Methodpri. 235 
variabilitat, Hires Zusanuuenhanges a riders als statistisch fest- 
stellenV 
Pasteur hat in mehreren Experimentalfallen gefunden. 
daB ganmgsfahige Substanzen. geniigend erhilzt. bei Absehlul-'i 
gegen Staub steril gehlieben sind, ebenso dafl Staub aus der 
Luft unter geeigneten Bedingungen. d. i. in garungsfahigeu 
Substanzen Mikroorganismen erzeugt. hat. Es ist damit ein 
Zusammenbung zwisdien bestimmten Erscheimmgen unter be- 
stinimteu I'nisUinden festgestellt. Man weiB: Der Staub ist der 
Luft entzugeu worden beim Durchtritt durcli die SdiieBbaum- 
wolle: es ist derselbe Staub. der dnnn bci der Auflosung der 
SchieBbanrmvolle iibrig geblieben ist: es ist dann schlieBlid) 
derselbe Staub, der in die Niihrsubstanzen eingeiulirt worden 
ist. worauf darin nach der iiblieheu Zeit Mikroorganismen eut- 
standen sind.: vorlier waren hingegen bestimmt keine darin 
vnrhanden. Der Zusammenhang. der in den Experimentalfallen 
zwisdien Euftstaub unci der Entsteltung von Mikroorganismen 
licstebt, ist da rum ein ganz eindeutiger. weil die llmst;ind<\ 
unter denen er besteht. in diesen Fallen genau bekannt sind. 
Den n die I'mstande. weldie in diesen Fallen mit den auf ibren 
Zusnmnienbang zu priifemlen Ersdieinungen zugleidi vorban- 
deu waren. keunen wir teils als beliebige. variable — deshalb 
lu'auchen sie einzeln gar liicht angegeben zu werden. sondern 
mir als die Gattung der gewohnlidien Fmstiinde (allgemeine 
Teinperaturgrenzen des nrganisdien Eebens, Luftdmck. Erd- 
sdiwere. Fixsterne usw.j: teils kouuen sie aber genau ange- 
geben werden (als Luftstaub. garungsfahige Substanz. Er- 
bitzung. Staubabschlufi . . .). eben als die Versudisbedinguugen. 
die Anordnung und technisehe DuiThfiilmmg der Vorsitclie. 
wie sie genau und nieht seiten ausfiilirlieh besdirieben werden 
(z. B. bei Pasteur 1 " 7 . S. ±L 23. 34. 35. 81. 82). In den Ex- 
periment alfii lien liaben wir also Zusammenhange von f>schei- 
nungen unter genau bestimmten UmstJinden gegeben. Das ist 
die Tatsaehengnindlage. die dam in eindeutig ist. weil nlle Fm- 
stande. die nieht als variabel. als ,uu\vesentlielf scbon bekannt 
sind. sich genau angeben lassen. 
Die Prufung. ob zwisdien den im Experimentalfall vor- 
liegenden Fmstanden. die in hezug auf ibren gesetzmaBigen. 
d. i. invariable!! Zusamnieubang problematiscb sind. ein soldier 
236 V. Kraf t 
bestcht odt'i' nicht. berubt nun wieder auf eiuer Yerglei- 
chung unci Diskussion dor Experinientalbefunde. Aber ihv 
bra no lit nidit mehr wie bei tier statistisehen Ermittlung eine 
Vielzahl von Fallen zugrunde zu liegen, sondern weil es 
e i n de it t i ge Falle sind. reichen sdion wenige liin. unter Urn- 
st linden blofi zwei. 
Das ist der Fall, wenn die hiiisichtlioh ihres Zusamiiien- 
hanges problematischen Erscheinungon daraufhin gepriift wer- 
deu kt'mnen. oh sic aueh getreunt. unabhiingig vonei minder 
aufrreteu oder nur miteinander. Man braucht dann prinzipiell 
nur einen Experiuiontalfall. in deiu die Erscheinuugen auf- 
getreten sind. und einen Experimentalfa.il, in dem unter sonst 
ilenselben Unistanden mit der einen audi die andere fehll 
— ■ oder aber trotz des Feldens der einen die andere da war. 
Daft sidi diese Bed'mgung .untev sonst genau denselben l'm- 
standeu' erfiillen liiBt, trotzdem man ,ja a lie Um.stande eines 
Falles gar nicht keiuit mid so herstellen kann — ■ denn man 
kann nicht alle iihrigeii Umstande wivklieh konstant erhaUcu 
mid nur den einen variieren oder ausschalien. weil sidi ja 
fortwahrend etwas in der rmgobung. in den ['mstaiiden ver- 
audeit — das ist die gvofie Leistmig der vovliin uusgefuhvten 
Ausscheidung von .uiiwesentliolien'. weil als variabel bekann- 
ten Fmstauden (uud aufierdem der bloB gen e re 11 en Gleioh- 
hcit der Uiiistiinde Is. spate r S. 238 f.]). Weil man dann e i n- 
deut ige Experinientalbefunde hat. die sidi nur in eine m 
Puukt unterscheiden mid sonst volLstjindig iibereinstimmen. mid 
weil man wegen ilirer Eindeutigkeit (infolge Hirer zureichend 
bekaunten Umstandej dieser Ubereinstimmnug nnd t'nter- 
seheidung vollstandig sicher ist. darmn kann man schou aus 
diesen beiden Experimentalralleu das Bestdien oder Nioht- 
besteheu eines invariablen Zusammenhanges erweisen. 
Dem entspridit audi klar der Gedankengang Pasteurs. 
Seine Experiment e ha ben die Alternative zu eutsdieiden: 
Mikroorganismen entsteheu entweder aus Keimen oder von 
selbst. Die Entscheidung boruht darauf: In einer geg'en das 
Emdringeu von Keimen (mit dem Luftstaub) isolierteu garungs- 
taliigen Fliissigkeit sind Jlikroorganismen nicht entstanden. 
Die Isolierutig, die Garungsfaliigkeit, die Beziehung von Keimen 
tmd Luftstaub niuB daliei jedes besonders sidiergestellt werden 
Die Gnmdfornien der wissenschaftlii-heti Methocleu. 23 i 
(durch die Versuchsaiiordnung. (lurch Kontrollballons usw.). 
Dagegen sind bei Zufuhr vun Keimen (Luftstaub) Mikroorgauis- 
men entstanden. Keime (im Luftstaub) si ml soniit der einzigv 
Fmstand. der in it der Entstehung von Jlikroorg'anismeu 
kovariiert und daher als Entstehung'sursache. d. i. in kon- 
stanter Beziehung steliend. allein in Betraeht. konnnen kann. 
Denn die ubrig*en Unistlinde sind entweder die gleichen 
(garungsfahige Substanz and die Bedinguugeu der Organis- 
menentstehung: 8auerstoff u. a.), oder man wei6 von ihnen, dafi 
sie variabel und daher zufalligc Begleitumstande sind. 
Bei Humboldt und Uay-Lussac wird ebenfalls die 
I dent it at des einfachen Yerhaltnisses der Gasvolumina fur 
r e i n (Mi Wasserstoff und SauerstofT erst heraiisgereclmet; sie 
wird auf Grand der beideu Erganzungsversuche ersehlossen. 
Damit ist zunaehst erst eine Ident-itiit in den 24 Fallen ge- 
geben. Da 15 dieses Verhalitnis in alien Fallen von Verbin- 
cluiig zwischen Wasserstoff und Sauerstoff best eh t. ergibt .sicli 
daraus insofern, als dieses Verhaltnis auch in den 24 Fallen 
uicht von den verwendeten speziellen Voluniina abhangen 
kann. weil es von der absohiten Grofie der Volumina un- 
abhangig ist und uur mit der allgemeinen BeschalTenheit von 
Wasserstoff und Sauerstoff zusammenhangt, daher fur beliebige 
Voluniina gilt. Die In v,a r i ab i 1 i t a t der Beziehung wird 
audi bier daraus erkannt. dafl zwischen den im Experimental- 
fall vorliandcnen (jnistanden sich eine eindeutige Beziehung 
erschlieBen lalit. indem infolge der erkennbaren Variabilitatder 
anderen Umstiinde iiberhaupt nur zwei (die beiden cheniiseheu 
Beschaffeiihei.ten) sich ergeben, die in einer.konstanteii Be- 
ziehung (des einfachen Yolumverhaltnisses) stehen konnen. 
Die Iuvariabilitat wird also dadurch erkannt, da!5 die expej-i- 
nientellen Tatbestande, als eindeutige (infolge der Bekanntheit 
ihrer Umstande). eindeutige Schluftfolgerungen crinoglichen. 
Dadurch, da!5 eindeutige Verbaltnis.se vorliegen. hat man ein 
Material, das vom Zufall uicht mehr verwirrt ist, und dadurch 
erst konnen die Millschen Vergleichungsmethoden zu stich- 
haltigen Ergebnissen fiihren. Aber uicht in diesen speziellen 
Yerfahren allein. sondern viel mehr noch in den Voraussetzuii- 
gen ihrer Anwendung liegt das Wesentliche der Induction. 
238 V. Kraft. 
i. Die Goner ali sierung. 
Alit cler eimleutigen Feststellung einer Tatsacbenbezie- 
hung in ■cle-n Experimentalfallen ist das induktive Gesetz fiber 
noch nicht geg'eben. deim was experimental festgestellt ist, 
das ist — wie friihei* ausgefuhrt — immor eine Beziehung 
zwischen einzelnen individuellen Tatsachen. Das Gesetz abev 
ist eine Beziehung zwischen g'enerellen Tatsachenmomenten, 
zwischen Erseheinungsgattungen. GewiB darf man scliou auf 
Grund des Experimenter behaupten: Nachdem die Umstiinde, 
unter denen die Beziehnng ini Experinieutalfall aufgetreten 
ist. genau bekannt sind, muB sie naeh dem TYmzip der Gleieh- 
fonnigkeit des Geschehens unter diesen I'mstanden audi 
immer wieder auftreteu. Aber da von hat man nichts, denn 
es ist iiur die Beziehung in dieser besonderen Form, zwischen 
diesen speziellen Er.scheini.mgen (ritaub aus der Luft der Rue 
d'Ulm and der Entstehung hestimmter Sehimmelpilze und 
Tnfusorien) unter diesen besonderen Um stand en (bet Fil- 
trieruug der Luft durch Schieftbaumwolle und deren Lfisung 
us w.j. Zum Gesetz erfordert daher die experimentell fest- 
gestellt.e Beziehung eine G e ne r a 1 i si e nut g ■ — die von 
ihrer, ich mochte sagen form a len Verallgemeinerung' nach 
dem blofien Priuzip der Gleichformigkeit. von der Ausdeli- 
nung von d i e s e in auf a 1 1 e — gleicliartigen ! — ■ Falle ver- 
?>chieden ist. Diese Generalisienuig bedeutet eine eigeue Auf- 
gabe ini Yerfahren der lndnktion. 
Die lndnktion hat an den Tatsachen eine Beziehung 
festzustellen, die nicht bloB unter diesen speziellen Bedingun- 
gen des Einzelfalles. zwisclien diesen speziellen Gliedern, 
soudern iu einem bestimmtcu generellen Umfang besteht. 
Es- wird immer aucli noch die GewiBheit erfordert, daB die 
zngrunde gelegten Falle nur beliebige Exemplare eines gene- 
rellen Bereiches sind. nicht bio 8 etwas Temporares Oder 
Lokales. Der generelle Gharakter ist mit dem Experimental- 
fall als solchem nocli nicht klargestellt, da er ]a ebon ttber 
ihn hinausg'elit. Da rum erfordert er noch seine eigenr Be- 
griindung. 
Wie wenig man eine experimentelle Feststellung ohne- 
weiteis verallgemeinern darf, laBt sich aus dem Experiment 
Die Gnttulfonnen der wisseriseliaftlichen llethoden. 2iJ9 
Pasteurs ersehen. welches das Vorhandensein von organisier- 
ten Korperchen im Staub der Luft feststellt-. Es waren im 
Durchscbnitt in jedem Liter Luft aus der Rue d'Ulm einige 
Meter iiber dem Boden im Sommer uaeh eiuer Reihe schoner 
'[.'age mehrere solche Korperclien zu konstatieren. Dfirfte man 
dieses Ergebnis dahiu verallgemeinern, daft jederzeit oder 
iiberall diese Menge von Keimen in der Luft vorhauden ist? 
Aus den allgemeinen Bedingungen fiir die Verbreitung des 
Staubes in der Luft liifit sich das Gegenteil erschlieBen mid 
Pasteur hat es dure)] Experiment unter ver seh i e d en e n 
Bedingungen bestatigt. Es .schwankt dieses Ergebnis unend- 
lieh mit dem Zustand der Atmosphare, ob man vor oder nacli 
Regen arbeitet, bei ruhigem oder unruhigem Wetter, bei Tag 
oder bei Nacht, bei geringerer oder bei groBerer Entfemung 
vom Boden' 107 (S. 27). Die Generalisierung der im Experiment 
Yorliegeuden Bedingungen, wodurdi erst eiu ullgemeines 
Gesetz zustande komnit. muB also in ihrem AusmaB und in 
ihrer Berechtigung erst festgestellt werden oder in schon vor- 
liandeiiem Wissen begriindet sein: sonst ist sie ungerecht-- 
fertigt. 
Das Experiment der Sterilisierung von Befewasser hat 
die Tatsaehe festgestellt.. daB Hefewasser von der 1'ruher an- 
gegebenen Zusammensetzung nacli zwei bis drei Minuten 
langem Kochen bei 100 u C unter gegliihter Luft viele Monate 
lang unverandert bleibt. Diese Tatsache verbiirgt mis aber 
noeh keineswegs eine generelle Beziehung: Sterilisierung 
von Hefewasser j c d e r Zusammensetzung dureh Erhitzen auf 
100°. So naheliegend und vielleicht selbstverstandlich diese 
anscheinend geringfiigige Generallsierung audi erscheincn 
mag, so zeig"en doch gerade einige von den Untersuchungen 
Pasteurs. daft sie nicht gestattet ist. Wenn man zucker- 
baltiges Hefewasser mit kohlensaurem Kalk (1 g auf 100 cm 3 ) 
versetzt und zwei bis drei Minuten bei 100° O kochen laBt. 
so bleibt es nicht steril, sondern es bilden sich darin bestimmte 
Arten — aber nicht die gewohnlichen — von Infusorien und 
Schimmelpilzen 107 (S. 54). Erst wenn man die Fliissigkeit auf 
105" erhitzt, bleibt sie steril; ebenso aucb die Milch. (Es hiingt 
das damit zusammeu, daB der kohlensaure Kalk das Hefe- 
wasser, das sonst schwach sauer 1st. neutral oder schwacli 
240 V. Kraft. 
alkalisch mat-lit. wie die llilch. und dadureh die Eebensmog- 
lichkeit fiir diese Arten von Mikroorganismen herstellt.) Die 
rfterilisierung von Hefewasser duroh Erhitzen aid 100" gilt 
somit mir fiir sehwaeh saures. aber noch nicht fiir Hefewasser 
jeder Art. allgemein. Das zeigt wold deutlich. daft die Genera - 
likening' dor Erscheinungen, zwisehen denen die aufgefundene 
Beziehung besteht. liber die iudividuelle Art hinaus. wie sie 
in den zugrunde gelegten Fallen vorliegen, eine eigene Saehe 
ist and eine eigene Begrtindung erfordert, duroh Heranziehung 
anderweitiger Erkenntnisse, eventuell neuer Feststellungen. 
Wo das nicht so klar hervortritt. dort riihrt das daher. 
daB wir die fiir die Generalisierung erforderliclien Kenntnisse 
sehon besitzen und stillschweigend voraussetzen. Oft muB es 
aber erst festgestellt werden, wie weit die Generalisierung 
der tatsachlieh vorliegenden Bedingungen gehen darf. Was 
man von den besonderen Umstanden der Einzeltalle als in- 
dividuelle fallen lassen darf und was man da von als wesent- 
lich allein festzuhalten braucht, das gel it aus den Einzeliallen 
selbst (audi aus dem Experiment und audi aus der Yerglei- 
ohung. die ja nicht iiber die Einzelfalle hinausfiihrt) noch 
nicht liervor. Darauf sUUzt sicli ja audi die bekannte Kritik 
Maehs an der Beweiskrai't von Newtons Experiment rait dem 
rotierenden WassergefaB. Der Versuch Jehrt mir. daB die 
Kelativdrehung des Wassers gegen die GefiiBwiinde keine 
merkliehen Zentrifugalkrafte weckt. daB dieselben aber dureh 
die Relativdrehung gegen die Erde und die ubrigen Himmels- 
korper geweckt werden. Niemand kann sageu, wie der 
Versuch verlaufen wiirde, wen a die GefiiBe immer dicker und 
inassiger. zuletzt raehrere Meilen dick wiirden' ™ (2. Rap.. <>.. 
5.: S. 246, 247). Der Gegensa-tz liegt in der Interpretation 
des Xewtonschen Versnches. also in den Folgerungen daraus. 
Die Kelativdrehung zwisehen dem Wasser und dera GefJil.) 
bewirkt keine Zentrifugalerscheinuugen — also iiberhaupt 
keine Kelativdrehung eines Kdrpers und seiner Umgebung. 
sonderu nur die absolute Rotation, so schlieBt Newton 
daraus. Nur die Kelativdrehung zwisehen dem Wasser und 
dem GefiiB bewirkt keine Zentrifugalerscheinuugen — wold 
aber kann die Relativdrehung- zwisehen Wasser und Erde 
einem Kdrper und einer an JIasse iiberwiegenden Umgebuug 
Die Grundformen der wissenscliaftlichen Methoden. 241 
es tun, so sdilieBt Alack. Es ist eine Frage der Generalisierung 
der Bedingungen: ob die Gleichgtiltigkeit der Relativdrehung 
zvvischen Wasser und Gefafi nur in bezug auf eine GefaBwand 
von gewohnlicher Dicke oder von jeder beliebigen Dicke gilt, 
d. i. ob man das Verhalten des Wassers diesem dlinnwaudigen 
Gefafi gegeniiber verallgem e i n e rn darf zu dem Ver- 
halten eines relativ rotierenden Korpers gegeniiber seiner Urn- 
g e b u i] g ii b e r h a u p .t. 
Die Begriindung fur den generellen Charak-ter der Hr- 
zieltung. d. Ii, der Bezielningsglieder oder Bedingungen. kann 
manchnuU. einfach sein, wie dort. wo mit der Berechnung fur 
re men Wasserstoff und Sauerstoff der Experimentalfall so- 
gleieh auf eine Gestalt gebracht ist, von der es gewifi ist. 
daB darin alle individuellen Besonderheiten dieses Falles 
ausgeschaltet und lediglieh generelle Beschaffenheiten gruud- 
legend sind. Es kann aber audi schwierig sein. zu entscheiden, 
ob gewisse Bestimmtheiten des zhgrunde gelegten Falles, die 
fur die induzierte Beziehung wesentlieh sind, zu den Besonder- 
lieiten dieses konkreten Falles gehoren oder dariiber binaus 
generelle Bestimmungen darstellen. Wo sich die Generali- 
se rung uicht a us sehou Bekanntem ergibt, muB sie darum 
ausdrueklich nachgewiesen vverden. Dies geschiehit dadurcb. 
dafl gewisse von den Bestinimungen des besonderen Falles 
als bloB individuelle und fiir die gefundene Beziehung gleieh- 
giiltige dargetan werden. indem sie sich beliebig abandern 
lassen. ohne diese Beziehung aufzuheben: und daB nach der 
anderen Seite bin gezeigt wird. da 15 die gefundene Bezrelnmg 
diesem Fall mit teilweise andersartigen Fallen gemeinsam 
und daher eine gattungsmafiige ist. 
AVaw Pasteur zunachst an Hefewasser festgestellt bat. 
die Bedingungen der Sterilisienmg (Keimtotung und -ab- 
schhiB), — gilt das nur fiir die Hefeganmg? oder fiir Gamng 
tiberlumpt. fiir alle Stoffe. bei dereii Giirung oder Zersetzung 
Lebewesen auftreten? Pasteur hat diese Beziehung zwischen 
KeimausschluB und Sterilitat audi fiir mehrere andere Gii- 
rungsai-iten erwiesen: dadureh ist mm 'selion der negative 
Nachweis erbraeht, daB fur diese Beziehung die spezielle Ga- 
rungsart nicht von Bedeutung, weil variabel, ist — was nach 
den Versuciien seiner Vorganger noeh unklar war (s. S. 240). 
SiUungsber. d. phil.-hist. Kl. 203. 153- S. Abh. 16 
241! V. K r a f t. 
Seine Kcnntnis tier Garungserscheinungcn gab ibm fevner 
die GewiBhek, daB die gepriiften Gitrungsarten nichts ge- 
meinsam haben als den Charakter der Gil rung iiberhaupt 
(s. S. 244). Damit war der positive Xaehweis gegeben. 
daB die Bezieliung zwischen KeimaiissehlnB mid Sterilitat in it 
dem (iattiiiig'smoincnt der Giirung" verkniipft ist. also 
iiir alle Gahning gill. — Das emfache ganzzahlige Verba lt- 
nis der Yohunina war zuna'ohst fur die Yerbindung von 
W'asrier^toi't' und Sanerstofl festgestellt. Gay Lu&sae hat ge- 
zeigt. daB es nielit fur diese beiden Gase spezifiseh ist. sondern 
iiir Gase iiberhaupt zutrifft. (lurch den — teils experimentel- 
len. teils reclmerisehen — Nachweis, daB auch mehrere Ver- 
bindungen von Ainmomak, von SauerstofT und Sticks-toff u. a. 
ein solehes Verhaltnis aufweisen, wodurch sich die spe-iielle 
Art des Gases als etwas Variables und da mm nicht als Be- 
dingung der Beziehung ergibt. — Was Ricfrthofen als die Ent- 
stehungsbedhigung des Loft in China klargestellt hat, da>s hat, 
or als mehr als eine individuelle Geschichte dieses einen 
Gebietes: als ilie Entstehung-sbedingung des LoB im allge- 
meineu erwiesen dadurch, daB er die gleicheu Bedinguugen 
(abflufilose Steppengebiete) auch bei den wich.tigs.ten anderen 
groBen LoBgebieten darlegte. — Ebenso liat Hann durch 
eine ausgedehnte Vergleichung gezeigt. daB die meteorologi- 
schen Verhaltnisse des Maximums im November und des 
Minimums im Oktober 1889 nicht individuelle waren. sondern 
auch bei den meisten Maxima und Minima der Jahre 1885 bis 
1880 fcufzuweisen waren und. wo dies nicht der Fall war. es 
in der Kompliziertheit der 'betreffenden meteorologischen Yev- 
haltnisse seinen Grund hatte, und hat sie deslialb als allge- 
meine Charakteristika der (europaischen) Maxima und 
Minima betrachten diirfcn. 
Um den generellen Charakter einer festgestellten Be- 
ziehung. d. i. ihrer Beziehungsglieder, zu erweisen. wird somit 
gezeigt, daB die Beziehung nicht bloB fiir die Erscheinungen 
(Maximum vom November 188D) oder tlie Art von Ersehei- 
nung (Wasserstoff und tfauerstofr) bestebt, wie sie im 
Entdeekungs- oder Feststellungsfall vorliegen, sondern auch 
fiir andersartige Erscheinungen (Ammoniakverbindungen etc., 
andere Maxima), die aber doch wieder eine gatlungsmiiBige 
Die Gnmdformeii der wissenseiiu ft lie-hen Methoden. 243 
Eigenart (Gas, Maximum iiberhairpt) untereinauder gemein- 
sam haben. Unci das ist es. worauf es vor allein ankommt. denn 
imr dadurch crhalt die negative Feststellung. clafi die fest- 
gestelltc Beziehung nieht an den speziellen Charakter den 
Feststellung'sfalles gebunden ist. ihre positive Evganzung. in- 
dem bestimmte G a 1 1 u n g e n von Erscheinungen als ihr 
Geltungsbereioh abgegrenzt werden. Dadurch. dafi bei der 
Variation der speziellen Eigenart der Beziehungsglieder 
zug'leich mit der Bcziehung* in jedem Fall audi einc bestimmte 
generelle Eigenart derselben als einzig Gemeinsames der 
Falle sich ergibt. dadurch wird die Bcziehung fiir diese gone- 
rellen Eigenarten von Erscheinungen festgestellt und dadurch 
e rhalt sie einc generelle Geltung. Die Allgemeinheit einev in- 
duzierten Beziehung beruht also auf ihrer Feststellung fiir be- 
stimmte Erscheinung3ga.it, t ung en (iiber die individuel- 
len P>scheinungen hin.au s. in denen sie vorliegt) ■ — wcil sie 
damit eben schon von vornherein fiir alio Fiiile dieser gai- 
tungsmiiBigen Art gilt. 
Da6 eine festgestellte Beziehung nicM eine singuliire. 
sondern eine geuerelle ist. nnd daB sie zwischen bestimmten 
Frsdieinungsgattungen hesteht, wird demnach erwiesen (lurch 
cine erneuerte Untersuchung derselben daraufhin. was an deu 
Beziehungsgliedern des besonderen Falles noeh variabel und 
was daran invariabel 1st. Die spezifische Beschaffenheifc des 
Wasserstoffs und Sauerstofl's ist. fiir das einfache Volumver- 
haltnis bei der Verbindung nicht erforderlich, denn es kann 
audi die anderer Gase sein. Die Eigenart. welche in den ver- 
schiedenartigeu Fallen, in denen das Yolumverhattnis ex- 
perimentell gepriift worden ist. allein unabanderlieh und un- 
aussdialtbar iibrig bleibt, ist bloB der gasformige Aggregat- 
zustand: daher bestelit das einfache Yolumverhaltnis liberal!. 
wo diese generelle Eigenart gegeben ist, es gilt fiir alle 
Gase allgemein. Dureh die ilethode der Vergleiehung bei 
Variation werden dio Gatitungen von Erscheinungen endgiiltig 
festgestellt. zwischen denen eine aufgefundene Beziehung be- 
steht. Dureh die Aufstellung als Beziehung zwischen diesen 
G a 1 1 u n g e n erba.lt sie ihre Allgemeinheit. In der 
Ermittlung von Gat t ring en als Beziehungsgliedern dureh 
die Methode der Festsitellung des Invariablen auf Grund ein- 
16* 
244 V. Krai t. 
deutiger Falle liegt die Begrtindung t'tir die induktive Vera 11- 
gem eine rung. 
Diese Ermittlung von Oattungen durch Vergleiclmng 
verschiedenartiger Falle einer und derselben Beziehung setzt 
aber wieder eines voraus: daB die verglichenen Falle Repri- 
sentanten der typischen Verschiedenheiteii in den Fallen der 
betreffenden Beziehung sind. daB sie den Umkreis der Ver- 
schiedenheit. welche deren Falle aufweisen, beispielsmafiig er- 
schopfen, denn soust konnen ja die verglichenen Falle, wenn 
sie zu nahe beieinander liegen. eine false-he, mindestens aber 
cine zu enge GaUung vortauscheu. Oolite der Gattungs- 
eharakter fiir alle Glieder einer induktiven Beziehung 
erst ad hoc erwiesen werden, so ware die Induktion iiber- 
h;iupt nieht zu leisten: denn es fehlte dann die logische 
Basis fiir die Verallgemeinerung. Diese ist logisch nur zu 
erreiehen. wenn es zum allergroBten Teil oder ganzlich dabei 
sidi um schon bekannte Gattungen handelt, die fiir die 
betreft'enile Beziehung in Betracht koinmen. Denn dann allein 
iibersieht man bereits die mogliche Verschiedenheit der kon- 
kreten Falle. Han keimt damit die Bunkte. die zu prufen sind. 
wenn die vermutete Gattung vorliegen soil, und man erhalt 
damit einen Leitfaden fiir die Auswahl der verschiedenen 
Falle. auf die sieh eine stichhaltige Vergleichung zu griinden 
hat. Wenn die Beziehung zwischen Keimtotung durch Erhitzen 
und Sterilitat fiir die ganze Gattung der Garungserscheinun- 
gen (nicht bloB fiir Hefewasser) erwiesen werden soil, so sind 
die Arten dieser Gattung: alkoholische. Milchsaure-. Harn- 
stoff- . ? . Gaxung, wohlbekannt und damit audi die vcr- 
schiedenartigen Einzelfalle bestimmt. fiir welche diese Be- 
ziehung zu prufen ist, wenn sie fiir diese gauze Gattung gelt en 
soil. Und wenn die Beziehung zwischen LoBbildung und ab- 
fluBloser Steppe fiir die gauze Gattung .Lb'fi' (und nicht bio IS 
fur den ehinesischeu Lb'B) zu erweisen ist. so sind uns zahl- 
reiche andere Falle von Lb'Bvorkommen sehon bekannt und 
damit die Punkte gegeben. an denen man diese Beziehung 
ebenfalls nachzuweisen hat. um iiber den bloB individuelleu 
Oharakter des Entdeckungsfalles hinauszukommen. Daraus. 
daB die Gattung als solche schon bekannt ist. ergibt aich fiir 
die Induktion Hanns hinwieder eine bemevkenswerte Ein- 
Die Gruudfomieii der w isseu st ha ft lichen JTethodeu. 245 
sdiriinkung. Aus dem rmfaug der Gattungen: Luftdruck- 
Maxima und -Minima ersieht man eiiien gvoBen Bereidi von 
Fallen, in denen Hanns Feststellungen an europaischen Maxima 
und Minima nidit zutreffen. und man muB infolge dessen eine 
neue Gattung sta>tuieven: man untevscheidet innerhalb dev 
allgemeinen Gattungen der Maxima und Minima zwischen 
solclien t h o rra i s c h e n und d y n am i s c h e n (■haraktei>. 
fS. z. Allg. aueli spat. S. 241) f.) Man sieht nur damit nuch 
schan, wie sieh die lnduktion g'anz aid das bereits vorhandene 
Wissen. also auf ein ganzes System von Vovaussctzungen. 
stiitzen mufi. 
5. Der SchlaBfolgernngscharakter. 
Die Kadnvei.sung aller der Gelmng'serfordernisse einev 
lnduktion: so wo Id der Eindeutigkeit der zugrunde geleg"ten 
Falle, als audi des generellen Charakters der Beziehung's- 
giieder, geht auf dem gewohnlicheu Weg der SehluBfol- 
gevung vov sieh. Es gibt dafiir keine andersartige Gel- 
tungsbegrlindnng. keine sp ezif i s c h e logisehe Legitimation 
7A\r Verallgemeiuerung von Einzel-tatsaclien aus. Das lnduk- 
tion sverf a liven ist nidvts anderes als eine Kombination von 
SdiluBfolgerungeii — wie jede mitt el bare Begvunduug — 
und nur als soldie etwas Eigenartiges. 
Der experimentelle und ebenso dev statisdsdie Tat- 
saelienbefund ist, wenn daraus ein Gesetz induziert wird. in 
einen F olge vu ngszusam m en h ang eingebettet. Das 
Experiment gewinnt seine Eindeutigkeit nur daraus, daB da- 
bei bestimmte theore.tisch gefovderte Bedingungen erfiillt sind: 
es setzt also Deduktion voraus. I'nd au* dem experimeiitelleu 
Tatbestand niiifl das generelle Gesetz erst e use lilo a sen 
werden. Ebenso muB die Konstanz dev Bedingungen des sta.ti- 
stisdien Befundes iiber ihn hinaus evst nodi erschlossen 
werden; es scldieB.t sieh also Deduktion an. 
Ein kurzer Cbevblick iiber den Gedankengang von 
Pasteuvs Untorsucbungen wird diese Art des Gelfun^snuf- 
baues nodimals klav erkennen lasseu. Sic sind deshalb so 
bemevkeuswert, we'd es gevade die eigemtlidie Leistung Pa- 
steuvs war. unzweifelhafte Beweise in der Frag'e der Ilr- 
zeugung lieizubringen. Denn bis dahin Iagen schon eine Menge 
246 V. Kraft. 
von Versuchen vor. welche die Bedingungen der Entstehung 
von Mikroorganismen aitfzuhellen versuchten. Schwann 
lia.tte. ini Anschlufi an die Versuche von Spallanzani mid 
Appert. bereits fiir die Fiiulnis (von Fleisclibriihe) zwing'end 
ua.chg'ewiesen. daft sie an .ein in der gewohnlichen Luft ent- 
hattenes und dnreli Wiirme zerstorbares Prinzip' gebunden 
ist. Schultze hatte experimentell gezeigt. daR dieses .Prinzip 1 
in der Luft audi dureh ehenrischc Einwirkung (von konzen- 
ti'ierter Kali- und konzentriert-er Schwefelsiiure) verniehtet 
wird. und Schroeder und Dusch. da£J es auch bei Filtrieren dev 
Luft dureh Baumwolle unwirksam wird. Damit war es wold 
sehr wahrscheinlieh gemacht. daB die Ursa eh e der Fiiulnis 
organischc Keime sind. aber noch keineswegs bewiesen. Und 
zweitens war die Abiiiuigigkeit von einem .Prinzip' in der 
Luft uur fur die Fiiulnis erwiesen. fiir die alkoholisehe Giirung 
hingegen batten die Experimente Schwanns zu wider- 
spree h e n d e n Ergebnissen gefiihi't: nach Erhitzen von 
Fliissigkeit und Luft war. die Oil rung manchmal eingetreten. 
niauchmal ausgeblieben. Auch nach Filtrieren der Luft iiber 
den gekoehten Substauzen waren wohl Bierwurze und Fleiscli- 
briihe mit Wasser unverandert geblielien, Fleiseh ohne Wasser 
und Milch hingegen geroimen und verfault. AuBerdem batten 
aber auch die Versuche fast i miner, und zwar fiir a lie Sub- 
stauzen. k e i n e Sterilitiit ergeben. wenn man sie in der Queck- 
silberwanne angestellt hatte. Die Tatsachengrundtagen waren 
also sehr verworren und mehrdeutig. Es kam daher in erster 
Linie darauf an, unzweideutige Versuche anzu&tellen — wie 
es auch die franzosisehe Akademie in ihrem Preisausschreiben 
von 18G0 verlangt hatte. Unzweideutig sind solche. welch e 
in alien ihrcn Bezielmngen. hinsichtlicli der mitwirkenden 
und der ausgeschlossenen Umstande. der Fehlerquellen und 
der Voraussetzuugen. klar sind und deshalb eindeutige Fol- 
gerungen aus ilmen crmoglichen. Ob dies der Fall ist. hiingt 
somit von dem Zu sammen ha ng der experimentellen Tat- 
sacheu mit an der en Sachverhalten ab. Man sieht schon 
daraus. wie die Beweiskraft von Versuchen davon abhangt. 
da6 diese a Is Glieder in einen allgemeinen Gedankengang ein- 
gefiigt sind. An und fiir sich .sind die experimentellen Fest- 
stellunjren nichtssacende historische Einzeltatsaehen: erst 
Die Grundtonnen clcr wis sen sella ft lichen Methodeii. 247' 
duvch die Folgeruiigen. die man. miter Zugrundelegung be- 
st immter Yoraussetzungen. aus ihnen ziehen kann. erhalton 
sie Hire Bedeutung und Beweiskraft. 
Was Pasteur den Ergebnissen seiner Yorganger nun hin- 
xugefiigt hat. war 1. der positive Xaehweis da fur. da 6 das 
.Prinzip' in der Luft, das durch Erhitzen usw. unwirksam 
wird. org'anische Keime sind. und 2. die Aufklarung der wider- 
sprechenden Yersuchsergebnisse in Bezug auf die alkoholiselie 
Garung und das Gerinnen der Milch und die Faulnis von 
Fleisch, Den ersten Naehweis hat Pasteur teils durch direkte 
experimentelle Feststelluugen, teils durch Schliisse aus solchen 
geliefert, welche ergaben. daB in der Luft .organisierte Korper- 
chen' in hinreiehender Zalil vorhanden sind. urn iibera.il, wo 
Garung eintritt. die Entstehung von Organismen zu erklaren. 
und daB diese -Entstehung gerade mit deiu nachweisbaien 
Vorhanden sein von solchen Korperchen kovariiert: wo sie 
vorhanden sind (mit dom Staub der Luft). dort entstehen, 
aueh in sterilisierten Fliissigkeiten. Organismen (und Ga- 
lling); wo sie fehlen (durch das Experiment oder von Xatur 
aus). dort entstehen keine Organismen (mid wo sie sehr 
wenige sind. dort entstehen audi nur selten Organismen). 
Mit einer bewundernswerten Klarheit und Genauigkeit leg't 
Pasteur selbst das Gefiig*e seines Gedankenganges dar 1,l: 
(S. 41): ,1m Angesichte soldier Ergebnisse . . . betrachte ich 
es als maithematisch strenge bewiesen. daB alle organisierten 
Gebilde. welche bei gewohnlicher Luft in zucker- und eiweiB- 
haltigem Wasser entstehen, nachdem es vorher g'ekocht war- 
den war. ihren Ursprung von den in der Luft suspendierten 
festen Teilchen ableiten. 4 Von den festen Teildien. wuhlge- 
merkt. nicht von Keihien! Pasteur will nieht mehr aussagen, 
als tatsachlich feststeht. DaB Keime die OrganismenbikUuig 
verursacht haben, ist nicht mehr die reine Tatsache. sondeni 
erst ein SchluB daraus. Dieser beruliit auf den beiden folgenden 
experimentell festgestellten Tatsachen: 1. Im Sfcaub der Luft 
sind organisierte Korperchen vorhanden. welche den Keimeii 
der .Organismen aus den Aufgitssen' vollig gleichen. 2. Aus 
deni Staub der Luft entstehen in siterilisierten Fliissigkeiten 
unter AusschluB jeder anderen Ursache genau dieselben Or- 
ganismen wie sonst an der freien Luft (S. 01). Daraus lilBt 
248 V. Kraft. 
sich schliefien. daB die Organismeu entweder aus den 
a morphea Teilchen ini tkaub dev Luft (vou Kalk, Kiesel, 
Rufi, Starkemehl, AYollfaserchen usw.) oder aus den urgani- 
sier.ten Teilchen darin oder aber aus beiden zusammen ent- 
standen sind; da nacli unserer allgemeiuen Kenntuis von bio- 
logisdien Vorgiuigen aber aus solehen amorphen Teilcheu 
sonst nie Organism*;] 1 enUtehen, lMBt sich welter schlieBen. 
dafi die organisierten Korperchen wirkliclie Keime sind. 
Diesen Oharakter der SchluBfolgerung bringt audi Pasteur 
Milbst zum Ausdruck, indem er das Ergebnis: die Entscbeidung 
iiber die Lehre von der Urzeugung auf Grund seiner Experi- 
mente, ausdrucklid) in ein .Raisonnement' verlegt. das sich 
an diese knupft (S. til). 
Es sind also experimentelle Tatsaehen (wie die, daft 
nach Erhitzen unter AbschluB nie Organ ismen entstanden 
sind), Schlusse aus solchen (wie der, d u 15 die organisienten 
Korperchen im Luftstaub Keime sind) und Voraussetzungeu 
da fur (wie die, dafi durch Erhitzen Keime getotet werden), 
durch deren Ineinandergreifen. d. h. dadureh, daB sie unter- 
einander log'isch in Beziehung gesetzt werden. der induktive 
Beweis eiues allgemeiuen Satzes (wie der. dafi die Garungs- 
organismen nur aus Keimen. liichit durch Urzeugung' ent- 
stehen) sich aufbaut. Die Geltung eines Induktionsergeb- 
nisses beruht also auf SchluBfolgerungen, in welch e Tatea-dien- 
Fes-tstelluugen als wesentliehe Glieder eiugefiigt sind. 
Aber audi das einzelne Experiment selbst weist schon 
eiuen solchen Geltungsaut'bau aus Tat sac lien, Schlussen und 
Voraussetzungen auf. Die experimentelle Feststellung der 
Tatsaehe, dafi in der Luft Staub vorhanden ist. der aus orga- 
nisierten Teilchen besieht, geht ja niclit -'in einer Anschaumig, 
einem unmittelbaren ' Gegebenwerden, sondern ebenfalls in 
einem zusammengesetzten, diskursiven Prozefi vor sich. In 
einem App:irat von Roliren uiul Schlauchen s-teckt an einer 
Stelle ein Baumwollpfropfen, an einer anderen (befit Wasser 
durch; mit der Zeit wird der Baumwollpfropfen schmutzig; 
wenn man inn in ein Gemisch von Ather und Alkohol gibt, 
lost er slcli auf und am Bodeti setzt sich ein Niedcrsehlag ab; 
wenn man diesen troeknet und unter ein Mikroskop bringt, so 
sieht man verschieden get'ormte Korperchen. Das unischreibt 
Die Grundformen der wissenschttftliehen Methoden. 249 
imgefahr den Tatbestand an Wahrnehmungen, der dabei zn- 
grunde liegt. DaB in dem Apparat Lnft durchgesogen wird 
und daft dabei deren Stanb dnreh die Baumwolle zuriick- 
gelialten wird, daB der Bodensatz im Ather-Alkohol eben 
dieser Stauh der Lnft ist und daB die Bitder im Mikroskop die 
Mikrostruktur eben dieses S.tanbes darstellen — also die 
Identiiizierung des Stanbes immer wieder, da.s erseliliefieii 
wir auf Grund unserer Kenntnis physikalischer und ehemi- 
scher Vorgange und der absichtlichen Anordnnng der Appa- 
rate. (Vgl. dazu auch r ' s 8. Kap.j Audi die experiraentelln 
Feststellung der Tatsachen beruht also schon auf einem 
logischen Jneinandergreifen von Wahrnehmungen, Sehliissen 
und Vontussetzungeu. Aber audi die Waliruehmung liefie sick 
uoch welter auf i h re Voraussetzungen analysieren. 
Mit all dem wird es zur Geniige klar geworden sein. 
daB die Induktion nicht auf einer spezifisehen Weise 
der Verallgemein er ung" aus einzelnen Fallen, auf 
einer eigenen Art der Geltungsbegrundung beruht, sondern anf 
gewohnlicher SchluBfolgerung aus einzelnen Tatsachen und 
allgemeinen Voraussetzungen. Wegen der Eindeutigkeit der 
S c h 1 u fig r und 1 a gen fur diese Folgerungen wird die Ein- 
deutigkeit- der Ta tea c lien gefordert. 
6. Die Geltungsart der Induktion. 
Wenn man die Induktion als SchluBprozesse aufbaut. 
so mag es wohl zutreffen, daB dann der groBere. ja vielleieln 
der grb'Bte Teil nnserer Induktion nnvollstandig und darum 
unzulanglich begriindet ist, weil oft niclit alle Glieder fiir eine 
syllogisitiseh geschlossenc Ableitung zur Verfugungstehen oder 
ge si chert sind. Wollte man mm deslndb behaupten, daB diese 
Induktionen trotzdem doeli ebenso tests telien, und dies auf 
cine spezilische induktive oder intuitive Verallgemeinerungs- 
weise zuruekfuhren — wozu die irrationalistische Stromung 
nnserer Zeit wohl geneigt ware ■ — , so wiirde man durch die 
Wissenschaftsgeschicbte bald eines Besseren belehrt. Eine Ver- 
allgeineinenmg, die sich nicht vollstiindig erweisen lafit. kann 
nie die voile Sicherheit der GeMung beanspruchen; sie triigt 
immer die Moglichkeit des Irrtums in sich. Und die zahlreichen 
Falle spaterer Berichtigung oder YViderlegung beweisen es. 
250 V. Kraft. 
Eine bloB intuitive Yerallgemeinerimg* — d;is ist cler p s y c h o- 
logische Vorgung bei cler Induktion. so wircl woiil immer 
{ a t.sa clil i c h die induktive Einsicht. gewonnen; aber ihre 
G el tn ng kann nic so begriindet werden. Eine Yerallge- 
meinerimg mag noeh so einleuchtend erscheinen — weim sie 
nicht (lurch einen liickeulosen Beweis gestiitzt wird. kann 
man sie erkeuntnistheoretisch nie als gewili erachten. 
In alien den Fallen, wo sich ein Gpsetz nicht in stren- 
ger SchluBfolgerung aus Tatsachen und schon bekannten Ge- 
setzeu ableiten laBt. wo es also nicht nur fiber das tatsachlich 
Feststellbare. sondern auch iiber das logiseh Erweislia re hin- 
ausgeht. kann es nur als eine A una lime uul'gesteilt werden. 
deren Geltung sich darauf griinden muB. daB Folgerungen a us 
ihrer Zugnnidelegung durch neue Erfahrungstatsachen bests - 
tigt werden. Eine solche GesetzmitBigkeit kann dann nur als 
eine wahrscheinliche Hypothese gelten. nicht als induktiv 
bewiesen und da rum gewiB. Es 1st dieselbe Geltungsart wie 
bei einer angewandten Theorie, die sich aber durch den Cha- 
rakter eines deduktiven Systems und den ideellen (abstrak- 
tiven) Charakter ihrer Element e davon unterscheidet. Aller- 
dings kann auch dem induzierteu Gesetz miituuter sugar ein 
idealer Charakter zukoinmen (wie z. B. dem Yolumgesetz, 
das fur absolut reine Gase gilt), wenn in ihm einfache 
Abhaugigkeitskoinponenten konstruktiv isoliert sind. Ost- 
wald 144 (S. oo) erklart sogar: ,Ein sehr grnGer Teil der Naitur- 
gesetze. insbesondere alle q ua n t i ta t i v en Gesetze, d. h. 
solche. welehe eine Beziehung zwischen meBbaren Wert en 
ausdrticken, haben nur fur den Idealfall genaue Goltung." 
Besonders hat aber Duhem 58 (8. Kap.) die idealen Jlomente 
auch im experimentellen Verfahren hervorgehoben (vgl. dazu 
auch -\ 4. Kap.. IV. besonders S. 100, 101). Es zeigt sich 
daunt ein bemerkenswerter L'bergang zwischen Induktion und 
Theorie. Han kann solche hypothetische Gesetze, als die Vor- 
stufeu einer Theorie hetrachten. Es ist lediglich diese Art 
der VerallgemeinerLing. welehe in der Indukt ions theorie ge- 
wohnlich (von Jevons. Sigwart u. a.) in Betractot gezogen 
wild. 
Es hat aber auch mit dor GewiBheit der streng logisch 
erweisbaren Induktion (wie v.. B. der Pasteurs) ihre eigene 
]Jlu (JruiLdioj'ineii der wis&eti.seluiftliciieii Metiioden. *s5J 
Bewandtnis.. Sie besteht nur innerhalb eines bestimmten 
Systems von Erkenntnisscm sic Lst also selbst nur eine hypo- 
thetisehe. cleim alio Induction setzt sehon allgemeine Siltze 
voraus. Oline solehe kaim sie keine Yerallg'emeinerungen auf 
Gi'iuid von eiuzelnen Tat'saehen logisch reehtfertigen, denn 
Sehliisse erfordern allgemeine Obcrsiitze. Es sind allgemeine 
Siltze iiber Gattungen mid Gesetze nnd Prinzipien. Die in den 
Imluktionen unmittelbar vorausgeselzten Gesetzc nnd Gattun- 
gen fit Ben wilder ihrerseits auf .cinfachereir Gesetzen und Gat-* 
tungen. Zuleizt fiihreji sie anf die nlltagliohen BegrifYe (?.. B. 
Staub, gelb. murb) zuriiek. Infolgedesseti muB die induktive 
Wisseusehaft — ganz anders wie die Theorie — unvermeidlieh. 
ob sic will oder nielit, zn cinem- Teil immer nooh mit den 
Begritf'en und Erfahrungen des Alltagslebens arbeiten: dessen 
ursprungliche Gat.timgx>n und primitiven Gesetze bilden fur 
sie letzte Fundamente. 
Als gesetzmaBige Yerkniipfungen von Beschaifenheiten. 
d. i. Erscheinungen. sind die vorausgcsetzten Gattungen und 
Gesetze aber selbst sehon Induktionen und in ihrer Allgemein- 
heit oder GesetzmaBigkeit niebt anders zu enveisen. Die All- 
gemeinheit der einfaehsten Yerkniipfungen (Zuordmmgen 
von Gesichts- und Tasterseheinungenj ruht auf gewissen 
allgemeinsten Grttndsatzen: der YViederkehr gleichartiger Er- 
M'heinungeu und der Konstanz der Erseheiuungsverhaltnisse. 
d. i. der Gleiehformigkeit des Gesehehens u. a. Das hat Mill 
dazu gei'tilirt, diese let z ten. allgemeuien Grandlagen als durch 
breiteste Ert'ahrung begriindet anzusehen. Und es ist auch 
zweifellos. da 15 die urspriingliehsten. primitivsten Induktionen 
auf dem st a ti s>tis chen Yerfahren beruheu miissen. we'd es 
die wenigsten Yoraussetzungen verlangit. Aber die Zahl der 
Erfahrungen kaun fur sicb allein doch nie ein hinreichendes 
Fundament der Allgemeinheit ergeben. Eine noeh so oft beob- 
aehtete Wiederkehr von Erseheinungen und Erseheiiiung's- 
lieziehuugen l>leibt doch innnei" nur eine vielfaehe Anzahl von 
Tatsaehen. sie verbiirgt uns noeh keine GesetzmaBigkeit. Das 
kann sie erst dann, wenn wir von vornberein eine allgemeine 
GesetzmaBigkeit annehmen und eine gl e i e h mai5ige Ver- 
teilung des Zufalligen in einer groBeu Zahl von Fallen, 
sonst konnten uns nicht die hi slier beobachteten Yerhalt- 
252 V. K r a £ t. 
iiisso zur SehluBgrundlage fiir alle anderen, noch utibekannteu 
dieuen. Dk 1 letzten Gvundlagvn der induktiven Allgemein- 
heit konnen also nidit Erfalmingen. sondern nur An- 
n a h m e n sein. 
Das kaim ja nach der ganzcn Saeldage prinzipiell gar 
niclit anders sein. Demi die Gesetzmafiigkeit. welche eine 
hiduktioii aut'stellt. wird als Beziehung" an speziellen 
Flilleu gefunden: sic wird dann iiber diese hi nans verallge- 
meinert. indein man erkennt. dafi sie niclit mit den speziellen 
Bedingungen der gegebenen Falle zusammenhangt, sondern 
etwas Allgemeineres darin darstellt. Dam it ist sie aber inimer 
etwas N e u e s. das man in den gegebeneu Fallen entdcckt. 
Dieses Xeite lafit sich nur dann in seiner Geltung logisch 
e r w e i s e n. d. h. d e d u z i e r c n, wenn es in weitergeiienden 
Satzen. als seine Tatsnehengnmdlagen sind. enthalten ist und 
sich dann eben daraus ableiten laBt. iSolche Satze lassen sich 
aber nur als Anuahme gewimien, denn als Tatsachen, erfahrung's- 
maflig gegeben sind der Induktion nur Beziehuugen in s p e- 
ziellen Fallen. Gerade die V e ra llgem e in e r ung iiber 
diese hinaus kann aus gegebeneu Tatsachen allein (ans reiner 
Erfa lining) niclit logisch abgeleitet. ersehlossen werden. Der 
log'iscbe Grund fur eine AbOei.tung derselben kann dalier, 
wenn nicht in absobit giiltigen synthetischen Satzen a priori, 
sei es ini iSinne Kauts oder des Intuitionismus. nur in An- 
na hm e n liegen, die erst hinterber durcli eine inimer breitcre 
Veriiikation eine inimer nur beding'te. widerruilichc. nie ab- 
solute Geltung eriialteu. Dieser Gertungscharakter kann nun 
der Induktion teds oi'fen mid unmittelbar zukommen. leils 
aber in die Deduktionsgrundlagen zuriickgcschoben sein. 
Infolgedessen rulit die Allgemeinheit aller Induktions- 
orgebnisse zulctzt auf prinzipiollen Aimahmen. die wir dem 
Erfalirungsaufbau zugrunde legen. Annalimen, die auf Grund 
der bisherigen Tatsachen-Feststellungen (Eriahruugen) so 
gewalilt sind, dafi sie eine rationale Konstruktion i.Anordnung) 
derselben ermoglichen. und die aucb durcli die neuen. d. i. 
bei ihrer Aufatellung -noch nicht beriicksichtigten Tatsachen 
bisher imnier bestatigt worden >ind. d. Ii. denen auch diese 
bisher immer logisch gcmaB wareu — sofern sie nicht als 
irrtiimlich aufg'eireben werden muBten. I'nser gauzes induk- 
Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden. 253 
tives Wissen ist im Gruude eigentlich ein Annahmeusystem. 
Nur die einzelnen Tatsachen stehen absolut test. Alles a 1 1- 
g em eine P>fahi'ungswissen besteht. g'enau g'enommen. nur 
in Annahmen, die sich gegenseitig stutzen und tragen und 
mil den Tatsachen in logischer Ubereinstimmung sitehen 
(durch die sie ,bestatigt ; werdeti). Weil die Grundlagen. von 
denen sich seine Allgemeinheit ableltet. nur Annahmen sind. 
darum kann es selbst aneh keine andere Geltung haben. 
W;w bedeutet aber eigentlich die Geltung als .Annahme - ^ 
Zunachst eine bedingt e Geltunng, namlich eine. die ab- 
hangig ist von der immer emeuten Bestiitigung durch jede 
neue Tatsache. die logisch zu ihr in Bezielumg steht. Sie be- 
deutet also eine vorlaulig'e, keine endgiiUige Behauptung. 
Sie steht nicht unabanderlich test, sondern die Mbglichkeit 
einer Korrek.tur laBt sich prinzipiell nicht ausschlieBen. 
Dalil hei&t: eine Aunahme ist tatsaehlleh eigentlich eiuerseits 
eine bogische Z u re c h 1 1 egu ng fur die Vergangenheit. 
richtiger fur die bekanuten Tatsachen. andrerseits eine 
Erwartung ftir die Zukunft, fiir die uubekannten Falle: 
aber niclit blofi eine psychologisch aufgenotigte. sondern eine 
begriindete Erwartung. eine logisch berechtigte. eine logisch 
konsequente, geforderte. 
Fnsere empirisehe Wirklichkeitserkenntnis ist logisehe 
Konstniktion der Tatsachen. Allgemeinheit darin heiBt, daB 
die logisehe Konstniktion der bisher bekannten. vorliegenden 
Tatsachen audi fiir die neuen. eben noch nicht vorliegenden 
Tatsachen gelten soil. Ob dies tatsachlich der Fall ist. daitir 
hat man von vornherein natiirlich keine GewiBheit ■ — ■ solange 
man eben die neuen Tatsachen niclit kennt. Man kann es nur 
er war ten. in logischer Konsequenz aus der Konstniktion 
der bisherigen Falle. Das ist der Sinn wissenscluiftlicher Vor- 
hersage — und induktiver Allgemeinheit iiberhaupt. 
Man wird dieses Ergebnis vielleicht dem Humes (und 
der sich ihni anschlieBendeu "Resignation Machs und Stohrs) 
bedenklich nahe finden. Induktive Gesetze sind. auf das 
Tatsaehliche darau betrachtet. so wie Hume es sab, nichts als 
relative Gleichformig'keiten in den Beziehung*en der tatsach- 
lich festgestellten Erscheinungen. Nur insoweit als sie in 
Tatsachen bestehen. konnen sie sicheres Wissen sein. 
254 V. Kraft. 
Gevade in Hirer A 1 1 g e m c i n h e i t konnen sie aber Tat- 
sachenkon'Staticrungcn nicht sein. In Hirer Allgemeinlicit 
miissen sie daher eine and ere Art der Geltung haben — 
nicht aber gar koine, wie Hume gefolgert hat. Induktive Go- 
setze sind nach der vorhin entwickelten Auffassung nicht 
u ii b e r c c h T. i g't e Yerallgemeinerungen des TatsaYhlicheii. 
bio 13 subjektive. nur psycholog'isch motivierte Phantasie- 
gebtlde. sondern sie haben Hire voile Geltung als notwen- 
dige F ol ge r ung s e r geb n i s se nnter besiimmleii V o r- 
a u ss e tz u nge n. Piese Yoraussetzungen sind. soweit sic 
allgemein and niclit Tatsachen sind. freilich nur Annahmcn. 
Aber es sind begriindete Aimahmen. die durch die Tat- 
sachen bestiitigt sind. mit den Tatsachen in rbereinstimmung, 
d. h. in emeiu logischen Yerliiiltnis stehen. Diesen Oharaktev 
oilier begriindeten Annahme. den d;um auch die Folgerungeu 
damns, tragen. bedeutet doch eine eigene Art von Geltung. 
In dem. was unter Geltung zu ver&tehen ist. liegt die 
eigentHehe Bil't'erenz gegemiber Hume — und amlererseils 
auch gegeniiber den Vertretern einer absoluten Geltung, 
wie es die NVukantianer sind. GeLtuug. soweit sir nicht ant' 
Tatsacheiikoiistatiemnir berulit. kann sieh nnr auf die >>'ot- 
wendigkcit gemitB der logischen BeziehungsgesetzmaBigkeit 
griindeu. Als Tatsaeiie gilt: In n-Fallen besteht eindeutig em 
Zusammcnhang zwjscheu a und b (z. B. Liifi und ^teppcn- 
gebiet) — e.r besteht tatsachlich in alien Fallen. Iafit sieh 
nicht behaupten, weil sieh das nicht f e s t s t e 1 1 o n lafit: son- 
dern was sieh behaupten \[\i\\. kann nichts sein als: ev in u ft in 
alien Fallen bestehen — ■ sofern uberhaupt eine GesetzmuBig- 
keit besteht: das lafit sieh erschli e Ben ans einem Vrinzip 
drr (iesetzmiUiigkeit und daraus. dafi der Zusainmenhang 
zwisehen a und h in n ta.tsjichlichen Fallen eindeutig fest- 
gestellt ist. Fur dip logische Konstruktion der Tatsachen 
logiseh gefordert. seiu - — ■ das ist der einzige Geltuug'sgrund 
fur etwa.s. das nicht als Tatsache kou&tatierbar ist. somit fin- 
das Allgemeine. In die.sem Sinn allein gelten auch die Er- 
kenntuLsprinzipien: als unentbehrlich fiir eine logische Kon- 
struktion der Tatsachen — und gilt auch das Mciste von dem, 
was wir .Tatsachen - zu neiinen. gewohnt sind. Detm Tat- 
sache im eigentlicben erkeuntni.stheoretischen Sinn ist nur da% 
])ie Grundforiueii der wissenseliai'lliclion Mctlioden, ZOO 
wa,s unmittelbar gewifi ist. nichl auch all das. was an Ein- 
zelnem erst a us solchem erschlossen wird. 
Alles allgemeine Wissen (von Wirklichein) hat nur die 
Oeltung von Annahmen. Dieser miBlichen Feststellung ware 
man mir dann iiberhoben, wenn es eino intuitive Erkennt- 
nis dessen g'iibe, imvieweit eine an einzelne Tatsachen fest- 
gest elite Beziehung eine gen ere lie ist; wenn man es nicht 
erst umstandlich erweisen mtiflte. sondern es aus den Fallen 
selbst unmittelbar e r s c h a u e n komite. mit voller Sicherhcit 
und Geltung, nicht bloB vermutungsweise. Es ware das eine 
andere Art von Intuition als das intuitive Erfassen des 
Allgemeinen. die .Ideation', bei Husserl. Denn diese bedeutet 
keine Feststellung in Bezug auf die Wirklichkeit, sondern voll- 
zieht sich rein im idealen Bereich. Eine .Induktions-Intuition' 
sozusagen wiirde hingegen ein Erschauen von Allgemeinheit 
in der Wirklichkeit sein miissen. Es ware das Ver- 
i'ahren. das wir fortwahrend iiben. wemi wir aui' Grund einiger 
Da-ten einen Zusammenhang, eine GesetzmiiBigkeit intuitiv 
erfassen — aber dieses tatsachliche Verfahren zu logischer 
Geltung erhohen. nicht bloB als ein vorlaufiges und beuri- 
stisches, sondern als ein logisch voll berechtigtes, sicher mid. 
vollgiiltig begriindendes. Die iiTationalistisch-intuitivistische 
Stromung unserer Zeit ware vielleicht rtazu bereit. Aber man 
kann bei diesem Verfahren die Moglichkeit. daB es sich auch 
so und so oftmal als falsch erweist, von vornherein nicht 
ausschliefien. Intuitionen triigen ja Uttsachlich oft gemig. 
Deshalb ware das eine GewiSheit, die — keine ist! Intuition, 
so sehr sie auch praktisch getibt wird und heuristisch hilfreich 
wird. kann logisch-erkenntnistheoretisch immer nur Vermu- 
tung sei, die erst veriziert werden muB, uni giiltig zu sein. 
Sie kann keine hinreichende selbst&ndige Geltungsgruncllage 
bilden. Damit hat diese erkenntnistheoretische Analyse der 
Induktion zugleich gepruft, inwieweit die empirische Erkennt- 
nis sich wirklich vollig rational aufbauen und erweisen lafit 
oder inwiefern sie etwa intuitive, aber rational unbegriindbare 
Einsicht ist. 
Der Oharakter bloBer Annahme ware unserem allge- 
meinen Wissen aber auch dann genommen, wenn es apriorische 
Erkenntnisprinziplen giibe. in dem Sinn, daB wenigstens die 
256 V. Kraft. 
obe retell Grundsittze der Erkenntnis unabhangig von der Er- 
fahrung gesichert waren, dnrch sie nicht zn erschiittern und 
nicht erst, zu bestatigen. und damit von vorn herein unwandel- 
bav fur alle Zeit feststunden. wenn ihnen eine unmittelbare 
GewiSheit. cine Evidenz zukame nach Art der Axionie im 
alten Sinn. Denn dann hatte man allgemeine Obersatzo von 
absoluter Geltung. anf die man die erst en Yerallgemeiuenmgen 
von Einzelerfahnmgen und damit alle weiteren gn'inden 
konnte. Damit wiirden also alle Induktionen prinzipiell — so- 
weit ein gesehlo.ssener Beweis fur sie moglicli ist — einer 
absoluten Geltung teilhaft. 
Aber ich liabe sebon friiher (S. 181 f.) ausgefuhrt. daB die 
Erkenntuisprinzipien kerne absolute Geltung fiir sich in An- 
spvueb nehmen konnen. Sie sind tatsaehlich — dais zeigt die 
Gcschiehte der Wissenschaften hinsiclitlich ihrer Grundbegrifr'e 
und Grundsatze unzweifelhaft — nicht imwandelbar. weil 
nicht von der Erfahrung unabhangig. Sie werden vielmehr 
gerade im Hinblick auf die Erfahrung gewahlt. so gewahlt. 
dafi diese durch sie in rationaler AVeise konstruierbar wird. 
onverKnderiich stehen nur die 1 ogi s c lien Gesetze fest. denen 
sie in der Erfahrung zur Dnreh-setzung verhelfen soil en. Die 
Erkenntnisprinzipien stellen nur die allgemeinsten Anna. li- 
me n dar, unter denen dies moglicli wird. 
Jedcr Kant Liner wird darum das vorausgehende Ergeb- 
nis beziiglicii der Induktion nur uatiirlich linden. Denn es 
ist ja fiir Kant ein grundsatzlicher Gedanke: , Erfahrung gibt 
niemals ihren Urteileu wahre oder strenge. sondern nur an- 
nalimewei.se oder komparative Allgemeinheit. 1 (Kr. d. r. V.-. 
Einl. II.) Strenge Allgemeinheit ist nur auf Gmnd von Er- 
kenntnis moglicli. die .nicht von der Erfahrung abgeleitet. 
>ondern sehlechterdings a priori giiltig is-t' (ib.)- Wenu aber 
mm die apriorischen Grundsatze der Erfahrung selbst wieder 
nur vermoge ihrer Ordnuug-s-. Rationalisierungs-Funktion fiir 
die Erfahrung. also vermoge ihrer indirekten Bestatigung 
dureh die Erfahrung gelten. und wenn es erne solebe Er- 
kenntnis. die fiir sich allein. unabhangig von der Erfahrung 
giiltig ware, uberhaupt nicht gibt. dann fehlt ebon damit ge- 
rade im Kantschen Sinn die Basis fiir die kategorische Be- 
hauptung einer real-gtiltigeu Allgemeinheit und es bleibt nur 
Pie Gruudformen rler wissenschnftJiehen Methoden. J57 
die Moglichkeit einer hypothetischeit. annahmeweisen Behaup- 
tung ubrig. 
Die Induktion stellt. ebenso wie die Theorie, Jediglich 
ein System vonSchlufifolgerung'en dar. Hier wie dort beruhtdie 
Fruchtbarkeit derselben auf der schopferischen. synthetischen 
Art dor Ansatze fiir die Deduktion. auf der Kombination in 
den Ausgangspunkten, wodurch das Neue (neue Beziehungen) 
eingefulirt wird. Induktion und Theorie unterscheiden sich 
dabei durch die Sitellung, welehe die Tats a c h e n ztir Deduk- 
tion einnelimen: als Gnmdlagen bei der Induktion. als Bestati- 
gung bei der Theorie. und durch den ideal en Charakter tier 
Grundannahmen einer Theorie gegeniiber dem von Wirk- 
li chkei tsaussagen, welchen die Ausgangssiitze, audi die 
allgemeinen. einer Induktion haben. Die Induktion ebenso wie 
die Theorie sind nichts anderes als 1 Wege und Weisen der 
rationalen Konstruktion des .tatsli chlich Gegebenen. Die Tat- 
sachen bilden die festcn Punkte dafiir; sie sind dasjenige. 
was allein unverriickbar feststeht. Alle allgemeinen Er- 
kenntnisse der Wirkliehkeit, induktive Gesetze wie Theorien. 
sind Konstruktionen auf dieser Basis, Konstruktionen von 
allgemeinen Yoraussetzungen, aus denen die Tatsachen sich 
logisch ableiten lassen. Darum konnen sie nichit absolut gel ten. 
sondern nur hypothetisch. Darauf, daB die allgemeinen Satze 
mit den Tad: sac lien nach logischer Gesetzmafiigkeit verknupft 
sind, beruht ihre reale Giiltigkeit, von den Satzen niederster 
bis zu denen hochster Allgemeinheit, den Erkenntnisprinzipien. 
Aber die Konstruktion des Allgemeinen wird durch die Tat- 
sachen nicht eindeu-tig bestimmt; sie ist prinzipiell, wenn 
auch faktisch keineswegs immer, in verschiedener Weise, ver- 
mittelst verschiedener Voraussetzungen. also in mehrfaehen 
Systemen moglich. Das ist der Gruud dafiir, daB allge- 
meine Erfahningserkenntnis prinzipiell nicht endgukig, son- 
dern wandelbar ist. 
Aber trotzdem ist die Konstruktion des Allgemeinen 
doch niclit vdllig willkiirlich und rein konventionell, wie 
Dingier 88 Sf> es darstellt, denn sie la fit sich nicht in beliebiger 
Weise, mit l>eliebig*en Grundannahmen innerhalb der Tatsachen 
durchfiiliren. Die Grundannahmen mussen geeignet gewahlt 
werden, sonst leisten sie die Kationalisierung der Tatsachen 
Sitzungsber. i. phil.-hist. Kl. 203. Bd. 3. Abb. 17 
258 V. K raft. 
niclit; diese enveisen sich dann als ihnen nicht gemaB. Und 
wenn man dies durcli die Einfiihnmg neuer Annahmen herbei- 
iuhren will, so wird das sofort durch die Forderung der Ein- 
fachheit der Konstruktion beschrankt. Dieses Prinzip ist 
keineswegs blolS ein formales. technisehes. sondern ebenfalls 
eine Grundannahrae: daft allgemeine Annahmen, welche sich 
nicht direkt auf" Tatsachen beziehen und so verifizierbar 
sind, sondern nui- fur eine bestiramte Konstniktion als Hilfs- 
annalimen eingefiihrt werden, solange sie nicht durch inehr- 
faehe, verschiedenartige Tatsachengebiete gefordert werden, 
nicht als allgemeine Ta t s a c h e n - Beziehungen. niclit als 
Hypothesen, sondern mir als gedankliche Fiktionen gelt en 
konuen. 
IV. Die Methoden der Individual-wissenschaften. 
Mit der Theorie und der Induktion sind die Methoden 
der g e n e r a 1 i s i e r e n d e n Wissenschaften analysiert, 
jener Wissenschaften. deren Erkenntnisziel das Allgemeine 
hildet. Es fragt sich nun. wie sich dazu die Methoden der 
individualisiere n d e n Wissenschaften verhalten, jener, 
deren Erkenntnisziel im Individuellen liegt, und ob auch fiir 
sie die Auflosung der Methoden auisschlieBlich in Operationen 
der formalen Logik gilt, wie sie sich friiher ergeben. hat. 
Es handelt sich dabei um raumlich oder zeitlich indivi- 
diuilisierte Objekte, Zustande oder Vorgange, und die ent- 
sprechenden Wissenschaften sind die geographische Lander- 
kunde und die beschreibende Astronomie einerseits und an- 
dererseits alle die Arten von Geschichtswissensehaft (poli- 
tische. Wirtschafts-. Kechts-. Literatur-. Kunst- . . . Geschichte 
und Erd-Geschichte als historische Geologie und Palao-Geo- 
graphie 118 ). Als individualisiei'ende Wissenschaften haben sic 
prinzipiell die beiden Aufgaben vor sich: 1. direkte Fest- 
stellung von Einzelta<tsaehen (z. B. Erdoberflachengestaltun- 
gen, Gesteinsproben. Handsclmften etc.) — zu dem Zweck 
werden die Forschungsreisen unternommen. Ausgrabungen 
veranstaltet, Handschriften gesammelt nsw.; 2. die Ermitt- 
limg von nicht direkt feststellbaren Einzeltatsacheii auf 
Grund der unmktelbar vorliegenden, z. B. der chemischen Be- 
Die GruiuUonneii der wisseiiscliuftlicheu Methodeu. 2o9 
schai'f'enheit von Himmelskorpern auf Gnu id von Spektren. 
des Gesteins des Hinteiiandes uus einem FluSgeschiebe. 
f'riiherer Wasser- und Landvertei'lung auf fhimd von Fossi- 
lien, historischer Yorgange auf Grnnd von Handsehriften. In- 
■M'hriften und Denkmalern. 
1. Die indaktive Generalisierung. 
Die direkte Fesitstellung der Tatsachen geht inuucr 
(lurch Wahrnehniung vor sich ((lurch Wahrnehniung von 
Lnndschaften. beschriebenem Pergament, Gemalden. Knochen 
and Geraten, Tonscherben zwischen iluschelresteu usw.). 
denn Wahrnehniung gibt allein die unmittelbare Gewifiheit 
der TatisachlichkeiT. Aber was gewohnlieh noch unmittelbare 
Ta>tsachenfeststelluiig gcnanut wird. das geld 'niebt duivh 
Wahrnehniung allein vor sich. sondern das bedeutet sdion 
eine Ei n ord n ung* des Wahrg'enommenen in einen bereits 
vorhandeneii ErkeiiiitiusziisammeuhaLig" erst dadurdi wird es 
eine wi ssensch a f t li e h e Beobachtung. Das gilt solum 
l'iir alle (Temperatur- etc.) ilessungen; ferner fur die .'Beob- 
achtung 1 von Pflanzen. Tieren. Ge-stein. Yersteinmnigen be- 
stimmter Art in einer (legend usw. Alle Best immung 
beruht ja auf Einordnung von unimttelbaren Daten in einen 
begrifflidien Zusammenhang. Ein s-olcher setzt imnier gewisse 
Grundbegriffe und Grundsittze. Grundgesiditspunkte der <>rd- 
ming und Beziehung (als Gruiidaniiahnieii) voraus. Aber dar- 
auf soil jetzt nichl. weiter eingegangen werden: das am kon- 
kreten Material der Wissensdiaft darzulegen, ware eine eigene 
Aufgabe — die einer methodise hen E mi lulling der Grund- 
begriffe f.Kategorien') und Grundsatze. welrlie fur den Erhih- 
rungsaiifljau — derzeit — konstitutiv sind. 
Weil die wissenschaftliche Bestimmung einer wahrge- 
noninienen Tatoadie Einordnung' in den Erkenntniszusammen- 
haug bedeutet, darum taucht hier schon die Frage der Ricli- 
tigkeit oder Falschheit auf und cs setzt hierbei schon die 
methodische Arbeit der Individiuilwissenschaften ein. Da 
dieser Absdmitt hesonders in den Geschichtswissenschafteu 
einen breiten Raum einnimmt, soil sich die metliodologische 
Analyse vor a 11 em auf diese richten. 
260 v. Kraft. 
Die erste Aufgabe ist liier. wahrnehmungsmaBig vor- 
liegende Objekte als Cberreste einer friihereu Zeit, d. i. als 
rezente Wirkungen v.ergangener Ursachen. insbesondere 
menschlicher Tatigkeit. zu bestimmen; z. B. Fenersteinspliitter 
als palaolithische Artefakte, Papyrusfetzen als Reclmungen 
in demotischer Sehrii't und iigyptischer Sprache aus den 
ersten Jahrhunderten n. Ohr. Tn dera besouders wichtigen 
Fall einer Handsohrift odor Insebrift oder eines Druckwerkes 
besteht die erste Be'Stjmmung darin. das walirnehmungsgege- 
bene Bibl unter ein bestimmtes Korrelationssystem von Zeichen 
und Bezeiehnetem. das der Sehrift (z. B. Keilsdirift). zu sub- 
smnieren und dieses KorrekUionssystem auf ein zweites, das 
der Sprache (z. B. assyrisch oder aber hethitischl, zu beziehen. 
Darauf beruh.t die uber den direkt wahniehmbareu Tatbestand 
\ von Figuren auf einer Flache) so ungeheuer weit hinaus- 
gehende Bedentnng eines s-olcben Objektes: sein llitteilungs- 
gehalt; dadurch wird es zur hiatorischen .Quelle'. 
Diese beiden Korrelationssysiteme miissen g e g e b e n 
sein und die Sinndeutung ergibt sich dann durcli Subsump- 
tion unter deren bekannte Schemata und Regeln. Sind die 
KotTelatiunssysteme nU'ht schou bekanm. muft die Schrit't 
oder die Sp niche erst entziffert werden (wie z. B. vor 100 Jahren 
bei den iigyptisehen, jetzt bei den hethitiscben Denkmalern). so 
ist das kerne eigentliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft 
mehr. sondern eine der Sprachwissensehaften und audi keine 
Aufgabe einer i n d i v i d u a 1 i s i e r e n d e n Wissensehaft. 
Linguistik bat es mit Regelu. mit Generellem. nicht nut Indivi- 
duellem zu tun. 
So wird der Sinn von Schriftzeicheu (z. B. aueh Kiirzun- 
genj auf Grand der Paliiograpliie oder der Epigraphik erkannt, 
eigener, fast selbstiindiger Hilt'swissenschaften der Geschichte 
und der Philulogie. Sie enthaken die Lehre von dem emeu 
KoiTelationssysfrem. dem z wist' ben SchriHzeichen und Wort 
(d. i. Lantzeiehen) in seiner jeweiligen Geslaltung zu ver- 
schiedenen Zeiten und an versehiedene-u Orteti. Das andere 
Korrelat ions system, das zwischen Laut zeichen (Wort) und dem 
damit Gemeinten, gibt der jeweilige Sprachgebrauch. Daraus. 
wie er einer Zeit, einem ortlichen oder sozialen Kreis. einem 
Alitor eigeti ist. niufi der S'nm der sprachlicheu Ausdriicke er- 
Die Grundformen der wissensehaftlichen Methoden. 261 
k:innt werden. Das mit.telalterlicheLatein hat teilweise einean- 
dere Bedeiitiiiig wie das antike: beneficium lieifit nieht Wohl- 
tat, sondem Lehen, seu im 8. Jahrhundert nicht nur .odervson- 
dern audi .und'. 12 " Der Sprachgebrauch besteht, in der Ver- 
knupfung von Wort und Bedeutung, die in einem zeitlichen 
und Grtlichen Bereio.h allgemein iiblieh ist. Ebenso enthalt 
die Palaographie die Schriftformen, die in einem Bereicli 
iiblieh gewesen sind. Es komint also bei beiden aid gene- 
re 1 1 e Sachverhalte an. 
Dieser method ologische Charakter der Sinndeutung als 
einer Subsiim.pt ion von Einzelfallen unter allgemeinen Kegeln 
zeigt sich auch im einzelnen bei all den Aufgaben. wo es sich 
um die Herstellung ernes Shines handelt, um die philologische 
und zum Teil audi die historische .In terp re t at i on' einer 
Quelle. 
Genau so steht es mit der philologiseh-historischen 
Quelle nkr it i k. Ihre erste Aufgabe ist. die Bestimmung 
von Emtstehungszeit und -ort, von Alitor und Filiation ernes 
historischen, archaologischen. kunstgeschichtlichen . . . Denk- 
males oder einer schriftlichen Quelle, womit sich zugleieh die 
Fragie ihrer Echtheit oder Falschung entscheidet. Wie die 
Geschichtswissenschaft vorgeht. um diese Aufgaben zu losen. 
hat Bernheim in seineni bekannten ,Lehrbuch der historischen 
Methode' systematisc-h und eingehend und — was besonders 
wertvoll ist — - an der Hand zahlreicher Beispiele dargestellt. 
denen audi das t'olgende entnommen 1st. (3. u. 4. Aufl., S. 315. 
316). 
Die pseudo-isidorischen Dekr.eta.len. eine Sammlung 
papstlicher Dekretalbriefe von besonderem kirehenrechtlichen 
Inhalt. die um die Mifcte des 9. Jahrhunderts zuerst auftauchte 
und von Papst Nikola us I. (858 — 867) fur vollgultig erklar.t 
wurde. seit der Reformation aber in ihrer Echtheit bestritten 
wurde, sind nunmehr dureli methodise he Kritik in dem Um- 
faing ihrer Falschung genau umschrieben und nachgewiesen. 
Die Griinde dafiir liegen teils in der Form, teils im Inhalt von 
ungefahr 100 dieser Dekretalbriefe. Diese. obwohl angeblich 
von Papsten aus dem 1. bis 8. Jahrhundert geschrieben. 
zeigen doch alle denselben Stil, wahrend doch ,im Laufe 
jener Jahrhunderte die Schrejbart der Kurie sehr verschieden- 
262 V. K raft. 
artig' gewesen ist\ wie sich da.s an anderweitig - edialtenen. 
unzweifelhaft echten Schreiben cler betrefTenden Piipste zeigt. 
Es ist ein Stil. ,der von sta.rk.en grammatischen Ba.rbaris.men 
nieht frei ist'. wahrend die echten Briefe ein gutes, mituniev 
sogar ein elegantes Latein aufweisen. Ferner sind samtlieho 
Dekretalbriefe .fast Satz um Satz aus liber 80 verschiedenen 
Werken der Kirchenvater. des Kirchenrecbtes und anderer 
Eiteratur zusammengestoppek. Werken, die zum Teil erst ini 
1-). Jahrhundert enrstaiiden sind". wahrend die echten Papst- 
briefe iiberhaupt keine derartige Mosaikarbeit zeigen. Aneli 
in den formelha-ften Wendnngen (z. B. in der Titulierung der 
Piipste. in der Da tie rung) weiehen diese Dekrctalen von den 
echten ab. .Diese formal en II omen te beweisen am duroh- 
schlagendsten die Faischung: aber sie erfordern . . . audi sehr 
eindringende Kenntnis und sind daher erst in nenester Zeit 
nachgewiesen.' Wie in der Form, so widersprechen diese 
Dekretalen aber audi im In halt den sicher beglaubigten 
Tatsachen. Sie enthalten eine Kirchenverfassung von einer 
Organisation, wie sie in den betrettenden Jahrhunderten und 
besonders im Abendlande nooli keineswegs bestanden hat. 
Alle diese Briefe zeigen endlich. obwohl vorgeblich aus den 
verschiedensten Anlassen entstanden. doch eine einheitliche. 
scharf ausgepragte Tendenz: die Uiiabhangigkeit der Bischbfe 
von der weltlichen Macht und die Oberhoheit des Pap&tes. Aus 
alien diesen Momenten ergibl sich die Faischung und aus 
Hirer Cbereinstimniung mit den Verhaltnissen zur Zeit und ini 
Gebiet ihres ersten Aiiftauchens deren Entstehung im west- 
frankischen Klerus um die ilkte des 9. Jahrhunderts. 
Entstehungszeit und -ort. Verfaisser und Filiation einer 
sehriftlicheii Quelle lassen sich somit einerseits aus deni 
Iulia.lt. andererseits .aus formalen Eigensdiaften dieser Quelle 
erniitteln. Sol die Forma le Eigenschaften liegen in der Schrift 
ihres Originates fin der Form der Sehriftzeidien, Kurzungen 
usw.), in ihrer Sprache und ihrem Stil (in Wortt'onnen, dia- 
lekitisehen Eigentiimlichkeiten. in einer Prosa-Rhythniik wie 
in den papstlichen Urkunden seit Urban TL, in individuellen 
Wendungen usw.). in der Form Hires inhaltlichen Aus- 
druckes, wie sie vor allem bei Urkunden in 'stehenden Formeln 
und einem tradition ell en Aufbau vorliegt. Demi in jeder 
Die Grundformen der wissensehafiJiclien Methoden. 263 
solchen Hinsicht tnigt eine jerte Epoche. jeder Kreis. jede 
Personlichkeit ihr eigentiimliches Gepriige. AVenn man dieses 
kennt unci seine Jlerkmale an einer historisehen Quelle wieder- 
tiudet. wird diese dadureh Hirer Herkunft naeh bestitnmt. 
Und aus diesem allg em eine re u (Zeit-. Lokal-. Persou- 
lichkeite-) Oharakter heraus muB eine Quelle aueh inter- 
pret iert werden. 
Aueh die Herkunftsbestimmung auf Grund dps 1 n h a 1- 
tes ergibt sich zu einem groften Teil aus der Ubcreinstimmung 
oder dem Widerspruch (.Anachronismns') mit >a 11 gemei ue- 
rcn Verhaltnissen: mit den Einrichtungen (z. B. der TCircheu- 
verf assung) , den (politischen, kulturellen) ZusUinden einer 
Zeit, ernes Gebietes. dem gunzen geistigen Horizon! ehies 
An tons. Weil eine Quelle von dem sonst bekanuten Charakter 
der supponierten Zeit . . . abweicht, dagegen mit dem einer 
anderen Zeit. . . . ubereinstimint. wire! sie jener abgesprochen 
und (eventuell als Falsclmng) dieser zugewiesen. 
Die Bestimmuug der Herkunft einer Quelle beruht also in 
sol chen Fallen auf der Subsumption eines Einzelfall&s unter 
eine allgemeine Art; sie gebt im Prinzip so vor sich wie bei 
der Bestimmimg' eines botanischen oder geologischen Objektes. 
Sie erfordert daher dann die Kenntnis genereller Verliall- 
nisse. liber die einzelnen historic e hen Tatsaehen hinaus die 
Kenntnis desseu, was fur einen bestimmten zeitlichen und 
lokalen Bereich. fur eine bestimmte soziale Gruppe, eine be- 
stimmte Individualititt allgemein charakteristiscli ist. 
Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend und lehrreich. 
daB in der Geschicbtswi&senscha-ft nicht selten aueh das 
Individ uelle erst auf Grund der allgemeine n Art 
einer Zeit. einer Sc hi elite, einer Litteraturgattung , . .. dureli 
seinen Gegensatz dazu erkennbar wird. Urn z. B. aus einer 
Ubereinstimmung verschiedener zum Teil anonyiner Werke 
auf die Identitat des Verfassers schlieBen zu diirfen, mufi 
man. wie es schon Boeekh in seiner Enzyklopiiilie und Methodo- 
logie der philoLogischeu Wisseusetiaften ". 1880 ('§ 24). u. a. 
(audi Bernheim. a. a. (). S. 171, 172) betont haben. auf Grund 
einer genauen Kenntnis der betreffenden Zeit und ihrer Lftera- 
tur sich erst dariiber klar sein. was an der I'bereinstinimung 
auf die .generelle Eigenheit der ganzen Zeitansehaimng und 
264 V. Kraft. 
ihrer ijetrcffenden Literaturkreise' zuriiekgeht:. mid erst das 
Xielit-so-Zuruokfuhrbare kann als individuell gelten. Das ist 
ein — nicht bnmer beobaehtetes — 0-ebot notwendiger Vor- 
sielit. Demi man halt .namentlicli in der Literatur solcher 
Zeiten, in deuen die Ausdrucksweise wenig individualisiert ist, 
wie im Uittelal'tev. da sich die Literatur in einer fremden, 
schulmafiig angelernten Sprache beweg't, leicht fur Merkmale 
i n (11 v i d u e 11 e v t'berein^t immung, was nur Merkmale 
ge n erel le r Ubereinstimmvmg sind 1 ll ° (S. 309). 
Es setzen somit die <_Teschichtswissenschaften sowohl 
fiir die Interpretation als fiir die QueUenkritlk allgemeine 
Erkeniitiiisse varans. Das gent auch deutlieh :uis den Kriterien 
hervor. welche Bernheim liy (rf. 839, 340 u. 360) fiir die Er- 
kennbarkeit einer Falsehung und der Iierkunft einer Quelle 
aufstellt. Ebeuso. wenn Sickel 12X (S. 179) sagt: .Sowohl fiir 
das Verstandms als fiir die kritische Beurteilung [der Konigs- 
urkunden] ist die Vergleicbung des eiuzelnen LTrkiuidentextes 
mit dem der Formeln und der Diplome gleichen Inhalts von 
groBer Bedeutung. Nur durcli sie lafit sich feststellen, was in 
dem Wortlaute wesenliche Bestimmuiigen und was nur stili- 
stiselie Umschreibungen sind: nur durch sie lafit sich erkennen, 
was in den dureh knnigliche Trazepte geregellen Verhaltnissen 
7A\ bestimmter Zeit die a 1 1 g e in e i n e N o r m gewesen und was 
iiber diese luuaus verfiigt worden ist, endlich wie sich die 
allgemeine Xorm im Laut'e der Zeit und infolge der steten 
Fortbildung der Reclitsverhaltnisse und der ihnen Ausdruck 
gebenden Rechtsformeln forte utwickelt hat'. Diese allgemeinen 
Erkenntnisse kimnen sie aber vielfach nicht fertig und hin- 
reichend von anderswoher iibernehmen, sondern miissen sie im 
Laufe der interpretierenden und quellenkritischen t'uter- 
Michungeu selbst ad hoc gewmnen. Die Geschichtswissen- 
scliaften sind somit nicht ausschlieBlich auf das Einzelne, 
Individuelle gerichtet. sondern zum Teil auch auf geuerelle 
Eigenart. 
Das ist nicht eine Aufgabe. die etwa blofi ihren Hilfs- 
wissenschaften, Bala ograp hie, Urkundenlehre, Philologie, zu- 
komnit; sie wird viehnehr tiberall den Geschichtswissenschaf- 
ten selbst gestellt, wo sie es mit groBen, allgemeinen Zligen 
innerhalb der historischen Mannigfaltigkeit, mit etwas vielem 
Die Grunclformeu der wisseiischaft lichen Metliodeu. 26o 
Einzelneu Gemeinsamen zu tun hat. Das tritt mit be sonde re r 
Deutlichkeit hervor. wo es gilt, den Stil einer Epoche zu 
entwickeln, in der bildenden Kunst, in der Literatur. in der 
Musik. Und etwas ganz Analoges wie der Stil in der Kunst 
kommt audi auf anderen Gebieten in Frage. Auch in der 
Wirtschafts-, in der Sozialgeschichte, tiberhaupt in der KuHur- 
geschichtc handelt es sich groBenteils um den gen ere 11 en 
Oharakter der .tatsachlichen historischen Zustande. Man kann 
die individuelle Geschichte einzelner Stiidte (Venedig, Pisa . . .) 
in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, schreiben; man ver- 
sucht aber da ruber hinaus audi die Geschichte der italieni- 
schen, der deutschen Stadt tiberhaupt darzustellen (z. B. 122 
323 ). Es ist die einseitige Einstellung auf die herkommliche 
politische Geschichte mit ihren politischen Fiihrern und Herr- 
schern und deren individuellen Mac lit- und Besitzverhalt- 
nissen, welche die groBe und wesentliche Generalisierungs- 
aufgabe der Gesdiichtswissenschaften neben der Erforschung 
der individuellen Tatsachen und Kausalzusammenhange tiber- 
sehen las&en kann. 
Es bleibt dabei immer noch zutreffend, dafi auch die 
Entwicklung der mittelalterlichen Stadt oder die des Lehens- 
wesens oder die Entstehung des Fabriksbetriebes und die Bil- 
dung einer Arbeiterklasse ein einmaliger indlvidueller Prozefi 
gewesen ist, daft man damit dock iramer nur den Ereignisab- 
lauf einer bestimmten Epoche und eines bestimmten Gebieten 
in seiner eigentumlichen individuellen Gestaltung beschrieben 
hat. Der letzte, oberste Gesicht spunk t der Geschichtswissen- 
schaiten ist gewifi individualisierend. Aber das kann den 
generalisierden Charakter, den die Geschichtswissenschaften 
vielfach zeigen, nicht aufheben. Es ist an und fur sich noch 
nicht entscbeidend. Auch die Arten der OrganLsmen, Sauge- 
tiere und Saurier und Trilobiten . . ., konnen unter einem 
bohereu, einem geologisch-genetischen Gesichtspunkt als ein- 
malige, individuelle Gestaltungen des Organischen in ver- 
schiedenen Perioden betraehtet werden. Ob erne Wrssenschaft 
es mit Generellem oder Individuellem zu tun hat, entscheidet 
der methodologi sche Gesichtspunkt: Wenn sie genera- 
lisiert, wenn sie vom Einzelneu ausgeht und daran Gemein- 
sames, Cberindividuelles zu erkennen sucht. dann richtet sie 
266 V. Krai t. 
sich auf Generelles. Wciin sie das Einzelne und seine iudivi- 
duelle kausale Bedingtheit aufeucht, heschaftigt sie sich mit 
Individuellem. Damach kann es nicht zwcifelhaft seiu. daB 
auch die Geschicbtswisseiischafteii das Gen&re-lle z\i einem 
sekundaren Erkenntnisziel haben. unbeschadet Ifirer letzten 
Einstellung auf Iiidividuellos. Das hat schlie&lich aucb Rickert 
anerkannt V2i (?>. 51, 42. 43) und schon frtih'er Hettner 1Li 
(S. 259) kurz ausgesprochen. 
Was aber die Generalisierung' in den Geschichtswissen- 
schaften von der sonstigen. in den Natiinvissenschaiten z. B.. 
unterscheidet, 1st, daB es sich hier nur mn eine relative, be- 
grenzte. nicht um eine schrankenlose Allgemeinheit handelt. 
Die Gattungsbegriffsbildungen der Geschiehtswissenschaften 
beziehen sich immer nur auf eine bestimmte Zeitspanne und 
ein bestimnites riiumliches Gebiet 'Oder eine bestimmte Gruppe 
(die papstliche. kaiserliche Kanzlei!), nicht auf beliebige 
Falle. Sie gelten nur fur einen begrenzten Bereich. nicht unbe- 
dingt allgeinein. (Deshalb will sie auch Rickert 124 (S. 51. 52) 
als .individualisierende KollektivbegriiTe' von den Kollektiv- 
und Allgemeinbegriffen der generalisierenden Wissenschaften 
unterscheiden.) Dieser eigenartige Charakter tiht dann auch 
auf die Methode bistoriseher Generalisierung seinen EinfluB 
(s. spiiter 8. 270). 
Die M e t h o d e dieser generalisierenden Erkenutms 
wollen wir nun auf solchen Gebieten untersuchen, wo sie sich 
deutlicher auspragt. zunaehst auf dem der Urkundenlehre. 
In seinem fiir die Lehre von den Konigsurkunden grand- 
legenden Werk 121 hat Sickel ,fiir die Periode der ersten Karo- 
linger den Nachweis zu liefern gesucht. dafi in den Diplomen 
sowohl gauze Diktate als auch za-hlreiehe einzelne Satze. 
Wendungen und Ausdriicke auf ein bestimnites Formelwesen 
und einen feststehenden Sprachgebrauch der Reichskanzlei 
zuriickzufiihren sind. und [hat] die einzelnen Phasen dieses 
sich einheitlich entwiekelnden Formelwesenis zu unterscheiden 
und endlich darzustellen gesucht. in welcher Weise die Ur- 
kunden in den versehiedenen Zeiten den jeweiligen Diktaten 
nachgebildet word en sind' (S. 204). Als den Weg dazu gibt 
er selbst (S. 179) die .Methode der Vergleichung' an. Fast 
alle erhaltenen Konigsurkunden der Mero winger und Karo- 
Die Grundformen der wissenschaft lichen Aletlmcleii. 267 
linger sind von ihm einzeln imtersucht und niiteinander ver- 
glichen 12r ' und dadurcb in Bezug* auf ihre formelhafte Cber- 
einstimmung eingehend klargestellt worden. .Stellen wir die 
vorliegenden Diplome einer l'eriode nach Inhalt und Fassung 
zusammen. so erhalten wir zalilreiche Gruppen von mehr oder 
minder gleichlautenden Stricken' 121 (S. 125). Diese l''berein- 
stimmung erg'ibt einen gleichartigen formalen Aufbau ini all- 
gemeinen zu alien Zeiten (Invokation, Devotionsformel. 
Titel. Arenga usw.) und die Beniitzung traditioneller Formeln 
dabei — wie sie auch in eigenen Formelsammlungen iiber- 
liefert sind — . die nur innerbalb eines gewissen kleineren 
Zeitraumes dieselben sind, aber im Lauf der Zeit sich wandeln. 
DaB hier die generalisierende Aufgabe und die Methode der 
Vergleichung ganz in der gleicben Wcise wie in der Lingui- 
stik, die es ofTenkundig mit allgemeinen Regeln zu tun hat. 
vorliegt, zeigt sich deutlicli auch darin, daft bei Sickel der 
Nachweis der Urkundenformeln gleichartig neben dem der 
sprachlichen Wandlung des Vulgarlateins steht. der des Be- 
urkundungsgebrauches neben dera des Spractigebraudies. Die 
Methode der Generalisierung in der Frkundenlehre besteht 
also in einer Analyse einer Anzabl einzelner his tori sober Ob- 
jekte und in einer Vergleichung dieser Befunde mit den an- 
deren historisdien Einzeltatsadien eines bestimmten zeitliehen 
(und personlichen) Bereiches und in der Heraushebung des 
Gemeinsamen, Obereinstimmenden an i linen in der Bildung 
von Gatitung'sbegriffen. Diese zeigt sich schon aufierlidi in der 
Bildung besonderer Termini (Invokation, Arenga, Corroborate 
usw.). Ein streng methodisches Yerfahren miifite daher immer 
zu Definitionen fuhren. was auch nicht selten tatsiichlicb der 
Fall ist. ( Vgl. z. B. 12,i S. 6. 25 f .. G3.) Die V e r a 1 1 g e m e i n e- 
rung soldier Ergebnisse auch auf die restlichen. nicht direkt 
untersuchten Urkunden ergibt sich intolge dor Erfahrung 
von der inueren G 1 e i c h a r t i g k e i t des zugrtinde liegenden 
Materiales. (Vgl. spater S. 270.) 
Uiitersucheii wir nun das methodische Verfaliren in der 
Wirtschaitsgeschichte, wo es sich urn allgemeine Verhaltnisse. 
nicht urn ein individuelles Sohicksal handelt. z. B. an W. "VYit- 
tichs wichtigem Werk iiber die Grundherrschaft in Nordwest- 
deutsehland, 1896. das Knapps Arbeit en iiber die bauerlk'heii 
2b8 V. Kraft. 
Verhaltiiisise in Xorddeut-schland ausbaut. Wio sclion der 
Xitel .Die Gnmdherrschaft' eine Gattung als Objekt der 
Untersuchung bezeichnet. so koranit es durchwegs auf den 
gen e r el I en Charakter der landlichen Yerfassung an, wie 
yie in ganz Nordwestdeutschlaiid einheitlich herrschte (gegen- 
iiher ihrem ander*artigen generellen Charakter in ( >st>Elbien 
und wieder im siidlichen, siidwestlichen und rheinischen 
Deutsehiand (S. 401) und anf deren Entstehung im Znwammen- 
hang init der allgemeineu Institution der Grundherrschaft. 
Ebenso fulirt es im ehizelnen zur Klarstellung von .Bauern- 
klassen' (2. Abschn.): .lleier', ,Koter', .Brinks iizer' . . ., also 
(lattungsbegriffsbildung. Diese allgemeineu Ergebnisse griin- 
den sich nun. abgesehen von der Heranziehung friiherer Unter- 
suchungen .anderer, aid die Analyse und die Vergleiehung der 
Kechts- und Beskzverhaltnisse der Bauern- und Rittergiitev in 
einzelnen Kreisen von Xiedersachsen im 18. Jahrhundert. wie 
>ie aus Dokumenten (iiber die Verteilimg der Grundherrschaft 
in einzelnen Amtern. liber Meier- und Kothofe im Fursteutum 
'Jrubenhagen. iiber Gerichtsherrsdiaft und Dienstverfassung 
in einzelnen Amtern. iiber Beschaff'enheit und Bestaudteile 
einzelncv Tti-ttergllter) hervorgehen f.Anlngeir. S. 1* — 10"S*). 
Die ('bereinstimmung der landlichen Wrfassung in diesen 
speziellen Gebieten ergibt die bestimmte Art derselben, welche 
fiir ganz Nordwestdeutschhmd zutreffend behauptet werden 
kann, sobald man die Gewahr bat, dafi die zugrunde gelegten 
speziellen Gebiete eiuem e i n liei tl i e h en grofieren Gebiet 
bestimmten Umfanges angehoren und daher als Stichproben 
fiir dieses betrachtet werden diirfen. Diese Methode generali- 
sierender Erkenntnis ist daher, wenn der Nachweis logisch 
stichlialtig sein soil, im Prinzip koine andere ah die der In- 
duktion. Dam it sieht man aber auch zugleich, wie wenig im 
allgemeineu histwische Generalisierungen den Anforderungen 
logischer Stringeuz ent spree hen: Yielfach bleiben Lueken im 
Beweisgang, es liegen stillschweigend unerwiesenc Yoraus- 
setzungen zugrunde, es ist gewohnlich nicht eiumal das Be- 
witBtsein der methodischen Erfordernisse da. Eine solcbe 
Argumentation bildet dann ebeu keinen zwingenden Beweis, 
wenn sie audi einleuchten mag. Eine solche Aufstellung 
Die G run d for men tier wissenschaftliclien Methoden. 269 
k a li 11 — abev muB niclit — ■ wahr sein; sie ist aber nicht 
e r wiesen. 
Deutlich la&t sich die Met bode generalisierender Er- 
kenntnis in den Geschichtswissenschaften audi bei kunst- 
geschiehtlichen Stiluntersuchungen iiberblicken. wie sic z. 13. 
Wolf fl in in seiner Klassischen Kmist (1898. 3 1904) gegeben 
hat. Die Stilwaudlung der Hochrenaissanee gegeniiber der 
Fruhrenaiss-mce legt er in seiner Analy.se einzelner Haupt- 
werke der groBen Oinquecenitisten (Leonardos usw.) dar. Diese 
zeigt immer wieder ihren gleichartigen Oharakter in Bezug 
auf die Auffassung und Gesinnung, auf das Sehonheitsideal. 
auf die Bildform gegeniiber der quattroceivtistisclieii Art. DaB 
dieses Ergebnis aber mehr bedeutet als eino Charakterisierung 
bloB dieser einzelnen Kunstwerke, daB e? generell fur den 
Stil der Epoche giiltig erklart werden darf. das beruht darauf. 
daB diese Kunstwerke niclvt beliebig* ad hoc ausgewiihlt. son- 
dern repriisentativ fin- Hire Zeit sind. Und dies hi wieder da- 
dureh gewifi, daB diese Meister und diese Werke eine fiihrende 
Bedeutung in ihrer Zeit gehabt liaben. daB sie (wie die Kar- 
tons Lionardos und Michelaugelos) vielfach naehgeahnnte Vor- 
bilder gewesen sind und audi sclion in der zeitgenossischeu' 
Wertung. nicht bloB in unserer, a Is die Hohepunkte des 
Kunstschaffens dieser Zeit betraclitet worden sind. Es wird 
also erst ens eine Gattungsbegriffsbildung vollzogen durch Yer- 
gleichung einzelner Tatsachen (cinquecentistischer Kunst- 
werke mit quattrocentistischen und untereinander) und da- 
durch wird das zu Generalisierende: die Merkmalskomplexe 
der Stileigenarten. gewoimen. Hire generelle Bedeutung. als 
Stileigenarten ganzer Epochen. nicbit bloB der verglichenen 
Kunstwerke. erlialten diese Merkmalskomplexe aber dadureh. 
daB bei ihrer Heraushebung. bei der Gattungsbegriffsbildung. 
in Bezug auf die Auswabl der zugrunde gelegten Einzelfiille 
die Bedingungen, welche den gattungsmaBigen Oharakter 
eines .Stiles' gewahrleisten. crfullt sind: der representative 
Oharakter derselben in Bezug auf Qualitat und Verbreitung — 
oder wie man sonst. was .S-til* ist. definieren mag. Das sind 
deutlich die Hauptmomente der lnduktion: die Feststellung 
des zu Genemlisierenden an Einzelfallen und die Berechtigung 
der Generalisierung durch die Gewahr. daB das an den Einzel- 
270 v. Kru ft. 
fallen Herausgehobene nicht lediglich individuell ist, sondern 
den Bed in gun gen gattungsmaBiger Qualifikation entsprieht. 
Freilich wird dieser letztere Xachweis in dem herangezogenen 
Beispiel Wolfflins nicht ausdnicklich und methodiseh ev- 
bracht, ebensowenig wie in dem fruheren Beispiel WitTiclis; 
sondern die Gewlihr fur die Generalisierang gibt ihm seine — 
unausgesprochene — Kenntnis der Kunst dieser Zeit. also 
eine ausgebreitete Vergleichung*. die sich fast schon einer 
vollstandigeu Induktion annahert. 
Und damit stellt sich das Verfabren historischer Oene- 
ralisierung als ein etwas andersartiges dar: eine Gattungs- 
hegriffsbi ldung auf Grund einer Vergleichung der iiberwiegen- 
den Mehrzahl der Fiille eines beschrankten Gebietes. Wenn es 
sich nich-t urn eine uniibersehbare, noch iintuer wachsende Zahl 
von Fallen handelt, sondern urn cine schon abgesehlosseue. be- 
grenzte Anzahl, wie das bei der Geschichte zum groBen 
Fnterschied von der Naturwisseiischaft der Fall ist, z. B. nm 
die Urkunden der Karolinger. nm die Papsturkunden, um die 
Kunstwerke des Quattro- und Oinqueeento, dann wird zwar 
noch keine vollstiindige Induktion, aber docli eine Basierung 
auf das Material nahezu in seiner Gesamtheit durcbi'uhrbai. 
Es lafit sich die iibenviegende Mehrzahl der Falle dieses 
begrenzten Gebietes vergleichen 12T und der nicht herangezo- 
gene Rest kann dann infolge -seiner versehwindenden Minder- 
heit keine Gegeninstanz mehr bilden — ■ allerding's unter der 
sehr wesentliehen Voraussetzung (wie bei der statist ischen 
Geiieralisiertmg iiberhaupt) auf Grand sonstiger Eriahning. 
dafi der betreffende Bereich im Ganzen gleiehartig ist und 
daher die rest lichen Fiille nicht einen ganz anderwartigen 
Charakter zeigen werden. was sonst ja prinzipiell ohneweiters 
moglich ware. Erst dann kann etwas als generell gelten, das 
in der grofien ilehrheit der iiberhaupt in Betracht kommenden 
Falle, also statistiseh festgestellt worden ist — und daduveh 
unterseheidet es sich dann eben von blofien statistiseh en 
Haufungen — , wahrend sonst bei der Induktion die G e n e- 
ralisieiuug des an einigen Fallen ennittelten Sachver- 
haltes fur eine unbekannte, unbegrenzte Anzahl von Fallen 
erst dureh einen besouderen Xachweis seines generellen 
Oharakters aus dem Znsammenhang der zugruude geleglen 
Die C;niii(ltoniif:]i der wisseiv^oUsit'tlic-heu Mcthodcti. 271 
Fiille mit sehon bekannten Sachverhalten genereller Art 
fundi ert werden muB, 
Da mit tritt zugleich ein wich tiger Unter-schied in den 
Induktionsergebnisseu der Geschichtswisseuseliafteu gegen- 
tibev denen der N*Uunvissenschafteu hervor: sie geben nicht 
Xaturgesetze dos Geschehens, sondern Gattungcn von Be- 
schalfenheit, generelle Eigenarten, die Gruppen historischev 
Objekle gemeinsam sind. . Und diese Gattungen stehen zur 
historisehen Wirklichkeit oft im Yerhaltnis von Tyjion. d. h. 
die Eigentumlichkett, -welche eiu soldier Gattungsbegriff rein 
auspragt (z. E. einer karolingischen Konigsurkunde), findet 
sich an den historischen Objekten, welche sonst, infolge an- 
derer (zeitlicher nnd Provenienz-) Momente. cloeh ein em 
Gattungsbereich angehoren. nicht aitsnahmslos vor (ausdruck- 
Yu-he Hinweise auf Ausmihmcu z. B. 12 * .S. 90, 99. 107. 204): 
das heifit eigentlich: eine Gattung auf Grund bestimmter 
qualitativer Merkmale deckt sicb nicht mit der Gattung auf 
Grund bestimmter zeitlicher, lokaler, Proveninz- . . . Mevk- 
male. DaG sich hingegen ein Typus (die Eigenart ernes Stiles, 
einer Epoche) nicht iiberall in der s el ben Weise vorfindet, 
sondern auch modifiziert erscheint. das ist ja auch bei der 
voilstandig gesetzmiifiigen Bestimmtheit der Naturvorgange' 
nicht, anders, wenn die Auswirkung einer GesetzmiiBigkeit 
dureh das Hinzutreten anderer kom]>liziert wird. Es sind auch 
bei den historischen Erscheinungen fiir ihre Abweichungeu 
vom Typus besondere Ursachen vorhandcn. 
Icii habe sdum darauf hingewiesen, dafi das Uitsachliche 
Verfaliren der Generalisierung in den historischen YVissen- 
schaften den Anfordemngen einer strengen Method e des Gel- 
tungsnachweises gewohnlich nicht entspricht. (Yielleieht sind 
Me tiberhaupt nie vollstandig erfiillt. sondern nur in den 
giinstigsten Fallen weuigstens erfiitibar.) Man mutS das tat- 
sachlich geiibte Verfahren erst ergiinzen und auf eine ideale 
Form bringeii, wenn es tiberhaupt eine logiseh schliissige 
Beweismethode darstellen soil. An dieser methodrselien Man- 
gelhaftigkci't liegt es. dafi histo ; rische Ergebnisse vielfach un- 
sicher und kontrovers sind; und dem laBt sich nur dadurch 
abhelfen. daft sie logiseh zwingend werden. 
272 V. Kraft. 
3. Der Indizienbeweis. 
Die IJntersuehung der methodisehen Yoraussetzungcn 
der Quellenkritik und Interpretation hat auf die Generali- 
se rung* in den historischeu Wisseuschafteu gefiihrt. tlber- 
einstinimung oder Widersprueh rait einem generellen Zelt- 
Chara-kte.r bildet aber naitiirjich nicht das aU'SschlieBliehe 
Mittel der Quellenkritik und -Interpretation. Die Bestimmuug 
einer Entistelmngszeit durch einen terminus posit und ante 
quem. eines Autors duroh eine sukzessive Identifizierung usw. 
geht anders vor sicli: durch Schlusse ;m der Hand von Einzel- 
tateaehen. Das soil ein Bei spiel zeigen, wie die Bestimmung 
des Yerfassers der urspriinglichen Rezension (erhalten in 
einer Jenenser Bandschrift) einer Welitchronik urn 1100, der 
.in ihrev Art volleitdeteten Weitehronik des Mittelalters - 
12s (-S. 220). die bis dahin fahschlich dem Ekkehard von Aura 
zugeschrieben worden war. 
Zuerst wird der kritischeNachweis gefiihvt. daft zwiscnen 
dieser ersten Rezension der Weltchronik und denjenigen. fur 
ivelohe Ekkehard als Autor teils sicher. teils sehr wahrschein- 
lieli ist, eine tiefgreifende Yerschiedenheit l-estelit in inha.lt- 
licher und furmaler Hinsicht (Gesinnungswechsel. a-ndere 
Ohronologie, versohiedene Form derselben deu-tschen Eigen- 
nanien. verschiedene Hiandsehrift). Das ist aber nur der sclion 
besprochene Nachweis genereller Eigenttimliclikeiten — 
in diesem Fall fiir einzelne, individuelle Werke — durch 
statistisehe Yergleichung. Demi es kommt darauf an. dafl 
die d i fieri e rend en Merkmale (Kaisertreue — papstliche Ge- 
sinnung, chronologische Redlining nach Inkaniationsjahren 
nn d nach Regierungsjahren der Herrscher — blofi nach 
ersteren, eine viersilbige [Magadebiirg] — - eine dreisilbigo 
Xamenst'orm fiir Magdeburg «. a., die venschiedene Form eines 
Kiirzungszeiehens oder eines Buchstabeti's) fiir ein jedes Werk 
ganz iillgemein ge-ken; z. B. die Rezension B verwendet 
als allgemeines Abkiirzungszeichen ,zumeist eine . . . Linie. 
die ganz genau in dieser Gesta.lt in A nicht. ahnlich nur selteu 
vorkommr (■**>. 200). Die bloBe Konstatierung, daB in beiden 
Rezensionen auch manchraal Buclistabenformen. Namensfor- 
men. Gesmiumg von einander abweichen. wiirde fiir eineu 
Die Gnmdlormeii der wissensehiiftlichoa ilothodeii. 273 
inetbodischen Nachweis ihrer Yersclnedenheit nock nicht ge- 
iiitgen. Gerade dadurch konnte sich ja leiclit ein methodischer 
F elder ergeben. daB man statt einer d u r c h g e h e n d e n Ypr- 
schiedenheit bloB einzelne herausgegriit'ene Differenzen fe>1- 
steHt. 
Wit dem kacliweis dor generellen A'ersehiedenheit 
zwisohen der alte.^ten mid den anderen Bezensionen der Welt- 
chronik ateht zugleich test. da6 der Verfasser und Schroiber 
der einen nicht derselbe sein kanu wie der der anderen: Ekke- 
hard. Die Art des positiven Xaclnveises fur den Yerfa>-<er 
und Schreiber der altesten Rezension ist- es nun. was mis 
hier in erster Linio interessiert. Dieser knttpft sieh an die 
folgenden Tatsachen. .Wie die autograph? Handsehrift bis 
ins 15. Jahrhundert der Bibliothck von Kloster Miehelsbers: 
angehort hat, so muB auch aus imiereu Griinden, wegen der vou 
ihm benutzten Quellen. ihr Verfasser ein Moneh dieses Klosters 
gewesen sein' (S. 214). Es gibt nun eine Reihe unanfecht- 
barer Zeugnisse dafiir. daB gerade 11m die Zeit. in der die 
Weltchronik enistanden sein muB, der Prior Froubolf von 
Michelsberg eine Chronik verfaBt hat. 1. Der sogenannte 
Anonymus Jlellicensis, ein C-hronist ties 12. Jalirhimderts, der 
zu Micheksberg in Beziehung stand, berichtct. daB ein ,Frou- 
tolfus abbas' eine Chronik sehrieb, auBer anderen, nameutlich 
musiktheoretisehen Werken. 2. In einem Yerzeichnis der 
Haudschriften der Klosterbibliothek von Micheksberg ans der 
ersten Halfte des 12. Jalirhunderts ist ein .liber cronicorum' 
genannt als vom Prior Frufrolf dem Kloster geschenkt und 
obenso ein von diesem verfaBbes .breviarium de musica'. 3. Der 
■Stiffsherr Heimo in Bamberg, der zum Kloater Michelsberg 
in Bezieliung stand, weil er sein 1185 gescliriebenes Werk dem 
Bibliothekar dieses Klosters widmete und einen Froutolf 
seinen Lehrer neurit, berichtet darin audi von dessen Chronik. 
und zwar daB dieser darin den Zeitraum von der Welt- 
schopfung bis zur Geburt Chvisti inn 10 Jahre langer als Beda 
(3962 statt 3952) angegeben habe. In der Weltchronik au- 
gebLich des Ekkehard von Aura ist nun tatsachlich die Geburt 
Christ! im Jalire 3902 nach der Weltschopfung angesetzt ! 
Das sind die hauptsachlichsten Beweisgruude. die von Bresiau 
noch durch einige andere Koiuzidenzcn vermebrt werdeu. da- 
Sitzungsber. d. phi I. -hist. Kl. 203. Bd. S. Abh. 18 • 
274 X. K e a i t. 
fur, daB der Prior Froutolf von iltchelsberg die iilteste Kezen- 
sion der Welt chronik verfafit mid geschriebeu hat. 
Wemi wir nun den nervns probandi kurz iiberblieken, so 
ist es folgender: Eiu Froutolf. von dem zwei unabhangige 
Quellen, die gerade zu Jliehelsberg in Beziehung standen mid 
daher besonders glaubwurdig sind, iibereins'timmeiid die Ab- 
fassung einer Chronik berich.ten und eine von den beiden 
Quellen audi lioeh die Abfassung musiktbeoretischer Scliriften. 
wird mit dem Prior von Mlchelsberg identifiziert, weil dieser 
in derselben Zcit in einer dritten selbstandigeu Quelle als 
.Spender einer Chronik und einer musiktheoretischen Schrift 
bezeugt 1st, also auf Grund. der Tlbereinsitimmung in den ver- 
faftten und den geschenkten AVerkeu. Und diese Chronik des 
Priors Froutolf wird mit der handschriftlich vorhandenen 
Welt chronik identifiziert. weil diese dieselbe chronologische 
Eigenttimlichkeit aufweist, die von jener berichtet wird. Diese 
Identitizierungen grunden. sich auf die Ubereinstimmung in 
individuellen Keimzeichen (chronologische Eigentiimlichkeit, 
Chronik und musiktheoretische Schriften zugleich) und auBer- 
dem darauf, daB es JiuBerst unwahrscheinlich ist. daB zur 
welben Zeit (uni 11U0) in derselben Gegend (MicheLsberg) zwei 
Persionen desselben Xamens und (geistlichen) iStandes gelebt 
batten und Werke derselben Art mit genau derselben Beson- 
derheit verfaBt batten, von denen das eine im 12. Jahrhundert 
mindestens dreimal erwahnt wird. dann aber spurlos ver- 
schwunden sein miifite. das and ere bis heute erhaltene hin- 
gegen nie erwahnt ware. (Vgl. audi 12T S. 215. 216.) Diese 
Identitizierungen beruhen 'somit auf der allgemeinen Erfahrung, 
daB ein soldier bis ins einzelne gehender Parallelismus in 
zeitlicher. raumlichcr und individueller Hinsicht so nst nicht 
vorkommt. 
Da.s 1st die Art des Nachweises von nicht unmittelbar 
feststellbaren Einzeltatsaehen auf Grund gegcbener Einzel- 
tatsachen — die hauptsjichlichste Art liistorischer Erkenntnis- 
beweise. Es ist das Yerfahren. das als Jndizienbeweis' audi 
in der g'ericbtlichen Tatbestandserkenntnis grundlegend ist, 
wo es auf dieselbe Aufgabe wie in den liistorischen Wissen- 
schaften ankommt: Feststellung von Tatsachen (Taterschaft, 
Vorsatz etc.). wekhe nicht durch divekte YYahrnebmung' glaub- 
Die Grimdformeu der wissensch.iftliclum Method™. ii75 
wiirdiger Zeugen feststeheu. Der Indizienbeweis steht hier 
dem Zeugenbeweis gegeniiber. in dem die fur den Strafan- 
spruch unmittelbar erheblichen Tatsachen (Tatbestand, Tater- 
sehaft, Schuld usw.) durch Zeugenaussag'en direkt erwiesen 
werden, wahrend der Indizienbeweis als .indirekter Be weds' 
solche Tat sac-hen erweist. welehe einen SchluB auf die unmit- 
telbar erheblichen Tatsachen ermoglichen (s. 12y S. 18')). Die 
Bedeutung* und Art des g'crichitlichen Indizienbeweises ist 
lehrreich audi ftir die Geschichtswissenschaften. Der Indizien- 
beweis hat seine selbstandige beweisende Rolle im Gerichts- 
verfahren erhalten, als nacli der Abschafiung der Folter im 
18. Jahrhundert der Grundstein des Beweissy stems des In- 
(juisition'Spi'ozesses: das erzwung'ene Gestandn.is. gefallen war. 
Als Ersatz dafiir muBte nun der Indizienbeweis ansgebildet 
werden. llan getraute sich aber nicht sogleich. die Beweisfrage 
den Ric liter in treier Beweiswurdigung eutseheideu zu lassen, 
sondem hat .eingehende und. oft verwickelte Vorschriften 
daruber, unter welchen Yoraussetzungen eine zweifelhafte 
Sache als erwiesen zu gelt en hat (gesetzliche Beweist-heorie) ; . 
aufgestellt 12i ' (S. 8. 9). (Daraus abschlieBend nocli eine au&- 
Mhrliehe Theorie des Indizienbeweises bei (3. Mittercmuer, 1;i0 .) 
Der Indizienbeweis in der Geischichte wie im Gerichts- 
verfaliren besteht darin, daB von gegebenen Einzeltatsa-chen 
(.Indizieir) aus ein nidit-gegebener (unbekannter oder bloB 
vermuteter) Sachverhalt festgestellt wird. Diese Feststellung 
geschieht durch Schlitsse. (Audi irt0 S. 412: ,Der kiinstliche 
Beweis beruht auf SchluBfolgerungen aus Tatsachen',) 
Schliisse erfordern aber allg'emeine Obersatze. Urn von g'et 
gebenen Tatsaehen aus einen nichtgegebenen Sachverhalt 
logisch erschlieBen zu konnen, muB man allgemeine Regeln 
des Zusammenhanges zwisehen den Tatsachen kennen, ver- 
mog*e deren mit den einen. die g'ewift sind. auch andei'e. 
neue Tatsaehen oder eine bestimmte Beziehung zwisehen ihnen. 
mitgeaetzt. mitgesichert sind. Diese allgemeinen Obersatze 
werden durch die Na.turgesetze und die Erfahrungen uber 
regelmiiBige Tatsadienzusammenhange gegeben. (Vgl. auch 
130 S. 414.) So stellt z. B. Bernheim (a. a. 0.. S. 382) ausdriick- 
lioh feat: .Die Methode der Quellenanalyse (der Zuriick- 
fiihrung einer Quelle auf andere) berulit . . . wesentlich 
18* 
276 V. Kraft. 
auf zwei psycho log* is c h en Erf ah rungs a tzen: 
1. wenn zwei oder mchreve llenschen dasselbe noch so ein- 
fache Ereignis, geschweige denn chieii ganzen Komplex von 
Ereignissen erleben nnd auffassen. so fassen sie nie alle 
Moment e desselben in ganz gleicher Weise auf, geben also. 
wenn sie da-ssclbe berichten, nie alle Momente in ganz gleicher 
Weise wieder; 2. wenn zwei oder mehrere Menschen selb- 
standig dcnselben Vorstellungiunhalt zu sprachlichem Aus- 
druck bringen, so geschieht das nie in ganz gleicher Form 
(abgesehen von fornielhaften Wendungen . . .). Man sieht. 
diese Axiome . . . sind nicht geradc von der Art mathemati- 
scher Axiome. 4 Es a hid einfach die Regeln des norma. 1 en, 
gewohnlichen, durehschnittlichen Zusammenfranges der Tat- 
sachen, keine imbed ing ton NotwendigkeLteu. Infolge dessen 
mufi man da mi immer audi die Moglichkek einer auBer- 
g e w o h n 1 i c h e n Verkettung der Tatsachen in BetKiclit 
Ziehen und diese (womoglich) ausschlieBen. Zu diesem Zweck 
dienen mehrere kouvergente Tndizien. wenn versdiiedene 
Tatsaclien dieselbe Folgerung ergeben. Da.be i konnen natur- 
lich als mehrere versehiedene Tatsachen ntir solche gelt en. 
welche vollstandig unabhangig voneinmuler feststehen. Das 
nui 6 man audi fiir die gegenseitige Stiitzung der historischen 
Resukate ini Geschichtszusammenhang beachten. Durch eine 
solche Ubereinstimmung der Indizien wird jede andere Ver- 
kniipfung der Tatsaclien zu einer so uugewohnliclien und aus- 
nahnisweisen, dafi sie dadurch aufierst unwahrscheinlich wird. 
Die Geltungsant des Ergebnisses eines Indizienbeweises 
hangt allgemein davon ab, <ob «ich aits den gegebenen Tat- 
sachen der gefolgerte Saehverhalt mit E i nden t igke i t 
ergibt oder nicht; ob die Folgerung' lautct: da diese und 
diese Tatsachen fesitstehen (z. B. bestimnite aulSere und innere 
Merkmale der pseudoisidorisdien Dekretalen). mu 6 em 
bestimmter Sachverhalt bestanden haben (die Falschung 
derselben) — oder: k a n n ein bestimmter Sachverhalt be- 
standen iiaben (die Falschung* in Nordfrankreich um die Mitte 
des !J. Jabrhundertsj. In diesem letztcren Fall sind neben 
dem g'efolgerteu Sachverhalt prinzipiell audi noch andere 
moglieh. aber er ist allein der wahrscheinliche nach den 
Regeln der Eriahrung. 1m ersten Fall 1st das Gegenteil des 
Die (jrHiulforiiien dor wis^onsi-liaftlicliou Mt'tlioilon. *7 • 
gefolgerten Sachverhialtes uberhau.pt unmoglich. im zweiten 
"\vohl priuzipiell moglich, aber unwaiirscbeinlich. Die Ergeb- 
nUso von Indizienbeweisen konnen also in It Gewifiheit gelt en 
— ■ sobald sie notwendig sind. 
Der historische Schlufi iat nichl. wie E. Meyer l42 (S. 198) 
ijioint. .seinera YVesen nach notwendig problematisch'. weil er 
von der Wirkung auf die Ursaehe geht. sondcm so wie Bern- 
lieim llu (8. 881): Man komrn.t bei geniigender Vorsicht .nnd 
miter geeigneten I'mstiinden zu Sehliissen. die an Sicherheitden 
lnathemaitisclien iiicht naoli.-itehen'. Und Gleispach X2U (S. 187 1: 
.>*ur auSerst selten wird eine Anzeige [Indizium] zu einem 
sieheren SchluB hinreiehen. Hingegen vermag eine wirkliche 
Mehrheit von Anzeigen gewiti zumindesfc ebensogut begriindete 
Uberzeugung zu schaffen, jeden vernunftigen Zweifel aus- 
zuscMiefieu als der direkte Beweis [der ■straferheblichen Tat- 
sa&lienj- Wemi slch alle einzelnen Anzeigen zu einem Kreise 
derart zusammensehlieGen. daS nur die Annahme der T attache 
ids wain- eine Erklarung daftir :ibgibt. so liat der Anzeigen- 
beweis geradezu eine zwingende Kraft.' 
Gewolmlic.li gelten die Ergebnisse von Indizienbeweisen 
aber woiil nur mit Wahrscbeinlichkc-ii, sofern alle -uideren Mog- 
lielikeiten daneben bloft unwahrscbeiulieh sind. Bieser I'nter- 
scbied in der Geltungsart bangt nicbt nur davon ab. ob die ge- 
gebeneu Tatsachen eine e indent. ige Folgerung bestimmcn 
uder m eh re re Moglichkei.ten off en lassen. sondern audi 
davou. ob die Tatsachen, von deiKjii uus, oder die Zwisehen- 
glieder. mit Hilfe deren auf andere geschlossen wird. gesichert, 
i'eststehen oder ob sie selbst schon zum Teil bloB wahrselieiu- 
lich oder nur angenommen. bypothetisch sind. denn in den 
letzteren Fallen geht diescr Gharakter noitwendig audi auf 
die Geltungsweise des Endergebnisses uber. Es gehort dos- 
halb zu den unerlaBliehen Forderungen wissenschaftlicber Zu- 
verlassigkeit — die fre'dieh oft genug aufier Aeht gelasseu 
wird — . slch uber den Gellimgscharakter seiner Prainissen 
durcliaus im klaren zu seiu. Die Zuveclassigkeit eiues In- 
dizienbeweises bangt prinzipiell dav<ni ab, inwiefern die er- 
forderlichen Indizien audi tatsadilich durch die historische 
Cberliel'erung oder durch Denkmtler gegeben sind. Wcnn 
welche davon fehlen. kanu man nicht umliin. die Liicken 
278 V. Kr»ft. 
gegebenen Fallen audi (lurch unsicbere. liypothetisehe Glieder 
auszuftillen - — weil man soiiat iiberhaupt nicht welter kume. 
Xur muB man sich dann des hypothetischen Charakters der 
g/anzen SehluBketto audi voll bewuBt sein. 
Es ist klai\ daB audi der Indizienbeweis niebts andercs 
1st als Deduktion. als eine besondere Art von Deduktion — 
ebenso wie j,a audi die Thourie und die Induktion nur ver- 
scliiedenartig anfgebante Systeme von SchltiBfolgerungen 
sind, aber keine spezifisdieii Erkenntnisweisen. Es ist cine 
Deduktion, wolche sich nicht vein innerbalb des Allgemeinen 
beweg't und nicht in i t allgemeinen SdduBsatzeu endet. sonderti 
welehe s'iL'h ■wesentlich audi auf Aussagen iiber EinzeHat- 
sachen aul'bauit und immer zu Aussagen iiber Einzeltats.ac.heti 
fuhrt. Dadurch stellt der Indizicnbeweis eiue eigene Art. d. h. 
Ainvendung-sform des deduktiven Yerfahrens neben jenen 
and ere n dar. 
3. Kritik der Intuition. 
-ilit den darg-elegten irethoden. dem Indizienbeweis und 
der iuduktiven Geueralisierung. losen die lustorisdien Wissen- 
sehaften a-He ilire Aufgaben: 14 '" Die erste groBe Aufgabe der 
auBeren und inneren Quellenkrkik — ■ hter sind es SchluBfol- 
gemngen aitf die Entstdiungsbedingungen einer Quelle — 
und die zweite groBe Aufgabe der Fpststellung der historisdieu 
Tatsaehen auf Gnmd der Quelleu — hier handelt es sich inn 
die Abspaltung und t'berwmdung der Subjektivitat. die als 
unzureichende Wahnielimung. g-etriibte Erinnerung. subjek- 
live Auffassung, einseltig auswahlende Tendenz. bewuBte Ent- 
stellung immer in den Berichten liegt. und. tun die Heraus- 
schalung eines Objektiven. des histortsch Tatsacldichen darin: 
und das gesehieht durch gegenseitige Komtrolle und Korrektur 
der Quellen. Von einnnder nnabhaiigigp Berichte iiber die- 
selbe Sache. die auf Grand der Quell en kritik glaubwiirdig 
sind. werdeu un-tei- einauder und mit zugehorigen Deuknialem 
und Cberresten auf Ubereinstimmung oder Widerspruch hin 
verg'lichen und zu gegenseitiger Erganzung verwendet. Aucit 
das 1st nich'ts anderes als die Cbereinstimimmg mehrerer 
Indizien. also das Verfahren des Indizionbeweises oder die 
Pie f-riindfornieii dor wi-senschaniiclipii Methotk>n. 2tv 
t'bereiiisitiiiirauiig mit einem Ergebnis induktiver Generali- 
siemng. 
Vielfach redet man freilicli audi vom .Analogiesehlul^ 
als Erkenntnisweg dei* Geschiditswissensdnift lin (S. 166, 573. 
579. 508. 569), 131 ' (S. 93 f.). 13 "- :11 <§ 132). <o z, B. Ed. Meyer 
142 (S. 201j: .Das Mitt el, welches der historische ScliluB ver- 
wendet, 1st die Analogic. Sie beheiTscht alle Scblii&^o iiber 
die HuBeren Krafte. welclie die Gestalt des Ereignisses beein- 
fluBl haben, bis zu den rein meehanisclien Vorgangen hhiab. 
vor allem aber alle Urteile auf dem reizvollsten Gebiet der 
Gesdudite. dem der inneren Momente oder der psychischen 
Faktoren.' 
Dabei verwediselt man aber. wie audi sonst oft. den 
psydiwloglschen Weg des Findens mit einem Gelitungsgrund. 
Ein SchlieBen nach Analogie kaim als logiseh stichhaltiges 
Yerfahren nur ein Subsumtionsschlufi auf Gnuid einer 
Gattungsbegrii'fsbildung sein. die aber noch nicht vorliegt. 
sondern erst ad hoc vollzogen weixlen muB. Eine bloBe Ana- 
logie. eine teilweise Ahnliehkeit kann bloB ein hemistiches 
Prinzip abgeben, aber kelue ernstliche Gelitungsgrundlage. 
denn eine tTbereinstimiming zwischen Objekten in mehreren. 
audi wesentlichen Merkmaleu gibt noch durcliaus kerne Gewiilir. 
daB sie auch in den anderen Merkmalen iibereinstimmen. Sie 
kann nur zur Ann ah me fiihren. tlafi sie in dieser Hinsicht 
einer gemeinsamen Gattung angehoren; aber das zu e r- 
weisen 1st erst eine Sadie induktiver Generalisierung. Klav 
zeigt sicli da« an dem von Barth VA1 (S. 96) herangezogenen 
Beispiel aus der Physik: .Als Huygens von der bekannten 
Attsbreitimg des SohaJles durch YVellenbewegung der Lufi 
schloB. auch die Ausbreitung des Liclites werde eine Wellen- 
bewegung seiir. so war das naturlich noch lange kein giiltiger 
logischer Schlufi. sondern eine bloBe Annalime (so auch Barth 
selbst. S. 98), die erst verifiziert werden muBte. 
Audi die driitte grofie Aufga.be der histsorischen Wissen- 
sdiaften mufi sich der beiden dargelegten Methoden bedieuen: 
die der Synthese der einzelnen historischen Tatsachen zu 
immer weitereu Einheitiszusammenhaugen. Die Gesduchts- 
wissen sdiaften haben die festgestellten historischen Tatsachen 
nicht bio 8 in die zeitliclie Orduung zu bringen. soii-dern audi 
280 V. Krai l. 
in einen iimcren saddidien Zu*amiuenhang niit einander. Sie 
sudien K an sti 1 zusammeuhlinge zwvscben ihnen auf: Es 
werden die Wirkungen eines historisohen Gesdiehcns 
(z. B. der Schlaeht liei Cannae) untersucht und ebenso die 
ursachlidien Bedingungen (z. B. de* Niederganges vonVenedig 
im l(>. t Jahrhundert); die historisehen Tartsadien werden 
genetiseh miteinander verkniipft. — Die Gese-hidits- 
wissenschaften suchen aber audi noch andersartige Zusam- 
lnenMnge auf: zu den Bedingungen histortsdien Seins und 
Geschehens gehoren audi Absiditen und planinaiMge Hand- 
lungen, gehoren Vorstellungen und Gefiihle und dereii Ans- 
el ruck, welche ein histori'sches Ergebnis (z. B. ein Kunst-werk) 
herbeifiihren. Ihnen nachgehen. heifiit historisdie Tatsachen 
in einen Mot i v a t- i <"> n s zusammenbang bringen und das 
hei&t, einen tel eol o gi s ch en Zusanimenhang von Zwecken 
und Mitteln herstelle-n. — ■ Zu den Auf ga ben der Gesdudits- 
wi-ssensdiaften gehort es aber audi, aus historisehen Einzel- 
tatschen das Gesamtbild einer Personlichkeit (eines Casar, 
eines Goethe) aufzubanen. Das 1st- ein Komplex von Erleb- 
nissen und von Charaktereigensohnften. ein — innerhalb 
eines Lehens — gatuingsniafiiges Verhaltnis von psydusdieu 
Element en und Funktkinen. von denen die einen prapon- 
derieren, die auderen mehr oder weuigev untergeordnet sind. 
die einen die wesent lichen, die anderen bloB konsekutive stud, 
ein liierarchisdi angeordneter Zusanimenhang also. Um einen 
soleheu Zusanimenhang haudelt- es sieli nicbt blofi beini Ge- 
samtbild einer historischen Personlichkeit. sondern auc-h beim 
Gesamtbild einer Epoehe oder eines Gebietes. uberall, wo es 
auf die Syn these von Einzelzligen zur Einheit einer In- 
divid uali tat ankommt. 
Fiir alle diese Aufgaben einer Synthese haben die histo- 
rischen Wissenschaften keine anderen wissenschaftlichen 
Methoden zur Verfiigiing als die dargelegten. Lias steht frei- 
lic-b iu vollem Widerspruch zur fuhrenden oder wenigstens 
modernen Anschauung uuserer Zeit. Zuerst hat sich Dilthey 
in seiner Einleitung in die Gtdsteswissenschaften (1883) gegen 
die Einheitliehkeit der wissenschaftlichen Methoden g*ewendet. 
dagegen. daS die an den Naturwissensdiaften festge^tellten 
Methoden audi i'tir die Geisteswissenschaften gefordert werdeu 
]')ie Gruodformen dor wissenschaftlicheu Motliodeu. abl 
— ■ gegen .diis einformige und ermudende Geklapper der Worte 
Induktion und Deduktkm', das seit Mill immer wieder zu ver- 
nehmen sei. .Die gauze Gescliichte der Geisteswissenschaften 
ist ein Gegenbeweis gegen den Gedankeu einer solchen .An- 
pa-ssung'. Diese Wisseiischaften haben eine ganz andcre Grund- 
lagc und Struktur als die NMur' (1. Buch, XVII, ft. 186). Sie 
brauehen darum ihre eigenen Methoden. Als sole-he hat or 
selhst 13i sehon das psychologische Vcrstehen bezeichnet und 
dieses kann nur intuitiv vor sich geben. In diese r Rich- 
tung folgte ihm eine immer zunehmende Stromung in der 
erke nntn Is'theoretisohen Auffassung der Geschichtswissen- 
schaft 135 - 13S . in den intuitiveu Prozessen der Einfitlilung, 
des Verstehens und der Synthese sieht man heute die spezi- 
fischen .Methoden' der Geschichtswissensehaften — und dar- 
iiber hinaus der Geisteswissenschaften iiberhaupt und 
namentlich audi der Philosophic. Bergson vertritt diesen 
StandpunlU in allgemeinster und prinzipieller Wendung, in- 
dent er alles begriffliche Denken als unzullinglich fur eine 
Erkenntnis des Lebens erklart und dafur nur Intuition geltcn 
met. 
Die Eigeiiart der Geschichtswissensehaften gegeniiber 
den Niatunvi&sen'schaften wurzelt in der Eigenart ihrer Gegen- 
stande: den kulturellen ,Sinngebilden' (wie man sie heute for- 
niuliert 12 * [ft. 1 8 f .]) und deren psychophysischen Tragern, 
womit immer fremdes Seelenleben inbegriffen ist. Diese 
Gegenstaude erfordern eine eigene Erkenntniswei'se: v e r- 
stehen, d. h. nacherleben, Einfuhlung. Wo es sich urn 
Motivation'szusammenhange, um Oharaktere, iiberhaupt uni 
historisches Seelenleben handelt, vollzieht sich ein Verstehen 
nur durch ein eigenes Nachbilden desselben, das durch das 
historische Material veranlafit und .durch irgendeine Art von 
Gleichheit psychologisch ermoglicht' wird 13D (S. o9). Demi 
es Hegt so: ,Was die Ziige eines historischen Charakters. 
die Vorstcllungskomplexe hinter einem historischen Tun zu 
einer verstandlichen Einheit zusammenbindet, ist erkenntnis- 
theoretiseh weder Ursaehe noch Grund, weder das reale Ge- 
setz des Geschehens noch das ideale des Inhalts, sondem ein 
ganz eigenes Drittes, des Sinnes: daft die rein tatsach- 
lichcn Elemente durch ihre individuelle Farbung und Lagc- 
282 V. K r a f t. 
rung eine nieht gesetzlich festzuiegende. sondem nur uach- 
zufiiblende Bezielumg und Einheit erhalten' 1S!1 (S. 39, 40). 
Ein solehes naoherlebendes Verstehen geht aber intuitiv 
vor sich: und es ist nk'bt blolies Erleben. sondem intuitive 
E rken nt n i s. weil in ihm als N a c h erleben audi schon die 
(Nachbildungs-jBeziohuiig auf das Yergang'ene Iieg*t fgcgen- 
iibei' '" 2 ). Bel ihren K a u s a 1 z u s a m m e n h a n g ft n (z. B. den 
t'rsachen des Xiederganges von Venedigj lassen sich nioht alle 
einzelnen Glieder in einer geschlossenen Kausalkette anfweisen. 
sondern es komint auf eine Auswahl der weseut lichen an. Weit 
auseinanderliegende Tatsachen (z. B. die Vciicgung derllandels- 
wege mit der Entdeckung des direkten HandeLsweges nach 
Indieu durch die Portugiesen) miissen als in einer Kausal- 
rerbindung stehend erkannt werden. Das erfordert Phantasie 
der ^Combination, das kann nur intuitiv geschehen. Und wenn 
das Gesamtbild einer Indi v i du&li t lit gegeben werden 
soil, sei es der Individual! tat einer Personlichkeit oder einer 
Epoche oder ernes Stiles, so verlangt das. eine Vielheit von 
Einzelziigen gleichzeitig zu tiberblicken und im Yerhaltnis 
ihrer Bedeutung zusammenzufasscn: und das ist ebenfalls nur 
intuitiv mo&iicli. .Da* Herstellen des Zusammenhanges ftihvt 
auf das umfassende A priori des .Yerstehens' zuriiek, das 
als tTphano.]iien bei jcder Betrachtung menschlichen Ge- 
sohehens anzusehen ist.* .Es ist em intuitives Erfassen des 
Gaiizen . . .". .einfithlende Interpretation' 1:!T (S. 77. 78: eben- 
so "■"■ 8. 83). 
Das ist alien gewift richtig — im psychologiseben Sinn. 
Intuitiv wird der Kausalzusammenhang erfaBt. das Ganze 
einer Zeit erschaut. durch Einfuhlung eine Individualitat ver- 
standen — ■ das ist keine Frage. .Die Gabe. sick in fremde 
Zeit und A'olksnaitur zu versetzeir 14 ". also Einfuhlung und 
Pliant asie. wird allgemein als das erste Erfordernls eines 
Historikers genaimt. Durch sensitives Erfiihlen und Ertasten 
des Zusammengehorigen. durch eine Art Stilgefiihl. durch Auf- 
blitzen von Gemeinsamkeit und Identischem innerhalb der 
yiannig'faliligkeit — . so komnrt Uitsachlich historisclie Syn- 
these zustande. Aber das bezeichnet audi nur den tatsilch- 
lichen. den psychologischen Weg des Findens und des Auf- 
tauchens einer solchen Erkenntnis. Das Finden 1st aber 
Die GruiidtoniuMi tier wisseusciiaftlic-lien Mtsthotlon. -So 
inimer cine vein psychologische Angelegeniieit. gar kcine er- 
kenntnistheoretische. Es gibt wissenschaftlich uberhaupr 
keinen niethudus invenieudi — keine Lullisehe Kunst ! — . 
souderu nur einen methodus demonstraudi. Damit liegTiin- 
det sicli erst der erkenntnistheoretisciie Wert, die Geltiing. 
einer i intuit iv gefundenen riyntliese. Als solche geg"eben. steht. 
sie noch keineswegs als Erkenntnis fest; da is't sie erst 
Einfall. Eine solche Intuition lmifi inimer erst noch in ihrer 
Gviltigkcit erwiesen werden — das ist die grmidsatzliehe 
Foi'derung' der Wissenschaftlichkeit. 
Hit jcnen Feststellungeu (wic z. B. 1:jr ' S. 82 F.) bewegt 
man sicli daher im Gebiet der Erkenntnis p s y c h o 1 o g i e. 
Filter erkeun.t n i s th core t is c h cm Gesichspunkt. unter 
dem der Geltung. ergebcn sie noeli keine hinreichende Grund- 
lage. Iter tatsachlicbe psyehologische Aufbau der Erkenntnis 
ist ein anderer als der erkeiintnistheoretische. Eine Intuition 
steht gewohnlich schou am An fang einer 1'nte ran c hung als 
leitendcr Gedanke. denn schon der erste Absehnitt. die Thema- 
wahl nnd Fragestellung. wird oft bestimmt durch eine intuitive 
Kombination. .weil man. indem man aus dem Yielerlei des 
Gescliehenen ein bestimmtes Thema. heraiisgreift. schon eine 
Heihe oder einen Ivomplex von Tatsadien in einem bestimm- 
ten Zusammenhang vor Augen hat mid dieselben in diesem 
Zusammenhang vorlauHg erkennend vcrbindet' 11 ' 1 (3. ~r2i-\ 
auch 3. '228 1). Das is* in alien WJssenschaften. audi in den 
exakten Xatunvissenschaften. so. Tberall spielt der Einfall. 
d. i. die intuitive Ivonzeption, eine t'iiiirende. riehtuuggebendi' 
Hotle fiir die Yerkinipfung der Eiuzeldaten. fiir die .Syntheso. 
Diese Intuition kann aber wisseuschaftlich nie mehr als 
heiiristische Idee sein. als eine F rage stel lung', t'ber d^ren 
Geltung hat erst der methodisc'lie Nachweis zu entscheiden. 
Darum muB dieser auch in den historischen Wissen- 
sehat'ten fur Hire intuitiven Synthesen gefiihrt werdeu. Der 
Zusammenhiang, der intuitiv ersehaut word en ist. mufi aus 
den gesicherten Eiuzeldaten erwiesen werden. Selbst Simmel 
isi> ^ 22) erkennt gelegentlieh an: .Zu begriindbarer Erkemit- 
nis wird uns ein Charakter nur ,als induktives "Resnlt-at seiner 
einzelnen AuBevnngpn oder richtiger: als der zusamnien- 
fassende Name fiir die WeseivtUehkeiten oder Gemeinsam- 
284 v. K r a i t. 
keiten dieser. - Eine Geltungsbegriindung lit fit sich in tier 
Weise geben. daU gezeigt wird niolit nur, daft die histovi^dien 
Tatsacben init einer solohen Yerknupfung iibereinstiinmeu, 
daft ihr koine Tatsadie widersprich-t — das wiivde cine holelie 
Yerknupfung erst als moglich erweisen und sie wiire damit 
evst eine problem ait isehe Hypothese — , sondorn cs miisseu 
sich audi eindeutige positive Anzeiehen ftir eine sole he Vcr- 
kuupfung aui'weUen lassen, lis milssen Tatsa.dien aufzuiinden 
sein, welehe sich nur beim Bestehen eines sokhen Zusanimen- 
hanges erklaren ktssen und sonst nicht. Das ist alter dcr In- 
dizienbeweis. — Lassen sich aber sol die positive Anzeidien, 
welche beweisen, daB dieser Zusammeuhang der einzig inog- 
liche ist, litchit tinden. so ist die GewiBheit seiner Geltung 
nicht gesichert. Aber es liifit sick dann dock oft zeigen. da8 
von mehrereu nioglichen Yerkniipfuugen jede and ere auftcr 
einer unwabrscheinlidi ist. Dunn ist diese Synthcse wenig'- 
stens ah (niehr Oder weniger) wahrscheinliche Hypothese er- 
wiesen. Uud das ist wold der haufigste Fall. 
Es ist lehrreich zu sehen. wie eine naturwi^ni- 
s e li a f tl i e h e Disziplin. und zwar eben aui' hist oris diem 
Gebiet. die Aufgal.ie eincr rfyirtliese zu Io-hih siud\t, O. Abel 
hat in seineu Xebensbildern aus der Tierwelt der Vorzeit' 
('1922) die Aufgabe auigeiiomnien, ,das Tierleben der Vonvelt 
nicht nur in seinen Einzelges't alien, sondern in seiner Gesanit* 
heit, als Lebensbild im Rahmen seiner einsitigen l ; mwelt' dar- 
zustellen (Vorwort. S. Ill) — offenbar eine Aufgabe, die 
ebenso Phantasie und schopferiselie Kombiuatiou erl'ordert 
wie eine geistesgeschichtlidie. Als -die wis-sonschaftlichen 
Jiethoden, die tins eine Rekonstruktion vorzeitlicher Lebons- 
bilder gesifcaf'ten', bezeichnet er (Vorwort, S. IV. V) einerseits 
: Analogiescblusse" — vgl. dazu die Bemerkungen iiber Ana- 
logiesdtliisse, S. 279 — von der lebenden Tierwelt mid Hirer 
Umwelt unter bestinmiten analogen Verbal tnissen auf das 
Tierleben entsprechender geologischer Epochen (z. B. von deni 
heii'tigen Tierleben des indomalaiischen Archipels auf das der 
osterreichisdien Braunkohlenstimpfe der Miozanzeit): anderer- 
seits ftihrt er, ftir entferntere geologisdie Epochen, die -paliio- 
biologische Untersuchung' tin, welche iiber die Korperform 
und Korperhaltung einer heute fremdartigen Tiertype hinaus 
Die GriindtVintu'Li der \vis«mseIi:iEtlk'htMi Methoiieii. 2b5 
audi ihre Bewcgungsart unci Xahrungsweise. Hire ganzc 
Lebensweise zu erschlieBen suclit. Das ist .die Jiethodik der 
8 c h 1 u 13 f ol gem n gen . . .. die zur Rekonstruktion eines 
vorzeitlichen Lebensbildes fi'ihren'. und sie soil irn einzeluen 
zur Xachpriifung .often und ehrlich dargelegf wevden. Die 
DurdiMhrung zeigt. da 8 audi bei der unsidiersten Rekon- 
struktion (der aus der Permzcit) das Gesamtbild aus der 
sdduBi'olgernden Diskussion fester Tatsachun begninclet wird. 
abcr audi. daB unausfullbare Ltieken in einem solchen Ge- 
samtbild nicht durch unbelegbare Intuitionen ausgefullt wer- 
den diirfen, sonde m eben often bleiben. Hier giht also die 
Intuition nur die Leitidee ftir die Aufsuchung der begTiin- 
denden Instanzen an. 
Das Begriindungsverfahren bleibt aber in den Ge- 
schichtswissenschai'ten oft erzwungeneniKifcSen mnngelhaft. 
liiekeiihaft. weil iufolge der Unvollstandig'keit der Quellen 
]iicht alle logisdi errYirderlichen Da ten vorhanden sind. Dar- 
aus erflieBt dann aber die Yerschiedeuheit der Ansichten und 
der AufTassung (z. B. liber den Cbnrakter Oasars oder iiber 
die Entstehung der niittelalterMehen Stadt). Die fehlenden 
Glieder iverden dann bloB a n g e n o m m e n. ohne eriviescn 
werdeu zu konnen. und fur solche Auualimen stehen natiirlich 
melirfaclie Moglichkeiteii often. Aber audi diese Aunahmen 
diirfen nicht vollig ■willkiiiiich bleiben. sondern mtissen sich 
in lcitzter Linie irgendwic. durch Konsequenzen 'Oder durch 
Ubereinstimmung' oder Wklersprnch im Zusammenhang des 
geseiiichtlidien Ganzen. bestittigen oder widerlegeu lassen. 
Sonst sind es blo8e Fiktionen — erne Geschichtsclireibnug aus 
Wahrheit und Dichtung ! Es ist darum gerado ein Gebot 
wissenschaftlicher Soliditat. solche Liicken des Wissens nicht 
zu verschleiern. sondern often einznbekennen. Anf dem Cber- 
sehen oder willkiirlidien Ausfiillen der Beweisliicken berubt 
es audi. daB in den liistorischen Wisseusehaften viel hiiutiger 
als in den Katunvissenschaften durch neuerlidie Xadiprtirung 
der Beweisgrundlagen und Aufdeckung ihrer Unstichhaltig- 
keit eine sensationelle Krttik moglich wird. die alle* Bisherige 
nmsturzt. 
Erst eine metbodische Begriindung erhebt eine intuitive 
Kunzeption liberliaupt zu ciner wissenschaftlichen Erkenntnis. 
286 v. k ni f ;. 
Die mixlernen Theoretiker der Geschichtswissenschaften 
wollen hingegen gera.de den methodischen Geltmigsnachweis 
durch den Wcg' des Fiudens ersetzeu, die Intuition selb'St als 
t'inen hinieiclienden (Jeltungsgrund betrachten. Jede andere 
Geltungsbegruudung- ^oheint ihnen genide durch die Eigenart 
des Geschiehtserkenntn'^veges au*gesehlossen, denn das 
Yerstehen des Hisitorisehen (von Sinugebilden mid frem- 
den Seelenleben) triigt zugleicli das Kriteriuni seiner 
Kichtigkeit in sich. Wenn der Historiker einen seelischen 
Zusammenhang. eine Individual tilt im Nacherleben rekon- 
>tmiert. so wird die Gewiihr der <>bjektivit.;lt dessen in dem 
nachbildenden Akt selbst mitgegeben, indem sich zugleich ein 
.unmittelbares Gefiihl der Biindigkeit' oder ein .Gefuhl der 
psychologischen Wabrscheinliehkeif 13H (S, 35) einstellt. Was 
mis der objektiven Gidtigkeit versichert. ist .eine psycho- 
iogtsehe Qualitat der Yovstellungsweise selbst\ .Diese Art 
der psychologischen Xotweudigkeit begleitet die Vorsteilun- 
gen. mit. deneu wir geschichtliche Personlichkeiten rekon- 
struieren oder vielmehr, sie sind eben dann rekonstruiert, 
wenn das Bild ihrer seelischen Zustande und Bcwegungen 
• liese Begleitung erwnrben hat' ($, 34). Dieses immanente 
Kriteriuni der Kichtigkeit wird ausdrucklich einer theore- 
Tischen Begriindung eiitgegcugestellt. Das .unmittelbar uber- 
zeugende Geluhl der Lebenswahrbeit . . ., wie wir es auch 
gegeniiber dem Gedicht oder dem Bortrat haben', verdankt so 
wenig wie bei dieseu seine L'berzeugungski'aft theore'tischen 
Erkenibtmssen. .Diese mogen vorhanden sein, sie mogen die 
Basis audi jenes Gefiihls bilden: ersetzen konnen sie es nicht, 
es bleibt immer ein unerzwingbares, qualifativ cigenartiges 
Gebilde' (S. 35). Es ist etwas ganz anderes als ein rationales 
Erkenneii. eben ein hituitives. .Wir s oh L i e B e n innerbalb 
dcr historischen Bilder von Art und Grad des einen seelisehen 
Element es auf Art und Grad des anderen — aber nicht im 
Syllogismus, der auf AUgemeingiiltiges nusgeht. sondcvn in 
einer Synthesis der Phantasie, die dem sehlechthin Indivi- 
duellen gegeniiber den Gcltungswert des Kationalen auf die 
Zufalligkeit des bloB Gescliehendcn zu iibertragen JIacht und 
Kecht hat' 1:iLI (S. 40). .Die Wabrheit einer geschiclitlichen Er- 
kenntuis liiRt sich niemaiidem auf: rein logisehem W'^x an- 
Din Gniiidforunju dor wissensetiat'tliolieii Met linden. 2b ( 
demonstrieren. .Wenn ihr's nicht liihlt, ihr wcrdct's nicht er- 
jagen" . . . Irrationale Momente si ml in sie unaufhorlich ver- 
woben" 13T (S. 80, SI) i:i: - (S. 83). 
Daniuf beruht es. dafi die Oeschichtsciireilmng so oft 
ganz nahe an die Kunst herangeriickt wird; z. B. von 
E. Meyer 142 (S. "201): .Die innere Einheit der psychiseben 
Yorgange in eineni Menschen oder einer llenschengruppe 
lafit sich vollends nur durch Intuition kuustleriseh erfassen. 
aber menials wissenschaftlich erkennen' (auch S. 207. 208). 
Ebenso bei Lamprecht (rf. 5) n. a., hesonders auch in der 
modernen Kunstgesdiiehte ir,T . 
Aber damit wird der Boden der Wis'seusehaft unzweifel- 
hat't. verlassen. Sob-he rein intuitive EinSLChten niogeu wohl 
Erkenntnisse sein, aber es sind keine wissenschaft- 
lichen Erkenntnisse mehr, denn zum YVesen der Wjssen- 
sdiaft gehort die Xachrecbenbarkeit Hirer Ergebnisse. Das 
maclit ja. gerade den eigentumlicheu Wert des Kulturphano- 
mens .Wissenschaft' aus, daB sie Hire- Behauptungen begrtin- 
det mid nicht emfadi hinstellt, rind daB sie sie in eineni 
System enitwic-kel't. Das grenzt die Wissenschaft in dem 
Bereich der Erkenntnia uberhaupt ab, dcnn nicht alle Er- 
kenntnis ist Wissenschaft. Ein nicht geringes Gebiet von 
Erkeuntnis stelit neben, auBerhalb der Wissenschaft: es sind 
die Einsicbten. die wohl wahr sind, aber die (wie z. B. die 
gerichtlichen Tatbestandsfeststelhmgen) keinen systemati- 
schen Zusammenhang miter einander bilden oder (wie die 
Einsicliten des praktischeu Lebens, auf die z. B. Muller-Freien- 
fels 141 so vielfach hinweist) ohne we Here Geltungsbegrihidung 
dastehen. In diesen Bereich von Erkeuntnis, die Hirer ganzen 
Art nach dock nicht wissensohaftlicli ist — ■ ohnc deshalb nicht 
Erkeuntnis sein zu komien — . geboren alle die kulturhistorisdi 
so wirksamen und oft wertvollen Einsicliten, die sich be- 
deutenderen Personlidikeiten in der Welt und im Leben 
erschlo'Ssen haben und die dann cinfach bingestellt, und aus- 
gesprochen werden wie z. B. bei Spengler oder Keyserling 
oder Rathenau. Es ist ein eigenes, charakteristisches Gebiet 
von Erkeuntnis. Sollte es Wissenschaft sein. so ware es ganz 
unzulanglioh und mangelhaft. Aber es will gar niebt von 
dieser Art sein. ohne den Ansprueh auf den Erkeuntnis- 
288 V. K r a f t- 
cliarakter aufzugeben. So orkljut Rath emit i in tier Widnmng 
seiner .Kritik tier Zeit : an G. Haupitmann ausdriicklich: .. . . 
die Oberredungskunst des dialektischen Bewerses. die i eh 
niclit achte. Teh glaube. dafi jeder klare Gedanke den Stem pel 
der Walirheit oder des Irrtums auf der Stirn tragf. Dahin 
niiiftten nun "inch die Geschichtswissenscliaften gezahlt wer- 
den. wenn sie sich wirklieh auf btofie Intuition auffoauen 
wollten. Wenu sie aber Wissenschaft sein pollen, so ist eine 
methodisehe Begriindung fiir sie unerlafilich. 
Wozu aber noeh eine Begriindung. wenn man ■tivtsachlich 
das Ergebnis schon vor sich hat. wenn psyehologisch die In- 
tuition ohnedies immer das Primare und Ftihrende ist? Ist 
das niclit. blofie formalistische Pedanterie? Der tiefere Gruud 
liegt darin. dafi die geschichtliche Erkenntnis nur dadureh 
Kines gewinnen kann. was jenem Bereich aufierwisseuschait- 
licher Erkentnis inimer abgeht mid nur die Wissenschaft aus- 
zeichnet: die objektive Sicherheit ihrer Geltmig, denn es gibt 
niancherlei Intuition, walire nnd i'alsehe — und halbwahre. 
mid die letzteren sind viel haufiger als die ersten. Der eine 
schaut die vorliegenden Einzelziige zu diesem, der andere 
zu jenem Bild einer historiseheu Pei'sonlichkcit zusammeir. 
wie soil da ent'scliieden werden, welohes intuitive Bild das 
riehtige ist? Xur in der Wissenschaft gibt es em unzwei- 
deutiges Kriterium der Wahrheit: gesetzm&Biger Zimmmen- 
iiang einer Behaiiptung mit anderen feststehenden. In der 
Begriindung wird dieser Zusammcnhang klar aufgewiesen. 
Dadureh werden wir der Wahrheit dieser Behauptung gewiG. 
Ohne Geltungsablettung, als rein intuitive Einsicht. stent sie 
i'iir sich allein und tragi alle Gewahr ihrer Giiltigkeit in sich 
selbsh Es ist ein su]>jektives. personliohcs Fundament, nidit 
ein unpersdnliches. objektives wie der formale logische Gel- 
tuugszusammeuhang. Hid da rum ist die Wahrheit soldier 
Tntuitionen immer problematiseh. Sie konnen wahr sein, aber 
auch falscli sein; das ist ihneii niclit anzusehen mid einen 
anderen Weg. mis dessen zu versichern. haben wir niclit man- 
gels jeder Begrmtdung. Darin liegt ja der Mangel aller 
solclien VVerke wie der von Spengler u. a. Man hat mit ihren 
groftziigig'en Synthesen nie ein si chores Ergebnis vor sich. 
sondern immer etwas Probleinatisehes. das erst eine wisscn- 
Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden. 289 
schaftliche Nachpriifung auf seinen Wahrheitswert erfordcrt. 
Es sind Einfallc. wie sie audi in der wissenschaftlichen Arbeit 
am Anfang wtehen: aber erst einc method isdic Bcgriindung. 
wie sie die Wissenschaft gibt, vennag uns ihrcn Oliarakter als 
Erkenntnis zu verbiirgen. Wie .oft betrachtet man die 
erste Intuition als die cinzig mogiiche Synthese und Ubersieht, 
daB es dabei audi nodi andere Moglichkeiten gibt, ,weil die 
erste. Richtung gebende Intuition, die uns auf eine gewisse 
Kombination hingelenkt hat. unseren Gesichtskrcis leieht be- 
schrankt halt, so dafi wir nur die Moment e sehen, die nacli 
der einen Richtung hiu liegen' 1U> (S. 576). 
Diese Konsequenz des Intuitionismus, daB sich auf dera 
intuitiven Vveg subjektiv verse hie dene Synthesen 
ergeben konnen, haben aber audi die modernen Theoretiker 
der Geschichtswissenschaften nicht iibersehen konnen und sie 
haben sie in der Weise in ihre Theorie aufgenommen. dafi 
darin eine objektive Mehrdeutigkeit erkenntnismaBig zur 
Geltung kommt, daB in den verschiedenen subjektiven Auf- 
fassungen des historischen Geschehens erst dessen komplexer 
Charakter erfafit wird. ,Es ware ein falscher Rationalismus, 
anzunehmen. daB diese personlichbedingten Ungleichheiten 
zu beseitigen waren. . . . Die Fiille der Geschichtsbilder ist 
gerade das, was sein soil. — in ihrer Gesamtheit erst niiliern 
wir uns dem in strengem Sinn unerfaBbaren Keiehtum des 
Geschehens an sich' 13T (S. 80). Das setzt aber entweder vor- 
aus. daB die verschiedenen intuitiven Geschichtsbilder mit ein- 
ander verthiglich sind und sich nicht widersprechen — ■ und 
dann sind es eben doeh nur Teile eines Ganzen, Elemente 
fur eine neue, hohere Synthese; oder die Satze schlieBen 
logisch einander aus — ■ und sollen doch jeder wahr sein, dann 
laut't es auf die Lehre von einer mehrfaclien Wahrheit hinaus; 
dann stellt sich die Geschichtswissenschaft damit auBerhalb 
der Logik ins Irrationale. 
Diese Au s einander set zung mit dem Intuitionismus durch 
den Nachweis. daB die formale Begriindung fur die wissen- 
schaftliche Erkenntnis unerliiBlich ist, bat eine weitere Be- 
deutung als bloB fiir die historischen Wissenschalten. Denn 
die intuitionistische Stromung ist eine allgemeine; aueh in 
den anderen Wissenschaften macht sie sich geltend. Fiir die 
Sitzungsber. d. phil.-hist. Kl. 203. Ed. 3. Alih. 19 
290 V. Kraft. 
Erkenntnistheorie hat sich das ja schon im 1. Teil gezeigt. 
Audi in dor geographischen Landerkunde will E. Banse die 
Synthase der einzelnen geographischen Charakterziige einer 
Landschaft zum Ganzen eines .Landschaitsbildes' ganzlicli 
der ,kuns tie rise hen Intuition des Dichters' uberweisen. -Zer- 
gliederung und Bogriffsbi Idling allein fiihren nicht zum Ziele, 
sie bereiten nur gesichtetes Material auf mid es bedarf einer 
anderen Hand, em wohnliches Gebaude daraus zu errichten. 
Hier springt die Kunst ehr 140 (S. 18). denn es handelt sich 
bei der landerkundlichen Syn these in letzter Linie urn das 
.Einfuhlen in die Seele eines Landed (S. 16 f.). Selbst in der 
Jlathematik stellt Brouwer liT dein bisherigen Formalismus, 
d. i. der formal-logischen Entwicklung von .Relationsserien' 
zwischen den mathematischen Grundelementen ,unabhangig 
von der Bedeutung, die man den Relationen oder den Entitaten 
zuerkennen will', einen Intuit ionismus gegeniiber: Die Mathe- 
matik beruht in letzter Linie auf ^r-Intuitionen', die sich aus 
der individuellen Zeitanschauung in dem Sinne der Ver- 
anderungsreihe durch Abstraktionen ergeben. Dadurch kommt 
man zu den zwei Grundschopfungen der llathematik: der 
endlichen und der unendlichen Ordinalzahl und den Relatio- 
nen. Der 1'Ogi.sche Formalismus ist nur eine nachtraglicho al> 
strakte Formulierung von Regelu auf Grund dieser konkreten 
Ur-Intuitionen. 
Es ist kiar, dafl die Frage, ob eine exakte wissenschaft- 
liche Geltungsbegriindung an den logischen Formalismus ge- 
bunden ist oder ob ihm gegeniiber die Intuition eine selb- 
stiindige, hinreichende Geltungsgrundlage bildet. von der 
grofiten Wichtigkeit und Tragweite ist. Ware das lotztcrc der 
Fall, so stiinden der Wissensehaft ganz neue Wege offen und 
diese Wege wiirden sogar iiber das Gebiet eines prinzipiellen 
Rationalismus, in das der logische Formalismus das wissen- 
schaftliehe Erkennen einsehlieBt, hinausfiihren und auch ein 
Gebiet von irrationaler Struktur erkennbar machen — 
weil eben Intuition, Einftihlung nicht an logische Struktur 
gebunden ist. 
Aber der Intuitionismus mufi immer an der unuberwind- 
lichen Schwierigkeit scheitern, fiir seine unmittelbaren Ein- 
sichten Eindeutisrkeit zu siehern. Bei einer kom- 
Die Grundfonnea der wissensebaftlichen Mothodeu. .291 
plexen Sachlage gehen die Intuitionen leicht auseinander. 
Xur die einfacbun. immer gleichen. .formalen' Relationen logi- 
sscher Art werden mit eindeutiger Sicherheit intuHiv erfaBt. 
Darum kann <>iue Intuition erkenutnistheoretisch nur lieui-i- 
stische Idee sein, die immer erst nooli einen formal-logisehen 
iCachweis ihrer Geltung erfordert. Oiese unbedingte Beweis- 
forderung ist danim kein blofier pedantischer Formalismus, 
der das schon vorhandene Ergebnis noch mit einem Gerarik 
von Schlussen umzieht, sondern die cinzige Moglichkeit einer 
Kontrolle und Entscheidung fiir widerstreitende Intuitionen. 
Gerade in Bezug auf das Gebiet der hoheren und hochsten 
Aufgaben der Gerichichtswissensehaften zeigt es sieh damit 
deutlieh, dafi die Methoden, welche die Wissenschat'tslehre 
dafiir namhaft macht, keineswegs aus einer einfachen Be- 
schreibung des tatsachlichen Verfahrens gewonnen sind, denn 
mehr wie sonst 1st auf diesem Gebiet die Arbeit darauf ein- 
gestellt, da 6 das Resultat und die Argumentation dafiir im 
GroBen und Ganzen einleuchten; immer bewegt sie sich in 
Gedankenspriingen und nicht in Sehluftketten und lafit sich 
dabei bloB vom Gef ilhl fiir das Richtige fuhren. Wenn die 
Wissenschaftslehre hiefur nun streng" Iogischc Beweismethoden 
entwickelt. aus den .allgemeinen Bedingungen der Wissen- 
schaft und Geltungsbegrundung herxius, so bezeichnet sie da- 
mit nur das methodische Ideal, dessen Erfullung allein eben 
den Bedingungen wissenschaftlicher Qualification gereeht zu 
werden ermoglicht — und dessen Erfullbarkeit darum fiber 
das Sebicksal als Wissens ch a f t entscheidet. 
Aber die Moglichkeit einer logiseh geschlossenen Be- 
weisfulmmg begegnet fiir die Geschichtswissenschaften einer 
prinzipiellen Anzweiflung und daraus erwachst konsequenier- 
weise eine vollstiindige Negation objektiver liistorisdier Er- 
kenntnis iiberliaupt. Sehon Carl vie U8 (p. 257, 258) hat als 
grundsiitzlidie Schwierigkeit aller historischen Wissenschaft 
geltend gemacht, daB die historiscbe Uberlieferung nicht nur 
mangelhaft ist. sondem geradezu verfalschend wirkt fund 
daB audi die Art unserer Beobachtung und Auffassung der 
historischen Yorgiinge nicht angemessen ist: als eine suk- 
zessive gegeniiber einer simultanen). Und in jungster Zeit ha ben 
Th. Lessing x ' ,u und W. Hans 14;i an alien Hauptaufgaben der 
292 V. K r a ft. 
Geschichtswissenschaft darziitun gesucht, daB sie sich auf 
wissenschaftliche Weise nicht vollstandig bewiiltigen lassen, 
daB eine objektive Geschichtserkenntnis unmoglich ist. Aus 
soldier Skepsis vennag na<tiirlieh auch eine Berufung auf 
Intuition statt methodischer Begrtindung nicht herauszu- 
fiihren, denn durch sie liiflt sich Subjektivitat und Mehr- 
deutigkeit erst recht nicht iiberwinden. Wiirde es die Mangel- 
haftigkeit der historischen Uberlieferung prinzipiell aus- 
schlieBen, eincn logisch stichhaltigen Naehweis wenigstens 
wahrscheinlicher Hypothesen uberhaupt herzustellen, weil da- 
zu die Quellen nie in hinreichender Vollstandigkeit zur Ver- 
fiigung stehen, dann ware Geschichte eben als Wissen- 
schaft gar nicht moglich. Sie ware dann nur eine immer 
problematische Erkenntnis. ebenso gut aber auch eine dich- 
terische Erganzung der (Jberlieferungsfragmente. Und die 
radikalen Kritiker unserer Tage haben sie ja auch bereits 
ftir Wis sense haft, Dichtung und Pilosophie in Einem er- 
kliirt liy (S. 43) oder sogar fur bloBe ,Traumdichtung der 
Menschheit' 150 (S. 10). 
Eigentlich kann aber die Wissenschaftlichkeit der Ge- 
schichtschreibung nur fiir das Aufgaliengebiet der 8 y n t h e s e 
(im angegebenen Umfang) in Frage gestellt werden. denn 
daB die Quellenkritik und die ■ Ermittelung der historischen 
Einzeltatsachen aus den Quellen auf wissenschaftliche, metho- 
dische Weise zu leisten *ist. wird nicht (vgl. 14y S. 18) und 
kann auch wohl kaum in Zweifel gezogen werden. Nur fiir 
das seelische Verstehen und die Verkniipfung der historischen 
Einzeltatsaehen wird ja erst die Intuition in Anspruch ge- 
nommen. Geschichtschreibung wiirde dann ein sehr unhomo- 
genes Gebilde darstellen; sie wiirde sich aus zwei ganz ver- 
schiedenen Bestandteilen zusammensetzen: als Quellenkritik 
und Tatsaehenfeststellung ist sie Wissenschaft; sofern sie 
Zusammenhangssynthese und verstehende Deutung ist, ware 
■sie hingegen — Dichtung oder doch eine ewig problematische 
Konstruktion. 
Aber die lloglichkeit oder Unmoglichkeit logisch strin- 
genten ErschlieBens historischer Tatsachen und Zusammeu- 
liiinge aus der gegebenen Oberlieferung wird nicht durch prin- 
zcpielle Erwagungen entschiedeu, sondern nur an den konkre- 
Die Gruudformen dot \\ issiMiK-ha ft lichen Muthodeu. 2Jo 
ten Fallen historiseher Forschung. Solche kritisch zn .analy- 
sieren und dadureh einen positiven Nuchweis daftir zu erbringen, 
ist bereits frtiher, zwar liiciit ausfuhrlich. aber weuigstcus 
skizzierend versucbt worden. Auch die Frage, ob die histo- 
risclie Ciberlieferung. die Quellen. ganz allgemein so unzu- 
reichend und false li ist und cine so inadliquate Auswahl, dafi 
sie prinzipiell iiiibrauchbar wird, lafit sich mir empirisch ent- 
scheiden. dureh Untersuehungen, "\vie Uberlicferung unter 
vcrschiedeuen Bedingungeu zustande konniH und wovon sie 
abhangt und welch e Wall rscheinlichkei ten in den beyond even 
Fallen fiir die Qnalitat der vorliegenden lib erliefe rung anzu- 
nehmen ist. Solche UiitersucUungen wiirdeu wohl ergebeu, dafi 
in einem gewissen Uinfang, wenn auch natiuiich nieht unbe- 
sebrankt. die Bedingungen gegeben sind, welche die For- 
do vungen geschichtswissenschaftlichev Methodik evfulibar 
machen; daB' gegeniiber jener geschichtswissensch-aftlichen 
Skepsis doch nur die Verteilung von GewiBheit und 
Wahrschcinlichkeit und vdlliger Uugewifiheit in Bezug auf 
die historischen Ergebnisse in Frage komraen kaun. aber 
nieht eine vollstandige Negation aller Gewifiheit und begriin- 
doten Wahrscheinlidikeit. Gnmdzdge des historisehcu Ge- 
schehens' werden wohl mit Sicherheit oder Wahrgcheinlichkeit 
festzustellen sein. nur die feineren Linien und Details, beson- 
ders bmsichtlich de.s psychologischen Verstebens. aneh der 
Kausalzusammenhange. verschwimmen in hoi'fmmgsloser Un- 
bestimmbarkeit. Natttrlich wivd sich diese Verteilung je nach 
dera Reiehtnm der Quellen fiir versehiedene Zeiten und Ge- 
biete sehr verschieden gestalten. 
Was im Vorausgehenden m Bezug auf die individual- 
wissenxchaftliehen Methoden speziell an den Geschichtswissen- 
sehafteu ausgefiihrt worden ist. das gilt ebonso aueh fiir die 
anderen individualisierenden Wissenschaften: fiir die goo- 
graphische Landerkunde und die besehreibende Astronomie. 
Auch in der Landerkunde spielt die Generalisiorung als sekun- 
diires Erkenntnisziel eine nicht geringe Rolle. Es bildet eine 
hiiunge und wesentliehe Aufgabe, lokale BegelmaBigkciten zu 
induzieren, vor a Horn in der Klimatologie. z. B. das Wind- 
system Mitteleuropas, mittlere Jahres- oder Monats-Temper.i- 
turen und -Xiederschlagsmengen nsw., aber aueh in morpho- 
294 V. Kraft. 
logischer Hinsieht. /-. B. die Trogtaler, die Kare und Grate 
der Alpen. Natiirlich sind es auch bier riiumlich und eigent- 
lieh auch zeitlich begrenzte Regelmiifligkeiten. 
Der Tndizienbeweis spielt allerdings in der Geographic 
nur eine geringe Rolle, weil ja bier in den moisten Fallen 
direkte Beobachtung mdglicb wird. Aber in der Astronomie, 
vor allem in der Astrophysik, bildet er das grundlegende A'tr- 
fahren. Wenn man .aus dem Spektrum der Sonne auf die dort 
vorbandencn cheinischen Elemeute schlieGt, wenn aus den 
Beleuchtungsverhaltnissen des Mond.es das Fehlen eincr Atjno- 
sphare oder aber das Vorhandcnsein einer sehr diinnen Atmo- 
sphare zu erweiseu gesucht wird. wenn ein Stern intolge be- 
st immter Lichtweehselerscheinungen als Doppelstern erkannt 
wird, so beruht das auf ganz derselben Met bode des Indizien- 
beweises wie in der Gesclutditswi.ssenschaft. 
Das aucb fur die Aufgabe der Syntbese in der Lander- 
kunde methodisch da-sselbe gilt wie in der Geschichtswissen- 
scbaft, ist schon friiher ausgeiiihrt worden. Aw eh hier ist sic 
nur -auf dem Weg der angegebenen Methoden zu iosen. nieht 
intuitiv. 
Eft ist somit gesichert. daft der methodisehe Charakter. 
der an den Geschichtswissenschaften ausfiibrlicb naehgewiesen 
worden ist. fiir den ganzen Bereich der individualisierenden 
Wissenscbaften gilt. Und daunt habe icb alio grundsatzliehon 
Art on wissenschaftlichcr Erkenntnis in Beziig auf ibre Metho- 
den der Erkemitnisbegriindung analysiert. Der Indizienbeweis 
ist die spezitische Methode. wclche mit den individualisierenden 
Wissenschaften zu den Methoden der Theorie und der Induk- 
tiou hinzukoramt. Aber auch er bleibt vollstandig im Rahmen 
logischer SchluGoperationen. 
Die Gnmdformen der wissen&chaftliclicn Metkoilen. ^vO 
Liter aturnachweis. 
' I. Volkelt. Gewifiheit u. Wahriieit. 1918. S. 23. 
2 H. lleichenbach. Relativitatstheorie u. Erkeuntnis a priori. 1920. 
S. 71, 72. 
3 W. Windelbaud. Vom System der Kategorien. ( Phi lo soph. Abhandl., 
Chr. Sig-wart gewidmet. 1900.) 
4 E. Husserl. Logische Uutersuchimgen 3 . 1922. 
5 E. Husserl. Philosophic als strenge Wissenschaft. 1910. (Logos, I. 
S. 314-316.) 
* E. Husserl. Ideen zu einer reinen Fhanomenologie. 1913. 
7 So von F. Kaufniann. Logik u. Reel its wissenschaft. 1922, u. Fr. 
Schreier: G rundb egriffe u. Grundformen des Ilechts. 1924. 
s z. B. K. Koffka. Zur Grundlegung der Wahrnehmungspsychologie. 
1915. (Beitrage z. Psychologic d. Gestalt- u. Bewegmigserlebnisse. III. Zeit- 
schr. f. Psychologie., 73), worin wegen der Frage der Frovenienz der Gestalt- 
Vorstellung (gegeniiber Benussi) allgemein die Kriterien des Unterschiedes 
zwischen reiner Sinnesempfindung und Wahrnehmung untersucht werden. 
9 G. von der Gabelentz: Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, 
Methoden «. bislierigen Ergebnisse 1 . 1901. S. 89, 91,92. 
10 M. Pasch. Begriffsbildung u. Beweis in der Mathematik. 1924. 
(Annalen d. Philosophic, 4.) 
11 M. Pasch. Mathematik u. Logik. 1919. 
1! W. Wiadelband. Priiludien. Kritische oder genetische Methode. 
1S83 2 . 1902. — H. Rickert. Zwei Wege d. Erkeimtnistheorie. 1909. (Kant- 
stud i en, 14.) — Dazu auch N. Hartmann. Svstemalische Methode. 1912, 
(Logos, 3.) 
13 Vgl., audi zum folg., Tropfke. Geschichte d.EIementar-Mathematik. I. 
1903 u. M. Cantor. Geschichte d. Mathematik 2 . I. 1894. — Enzyklopadie d. 
Elementar-Mathematik v. Weber u. Wellstein. I 3 . 1909. — H. Hahn, Arith. 
inetik, Mengenlehre, G rundb egriffe d. Funktionenlehre, §§ 1 — 4. (Pascals Re- 
pertor. d. lioli. Mathematik. I., 2". 1910.) 
14 A. Voss. Cber d. Wesen d. Mathematik 2 . 1913. 
15 H. Weber. Enzyklopadie d. elemental". Algebra u. Analysis 3 . 1909. 
1G L. Couturat. Die philosoph. Prinzipien d. Mathematik. Deutsch v. 
Siegel. 1908. 
17 F. Enriques. Probleme d. Wissenschaft. Ubersetzt v. Grilling. 1910. 
'" Enzyklopadie d. eleuientar. Geometric v. H. Weber, I. Wells tern a. 
W. Jacobstal 2 . 1907. 
,p H. Hehnholtz. Uber d. Ursprung u. d. Bedeutung d. geometr, Axiome. 
1870. (Keden «. Vortriige. 11.) 
-" B. Russell. The Principles of Mathematics. I. 1903. 
21 Vgl. dazu auch die gute tlbersicht von Carnap. Der Kaum. 1922. 
I Kantstudien. Erganzungsheft 56.) 
296 V. Kraft. 
v - M. l J asch. Vorlesungen iiber nenere Geometrie. 1882. 2 1012. 
- 3 Vgl. P. Natorp. Die Iogischen Grundlagen d. esakten Wissenschafteu. 
1910. — K. Honi^sivald. Znm Streit iiber d. Grundlaged d. Matheiuatik.' 191-/. 
— E. Asler. Prinzipien d. Erkenntnislelire. 1913. 4. K.'ij>. — I. v. Kriea. 
Log-ik. 1916. 27. Kap., 4. Kap., ]. K.ip. — H. Heymans. Elemeute u. Geaetze- 
d. wissenschaft lichen Denkens. 1894.- 11)05. §31 — 65, der aher den ,analyti- 
tisclien' Cliarakter der ,ari thmetisch.cn Lelirslitze, d. i. ihre log'isuhe Ableitbar- 
keit auf Grand der Axioms zutribt (§32,37); dagegen zutren'end C. Stumpf, 
Zur Eiiiteilunjr d. AVissenschaften (Auliandlgn. d. k. preufi- Akad. d.Wissciiscti., 
190G), der aber mir die Geometric beliainlelt, und ganz besonders M. Schlick. 
Alio;. Erkemitnisl&bre-. 1925. § T. 
24 E. Cassirer. Sn bstanz.be griff u. Funktionsbegriff. 1 1 0. 
25 E. CassLrer. Kant u. moderns Mathematik. 191)7. (Kantstndien, 12.) 
- fi 0. Holder. Die Aritlnnetik in strenger Begrundimg. 1914. 
21 0. HGlder. Die malhemat. Methode. 1924. 
ss so Tb. Ziehen. Eikeiintnistheurie. 1913. .S. [03: Die Gerade wird 
als kiirzewte zwiscKen zwei 1'unkten ,dnrch vergdcichende Anschauunjr, d. i. 
Erfahrung* erkamit 1 . 
29 -vgl. F. Klein. Anwenduiig d. Differential- a. Iiitegralrechnung aiif 
Geometrie. 1902. 
30 E. v. Aster. Prinzipien d. Erkenntaislebre. 1913, 
'■" Tb. Ziehen. Logik. 1920. 
s - O. Holder. Auscliauung- u- Deiiken in der Geometric. 1900. 
33 Vgl. dazu L._Couturat. W. 293-29G; D. Hilb-jrt. Uber die gerade 
Linie als kiirzeste Varbindung zweier 1'uukte. 1895. (Mathemat. Annalen, 46.) 
31 M. Pasch. Grmidfrajren d. Geometrie. 19l"j. (Journal f. reine u. 
angew. Maibemat. 147. S. 186.) 
ab E. Kussell. Introduction to mathemat. philosophy. 1919." 1920. 
30 R. H'migswald. Zum Streit iiber dieGrundiagen d. Mathematik. 1912. 
31 H. Puinearc. Wissenscliaft u. Hypo these, iibers. v. Ljudentann, 1904. 
as D. Ililbert. Axiomatisclies Dcnken. 191S. iMathemat. Aunalen, ~>i.) 
39 A. Kdfcser. Mathematik u. Naiur. Breslauer Kaktoratarede. 1911. 
40 \V. Xernst u. A. ych*'»»flUs. Einfiihrung jn die mathemaiisohe Be- 
handlung d, Natnrwissensthaften. 8. Kap., § 5. 
41 G. Frege. Cber die GruniJlageii d. Geometrie. 1903. (Jahresbericht 
d. deutsch. Mathematiker-Yereinigimg, 12.) ,s. ,H19. 
42 so meint audi noc-Ii \Y. Miiller. Das Verhiiltuis d. Deiinitioueu zu 
den Axiomeu in A. nencren Matheiuatik. 1917. (Archiv f, d. gesamte Psycho- 
logic, 36.) S. 1 . j 7 : ,Daii die Axiome als Urteile uubedingte Geltung ftir sich 
in Ansprucli nehmeii imd da8 wir iimen die&e Ge'tung obnu weiteres zu- 
gesteiien, oder aber wir crkemion das Axiom nicht als solcbes an.' 
13 D. Hilbort. Die Grundlag-en d. Geometrie. 1S99. 
n IT. v. Heljnholtz. Cber die Tatsaehen, die der Geometrie zugrunde 
liegen. 18(58, (AVisseuscbaftliclie Abhandlung-en. II.) 
. 45 E. Cassirer. Zur Einsteinsclien Kelativit;its(h«urie. 1921. 
46 A. Riehl. Helmholtz in aeitiem Verhiiltuis zu Kant. 1904. (Kant- 
studien, '■).) 
Die Gruodt'ormeii der wissenschaftlichen Methoden. -«' 
47 li, Poincare. Wissenschaft u. Methode, fibers, v. Lindemann. 1914. 
48 Dazu auch die Kritik der reinen Anschauuiig Kants als Geltungs- 
grund der geometrischen Axionie dureh Helmlioltz, Cber d. Ursprung u. 
Sinn d, geometrisehen Siiize. Antwort gegen Urn. Prof. Land. 1878. I. (Wissen- 
schaftl. Abhandlgn. II. S. 640 f.) 
+ 9 D. Hilbert. Die Grundlagen d. Mathematik. 1923. {Mathemat. 
Annaleii, 88.) 
■* H. Puckert. Das Eine, die Einlieit u. die Ems-. 1924. 
51 K. Dedekind. Was sind u. was sollen die: Zahleu-. 1893. S. X, XI. 
— L. Kronecker. Cber d. Zahlbegriii'. 18S7. (PhiSosopb. Aui'satze, E. Zeller 
gewidmet. S. 212.) 
5 - Korselt. Cber d. Grundlagen d. Geometrie. 1903. (Jahresberichte d. 
deutsch. Matliemat. Vereinig., 1*2.) 
51 C. Stumpf. Zur Einteilung d. Wissenschaften. S. 05. (Abhandlgn. d. 
k. preuB. Akad. d. Wissensch. 19015.) 
54 H. Hertz. Die Prinzipien d. Mechanik. 1894. (GesammelteWorke. III.) 
55 H, Streintz. Die physikaliscuen Grundlagen d. Mecbanik. 1883. 
S. 1: , Sollen die Entwickiungen der analytischen Mechanik zu Kesultaten 
fiiliren, welche mit der Erfahrung iibereinstimmen, insoweit die notwendigen 
VemaclilJissigungen eine Cbereinstimmung erreiclien lassen, so musseii den- 
selben aus der Erfahrung abgeleitete Tatsacheu zugrunde gelegt werden.' 
66 E. Mach. Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 18S3. 6 1908. 
57 A. Voss. Die Prinzipien d. rationalen Mechanik. 1901 — 1908. (Eh- 
zyklopiidie d. mathemat. Wissensch. IV, 1.) 
5S P, Duliem. Ziel u. Struktur d. physikal. Theorien, iibers. v. Fr. 
Adler. 1908. 
59 Darboux. Bulletin scientifique mathemat. IX. 1875. 
60 so bei Love. Theoretical Mechanics. 1897. 
r ' 1 M. Schlick. liauin u. Zeit in der gegenwaitigeu Pliysik. 1917.- 1919. 
62 vgl. dazu F. Euriques. Probleme d. Wissensch. II. S. 430: ,Es ist 
demnach klar, daC das Prinzip der virtuellen Arbeit eine Gesamtheit von 
Tataachen, die teilweise als evident vorgesteilt werden, zu einer allgemeinen 
Annahnie zusammeufaSt und aus ihrer Gesamtheit andere Tatsachen ab- 
leitet, die durch verschiedene Experimente kon troll iert werden konnen. 
Aber nichts steht einer induktiven Entwicklung des Prinzipw entgegen, die 
zu seiner Anwendung auf Falle filbrt, die nicht auf die gepriii'ten Typen 
ztirtickfuhrbar sind. Dadurch wird in Wahrheit die in dem Priiizip ent- 
haltene Ann ah m e auf einen groBeren Kreis von Erscheinungen a u s- 
gedehnt und es wird den aus ihm abgeleiteten Folgerungen iiberlassen, 
diese erweiterte Anwendung zu rechtfertigeti'. 
05 A, E. Haas. Die Griuidgleichungen d. Mechanik. 1914. 
64 W. Tomson u. P. G. Tait. llandbuch d. theoret. Pliysik, deutsch v. 
Heltnholtz u. AVertheim. 1874. I., 2. Toil. 
05 G. A, Maggi. Principi della teoria matematica del movimento dei 
corpi. 1896. 
66 H. Vaihiiiger. Die Philosophie des Alsob 4 . 1920 
67 I. L. Lagrange. Mechanicjue analitique. II. Part, I. Chap. 
298 V. Kraft. 
Bs I. Boltzmarm. Vorlesungen Uber d. Priuzipe d. Mechanik. 1897. I. 
69 D. Hilbert. Begriindung d. kinet. Gastheorie. 1912. (Mathemat. 
Annalen, 46) u. Begriindung d. elementar. Strahlungstheorie. (Nachrichten 
d. k. Gesellsch. d. AVissensch. zu Gottingen, matli.-phys. KI. 1912, 1913, 1914.) 
70 D. Hilbert. Die Grundlagen d. Physik. (Nachrichten d. k. Ges. d. 
Wisaensch. zu Gottingen, math.-phys. Kl., 1915, S. 407.) 
71 I. Ingram. Gescbichte d. Volkswirtsuhaftslehre, iibers. v. Roscli- 
lauA 1905. 
73 Ch. Gide u. Ch. Rist. Gescliichte d. volkswirtschai'tl. Lehrmeinungen, 
deutscli v. Horn. 1913. 
73 Vgl. L. Stephmger. Zur Methode d. Volkswirtschaftslehre. 1907. 
S. 48 f. — F. Lifschitz. Unterauchungen Uber d. Metliodologie d. Wirtschafts- 
wissenschaft. 1909. S. 63. 
74 \V. M. Davis. Physical Geography. 1898. Deutsche Bearbeitung v. 
Davis u. Braun. Grundziige der Physiogeographie. 1911. — Dazu die Kritik 
bei A. Hettner. Die morpliolog. Forschung. 1919. (Geograph. Zeitschr., 25. 
S. 345 f.) — A. Passarge. Die Grundlagen der Landschaftskunde. III. 1920. 
S. 96 f., 516f. — A. Snpan. Grundziige d. physischen Erdkimde*. 1916. S. 548 f. 
73 E, Durkheim. Die Methode d. Soziologie. 1908. 4. Kap., II, III. 
76 Vgl. F. Enriques. Probleme d. Wissenschaft. I. S. 174. — A. Schon- 
flies. Die SteUung d. Deiinitioneii in d. Asiomatik. 1901. § 4, a, b. (Scluiften 
d. physikal.-okonom. Gesellsch. in Kunigsberg, 51.) — M. Schliek. Allg. Er- 
kenntnislehre 2 . 1925. 7. 
77 Vgl. Fr. London. Uber d. Beditigungen d. Moglichkeit einer deduk- 
tiven Theorie. 1923. § 5, 6. (Jahrb. f. Philosophic u. pluinomenol. Forschutig. 
VI. S. 335 f.) 
75 D. Hilbert. Neue Begriindung d. Mathematik. 1. Mitteilutig. 1922. 
(Abhandlgn. a. d. math. Seminar d. Hamburg. Universitiit, I.) 
79 Hjelmslev. Die Geometrie d. Wirklichkeit. 1916. (Acta niathe- 
niiitica, 40.) 
80 M.Pasch. Der Begriffd. Differentials. 19i>4. (Annalen d.Philosophie, 4.) 
Sl H. Poincare. Der Wert d. Wissenschaft. ttbers. v. Weber. 1906. 
" 2 Dieses AVesentliche am Werdegang einer Theorie hatte ivohl sclton 
Cotea, der Schiller und Herausgeber Newtons, im Auge, wenn er in der 
Vorrede zur letzten Ausgabe von Newtons Philosophise naturalis principia 
mathematica, 1714, sagt: Die wahre Wissenschaft geht in einer doppelten 
Methode vor, analytisch und synllietisuli. ,Die Naturkrul'te nnd die einfacheren 
Gesetze der Kriifte leitet sie aus gewissen ausgewahlten Erscheinungen 
dure)) Analyse ab, aus diesen legt sie dann durch Syn these die Konstitution 
der iibrigen dar.' 
83 E. Mach. Die Prinzipien d. physikal. Optik. 1921. 
K * O. Neuratli. Zur Klassifikation von Hypothesensysteiuen. (-Tahrb. d. 
Philosoph. Gesellsch. a. d. Universitiit zu Wien. 1914 u. 1915. 8. 37 f.) 
K5 11. Carnap. t v ber d. Aufgabe d. Physik. 1923. (Kantstudien, 28. 
S. 97—99.) 
86 Th. Haering. Pliilosophie d. Naturwissenschaft. 1923. 
S7 P. Duhem. Die Wandlungen d. Mechanik, iibers. v. Frank, 1912. 
Die Grundfornieu dor wissenschaftlichen Metboden. ^99 
ss II. Dingier. Physik u. Hypothese. 1921. 
80 H. Dingier. Die Grundlagen d. Physik. \i. Aufl. 1924. 
00 F. Klein. Anwenduug d. Differential- u. Jntegralreclmung auf Geo- 
metric. 1902. 2 1907. 
91 P. Natorp. Die logischenGrundlagen d.exaktenWissenschaften. 1910. 
M Wenn Pasch (Grundfiagen d. Geomotrie, Journal L reine it. an- 
gewandte Mathematik, 147. 1916. S. 187) den idealen geometrischen Be- 
griffen des Punktes, der Geraden, der Ebene, die Begriffe der .Stelle', des 
,Weges', der ,Scbale', der ,Strecke l als geraden Weges, der , Platte' als 
ebener Schale, der ,Bahn< und des ,Feldes' als unbegrenzter Strecke 
und Platte in dem Sinn empirischer geometrischer Begriffe gegeniiberstellt, 
so 1st das umgekehrt immer wieder doch nur eirie blofle Hbertragung 
der geometrischen Begriffe auf die Wirkliclikeit, keine Ableitung aus ihr. 
M M. gehliuk. Kriiische oder empiristische Deutung der Physik. 1920. 
(Kantstudien. 21. S. 98, 99.) 
91 K. Hiinigswald. Ober d. Unterscliied u. d. Bezieliungen d, logischen 
u. d. erkenntnistheoret. Eiemente in d. kiit. Problem d. Geometrie. 1900. 
(Bericht uber d. 3. internal. KongreB f. Philosophic. S. 887 f.) 
95 Fr. Bacon. Cogitata et visa. Ill, 018. 
9n I. Herschel. Preliminary discourse on the study on natural philo- 
sophy. 1831. Ober d. Studium d. Naturwissenschal't. Dbers. v. Henrici. 1836. 
97 I. St. Mill. System of Logic hiduktive and raliocinative. 1840. 
— System d. deduktiven u. induktiven Logik. Cbers. v. Th. Gomperz. (Ges. 
Werke, 2. u. 3. Bd.) 
98 W. Whewell. Novum Organon reiiovatum. 1858. 11. Part of tlie 
Philosophy of the inductive sciences. 
99 Fr. Bacon. Novum Organon. ed. by Th. Fowler. 1889. 
100 E. Fr. Apelt. Die Theorie der Induktion. 1851. 
101 W. St. Jevons. The Principles of science 2 . 1877. 
102 B. Erdmann. Zur Theorie desSyllogismus u. d. Induction. (Philosoph. 
Aufsatze, Ed. Zeller zu seinem 50 jahr. Doktor-Jubilaum gewidmet.) 1887. 
1,11 D. Hume. Treatise on human nature. Ill, C. Traktat uber d. 
mengchl. Natur. Ubers. v. KOttgen, iiberorb, v. Lipps. 1895. 
104 E.Mach. Erkeimtnis u. trrtum. 1905. 
105 A. Sttihr. Lehrbuch d. Logik in psychologisierender Darstellucg. 
1900. III. Erwartungslogik (Induktionslogik, Logik d. SchJusses aus der 
Erfahruug.) 
106 Alexander v. Humboldt u. J. F. Gay-Lussac. Das Volumgesetz gas- 
formigerVerbindungen. (Ostwalds Klassiker d. exakten Wissenschaften. Nr. 4l'.) 
107 L. Pasteur. Die in der Atmosphare vorhandeneu organisierten 
Korperchen, Priifung der Leltre von der Urzeugung. 1862. (Ostwalds 
Klassiker, Xr. 39.) 
"• F. v. Ricbthofen. China. 1877. I. 1. Absehn., 2.-5. Kap. 
,0B .1. v. Hanii. Das Luftdritckmaximmn vom November 1889 in Mittel- 
Eurupa nebst Bemerkungen uber d. Barometer-Maxima im allgemeinen. 1890. 
(Denkschr. d. k. Akad. d. Wissensch, in Wien, 57.) 
310 Zeitsehr. f. Meteorolog-ie. XL 1876. 
300 V. K i- a f t. 
111 N. v. Bubnoff. Das Wesen u. die Voraussetzungen der Induktion. 
1908. (Kantstudien, 13.) 
1! - So bei Sigwart, Logik, § 95, 8, wenigar zutreffend boi Reichl, 
Darstellnng u. Kritik d. indnkt. Metbode. 1903. (Zeitscbr. f. Philosophic, 
122, 123.) 
113 J. v. Hann. Untersuchungeii iiber d. tagl. Oscillation d. Barometers. 
1889. (Denkschr. d. k. Akart. d. Wis. sen sch. in Wien, Bd. 55.) Weitere Unter- 
suchungeii iiber d. tiig-1. Oscillation d. Barometers. 1892. (Kbd. Bd. 59.) Die 
jahrl. Periodo d. halbtjigigen Lut'tdruckschwankungen. 1918. (S.-B. d. Akad. 
d. Wissensch. inWicn, Matb.-nat. Kb, lid. 127.) 
m E. Zilsel. Das Anwendungsproblem. 191C. 
m H. Keichenbach. Der Begriff d. Wahrschemlichkeit zur mathema- 
tischen Darstellung d. Wirklichkeit. 1916. (Zeitscbr. f. Philosophie, 161.) 
116 K. Kaila. Der Satz vom Ausgleicli des Zufalls u. d. Kausalprinzip. 
1924. ^Annales Universitatis Fennicae Aboensis. Ser. B, torn. II, Nr. 2.) 
u? J. v. Hann. Die Temperaturverhaltnisse der cisterr. Alpenliinder. 
S.-A. 1885. S. 5. 
118 Vgl. dazu auiJer den gescliiclitstheoretischen Arbeiten von Rickert 
auch A. Hettner. Das System der Wissenschaften. 1905. (PreuB. Jahr- 
biicher, 122.) 
11S E. Bernlieim. Lehrbucb d. liistor. Methods. 3. u. 4. Aufl. 1903. 
120 E. Loening. Die EnUstehung d. Konstantin. Scbenkungsurkunde. 
1890. (HLstor. Zeitscbr. 65. S. 232, Anm.) 
121 Tb. Sickel. Acta ragnum et imperatorum Karolinorum digesta et 
etiarrata. 1807. I. Urkundeulelire. 
'-* G. v. Below. Die Entstehung d. deutscben Stadtgemeinde. 1S89. 
— K. Sohm. Die Entstehuug d. deutscben Stiidtewesens. 1890. 
123 Zum jlndividuellen' in der Geschichte vgl. audi A. Dyroff. Zur 
Geselticlitslogik. 1V1T. (Histur. Jalirb. d. Gorres-Ges., 38.) 
134 H. Rickert. Die Problems d. Geschichtsphilosophie 3 . 1921. 
1V '' Vor allem audi schon in den Beitriigen zur Diplomatik. 1X61 — 1882; 
?.. B. (II, y, 7, 8): ,Die 10 * iriginaldiplome mit der Unterschrift . . ., die ich 
eingesehun babe, sind sich in alien grnphisclien Merkinalon durchaus gleich 
und sind alle ganz von der Hand des recognoscierenden Diaconus.' (Ebenso 
S. 8, 9, 10, 12.) 
iafi Meisters GrundriG der Ges^hiditswissensdiaft, I., Abt. "2, Ur- 
kundenlebre. 
*-' So v.. B. Diekamp am Eingang seiner filr die Papsturkunden grund- 
legendeu Arbeit: Zum papstlidien Urkundenweseu des XL, XII u. der 1. Hiilfte 
dee XIII. .1 abrli. 1S82. (Mitteiliingen d. Instituts f. osterr. GeNchichtsforschung, 
III., S. 565): ,1. v. Pflugk-Hartung gibt in seiner neuesteu Schrift (Archival. 
Zeitscbr., VI.) wiederliolt die Zahl der von ihm eingesehenen papstlichen 
Original urkunden auf etwa 2000 an; ich babe etiva den sechsten Teil einer 
eingehenden Untersuchung, und nur um eine solche kann es sich bandeln, 
unterwerfen kiinnen.' Ebenso Sickel ini Vorwort der Acta . . . S. IX, X: ,Das 
Material, soweit es haiidschriftliclier Natur ist, ?-u sammeln und einzusehen, 
babe ich selbst die Archive und BibUotheken folgender [27] Orte besucbt: . . ,' 
Die Grundformen der wiasenschaftlichen Methoden. 301 
Durch Verzeichnisse, Abschriften, tTbersenduiig etc. verschaffte er sich ,alles 
nur nachweisbare Material' aus 29 andoren Orten. 
UH II. Bresslau. Bamberger Studien. 1H9G. (Xeues Arcliiv d. Gesellschaft 
f. altera deutsche Geschicbtskunde, 21.) 
129 W. Gleispach. Das osterr. Strafverfahren. 2. Auil. 1924. 
130 C. Mittermaier. Die Lehre vom Beweis im deutschen Straf- 
prozesse. 1834. 
" : F. Barth, Die Pliilosopliie der Gescbichte als Soziologie. 1897. 
4. Kap. § 2, A. 
m O. Kulpe. Vorlesungen uber Logik. 1923. 8. 347 — 349. Auch B. 
Erdmann. Erkennen u. Versteben. (Sitz.-Ber. d. preuS Akad. d. Wissensch. 
1912. II. S. 1258 f.) 
lu3 Zum AnalogieschluB auch \V. Wundt. Logik. I. 2. Abschn., 3. Kap., 
5. A. II. c. 3. And., S. 327 f. — H. Spencer. Die Prinzipien d. Psychotogie. 
§ 299. 2. And., S. 107. — - I. St. Mill. System d. dedukt. u. indukt. Logik. 
I. Buch, 3. Kap., 26. 
134 W. Dilthey. Ideen fiber erne bescliTeibende u. zergliedernde Psyeho- 
logie. (Sitz.-Ber. d. k preuS. Akad. d. Wissensch, 1894.) 
1:15 E. Spfanger. Die Grundlagen d. Geschichtswissenschaft. 1905. — 
Zur Theorie des Verstebens u. z. geisteswissenschaftl. Psycbologie. 1918. 
(Festschrift I. Volkelt z. 70. Geburtstag dargebracht.) 
13e Th. Litt. Gescbichte u. Leben. 1917. 2. And. 1925. 
157 O. Braun. Geschichtspbilosopbie. 1921. 
las •£ Troeltsch. Der Historismus u. seine Frobleme. 1922. (Ges. 
Sclirit'ten. III.) 
1S * G. Simmel. Die Probleme d. Geschichtsphilosophie 3 . 1907. 
l * q GervLnus in dem Jfekrolog anf Sclilosser. S. 54, zit. nadi Bern- 
lieim a. a. O. S. 588. 
111 K. Miiller-Freienfels. Irrationalismus. 1922. 
"- Ed. Meyer. Gescbichte des Altertums. I, 1 2 . 1907. §§ 112—110. 
(Die historische Methode.) 
113 H. Driesch. Zur Lehre von der Induktion. (Sitz.-Ber. d. Heidelberger 
Akad. d. Wissensch., Phil. -hist. Kl., 1915.) 
144 W. Ostwald. GrundriB der Naturphilosophie. 1908. (Bucher d. 
Naturwissenschaft, 1.) 
145 Wenn O. Ehrlieh ,Wie ist Gescbichte als Wissenschaft moglich?' 
(c. 1912) .lis die Methoden der Geschichtswissenschaft die .individualistisch- 
p^ychulogische', die ,teleolo«-ische : und die ,kan?ale' u. a. anfuhrt, so sind 
das nicht ErUenntnismethoden, eondern Zusaininenhang-sweisen der bistort- 
schen Inhalte und demgemaS Betrachtungstiresiclitspunkte, Erkenntnisziele. 
148 E. Banse. expressionismus u. Goographie. 1920. 
14T L. E. Brower. Intuitionism and Formalism. 1913. (Bulletin of the 
Aineric. Mathemat. Society, 20.) 
,4S Th. Carlyle. on history. (Critical a. miscellaneous essays, II.. 
Works, Shilling edition.) 
1)9 W. Hans, Das Buch mit sieben Siegeln. Kine Fntersuchung iiber 
d, Problematik d. Geschichtswissenschaft. 192J. 
302 V.Kraft. 
150 Th. Lessing. Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen 3 . 1921. 
151 W". James. Pragmatismus, fibers, v. Jerusalem. 1908. (Philosoph.- 
soziolog. Biicherei. I.) 
152 M. Schlick. Gibt es intuitive Erkenntnis? 1913. (Viertelj ah rssc.br i ft 
f. wissensch, Philosopbie, 37.) 
153 H. Reichenbach. Erwiderung auf H. Dinglers Kritik an der Rela- 
tivitatatlieorie. 1921. (Phvsikal. Zeitschr., 22.) 
131 E. Sellien. Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relalivitiits- 
theorie. 1913. (Erg.-Heft Nr. 48 d. Kantstudien.) 
153 J.Schneider. Das Kaum-Zeitproblem bei Kant u. Einstein. 1921. 
156 H. Reichenbach. Der gegenwJirtige Stand der Relativitiitsdiskussion. 
1921. (Logos. X.) 
157 z. B. H. M. Liitzeler. Eormsn der Kunsterkenntnia. Mit einem 
Vorwort von M. Scheler. 1924 u. dessen zustiinmende Besprechung durch 
H, Tietze in der Zeitschrift ,Belvedere'. 1925. S. 118 f. Die Analogisierung 
von Geschichtschreibung und Kunst wegen der Phantasie als Bedingung 
der historiscben Synthese schon bei W. v. Humboldt. Cber d. Aufgaben des 
Geschichtschreibers. 1821. 
Die Grundformen der wissenschaf (lichen Methoden. 303 
Inhalt. 
Seite 
I. Die Methods der Wissonschaftalchre 3 
1 . Der dogrnatische Charakter der gegenwiirtigeu Erkenntnis- 
theorie und die Notwendigkeit einer methodischen Be- 
griindung 3 
2. Erkenntnistheorie und Weseusiiituitiou 10 
3. Kritischo Induktion 28 
II. Die Theorie 31 
I. Die wissenschaftatheoretisclie Eigenart der Mathematik ... 31 
1. Der ideelle Charakter des Gegenstandes der Mathematik 31 
2. Die deduktive Methode der Mathematik und die blofie 
Folgerungsgeltung ihrer Siitze 43 
3. Der deduktive Charakter und der Erkeimtnisfortsehritt in 
der Mathematik 59 
4. Die Unabhangigkeit der Mathematik von der Erfahrung und 
ihre Erkenntnisquelle — die Geltung der Axiome . . 64 
a) Erfahrung als Geltungsgrundlage . 66 
b) Reine Anschauung als Geltungsgrundlage 71 
c) Die Axiome als Definitionen oder als ableitbare Satze 76 
II. Die wissenschaftstheoretisclte Eigenart der Mechanik ... 86 
1. Die Mechanik als induktive und als deduktive Wisseuschaft 87 
2. DieFundamentalsatze der Mechanik- — keineErfahrungssa'tze 91 
3. Der ideale Charakter des Gegenstandes der Mechanik . . 104 
4. Die Mechanik als hypothetisch-deduktives System . . . 108 
III, Das ideelle, hypothetisch-deduktive System in anderen Wissen- 
schaften 115 
1. in der Physik 115 
2. in der Volkswirtscfcaftslelire 116 
3. Ansiitze in der Geomorphologie und Soziologie .... 123 
IV. Die Wissenschafrsform der Theorie 125 
V. Theorie und Erfahrungswhklichkeit 130 
1. Die Anwendung der Mathematik 130 
a) Die Grundlagen der Anwendbarkeit der Arithmstik . . 134 
b) der Geometric 135 
2. Theorie als Wirklichkeitserkenntuis 154 
a) Die Verifizierbarkeit einer Theorie 154 
b) Theorie und Erfahrung 158 
c) Mehrfachheit und Einfachheit der Theorien .... 163 
d) Realistische und ideaiistische Interpretation der Theorie 165 
VI. Die Geltung der Erkenntnisprinzipien 167 
III. Die Induktion 192 
1. Die geschichtliche Eutwicklung dea Problems der Induktion 192 
2. Der allsemeine Charakter und das Problem der Induktion 208 
304 V. K r a f t. Die Grundformeii d. wissGnschaftliclien Methoden. 
Seite 
3. Die Eindeutigkeit der Tatsaehen-Grundlagen 222 
a) Das statistische Verfahren 226 
b) Das experimented Verfahren 232 
4. Die Geueralisierung 238 
5. Der SchluBfolgermigscharakter 245 
G. Die Geltungsart der Induktion 249 
IV. Die Methoden der Individual wissenschaften .... 258 
1. Die induktive Geueralisierung 259 
2. Der Indizienbeweis 272 
3. Kritik der Intuition 278 
Druckfehler-Berichtigungen. 
S. 4, Z. 6 v. u.: zu ergiinzen: Duhem, Z. 5 v. u.: Cassirer 
S. 10, Z. 3 v. u. : zu streichen: unbedingt 
S. 12, Z. 16 v. o.: Wesensanschauung statt Wissensanschauunc 
S. 45, Z. 28 v. o.: Worum statt Warcm 
S. 52, Z. 4 v. o. : reinen statt einen 
S. 57, Z. 10 v. o.: zu ergiinzen: mit 
S. 61, Z. 9, 7 u. 1 v. u.: binomische statt binonisclie 
S. G4, Z. 11 v. u.: den statt dem 
S. 65, Z. G v. o.: zweierlei statt zweilerei 
S. 104, Z. 13 v. o.: aunalimeweise statt ausnahmsweise 
S. 109, Z. 9 v. o.: definitio- statt definito- 
S. 125, Z. 9 v. o.: ideale statt idale 
S. 131, Z. 20 v. o.: biologischen statt biologiscliene 
S. 135, Z, 19 v. o.: Vorhandenseins statt Vorhandensein 
S. 138, Z. 12 v. o.: gleichgiltiges statt gleichartiges 
S. 152, Z. 17 v. u.: spezifische statt sezifische 
S. 154, Z. 1 v. u.: zu erganznT'T doi 
S. 157, Z. 1 v. o.": Annahmen statt Annahme 
S. 173. Z. 19 v. u.: dies statt es 
S. 176, Z. 5 v. o. : dein statt den 
S. 193, Z. 7 v. o.: syllogismum statt syllologismuni 
S. 193, Z. 10 v. o.: quiddam statt quidani 
S. 203, Z. 8 v. u.: zit streichen: also 
S. 232, Z. 9 v. u.: ais statt also 
S. 254, Z. 17 v. a.: n Fallen statt n-Fallen. 
1 1. 3. 211. 
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