Oswald Külpe

Einleitung in die Philosophie

이윤진이카루스 2015. 2. 21. 14:44

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)SWALD KOLPE 
EINLEITUNG 
DIE PHILOSOPHIE 
ZEHNTE AUFLAGE 
VERLAG VON S.HIRZEL IN LEIPZIG 
the ppesence ofthis Book 
in 
thej.m. keUyliBRapy 
has Been maöe possiBle 
ihRouqh the qeneRosity 
of 
Stephen B. Roman 
From the Library of Daniel Binchy 
Digitized by the Internet Archive 
in 2009 witin funding from 

ontario Council of University Libraries 
http://www.archive.org/details/einleitungindiepOOkulp 
OSWALD KiJLPE 
EINLEITUNG IN DIE 
PHILOSOPHIE 
ZEHNTE VERBESSERTE AUFLAGE 
HERAUSGEGEBEN VON 
AUGUST MESSER 
•\ 
VERLAG VON S. HIRZEL IN LEIPZIG 1921 
Das Recht der Übersetzung ist vorbehalten. 
Englische Übersetzung 1897, polnische 1899, 
tschechische 1900, russische 1901. 
Copyright by S. Hirzel at Leipzig, 1921. 
DRUCK VON AUGUST PRIES IN LEIPZIG 
VORREDE ZUR ACHTEN AUFLAGE. 
Noch die 1915 erschienene siebente Auflage dieses Werkes 
hat Oswald Külpe selbst mit gewohnter Gründlichkeit be- 
arbeitet. Trotz des Weltkrieges erwies sich bereits 1917 die 
Vorbereitung einer neuen Auflage als notwendig. 
Der Auf f orderung des Herrn Verlegers, sie zu übernehmen, 
habe ich gern entsprochen. Verband mich doch mit dem (Ende 
1915 uns allzufrüh entrissenen) Verfasser nicht nur persön- 
liche Freundschaft, sondern auch weitgehende Übereinstim- 
mung der philosophischen Grundanschauungen. Übrigens 
glaube ich auch in seinem Geiste gehandelt zu haben, wenn 
ich in einigen Einzelfragen besonders auf allgemein wert- 
theoretischem und ethischem Gebiet, ebenso gegenüber 
dem Freiheitsproblem, meine eigenen Ansichten zur Geltung 
gebracht habe. 
Ich war bei der Neubearbeitung des Buches bemüht, die 
wichtigsten philosophischen Schriften aus den letzten Jahren 
zu berücksichtigen, ferner die Darstellung, soweit möglich, 
noch faßlicher zu gestalten und entbehrliche Fremdwörter 
durch deutsche Ausdrücke zu ersetzen. 
Gießen, im Dezember 1917. 
August Messer. 
VORREDE ZUR NEUNTEN AUFLAGE. 
Der Text des Buches wurde abermals einer Durchsicht 
unterzogen, die wichtigsten Neuerscheinungen auf philoso- 
phischem Gebiet wurden berücksichtigt; endlich wurde die 
Bedeutung der allgemeinen Wertlehre im Schlußkapitel 
stärker hei-vorgehoben. In den Verzeichnissen der Schriften 
wurden diejenigen, die für den Anfänger besonders empfeh- 
lenswert sind, durch ein Sternchen bezeichnet. 
Gießen, im Mai 1919. 
August Messer. 
VORREDE ZUR ZEHNTEN AUFLAGE, 
Obwohl die neunte Auflage als Doppelaufiage gednickt 
wurde, ist sie in wenig mehr als Jahresfrist vergriffen ge- 
wesen. Ich war aufs neue bemüht, manche Stellen des Textes 
faßlicher zu gestalten und die wichtigsten neuen Werke nicht 
bloß zu nennen, sondern auch im Text zu berücksichtigen. 
Besonders in dem Abschnitt über Erkenntnistheorie und 
Ästhetik sind erhebliche Abänderungen vorgenommen wor- 
den. Die Erörtemng über die philosophische Grundlage 
der Pädagogik ist hinzugekommen. 
Gießen, im März 1921. 
August Messer. 
INHALTSVERZEICHNIS. 
§ 1. über die Aufgabe einer Einleitung in die Philosophie 
Seite 
I. KAPITEL. 
BEGEIFF UND EINTEILUNG DER PHILO- 
SOPHIE. 
) 2. Der Begriff der Philosophie 7 
i 3. Die Einteilung der Philosopliie 13 
Tl. ICAPITEL. 
DIE PHILOSOPHISCHEN DISZIPLINEN. 
A. DIE ALLGEMEINEN PHILOSOPHISCHEN DISZI- 
PLINEN. 
§ 4. Die Metaphysik . ' 22 
§ 5. Die Erkenntnistheorie 36 
5 6. Die Logik .51 
B. DIE BESONDEREN PHILOSOPHISCHEN DISZI- 
PLINEN. 
} 7. Die Naturphilosophie 64 
I 8. Die Psychologie 76 
I 9. Die Ethik und Rechtaplülosophie 89 
I 10. Die Ästhetik 108 
} 11. Die Religionsphilosophie 119 
I 12. Die Philosophie der Geschichte 125 
i 13. Ergänzende und kritische Bemerkungen 134 
III. KAPITEL. 
DIE PHILOSOPHISCHEN RICHTUNGEN. 
i 14. Einteilung der philosophischen Richtungen . . . . 140 
A. DIE ERKENNTNISTHEORETISCHEN RICH- 
TUNGEN. 
^ 15. Rationalismus, Empirismus und Kritizismus {Transzenden- 
talismus) 149 
Y 
Inhaltsverzeichnis . 
Seite 
§ 16. Dogmatismus, Skeptizismus, Positivismus und Kritizismus 161 
§ 17. Idealismus, Realismus und Phänomenalismus .... 177 
B. DIE METAPHYSISCHEN RICHTUNGEN. 
§ 18. Singularismus und Pluralismus 201 
§ 19. Der Materialismus 208 
§ 20. Der Spiritualismus 222 
§ 21. Der Dualismus 233 
§ 22. Der Monismus 243 
§ 23. Mechanismus imd Teleologie 263 
§ 24. Optimismus und Pessimismus 278 
§ 25. Determinismus und Indeterminismus 291 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik . . 307 
§ 27. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik . , 328 
C. DIE ETHISCHEN RICHTUNGEN. 
§ 28. Die Ansichten über den Urspnmg des Sittlichen . . 345 
§ 29. Die materiale und formale Bestimmung des Sittlichen . 357 
§ 30. Gefühlsmoral und Reflexionsmoral 371 
§ 31. Individualismus und Universalismus 380 
§ 32. Subjektivismus imd Objektivismus 386 
IV. KAPITEL. 
AUFGABE UND SYSTEM DER PHILOSOPHIE. 
§ 33. Die Aufgabe der Philosophie 408 
§ 34. Das System der Philosopliie 413 
§ 35. Die Bedeutung der Philosophie für die Pädagogik . . 419 
Namenregister 426 
Sachregister 433 
VI 
§ 1. ÜBEE DIE AUFGABE EINER EOLEITUNG IN 
DIE PHILOSOPHIE. 
1. Schon in früheren Zeiten ist das Bedürfnis nach einer 
Einleitung in die Philosophie rege gewesen und teils durch 
regelmäßige Vorlesungen, teils durch entsprechende Bücher 
befriedigt worden. Man hat dabei die Aufgabe einer solchen 
Einleitung in zwiefachem Sinne aufgefaßt. Manche Schrift 
steller wollen nämlich für das Philosophieren in ihrem 
Sinne eine passende Anleitung geben, indem sie gewisse 
Hauptprobleme der Philosoi^hie aufzeigen, und deren Lösung 
im Sinne des philosophischen Standpunkts, den sie selbst 
einnehmen, anzudeuten oder zu entwickeln suchen. Eine 
solche Darstellung enthält z. B. das Bucli von Suabedissen: 
.>Zur Einleitung in die Philosophie«, 1827, wo ausdrücklicii 
bemerkt wird, die Einleitung solle »weder die Fundamental- 
Philosophie noch eine Enzyklopädie der philosophischen 
Wissenschaften noch eine Übersicht der Geschichte der Philo- 
sophie noch eine Kritik der philosophischen Systeme sein«, 
sondern zeigen, »was das Wesen der Philosophie und dem- 
nach das Ziel des Philosophierens ist«. Ganz ähnlich wird 
der Gegenstand in der trefflichen »Einleitung in das Studium 
der gesamten Philosophie« von Simon Erhardt, 1824, be- 
handelt. Dieses klare und systematische Büchlein, das es 
verdient, dem weit bekannteren »Lehrbuch zur Einleitung in 
die Philosophie« von Herbart (4. Auflage 1837) an die Seite 
gestellt zu werden, erörtert (im Geiste Schellings) in neun 
Abschnitten den Begriff, das Objekt und den Endzweck der 
Philosophie, ferner ihre Einteihmg, die Quellen imd Hilfs- 
mittel ihres Studiums, ihre subjektive Bedingung (das philo- 
sophische Genie), das Verhältnis der Philosophie zu den 
empirischen und positiven Wissenschaften, die von ihr zu 
lösenden Aufgaben und ihre Geschichte. 
Das schon erwähnte Buch von Herbart will gleichfalls den 
Leser zum Verständnis und zur Annahme der besondercji 
Philosophie seines Verfassers anleiten. In diesem Sinne 
Külpe, Philosophie. r.O. Aufl. 1 
§ 1. über die Aufgabe einer Einleitung in die Philosophie, 
werden die Hauptprobleme der Logik, Metaphysik und prak- 
tischen Philosophie (Ästhetik) erörtert. Nur durch gelegent- 
liche kritische Abwehr erfährt man von abweichenden Auffas- 
sungen und nur durch spärliche geschichtliche Angaben von 
der Entstehung und dem Schicksal philosophischer Begriffe 
oder Ansichten. So ist die Schrift zwar eine wertvolle Quelle 
für die Erkenntnis des eigenartigen philosophischen Systems 
von Herbart, aber keineswegs eine objektive Einleitung in 
die Philosophie als eine gegebene Wissenschaft geworden. 
Auch die neuere Darstellung dieser Disziplin, die »Einleitung 
in die Philosophie«*^) von F. Paulsen (1892, 29.— 30. Aufl. 
1919), darf im großen und ganzen zu dieser Gattung gerechnet 
werden. Zwar nimmt Paulsen viel mehr Kücksicht auf die 
Geschichte und ist zugleich zurückhaltender in der Ver- 
tretung und Mitteilung eigener Anschauungen als Herbart, 
aber schon die Beschränkung auf die Fragen der Metaphysik, 
der Erkenntnistheorie und der bloß anhangsweise behandelten 
Ethik zeigt uns, daß hier eine vollständigere Übersicht über 
den überkommenen Besitz der Philosophie nicht geboten 
wird, und das ganze Gewicht seiner gewinnenden, liebens- 
würdigen Darstellungs weise setzt der Verfasser ein, um 
einer modernen, die Gegensätze versöhnenden Weltanschau- 
ung das Wort zu reden. Auch die von einem bestimmten 
erkenntnistheoretischen Standpunkt aus geschriebene »Ein- 
leitung in die Philosophie« von H.Cornelius, 1903, 2. Aufl. 
1911, und A. Dorners »Enzyklopädie der Philosophie«, 1910, 
kann zu dieser Gruppe gerechnet werden. 
2. Eine zweite Gattung von Einleitungen in die Philosophie 
ist von dem Bestreben durchdrungen, über den engeren 
Kreis persönlicher Überzeugung hinaus den Blick auf das 
große Ganze der Philosophie in Vergangenheit und Gegen- 
wart zu richten. Einem solchen Zwecke dient die im Jahre 
1727 erschienene »Einleitung in die Philosophie« von Johann 
Georg Walch, in der in drei Büchern von der Philosophie 
imd deren Erkenntnis überhaupt, von den philosophischen 
Disziplinen insonderheit und von den philosophischen 
Geheimnissen gehandelt wird, und wo wir ausführliche ge- 
^) Vgl. Schlußbemerkung ziu" Vorrede. 
§ 1. über die Aufgabe einer Einleitung in die Philosophie. 
schichtliche Belehrungen mit zahlreichen Angaben von 
Schriften verknüpft sehen. So ersteht uns ein umfassendes 
und genaues Bild von dem damaligen Zustande der Philo- 
sophie und — wenn wir von vielen sonderbaren und fehler- 
haften historischen Bemerkungen absehen — von der ge- 
schichtlichen Entwicklung der Philosophie. Viel unvoll- 
kommener ist J. Chr. B riegleb s: »Einleitung in die philo- 
sophischen Wissenschaften«, 1789. Die historischen Mittei- 
lungen sind nicht nur häufig falsch, sondern auch sehr ober- 
flächlich, und die an den Schluß gestellte, den Umfang des 
eigentlichen Textes übertreffende Bibliographie besteht in 
einer zwecklosen und ungeordneten Aufzählung von Titeln. 
Weit vernünftiger ist die Anlage der »Enzyklopädischen Ein- 
leitung in das Studium der Philosophie« von Heydenreich, 
1793. Der Verfasser erscheint als ein Anhänger der von 
Kant vertretenen Anschauungen und benutzt neben dessen 
Schriften eingehend C. L. Eeinholds Elementarphilosophie. 
Er entwickelt zunächst den Begriff der Philosophie, sodann 
ihr System, dessen einzelne Teile eine ausführlichere Dar- 
stellung erfahren, darauf bestimmt er den höchsten Zweck 
aller Philosophie und gibt zuletzt einige »Grundsätze über 
das zweckmäßige Studium« derselben. In guter Auswahl 
werden an den geeigneten Stellen ITachweise über die neuere 
Literatur geboten, doch fehlt fast ganz die Berücksichtigung 
der Geschichte. Diese überwiegt dagegen völlig in dem Werk 
von V. Eeichlin- Meldegg: »Einleitung in die Philosophie«, 
1870. Über den damaligen Umfang und Zustand der Philo- 
sophie erfährt der Leser so gut wie nichts. Aus der neuesten 
Zeit können wir als ein Werk, das diese zweite Gattung von 
Einleitungen vertritt, die »Einleitung in die Philosophie vom 
Standpunkte der Geschichte der PhUosophie« von Strüm- 
pell, 1886, anführen. Obgleich der Verfasser als Herbar- 
tianer bekannt ist, hat er mit großer Unbefangenheit die 
Probleme, den Begriff, die Teile und die Eichtungen der 
Philosophie behandelt. Stets wird auf die geschichtliche 
Entwicklung der letzteren Eücksicht genommen, und die 
Kritik bleibt überall maßvoll. Indessen fehlt es ganz an 
Mitteilungen über die neueste Literatur, und die Darstellung 
3* 
,s^ /. über die Aufgabe einer Einleitunq in die Philosophie. 
<Ier einzelnen philosophischen Disziplinen hätte eine viel ein- 
gehendere sein dürfen. Zu dieser Gruppe gehört auch die 
»Einleitung in die Philosopliie« von W. Wundt, 1901, 7. Aufl. 
191 S, die außer einer umfangreichen Übersieht über die Gc- 
.vehichte der Philosophie eine Bestimmung der Aufgabe und 
(los Systems der Philosophie enthält und deren Hauptrich- 
tungen bespricht. Ei'wähnung verdient endlich das eigen- 
artige russische Werk von H. Struve: »Einleitung in die 
Philosophie«, 1890. 
3. Welcher von diesen beiden Arten der Behandlung einer 
Einleitung in die Philosophie der Vorzug zu geben sei, kann 
nach unserer Meinung kaum bezweifelt werden. Gewiß 
können Werke der ersten Gattung zum philosophischen 
Henken anregen und dadurch einzelne zu einem genaueren 
Studium der Philosophie selbst veranlassen. Aber eine wirk- 
iiche Vorbereitung für dieses Studium im Sinne einer Be- 
lohnmg über das schon Geleistete, über eine Anzahl philo- 
sophischer Kunstausdrücke, über den Zwiespalt der Lehre 
und über die wichtigsten Bemühungen der neuesten Zeit 
um eine Förderung der philosophischen Wissenschaft kann 
uns nur durch ein der zweiten Gattung angehörendes Buch 
geboten werden. 
Im allgemeinen kann eine Einleitung in die Philosophie 
drei Aufgaben verfolgen: erstlich die Methode lehren, die 
bei der Lösung philosophischer Probleme anzuwenden ist, 
zweitens die Probleme entwickeln, die in der Philosophie 
aufgetreten sind, und drittens über den Bestand der 
Philosophie als Wissenschaft, wie er sich in Ver- 
i^angenheit und Gegenwart ausgebildet hat, eine Übersiehr 
geben. Von diesen drei Aufgaben ist die erste insofern un- 
lösbar, als die Schriften der Philosophen eine von allen an- 
pikannte und verwendete Methode nirgends erkennen lassen. 
Die Einführung in das Philosophieren ist darum tatsächlich 
nichts anderes als die Einführung in das Verfahren eines 
Philosophen. Die zweite Aufgabe verleitet, wenn sie für 
ich allein in Angriff genommen wird, zu einer künstlichen 
Systematik inid dialektischen Geschlossenheit, die der »Ein- 
leitung in die Philosophie«* von W. Windelband (1914) 
4 
v l. über die Aufgabe einer Einleitung in die Philosophie. 
einen großen Eeiz verleiht, aher der Mannigfaltigkeit der 
philosophischen Disziplinen und Eichtungen zn wenig Kech- 
iiung trägt. Die dritte Aufgabe ist die umfassendste, ^ie 
erlaubt über die Methoden und über die wichtigsten Pro- 
bleme in den einzelnen philosophischen Wissenschaften zu 
berichten und zugleich einigermaßen vollständig auf das 
Ganze der Philosophie einzugehen. Ihre Lösung wird dabei 
freilich ein weniger geschlossenes Gepräge tragen, als die 
der anderen Aufgaben, aber zugleich eine objektivere und 
natürlichere Darstellung des wirklichen Inhalts der Philo- 
sophie bieten. Wir wüßten nicht, wo der Studierende besser 
in die systematische Philosophie unserer Tage eingeführt 
werden könnte als in einer den Standpunkt der Gegenwart 
und seine geschichtlichen Voraussetzungen gleichmäßig be- 
rücksichtigenden Einleitung in die Philosophie. 
Auf den Vorzug, den die selbständige Bearbeitung der 
ersten beiden Aufgaben zu besitzen scheint, nämlich den 
einer systematischen und methodischen Geschlossenheit imd 
einer Belebung des Stoffes durch die Wärme persönlicher 
Überzeugung, braucht auch ein Werk der letzten Gattung 
nicht ganz zu verzichten. Die Übersicht widerstreitender 
Eichtungen oder wechselnder Begriffe, ungleichartiger Metho- 
den oder unzusammenhängender Aufgaben drängt den selb- 
ständigen Denker naturgemäß zu x\ndeutungen über die ihm 
wahrscheinliche Lösung oder W^eiterentwicklung der auf- 
geworfenen Fragen. Aber weder wird ihm diese Ergänzung 
seiner objektiven Darlegungen zur Hauptsache noch darf 
sie den Ton autoritativer Festsetzungen annehmen. Durch 
die Beschränkung auf die wissenschaftliche Philosophie 
wird zugleich dafür Sorge getragen, daß diese Einleitung 
nicht mit Theosophie und Mystik, mit populärer Literatur 
und dilettantischen Versuchen, die so gern unter der Flagge 
der Phüosophie segeln, beschwert wird. Demgemäß wollen 
wir im folgenden versuchen, eine kurze, keine besonderen 
Vorkenntnisse voraussetzende Darstellung der Entwicklung 
und des gegenwärtigen Zustands der Philosophie als Wissen- 
schaft zu geben, indem wir in einem ersten Kapitel über 
den Begriff und die Einteilung der Philosophie handeln, in 
§ 1. über die Aufgabe einer Einleitung in die Philosophie. 
einem zweiten Kapitel die gegenwärtig geltenden philo- 
sophischen Disziplinen durchgehen und in einem dritten 
die Eichtungen, die innerhalb einiger dieser Disziplinen 
hauptsächlich hervorgetreten sind, schildern. Dadurch soll 
auch das Verständnis für speziellere philosophische Vor- 
lesungen und Schriften erleichtert werden. Der Hinweis 
auf die wichtigste Literatur für die einzelnen Gebiete wird 
zugleich dazu dienen, die Aufmerksamkeit des Anfängers 
auf die für ein eingehenderes Studium passendsten Werke 
zu lenken. In einem kurzen vierten Kapitel endlich über 
die Aufgabe und das System der Philosophie soll das Ganze 
der philosophischen Arbeit von einem neuen Gesichtspunkt 
aus, wie er sich uns aus der kritischen Überlegung ihres 
Tatbestandes und ihrer Bedeutung ergeben hat, zusammen- 
gefaßt werden^). 
^) Eine »Einleitung in die Philosophie« ähnlichen Charakters hat 
W. Jerusalem, 1899 (5. u. 6, Avifl. 1913), heraußgegeben. Ausführ- 
licher ist die »Kritische Einleitung in die Philosophie« von R. Eisler, 
1905. Denselben allgemeinen Charakter trägt auch das überaus an- 
regend und klar geschriebene Buch: An Introduction to Philosophy von 
G. S. Fullerton, 1906, und die russische Einleitung in die Philosophie 
von N. Losskij, wovon der erste Teil (1911) eine Einführung in die 
Erkenntnistheorie enthält. 
I. KAPITEL. 
BEGRIFF UND EINTEILUNG DEE PHILOSOPHIE. 
§ 2. DEE BEGEIFF DEE PHILOSOPHIE. 
1. Unter dem Begriff der Philosopliie verstehen wir eine 
für den wissenschaftlielien Gebrauch des Wortes Philosophie 
festgesetzte Bedeutung dieses Ausdrucks und unter der De- 
finition des Begriffs die Bestimmung eines derartigen Wort- 
sinnes. Die letztere wird in der Eegel so vollzogen, daß 
man die nächsthöhere Gattung {genus proximum)^ unter die 
der zu definierende Begriff fällt, und deren sämtliche Merk- 
male ihm zukommen müssen, und die artbildende Eigen- 
tümlichkeit {differentia specifica) angibt, welche ihn von 
anderen derselben Gattung angehörenden Begriffen unter- 
scheidet. Es gibt nun viele und untereinander recht ab- 
weichende Bestimmungen des Begriffs der Philosophie, von 
denen die wichtigsten, d. h. einflußreichsten, im folgenden 
mitgeteilt werden sollen. Ob und wie es möglich ist, der 
wechselnden Beschaffenheit dieser Definition gegenüber 
eine Geschichte und Gegenwart gleichmäßig umspannende 
Auffassung zur Geltung zu bringen, darüber soll erst das 
IV. Kapitel einen näheren Aufschluß gewähren. Im folgenden 
wird deshalb lediglich von vorgefundenen Begriffen der Philo- 
sophie, nicht aber von einem idealen, von uns vorzuschlagen- 
den die Eede sein. 
2. Der Etymologie des Wortes entsprechend bedeutet 
Philosophie innerhalb des ersten uns bekannten Sprach- 
gebrauchs bei den Griechen das »Streben nach Wissen, nach 
Erkenntnis«. In diesem Sinne läßt Herodot den Krösus 
zu Solon sagen, er habe gehört, daß Selon philosophierend 
viele Länder aus Wißbegierde durchwandert habe. Der Zu- 
satz »aus Wißbegierde« {dscoQiTjq sivexsv) ist geradezu als 
eine Erläuterung des Partizips »philosophierend« {g)iXooo- 
(picov) anzusehen. Ähnlich sprach später Thukydides in 
/. Kapitel. Begriff und Einteilung der Philosophie. 
a.T uuveigleiciüicheii Leichenrede des Perikles von den 
Athenern: wir streben nach Bildung ohne Verweichlichung 
{(jpiXooog)ov(iev avsv fiaXaxiag). Mit ganz besonderem Nach- 
druck aber scheint Sokrates (t 399 v. Chr.) diesen Be- 
griff der Philosoi)hie verwandt zu haben. Im Gegensatz 
zu den Sophisten (den die Weisheit oder Wissenschaft 
Lehrenden, Besitzenden) nennt er sich einen Philosophen, 
der das weiß, daß er nichts weiß, aber von dem Streben 
nach Wissen erfüllt ist. 
Bei Piaton (427 — 347) kommt daneben eine zweite, 
objektivere Bestimmung über den Begriff der Philosophie 
auf. So wird z. B. von der »Geometrie oder irgendeiner 
anderen Philosophie« im Theätet gesprochen. Die Erkenntnis 
des allgemeinsten Wesens der Dinge wird also einer engeren 
objektiven Bedeutung der Philosoi)hie zugesteuert. Eine 
solche bezeichnet Aristoteles (384—322) als »erste Philo- 
soi)hie« (jtQcoTt] <pLXo6o(pia), der er die Physik als »zweite 
Philsophie« gegenüberstellt. Es ist mit »erster Philosophie« 
der grundlegende Teil der Philosophie gemeint, der heute 
Erkenntnistheorie und Metaphysik heißt, und Philosophie 
schlechthin heißt soviel wie Wissenschaft, eine Er- 
kenntnis, zu deren Erlangung es eines besonderen Ver- 
fahrens und einer eindringenden Untersuchung bedarf, 
verschieden von der Fertigkeit, »Kunst« {xexvrj). 
3. Eine abermalige Verschiebung erfährt der Begriff der 
Philosophie bei den Stoikern und Epikureern, insofern 
jetzt neben und vor der rein theoretischen Aufgabe (der 
Erkenntnis) die wertvolle praktische Wirkung des Philo- 
."^ophierens auf das Leben und Handeln betont wird. So 
ruft Cicero aus: o Philosophie, die du das Leben leitest, 
zur Tugend hinführst und die Laster vertreibst, was hätten 
wir, ja überhaupt das menschliche Leben ohne dich sein 
können. — Das Wissen ist nicht mehr Selbstzweck, sondern 
empfängt seine Eichtung durch die praktischen Interessen 
des Lebens. Als Streben nach (theoretischer und prakti- 
scher) Tüchtigkeit definieren die Stoiker, als das Vermögen, 
durch wissenschaftliche Tätigkeit das Leben glücklich zu g*>- 
.'-talten, Epikur (f 270 v. Ohr.) die Philosophie. 
§ 2. Der Begriff der Philosophie. 
Isach diesen drei Hauptauffassungeu der Philosophie im 
Alteitum hriiigt das Mittelalter iusofein eine engere zur 
Geltung, als eine Abgrenzung von der Theologie eintritt und 
die Quellen, aus denen hier und doil das Wissen geschöpft 
wird, zur Unterscheidung beider Gebiete benutzt werden. 
Im Gegensatz zu den übernatürlichen Erkenntnissen, die 
luan auf die Offenbarung zurückführt, werden der Philo- 
sophie solche zugesprochen, die durch das natürliche 
Licht der Vernunft gefunden sind, und sie erscheint 
daher als das S-ystem des auf diese Art erworbenen Wissens. 
Im Sinne der nämlichen Anschauung liegt es, wenn die Philo- 
sophie als scientia saecularis, als Welt Weisheit, als welt- 
liche Wissenschaft auftritt. Denn vornehmlich die irdischen, 
weltlichen Dinge werden nach dieser Auffassung von dem 
natürlichen Lichte der menschlichen Vernunft aufgehellt. 
4. Die Anfänge der neueren Philosophie bringen hierin 
scheinbar keine Änderung hervor, nur wächst mit bemerkens- 
werter Geschwindigkeit die Hochschätzung dieser weltlichen 
Wissenschaft, und es entsteht die Neigung, der Vernunft un- 
beschränkten und ausschließlichen Anspruch auf die Ge- 
winnung wirklicher Erkenntnis zu gewähren. Bei dem 
»Vater der neueren Philosophie« Descartes oder Cartesius 
(1596—1650) Ist dieser Standpunkt tatsächlich bereits er- 
reicht: die Gewißheit des Erkennens wird auf rein philoso- 
phischem Wege durch Berufung auf die Tatsachen des Be- 
wußtseins begründet. In England dagegen bleibt die Philo- 
sophie als eigentliche Weltweisheit neben der Theologie be- 
stehen. Wenn Bacon (1561 — 1626) die menschliche Wissen- 
schaft (im Gegensatz zur Theologie) nach Seelenvermögen 
einteilt (vgl. §3,3) und dabei die Philosophie aus der Vernunft 
hervorgehen läßt, oder wenn Hobbes (1588 — 1679) die 
Philosophie als die Erkenntnis des (dem natürlichen Lichte 
menschlicher Vernunft zugänglichen) kausalen Zusammen- 
hangs definiert, so scheint hier noch immer die mittel- 
alterliche Auffassung nachzuwirken. Damit hängt die merk- 
würdig beharrliche Scheidung von Glauben und Wissen und 
der Mangel einer eigentlichen Metaphysik, sowie die Be- 
schränkung der Philosophie auf spezifisch wissenschaftliche 
/. Kapitel. Begriff und Einteilung der Philosophie, 
Untersuchungen, auf das sichere Gebiet der Erfahrung und 
des allgemein gültig Feststellbaren bei den Hauptvertret^rn 
der ursprünglichen englischen Philosophie auf das engste 
zusammen. 
5. Eine vernunftgemäße Vereinigung von Wissen und 
Glauben durch eine mit wissenschaftlichen Mitteln und auf 
wissenschaftlicher Grundlage errichtete Metaphysik bezeich- 
net das Hauptziel der neueren Philosophie auf dem Festland 
Europas. Nach Descartes hat die Philosophie vornehm- 
lich die vollkommene Kenntnis aller wißbaren Dinge zu 
entwickeln und dazu die Voraussetzungen für die anderen 
Wissenschaften in evidenter Form darzustellen. So sucht 
man jetzt die Philosophie als eine Wissenschaft unter an- 
deren, und zwar als die allgemeine, grundlegende und 
durch ein rationales Verfahren ausgezeichnete Disziplin zu 
charakterisieren. Später definiert Christian Wolff (1679 bis 
1754) die Philosophie in ähnlichem Sinne als die »scientia 
possibilium, quatenus esse possunt«, als die »Wissenschaft 
aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind«. 
Auch damit wird der Gegensatz zwischen dem Eationalen, 
aus reiner Vernunft Erkennbaren, dem a priori, und dem 
Empirischen, in der Erfahrung zufällig Gegebenen, dem 
a posteriori, zur Grundlage für die Scheidung der Philosophie 
von den Einzelwissenschaften. Nicht wesentlich verschieden 
ist die Bezeichnung der philosophischen Erkenntnis als der 
Vernunfterkenntnis aus Begriffen bei Kant (1724—1804) 
oder die Auffassung der Philosophie als einer Wissenschafts- 
lehre bei J. G. Fichte (1762—1814) oder endlich die Be- 
stimmung der Philosophie als einer Wissenschaft des Abso- 
luten bei Hegel (1770—1831). So bereitet sich eine in 
der Gegenwart bevorzugte Definition der Philosophie als 
einer Wissenschaft der Prinzipien vor^). Diesen Wort- 
^) Wenn Joh. Rehmke in seinem Werke »Philosophie als Grund- 
wissenschaft« (1910) der Philosophie »das Allgemeinste des Gegebenen 
überhaupt« als Gegenstand zuweist, so steht er gleichfalls dieser De- 
finition nahe. Neben der »Grundwissenschaft«, die das Gegebene 
schlechtweg betrifft, weist er die »Logik «, die das Gegebene »als Gewußtes« 
behandelt, der Philosophie zu. 
10 
§ 2, Der Begriff der Philosophie. 
laut hat die von Überweg (t 1871) vorgeschlagene Begriffs- 
bestimmung der Philosophie, imd wenn verschiedene Philo- 
sophen der Gegenwart in der Erkenntnistheorie und Logik 
die einzigen oder wenigstens zentralen Gebiete einer wissen- 
schaftlichen Philosophie erblicken, so läßt sich diese Auf- 
fassung auf eine ähnliche Formel bringen. 
6. Aber unsere Übersicht bliebe unvollständig, wenn sie 
nicht noch anderer Versuche gedächt«, einen einheitlichen 
Begriff der Philosophie zu entwickeln. Während in den 
zuletzt mitgeteilten Definitionen die Philosophie als das 
logisch allgemeinere, die übrigen Wissenschaften begründende 
Erkenntnisgebiet erscheint, wird von einer Gruppe anderer 
Philosophen umgekehrt die Abhängigkeit der Philosophie 
von den Einzelwissenschaften betont, die den Ausgangs- 
punkt oder den Stoff für die Bestrebungen und Unter- 
suchungen jener zu bilden haben. Schon Herbart (1776 
bis 1841) nähert sich diesem Standpunkt, wenn er die Philo- 
sophie als die Bearbeitung der Begriffe definiert und diese 
Bearbeitung im einzelnen als eine Verdeutlichung, als eine 
Berichtigung und als eine Ergänzung durch Wertbestim- 
mungen bezeichnet. So ergeben sich ihm drei Hauptteile 
der Philosophie, die Logik, die Metaphysik und die prak- 
tische Philosophie oder Ästhetik (vgl. § 1, 1). Während 
schon hier gewisse Begriffe als gegeben, durch die Erfahrung 
geliefert, anerkannt werden, tritt der gleiche Grundgedanke 
in wesentlich verbesserter Gestalt bei Wundt entgegen, 
insofern er die Aufgabe der Philosophie in der Vereinigung 
der durch die Einzelwissenschaften vermittelten Erkennt- 
nisse zu einem widerspruchslosen System erblickt, oder bei 
Paulsen, der die Philosophie als den Inbegriff aller wissen- 
schaftlichen Erkenntnis bestimmt. Hiernach wird sie zu 
einer sachlichen Ergänzung der besonderen Wissenschaften, 
und zweifellos entspricht auch diese Auffassung einer heute 
sehr verbreiteten Ansicht über die Aufgabe der Philosophie. 
Ferner sei noch die von Hume (1711 — 1776) zuerst aus- 
drücklich gelehrte, darnach von Beneke (1798 — 1854) und 
Th. Lipps (1851—1914) (früher) vertretene Anschauung er- 
wähnt, daß die Philosophie Psychologie oder Wissenschaft 
11 
/. Kapitel. Begriff 2ind Einteilimg der Philosophie. 
von der inneren Eifaliiung sei und so der Naturwissenschaft 
nebengeordnet werden müsse. Endlich hat A. Döring die 
Phihvsophie als eine Güterlehre, d. li. als die Wissenschaft 
von den allgemeingültigen singulären Weiturteilen und von 
der Möglichkeit der Glückseligkeit bestimmt und Windel- 
band (1848—1915) ihr die Aufgabe zugewie?>en, eine kritische 
Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten zu sein, die 
nicht als Tatsachen, sondern als logische, ethische und 
ästhetische Normen behandelt werden sollen. 
7. Bk ist klar, daß diese so weit auseinandergehenden 
modernen Begriffsbestimmungen nicht sowohl die Philosophie 
als einen geschichtlichen Tatbestand verstehen lassen und 
würdigen als vielmehr die eigentümlichen Ansichten selb- 
ständiger Denker über den bestmöglichen Betrieb der Philo- 
sophie zu ihrer Zeit haben zum Ausdruck bringen sollen. 
Darum erscheinen uns diese Definitionen mehr als Programme 
für bestimmte Systeme, als treffende Zusammenfassungen 
der Absichten einzelner Philosophen, weniger als Versuche 
das zeitlose Wesen der Philosophie in einer allgemeingültigen 
Formel auszudrücken. Ein anderes aber ist es, der Philo- 
sophie zu einer bestimmten Zeit eine besondere Arbeitsauf- 
gabe zu stellen, ein anderes, ihren Begriff so zu fassen, daß 
er dem, was unter ihrem Namen zu allen Zeiten betrieben 
worden ist, gerecht wird. Sicherlich hat jede der geschil- 
derten Begriffsbestimmungen einen Teil dessen, was zur 
Philosophie gehört oder gerechnet worden ist, wiedergegeben, 
aber über eine einseitige Bemcksichtigung dieses Teiles ist 
sie dabei nicht hinausgekommen. Welche von ihnen ist — 
um nur einen Punkt herauszugreifen — imstande, die an- 
tike Auffassung von der Philosophie als der Wissenschaft 
schlechthin und zugleich die späteren Versuche einer Ab- 
grenzung der Philosophie gegen andere Wissenschaften wider- 
spruchslos in sich aufzunehmen oder aus sich abzuleiten? 
Die nämliche Schwierigkeit entsteht jedoch schon, wenn wir 
eine der heute vertretenen Definitionen dem tatsächlich 
geltenden Umfange philosophischer Disziplinen gegenüber- 
stellen. Man versuche es einmal, die Metaphysik, die Logik, 
die Naturphilosophie, die Psychologie und die Ästhetik, so 
12 
^ 3. Die Einteiiung der Philosophie. 
wie sie gegenwärtig bearbeitet werden, unbefangen und 
zwanglos einer der modernen Definitionen der Philosophie 
einzufügen und wird sich bald davon überzeugen, daß es 
bei keiner von diesen gelingt. Da der Fortgang unserer Dar- 
legung von einer Begriffsbestimmung der Philosophie nicht 
;ibhängt, so werden wir auf die hier angeregte Frage er?r 
im IV. Kapitel zurückkommen, 
Anmerkung, ^lan redet zuweilen von Quellen des Philo- 
^ophierens und betrachtet die Philosophie demgemäß als 
(las Erzeugnis eines bestimmten Triebes oder Affekts. So 
hat Piaton das Staunen (d-avfidCsiv), Herbart den Zweifel 
als Ursprung des Philosophierens bezeichnet. Aber Ver- 
Mmderuug über das Dasein oder die Beschaffenheit von 
i:twas und Zweifel an der Eichtigkeit oder Gültigkeit irgend- 
welcher Behauptungen und Annahmen sind Affekte, die in 
aller Wissenschaft vorwärts treiben und eine nähere Be- 
dehung zur Philosophie nur durch die Angabe des eigen- 
\imlichen Gegenstandes erhalten können, an dem sie sich 
lier entzünden. Damit soll nicht geleugnet werden, daß 
. in besonderes Interesse und ein eigenartiges Talent für eine 
j,edeihliche Beschäftigung mit philosophischen Fi'p.i;'«^n uv. 
engeren vSiune vorausgesetzt werden. 
ITERATUR: * 
\. Döring: Über den Begriff der Philosophie, 1878. 
;. Haym: Philosophie in der Allgemeinen Enzyklopädie v. Erschund 
Gruber, 3. Sekt. 24. Tl. S. 1—11 (1848). 
-'•. Ricker t: Vom Begriff der Philosophie. Logos I 1909. 
\. Riehl: Über wissenschaftliche und nichtwissenschaf tliche - Philo- 
sophie, 1883. 
eberweg-Heinze: Grundriß der Geschichte der Philosophie, 10. Aufl. 
I. S. 1—6 (1909). 
Vindelband: Präludien*, 5. Aufl. 1915, 1. Bd. 1. Was ist Philosophie ? 
^ .;. DIE EINTEILUNG DER PHILOSOPHIE. 
1. Die Philosophie einteilen heißt sie als Gattung auffassen 
:nd Alten innerhalb' derselben unterscheiden. Soll die Ein- 
■ilung nicht eine zufällige Aufzählung sein, so muß sie auf 
/. Kapitel. Begriff und Einteilung der Philosophie. 
einem Einteilungsg runde oder -prinzip beruhen, d. h. in der 
Zerlegung eines wesentlichen (in der Eegel des artbildenden) 
Merkmals des Gattungsbegriffs bestehen. Von einer solchen 
Zerlegung ist zu verlangen, daß sie den ganzen Umfang des 
einzuteilenden Begriffs erschöpfe, also vollständig sei, und 
daß die unterschiedenen Glieder einander ausschließen, also 
nicht mit ihren Sphären ineinander übergreifen. Der erste, 
auf den wir eine Einteilung der Philosophie zurückführen 
können, ist Pia ton. Die von ihm nicht namentlich, aber 
sachlich unterschiedenen philosophischen Disziplinen sind 
Dialektik (oder, wie sie später auch genannt wurde, Logik), 
Physik und Ethik. Dialektik bedeutet ihm Erkenntnis- 
theorie und Metaphysik, d. h. eine Wissenschaft von den 
»Ideen«, die das bleibende, von dem Wechsel der sinnlichen 
Erscheinung unberührte Wesen der Dinge, das »wahrhaft 
Seiende« darstellen. Physik bezeichnet sowohl die ]S"atur- 
wissenschaft als auch die Naturphilosophie und die Psycho- 
logie, würde daher vielleicht am besten durch den einfachen 
Ausdruck Naturlehre wiederzugeben sein. Die Ethik end- 
lich entspricht dem auch heute noch gebräuchlichen Be- 
griff dieses Namens, war also eine Lehre vom sittlichen Ver- 
halten. Diese Einteilung, deren Prinzip wir nicht kennen, 
ist die einflußreichste und dauerhafteste von allen geworden. 
Im Altertum wurd^ sie von den Stoikern und Epikureern 
angenommen, und seitdem läßt sie sich in den meisten 
späteren Versuchen, trotz verschiedener Namen oder ver- 
änderter Bedeutungen der alten, wiedererkennen. 
2. Zu dieser Wirkung trug wohl auch die Tatsache bei, 
daß von Aristoteles kein einfaches und klares System 
philosophischer Disziplinen überliefert war. Gewöhnlich 
unterscheidet man die theoretische, praktische und 
poietische Philosophie nach Aristoteles, indem man 
sich auf den Satz beruft: jcäaa öiavoia ?} jcQaxrixrj rj ycoirj- 
rixTj ij O^smQTjTixTj. Hierbei bedeutet die theoretische Philo- 
sophie die rein wissenschaftliche Erkenntnis, die prak- 
tische die Darlegung von Eegeln für das Handeln, die 
poietische das auf das (handwerksmäßige oder künstle- 
rische) Schaffen sich beziehende Wissen. Innerhalb der 
14 
§ 3. Die Einteilung der Philosophie. 
theoretischen Philosophie stellte Aristoteles die Mathe- 
matik, Physik und Theologie nebeneinander und be- 
zeichnete die letztgenannte auch als erste und die Physik 
als zweite Philosophie. Der Theologie oder ersten Philo- 
sophie wird die Lehre von den letzten Gründen und Ur- 
sachen (tcöv jtQcozcov aQXcöp xal alximv) zugewiesen, also 
das Gebiet der Erkenntnistheorie und Metaphysik, der pla- 
tonischen Dialektik. Die praktische Philosophie teilten die 
Aristoteliker in die Ethik, Ökonomik und Politik ein. Von 
allen diesen Bestimmungen hat sich am längsten, bis in die 
Gegenwart hinein, die Sonderung einer theoretischen und 
praktischen Philosophie erhalten (vgl. § 3, 4). Außerdem 
findet sich auch der Ausdruck »erste Philosophie« noch 
häufig in späterer Zeit zur Bezeichnung einer Grundwissen- 
schaft, z. B. bei Bacon, Hobbes und Descartes. Viel- 
fach sind auch in der Folgezeit Glieder der platonischen 
und der aristotelischen Einteilung nebeneinander aufgeführt 
worden. 
3. Zu Anfang der neueren Philosophie begegnen wir einer 
umfassenden Einteilung unserer Wissenschaft aus einem 
neuen Prinzip. Es ist die in der Schrift: De dignitate et 
augmentis scientiarum (1623) von Bacon entworfene Gliede- 
rung der Wissenschaften (vgl. § 2, 4). Sie beruht auf einer 
Unterscheidung der Vermögen der vernünftigen (vgl. § 8, 2) 
Seele, als welche das Gedächtnis, die Phantasie und die Ver- 
nunft bezeichnet werden^). Während sich auf das Gedächt- 
nis die Wissenschaft der Geschichte bezieht, entspricht der 
Phantasie die Poesie und der Vernunft die Philosophie. 
Die besondere Einteilung der Philosophie erfolgt nach Gegen- 
ständen in eine Lehre von Gott, von der Natur und vom 
Menschen. Innerhalb, der Naturphilosophie wird ferner 
^) Die Anregung zu dieser allgemeinen psychologischen Einteilung 
konnte Bacon dem Buche des spanischen Arztes J. de Huarte ent- 
nehmen: Examen de ingeniös para las ciencias (1576 u. ö., auch in latein. 
Übersetzg. erschienen und 1752 von Lessing deutsch herausgeg.). Hier 
wird untersucht, welche von den drei obengenannten Geistesanlagen 
den einzelnen Wissenschaften angepaßt sind, um den Fortschritt der 
Wissenschaften zu fördern und zu verhüten, daß Jeder Jedes treibe. 
Im einzelnen ist B. durchaus selbständig. 
15 
/. Kapitel. Begriff und Einteilung der Philosophie. 
eine spekulative (theoretische) und eine operative (tech- 
nische) Disziplin, innerhalb der Anthropologie eine Wissen- 
schaft von dem Menschen als Einzelwesen {philosophia 
humanitafis) und von dem Menschen als Glied der Gesell- 
schaft {philosophia civilis) untorscliieden. Daran schließen 
sich noch zahlreiche Unterabteilungen. Den drei philosophi- 
schen Hauptfächein aber wird noch eine allgemeinere Lehre, 
die Mutter aller, übergeordnet, die philosophia prima, 
die dem Namen nach alt, aber der Sache nach neu ist. Ihje 
Aufgabe besteht in der Untersuchung der Voraussetzungen 
{axiomata) , die mehreren Einzelwissenschaften gemeinsam 
sind. Mit der Aufstellung dieser »ersten Philosophie« hat 
Bacon die Idee der modernen Erkenntnistheorie, getrennt 
von der Metaphysik, mit der sie bei Piaton und Aristoteles 
verknüpft ist, mit glücklichem Griff herausgearbeitet. Wel- 
chen Einfluß diese umfassende Einteilung der Wissenschaften 
gehabt hat, sieht man daraus, daß noch d'Alembert in 
seinem Discours preliminaire^) zur berühmten Encyclopedie 
(1751 ff.) sie im wesentlichen beibehält. 
4. Aber auch darin zeigt sich die Fruchtbarkeit des neuen 
Gedankens, daß Christian Wolff (vgl. § 2, 5) seine Einteilung 
der Philosophie gleichfalls psychologisch begründet. Da ei- 
die facultas cognoscitiva und die facultas appetitiva, das Er- 
kenntnis- und das Begehrungsvermögen, unterscheidet, so 
erhält er zwei Hauptteile der Philosophie, die theoretische 
{Metaphysica) und die praktische. Weiterhin wird wieder- 
um nach Gegenständen eingeteilt, und zwar zerfällt die 
theoretische Philosophie nach ihren besonderen Objekten 
Gott, Seele und Welt, in (natürliche) Theologie, Psycho- 
logie und Kosmologie (Physik). Allen diesen besonderen 
theoretischen Disziplinen wird eine- Grundwissenschaft, die 
ontologie, vorangestellt, die mit der Erörterung der all- 
gemeinsten Gegenstandsbestimmungen (Kategorien) betraut 
wird. Die praktische Philosophie zerfällt in eine Ethik; 
eine Ökonomik und eine Politik (vgl. § 3, 2), wobei der 
Gesichtspunkt maßgebend ist, daß der Mensch als Person, 
M Deutsch von E. Hirschberg in der Philos. Biblioth. (Leipzig, 
Meiner) 1912. 
16 
§ 3. Die Einteilung der Philosophie. 
als Familienglied und als Staatsbürger betrachtet werden 
kann, und erhält gleichfalls eine Grundwissenschaft in der 
allgemeinen praktischen Philosophie. Die Einlei- 
tung zur theoretischen und praktischen Philosophie soll von 
der Logik gebildet werden, so daß die alte platonische Drei- 
teilung wieder durchschimmert. In bedeutsamer Weise er- 
gänzt wird endlich die bisherige Entwicklung durch den 
neuen Gesichtspunkt der in den einzelnen philosophischen 
Wissenschaften zur Anwendung gelangenden Methode. Wäh- 
rend nämlich die deduktive Ableitung aus allgemeinsten 
Prinzipien nach dem Vorbilde der Mathematik an sich die 
vorzüglichere sein soll, wird doch auch eine induktive, von 
den Tatsachen ausgehende Darstellungsform empfohlen und 
durchgeführt. Und darum stellt Wolff die rationalen 
(auf reinem Denken, auf bloßer Vernunfteinsicht ruhenden) 
und die empirischen (auf Erfahrung gegründeten) Diszipli- 
nen einander gegenüber. So wird der rationalen Theologie 
die experimentelle oder die Teleologie beigeordnet, ebenso 
wird eine rationale und eine empirische Kosmologie oder 
Physik und eine rationale und empirische Psychologie unter- 
schieden. Diese Unterscheidung bildet wenigstens den Keim 
zu einer förmlichen Trennung der Philosophie und der 
Einzel wissen Schäften, die bis dahin im großen und ganzen 
vermieden worden war (vgl. § 2, 5). 
5. Der Gegensatz des Eationalen und Empirischen ist 
nun auch für Kants Einteilung der Philosophie zunächst 
maßgebend gewesen, indem er eine »Erkenntnis aus reiner 
Vernunft« (auch Erkenntnis a priori genannt) und eine 
»Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien« (oder a 
posteriori) unterscheidet und jene als reine, diese als empi- 
rische oder angewandte Philosophie bezeichnet. Doch 
erklärt er ausdiücklich, daß die reine allein dasjenige aus- 
mache, »was wir im echten Verstände Philosophie nennen 
können«. Ihre beiden Teile sind die Propädeutik oder 
Kritik und die Metaphysik, jene eine Voruntersuchung 
über die Fähigkeit der reinen Vernunft Erkenntnisse zu 
erwerben, diese das System der Vernunfterkenntnis o priori. 
Da nun der Vernunftgebrauch ein theoretischer oder prak- 
Zülpe, PhiloBophie. 10. Aufl. 2 
17 
7. Kapitel. Begriff und Einteilung der PhilosovMe. 
tischer sein, d. h. auf das, was ist, oder das, was sein soll, 
sich richten kann, so gibt es innerhalb des »Systems« eine 
Metaphysik der Natur (= Metaphysik im engeren Sinne) 
und eine Metaphysik der Sitten. Dabei gilt die Natur 
als Bereich des Seienden, sofern es gesetzmäßig ist, in ihr 
also Notwendigkeit herrscht, während die »Sitten« das 
Seinsollende bezeichnen, das seinerseits Freiheit voraus- 
setzt. 
6. Der kantischen nahe vorwandt ist die Einteilung der 
Philosophie, die Hegel vorgenommen hat. Er scheidet eine 
Lehre von der Entstehung des absoluten Wissens von einer 
wissenschaftlichen Darstellung seines Inhalts. Jene wird 
von ihm Phänomenologie des Geistes genannt. Sie 
schildert in sechs Stufen das allmähliche Wachsen der 
Erkenntnis, bis diese in dem »absoluten Wissen« ihre Voll- 
endung findet. Die Entwicklung dieser Stufen ist keine 
psychologische oder historische, sondern eine logische. Es 
ist die von Hegel mit großer Zähigkeit durchgeführte dia- 
lektische Methode. Das Wesen derselben besteht in einer 
Selbstauflösung der eingenommenen Standpunkte, die zu- 
gleich als notwendige Durchgangsstufen zum Ziel der voll- 
endeten, in sich abgeschlossenen Erkenntnis geschildert wer- 
den. Darum ist jede höhere Stufe nicht eine einfache Auf- 
hebung der niederen, sondern diese sind in jener als relativ 
berechtigte »Momente« enthalten. So vereinigt denn die 
höchste Stufe der Erkenntnis, das absolute Wissen, die (in 
doppeltem Sinne »aufgehobenen«) Wahrheitsmomente aller 
niederen in sich. Die Logik als die Lehre vom Inhalt des 
absoluten Wissens entwickelt diesen nach derselben dialek- 
tischen Methode von dem allgemeinen leeren Begriff des 
Seins aus zu dem inhaltlich reichsten Begriff der absoluten 
Idee. Von der Logik zweigen sich dann noch zwei besondere 
philosophische Disziplinen ab, die Philosophie der Natur 
und die Philosophie des Geistes. Die wesentlichste 
Abweichung gegenüber Kant besteht hier in der weiteren 
Fassung des der Philosophie der Natur gegenübergestellten 
Teils. Während die Metaphysik der Sitten nach Kant die 
»reine Moral« ist und die rationale Psychologie zur Mcta- 
18 
§ 3. Die Einteilung der Philosovhie. 
physik der Natur gezählt wird, werden hier außer der Ethik 
und Eechtsphilosophie noch die Psychologie, Ästhetik und 
Religionsphilosophie zur Philosophie des Geistes gerechnet. 
Trotz aller Verschiedenheit des Standpunkts und der Me- 
thode hat Wundt in seiner Einteilung der Philosophie eine 
der Hegeischen ähnliche Gliederung vorgeschlagen. Nach 
ihm kann der gesamte Inhalt des Wissens zunächst in bezug 
auf seine Entstehung untersucht werden: damit beschäftigt 
ßich die philosophische Disziplin der Erkenntnislehre. 
Sodann kann aber der Wissensinhalt mit Rücksicht auf die 
systematische Verbindung seiner Prinzipien untersucht wer- 
den: in solcher Leistung besteht die Aufgabe der Prinzi- 
pienlehre. Diese zerfällt in eine allgemeine Prinzipienlehre 
oder Metaphysik und in eine besondere, die sich in die 
beiden Teile der Philosophie der Natur und der Philo- 
sophie des Geistes scheidet. — Die Einteilung von 
Herbart ist bereits § 2, 6 erwähnt worden. Auf einige 
Versuche der Gegenwart, eine speziellere Einteilung der 
Philosophie zu entwickeln, können wir hier nicht eingehen. 
7. Die Einteilung der Philosophie muß, sofern sie aus 
einer einheitlichen Definition ihres Begriffs folge- 
richtig abgeleitet ist, auf die nämlichen Schwierig- 
keiten stoßen, die wir in § 2, 7 angeführt haben. Sie wird 
demnach ein mehr oder minder subjektives Schema dar- 
stellen, geeignet, die persönliche Auffassung einzelner Philo- 
sophen von den besonderen Aufgaben der Philosophie zu 
veranschaulichen, aber unzureichend erscheinen, sobald wir 
sie als einen Versuch würdigen, den Bestand der Philo- 
sophie aller Zeiten nach logischen Gesichtspunkten zu ordnen. 
Einem solchen Versuch setzt der Wandel dieses Bestandes 
selbst eine unübersteigliche Schranke. Wenn Bacon und 
Hobbes noch die Mathematik, Descartes und Wolff 
noch die (empirische) Physik zur Philosophie gerechnet 
haben, so kann die von Kant und Hegel entworfene Ein- 
teilung der philosophischen Disziplinen, welche die Mathe- 
matik und Physik ausscheidet, offenbar nicht als allgemein- 
gültig angesehen werden. Dieselbe Schwierigkeit zeigt sich, 
wenn wir uns auf eine einzige Periode, etwa die neueste Zeit, 
2* 
19 
/. Kapitel. Begriff und Einteilung der Philosophie. 
beschränken. Die empirische Psychologie z. B. wird heute 
von manchen als eine philosophische Wissenschaft angesehen, 
von anderen dagegen den Einzelwissenschaften zugewiesen; 
in der gleichen Lage befindet sich die Soziologie. Es handelt 
sich also bei der Veränderlichkeit des Umfangs der Philo- 
sophie nicht um eine Erscheinung, die gegenwärtig bereits ihr 
Ende erreicht hätte, auch nicht um ein bloßes Anwachsen des 
Stoffes, das nach dem Prinzip der Arbeitsteilung einen Zer- 
fall in kleinere Einheiten veranlaßt, sondern um einen im 
Wesen der Philosophie selbst begründeten Wechsel. 
8. So wenig wir für die im nächsten Kapitel mitzuteilende 
Übersicht der gegenwärtig als solche geltenden philosophi- 
schen Disziplinen einer befriedigenden Definition des Be- 
griffs der Philosophie bedürfen, so wenig ist eine unseren 
Anforderungen genügende Einteilung derselben dafür un- 
entbehrlich. Immerhin kann eine vorläufige Gliederung, die 
weder den Tatsachen Gewalt antut, noch unseren späteren 
Vorschlägen (im IV. Kap.) vorgreift, von einigem Nutzen 
sein. Dazu diene die Unterscheidung in allgemeine und 
besondere philosophische Disziplinen. Jene beziehen sich 
auf den gesamten Bestand unseres Wissens und Erkeimens, 
diese nur auf gewisse Ausschnitte und Aufgaben desselben. 
Wir lassen es dabei ganz dahingestellt, ob die unter den 
besonderen philosophischen Disziplinen aufgeführten Wissen- 
schaften den allgemeinen Namen Philosophie gemäß einer 
flüher angeführten Definition seines Begriffes verdienen oder 
nicht. Der einzige Zweck dieser Einteilung ist vielmehr, 
die anerkannten, heute unterschiedenen philosophischen 
Wissenschaften nach einem einfachen und doch ein logisches 
Bedürfnis befriedigenden Leitfaden zu ordnen. Zu den all- 
gemeinen philosophischen Disziplinen rechnen wir die Meta- 
physik, die Erkenntnistheorie mit der Logik und die 
allgemeine Wcrthhre, zu den speziellen philosophischen 
Disziplinen dagegen zählen wir die Naturphilosophie, 
die Psychologie, dieEthik undEechtsphilosophie, die 
Ästhetik, die Eeligionsphilosophie und die Philo- 
sophie der Geschichte. Die Soziologie kommt hierbei 
unter dem Titel Philosophie der Geschichte zur Sprache. 
20 
§ 3. Die Einteilung der Philosophie. 
LITERATUR: 
R. Fl int: Philosophy as Scientia scientiarum and History of Claaai- 
fication of Sciences, 1904. 
J. Marietan: PrahUme de la Classification des sciences d'Aristote a 
St.-Thomas. (Dissertation d. Univ. Friboiirg) 1901, 
Ch. Ronouvier: Esquisse d-une Classification systematique des doctrines 
philosophigues, 2 Bde. 1885— 1886. 
C. Stumpf: Zur Einteilung der Wissenschaften*. Abhandl. d. K. Preuß. 
Akad. d. Wissensch. 1907. 
W. Wundt: Über die Einteilung der Wissenschaften. Philosoph. Stu- 
dien, herausg. von Wundt, Bd. V. S. Iff. (1889). 
21 
//. KAPITEL. 
DIE PHILOSOPfllSCEN DISZIPLINEN. 
A. DIE ALLGEMEINEN PHILOSOPHISCHEN DISZI- 
PLINEN. 
§ 4. DIE METAPHYSIK. 
1. Der Name Metaphysik ist ganz zufällig entstanden. 
Die allgemeinsten Untersuchungen des Aristoteles wurden 
von den Ordnern seiner Schriften den naturwissenschaft- 
lichen bzw. naturphilosophischen angeschlossen und, da 
diese t« q>voixa hießen, mit der Bezeichnung xa (ista xa 
qwoixd (das, was auf die zur »Physik« gehörenden Schriften 
folgt) versehen, aus der in der lateinischen Form metaphysica 
(plural) \vurde. Diese ursprünglich rein äußerliche Ordnung 
wurde später zu einer sachlichen erhoben, und noch im 
18. Jahrhundert war es üblich, sinnige Erörterungen an den 
Doppelbegriff des //cra (das Höhere, supra, und das Spätere, 
post) zu knüpfen. Aristoteles selbst rechnete die hier 
geführten Untersuchungen zur »ersten Philosophie«, die er 
als eine Wissenschaft von den obersten Prinzipien auffaßte 
(vgl. § 3, 2). Danach liegt hier sachlich keine neue Schöjh 
fung vor. Denn um die Bestimmung oberster Prinzipien, 
der allgemeinsten Eigenschaften und Formen des Seins und 
Geschehens waren schon die älteren und jüngeren ionischen 
Naturphilosophen, die Eleaten, u. a. bemüht gewesen. Der 
Name Dialektik, den wir bei Piaton finden (vgl. § 3, 1), darf 
als Bezeichnung für metaphysische Erörterungen im Sinne 
des Aristoteles in Anspruch genommen werden. Durch 
den scholastischen Betrieb dieser Disziplin, die zu den üb- 
lichen Unterrichtsgegenständen in den mittelalterlichen Schu- 
len gehörte, kam der Titel Dialektik später in Verruf, weil 
man darunter eine Anleitung zu spitzfindigen und unfrucht- 
baren Disputationen verstand. Schleiermacher (1768 bis 
1834) hat jedoch zu der alten platonischen Bezeichnung 
22 
§ 4. Die Mrtaphf/sik. 
zurückgegriffen, um damit metaphysische und erkenntnis- 
theoretische Überlegungen anzudeuten. Auch Hegel hat 
mit seiner dialektischen Methode (vgl. § 3, 5) den Namen 
vorübergehend zu Ehren gebracht, und noch E. Dühring 
nennt seine scharfsinnigen Untersuchungen über Raum und 
Zeit, Kausalität und Unendlichkeit »natürliche Dialektik«, 
(1865). Für das nämliche Gebiet ist aber auch der Name, 
den Aristoteles ihm gegeben (vgl. § 3, 2), lange erhalten 
geblieben, so nennt z. B. Descartes eine vom radikalen 
Zweifel zu den sicheren Grundlagen alles Wissens vordrin- 
gende Schrift meditationes de prima philosophia^). Später 
wurde diese Bezeichnung zumeist dem ersten Teil der Meta- 
physik, den man auch ontologie nannte, vorbehalten; in 
diesem Sinne verfaßte Chr. Wolff eine philosophia prima 
sive ontologia (vgl. § 3, 4). Hegel endlich hat seine hierher 
gehörigen Lehren in einem System der Logik dargestellt 
(vgl. § 3, 6). 
2. Unter dem Namen Metaphysik sind insbesondere zwei 
Aufgaben behandelt worden: 1. die Prinzipien der Er- 
kenntnis, des Wissens, soweit sie nicht in den von der 
Logik geschilderten Methoden und Formen des Denkens be- 
stehen, und 2. das Wesen der Realität, der Welt, des 
Seins und Geschehens, dessen Angabe das von den Wissen- 
schaften entworfene Bild der Welt vervollständigt und ab- 
schließt. Als ein Prinzip der Erkenntnis gilt z. B. der Satz 
von der Kausalität, nach dem jede Veränderung als die 
Wirkung einer anderen, ihrer Ursache, anzusehen ist, denn 
er bildet eine Voraussetzung für unsere Erklärung der im 
natürlichen Geschehen vorkommenden Veränderungen. Als 
das Wesen der Realität dagegen betrachtet man etwa mit 
Leibniz (1646 — 1716) das System der Monaden, oder mit 
Schopenhauer (1788 — 1860) den Willen, oder mitSpinoza 
(1632 — 1677) die eine, unendliche Substanz mit unendlich 
vielen Attributen. Bei manchen Philosophen hängen die 
letzten Gründe (des Wissens) und das reale Wesen (des Seins 
und Geschehens) so eng miteinander zusammen, daß sie beide 
Aufgaben in eine vereinigen und urgesondert der Metaphysik 
') Deutsche Ausg. von Buchenau in der Pliilos. ßiblioth. 1904. 
23 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
überweisen. Als vorbildlich für dieses Verfahren können 
Aristoteles, Herbart und Hegel bezeichnet werden. 
Daneben gibt es andere, die nur in der zuerst erwähnten 
Lehre von den Prinzipien der Erkenntnis die wissenschaft- 
liche Aufgabe einer Metaphysik erblicken, für die daher die 
Bestimmung des Wesens der Kealität ein unlösbares Problem 
bildet und außerhalb des Bereichs der Philosophie fällt. 
Auf diesem Standpunkte stehen die Positivisten (s. u.). 
Endlich einer dritten Klasse von Philosophen erscheint es 
zweckmäßig, nur der Bearbeitung der zweiten Aufgabe den 
Titel der Metaphysik zu verleihen und hiervon die Wissen- 
schaft von den Prinzipien der Erkenntnis in dem oben be- 
zeichneten Sinne als die Erkenntnistheorie abzutrennen. 
Dieser letzten Auffassung glauben auch wir beipflichten zu 
sollen. Daher werden wir im folgenden unter der Metaphysik 
den Versuch einer mit wissenschaftlichen Mitteln aus- 
gebauten Weltanschauung, einer Bestimmung des We- 
sens aller Realität verstehen. 
3. Den Inhalt einer solchen Metaphysik kann man am 
besten aus der Einteilung ihres Gebietes entnehmen (vgl. 
§ 3). Man pflegt eine allgemeine und eine besondere 
Metaphysik zu unterscheiden. Jene, die auch ontologie 
genannt wird, handelt von der Natur des Seins, des Werdens, 
des Wirkens, so wie sie gedacht werden müssen, wenn sie 
als Realitäten, als das wahre Wesen der Dinge und ihrer 
Veränderungen gelten sollen. Sie stellt sich damit in Gegen- 
satz zu der Bestimmung des Phänomenalen (d. h. des Inbe- 
griffs der Erscheinungen) und rechnet dazu nicht nur den 
Sinnenschein, der in der naiven Anschauung die Wirklichkeit 
ist, sondern auch wohl den Inhalt ein^elwissenschaftlicher Be- 
griffe, wie der Atome und ihrer Kräfte. Sie richtet sich, um 
einen Ausdruck von Kant zu gebrauchen, auf das »Ding an 
sich«, wie es unabhängig von den Zutaten unserer Erkenntnis, 
die es zur »Erscheinung« umwandeln, beschaffen ist. Ein sol- 
ches Ding an sich ist z. B. der Wille nach Schopenhauer oder 
das Unbewußte nach E. v. Hartmann (1842—1906). Von 
dem auf diese Weise gewonnenen Standpunkte aus werden 
dann in der besonderen Metaphysik, die sich in Kosmologie 
24 
§ 4. Die 3Ifitaphysik. 
oder Natui-philosophie einerseits, in Psychologie oder Philo- 
sophie des Geistes andererseits scheidet, die Gebiete der Natur 
(der Außenwelt) und des Seelenlebens (der Innenwelt) ge- 
deutet und der Zusammenhang mit den Natur- und Geistes- 
wissenschaften hergestellt. Die früher in der Eegel auch zur 
besonderen Metaphysik gerechnete natürliche oder rationale 
Theologie wird jetzt meist im Kahmen der Eeligionsphilo- 
sophie behandelt. Auf die Gestaltung des wahrscheinlichsten 
Weltbildes haben aber nicht nur theoretische Erwägungen, 
sondern auch praktische Bedürfnisse einen beträchtlichen 
Einfluß. Verstand und Gemüt sollen durch die Metaphysik 
gleichmäßig befriedigt werden. Die Weltanschauung, die sich 
auf Grund wissenschaftlicher Forschungen als deren Ver- 
einigung und Abschluß ergibt, soll zugleich eine Lebens- 
anschauung erhalten, mit der sich die praktischen, die sitt- 
lichen Aufgaben erfüllen lassen. Offenbar wird damit der 
Metaphysik das höchste Ziel gesteckt; indem sie ihm zu- 
strebt, erweist sie sich als »Königin der Wissenschaften«. 
4. Aber gibt es überhaupt eine Metaphysik, die als Wissen- 
schaft auftreten kann, und wie ist eine solche möglich ? Mit 
dieser Frage machte Kant sie selbst zum Problem. In 
seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1781) unterwarf er die 
Metaphysik seiner Zeit einer überaus eingehenden und scho- 
nungslosen Prüfung. Wenn die (rationale) Psychologie für 
die Annahme einer einfachen, unsterblichen Seelensubstanz 
einen strengen Beweis zu führen unternommen hatte, so 
wurde ihr jetzt dargetan, daß sie damit in Fehlschlüsse (Para- 
logismen) verfallen sei. Hatte die Kosmologie bestimmte 
Anschauungen über die räumliche und zeitliche Beschaffen- 
heit des Weltganzen und über den Kausalzusammenhang 
als die richtigen abgeleitet, so zeigte Kant, daß sich die 
genau entgegengesetzten ebenfalls begründen lassen, und daß 
demnach die Vernunft in Widerspruch mit sich selbst, in 
»kosmologische Antinomien« gerate. Wurde endlich der Be- 
weis für das Dasein Gottes in der natürlichen Theologie 
teils aus dem Begriff eines vollkommensten Wesens, teils 
aus der Zufälligkeit und Zweckmäßigkeit der Welt geführt, 
80 stellte Kant fest, daß allen diesen Folgerungen eine wirk- 
25 
//. Kapitel. Die 'philosophischen Disziplinen. 
lieh überzeugende Beweiskraft fehle. Aber Kants Kritik 
richtete sich nicht nur gegen die besondere Gestalt der meta- 
physischen Lehren über Gott, Welt und Seele, sondern gegen 
jeden Versuch aus bloßer Vernunft (d. h. rein begriff- 
lich, a priori) Erkenntnisse über das jenseits aller Erfahrung 
liegende »Ding an sich«, das Transzendente, zu gewinnen. 
Eine solche Metaphysik aus leeren, weil des anschaulichen 
Inhalts entbehrenden Begriffen mißbilligte Kant als eine 
Überschreitung der Grenzen des Erkenntnisvermögens, die 
das feste, sichere Land der Erfahrung aufgebe, um sich auf 
weitem, stürmischem Ozean durch Nebelbänke und Eisberge 
neue Länder vorlügen zu lassen. 
5. Doch hat Kant selbst der Metaphysik darum nicht 
entsagt. In seinem System der Philosophie werden eine 
Metaphysik der Natur und eine Metaphysik der Sitten auf- 
geführt (vgl. § 3, 5), und neben ihnen ist von ihm auch noch 
eine Eeligion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 
die der rationalen Theologie nahe verwandt ist, bearbeitet 
worden (vgl. § 11, 3). Ja, selbst auf eine Begründung des 
Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele, die Freiheit des 
Willens, die Existenz Gottes hat Kant nicht verzichtet. 
Im Anschluß an die Tatsachen der Sittlichkeit werden sie 
aufgewiesen als Postulate (d. h. Fordeningen) der prak- 
tischen Vernunft. Kants Bekämpfung der Metaphysik 
ist daher nicht sowohl gegen die Sache, als vielmehr gegen die 
Methode ihrer Behandlung gerichtet gewesen. Das Trans- 
zendente läßt sich aus reiner Vernunft nicht erkennen, und 
aller kühnen Konstruktion aus Begriffen, wie sie die Meta- 
physik jener Zeit betrieben hatte, muß eine kritische Vor- 
untersuchung über die Leistungsfähigkeit unseres Erkennt- 
nisvermögens vorangehen — das sind die Hauptergebnisse 
der kantischen Prüfung, die somit eine Neugestaltung der 
Metaphysik, nicht deren Vernichtung befürwortet. Und 
so haben denn auch die Nachfolger Kants mit besonderem 
Eifer metaphysischen Bemühungen obgelegen, Fichte, 
Schelling (1775—1854) und Hegel auf der einen, Herbart 
und Schopenhauer auf der anderen Seite. Jene begannen 
mit dem harmlosen Versuch, die kantische Philosophie sy- 
26 
§ 4. Die Mftavhysik. 
stematisch auszubauen und zu begründen, und versuchten 
schließlich das All aus ihren Begriffen abzuleiten, gelangten 
dabei zu einer umfassenden begrifflichen Konstruktion des 
Universums. Diese gingen unmittelbar auf eine Bestim- 
mung des »Dinges an sich« aus, die sie auf ihre Weise, auch 
Kant gegenüber, zu rechtfertigen wußten und womit sie zu- 
gleich die Welt der Erfahrung nach Dasein und Sinn zu 
deuten suchten^). 
6. Viel einschneidender als Kant ist ein anderer Gegner 
der Metaphysik, nämlich der Positivismus, verfahren, 
insofern er nicht nur diese oder jene, sondern überhaupt 
jede Wissenschaft dieses Namens verwirft. Als den geistigen 
Vater dieser Eichtung, die in der englischen Philosophie von 
der Neuzeit ab der Anlage nach vorhanden war, darf man 
Hume ansehen. Nach seiner Auffassung haben alle Be- 
griffe nur insofern einen gültigen Inhalt, als sie sich auf di3 
Erfahrung zurückführen lassen. Die metaphysischen Be- 
griffe einer unkörperlichen Substanz, einer objektiven Kau- 
salität u. a. sind nach Hume nur in dem Umfange verständ- 
lich und berechtigt, in welchem sie gewisse Tatsachen des 
Bewußtseins ausdrücken (vgl. § 5, 3). Seinen Namen hat 
der Positivismus von Comte: Cours de philosophie positive 
(1830—1842, 6 Bde.), der ihn zur Theologie und zur Meta- 
physik in Gegensatz stellt. Alle Wissenschaft hat, wie 
Comte lehrt, die Aufgabe: zu sehen, um voraussehen zu 
können, von Tatsachen zu berichten und deren Gesetze auf- 
zufinden. Theologie und Metaphysik dagegen gingen dar- 
über hinaus, setzten Phantasie und Spekulation statt der 
Beobachtung und der Vernunft in Tätigkeit; Metaphysik 
will alles voraussehen, ohne etwas gesehen zu haben. Den 
gleichen Standpunkt vertritt sodann gegenüber der Meta- 
physik der englische Agnostizismus (= Unerkennbarkeits- 
standpunkt). Das von dem berühmten Naturforscher Hux- 
ley geprägte Wort findet seine Anwendung besonders auf 
die umfassende Philosophie von Spencer (f 1903), die das 
*) Durch eine eingehende Kritik Kants bahnt sich P. Schwartz- 
kopf : Das Wesen der Erkenntnis, 1909, den Weg zu einer neuen Meta- 
physik. 
27 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Erkennen auf das Endliche, Begrenjzte, in der Erfahrung 
Gegebene beschränkt und das Absolute, dessen Existenz 8ie 
nicht bestreitet, als unerkennbar bezeichnet. Zu diesen ent- 
schiedenen Gegnern der Metaphysik gehören endlich auch 
die Neukantianer, die modernen Vertreter einiger Grund- 
gedanken der Kant sehen Philosophie. Daß der Anfang 
aller theoretischen Philosophie Erkenntnistheorie oder -kritik 
(bez. Logik) sein müsse, und daß sich das Transzendente gar 
nicht theoretisch erfassen lasse, sind die Überzeugungen, die 
diese Denker mit Kant in erster Linie verbinden. Friedrich 
Albert Lange (t 1875), eines der Häupter des Neukantianis- 
mus, charakterisiert die Metaphysik als »Begriffsdichtung«. 
Vielleicht dringt sie tiefer, als die sich an Erscheinungen ab- 
mühende Wissenschaft, in das Wesen der Dinge, den Sinn 
der Welt, das »Ideal« ein, aber die Mittel der Wissensch af t 
stehen ihr hierbei nicht zur Verfügung. 
7. Indem wir im folgenden dem Positivismus gegenüber 
(welches Sammelwort für alle im vorigen Abschnitt er- 
wähnten Widersacher der Metaphysik gebraucht zu werden 
pflegt) die Berechtigung einer Metaphysik als Wis- 
senschaft zu vertreten versuchen, beginnen wir zunächst 
mit der Zustimmung zu Kants Kritik der begrifflich 
konstruierenden Metaphysik jener Zeit. In der Tat, 
wäre Metaphysik nur so möglich, so wäre sie überhaupt 
nicht möglich, und das von Kant selbst anerkannte »un- 
hintertreibliche« Bedürfnis der menschlichen Vernunft nach 
solchen Erkenntnissen müßte eben zum Verzicht genötigt 
werden. Aber Kant war im Irrtum wenn er meinte, Meta- 
physik wäre nur als Wissenschaft a priori, aus reiner Ver- 
nunft, denkbar und würde hinfällig, sobald ein solches Ver- 
fahren als fruchtlos und unzulässig bloßgestellt wäre. Die 
Idee einer induktiven, aus den Einzelrealwissenschaften 
hervorwachsenden und sie auf Grund weitreichender Intuition 
ergänzenden Metaphysik hat weder ihm als eine Möglichkeit 
vorgeschwebt, noch durch seine Kritik irgendwie berührt 
werden können. Nur um eine solche kann es sich aber nach 
unserer Ansicht bei dem Aufbau einer wissenschaftlich be- 
gründeten Weltanschauung handeln, und es wäre nicht sonder- 
28 
§ 4. Die Mftaphysik. 
lieh schwer zu zeigen, daß auch die ältere Metaphysik trotz 
der scheinbaren Apriorität ihres Verfahrens stets unwillkür- 
lich auf das Wissen ihrer Zeit Kücksicht genommen habe. 
Gustav Theodor Fechner (1801—1887), Eduard v. Hart- 
mann und Wilhelm Wundt (1832—1920) darf man wohl als 
die Philosophen bezeichnen, die zuerst mit vollem Bewußtsein 
die Idee einer induktiven Metaphysik zur Ausführung gebracht 
haben, der erstgenannte in »Zend-Avesta oder über die Dinge 
des Himmels und des Jenseits« (3 Bde. 1851, 3. Aufl. 2 Bde. 1906), 
V. Hartmann in seiner »Philosophie des Unbewußten* (1869, 
11. Aufl. 3 Bde. 1904, verkürzte Ausg. von W. v. Seh neben 
1913), Wundt in seinem »System der Philosophie« (1869, 
3. Aufl. 1907). »Es gilt vom möglichst großen Kreis des Erfah- 
rungsmäßigen im Gebiete der Existenz auszugehen, um durch 
Verallgemeineiung, Eiweiteiung und Steigerung der Ge- 
sichtspunkte, die sich hier ergeben, zur Ansicht dessen zu 
gelangen, was darüber hinaus in den anderen, weiteren und 
höheren Gebieten der Existenz gilt, an die wegen ihrer 
Ferne unsere Erfahrung nicht reicht, oder deren Weite und 
Höhe unsere Erfahrung überreicht und übersteigt« (Fech- 
ner). »Die Arbeit weiterzuführen, welche die Einzel Wissen- 
schaften begonnen« (Wundt), eine systematische Ergänzung 
derselben zu sein, Ergebnisse ihrer bedächtigeren Forschung 
vorweg zu nehmen, Lücken, die sie offen lassen mußten, 
auszufüllen, zwischen widerstreitenden Annahmen zu ent- 
scheiden — das ist die schwierigere, aber lohnendere Aufgabe, 
die ßich eine solche Metaphysik zu lösen vornimmt. 
8. Aber freilich, ohne das praktische Interesse und 
Bedürfnis würde auch diese induktive Metaphysik kaum be- 
stehen. Was uns veranlaßt, über die in gewissenhafter Einzel- 
forschung erreichte Stufe des Wissens in Wahrscheinlich- 
keitsbetrachtungen hinauszugehen, einen vom Standpunkte 
rein theoretischer Eikenntnis voreiligen und unsicheien Ab- 
schluß herzustellen, das letzte Wort zu sprechen, wo es die 
kritische Wissenschaft noch nicht sprechen konnte, das ist 
die Tatsache, daß wir keine wissenschaftlichen Maschinen, 
sondern Menschen sind, die für ihr Leben eine Weltanschau- 
ung brauchen und sich mit dem lückenhaften Wissen der 
29 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Gegenwart nicht begnügen. Wir sind im allgemeinen nicht 
geneigt, beliebig lange zu warten, bis uns von der auf brei- 
tester Erfahrungsgrandlage und mit einwandfreier Methode 
arbeitenden Wissenschaft auf Fragen eine endgültige Ant- 
wort beschert wird, deren Ausfall für unser Leben und 
Handeln von großer Bedeutung und Tragweite ist. Fragen 
dieser Art sind z. B. folgende: Was ist und wozu dient das 
Leben ? In welchem Verhältnis stehen die psychischen Vor- 
gänge zu den köi-perlichen, insbesondere den Gehirnpro- 
zessen, die sie begL^iten? Ist das irdische Dasein das einzige 
oder gibt es noch ein sogenanntes jenseitiges, wie es in der 
Beligion geglaubt wird"? Sind die sittlichen Aufgaben, die 
wir uns stellen und zu verwirklichen suchen, von lediglich 
subjektiver Bedeutung, oder ist die Welt auf eine Verwirk- 
lichung derselben angelegt? Waltet ein Fortschritt in der 
geschichtlichen Entwicklung im Sinne eines Wachstums und 
einer Ausbreitung von geistigen und menschlichen Gütern T 
Nun gibt es ja gewiß nicht wenige, die sieb durch derartige 
»offene Fragen« überhaupt nicht beirren und beschweren 
lassen, die in stolzem Verzicht oder in gleichgültiger Stumpf- 
heit sozusagen an ihnen vorbeileben. Ebenso gibt es andere, 
denen die autoritative Antwort völlig genügt, die die positive 
Eeligion, in der sie unterwiesen worden sind, auf alle diese 
Fragen erteilt. Derjenige aber, dem es darum zu tun ist, 
dem fortschreitenden Wissen eine fortschreitende Weltan- 
schauung anzupassen, wird zum Metaphysiker werden und in 
sich den Beruf fühlen, das, was er in gewissenhafter Forschung 
sich selbst erarbeitet hat, auch der Öffentlichkeit vorzulegen. 
9. Eine Metaphysik, die aus dem praktischen Bedürfnis 
nach einer Weltanschauung herausgeboren ist und ihre posi- 
tive Gestalt dem Anschluß an das Wissen ihrer Zeit auf allen 
Gebieten verdankt, verdient nun keineswegs den Vorwurf, 
den der Positivismus gegen sie richtet. Ihr Verfahren ist 
kein unwissenschaftliches, sie ist keine Begriffsdichtung. 
Denn erstens hält sie sich, wie alle Wissenschaft, möglichst 
streng an die von der Logik empfohlenen Methoden. Sie 
will nicht grundlose Behauptungen in die Welt schleudern, 
auch nicht in sprunghaft-aphoristischer Form zufällige Ge- 
30 
§ 4. Die Mrtaphysik. 
dankenblitze entsenden, ebensowenig sich auf eine Autorität 
oder eine höhere Eingebung berufen, sondern in sorgfältig 
erwogenem Ideenfortschritt ihre Annahmen darlegen. Was 
sie intuitiv als Weltprinzip glaubt erfaßt zu haben, das darf 
ihr zunächst nur als Hypothese dienen, die sich vor dem 
Leben und der Wissenschaft als gültig erst auszuweisen hat, 
Sie will darum auch nicht, wie die Poesie, ästhetisch, sondern, 
wie die Wissenschaft, logisch, auf ihre Wahrheit und Eichtig- 
keit geprüft und beurteilt werden. Zweitens schließt sie 
Bich eng an das Denken und Forschen der Natur- und Geistes- 
wissenschaften und der anderen philosophischen Disziplinen 
an und nimmt somit teil an dem Fortschritt derselben. Die 
Metaphysik benutzt die Ergebnisse der Einzelwissenschaften 
und zieht daraus die wahrscheinlichsten Folgerungen, sie 
nimmt vermutungsweise manche spätere Errungenschaft auf 
diesem Gebiete vorweg und verknüpft getrennte Wege und 
Leistungen in einer zusammenfassenden Betrachtung. Dar- 
um ist sie auch den Veränderungen unterworfen, welche 
innerhalb der genannten Wissenschaften vor sich gehen. 
Eine Metaphysik, wie die aristotelische, ist als Ganzes heute 
nicht mehr möglich, und ebensowenig kann die ontologie 
von Chr. Wolff noch als unsere Metaphysik gelten. Wäh- 
rend die großen poetischen Leistungen aller Zeiten in un- 
vergänglicher Blüte sich erhalten, teilt die Metaphysik das 
Schicksal wissenschaftlicher Arbeit und Erkenntnis: sie ver- 
altet, wird zu einer historischen Größe. Freilich, gewisse 
Grundgedanken, allgemeinste Auffassungsweisen werden von 
solchen Veränderungen weniger berührt. Solche »letzte Ein- 
ßtellungen« und die »Geistestypen« in denen sie wurzeln, hat 
Karl Jaspers in seinem Werk »Psychologie der Welt- 
anschauungen« darzustellen unternommen^). Die allgemeine 
Metaphysik kann durch den Fortschritt einzelwissenschaft- 
lichen Erkennens nicht so leicht verändert werden, und so 
sind einzelne platonische und aristotelische, cartesianische 
und spinozistische Ideen auch heute noch möglich. Welch 
kurzes Dasein war dagegen der speziellen Metaphysik als 
*) Feine Beobachtungen hierüber enthält auch das „Reisetage buch eines 
Philosophen" von Herrn. Graf Keyserling 1919. 2. Aufl. 2 Bde. 1920. 
31 
//. Kapitel. Die 'philosophischen Disziplinen. 
frei konstruierender Natuiphilosophie bei Schelling oder 
als dialektisch sich entfaltender Geistesphilosophie bei Hegel 
beschieden ! Auch in den Einzelwissenschaften wandeln sich 
ja die allgemeinen Begriffe und Theorien am langsamsten. 
Die mechanischen Grundgesetze eines Newton haben seine 
optische Theorie erhebliche Zeit überdauert, und das noch heute * 
anerkannte Prinzip von der Erhaltung des Stoffes hat seine 
Wurzel in den ersten Anfängen der griechischen Philosophie. 
10. Mit dieser Tatsache hängt es nun auch zusammen, 
daß die Grenzen zwischen der Metaphysik und den be- 
sonderen Wissenschaften sich allmählich verschoben haben. 
Jede sichere Vermehrung des Wissens in prinzipiellen Fragen 
zieht eine vorher in der Metaphysik erörterte Streitfrage in 
das einzelwissenschaftliche Gebiet hinüber und löst sie. 
Umgekehrt entstehen aber auch neue metaphysische Fragen 
und Probleme aus umgestaltenden Entdeckungen von Tat- 
sachen oder Gesetzen, die in den Einzelwissenschaften gelun- 
gen sind. In dieser Hinsicht ist es äußerst lehrreich, einefiühere 
mit einer späteren Metaphysik zu vergleichen. Daraus geht 
aber zugleich hervor, daß es unrichtig ist, wenn Kant die 
Metaphysik als die Lehre vom Transzendenten, vom »Ding 
an sich«, schlechthin betrachtet und dadurch von der Wissen- 
schaft als der Lehre von dem Immanenten, d. h. dem inner- 
halb der Erfahrung Gegebenen, schroff absondert. Wenn es so 
wäre, dann gäbe es in der Tat keine noch so schmale Brücke von 
der einen zur anderen. Dagegen finden wir, daß die Verbin- 
dungsfäden herüber und hinüber zahlreich und mannig- 
faltig sind und daß nicht ein wesenhafter, sondern nur ein 
Gradunterschied in dem wissenschaftlichen Charakter beider 
besteht. In der Metaphysik macht sich dabei das Intuitive, 
Ahnende und damit das Subjektive stärker geltend als in den 
Einzelwissenschaften (die in dieser Beziehung ja auch 
große Verschiedenheiten aufweisen — man vergleiche nur 
z. B. Mathematik mit Geschichtsschreibung). Das Ziel 
der Metaphysik ist aber, die von verschiedenen Wissen- 
schaften gewonnenen Ergebnisse und Bestimmungen mit- 
einander in Einklang zu bringen und so ein allseitig be- 
gründetes harmonisches Weltbild zu zeichnen. 
32 
§ 4. Die Metaphysik. 
11. So kommen wir denn zu dem Ergebnis, daß die Meta- 
physik als Wisßenßchaft möglich ist und der Positivismus 
wenigstens hinsichtlich der von uns hier vertretenen Auf- 
fassung der Metaphysik sich im Irrtum befindet. Zuweilen 
hat man freilich das Schauspiel erlebt, daß Philosophen in 
grundlosem Hochmut den Ergebnissen der Einzelwissen- 
schaften zum Trotz Besseres und Eichtigeres über das Sein 
und Geschehen auszusagen beanspiiichten. Einer solchen 
Metaphysik gegenüber, dia in der Naturphilosophie eines 
Schelling und Hegel warnende Beispiele aufweist, ist 
allerdings der Positivismus berechtigt. Will die Metaphysik 
die Einzelwissenschaft^en nicht ergänzen, sondern ersetzen, 
dann wird sie sich gefallen lassen müssen, als Unwissenschaft 
beiseite geschoben zu werden. Andererseits jedoch darf 
auch nicht behauptet werden, daß die hier geschilderte 
induktive Metaphysik als besondere philosophische Disziplin 
überflüssig und unmöglich sei, weil und sofern alles, was 
in und an ihr berechtigt sei, bereits in den Einzelwissen- 
schaften geleistet und geboten werde. Denn die einheit- 
liche Zusammenfassung dieser von bestimmten Ge- 
sichtspunkten entworfenen und für bestimmte Gebiete gel- 
tenden Ergebnisse und der vorläufige Abschluß zu einer 
Welt- und Lebensanschauung ist nicht eine Aufgabe, die 
innerhalb einer Einzelwissenschaft befriedigend gelöst werden 
könnte. 
12. Es ist begreiflich, daß eine wirksame Metai)hysik in 
weiten Kreisen des Volkes verwandte Eegungen antrifft 
und durch solche entgegenkommenden Stimmungen in Kich- 
tung und Kraft beeinflußt wird. So fand die systematische 
Ausgestaltung der Leib niz sehen Weltanschauung durch 
Christian Wolff eine durchaus ähnliche Verfassung des 
Geistes- und Gemütslebens in den verschiedensten Schichten 
nationaler Tätigkeit in Deutschland vor. Wolffs Vorstel- 
lung von der Erfahningswirklichkeit, wonach sie, zufällig 
und verworren, die Erkenntnis mehr hemme als fördere oder 
gar ermögliche, und die damit übereinstimmende Wert- 
schätzung der klaren und deutlichen Vemunfterkenntnis, 
des Denkens, des Verstandes, trafen mit einer rationalistisch 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 3 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
behandelten Kunstübung, mit einer pedantischen Etikette 
in Lebensart und Verkehr, mit einer allgemeinen Bevor- 
zugung des Künstlichen und Gekünstelten zusammen. Und 
so erscheint es nicht auffallend, daß diese Lehre auf den 
Universitäten die Scholastik und den Kartesianismus ver- 
drängte, daß man auf den Kanzeln nach ihrer Methode pre- 
digte und die Kinderbücher nach ihren Gnindsätzen an- 
legte. Auch die Wissenschaften, Theologie, Jurisprudenz, 
Medizin, beeiferten sich, in diesem Geist zu arbeiten und 
ihren Besitz darzustellen, es entstanden besondere Gesell- 
schaften zum Zwecke der Ausbreitung der Wahrheit nach 
Wolf f sehen Gnindsätzen, und selbst die schöne Literatur 
wurde nach seinen Vorschriften zu einem Gegenstande lehr- 
barer und lehrhafter Vemünftelei. 
13. Im Gegensatze zu dieser allgemeinen Teilnahme an 
einer rationalistischen Weltanschauung stand das Verhalten 
unserer Zeit vor dem Weltkriege mit ihrer Wirklichkeits- 
freude, mit ihrem stattlichen Besitze an einzel-wissenschaft- 
lichen Erkenntnissen, mit ihrer fortgeschrittenen Technik 
und mit ihrem wirtschaftlichen Wohlstande. Auch die Meta- 
physik unserer Zeit war von dieser Veränderung der allge- 
meinen Lebensanschauung nicht unberührt geblieben. 
Ganz allmählich und sicher hatte sich das Verhältnis in der 
Wertschätzung von Vernunft und Wirklichkeitserfahrung 
in der Beurteilung von Eealem und Phänomenalem, von Ge- 
dachtem und Erlebtem geändert. Während Kant noch im 
wesentlichen geneigt war, der Vernunft den Vorrang zuzu- 
gestehen, wenn sie auch nur in Verbindung mit der Erfahrung 
eine Erkenntnis der Welt sollte ermöglichen können, ver- 
danken wir Hegel die Einsicht, daß Wirkliches und Ver- 
nünftiges einander decken sollen, also als gleichwertige 
Gesichtspunkte innerhalb einer Weltansicht zu gelten haben. 
Lotze (1817—1881) erklärt darauf, daß die Wirklichkeit viel 
reicher sei als unser Denken, und endlich Wundt macht die 
unmittelbare, volle Erfahrung der Erlebnisse nicht nur zum 
Ausgangspunkt seiner erkenntnistheoretischen Betrachtun- 
gen, sondern auch zum Eichtpunkt metaphysischer Über- 
legungen über das Sein der Dinge. Die verstandesgemäße 
34 
§ 4. Die 3fetaphysik. 
Bestimmung gewisser Seiten oder Bestandteile dieser un- 
mittelbaren Wirklichkeit, wie sie in den einzelnen Wissen- 
schaften, insbesondere in der Naturwissenschaft und der 
Psychologie, geübt wird, erscheint nach Wundt sogar als 
eine künstliche Scheidung, die nur begriffliche, nicht aber 
reale Ergebnisse zustande bringt. So hat sich das Verhältnis 
zwischen Vernunft und Erfahrungswirklichkeit völlig um- 
gekehrt, und ganz entsprechend hat sich die Wertschätzung 
gewandelt, die beiden Faktoren innerhalb der weiteren Lebens- 
kreise zuteil wird. Aber diese Abhängigkeit von der Lebens- 
anschauung bedeutet noch nicht einen Einwand gegen die 
Metaphysik als Wissenschaft, sofern nicht lediglich persön- 
liche Verhaltungsweisen eines Ich zur Welt darin ihren Aus- 
druck gefunden haben^). 
14. Eine Übersicht über die Literatur zur Metaphysik 
würde einer Übersicht über die philosophischen Systeme aller 
Zeiten gleichkommen. Wir beschränken uns deshalb darauf, 
zwei kleinere Schriften anzuführen, die, von verschiedenen 
Standpunkten aus abgefaßt, so recht einen Einblick in den 
Mangel an Allgemeingültigkeit in metaphysischen Darstel- 
lungen gewähren können. Es sind das die »Grundzüge der 
Metaphysik« von Dieter ich, 1885, und die »Elemente der 
Metaphysik« von Deussen, 5. Aufl. 1913. Jene sind im 
Geiste Lotzes, diese im Sinne Schopenhauers verfaßt. 
Ferner sei ein bedeutendes Werk der modernen englischen 
Philosophie, das auf einer Analyse der unmittelbaren Er- 
fahrung aufgebaut ist, The Metaphysic of Experience von 
Th. H. Hodgson (4 Bde., 1898), genannt und auf eine durch- 
aus kritisch gehaltene »Geschichte der Metaphysik« von 
E. V. Hartmann (2 Bde., 1899—1900) hingewiesen. Weiter- 
hin sei noch die durch Scharfsinn und Klarheit ausgezeich- 
nete, auf der modernen I^aturwissenschaft und Psychologie 
1) Indem W. Dilthey (f 1911) solche Verhaltungsweisen, zur Grund- 
lage der Metaphysik macht, ist er weder ihrem geschichtlichen Bestände 
noch ihrer Idee als Vollendung der realwissenschaftlichen Erkenntnis 
gerecht geworden. Aus einer Gesetzlichkeit des Bewußtseins sucht 
verschiedene Weltanschauungsformen abzuleiten: P. Hofmann: Die 
antithetische Struktur des Bewtißtseins, 1914. Vgl. das oben S. 31 ge- 
nannte Werk von Jasoera. 
3* 
35 
II. Kapitel. Die, philosophischen Disziplinen. 
beruhende »Einführung in die Metaphysik«* von G. Hey- 
mans, 1905 (2. Aufl. 1911), empfohlen. Unter den neueren 
metaphysischen Versuchen verdienen Beachtung William 
Stern, »Person und Sache«, I. Bd., 1906, IT. Bd. 1918, und 
Hans Driesch, »Wirklichkeitslehre«, 1917. Endlich sei noch 
erwähnt: F. Cellarier: La ni6taphysique et sa m^thode, 
Paris 1914, G. Simmel: Lebensanschauung. Vier meta- 
physische Kapitel, 1918, E. Griesebach: Wahrheit und 
Wirklichkeit, 1919, E. Hornef fer : Der Piatonismus und die 
Gegenwart, 1920. 
§ 5. DIE EEKENNTNISTHEOEIE. 
1. Der Name »Erkenntnislehre« findet sich neben den 
älteren »Theorie des Erkenntnisvermögens« und »Kritik des 
Erkenntnisvermögens«, wie es scheint, zuerst am Anfang des 
19. Jahrb., und zwar in Beziehung auf das, was Kant in 
seiner »Kritik der reinen Vernunft« geleistet hatte. Noch 
später (bei E. Eeinhold 1832) taucht der heute üblichere 
Ausdruck »Erkenntnistheorie« auf. Gegenwärtig versteht 
man unter Erkenntnistheorie oder Erkenntnislehre im 
weiteren Sinne die Wissenschaft von den materialen und 
formalen Prinzipien der Erkenntnis, im engeren Sinne da- 
gegen nur die Disziplin, die sich mit den materialen Prin- 
zipien der Erkenntnis beschäftigt (vgl. § 4, 2). Der Name 
Logik wird gleichfalls oft für jene weitere Aufgabe in An- 
spruch genommen, während sein Begriff im engeren Sinne 
die Wissenschaft von den formalen Prinzipien der Erkennt- 
nis bedeutet. Wir nehmen die Bestimmung beider Begriffe 
nur in dem engeren Sinne und fassen deshalb Erkenntnis- 
theorie und Logik als die beiden sich ergänzenden Disziplinen 
auf, von denen die eine die inhaltlichen und methodischen 
Voraussetzungen der durch Forschung erworbenen Erkennt- 
nis, die andere die auf die Gesetze der Bedeutung sich grün- 
denden Voraussetzungen aller Darstellung (bzw. Mitteilung) 
des Wissens behandelt. Mit einem einheitlichen Namen 
kann man sie beide als Wissenschaftslehre nach dem 
Vorgange Fiehtes (vgl. § 2, 5) bezeichnen. Die Erkennt- 
nistheorie wird nach dieser Auffassung zu einer Wissenschaft 
38 
Die Erkenntnistheorie. 
von den Grundbegriffen oder Kategorien (z. B. Ding, Ver- 
änderung, Abhängigkeit), von den Grundsätzen oder Axio- 
men bzw. den obersten Voraussetzungen der Erkenntnis 
(z. B. dem Kausalprinzip der Kealität der Außenwelt), sowie 
von allgemeinen Forschungsmethoden (wie der Bildung 
idealer, der Setzung und Bestimmung realer Objekte) aller 
oder einer Anzahl von Wissenschaften, (vgl. § 3, 3). 
2. Im Altertum ist die Erkenntnistheorie nicht als be- 
sondere Disziplin gepflegt worden. Bei Piaton finden sich 
in dem, was er Dialektik (vgl. § 3, 1) nennt, bei Aristoteles 
in der Metapyhsik (vgl. § 4, 1) erkenntnistheoretische Unter- 
suchungen, aber eine Scheidung dieser von den eigentlich 
metaphysischen oder den spezifisch logischen Erörterungen 
ist hier noch nicht vollzogen. Die Hauptfragen, die in der 
antiken Philosophie das erkenntnistheoretische Denken be- 
herrschen, sind die nach der Wahrheit und Allgemeingültig - 
keit des Erkennens und Wissens. Dagegen treten ganz 
zurück die in der Folgezeit so bedeutungsvoll gewordenen 
Erwägungen über die subjektiven und objektiven Faktoren 
des Erkennens, über den Anteil der Gegenstände und des 
erkennenden Subjekts an dem Zustandekommen der Wahr- 
nehmung oder der begrifflichen Erkenntnis, ferner die Be- 
stimmung der Grenzeil der Erkenntnis und die Angabe des 
Wesens der reinen (von allen Zutaten unseres Denkens be- 
freit gedachten) Erfahrung. 
Als den eigentlichen Begründer einer Erkenntnistheorie 
als selbständiger Disziplin darf man den englischen 
Philosophen John Locke ansehen, dessen Hauptwerk, 
An Essay concerning Human Understanding (Versuch über 
den menschlichen Verstand), 1690 erschienen^), die erste 
systematische Untersuchung über den Ursprung, die Be- 
standteile, das Wesen, die Arten und Gewißheitsgrade der 
Erkenntnis genannt werden muß. Die allgemeine Quelle 
alier Erkenntnis fand Locke in der äußeren und inneren 
Wahrnehmung {Sensation und reflection). Die Vorstellungen 
^) Die beste englische Ausgabe von Fräser, 2 Bde. 1894, deutsche 
Übersetzung in der Philos. Bibliothek und in Reclams Universal- 
Bibliothek. 
37 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
(Ideen), die wir der einen oder anderen oder beiden ver- 
danken, sind einfach oder zusammengesetzt. Jene (die 
einfachen Ideen), wie z. B. die Sinnesqualitäten (Farben, 
Töne u. dgl.), die Vorstellungen des Eaumes, des Wollens, 
der Kraft, bilden die Elemente aller Erkenntnis, durch deren 
Kombination die zusammengesetzten Ideen entstehen. Diese 
werden von Locke in Beschaffenheiten {modes), Dinge 
{substances) und Beziehungen {relations) eingeteilt. Zu- 
letzt versucht er festzustellen, welche Erkenntnisse den Cha- 
rakter der Gewißheit, welche bloß den der Wahrscheinlich- 
keit an sich tragen. 
3. An Lockes Werk haben sich in England die erkennt- 
nistheoretischen Schriften von George Berkeley (f 1753) 
und von David Hume (vgl. § 4, 6) angeschlossen. Jener 
suchte in seinen »Prinzipien der menschlichen Erkenntnis«^) 
(1710) zu zeigen, daß die Dinge außer uns nur Vorstellungen 
von uns seien, und daß es keine abstrakten und Allgemein- 
Vorstellungen gebe. Hume wurde in seinem Hauptwerk, 
dem »Traktat über die menschliche Natur «2), und in der 
kleineren, populär gehaltenen »Untersuchung über den 
menschlichen Verstand« (1748)^) durch eine scharfe Kritik 
einiger Grundbegriffe und Grundsätze, wie Eaum und Zeit, 
Substanz und Kausalität, dazu geführt, die zweifellose Ge- 
wißheit aller auf Erfahrung beruhenden menschlichen Er- 
kenntnis überhaupt zu bestreiten. Beide haben mit der 
Annahme, daß unsere Sinneseindrücke und Vorstellungen 
und deren Verknüpfungen die einzige Grundlage unseres 
Wissens bilden und daß sich dieses als sinnvoll und be- 
rechtigt nur durch seine Zurückführbarkeit auf (anschau- 
liche) Bewußtseinsinhalte und deren Gesetze ausweisen könne, 
die psychologische Methode in der Erkenntnistheorie zur 
Geltung gebracht. Es handelt sich aber für diese Wissenschaft 
^) A Treatise concerning the Principles of human Knowledge (beste 
Ausgabe von Fräser), deutsch in der Philos. Bibliothek. ^) Treatise 
on human Nature 1739—1740 (beste Ausgabe von Green and Grose), 
dessen erster, erkenn tnistlieoretischer, »vom Verstände« handelnder Teil 
von Lipps deutsch herausgegeben ist (2. Aufl. 1904). 3) Deutsch in der 
Philos. Bibliothek. 
38 
§ 5. Die Erkenntnistheorie. 
nicht darum, in welcher Art die Grundbegriffe und Grund- 
sätze in unserem Geiste sich entwickeln, sondern darum, was 
sie für unsere Erkenntnis bedeuten, welche Geltung sie 
haben. 
Man pflegt die unberechtigte Anwendung der psychologi- 
schen Betrachtungsweise in der Erkenntnislehre als »Psy- 
chologismus« zu bezeichnen. Die Psychologie hat es näm- 
luch nur mit der tatsächlichen Beschaffenheit und Entwick- 
lung der seelischen (und also auch der Erkenntnis-) Vor- 
gänge zu tun, die Erkenntnislehre dagegen untersucht 
den Erkenntnis wert der letzteren, d. h. ihre Bedeutung 
für die Erfassung von Gegenständen (ihre »objektive Gül- 
tigkeit«), 
In Deutschland hat Leibniz in einem besonderen Werk, 
Nouveaux essais sur V entendement humain, das er wegen des 
inzwischen erfolgten Todes von Locke nicht herausgab, und 
das so erst 1765 aus dem Nachlaß von Leibniz veröffent- 
licht wurde, eingehende Kritik an den Lock eschen An- 
schauungen geübt. Seine Ausführungen wenden sich zu- 
nächst gegen die Bekämpfung der angeborenen Ideen, der 
Locke das erste Buch seines Werkes gewidmet hatte. Der 
Anlage nach (»virtuell«) und unbewußt können Begriffe und 
Grundsätze vor der ihre Entfaltung im Bewußtsein bedin- 
genden Erfahrung im Geiste sein, während sie nur durch 
eine besonders auf sie gerichtete Aufmerksamkeit aktuell 
und bewußt werden. Ferner stellt Leibniz den empirischen 
Erkenntnissen, die nicht notwendig sind, die Vernunftwahr- 
heiten der Logik oder der Mathematik gegenüber, deren 
Evidenz, d. h. einleuchtende Denknotwendigkeit bedinge, daß 
sie a priori, d. h. unabhängig von aller Erfahrung, gelten. 
4. Auf den gleichen Nachweis eines Besitzes a priori gel- 
tender Erkenntnisbestandteile ist nun auch das Denken 
desjenigen Mannes gerichtet, der nach Locke den stärksten 
Anstoß zur Begründung einer Erkenntnistheorie gegeben hat: 
Kants. Angeregt durch die kritischen Erörterungen von 
Hume, der ihn zuerst aus dem »dogmatischen Schlummer« 
gerissen, versuchte er, die ihm feststehende Tatsache einer 
objektivgültigen, wissenschaftlichen Erkenntnis in der Ma- 
39 
//. Kapitel. Die 'philosophischen Disziplinen. 
thematik uud der inuthematischen Naturwissenschaft zu er- 
klären, und gelangte dabei zu der Aufstellung von Elementen 
a priori in der sinnlichen wie in der Verstandeserkenntnis. 
Raum uud Zeit sind die Formen aller Wahrnehmung, die 
»im Gemüte^) a priori bereit liegen« und eine objektivgültige 
Baum- und Zahlenwissenschaft möglich machen. Zwölf Ka- 
tegorien bilden in ähnlicher Weise den Stammbesitz unseres 
Verstandes und befähigen uns naturwissenschaftliche Grund- 
sätze über Materie, Veränderung und gesetzmäßige Ver- 
knüpfung der Erscheinungen aufzustellen. Den Begriff des 
ö priori rein erkenntnistheoretisch zu fassen, ist Kant noch 
nicht durchweg gelungen; es bedeutet für ihn vielfach noch 
einen (wenn auch nur keimhaft) angeborenen Geistesbesitz, 
eine seelische Beschaffenheit des erkennenden Subjekts. So 
entgeht Kant nicht ganz dem Fehler des Psychologismus. 
Erst seine modernen Nachfolger, die Neukantianer, be- 
sonders die Vertreter der sog. Marburger Schule Cohen, 
Natorp und ihre Anhänger, haben dem a priori durchweg 
die Bedeutung logischer Voraussetzungen wissenschaftlicher 
Erkenntnis gegeben. Solche apriorische Voraussetzungen 
sind durch logische Prüfung des Inhalts von Wissenschaf- 
ten, nicht durch psychologische Untersuchung des Seelen- 
lebens erkennender Subjekte festzustellen. 
Geltung a priori bedeutet also die Notwendigkeit und All- 
gemeingültigkeit gewisser allgemeinster Aussagen über die 
Gegenstände. Aber die wissenschaftliche Anwendung dieser 
»reinen «2) Stammbegriffe und Grundsätze ist zugleich nach 
Kant auf das Gebiet möglicher Erfahrung, auf Immanentes 
(vgl. S. 32) eingeschränkt; eine Metaphysik aus »reiner Ver- 
nunft« ist als Wissenschaft unmöglich (vgl. § 4, 4). Nur ein 
Gebrauch wird den metaphysischen »Ideen« (d. h. den Be- 
griffen, die über alles in der Erfahrung Gegebene hinaus auf 
Absolutes zielen) auch im Dienste wissenschaftlicher Arbeit 
^) »Gemüt« hat bei Kant eine weitere Bedeutung als im heutigen 
Sprachgebrauch, es bedeutet so viel als Seele. ^) »rein« (nämlich: 
von Erfahrungsolomenten) gebraucht Kant als Adjektiv zu a priori. 
Er vermeidet nämlich noch die später üblich gewordene Bildung 
»apriorisch«. 
40 
§ 5. Die Erkenntnistheorie. 
zugestanden. Als regulative Prinzipien wirken sie näm- 
lich anregend auf die Bearbeitung der Eiiahrungstatsachen, 
geben der Forschung eine Bichtung und werden zu fnicht- 
)>aren Maximen für Gliedeiucg und Zusammenfassung des 
Wissens. In aller Erkenntnis die in den Gegenständen 
waltende Einheit, die im einzelnen herrschende Mannig- 
faltigkeit und die hier zugleich bestehende Verwandt- 
schaft zur Geltung zn bringen, die Welt so betrachten 
zu lassen, als ob sie ein in sich abgeschlossenes System 
wäre, das ist die bescheidenere, aber für den Fortschritt 
der Wissenschaft bedeutungsvollere Aufgabe der »Ideen« 
als regulativer Prinzipien. Die Werke, in denen Kant 
seine erkenntnistheoretischen Anschauungen dargelegt hat, 
sind die schon erwähnte ^Kritik der reinen Vernunft«, 
1781, und die »Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta- 
physik«, 1783.. 
5. Unter anderen IsTamen erscheint die Erkenntnistheorie 
bei den unmittelbaren Nachfolgern Kants. Die Fichte- 
sche Bezeichnung dafür, »Wissenschaftslehre«, haben wir 
schon oben erwähnt (vgl. § 5, 1). In der Ausfühi-ung dieser 
Disziplin gelangt Fichte zu bestimmten metaphysischen 
Anschauungen über das Prinzip der Welt und geht über 
den Eahmen einer eigentlichen Erkenntnistheorie weit hinaus. 
Das gleiche müssen wir von der »Identitätsphilosophie« 
Schellings, von der Logik Hegels, von der Metaphysik 
Herbarts und von der Lehre Schopenhauers sagen. 
Von einer reinlichen Abgrenzung erkenntnistheoretischer Er- 
wägungen ist hier überall nicht die Eede. Seit den sechziger 
Jahren des 19. Jahrhunderts wird in Deutschland das Be- 
streben nach einer gesicherten Erkenntnistheorie als Grund- 
lage der gesamten Philosophie und als einer zuverlässigen 
Kritik der aus einzelwissenschaftlichen Bestimmungen ge- 
zogenen Folgerungen mächtig. Der Materialismus, die meta- 
physische Annahme, daß im letzten Grunde alles Wiikliche 
körperlich sei, gab die unmittelbare Veranlassung zu der mit 
diesem Bestreben verknüpften Eückkehr zu Kant. Die 
spekulative Philosophie Hegels erlag dem Ansturm der Erfah- 
rungsdisziplinen und dieser vorsichtigen neuen Philosophie, 
41 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
nnd es begann eine langsame Wiederherstellung der philo- 
sophischen Wissenschaft. Gegenwärtig fordert man von 
einem Philosophen vor allem eine gründliche Orientiening 
in der Erkenntnistheorie, nnd man ist vielfach geneigt, in 
ihr und der Logik die Philosophie überhaupt, soweit sie 
Anspruch auf wissenschaftliche Bedeutung erheben kann, zu 
erblicken. Diese Wertschätzung der Erkenntnistheorie hat 
auch Vertreter anderer Wissenschaften beeinflußt. Hervor- 
ragende Naturforscher, wie Helmholtz, Fick, Mach, 
Ostwald u. a., haben sich bemüht, die erkenntnistheore- 
tischen Gnmdf ragen ihrer Wissenschaft zu beantworten. 
Gleiche Bestrebungen sind auch in den Geisteswissenschaften 
hervorgetreten, wofür die ausgedehnt« Erörterung über die 
Prinzipien und Methoden der Geschichts- und der Beligions- 
wissenschaft (angeregt durch Windelband, Bickert, 
Tröltsch u. a.) Zeugnis ablegt. 
6. Die Erkenntnistheorie ist durch diesen Entwicklungs- 
gang allmählich zur Fundamentalwissenschaft geworden, die 
sich neben der Logik um eine Grundlegung aller besonderen 
Erkenntnisse bemüht. Während die Metaphysik dort be- 
ginnt, wo die Einzelwissenschaften enden, heben diese dort 
an, wo Erkenntnistheorie und Logik ihre Arbeit getan 
haben. So ist die Philosophie in diesen ihren Disziplinen 
das wahre A und O aller Wissenschaft. Aber diese Auf- 
fassung ist nur dann berechtigt, wenn man die Erkenntnis- 
theorie jiicht zu einem Teil oder zu einer Anwendung der 
Psychologie macht. In Locke hat John Stuart Mill 
(vgl. § 6, 4) nicht mit Unrecht den Begründer einer analy- 
tischen (d. h. zergliedernden) Psychologie gesehen, noch 
deutlicher tritt diese Tendenz bei Hume hervor. Kant 
dagegen hat wiederholt darauf hingewiesen, daß man die 
Theorie und Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens 
von der Einmischung psychologischer Gesichtspunkte frei 
zu halten habe (freilich ist es ihm selbst nicht gelungen, diesen 
Grundsatz allenthalben durchzuführen). Der Streit zwischen 
beiden Eichtungen ist noch nicht abgeschlossen, in der Gegen- 
wart sind z. B. Heymans, Lipps und Ladd Vertreter der 
psychologischen, Cohen, Biehl, Schuppe, Wundt, 
42 
§ 5. Die Erkenntnistheorie. 
Eehmkeu.a.der»tran8zendentalen«i) Auffassung, wie wir 
sie kurz nennen wollen. Eine Entscheidung läßt sich deshalb 
so schwer treffen, weil nicht nur der Begriff und die Aufgabe 
der Erkenntnistheorie, sondern auch die der Psychologie 
verschieden bestimmt werden. Wir müssen uns hier darauf 
beschränken, von unserer Definition der Erkenntnistheorie 
aus und unter Voraussetzung des später genauer zu erörtern- 
den Begriffs der Psychologie unsere Stellung zu diesem 
Gegensatz der Eichtungen darzulegen. Erkenntnistheorie 
ist für uns die Lehre von den Grundbegriffen und Grund- 
sätzen als den materialen Voraussetzungen aller besonderen 
Wissenschaften, vorgefundener Gegenstand der Psychologie 
aber sind nach unserer Ansicht die Erlebnisse eines Bewußt- 
seins oder die unmittelbare Erfahrung, soweit diese von er- 
fahrenden Individuen abhängig ist. 
7. Nun ist es zweifellos, daß alle Begriffe und Urteile, 
also auch die Kategorien und Axiome, falls sie überhaupt 
in unserem Bewußtsein hervortreten, zur unmittelbaren Er- 
fahrung gehören und als Bestandteile derselben von er- 
fahrenden Individuen abhängig sind. Insofern können sie 
auch den Gegenstand einer psychologischen Untersuchung 
bilden. Diese wird schildern, in welcher Form sie innerhalb 
solcher Erfahrung (z. B. instinktiv oder klar bewußt) vor- 
kommen und in welchem Zusammenhang und nach welchen 
Gesetzen sie sich miteinander verknüpfen. Sie wird ferner 
die besonderen individuellen Bedingungen angeben, welche 
der mannigfaltigen Beschaffenheit dieser Bewußtseinstat- 
sachen zugrunde liegen, und den Entwicklungsprozeß, der 
sie entstehen läßt, eingehend erforschen. Dabei werden 
auch die seelischen Vorgänge, Zustände und Fähigkeiten, 
die an ihrer Erscheinungsweise und ihrer Erzeugung einen 
nachweisbaren Anteil haben, berührt werden müssen. So 
wird auf Sinne und Gedächtnis, auf Vorstellungsassoziation 
und Denken, vielleicht auch auf anatomisch-physiologische 
Fragen Eücksicht zu nehmen sein. So wichtig und umfang- 
^) Kant nennt so seine eigene Untersuchungsweise im unterschied 
von der psychologischen. Sie ist von den Neukantianern reiner durch- 
geführt worden, vgl. S. 40. 
43 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
reich oinc derartige Untersuchung ist, so hat sie doch mit 
der logischen Beziehung der Begriffe und Urteile zuein- 
ander, mit dem Inhalt derselben als logischer Voraussetzung 
für andere Begriffe und Urteile, mit ihrer Geltung innerhalb 
des Gebiets, für welches sie behauptet, mit ihrem Wert 
für die Erkenntnis, zu deren Gewinnung sie benutzt werden, 
nichts zu tun. Das alles sind objektive und zugleich 
ideale (d. h. bloß gedachte) Verhältnisse, auf deren Ver- 
wirklichungsart im Bewußtsein und auf deren Entstehung 
innerhalb eines denkenden und erkennenden Individuums 
es nicht ankommt. Die Psychologie handelt z. B. nicht 
von dem Grundbegriff der Verändening, sondern nur von 
seiner psychischen Gegebenheit und Bedingtheit. Sie be- 
schäftigt sich nicht mit der Kausalität, als einem alle realen 
Veränderungen beherrschenden Prinzip, sondern nur mit 
dem menschlichen Kausalinstinkt und mit dessen all- 
mählicher Klärung zum scharf formulierten Kausalitäts- 
denken. 
8. Aber, so könnte man sagen, irgendwie gedacht, er- 
kannt werden, also im Geiste vertreten sein müssen auch 
diese logischen Beziehungen, wenn sie bestehen sollen. Ohne 
einen Denkenden kein Gedanke und keine Beziehung von 
Gedanken zueinander. Das ist unbestreitbar richtig, und 
wird sind keineswegs gesonnen, den Gedanken mit Piaton 
eine außergeistige Eealität zuzuschreiben. Auch brauchen 
wir nicht ein besonderes »Eeich der Werte« (wie Eickert u. a. 
es tun) aufzurichten oder anzunehmen, um den Voraus- 
setzungen der Wissenschaft ein Daseinsrecht einräumen zu 
können. Wir wollen vielmehr nur betonen, daß man ihren Sinn 
und ihre Funktion feststellen kann, ohne ihre Bewußtseins- 
gegebenheit und -bedingtheit berücksichtigen zu müssen, und 
daß die objektiv-logische Zergliederung etwas anderes ist 
und ergibt, als psychologische Beobachtung und Erklärung. 
So wenig die Natui-wissenschaft dadurch zu einer Lehre von 
den Sinneswahrnehmungen wird, daß diese das unentbehr- 
liche Hilfsmittel für die Erkenntnis der Naturerscheinungen 
sind, so wenig die Kunstwissenschaft deshalb in eine Theorie 
der menschlichen Willenshandlungen hineingehört, weil 
44 
§ 5. Die Erkenntnistheorie. 
ohne solche Tätigkeiten keine Knnst existierte, so wenig 
kann die Erkenntnistheorie eine Psychologie des Erkennens 
nnd Wissens bloß darum werden, weil die Kategorien und 
Axiome nur durch einen Verstand, der weiß und erkennt, eine 
Bewußtseinsexistenz haben. Denn im Bewußtsein ist die 
Erkenntnis nicht nur an individuelle Bedingungen gebunden, 
nicht bloß Ergebnis des Seelenlebens, sondern ihr Inhalt ist 
wesentlich bedingt durch die jeweiligen Objekte und Sach- 
verhalt'C, die erkannt werden sollen. Während die Psycho- 
logie das Denken und Erkennen nach seiner Zugehörigkeit 
zu den Subjekten betrachtet, beachtet die Erkenntnistheorie 
die Denkinhalte, sofern sie ihren Gegenständen entsprechen 
sollen. Und so ist denn auch die Methode, die dazu dient, 
die Geltung eines Grundbegriffs bzw. Giundsatzes zu er- 
mitteln, von der in der Psychologie geübten, d. h. von der 
Sammlung und Sichtung der Beobachtungen an Bewußtseins- 
erscheinungen, wesentlich verschieden. Kant hat sie als 
die transzendentale Methode bezeichnet. Sie besteht in 
einer systematischen Untersuchung der in logischer Hinsicht 
und insofern a priori geltenden inhaltlichen Bedingungen 
wissenschaftlicher Erkenntnis. Man kann daher auch sagen: 
die Kategorien und Axiome der Wissenschaft gelten nur, 
soweit sie bestimmten Aufgaben und Zwecken der Begründung, 
den Anfordeiungen eines logischen Zusammenhanges dienen 
und nachkommen. Diese ihre Funktion kann aber durch eine 
bloße Analyse dessen, was wir zufällig im Bewußtsein haben, 
wenn wir Ausdrücke wie Eaum und Zeit, Subjekt und Objekt, 
Substanz und Kausalität gebrauchen, nicht zureichend be- 
stimmt werden. Die Leistung eines Begriffs im Eahmen der 
Wissenschaft, die ihn verwendet, und die Beschaffenheit des- 
selben in einem ihn enthaltenden Denkakt sind nicht identisch. 
Jene festzustellen ist Aufgabe der Erkenntnistheorie in ihrer 
transzendentalen Bedeutung. 
9. Als eine erste Aufgabe der Erkenntnistheorie in diesem 
Sinne können wir die Bestimmung des Begriffs eines Wis- 
sensinhalts überhaupt bezeichnen oder die Frage nach 
der Möglichkeit des Wissens. Die Beantwortung dieser 
Frage führt zur Analyse der für das Wissen bestehenden in- 
45 
//. Kapitel, Die philosophischen Disziplinen. 
haltliclien Voraussetzungen, wie sie für alle Gegenstände über- 
haupt gelten, und zu einer Festsetzung der Grenz en zvsdschen 
Glauben und Wissen, zwischen Wahrscheinlichkeit und Ge- 
wißheit. Damit gelangt man zugleich zur Unterscheidung 
des Transzendenten und des Immanenten, dessen, was 
jenseits aller Erfahrung liegt, und des in ihr Enthaltenen, 
ebenso zu der Gegenüberstellung der im Bewußtsein ge- 
gebenen Wirklichkeit (sofern sie eben lediglich als Be- 
wußtseinsinhalt gefaßt wird) und der auf Gmnd derselben 
von den Erfahmngswissenschaften erforschten, vom Be- 
wußtsein unabhängigen Bealität^), ferner zu dem Problem 
des sachlichen (nicht psychologischen) Ursprungs der Er- 
kenntnis, d. h. des Gmndes ihrer Geltung und damit zu dem 
Gegensatz des a priori und des a posteriori, dessen, was in 
unserer Erkenntnis unabhängig, und dessen, was in ihr abhän- 
gig von der Erfahmng erscheint. Überhaupt hat die Erkennt- 
nistheorie alle Gnindbegriffe und Grundsätze der Einzel- 
wissenschaften zu erörtern, deren Geltung über das Gebiet 
bestimmter Wissenschaften hinausreicht, und die darum 
innerhalb einer solchen ihre erschöpfende Behandlung nicht 
finden werden und nicht finden können. Solche Begriffe sind 
z.B. Wesen, Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit. Neben 
diesen inhaltlichen Voraussetzungen aller Einzelwissen- 
schaften kommen in der Erkenntnistheorie noch gewisse be- 
sondere Begriffe und Urteile zur Behandlung, die nur bestimm- 
ten Gruppen von Einzelwissenschaften gemeinsam sind. 
Dazu gehören die Begriffe der Materie, der Energie, des Le- 
bens, der Seele, des Wertes, das principium individuationis, 
nach dem ein Erfahmngsinhalt nur durch die Angabe seiner 
^) So ist z. B. der vor mir stehende Schreibtisch »Bewußtseins- 
wirklichkeit«, soweit er gerade eben mein Bewußtseinsinhalt ist, 
d. h. soviel ich gerade von ihm sehe, taste und weiß (was jeden Augen- 
blick wechseln kann). Sofern ich ihn aber als ein Möbel mit ganz be- 
stimmten Beschaffenheiten in seinem Gesamtbestand denke, als ein 
Etwas, das auch da ist, wenn ich ihn nicht sehe oder von ihm weiß, 
denke ich ihn als »Realität«. Im gewöhnlichen Leben sind wir durch- 
weg auf die Dinge als auf Realitäten innerlich gerichtet (gleichsam 
»geistig eingestellt«). Was davon jeweils unsere »Bewußtseinswirklich- 
keit« ist, darauf müssen wir uns erst besonders besinnen. 
46 
$ 5. Die Erkenntnistheorie. 
Stellung im Eaume und in der Zeit individuell beistimmt 
werden kann, das Axiom des psychophysischen Parallelismus 
(vgl. § 8, 5) u. dgl. m. In der Eegel jedoch werden der- 
artige besondere Aufgaben in speziellen philosophischen Dis- 
ziplinen, wie in der Naturphilosophie oder der Psychologie, 
zur Sprache gebracht. Endlich sind auch noch allgemeine 
Methoden der wissenschaftlichen Forschung zur Erkenntnis- 
theorie zu rechnen. 
10. Eine solche Bestimmung der Erkenntnistheorie, die sie 
mit der älteren ontologie (vgl. § 4, 1) und mit der modernen 
Gegenstandstheorie (vgl. § 6, 9) in nahe Beziehung bringt, 
sichert die Bedeutung einer philosophischen Grundwissen- 
schaft, Natürlich sind die materialen Voraussetzungen der Er- 
kenntnis erst aufzufinden, bevor sie eine systematische Be- 
handlung erfahren können. Dazu bedarf es einer giündlichen 
Einsicht in den Betrieb der eiuzelnen Wissenschaften. Man 
muß über die bloße Bedeweise hinwegzusehen, die Grund- 
begriffe und Axiome auch da zu entdecken verstehen, wo sie 
nicht besonders ausgedrückt werden oder die Darstellungsform 
ihre Anwendung verhüllt. Wenn z.B. in der modernen Natur- 
wissenschaft sich die Neigung geltend macht, das Kausali- 
tätsprinzip auszschalten, so läßt sich zeigen, daß damit nur 
der Name oder ein unhaltbarer Begriff dieses Namens aus- 
geschieden wird. Auf die Gedankeninhalte, nicht auf die 
Worte kommt es an. Die Erkenntnistheorie artet zu einer 
unfmchtbaren Dialektik aus, wenn ihre Bemühungen nicht 
von einem zureichenden Studium des Inhalts der Einzel- 
wissenschaften getragen sind. Da sich die Voraussetzungen 
zu ihren Anwendungen wie das Allgemeine zum Besonderen 
verhalten, so ist es jedoch nicht notwendig alle Anwendungen 
zu kennen. Wäre das letztere erforderlich, so würde dem 
Erkenntnistheoretiker Unmögliches zugemutet werden. Dieser 
hat schließlich auch den Beruf des Kritikers gegenüber den 
Einzelwissenschaften und vermag bestimmenden Einfluß 
auf deren grundlegende Teile zu gewinnen. 
11. Unabhängigkeit von der Metaphysik, wie wir 
sie definiert haben, müssen wir endlich der Erkenntnis- 
theorie zusprechen. Die Voraussetzungen des Wissens dürfen 
47 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
durch dessen vermuteten Abschluß keine Veränderung oder 
Umbildung erleiden. Dagegen ist die Metaphysik umge- 
kehrt von der Erkenntnistheorie in nicht unbeträchtlichem 
Maße abhängig. Denn jede Erweiterung unserer Erkenntnis 
hat sich unweigerlich nach den Voraussetzungen aller Er- 
kenntnisse zu richten. Die Wahrscheinlichkeit einer ange- 
nommenen Ergänzung des Wissens wird mit in erster Linie 
nach dem Verhältnis zu beurteilen sein, in dem sie zu den 
bewährten Grundbegriffen und Grundsätzen steht. Wer 
z. B. eine »höhere« Wirklichkeit behauptet, für die das oberste 
Denkgesetz der Identität (A ist A und nicht Non-A) nicht 
gelte, in der etwa das Ganze mit dem Teil identisch sei (wie 
dies K. Heim »Glaubensgewißheit*, 1916, tut), mutet uns 
Denkunmögliches zu. Auch erscheint eine Freiheit im 
Sinne einer Ursachlosigkeit des Willens von vornherein 
wenig wahrscheinlich. Eine wissenschaftliche Metaphysik 
ist nur in genauer Übereinstimmung mit der Erkenntnis- 
theorie denkbar. Doch hat sich diese ihrerseits dem Fort- 
schritt der Wissenschaft anzupassen, wenn anders sie ihrer 
Aufgabe gerecht werden soll. Eine Nachprüfung der Grund- 
begriffe und Grundsätze wird zum Bedürfnis, sobald neue 
Erkenntnisse sich den bisher angenommenen wissenschaft- 
lichen Voraussetzungen nicht unterordnen lassen. 
12. Zu einem wichtigen Teil der Erkenntnistheorie hat 
sich in letzter Zeit die Phänomenologie im Sinne Hus- 
ßerls entwickelt. Ursprünglich als eine Analyse der an 
einzelnen Zeichen (wie »Ganzes«, »Teil«, »Allgemeines«, »Be- 
wußtsein«) haftenden Bedeutungen gefaßt und geübt, hat 
sie jetzt den Charakter einer »Wesensschauung« überhaupt 
angenommen, indem sie alles Gegebene, alle Gegenstände 
immittelbarer Erfahrung auf ihr Wesen untersucht. So wird 
z. B. der Wahrnehmungsvorgang auf Grund dieser »phäno- 
menologischen Einstellung« beschrieben und zergliedert, 
damit eine völlige Klärung der Bedeutung des Wortes Wahr- 
nehmung erreicht wird. Der sog. »Wesensschauung« ist alles 
zugänglich, was ins Bewnaßtsein fällt und sofern es in diesem 
nicht als bloßes Zeichen für Nicbtgegebenes, sondern nach 
seiner vollen, selbständigen Gegebenheit gegenwärtig ist. 
48 
§ 5. Die Erkenntnistheorie. 
ßeßtlose Einsicht, strenge wissenschaftliche Erkenntnis ist 
von allen solchen Tatsachen prinzipiell möglich, indem alle 
Begriffe, die sie ausdrücken, sich an ihnen prüfen lassen. — 
Diese Phänomenologie, diese Lehre von den uns gegebenen 
Erscheinungen (»Phänomenen«) soll keine »empirische« Wis- 
senschaft vom Daseienden sein und kann schon darum nicht 
mit der Psychologie zusammenfallen (wie manche anfänglich 
gemeint- haben). Sie ist vielmehr eine »reine« (vom Dasein 
der erforschten Tatsachen absehende) Wissenschaft vom 
»Wesen« alles dessen, was uns als Tatsache gegeben sein kann 
and bildet insofern eine Voraussetzung aller Tatsachen- 
wissenschaften also auch der Psychologie, ähnlich wie die 
Mathematik eine Voraussetzung der Physik bildet. Immer- 
hin stützt sie sich doch insofern auf Erfahrung, ist mithin 
»empirisch«, als die Tatsachen, deren Wesen sie untersucht, 
doch irgendwie gegeben sein müssen. Z. B. erkennen wir 
auf Grund der gegebenen Bäume, Häuser, Staaten, Wissen- 
schaften usw. das »Wesen« dieser Gegenstände. 
13. Bei der schwankenden Bedeutung des ü^amens Logik 
(vgl. § 5, 1) finden sich die erkenntnistheoretischen An- 
schauungen vielfach in Werken dieses Namens niedergelegt, 
die zugleich der eigentümlichen Aufgabe einer Logik im 
engeren Sinne gerecht werden wollen. Daher seien hier 
bloß die Forscher der Gegenwart erwähnt, die in ihren 
Darstellungen der Logik auch der Erkenntnistheorie eine 
Stelle eingeräumt haben, während wir diese Werke selbst 
erst im nächsten Paragraphen mitteilen wollen: Schuppe, 
Lotze, Wundt, Cohen, Driesch, v. Kries, Eehmke. 
Hauptsächlich oder ganz erkenntnistheoretisch sind folgende 
Schriften : 
E. V. Aster: Prinzipien der Erkenntnislehrc. Vei"such zu einer Neu- 
begründung des Nominalismus, 1913. 
R. Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung, 2 Bde. 1888—1890; 
2. Aufl. 1907—1908. 
Fred Bon: Dogmen der Erkenntnistheorie*, 1902 (in Dialogform ge- 
haltene anregende Erörterung gewisser Grundprobleme der Erkennt- 
nistheorie). 
J. Cohn: Voraussetzxmgen und Ziele des Erkennens, 1908 (scheidet 
nicht Erkenntnistheorie und Logik voneinander). 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 4 
11. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
F. Dreyer: Studien zur Methodenlehre und Erkenntniskritik, 2 Bde. 
1895—1903. 
E. Dürr: Erkenntnistheorie, 1910 (handelt von der Psychologie des Er- 
kennens, der Walirheit und den Gegenständen der Erkenntnis). 
J. Geyser: Neue und alte Wege der Philosophie, 1916 (eine kritische 
Auseinandersetzung mit Husserl vom Standpunkt der katholischen 
Philosophie). — Grundlegung der Logik und Erkenntnistheorie, 1919. 
E. V. Hartmann: Katcgorienlehre, 1896 (behandelt die allgemeinsten 
und wichtigsten Beziehungsformen der Sinnlichkeit und des Denkens). 
— Grundriß der Erkenntnislelire, 1907. 
R. Herb er tz: Prolegomena zu einer realistischen Logik 1916 (sieht in 
der Logik eine »Wissenschaft vom Wirklichen«, sofern sie Wissen- 
schaft von Gegenständen, Sachverhalten und Beziehungen zwischen 
Sachverhalten sei, denn alle diese seien »wirklich«). 
G. Heymans: Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Den- 
kens*, 2 Bde. 3. Aufl. 1915 (darin auch ein kurzer Abriß der Logik). 
— Einführung in die Metaphysik, 2. Aufl. 1911. 
L. T. Hobhouse: The Theory of Knowledge, 1896 (gilt als die erste 
reine Darstellung der Erkenntnistheorie [Epistemology] in englischer 
Sprache). 
R. Hönigswald: Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre, 
1906. 
E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomeno- 
logischen Philosophie im Jahrbuch für Philosophie tmd phänomeno- 
logische Forschung, I. 1913 (auch gesondert erschienen). 
G. T. Ladd: Philosophy of Knotvledge. An Inquiry into the Natura, 
Limits, and Validity of Human Cognitive Faculty, 1897. 
P. Linke: Das Recht der Phänomenologie. Kant-Studien Bd. 21 (1917), 
S. 163—221. 
Q. F. Lipps: Mythenbildung und Erkenntnis, 1907 (entwickelt die 
Grundlagen der Mathematik, Naturwissenschaft und Psychologie). 
E. Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zu einer Psychologie der 
Forschung, 2. Aufl. 1906. 
A. Messer: Einführung in die Erkenntnistheorie*, 1909, 2. Aufl. 1921. 
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisprobleni, 1908 (sucht die 
Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie als einer Wissenschaft von der 
objektiven Gültigkeit der Erkenntnis zu zeigen). 
R. B. Perry: Present Philosophical Tendencies. A critical survey of 
Naturalism, Idealism, Pragmatism and Realism, 1912. 
A. Riehl: Der philosophische Kritizismus, 2 Bde. 3 Teile, 1876—1887; 
2. Aufl. I. 1908 (enthält im ersten Bande eine mit Locke beginnende 
und mit Kant schließende historische Darstellung). 
J. Volkelt: Erfahrung und Denken*, 1886. Gewißheit und Wahrheit. 
1918. 
M. Schlick: Allgemeine Erkenntnislelire, 1918. 
50 
§ 6". Die Logik. 
Tb. Ziehen: Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physi- 
kalischer Grundlage, 1913 (Erkenntnis wird hier als Entw-icklung 
widerspruchsfreier Vorstellungen aus dem Gegebenen gefaßt). 
Für das erste Studium dürfte sich das Buch von Messer 
am meisten empfehlen. 
Die Geschichte der Erkenntnistheorie behandeln: 
E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wiasen- 
schaft der neueren Zeit, 2 Bde. 1906—1907, 2. Aufl. 1911. 
R. Herbertz: Studien zum Methodenproblem, 1910. 
R. Reiningcr: Philosophie des Erkennens. Ein Beitrag zur Gesdiiohte 
und Fortbildung des Erkonntnisproblems, 1911. 
§ 6. DIE LOGIK. 
1. Die Logik ist im Sinne einer Wissenschaft von den 
formalen Prinzipien der Erkenntnis durch Aristoteles be- 
gründet worden. Zwar gibt es Beiträge und Ansätze dazu 
schon aus früherer Zeit, insbesondere hat Piaton Erörte- 
rungen über die Begriffsbildung, über die Einteilung, über 
das deduktive Verfahren in verschiedenen seiner Dialoge ge- 
bracht. Aber erst durch Aristoteles ist die Logik zu einer 
selbständigen Disziplin ausgearbeitet worden und hat sie 
eine systematische Gliederung nach gewissen Teilen erfahren. 
Analytik (t« dvaXvTixa) nennt er die Lehre vom Schluß 
und Beweis, und zwar handeln t. d. jigotsga {priora) vom 
Schluß' T. d. vöTSQa {'posterior a) vom Beweis, von den De- 
finitionen, von den Einteilungen und von den durch induk- 
tives Verfahren zu erkennenden Grundsätzen. Als Topik 
(ra xo:nioiä) bezeichnet er die Lehre von den dialektischen 
Wahrscheinlichkeitsschlüssen, wozu sachlich auch die »so- 
phistischen Widerlegungen« {Oog)iOTixoi eXeyxot) gerechnet 
werden können. Das Buch jcegl tQiirjvelag hat den Satz 
und das Urteil zum Gegenstand, das Buch über die 
Kategorien (jtsQi xazijyoQicöv', von zweifelhafter Echtheit) 
behandelt die Grundbegriffe. Die Herausgeber und Erklärer 
der aristotelischen Schriften nannten alle diese logischen 
Abhandlungen in ihrer Gesamtheit oQyavov (Organon)^) und 
*) Das Wort bedeutet »Werkzeug«; die Logik behandelt das Werk- 
zeug für die wissenschaftliehe Arbeit. 
4* 
51 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
die hier dargestellte Wissenschaft Logik, während Aristote- 
les selbst sie als Analytik bezeichnet hatte. Die Stoiker, 
unter denen besonders Zenon (f 264 v. Chr.) und Chrysip- 
pos (t c. 207 V. Ohr.) zu erwähnen sind, ergänzten die ari- 
stotelische Logik teils durch erkenntnistheoretische Erörte- 
rungen, teils durch Weiterbildung der Lehre von den Schlüs- 
sen. Einiges aus dem Organen, zunächst nicht gerade das 
Wichtigste, ging unter dem Namen Dialektik in den mittel- 
alterlich-christlichen Schulunterricht über. Seit dem 12. Jahr- 
hundert wurde die Kenntnis der logischen Schriften des 
Aristoteles eine vollständigere. Die Scholastik hat na- 
mentlich die Syllogistik, die Schlußlehre bis ins Einzelste 
ausgestaltet. Es wurden alle irgendwie denkbaren Formen 
des Schließens ausfindig gemacht und auf ihre Zulässigkeit 
geprüft. Daneben spielte der Streit zwischen dem Nomina- 
lismus und dem Eealismus (mit welchen Namen nur die 
hauptsächlichsten Gegensätze in der Auffassung der Allge- 
meinbegriffe bezeichnet sind) eine größere Eolle. Jener be- 
hauptet, daß die allgemeinen Begriffe, wie z. B. Mensch, 
Liebe, nur Namen seien {universalia sunt nomina), dieser 
hagegen hält sie für reale Bestimmungen oder für das eigent- 
liche Wesen der durch sie gedachten Gegenstände {universalia 
sunt realia). 
2. In der Neuzeit erhält sich zunächst das Studium der 
aristotelischen Logik und ihrer späteren Bearbeiter. Auch in 
den protestantischen Schulen wird es gepflegt, wobei man be- 
sonders Lehrbücher Melanchthons benutzte, die dieser im 
Anschluß an Aristoteles abgefaßt hatte. Aber der allge- 
meine, die Anfänge der neueren Philosophie überhaupt charak- 
terisierende Kampf gegen Aristoteles und die Scholastik 
macht sich daneben in verschiedenen Formen mehr oder 
weniger heftig und radikal auch in der Logik geltend. Petrus 
Eamus (f 1572) zwar weicht tatsächlich viel weniger von 
der aristotelischen Lehre ab, als er selbst in seiner eifrigen 
Polemik gegen sie behauptet. Sein Verdienst besteht in 
einer Gliederung der Logik, die sich im wesentlichen bis 
auf unsere Tage erhalten hat. Er unterscheidet nämlich 
vier Teile: die Lehre vom Begriff, vom Urteil, vom Schluß 
52 
§ 6'. Die Logik. 
und von der Methode. Bacon geht bereits energischer vor, 
indem er das logische Schließen und das deduktive Ver- 
fahren überhaupt, weil es die Erkenntnis nicht fördere, keinen 
Fortschritt in der Wissenschaft anbahne, verwirft und ihnen 
gegenüber die Induktion (das Ausgehen von der Erfahrung) 
als den eigentlichen und normalen Weg der wissenschaft- 
lichen Erkenntnis preist. Schon in dem Titel seines hierher 
gehörigen Werkes Novum Organon (1620) deutet er seinen 
Gegensatz zu Aristoteles an. So wenig das Verfahren, 
das Bacon als das induktive beschreibt, nach unserer heu- 
tigen Kenntnis der Dinge als die in der Naturwissenschaft 
geübte Forschungsmethode gelten darf, so ist doch die An- 
regung, die er der Logik dadurch gab, daß er sie auf die von 
der empirischen Wissenschaft erfolgreich angewandten Me- 
thoden als eigentlichen Gegenstand der Untersuchung hin- 
wies, als eine sehr bedeutende anzuerkennen. Dem gleichen 
Gesichtspunkt entspringen die logischen Vorschriften des 
Des carte s. Er hat als Kennzeichen (Kriterium) der Wahr- 
heit den Satz aufgestellt, daß nur dasjenige als wahr be- 
trachtet werden darf, was »klar und deutlich« erkannt wird. 
Im übrigen hat er sich damit begnügt, eine Zerlegung der 
Schwierigkeiten, eine Ordnung der Gedanken und vollstän- 
dige Übersichten oder Aufzählungen zu fordern. Aus seiner 
Schule ist eine der einflußreichsten Darstellungen der Logik, 
die sogenannte Logik von Port-Eoyal: la logique ou 
Vart de penser (1662) hei'vorgegaugen, worin, wenn auch in 
kritischer Auswahl, die aristotelische Logik wieder Aufnahme 
fand. Ebenso verfuhr Hobbes, der das Organon als ein 
herrliches Muster der wahren Logik rühmt. In seiner, so- 
wie in der Erörterung seiner Nachfolger in England spielt 
namentlich das Verhältnis von Denken und Sprechen, die 
Theorie der Worte als der Zeichen (terms) für das Vorgestellte 
und Gedachte eine bedeutende Rolle. Zugleich erscheint 
hier, wie bei den festländischen Philosophen, die Mathematik, 
besonders die Geometrie, als das Ideal einer logisch aufge- 
bauten Wissenschaft. Darum wird auch in der Philosophie 
die »geometrische Methode« möglichst bevorzugt. 
3. Nach Chr. Wol f f ist die Logik die propädeutische Wissen- 
53 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Schaft für alle Philosophie (vgl. § 3, 4). Er teilt entsprechend 
seiner sonstigen Gewohnheit auch die Logik in eine theore- 
tische und eine praktische Disziplin. Während jene die 
lichre vom Begriff, Urteil und Schluß in aristotelischer Auf- 
fassung behandelt, gibt diese methodisch-technische Vor- 
schriften für die Erkenntnis, das Lesen und Schreiben von 
Büchern, das Disputieren, das Lehren u. dgl.^). Kant er- 
klärt von der Logik, daß sie, seit Aristoteles sie begründet, 
keinen Schritt rückwärts habe tun dürfen und keinen Schritt 
vorwärts habe tun können und somit geschlossen und voll- 
endet zu sein scheine. Die Einmengung psychologischer 
und raetapyhsischer Betrachtungen sei nicht eine Verbesse- 
iTing, sondern eine Veninstaltung der Logik; Ursprung und 
Gegenstand des Denkens kämen für sie nicht in Betracht. 
Er definiert sie als eine Wissenschaft des richtigen Ver- 
standes- und Vernunftgeb rauch s nach Gmndsätzen a priori^ 
die bestimmen, wie man denken soll. Er stellt sie also einer- 
seits als normative oder technische Disziplin dar und schreibt 
ihr andererseits einen lediglich formalen Betrieb zu. Seine Ein- 
teilung der Logik läßt sich in folgender Tabelle übersehen: 
Logik 
allgemeine besondere 
angewandte 
Elementar- Methodenlehre 
Hiervon hat sich namentlich die Unterscheidung der Ele- 
mentar- und der Methodenlehre, wobei jene von dem Begriff, 
dem Urteil und dem Schluß zu handeln hat, bis in die Gegen- 
wart erhalten. Daneben hat Kant den Kamen »transzen- 
dentale Logik« für denjenigen Teil seiner Erkenntnistheorie 
in der Kiitik der reinen Vernunft gebraucht, der eine Unter- 
*) Die Idee einer solchen praktischen Logik scheint jetzt wieder auf- 
zuleben. So hat W. Pollack in seinem beachtenswerten Buche: Per 
spektive und Symbol in Philosophie und Rechtswissenschaft (1912) die 
Bedeutung der Gesichtspunkte und der anschaulichen Darstellung für 
den Fortschritt der Wissenschaft einer genaueren, »methodenpolitiaohen« 
Untersuchung imterzogen. 
54 
§ 6. Die Logik. 
suchung der Kategorien, Grundsätze und Vernunftideen ent- 
hält (vgl. § 5, 4). (Die Lehre von den Anschauungsformen 
Raum und Zeit bezeichnet er als »transzendentale Ästhetik«.) 
Nach Kant ist Herbart gleichfalls für eine rein formale, 
von allen Gegenständen und damit allem Erkenntnisinhalt 
absehende Behandlung der Logik eingetreten, und diesem 
Programm entsprechend hat der Herbartianer D robisch 
eine »Neue Darstellung der Logik« (5. Aufl., 1887) ausge- 
arbeitet. Dagegen wurde Hegel der Vertreter einer meta- 
physischen Logik, weil er Denken und Sein unter einheit- 
liche Gesichtspunkte stellte und demgemäß in der dialek- 
tischen Selbstbewegung der Begriffe das Gegenbild des realen 
Prozesses des Geschehens erblickte (vgl. § 3, 6). Besonders 
wirksam wurde diese metaphysische Logik durch die »Logi- 
schen Untersuchungen« von Trendelenburg (1840, 3. Aufl. 
1870) bekämpft, worin eine vermittelnde Stellung zwischen 
jener und der formalen Auffassung eingenommen ist. 
4. Einen epochemachenden Anstoß zur Neugestaltung der 
Logik hat das »System der deduktiven und induktiven 
Logik« von John Stuart Mill (t 1872) gegeben, das zuerst 
1843 erschien^). Nicht sowohl dadurch, daß es in Anknüpfung 
an die englische Überliefemng eine psychologische Grund- 
legung der Logik anstrebt (vgl. § 5, 3), als vielmehr durch 
die Betonung und die mit hervorragender Sachkenntnis voll- 
zogene Durchführung des methodologischen Gesichts- 
punktes. Mill hat die erste eingehende, auf die Bedürfnisse 
und Leistungen der verschiedenen Einzel Wissenschaften Rück- 
sicht nehmende Methodenlehre ausgebaut. Damit ist ein 
Fortschritt über die aristotelische Logik hinaus nicht bloß 
gefordert, wie bei Bacon und Descartes, sondern auch 
verwirklicht. Von geringerer prinzipieller Bedeutung sind 
die durch W. Hamilton (f 1856) eingeleiteten Versuche, 
die formale Logik dadurch zu reformieren, daß im Urteil 
nicht nur das Subjekt, sondern auch das Prädikat quanti- 
tativ bestimmt gedacht wird (.>Quantifikation des Prädi- 
kats«). Damit erscheint das Urteil als eine Gleichung zwi 
*) A System of Logik, Batiocinative and Inductive, 8. ed. 1872. deutsch 
von Gomperz. 2. Aufl. 1884 
5^ 
11. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
scheu Subjekt und Prädikat. Diese Auffassung führte zu 
einer wesentlichen Vereinfachung in der Urteils- und ßchluß- 
lehre und ließ eine mathaniatische Logik entstehen. Eine 
andere Eeform der Logik ist von F. Brentano (vgl. § 8, 7) 
ausgegangen, der in dem Urteil einen eigenartigen seelischen 
Vorgang, das Anerkennen oder Verwerfen eines Vorstellungs- 
inhalts, erblickt, demnach alle Urteile in bejahende und 
verneinende einteilt und in den Existenzialsätzen (z, B, e^ 
gibt einen Gott) den ursiDrünglichen Sinn der bejahenden 
Urteile findet. In den Mittelpunkt der Elementarlehre dej 
Logik wird gegenwärtig das Urteil gestellt, indem man alf^ 
das Ziel aller Wissenschaft ein System gültiger Urteile be- 
trachtet und die Angabe der formalen Bedingimgen, untei 
denen ein solches System möglich ist, als die Aufgabe der 
Logik überhaupt ansieht. Damit sind die hauptsächlichsten 
Indeningen bezeichnet, welche diese philosophische Disziplin 
in der neuesten Zeit erfahren hat. 
6. Zweifellos ist die Logik eine der exaktesten und abge- 
schlossensten philosophischen Disziplinen. Trotzdem finden 
wir auch hier verschiedene Behandlungsweisen und Auf- 
fassungen wirksam. Zwar die Hegeische metaphysische 
Logik gilt; heute mit Eecht als ein verfrühter Versuch, die 
ideale Übereinstimmung zwischen dem System unserer Ge- 
danken und den gedachten Gegenständen als tatsächlich 
erreicht darzutun. Aber daneben haben sich eine erkennt- 
nistheoretische, eine formale, eine psychologische 
und eine reine oder phänomenologische neben der schon 
erwähnten mathematischen Logik entwickelt. Während 
die orkenntnistheoretische Logik Form und Inhalt (unddamil 
Gegenstand) der Erkenntnis nicht voneinander trennen zu 
können behauptet, verzichtet die formale Logik auf Jegliche 
Beiücksichtigung eines Inhalts (was sich schon darin zeigt, 
daß sie den Inhalt bloß durch Buchstaben andeutet; so isi 
z. B. S ist P eine Form des Urteils, die je nach dem G^en- 
stand des Denkens sehr verschiedenen Inhalt aufnehmen 
kann). Zu einem Teil der Psychologie dagegen wird die 
Logik in der psychologischen Auffassung, indem das Denken 
und insbesondere auch das richtige Denken als ein seeliRcbei 
56 
§ 6. Die Logik. 
Vorgang charakterisiert mrd. Die durch Bolzano (Wissen- 
hchaftslehre, 4 Bde. 1837)^) angebahnte, von Husserl 
(Logische Untersuchungen, 2 Bde. 1900—01, 2. Aufl. I und 
[I 1, 1913) ausgebildete phänomenologische Methode beruht 
auf einer Analyse der Bedeutungen, d. h. dessen was mit 
«^inem Begriff oder Urteil gemeint ist. (Die mathematische 
Logik wird § 6, 8 noch näher besprochen werden.) Auch inso- 
fern besteht noch ein Gegensatz zwischen den logischen Dar- 
stellungen, als man auf der einen Seite die normative Be- 
schaffenheit, die Aufstellung von ^Regeln und Vorschriften 
für die Denktätigkeit betont, während auf der anderen 
Seite nur der Tatbestand des wissenschaftlichen Denkenn 
selbst als Gegenstand einer beschreibenden oder erklä- 
renden Untersuchung anerkannt wird. Bei diesem Wider- 
streit der Eichtungen kann es nicht unsere Aufgabe sein, 
uns eingehend mit ihnen auseinanderzusetzen. Vielmehr be- 
gnügen wir uns, darauf hinzuweisen, daß jede von ihnen, 
Hofem sie nicht allein zu gelten beanspnicht, eine gewisse 
Berechtigung hat und die anderen ergänzen kami, was sich 
namentlich für die psychologische und mathematische Logik 
wird zeigen lassen. Zunächst aber wollen wir eine einheit- 
liche, und wie wir glauben, die vorherrschende Ansicht von 
der Aufgabe der Logik entwickeln. 
6. Schon früher (§ 5, 1) haben wir die Logik als eine Wissen- 
schaft von den formalen Prinzipien der Erkenntnis definiert . 
Unter solchen Prinzipien verstehen wir nicht die Worte und 
Sätze, deren wir uns zu bedienen pflegen, um eine Erkennt 
nis darzustellen oder mitzuteilen. Mit ihnen beschäftigt 
sich vielmehr die Sprachwissenschaft und eine Zeichenlehre 
oder Semasiologie. Ebensowenig verstehen wir daiiinter 
den bestimmten Sinn, den die einzelnen Wörter und Sätze 
haben, und die Gegenstände, auf die sie sich beziehen. AIh 
logische Voraussetzungen bezeichnen wir alle diejenigen Be 
dingungen, die erfüllt sein müssen, wenn eine (in Wort<c. 
formulierte) Erkenntnis, welcher Art auch ihr Inlialt sein 
möge, als eine gültige, begründete, nicht als ein bloßer Ein 
») Neue Ausg. von A. Höf ler in : Hauptwerke dpr Philosophie in original 
jietreuen Neudrucken. 1914 f. 
57 
//. Kapitel. Die 'philosophischen Disziplinen. 
fall oder eine grundlose Annahme soll angesehen werden 
dürfen. Zu diesen Bedingungen gehören einfachere und 
kompliziertere. Als eine einfachere ist z. B. die Eindeutig- 
keit der gebrauchten Ausdrücke oder die Bestimmtheit der 
Begriffe, ferner die Formulierung sinngemäßer Aussagen und 
die Begründung einer Behauptung durch andere oder ihre 
Ableitung auf dem Wege des Schlusses zu betrachten. Ver- 
wickelter sind die Methoden, welche die Wissenschaften 
anwenden, um ihre Erkenntnisse darzustellen, zu ordnen und 
in einen Gedankenzusammenhang zu bringen, Induktion 
und Deduktion, Klassifikation und Beweis. Da nun die 
einfacheren Bedingungen als die Elemente der zusammen- 
gesetzten aufzufassen sind, so kann man die Logik in eine 
Elementarlehre und eine Methodenlehre sondern. Faßt 
man die Operationen, die eine gültige Erkenntnis darstellen, 
unter dem Namen des Denkens zusammen, so kann man 
die Logik auch als eine Wissenschaft von den Gesetzen des 
Denkens definieren. Hebt man den Gesichtspunkt des 
Zweckes, dem sie dient, besonders hervor, so erscheint sie 
als ein System der Mittel, die gebraucht werden müssen, um 
diesen Zweck, nämlich gültige Urteile, zu erreichen, und ihre 
Regeln oder Lehren werden zu Vorschriften oder Normen, 
nach denen man zu verfahren hat, wenn anders man zweck- 
mäßig, d. h. wahr und richtig denken will. In diesem Sinne 
ist die Logik eine technische oder normative Disziplin, 
eine Kunstlehre des Denkens. Aus dieser Bestimmung 
erwächst ihr auch gegenüber dem tatsächlich geübten Den- 
ken eine kritische Aufgabe, der sie nachkommt, indem sie 
es auf seine Übereinstimmung mit den Normen prüft, deren 
Befolgung die Wahrheit und Gültigkeit der Erkenntnis ge- 
währleistet. 
7. Einige kritische Bemerkungen gegenüber der psycho- 
logischen und der mathematischen Behandlung der 
Logik mögen dazu dienen, unsere Ansicht von ihrem Wesen 
zu erläutern und zu rechtfertigen. Der Nachweis, daß die 
Logik kein Teil und keine Anwendung der Psychologie ist, 
kann unter der Voraussetzung der Definitionen beider Wis- 
senschaften ähnlich wie bei Gelegenheit der Besprechung 
58 
§ 6. Die Logik. 
eines gleichen Standpunktes gegenüber der Erkenntnistheorie 
(vgl. § 5, 6 ff.) geführt werden. Freilich ist das Denken, von 
dem die Logik handelt, nicht ohne denkende, erkennende 
Subjekte vorhanden, aber auch hier spielt das Subjekt nur 
die Eolle eines für die entwickelten Bedingungen gültiger 
Urteile gleichgültigen Ortes, an dem sie aufgesucht werden 
müssen, wenn sie als im Bewußtsein gegeben gesetzt werden. 
Nur um die objektiven Beziehungen zwischen der Wissen- 
schaft und deren formalen Voraussetzungen, nicht um die 
besonderen Fähigkeiten und Tätigkeiten des Denkenden, 
die bei ihrem Gebrauch ins Spiel treten und sie verwirk- 
lichen, handelt es sich in der Logik. Ferner entnimmt sie 
die Tatsachen, die sie zu erklären, die Regeln, die sie zu 
begründen versucht, nicht der Selbstbeobachtung oder der 
Feststellung fremden Seelenlebens, den Hauptquellen aller 
psychologischen Forschung, sondern den Leistungen der 
Wissenschaft. Endlich ist es für sie ganz gleichgültig, ob 
die Bedingungen, die sie ermittelt, als Erfahrungstatsachen 
in denkenden Individuen vorkommen und wie sie, wenn sie 
als solche gegeben sind, innerhalb des Zusammenhanges von 
Vorstellungen, Gefühlen und Willensakten bestehen. Die 
Logik ist so wenig wie die Mathematik eine Erfahi-ungs- 
wissenschaft. Die logische und die psychologische Behand- 
lung eines Gedankenverlaufes sind daher auch zwei gauz 
verschiedene Dinge. Der letzteren ist es darum zu tun, ihn 
so, wie er sich tatsächlich, mit allen Lücken und Sprüngen, 
anschaulichen und unanschaulichen Bewußtseinsinhalten, mit 
innerem Sprechen, mit begleitenden Vorstellungen und asso- 
ziativen Verknüpfungen ereignet hat, zu schildern und aus 
individuellen Ursachen zu erklären. Die logische Betrach- 
tung dagegen konstruiert die inneren, objektiven Bezie- 
hungen der Begriffe und Urteile zueinander und abstrahiert 
von ihrer oft unzulänglichen Darstellung im Bewußtsein 
ebensosehr wie von allen Zufälligkeiten ihrer subjektiven 
Entstehung. Da sonach Gegenstand und Aufgabe, Quelle 
und Methode bei der Psychologie und der Logik voneinander 
abweichen, so bleiben wir dabei, die Logik als allgemeine 
philosophische Disziplin, als Teil der Wissenschaftslehre, als 
59 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
die Theorie der formalen Voraussetzungen aller Erkenntnis, 
also auch der psychologischen, aufzufassen. 
8. Die neuerdings aufgekommene mathematische Logik 
will durch passend gewählte Zeichen die Aussagen und ihre 
Beziehungen zueinander analytisch darstellen und durch 
Umwandlungen rechnerischer Art aus diesen Voraussetzun- 
gen Folgerungen oder Ei*weiterungen ableiten^). Der Be- 
giünder eines solchen logischen »Algorithmus« (Rechnungs- 
verfahrens in strengerer Form) ist Boole {An investigatiov 
of the la'vs of thought, 1851). Nächst ihm haben sieh Jevons, 
Venu, Pierce, E. Schroeder (»Vorlesungen über die Al- 
gebra der Logik«, 1800 ff.) und Peano um die Ausbildung 
dieser Disziplin besonders verdient gemacht. Eine kurze, 
klare und besonnene Darstellung haben Jos, Hontheim.- 
Der logische Algorithmus (1895) und E. Müller: Abriß der 
Algebra der Logik (1 1909, II 1910) gegeben'-'). Ein einfaches 
Beispiel mag das Verfahren veranschaulichen. Als Grundform 
aller kategorischen Urteile wird die Beziehung aufgestellt: 
a^b, wobei das =-Zeichen die Umfangsgleichheit, das Q-Zei- 
chen die logische Unterordnung des Begriffs a unter den Be- 
griff b andeutet. Sei nun a:^ b und 6:^^, so gilt auch c :^ c. 
Wirklich ausgebildet worden ist auf diesem Wege bisher n\u 
eine Umfangslogik, d. h. eine Logik, die lediglich der Ein- 
teilung aller Gegenstände des Denkens in Gattungen, Arten 
und Exemplare Ausdmck gibt und die Mannigfaltigkeit der 
Inhaltsbeziehungen außer Betracht läßt. Dabei werden alle 
Prinzipienfragen vorausgesetzt. Die mathematische Logik 
bringt keine Entscheidung über die Auffassung der Begriffe 
oder der Urteile, sondern wendet bloß Rechnung sregeln unter 
der Herrschaft bestimmter axiomatischer Annahmen auf 
*) Ganz anders ist der Begriff der mathemat. Logik, wie ihn z, B. 
Russell faßt, indem er die logische Analyse und Deduktion der Arith- 
metik und Geometrie darunter versteht. Dafür ist auch der Name 
»Logistik« in Gebrauch. 
*) Über die Entwicklung der mathematischen Logik orientiert A. T 
Shearman: The development of Symholic Logic, 1906. Eine Darstellung 
der mathematischen Logik findet sich auch in dem ausgezeichneten 
Werke von A. N. Whitehead and B. Russell: Principia mathematica, 
I. 1910. Die Zeichensprache ist hier dei'jenigen Peauo's gefolgt. 
60 
§ 6. Die Logik. 
einzelne Probleme an. Sie ist somit keine Theorie der logi- 
schen Grundbestimmungen, sondern nur eine Technik logi- 
scher Ableitungen und muß darum durch eine allgemeine 
oder philosophische Logik ergänzt werden. An Schärfe und 
Strenge endlich gewinnt die Logik durch die mathematische 
Darlegung natürlich nicht, denn gerade der logische Zu- 
sammenhang ist es ja, was der Mathematik ihre Strenge ver- 
leiht. Indem diese vermöge der eindeutigen Bestimmtheit 
ihrer Symbole und der einfachen Gesetzmäßigkeit ihrer 
Operationen Mißverständnissen und Ablenkungen des Ge- 
dankenverlaufs am wenigsten ausgesetzt ist, gewährt sie 
ans am unmittelbarsten und ungetrübtesten den Eindruck 
logischer Genauigkeit und IS^otwendigkeit^). 
9. In neuester Zeit ist die Logik noch durch folgende 
Überlegungen erweitert worden, die wir am einfachsten an 
einem Beispiel erläutern können. Sage ich: Kant ist der 
Begründer des Kritizismus, so bezieht sich dies Urteil un- 
mittelbar auf den Philosophen selbst, nicht auf den Begriff 
von ihm. Anders verhält es sich mit dem Satz: Die Begriffe 
Pflanze und Tier sind schwer gegeneinander abzugrenzen, 
wo eine Behauptung unmittelbar über die Begriffe, nicht 
über die ihnen entsprechenden Objekte vorliegt. Wenn ich 
endlich erkläre: Mensch ist ein Substantivum, so habe ich 
weder über ein mit dem Ausdruck Mensch zu bezeichnendes 
Objekt noch über den damit verbundenen Begriff, sondern 
über den Ausdruck selbst, das Wort, ein Urteil ausgesprochen. 
Mit Eück sieht darauf kann man die Gegenstände des Den- 
kens (d. h. alles, worauf immer wir unsere Gedanken richten 
können) in Zeichen^), Begriffe und Objekte einteilen, 
wie schon Wilhelm von Occam (f 1349) und Hobbes 
wußten. 
Die letzteren zerfallen in »wirkliche«, in »ideale« und 
in »reale« Objekte. Es ergibt sich somit folgende Ein- 
teilung : 
^) Von der Bedeutung der »Logistik« für die Mathematik können wii- 
hier absehen. 
*) Eine besonders wichtige Art von Zeichen sind die Worte. 
61 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Gegenstände 
Zeichen Begriffe Objekte 
wirkliclie ideale reale 
(phänomenale) (bloß gedachte) 
Die er«te Klasse der Objekte enthält die Bewußtseinstat- 
sachen, deren Daseinsart das unmittelbare und zweifelsfreie 
Gegebensein ist. Die zweite Klasse umfaßt die durch 
Abstraktion, Kombination oder Modifikation entstandenen 
und der Erfahrung gegenüber verselbständigten, a priori ge- 
setzten Gegenstände, deren Grundlage aber mehr oder weniger 
durchsichtig in den »Wirklichkeiten« des Bewußtseins zu 
finden ist. Ihre Daseinsart wollen wir in Ermangelung 
eines besonderen Is'amens als das ideale Dasein bezeichnen. 
Dahin gehören die Objekte der reinen Mathematik (Zahlen, 
Figuren) und die ethischen und ästhetischen Idealgebilde. 
Die dritte Klasse bilden die realen Objekte. Von ihnen neh- 
men wir an, daß sie unabhängig vom Bewußtsein existieren. 
Während also der gewöhnliche Sprachgebrauch »wirklich« 
und »real« meist als gleichbedeutend gebraucht, \vird hier 
zwischen beiden Ausdrücken unterschieden. Wie aus dem 
S. 46 A. angeführten Beispiel zu ersehen, kann ein »wirk- 
liches« Objekt die »Erscheinung« eines »realen«, d. h. dessen 
Gegebenheit in einem Bewußtsein darstellen. Freilich kön- 
nen wir auch in der Annahme eines realen Objekts irren, 
z. B. wenn wir in der Dämmerung ein dem Bewußtsein ge- 
gebenes schwarzes Etwas für einen Stein halten, während 
es sich dann — durch Fortfliegen — als Vogel erweist. Da 
die wirklichen Objekte die unmittelbar unserem Bewußtsein 
gegebenen Erscheinungen (Phänomene) sind, so könnte man 
sie auch als »phänomenale« bezeichnen. Mau darf nun die 
Logik als eine Begriffstheorie bezeichnen und wird ihr dann 
eine Zeichen- und eine Objektstheorie gegenüberzustellen 
haben. Über ihnen aber erhebt sich noch eine allgemeine 
Gegenstandstheorie, die sich nach unserer Ansicht mit 
den kategorialen Angaben über alle Gegenstände des Den- 
kens, wie der Gegenständlichkeit, der Gleichheit und Un- 
gleichheit, der Zählbarkeit, der Abhängigkeit und Unab- 
62 
§ 6. Die Logik. 
hängigkeit u. dgl. zu beschäftigen hat^). Die eikenntnis- 
theoretische Logik ist von hier aus gesehen eine Vereini- 
gung von gegenständ»-, begriffs- und objektstheoretischen 
Betrachtungen, und das nämliche gilt von Husserls »reiner« 
Logik, die als eine Wissenschaft von der Möglichkeit einer 
Theorie überhaupt definiert wird. Dagegen ist die formale 
Logik eine Begriffstheorie, die nur insofern als eine Voraus- 
setzung aller Wissenschaft zu gelten hat, als alle Wissen- 
schaft in Begriffen denkt und darstellt. Außerdem aber hat 
man innerhalb des Denkens zwischen einem Erfassen bzw. 
Setzen und dinem Erkennen bzw. Bestimmen zu unter- 
scheiden. Jenes richtet sich auf das bloße Sein und Dasein, 
die Geltung und Existenz, dieses auf die Essenz, das Wesen 
oder Sosein der Gegenstände. Dieser Unterschied erlangt eine 
besondere Bedeutung bei dem Problem der Eealität (vgl. § 17). 
10. Aus der reichen logischen Literatur der Gegenwart 
heben wir folgende Werke hervor: 
Für den Anfänger dürften sich am meisten empfehlen: 
Thomas Fowler: Logic deductive and inductive, 1895. 
J.Geyser: Grundlagen der Logik und Erkenntnislehre, 1909. 2. Aufl. 1919. 
Hagemann-Dyroff: Logik und Poetik, 9. — 10. Aufl. 1915. 
W. St. Jevons: Leitfaden der Logik. Deutsch von H. Kleinpeter. 
2. Aufl. 1913. 
Von größeren und spezielleren Bearbeitungen seien 
genannt : 
J. Baldwin: Das Denken und die Dinge oder Genetische Logik, übers. 
V. Geisse, L 1908, II. 1910, III. 1914. 
B. Bosanquet: Logic or the Morphology of Knowledge, 2. ed. 2 Bde. 1911 . 
W. R.Boy ceGibson: TAeProWemo/Lojrtc, 1908 (suchtauch deraprag- 
matistischen Gesichtspunkt [vgl. §16] in der Logik Rechnung zu tragen). 
F. H. Bradley: The Principles of Logic, 1883. 
*) B. Erdmann hat in seiner ausgezeichneten Logik (1. Aufl. 1892) 
einen Abschnitt über die Gegenstände des Denkens der Lelire von den 
Urteilen vorangestellt, worin die Gegenstandstheorie in dem bezeich- 
neten Sinne behandelt ist. Die später von Meinong und seiner Schule 
eingeführte »Gegenstandstheorie« geht nur auf die a priori erkennbaren 
Beschaffenheiten von Gegenständen und berührt sich nahe mit Hus- 
serls Phänomenologie (vgl. § 5, 12) und Rehmkea Grundwissenschaft. 
63 
//. Kapitel. Die 'philosophiechen Disziplinen. 
H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, 1902, 2. Aufl. 1914. Register 
dazu von A. Görland, 1905. 
H. Driesch: Ordnungslehre*, 1912 (eine Kategorienlehre). 
B. Erdmann: Logik*, I. 2. Aufl. 1907. 
St. Jevons: The principles of Science, 5. ed. 1887. 
J. V. Kries: Logik, Grundzüge einer kritischen und formalen ürteil«- 
lehre. 1916. 
H. Lotze: System der Philosophie, I. Logik, 2. Aufl. 1880. Auoh in 
der Philosoph. Biblioth. herausgeg. von G. Misch, 1912. 
A. Meinong: Die Stellung der Gegenstandstheorie im System der 
Wissenschaften, 1917. 
J, Rehmke: Logik oder Philosophie als Wissenslehre*, 191 8 (vgl.S.llA.) 
W. Schuppe: Erkenntnistheoretische Logik, 1878. 
Chr. Sigwart: Logik, 4. Aufl. 2 Bde. Herausg. v. H. Maier, 1911. 
W. Wundt: Logik, 3. Aufl. 3 Bde. 1906—1908. B I, 4. Aufl. 1919. 
Th. Ziehen: Lehrbuch der Logik 1920 (auf positivistischer Grundlage 
mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik). 
Von diesen Werken kommen die von Sigwart, Lotze, 
Schlippe, Wundt, Bradley, Cohen, Driesch und 
V, Kries auch für die Erkenntnistheorie in Betracht. 
Als Beiträge zur Geschichte der Logik endlich er- 
wähnen wir: 
R. Adamson: A ahort Hiatory of Logic. Ed. by W. R. Sorley, 1911. 
W. Koppelmann: Untersuchungen zur Logik der Gegenwart, II. 1918. 
(Die logischen Normen sind die Formen der richtigen, klaren und ein- 
fachen Mitteilung des Gedachten.) 
L. Liard: Die neuere englische Logik. Übers, v. Imelmann,2.Avifl.l883. 
C. Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande, 4 Bde. 1855—1870. 
2, Bd. in 2. Avifl, 1885. Reicht bis zum Ausgang des Mittelalters. 
F. Überweg: System der Logik, 5. Aufl. 1882, dessen Hauptwert auf 
den zahlreichen geschichtlichen Rückblicken beruht. 
B. DIE BESONDEREN PHILOSOPHISCHEN DISZI- 
PLINEN. 
§ 7. DIE NATUEPHILOSOPHIE. 
1. Der Name »Naturphilosophie«, eine Verdeutschung der 
philosophia naturalis, die schon Seneca (t 65 n. Chr.) im 
Anschluß an die platonische Dreiteilung der Philosophie er- 
wähnt (vgl. § 3, 1), kommt mit den gleichbedeutenden Aus- 
drücken Metaphysik der Natur, Philosophie der Natur, speku- 
64 
§ 7 . Die, Naturphi 
lative Physik im 18. Jahrhundert auf. Sein Begriff ist je- 
doch um diese Zeit ein wesentlich engerer, als der antike. Die 
platonische und aristotelische Physik umfaßten alles Wissen 
von der Natur, zu der auch unbedenklich das Seelenleben 
gerechnet wurde, ebenso die Physica oder Philsosophia natu- 
ralis des Mittelalters. Noch am Ausgang des 16. Jahrh. wird 
in den Lehrbüchern dieser Disziplin von der Natur, ihren 
Formen und Gesetzen, von der Seele und ihren Fähigkeiten, 
sowie vom Geiste gehandelt. Sie begreift also nach unseren 
heutigen Vorstellungen Naturphilosophie, Naturwissenschaft 
und Psychologie in sich (vgl. § .3, 1). Im 17. Jahrhundert 
scheidet die Psychologie aus diesem Verbände aus, der Name 
Physiologie ist neben Naturphilosophie und Physik für den 
Eest im Gebrauch. Im 18. Jahrhundert wird auch die Lehre 
von der lebenden Natur als Physiologie abgetrennt; zu- 
gleich tritt der Unterschied einer jjhysica speculaliva und 
empirica auf. In jener werden nur noch die allgemein- 
sten Gegenstände: die Natur, ihre Formen und Ursachen 
rein begrifflich erörtert. Wolff bezeichnet diese beiden 
Teile als cosmologia (oder physica) generalis und als physica 
experimentalis. So hat sich allmählich der Umfang des 
Begriffs Naturphilosophie verengert, eine selbständige 
Naturwissenschaft ist aus ihr hervorgegangen, eine selb- 
ständige Philosophie hat sich neben sie gestellt. Wir ver- 
stehen jetzt unter Naturphilosophie einerseits eine Meta- 
physik der Natur (d. h. der Körperwelt,) also einen 
besonderen Teil der Metaphysik, andererseits eine Wis- 
senschaftslehre der Naturwissenschaft, also eine 
angewandte Erkenntnistheorie und Logik. Für die zweite 
Aufgabe wird auch wohl der Name »Philosophie der Natur- 
wissenschaft« verwandt. 
2. Mit der Naturphilosophie beginnt das philosophische 
Denken des griechischen Altertums. Nennt man doch in 
der Eegel die zwei Hauptrichtungen der vorsokratischen 
Philosophie die ältere und die jüngere Naturphilosophie, und 
beziehen sich doch auch alle besonderen Bestimmungen über 
das Wesen der Dinge in jener Zeit vorzugsweise auf die Natur, 
auf das äußerlich Wahrnehmbare. Dieses Objekt steht so 
Kiilpe, Philosophie. 10. Aufl. 5 
65 
//. Kapitel. Die philosojyhischen Disziplinen. 
sehr im Vordergrund der wissenschaftlichen Erwägungen 
jener Zeit, daß selbst da, wo auf den Menschen und seinen 
Geist eingegangen wird, vor allem diejenigen Kräfte des- 
selben gewürdigt werden, die zur Erkenntnis der äußeren 
Natur beizutragen scheinen. Es ist nicht schwer, den Grund 
für diese Eichtung des Denkens in der Zeit der Anfänge 
philosophischer Betrachtung anzugeben. Erstlich pflegt das 
populäre Denken auch noch heute die Dinge, das Feste, 
Schwere, Farbige, Tönende usf. als Seiendes schlechthin auf- 
zufassen und bei dem Vorgänge der Wahrnehmung solcher 
Gegenstände von dem Anteil, den das erkennende Subjekt 
daran unzweifelhaft hat, abzusehen. Erst eine fortgeschrit- 
tenere Keflexion lehrt diesen scheinbar so objektiven Be- 
stand teils als ein Erzeugnis innerer und äußerer Faktoren, 
teils als etwas zunächst lediglich im Bewußtsein Gegebenes 
würdigen. Auch die sprachwissenschaftlichen Untersuchun- 
gen haben ein gleiches Verhalten insofern nachgewiesen, als 
sie zeigen, daß die Namen für die Objekte der Sinneswahr- 
nehmung sich früher ausbilden, als die Namen für die sub- 
jektiven Funktionen des Sehens, Hörens, Empfindens, Wahr- 
nehmens u. dgl. Zweitens aber hängt das ausschließliche 
Interesse an dem Äußeren, an der Natur damit zusammen, 
daß es für primitive Kulturverhältnisse sicherlich die größte 
Wichtigkeit besitzt, eine Erkenntnis solcher Vorgänge zu ge- 
winnen, um sie beherrschen und voraussehen, sich für sie 
vorbereiten und ihnen anpassen zu können. Der Erkenntnis- 
trieb wurzelt ursprünglich in dem Selbsterhaltungstrieb, 
und selbst da, wo eine selbständige Entfaltung seiner Kraft 
beginnt (wie gerade in der Philosophie), wird er doch zu- 
nächst in seiner Richtung durch die Eücksicht bestimmt, 
die der Wert und der Nutzen der gewonnenen Einsicht für 
das Leben an die Hand geben. 
3. Die bedeutendste naturphilosophische Anschauung der 
älteren griechischen Philosophie, ja vielleicht des Altertums 
überhaupt, ist die von den Atoraikern entwickelte. Hier 
vollzog sich zuerst eine Scheidung zwischen der rein quanti- 
tativ bestimmbaren äußeren Welt, die aus den mit mecha- 
nischer Gesetzmäßigkeit sich im Raum bewegenden Atomen 
66 
§ 7. Die Naturphilosophie. 
besteht, und dem nur qualitativ zu beschreibenden inneren 
(d. h. seelischen) Geschehen. Aber im Altertum selbst und 
im Mittelalter wurde diese für die naturwissenschaftliche 
Forschung so wichtige atomistische Theorie durch die Lehre 
des Piaton und des Aristoteles verdrängt, wonach das 
Materielle überhaupt nicht etwas an sich Seiendes, sondern 
eher die Negation des wirklichen Seins ist oder höchstens 
die Möglichkeit, die Potenz für dieses enthält, während die 
Form, die Idee als das Prinzip der Eealität gilt. Abgesehen 
von dieser Verändemng des Begriffs der Materie wurde auch 
die rein mechanische, kausale Verknüpfung der Naturvor- 
gänge zugunsten einer teleologischen, einer Zweckauffassung 
zurückgesetzt. Piaton hat seine naturphilosophischen 
Anschauungen im Timaeus niedergelegt, Aristoteles in 
der Physik. Weit geringer ist das Interesse für die Natur- 
philosophie bei den Nachfolgern. Doch hat sich Epikur 
dadurch ein besonderes Verdienst erworben, daß er die Lehre 
Demokrits (um 430 v. Chr.) von den Atomen wenigstens 
in den Grundzügen annahm. Die Gleichgültigkeit gegen die 
(äußere) Natur, die uns in der christlichen Philosophie so 
stark entgegentritt, ist z. T. durch den Einfluß platonischer 
Gedanken zu erklären, wonach das Sinnliche, das Materielle 
nur als scheinbares Sein, ja sogar als das böse Prinzip und 
als das Häßliche gilt (vgl. § 9, 3). Nur vereinzelt begegnet 
uns im Mittelalter eine positivere Stellung zu den Natur- 
gegenständen und Naturereignissen. So zeichnet sich Boger 
Bacon (t 1294) durch eine tiefere Erkenntnis ihrer Wichtig- 
keit und durch eine Teilnahme an ihrer Erforschung aus. 
4. Mit den Anfängen der neueren NaturAvissenschaft, die 
an die Namen eines Kopernikus (1473 — 1543), Galilei 
(1564—1642), Kepler (1571—1630) und Newton (1642 bis 
1727) geknüpft sind, ist das Interesse für die Außenwelt und 
deren Gesetze wieder allgemein geworden, und schon da, 
wo ^^'iT die ersten Spuren neuerer Philosophie entdecken, 
bei Nicolaus C'usanus (1401 — 64), bei Bernhardinus Telesius 
(1508 — 88) u. a. stehen die naturphilsophischen Erwägungen 
im Vordergrunde. Wie sehr dabei die Verknüpfung von 
Philosophie und Einzelwissenschaft noch üblich war, sehen 
G7 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Tvir daran, daß Galilei ebenso wie Kepler sich in erster 
Linie als Philosophen fühlen und von sehr allgemeinen Über- 
legungen aus zu ihren großen Entdeckungen gelangen. An- 
derseits wirken auch alle Veränderungen in dem Verfahren 
und den Ergebnissen der Naturerkenntnis umgestaltend auf 
die philosophische Betrachtungsweise und Weltanschauung 
dieser Zeit ein. Wii- heben daraus namentlich folgendes 
hervor. Erstens tritt an die Stelle der Meinung der Alten, 
daß die Eixsternsphäre die äußerste Grenze der — mithin 
endlichen — Welt bilde, die Annahme einer Unermeßlichkeit 
des Eaumes und der Welten. Während man sich früher den 
Himmel als ein festes Gewölbe vorstellte, wurde er jetzt zum 
grenzenlosen leeren Eaume, und wer jetzt noch an den 
religiösen Vorstellungen einer jenseitigen Welt festhielt, 
konnte sie sich nicht mehr in sinnlicher Form, sondern nur 
noch in unsinnlicher Weise denken. Dieser Gegensatz zwi- 
schen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen fällt alsbald 
mit dem anderen zwischen Körperlichem und Geistigem zu- 
sammen. Ein zweites großes Ergebnis war die Erkenntnis 
strenger Gesetzmäßigkeit in dem Verhalten aller Körper und 
der Möglichkeit einer durchgängigen Anwendung der Mathe- 
matik auf die Naturerscheinungen. Damit wird alle Willkür 
und Freiheit aus dem Eeich des Wahrnehmbaren verbannt, 
und, von hier vertrieben, flüchtet sie sich in das allein noch 
übrige Gebiet des Geistigen oder des Sittlichen. So erhält 
der Gegensatz zwischen dem Sinnlichen und Über- oder Un- 
sinnlichen eine neue Bedeutung durch den anderen zwischen 
Natur und Geist oder Sittlichkeit, zwischen Mechanismus 
und Freiheit. 
5. Drittens ergibt sich aus den Voraussetzungen der 
neueren Naturwissenschaft eine schärfere Bestimmung des 
Begriffs der Materie als des Objektiven, das unabhängig 
von uns, den wahrnehmenden, erkeimenden Subjekten be- 
steht und sich ändert, und die wichtige Lehre von der 
Subjektivität der Sinnesqualitäten. Galilei unter- 
scheidet die wesentlichen und die zufälligen Eigenschaften der 
Körper. Zu jenen rechnet er die Form, die relative Größe, 
den Ort, die Zeit, die Bewegung oder die Euhe, die Zahl 
68 
§ 7. Die Naturphilosophie. 
und die Berührung anderer Körper bzw. die Isoliertheit. 
Alle diese Eigenschaften sind von dem Begriff, des Körpers 
nicht zu trennen. Daß er dagegen weiß oder rot, bitter oder 
süß, tönend oder stumm, wohl- oder übelriechend ist, kommt 
ihm nicht notwendig zu, vielmehr bezeichnen alle diese Aus- 
drücke nur Wirkungen der Körper auf unsere Sinne. Locke 
(vgl. § 5, 2) nannte jene die primären, diese die sekun- 
dären Qualitäten der Körper. Indem die letzteren ledig- 
lich in das Bewußtsein verwiesen werden, erhält der Unter- 
schied zwischen dem Physischen und dem Psychischen eine 
neue, genauere Fassung. Als ein viertes Hauptergebnis 
dürfen wir sodann die Einführung der heliozentrischen Theorie 
betrachten. Durch sie erleidet die Würdigung der Erde und 
des auf ihr lebenden Menschen eine erhebliche Wandlung. 
Die Erde erscheint nicht mehr als der Mittelpunkt des Welt- 
alls, sie ißt nur einer von den zahlreichen die Sonne umkreisen- 
den Planeten, ja ein verschwindendes Pünktchen im un- 
ermeßlichen Weltraum geworden. Der Mensch, der bisher 
als die Krone der Schöpfung galt, wird in den allgemeinen 
und einheitlichen Kreislauf des natürlichen Geschehens herein- 
gezogen; sein stolzer Anspruch, Zweck der gesamten Welt- 
entwicklung zu sein, weicht einer bescheideneren Auffassung 
seiner Bestimmung. Zugleich macht sich eine vorsichtigere, 
skeptischere Beurteilung der Leistungen unseres Erkenntnis- 
vermögens bemerkbar. Insbesondere bringt man sich die Sub- 
jektivität, ferner die unvermeidliche Beschränktheit und Eela- 
tivität menschlichen Wissens und menschlicher Werturteile 
zum Bewußtsein. Endlich fünftens wächst unter dem Ein- 
druck der bahnbrechenden experimentellen Forschungen 
innerhalb der ^Naturwissenschaft die Bedeutung, welche die 
Beobachtung, die Erfahrung, sofern sie durch vernünftige Ab- 
sicht geregelt ist und sich mit dem logisch deduzierenden Ver- 
stände verbindet, für die Erkenntnis besitzt. Galilei erklärt, 
daß tausend Gründe nicht ausreichen, um eine wirkliche Er- 
fahrung als falsch zu erweisen. Der empiristische Grund- 
satz, wonach es ohne Erfahrung keine Erkenntnis und ins- 
besondere ohne neue Erfahrung keine neue Erkenntnis gibt, 
wird dadurch zu einer herrschenden Überzeugung der neue- 
69 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
ren Philosophie. Gioidano Bruno, der seine Kühnheit mit 
dem Flammentode (1600) zu büßen hatte, ist in Italien, 
Descartes, Spinoza und Leibniz sind in Mitteleuropa, 
Bacon, Hobbes und Locke in England die Wortführer 
der von der neuen Naturwissenschaft beeinflußten Philo- 
sophie gewesen. 
6. Naturwissenschaft und Naturphilosophie gehen im 
18. Jahrhundert auseinander. Als eingetreten darf man die 
gesonderte Bearbeitung der letzteren namentlich mit dem 
Erscheinen folgender Schriften betrachten, des Systeme de 
la nature vom Jahre 1770, der »Metaphysischen Anfangs- 
gründe der Naturwissenschaft« von Kant 1786 und des 
»Entwurfs eines Systems der Naturphilosophie« von Schel- 
ling 1799. Das erstgenannte Buch diente mehr agitatori- 
schen, als rein wissenschaftlichen Zwecken. Der Verfasser 
nennt sich auf dem Titel Mirabaud, ist jedoch walirschein- 
lich für den größten Teil des Werkes ein Baron von Holbach 
(t 1789), der zu dem Kreise der Enzyklopädisten gehörte. 
Der erste Band beschäftigt sich mit der Darlegung einer 
materialistischen Metaphysik. Der ganze zweite Band ist 
einer Bekämpfung der Eeligion, insbesondere des christ- 
lichen Glaubens gewidmet. Mit großem Geschick sind die 
Ergebnisse der Naturwissenschaft einer Zeit zu einem Ge- 
samtbilde des Naturgeschehens verwertet, aber die ins Ein- 
zelne gehende Naturforschung ist unberücksichtigt geblieben. 
Kant will in seinen »metaphysischen Anfangsgründen« nur 
die Prinzipien a priori für alle Naturwissenschaft entwickeln, 
beschäftigt sich daher ausschließlich mit den allgemeinsten 
Begriffen, mit dem der Materie, der Bewegung, der Kraft 
und dergleichen. Er gelangt zu einer sog. dynamischen 
Naturauffassung, nach der das Wesen der Erscheinungen der 
äußeren Natur in räumlich verteilten und in Wechselwirkung 
miteinander stehenden Kräften zu suchen ist. Hieran knüpft 
Schelling an. Er bildet diese Naturlehre mit besonderer 
Beziehung auf Entwicklungsstufen aus und verwendet da- 
bei Kants teleologische Gedanken in der »Kritik der Ur- 
teilskraft« (1790). Die ganze Natur ist nach Schelling ein 
Stufenreich der Zwecke von ihren niedersten, unschein- 
70 
§ 7. Die Naturphilosophie. 
barsten, rohesten Anfängen bis hinauf zu der höchsten, 
feinsten und reichsten Entfaltung des geistigen Lebens. 
7. Trotz der spekulativen Ausführung dieser auf das ganze 
Universum ausgedehnten naturphilosophischen Lehren bei 
Schelling und seiner engeren Schule, in der sich nament- 
lich Steffens für die Geologie und Oken für die Biologie 
hervortaten, hat ihre Idee bei den Naturforschern zu An- 
fang des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Anerkennung ge- 
funden. Nicht wenige von denen, die .später den Weg exakter 
Forschung mit grundsätzlicher Einseitigkeit beschritten 
haben, sind ursprünglich Anhänger der Schelling sehen 
Naturphilosophie gcAvesen. Die schroffe Ablehnung, Avelche 
ihr in weiten Kreisen nach der Erkenntnis ihrer wissenschaft- 
lichen Unzulänglichkeit zuteil wurde, brachte im Verein mit 
dem Sturze der Hegeischen Philosophie eine allgemeine 
Abneigung gegen die Beiträge hervor, die eigentliche Philo- 
sophen zur Naturlehre im weiteren Sinne zu liefern ver- 
suchten. Seitdem war es üblich geworden, daß die Natur- 
forscher selbst ihren Bedarf an Philosophie bestritten, und 
daß die Philosophen sich der besonderen Aufgabe einer 
Naturphilosophie nur in dem allgemeineren Eahmen der 
Metaphysik oder der Erkenntnistheorie und Logik an- 
nehmen. Was von Vertretern der Naturwissenschaft an 
philosophischen Gedanken veröffentlicht ward, litt vielfach 
unter der Unkenntnis der vorausgegangenen philosophischen 
Entwicklung und an einer einseitigen Überschätzung der 
Folgerungen, die sich aus den Voraussetzungen und Ergeb- 
nissen ihres besonderen Gebietes ziehen lassen. Ein frucht- 
bares Zusammenwirken von Mathematik und Naturwissen- 
schaft einerseits und Philosophie andererseits zeigt die 
Behandlung des sog. »Eelativitätsprinzips«. Eaum und 
Zeit sind danach nichts für sich Meßbares, sie bilden selbst 
keine physikalischen Gegenstände, wohl aber ein vierdimen- 
sionales Ordnungsschema, in das wir die physikalischen 
Vorgänge einordnen. Zeit- wie Kaumstrecken werden dabei 
einfach als eindimensionale Kontinua gedacht (wobei man 
von dem anschaulichen Unterschied zwischen erlebter Zeit- 
dauer und wahrgenommener räumlicher Ausdehnung ganz 
71 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
absieht). Es hat sich auch ergeben, daß man mitdenEuklidi- 
gchen Axiomen nicht auskommt, wenn man die Natur mit 
höchster Genauigkeit durch einfachste Gesetze beschreiben 
will. Man hat vielmehr an jedem Ort der Welt eine andere 
Geometrie zu benutzen, die von dem physikalischen Zustand 
abhängt. Man wählt diejenigen geometrischen Axiome, die 
zu den einfachsten physikalischen Gesetzen führen. Ebenso 
hat sich gezeigt, daß man nicht länger an der einen »gleich- 
mäßig ablaufenden« Zeit Newtons festhalten darf, sondern 
verschiedene Zeitmaße benutzen muß, je nach dem Be- 
wegungszustand des Systems, auf welches die Darstellung 
der Naturvorgänge bezogen wird. 
8. Als angewandte Erkenntnistheorie hat es die 
Naturphilosophie mit den Grundbegriffen und Grundsätzen 
der Naturwissenschaften zu tun. Hier spielen solche Natur- 
begriffe, wie die der Materie, der Energie, des Atoms, des 
Lebens, und Grundsätze, wie das Prinzip von der Erhaltung 
des Stoffes, das Trägheitsaxiom, das Eelativitätsprinzip 
der Physik, das Prinzip der Differenzierung und das der 
Vererbung eine Eolle. Der Naturphilosophie als ange- 
wandter Logik liegt die Erörterung der in den genannten 
Wissenschaften gebrauchten Methoden ob. Analyse und 
Synthese, Beschreibung und Vergieichung, Induktion und 
Deduktion, Beobachtung und Experiment werden hier 
in der besonderen Form untersucht, wie sie zur Gewinnung 
und Darstellung naturwissenschaftlicher Erkenntnis ge- 
braucht werden. 
Neben dieser Behandlung der materialen und formalen 
Voraussetzungen der Naturwissenschaften, die in Verbindung 
mit der allgemeinen oder reinen Erkenntnistheorie und Logik 
durchzuführen ist, finden wir in der Naturphilosophie eine 
spezielle Metaphysik. In diesem Teile hat sie den Faden 
dort aufzunehmen und fortzuspinnen, wo ihn die Natur- 
wissenschaften zurzeit fallen lassen müssen, also dem Cha- 
rakter der allgemeinen Metaphysik entsprechend die Er- 
kenntnis der Natur zu erweitern und zu einer wahrschein- 
lichen Gesamtkonzeption abzurunden. Dabei dienen die 
Hypothesen und Theorien der Naturwissenschaften über 
72 
§ 7. Die Naturphilosophie. 
ihre letzten Dinge, über die Entstehung und Zusammen- 
setzung der Naturerscheinungen im allgemeinen, der anorga- 
nischen und der organischen im besonderen, über die Ziele, 
denen Werden und Entwicklung derselben zustreben, als 
Ausgangspunkte. 
So umklammert die Naturphilosophie die Naturwissen- 
schaften an deren Anfang und Ende. Sie ist und leistet für 
dieses besondere Gebiet, was die allgemeinen philosophischen 
Disziplinen für alle anstreben. In der gemeinsamen Be- 
ziehung auf die nämliche Gruppe von Wissenschaften haben 
wir den Grund dafür zu sehen, daß die an sich getrennten 
metaphysischen, erkenntnistheoretischen und logischen Aus- 
führungen sich zu einer speziellen philosophischen Disziplin 
vereinigen. 
9. Früheren Erörterungen gemäß hat die Wissenschafts- 
lehre nicht nur die Aufgabe, die materialen und formalen 
Voraussetzungen der Einzelwissenschaften darzulegen, son- 
dern auch den Beruf zu prüfen, inwiefern die Bestimmung 
und Anwendung der Prinzipien in diesen Disziplinen wider- 
spruchslos und sachgemäß erfolgt sei (vgl. §§ 5, 10; 6, 6). 
Daneben stellt sich nun aber hier noch eine dritte, wichtige 
Aufgabe der Philosophie zum ersten Male ein. Ursprünglich 
bildeten Naturwissenschaft und Naturphilosophie eine Ein- 
heit. Als ihre Trennung eintrat, wurden die Grenzen ver- 
änderlich, nicht sowohl in der zur Wissenschaftslehre, als 
vielmehr in der zur Metaphysik führenden Eichtung. Nicht 
wenige von den Theorien und Prinzipien, die wir heute als 
einen Besitz der Naturwissenschaft ansehen, haben früher 
zur Naturphilosophie gehört. Atomismus und Deszendenz- 
theorie, die Prinzipien der Erhaltimg des Stoffes und der 
Energie, um nur diese zu nennen, haben lange vor ihrer 
Einverleibung in die Physik, Chemie und Biologie als An- 
nahme, Vermutung oder Lehre in der Naturphilosophie eine 
Stätte gefunden. D. h. aber mit anderen Worten: diese 
Disziplin hat Erkenntnisse, die in einer Einzelwissenschaft 
später auf Grund zureichender Nachweise für ihre Gültigkeit 
aufgenommen worden sind, vorweggenommen. Das ist 
es nun, was wir oben als dritte Aufgabe der Philosophie be- 
73 
//. Kapitel. Die philosophischeri Disziplinen. 
zeichnet haben. Namentlich, wenn auch nicht ausschließ- 
lich, haben wir in der speziellen Metaphysik die Erfüllung 
dieser Aufgabe zu erwarten. 
10. An naturphilosophischer Literatur sei genannt: 
B.Bavink: Allgemeine Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft. 
Eine Einführung in die moderne Naturphilosophie, 1914. 
E. Dennert: Die Weltanschauung des modernen Naturforschers, 1907 
(kritische Darstellung einiger naturphilosophischer Lehren der Gegen- 
wart). 
H. Dingler: Die Grundlagen der Naturphilosophie (wissenschaftstheo- 
retische und psychologische Voraussetzungen), 1913. 
J. Geyser: Allgemeine Philosophie des Seins und der Natur 1915 (ver- 
tritt den katholischen Standpunkt). 
C. Gutberiet: Naturphilosophie, 3. Aufl. 1900 (eine spezielle Meta- 
physik vom katholisch-christlichen Standpunkt aus). 
W. Ostwald: Vorlesungen über Naturphilosophie, 3. Aufl. 1905 (ver- 
sucht eine energetische Weltanschauvmg durchzuführen). 
W. Ostwald: Moderne Naturphilosophie. I. Die Ordnungswissen- 
ßchaften. 1914. 
T. Pesch: Die großen Welträtsel. Philosophie der Natur, 2 Bde. 3. Aufl. 
1907. (Ein geschickter Versuch, die Grundzüge der aristotelisch- 
scholastischen Philosophie als mit der modernen Naturwissenschaft 
vereinbar nachzuweisen.) 
C. Read: The Metaphysics of Nature, 2. ed. 1908 (entwickelt die An- 
nahme einer Allbeseelung der Natvu"). 
J. Reinke: Die Welt als Tat. Umrisse einer Weltansicht auf natur- 
wissenschaftlicher Grundlage, 6. Aufl. 1916. 
O. Schmitz-Dumont: Naturphilosophie als exakte Wissenschaf t, 1895. 
(Berücksichtigt auch die Mathematik und Psychologie und ist vor- 
wiegend erkenntnistheoretisch gehalten.) 
F. Schnitze: Philosophie der Naturwissenschaft, 2 Bde. 1881—1882. 
(Der erste Band enthält eine Geschichte der Natm'philosophie, die 
mit Kant abschließt, der zweite eine Erkenntnistheorie der Natur- 
wissenschaft im Sinne eines »kritischen Empirismus«.) 
Sodann weisen wir auf die eingehende Behandlung der 
Logik der Naturwissenschaften in Wundts Logik II hin 
(vgl. § 6, 0), außerdem auf 
E. Becher: Philosophische Voraussetzungen der exakten Naturwissen- 
schaften, 1907. 
E. Becher: Naturphilosophie* (Sonderabdruck aus P. Hinneberga 
Kultur der Gegenwart, Teil III, Abt. VII 1) 1914. 
E. Becher: Weltgebäude, Weltgesetze, Weltentwicklung*. (Ein Bild 
der unbelebten Natur.) 1915. 
74 
§ 7. Die Natur phüosojjhie. 
P. du Bois-Reymond: Über die Grundlagen der Erkenntnis in den 
exakten Wissenschaften, 1890. 
H. Driesch: Naturbegriffe und Natururteile, 1904. Philosophie des 
Organischen, 2 Bde. 1916. 
Chr. V. Ehrenfels: Kosmogonie. 1916. 
F. Enriques: Probleme der Wissenschaft. Deutsch von K. Grelling, 
2 Bde. 1910. 
E. V. Hartmann: Die Weltanschauung der modernen Phy.sik, 1902, 
2. Aufl. 1909. 
H. Graf Keyserling: Prolegomena zur Naturphilosophie, 1910. 
H. Kleinpeter: Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegen- 
wart, 1905. 
K. Kr Oman: Unsere Natiu"erkenntnis, 1883, aus dem Dänischen über- 
setzt von Bendixen {erkenntnistheoretische Untersuchtmgen über 
die Mathematik und die Naturwissenschaft). 
Fr. K. Lipsius: Naturphilosophie und Weltanschauung, 1918. 
E. Meyerson: Identite et Realite, 2. ed. 1912. 
P. Natorp: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, 
1910. 
K. Pearson: TheGrammar of Science, 3. ed. 1911 (eine sehr empfehlens- 
werte logisch-erkenntnistheore tische Einführung in die Naturwissen- 
schaft). 
O. V. d. Pfordten: Vorfragen der Naturphilosophie, 1907. 
H. Poincar^r Wissenschaft und Hypothese. Deutsch von Linde- 
mann, 3. Aufl. 1914. Der Wert der Wissenschaft. Deutsch von 
E. und H. Weber, 2. Aufl. 1910. 
P. Volkmann: Erkenntnistheoretische Grundzüge der Naturwissen- 
schaften, 2. Aufl. 1910. 
W. Wundt: Die Prinzipien der mechanischen Naturlehre, 1910. 
Über das vielerörterte »Eelativitätsprinzip« handeln: 
O. Berg: Das Relativitätsprinzip* in: Abhandlimgen der Friesschen 
Schule. N. F. III. 1912. 
A. Brill: Das Relativitätsprinzip, 2. Aufl. 1914. 
A. Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, 
(gemeinverständlich) [?] 1917. 5. Aufl. 1920. 
M. Laue: Das Relativitätsprinzip*, Jahrbücher der Philosophie, Bd. I, 
1913. 
H. A. Lorentz, A. Einstein, H. Minkowski: Das Relativitäts- 
prinzip, 1913 (enthält die grundlegenden Arbeiten). 
L. Schlesinger: Raum, Zeit und Relativitätstheorie*, 1920. 
M. Schlick: Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, 1917. 
E. Sellien: Die erkenntnistheoretische Bedeutimg der Relativitäts- 
theorie, 1919. 
K. Weyl: Raum, Zeit, Materie, 1918. 
75 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Zur Geschichte der Naturphilosophie haben wertvolle 
Beiträge geliefert: 
E. Dühring: Kritische Geschichte der Prinzipien der Mechanik, 3. Aufl. 
1887. 
K. Lasswitz: Geschichte der Atomistik, 2 Bde. 1890. 
E. Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 5. Aufl. 1904. 
C. Siegel: Geschichte der deutschen Naturphilosophie*, 1913. 
H. Schmidt: Geschichte der Entwicklungslehre, 1918. 
§ 8. DIE PSYCHOLOGIE. 
1. Der Name tpvxoXoyla, psychologia scheint von Me- 
lanchthon zuerst als Name für Vorlesungen, von G o cl e n i u s 
und seinem Schüler Casmann am Ende des IG. Jahrhunderts 
zuerst als Büchertitel gebraucht worden zu sein. Er hat sich 
aber in Deutschland nur langsam, hauptsächlich seit Chr. 
Wolff ihn anwandte, eingebürgert; in Frankreich und Eng- 
land ist er erst im 19. Jahrhundert der herrschende geworden. 
Im Anschluß an die erste systematische Darstellung dieser 
Disziplin, an die Schrift des Aristoteles »Über die Seele« 
{jtsQi y>vxfjg) war der Name de anima üblich gewesen; ge- 
legentlich wurde auch de mente humana gesagt, namentlich 
seit Descartes ausdrücklich dem Wor te mens vor anima den 
Vorzug gegeben hatte. Der Titel Seelenlehre, auch wohl Seelen- 
kunde, kommt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 
und darüber hinaus häufig als eine einfache Ül^ertragung des 
Fremdwortes Psychologie vor. Zu den wiederholt gebrauch- 
ten Bezeichnungen unserer Wissenschaft gehört auch der Titel 
Psychische Anthropologie, der sich unter dem Einfluß der 
schon bei Casmann vorgenommenen Einteilung der Anthro- 
pologie in eine Psychologie und eineSomatologie (Körperlehre) 
entwickelt zu haben scheint. — Als einen Teil der »Physik« 
hat man die Psychologie seit Piaton und Aristoteles 
bis in das 17. Jahrhundert hinein behandelt (vgl. § 7, 1). 
Daneben wurde ihr im Mittelalter auch wohl ein Bezirk in 
einer allgemeinen Geisterlehre, Pneumatologie, eingeräumt. 
Bacon führt die Anthropologie, in der auch von der Seele 
die Eede ist, bereits als eine selbständige i)hilosophische 
Disziplin neben der Naturphilosophie auf, und Chr. Wolff 
76 
§ 8. Die Psychologie. 
rechnet die Psychologie neben der Kosmologie ;5ur Meta- 
physik (vgl. § 3, 3. 4). Seine Unterscheidung zwischen einer 
rationalen und einer empirischen Psychologie bereitet 
zugleich die Trennung einer einzelwissenschaftlichen Seelen- 
lehre von der Philosophie vor, die jedoch erst in der 
Gegenwart wirklich einzutreten beginnt. Da diese Ent- 
wicklung noch nicht zum Abschluß gelangt ist, so müssen 
wir in unsere Schilderung des Inhalts der Psychologie manches 
aufnehmen, was eine bloß einzelwissenschaftliche Be- 
deutung hat. 
2. Die Definition der Psychologie ist von der Bestimmung 
ihres Gegenstandes, der Seele bzw. der psychischen Vor- 
gänge abhängig. Wie bei der »Physik« läßt sich auch hier 
zunächst eine Verengerung des Begriffsumfanges feststellen. 
Dem Altertum und dem Mittelalter gilt alles, was sich selbst 
bewegt und was lebt als beseelt. Aristoteles definiert die 
Psyche (Seele) als die Entelechie des Leibes, d. h. als ein Etwas, 
das die im Leibe angelegte Möglichkeit des Lebens verwirklicht. 
Wachstum und Ernährung gehen ebenso von ihr aus, wie 
Sinnes Wahrnehmung, Bewegung und Verstandestätigkeit. Den 
Pflanzen ist sie nur das Prinzip der Ernährung, den Tieren 
und Menschen auch der Grund der Empfindung. Der Mensch 
hat aber außerdem eine denkende Seele, einen »Geist« 
{vovc;), der mit dem Leibe nicht vermischt ist und daher 
auch dessen Vergänglichkeit nicht teilt, als Sitz der höchsten, 
unmittelbar gewissen Wahrheiten. Diese Lehre von einer 
zweifachen Seele wurde von der christlichen Philosophie 
nicht angenommen. So wurde 1311 auf dem Konzil zu 
Vienne die Lehre des Thomas von Aquin von der Einheit 
der Seele zum Dogma erhoben. Auch nach Descartes gibt 
es nur eine einzige Seele im Menschen, und das ist die ver- 
nünftige {Väme raisonnable). Die Seele denkt bloß und denkt 
immer, während die Lebensvorgänge, die der Mensch mit 
den Tieren gemein hat, rein automatisch, mechanisch vor 
sich gehen. Darum haben die Tiere und erst recht die 
Pflanzen überhaupt keine Seele. Aber der Begriff der 
vernünftigen Seele ist bei Descartes keineswegs der näm- 
liche, wie bei Aristoteles. Denn das Denken (cogitatio) 
77 
//. Kapitel. Die philosophischen Diszipliyien. 
umfaßt nach ihm alles, dessen wir uns unmittelbar bewußt 
sind, wird also in den Begriff des Bewußtseins oder der 
unmittelbaren Erfahrung umgedeutet. Zum »Denken« wer- 
den daher auch ausdrücklich Vorgänge gerechnet, die nach 
Aristoteles mit dem »Geiste« nichts zu tun haben, wie Er- 
innerung, Einbildung, Wahrnehmung. 
3. Völlig klar ist jedoch die von Descartes vertretene 
Ansicht bei ihm noch nicht entwickelt. Denn neben den 
eigentlich und allein auf die Seele bezogenen Tätigkeiten 
kennt er auch solche, die, wie er sagt, aus der Verbindung 
der Seele mit dem Leibe hervorgehen und somit auf beide 
zurückgeführt werden müssen. Das sind die Triebe, die 
Affekte und die Sinnesempfindungen. Und wenn er von den 
Tieren gelegentlich erklärt, daß sie so sehen, wie wir sehen 
würden, wenn unser Geist mit etwas ganz anderem beschäf- 
tigt wäre, so scheint er ihnen doch auch Seele und Bewußt- 
sein zuzuschreiben. Wie Leibniz so hat auch der englische 
Philosoph John Locke (vgl. § 5, 2) stark auf die Psychologie 
und die Auffassung ihres Gegenstandes einge\sirkt. Alle 
Außendinge nehmen wir nach ihm durch die Sinne wahr, 
durch Sensation, alle Tätigkeiten unserer Seele durch einen 
inneren Sinn, durch Reflexion. Den Gegenstand der Psycho- 
logie kann man demnach als das durch innere Wahrnehmung 
Erkennbare bezeichnen, und die Psychologie ist die Lehre 
von den Objekten der inneren Wahrnehmung oder kurz die 
Wissenschaft von der inneren Erfahrung. Schon 
bei Locke selbst gerät jedoch diese bis in die Gegenwart 
hinein vertretene Auffassung in eine erhebliche Schwierig- 
keit. Es werden nämlich die Sinnesqualitäten, das Gelbe, 
Weiße, Heiße, Kalte, wie er sagt, durch die äußere Wahr- 
nehmung von uns erfahren. Zugleich aber erklärt er in 
bezug auf derartige »sekundäre Qualitäten« der Körper 
(vgl- § 7, 5), daß sie keine Eigenschaften derselben, sondern 
an einen wahrnehmenden Geist gebunden sind. Es gibt 
also etwas, was nicht durch innere Wahrnehmung erkannt 
wird und doch psychisch ist. Da nun die Psychologie in 
der Tat die Sinnesqualitäten die von der Naturwissenschaft 
ausgeschieden worden sind, füi- sich in Anspruch genommen 
78 
§ 8. Die Psychologie. 
hat, 80 bleibt nichts übrig, als die Locke sehe Bestimmung 
preiszugeben. - Der große Fortschritt, der sie trotz alledem 
auszeichnet, liegt darin, daß sie zuerst eine rein empirische 
Begrenzung des Gegenstandes der Psychologie zu geben ver- 
sucht. Nicht die Seele als Substanz, als metaphysische 
Trägerin der psychischen Tatsachen, sondern die in der inneren 
Erfahrung vorgefundenen, unmittelbar von jedem zu be- 
obachtenden Erscheinungen sind der Ausgangsgegeiistand 
der wissenschaftlichen Untersuchung. Auf die Seele werden 
wir bei dieser Untersuchung vielleicht geführt, aber ihr 
Begriff und die Entscheidung der Frage, ob es eine Seele 
als besonderes substanzielles Wesen gibt, kann hiernach nur 
das Ergebnis, nicht die Voraussetzung der psychologischen 
Ai'beit sein. 
4. Während sich bei Descartes und Locke das Gebiet 
der psychischen Tatsachen durch das Merkmal des Bewußt- 
seins oder der inneren Wahrnehmung begrenzt findet, hat 
sodann Leibniz durch die Anerkennung unbewußter 
Seelenvorgänge eine bedeutsame Erweiterung des Begriffs 
»psychisch« eingeführt. Er versteht darunter teils die als 
solche nicht erkannten Elemente eines Bewußtseinsganzen 
{petites perceptions) : das Geräusch jeder einzelnen Welle 
liefert einen elementaren Beitrag zu dem von uns wahrge- 
nommenen Bauschen des Meeres, ist aber für sich unhörbar; 
teils Vorgänge, welche zwischen zeitlich getrennten Bewußt- 
seinszusammenhängen vermitteln: im traumlosen Schlaf 
haben wir ein unbewußtes Seelenleben. Auch gehört ein an- 
geborener geistiger Besitz, wie er in den Grundbegriffen und 
Grundsätzen unseres Verstandes vorliegt, sowie ein erworbe- 
ner, vom Gedächtnis aufbewahrter Schatz von Vorstellungen 
zum Unbewußten. Durch diese Annahme eines unbewußten 
Psychischen wurde es prinzipiell möglich, eine in sich ge- 
schlossene Theorie der Seelenerscheinungen aufzustellen, ins- 
besondere das Auftreten von Bewußtseinsinhalten zu er- 
klären, ohne auf körperliche, physiologische Prozesse Eück- 
sicht zu nehmen. Damit erhebt sich der namentlich im 
19. Jahrhundert lebhaft gewordene Widerstreit zwischen 
einer reinen und einer physiologischen Psychologie oder 
79 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Psycliophysik (in Fechneis Sinne). Während jene mit 
Hilfe der Annahme unbewußter psychischer Dispositionen 
und Vorgänge, die entweder nach Analogie der bewußten 
gedeutet werden oder gar keine nähere Bestimmung ihres 
Wesens erfahren, zu einem psychologischen System gelangt, 
geht diese den erfahrungsgemäß bestehenden Abhängigkeits- 
beziehungen zwischen den psychischen und den physischen 
Vorgängen nach und versucht da, wo die Bewußtseinstat- 
sachen keine Erklärung auseinander zulassen, wo daher von 
jener Eichtung das Unbewußte herangezogen zu werden 
pflegt, durch Hinweis auf physiologische Vorgänge oder Ge- 
setze die zu erklärenden Erscheinungen verständlich zu 
machen. Beiden Eichtungen ist durch die Metaphysik der 
Weg bereitet worden, der einen Psychologie durch den 
Spiritualismus, den Leibniz selbst vertrat, der physio- 
logischen Psychologie durch den Materialismus. Aber ab- 
hängig sind sie von solchen metaphysischen Lehren nicht, und 
darum haben sich gelegentlich auch ein Dualismus oder Monis- 
mus mit ihnen verbunden. Die Entscheidung über ihre Eich- 
tigkeit liegt daher auch nicht sowohl in den ihnen angehefteten 
metaphysischen Folgerungen, die noch gegenwärtig zuweilen 
gegen die eine oder andere ausgespielt werden, als vielmehr 
in ihren Leistungen für die Erkenntnis des Seelenlebens. 
5. Der erste einflußreiche Versuch, den Zusammenhang 
zwischen Leib und Seele aufzuklären, ist, wenn wir von 
den mannigfachen Bestrebungen, der Seele oder ihren Teilen 
besondere Orte, Wirkungszentren im Körper nachzuweisen,^ 
absehen, die namentlich von Claudius Galenus (im 2. Jahr- 
hundert n. Chr.) aufgestellte und von Des cartes fortgebildete 
Theorie der Lebensgeister {spiritus animales). Diese sind 
nach der im wesentlichen kartesianischen Anschauung, die 
noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von dem Phy- 
siologen und Philosophen Platner vertreten wurde, die feurig- 
sten, beweglichsten und feinsten Teilchen der Blutflüssigkeit, 
die allein aus den Adern in die engen Nervenröhrchen ein- 
dringen. Ihre Bewegung zur Seele hin oder von ihr fort ver- 
mittelt den Verkehr zwischen ihr und dem Körper. (Die Zirbel- 
drüse des Gehirns [glans pinealis] wurde dabei von D e s c ar t e s 
80 
§ 8. Die Psychologie. 
alB der eigentliche Seelensitz angesehen.) Im 16. und 17. Jahr- 
hundert widmete man sich eifrig dem Studium und einer phy- 
siologischen Deutung der Affekte, die man sich durch P^in- 
wirkung der Lebensgeister auf die Seele bedingt dachte. 
iVls weitere Entwicklungsstufe innerhalb der physiologi- 
schen Psychologie verdient die Theorie der Assoziation i) 
und Aufbewahrung der Vorstellungen im Gedächtnis er- 
wähnt zu werden, welche Hartley {Ohservations on man 
1749), dessen Ansichten später von Priestley weitergeführt 
wurden und Bonnet (Essay de psychologie 1755) im An- 
schluß an die Annahme einer Schwingungsfähigkeit der 
Nerven-) ausgebildet haben. Gegenüber allen diesen unvoll- 
kommenen und unhaltbaren Lehren haben erst im 19. Jahr- 
hundert umfassendere und sichere Anschauungen Platz ge- 
griffen. Die Psychologie der Sinneswahrnehmung, die sich 
auf die Unterstützung von Seiten der Sinnesphysiologie 
schon früher angewiesen sah, und die Psychopathologie, 
die Lehre von den Störungen des normalen Seelenlebens, 
haben dazu in erster Linie den Grund gelegt. Nach- 
dem bereits Lötze (Medizinische Psychologie oder Phy- 
siologie der Seele 1852, 2. Aufl. 1896) und Fechner 
(Elemente der Psychophysik 2 Bde. 1860, 3. Aufl. 1907) 
dem Gedanken einer allgemeinen Bedingtheit der psy- 
chischen Vorgänge durch physische näher getreten waren, 
ist er bei Wundt (Grundzüge der physiologischen Psycho- 
logie 1. Aufl. 1874) so gefaßt worden, »daß das psychische 
Geschehen regelmäßig von bestimmten physischen Er- 
') Sind zwei Erlebnisse, z. B. Wahrnehmungen, gleichzeitig oder in 
\inmittelbarer Folge im Bewiißtsein, so bildet sich zwischen »Spuren«, 
die sie im Gedächtnis hinterlassen, eine Verknüpfung (»Assoziation«). 
Infolgedessen wird, wenn die Erinnerung an die erste Wahrnehmimg 
wieder auftaucht, auch die an die zweite sich einstellen. Durch Asso- 
ziation sind die Worte mit ihren Bedeutungen, die Gesichtsbilder der 
uns bekannten Personen und Sachen mit ihren Namen, muttersprach- 
liche mit fremdsprachlichen Worten, Geschichtetatsachen mit Jahres- 
zahlen usw. verknüpft. Das Gesetz der Assoziation hat also einen sehi' 
umfangreichen Geltimgsbereich im Seelenleben. ^) Die heutige Physio- 
logie faßt die Vorgänge in den Nerven als aus chemischen und elek- 
trischen Prozessen bestehend auf. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 6 
81 
II. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Bcheinungen begleitet ist, und daß zwischen diesen inneren 
und äußeren Lebensvorgängen durchgängig gesetzmäßige Be- 
ziehungen stattfinden^)«. Dies Prinzip wird als das Prinzip 
oder Axiom des psychophysischen Parallelismus be- 
zeichnet. 
6. Die reine Psychologie hat im 18. Jahrhundert in Tetens 
(Philosoph sehe Versuche über die menschliche Natur und 
ihre Entwicklung, 2 Bde. 1777^)) einen hervorragenden Ver- 
treter gefunden, der sich namentlich gegen die von Hartley 
und Bonnet entwickelte physiologische Theorie der Vor- 
stelluugsverbinduug wandte. Mit voller Konsequenz ist 
diese Richtung aber erst von Herbart^) und Beneke*) 
ausgebildet worden, wobei jener die Metaphysik und Mathe- 
matik neben der Erfahrung als Grundlage seines Systems 
ansieht und verwendet, dieser dagegen rein empirisch ver- 
fahren will. Dort ist das Resultat eine »Statik und Mechanik 
des Geistes«, welche die Gesetze entwickelt, die angeblich 
für das Gleichgewicht, sowie das Kommen und Gehen der 
Vorstellungen bestehen, und das Bewußtsein wird nur 
als ein Raum betrachtet, über dessen »Schwelle« die Vor- 
stellungen unter gewissen Bedingungen ihres Gegensatzes 
und ihrer Stärke treten oder in dem sie sich erhalten. Be- 
ueke nimmt dagegen Urvermögen der Seele an, die durch 
Reize angefüllt werden, ferner unbewußte Spuren oder An- 
gelegtheiten, die von jedem Bewußtseinsvorgang zurück- 
bleiben, imd Grundprozesse, die z. T. gänzlich auf die Vor- 
aussetzung eines unbewußten psychischen Geschehens ge- 
gründet sind. In der neuesten Zeit hatte die reine Psycho- 
logie ihren bedeutendsten Vertreter in Th. Lipps f 1^14 
(Leitfaden der Psychologie, 3. Aufl. 1909), der von dem 
Gedanken ausgeht, daß die Gleichsetzung des unbewußten 
Psychischen mit i>hysiologischen Vorgängen eine metaphy- 
1) Dieser Satz fehlt in der 5. und 6. Aufl. (3 Bde., 1908—1911). 2) Neue 
Ausg. des I. Bdes. v. W. Uebele in: Neudrucke seltener philosophischer 
Werke, herausg. v. d. Kantgesellschaft, Bd. IV, 1913. =>) Psychologie 
als Wissenschaft, 2 Bde. 1824 — 1825 und das kürzere Lehrbuch zur 
Psychologie 1816 u. ö. *) Lelirbuch der Psychologie als Naturwissenschaft, 
4. Aufl. 1877, und lesenswerte Psychologische Skizzen, 2 Bde. 1825—1827. 
82 
§ 6. Die Psychologie. 
Hische Annahme sei, die in die Erfahrungsvvissenschaft Psy- 
chologie niclit hineinspielen dürfe, und es zugleich füi* metho- 
dologisch zweckmäßiger hält, bei einer rein psychologischen 
Betrachtung zu bleiben. 
7. Neben diesen beiden ilauptrichtungen der Psychologie 
gibt es auch noch eine d e s k r i p t i v e od er a n a 1 y t i s c h e (auch 
phänomenologische genannt), die sicli auf die bloße Be- 
schreibung und Zergliederung der im Bewußtsein gegebenen 
Phänomene beschränkt. Sie will das Seelenleben, wie es 
erscheint, schildern, und die komplexen Bewußtseinstat- 
sachen auf das Zusammenwirken einfacher Inhalte und Vor- 
gänge zurückführen. Zu einer solchen Psj-chologie haben 
aus früherer Zeit besonders Locke und Hu nie wertvolle 
Beiträge geliefert. Ausdrücklich formuliert worden ist ihre 
Aufgabe von dem scharfsinnigen F. Brentano f 1917 
(Psychologie vom em]Dirischen Standpunkte I, 1874). In 
der Anerkennung der Notwendigkeit einer Beschreibung und 
Zergliedeining der Bewußtseinstatsachen stimmen übrigens 
die reinen und physiologischen Psychologen mit dieser Eich- 
tung völlig überein; sie bildet gewissermaßen ein neutrales 
Gebiet, das vom Streit der Parteien ausgeschlossen ist. Der 
Gegensatz beginnt erst, sobald im Interesse einer umfassen- 
deren Theorie des psychischen Daseins und Geschehens über 
dieses Gebiet hinausgegangen wird. Nur der Verzicht auf 
eine derartige Erweiterung mit Hilfe des Unbewußten oder 
physiologischer Erkentnisse ist es demnach, was die deskrip- 
tive Psychologie als eine eigentümliche Eichtung charakteri- 
siert. Auf eine Kritik dieser Auffassung und der anderen 
einzugehen müssen wir uns an dieser Stelle versagen. Wir 
nehmen daher im folgenden den Faden wieder auf, den wir 
mit der Besprechung der Eichtungen in der Psychologie 
fallen gelassen haben. 
8. Eine letzte Form der Bestimmung des Gegenstandes 
der Psychologie hat sich in der Gegenwart angebahnt. Sie 
ist von Mach^), Avenarius u. a. begründet worden. Da- 
nach ist unsere volle Erfahrung, das, was wir unmittel- 
M »Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen 
zum Psychischen*, 1886, 8. Aufl. 1919. 
6* 
83 
II. Kavitel. Die philosophischen Disziplinen. 
bar erle})en, mag es ein 8inneseindruck oder eine Körper- 
beschaffeulieit genannt Averden können, an sich, d. h. vor jeg- 
licher Unterordnung unter psychologische oder naturwissen- 
schaftliche Begriffe, weder etwas Physisches noch etwa^ 
Psycliisches und darum auch durch die Besonderheit einei 
äußeren und einer inneren Wahrnehmung, wie Locke 
meinte, keineswegs in schlichter Selbstverständlichkeit als 
das eine oder das andere zu erkennen. Tiefer liegende Merk- 
male sind es vielmehr, die uns in der vollen Erfahrung das 
Psychische von dem Physischen und umgekehrt zu unter- 
scheiden veranlassen und gestatten. Für die Eichtigkeit 
dieser Ansicht spricht vor allem der Umstand, daß die naive 
vorwissenschaftliche Denkweise und die Wissenschaft über 
den Umfang beider Begriffe abweichender Meinung sind. 
Jene behauptet nämlich, daß die Dinge außer uns farbig 
sind, tönen, schmecken; die Naturwissenschaft belehrt uns 
dagegen seit Galilei (vgl. § 7, 5) darüber, daß die Sinnes- 
qualitäten keine Eigenschaften der Körper sind, sondern als 
solche nur in unserer Wahrnehmung existieren. Wie wäre 
dieser Widerspruch möglich, wenn man es der Erfahrung 
gleich anzusehen vermöchte, was in ihr physisch, was psy- 
chisch ist? Die neue Definition des Psychischen gibt nun 
dafür die Erklärung. Sie lautet: Gegenstand der Psycho- 
logieist dasjenige in und an der vollen Erfahrung 
eines Individuums, was von ihm selbst abhängig 
ist. Gegenstand der Naturwissenschaft ist dagegen das 
von ihm Unabhängige. Um aber zu erkennen, ob ein B von 
einem A abhängig ist oder nicht, muß man sich über ihr Ver- 
hältnis zueinander genauer unterrichten. Das entscheidende 
Verfahren ist dabei die Untersuchung ihrer Veränderungen; 
wenn nämlich B von A abhängig ist, so muß eine Änderung 
von A auch eine entsprechende von B nach sich ziehen. Es 
liegt auf der Hand, daß bei solcher Lage der Dinge Wider- 
sprüche zwischen der Auffassung des naiven Bewußtseins 
und der Wissenschaft sehr wohl möglich sind. Denn die 
Feststellung der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von uns 
selbst pflegen wir im praktischen Leben nur im Verhältnis 
zum Willen, zu unserer Willkür vorzunehmen. Da es von 
84 
^ 8. Die Psychologie. 
unserem Willen nicht abhängt, ob wir den Himmel blau 
oder die Wiese giiin sehen, so schließen wir, daß diesen Ob- 
jekten die genannten Eigenschaften auch wirklich zukommen. 
Die umfassender und genauer verfahrende wisssenschaftlich 
Untersuchung aber weist auch in solchen Fällen eine Ab- 
liängigkeit von uns, den erfahrenden Individuen, nach. 
Nenne ich das, was in meiner Erfahrung, von mir selbst 
abhängig ist, das Subjektive, das andere das Objektive, 
so kann man nun auch einfach die Psychologie als die Wissen- 
schaft vom Subjektiven definieren. In ähnlicher Weise 
bestimmt E. Reininger das Psychische als die subjektive 
oder Erlebnis- Seite an allem Vorfindbaren (Erfahrbaren), 
das Physische als dessen Yorstellungsseite (inhaltliche. Be- 
stimmtheit). Mau könnte in demselben Sinne von Ich- und 
Gegenstandsseite reden. Da diese stets zusammen vorkom- 
men, so ist nach Reiniger in jeder Erscheinung Physisches 
und Psychisches; eine reale Trennung zwischen beiden un- 
möglich. Das rein Psychische und das rein Physische gelten 
ihm als »fiktive Grenzfälle«. 
9. Die Definition des Psychischen als des Subjektiven hat 
den Vorzug auf ein lediglich erfahrungsmäßiges Merkmal 
sich zu stützen, sie begrenzt also nur den Ausgangsgegen- 
stand der psychologischen Forschung, ohne den Ergebnissen 
der Untersuchung vorzugreifen. So können auch Vertreter 
der verschiedenen oben gekennzeichneten Richtungen sich 
zu ihr bekennen. Der Gegensatz der Richtungen tritt erst 
hervor, sobald das Subjekt, das Individuum näher bestimmt 
wird, zu dem die psychischen Vorgänge in Beziehung ge- 
bracht werden. Nach Lipps ist es die Psyche, ein reales 
Feh, zu dem sie gehören, eine Substanz unkörperlicher (im- 
materieller) Art, über die wir nach ihren Wirkungen im 
Bewußtsein Aussagen machen können. Nach den physio- 
logischen Psychologen aber haben wir an Stelle des Unbe- 
wußten bestimmte Funktionen des Körpers als die Bedin- 
gungen zu betrachten, die dem Subjektiven zugrunde liegen. 
Sie stützen sich hierbei auf Tatsachen, die von einer auf die 
seelischen Erscheinungen Rücksicht nehmenden Physiologie 
und Pathologie ermittelt worden sind. Das große Gebiet der 
85 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Sinnesenipfindungen ist auf solchen Wege in genauer Einzel- 
untersuchung allmählich mit bestimmten Eigentümlichkeiten 
der Sinnesorgane und der im Gehirn gelegenen Sinneszentren 
in Zusammenhang gebracht worden. Durch das Studium 
der Sprachstörungen im weiten Umfange sind wir darüber 
aufgeklärt, daß auch der Verlauf unserer Gedanken und Vor- 
stellungen von physiologischen Vorgängen in wesentlicher 
Abhängigkeit steht. Dasselbe lehren zahlreiche Beobach- 
tungen über das krankhafte Gefühls- und Willensleben füi 
diese Seiten des Seelenlebens. Gewiß ist noch vieles un- 
sicher und dunkel, aber das bisher Geleistete verdient als 
eine nach unanfechtbaren Methoden gewonnene wissenschaft- 
liche Errungenschaft anerkannt und nicht als eine meta- 
physische Vermutung abgefertigt zu werden. Übrigens um- 
grenzt die oben gegebene Definition nur das Gebiet der Er- 
fahrung, mit dem es die Psychologie zu tun hat, ohne sagen 
zu wollen, daß der Nachweis der Abhängigkeit vom Subjekt 
die einzige Aufgabe dieser Wissenschaft sei. In erster Linie 
besteht dämm auch für die so definierte Psychologie die 
Aufgabe der Beschreibung und Zergliederung, die wir oben 
als dem Streite zwischen reiner und physiologischer Psycho- 
logie entrückt bezeichnet haben (vgl. § 8, 7). 
10. Auch die Methode hat in dem Entwicklungsgange der 
Psychologie eine wichtige Eolle gespielt. Lange, namentlich 
seit Locke, hat die Methode der Selbstbeobachtung 
als die einzige Grundlage psychologischer Forschung gegolten. 
Zwar wurde auch die Beobachtung fremden Seelenlebens 
und die Untersuchung objektiver Zeugnisse für ein solches, 
wie sie etwa in Briefen oder Lebensbeschreibungen oder in 
Kunstleistungen vorliegen, anerkannt und betrieben. Direkt 
und voraussetzungslos ließ sich jedoch nur aus der eigenen 
Erfahrung eines jeden der Aufschluß über die Seelenvorgänge 
gewinnen. Durch Kant und Comte wurde nun aber der 
Glaube an die Zuverlässigkeit, ja an die Möglichkeit jener 
Methode erschüttert. Kant wies darauf hin, daß durch 
die Absicht der Beobachtung der zu beobachtende Vorgang 
selbst verändert werde. Comte behauptete gar die Un- 
möglichkeit der Methode, weil man sich nicht selbst in 
86 
§ 6. Die Psychologie. 
einen Beobachter und ein davon verschiedenes Objekt der 
Beobachtung spalten könne. Es ist nun besonders seit 
B. H. Weber (1849) die experimentelle Methode in der 
Psychologie aufgekommen. Es werden dabei Erlebnisse, 
die man untersuchen will, unter genau kontrollierbaren Be- 
dingungen in Personen herbeigeführt. Die Aussagen, die 
diese Versuchspersonen über ihre eigenen Erlebnisse auf 
Grund von Selbstbeobachtung machen, werden aufgezeichnet, 
miteinander verglichen und verwertet. Dadurch wurden 
die Bedenken, die einer bloßen Selbstbeobachtung gegen- 
über geltend gemacht werden können, zum Teil gegenstands- 
los. Die Hauptförderer der Anwendung dieser neuen Methode 
in der Psychologie sind G. Th. Fechner und W. Wundt 
gewesen. 
O. Külpe und seine Schüler haben sie auch gegenüber 
den Denk-, Willens- und Gefühlsvorgängen anzuwenden ge- 
sucht. Je unmittelbarer freilich diese Vorgänge als dem 
Ich (Subjekt) zugehörig erlebt werden, um so schwerer ist 
es, sie zum Gegenstand der Beobachtung zu machen, sie 
also zu objektivieren. 
11. Die Psychologie beschäftigt sich — so können wir 
nunmehr zusammenfassen — mit Erfahrungstatsachen, die 
in Beziehung zu solchen stehen, die von der Naturwissen- 
schaft behandelt werden, und sie bedient sich dabei wie 
diese der empirischen Methode. Dadiirch ist sie als eine 
Einzelwissenschaft hinreichend charakterisiert, und es 
ist nur noch eine Frage der Zeit, wann diese Bedeutung 
auch äußerlich durch einen von der Philosophie unabhän- 
gigen, selbständigen Betrieb dieser naturwissenschaftlich 
gerichteten experimentellen Psychologie zur Geltung kommen 
wird. Daraus ergibt sich das Eecht der naturwissenschaft- 
lichen (objektivierenden) Psychologie (mit Münsterberg 
u. a.) eine subjektivierende entgegenzustellen, die das Er- 
leben von vorwiegend subjektivem Charakter auf Grund 
unmittelbaren (»intuitiven«) Bewußtseins von ihm zu schil- 
dern hat. Es soll hier nicht genauer auf die besonderen 
Aufgaben der Psychologie und deren Arten (Psychogenesis, 
[ndividualpsychologie, differentielle Psychologie, Völker- 
87 
11. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Psychologie, Pathopsychologie) eingegangeu werden. Hin- 
gewiesen sei aber auf das Problem einer philosophischen 
Psychologie, die etwa ähnlich, wie die Naturphilosophie 
(vgl. § 7, 8) den Naturwissenschaften gegenüber, an eine 
eiuzehvissenschaftliche Psychologie anzuknüpfen hätte. Erste 
Versuche einer solchen philosophischen Phsychologie (be- 
sonders der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Psycho- 
logie) liegen vor in Wundts Logik III, ferner in Eehmkes 
Lehrbuch der allgemeinen Psychologie, 2. Aufl. 1905, und 
Ladds The Philoso phy of Mind, 1895. Dazu gesellen sich 
H. Münsterberg: Grundzüge der Psychologie* I, 1900. 
J. Petz ol dt: Einführung in die Philosophie der reinen Er- 
fahrung [von xlvenarius] I, Die Bestimmtheit der Seele, 
1900, P.Natorp: Allgemeine Psychologie 1,1912, W. Strich. 
Prinzipien der psychologischen Erkenntnis, 1914 und E. Kei- 
ninger, Das psychophysische Problem* (Eine erkenntnis- 
theoretische Untersuchung) 1916, W. Stern, Die Psycho- 
logie und der Personalismus* 1917). 
12. Aus der überaus reichen Literatur der Gegen waH 
zur Psychologie nennen wir neben den bereits oben ange- 
führten Werken folgende: 
Für Anfänger dürften sich am meisten eignen: 
J. R. Angell: Psychology, 3. ed. 1905. 
H. Ebbinghaus: Abriß der Psychologie*, 6. Avifl. 1918. 
Hagemann-Dyroff: Psychologie, 8. Aufl. 1911. 
H. Hoff ding: Psychologie in Umrissen, 5. Aufl. 1914 (aus dem Däniacheit 
von Bendixen). 
W. James: Psychologie. Deutsch von M. Dürr. 1909. 
O. Külpe: Vorlesungen über Psychologie, herausgegeben von K. Büh- 
ler, 1920. 
A. Messer: Psychologie*, 1914, 2. Aufl. 1920. 
Ch. S. Myers: A Text-Book of experimental Psychology, 1909. 2. Auti 
1911. 
A. Pfänder: Einfülu'ung in die Psychologie*, 1904. 
G. F. Stou4,: A Manual of Psychology, 3. Aufl. 1913. 
E. B. Titchener: Lehrbuch der Psychologie. Deut.-^ch \oiiO. Klomm. 
2 Bde. 1910—1911. 
St. Witasok: Grundlinien der Psychologie, 1908. 
W. Wundt: V^orlesungen über Menschen- und Tieiiseele, 6. Aufl. 191 '.v 
Grundriß der Psychologie. 14. Aufl. 1920. Völkerpsychologie 10 Bde. 
1910—1919. 
88 
^ ti. Die Psychologie. 
Für eiiigchonderes Studium sind bestimmt: 
K. Ebbinghaus: Grundzügo dor Psychologie, I. 4. Aufl. 1911.) \oi, 
K. Bühlor. II. fortgeführt von E. Dürr, IQlli. 
Th. Elsenhau.s: Lehrbuch der Psychologie, 1912. 
.1. Fröbes S. J. : Lehrbuch der experiment<iilen Psj'chologie, 1. lid.. 
l. Abt. 1915, 2. Abt. 1917. 
.1. (ley.ser: Lehrbuch der allgemeinen Psychologie, 2. Aufl. 1012. 
\V. James: The Principlen of Psycholog y, 2 Bde. 1890. 
F. Jodl: Lehrbuch der Psychologie, 2 Bde., 3. Aufl. 1908. 
Cj. T. Ladd and R. S. Woodworth: Elements of Fhysiological Faycho- 
logy, 1911. 
l). Mercier: Psychologie, übersetzt von L. Habrich. 2 Bde. 1906/7 (\oii 
neuscholastischem Standpunkt). 
<:. F. Stout: Analytic Psychology, 2 Bde. 1896. 
Als Beiträge zur Geschichte der P.sychoiogie seien hervoi- 
gehoben : 
M. Uessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie, 2. Aufl. 1. 
1902 (von Leibniz bis Kant). — Abriß einer Geschichte der Psycho- 
logie, 1911. 
(). Klemm: Geschichte der Psychologie, 1911. 
H. Siebeck: Geschichte der Psychologie, 2 Bde. 1880. 1884 (reicht 
bis Thomas v. Aquino). 
R. Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie 
und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. 1892. 
G. Villa: //O psychologio contemporanea, 2. Aufl. 1911. 
Nur historische Interessen befriedigt auch das vom Stand- 
punkte Herbarts geschriebene, im Texte veraltete, aber 
in den Anmerkungen einen reichen geschichtlichen Stoff zu- 
sammenstellende Werk von: 
W. Volkmann: Lehrbuch der Psychologie, 4. Aufl. 2 Bde. 1894-1895 
Eine kiitische Betrachtung der sog. »Geheimwissenschaf- 
ten« (Okkultismus) nimmt in Angriff: 
M. Dessoir: Vom Jenseits der Seele. 1917. 
§ 9. DIE ETHIK UND DIE EEOHTSPHILOSOPHIE. 
1. Aristoteles führt den Ausdruck ethisch {rj&ixog) 
zur Bezeichnung einer besonderen Klasse von dgcrai (Tüch- 
tigkeiten) ein und begründet damit den engeren Begriff der 
Tugend, der Sittlichkeit. In seiner Schule ^iirden dann 
seine Schriften, soweit sie sich mit solchen Problemen be- 
89 
II. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
scliäftigtcn, ethische Werke {xa rj&ixa) genannt. Daneben 
aber findet sich in der Einteilung der Wissenschaften von 
Aristoteles für ein Gebiet, welches die Eegeln für das 
menschliche Handeln entwickelt, das Wort praktische Philo- 
sophie (vgl. § 3, 2). Cicero übersetzt die aristotelische 
Bildung »ethisch« mit moralis, und bei Seneca erscheint 
die »Ethik« unter dem Titel einer philosophia moralis. Da- 
mit sind die drei Ausdrücke angegeben, die auf die hier zu 
behandelnde philosophische Disziplin am häufigsten ange- 
wandt worden sind: Ethik, Moralphilosophie und praktische 
Philosophie. Der an dritter Stelle angeführte Terminus ist 
allerdings nicht auf die ethische Wissenschaft allein beschränkt. 
Schon im Altertum rechnete man dazu auch die Staatslehre 
(Politik) und die Wirtschaftslehre (Ökonomik), wozu Chr. 
Wolff, der die Bezeichnung »praktische Philosophie« auf- 
nahm, noch das Naturrecht (die Eechtsphilosophie) fügte 
(vgl. § 3, 4). Unter der Ethik aber versteht man eine Lehre 
vom sittlichen Verhalten, d. h. von sittlicher Be- 
urteilung, sittlicher Gesinnung (Motiven, Zwecken, Grund- 
sätzen), sittlichen Aufgaben (Idealen, Pflichten) und sitt- 
lichen Handlungen. Da über die Bedeutung dessen, was 
sittlich genannt wird, sehr verschiedene Ansichten bestehen, 
wie sich gleich zeigen soll, so verzichten wir hier auf die 
Definition dieses Begriffs und treten sofort in die geschicht- 
liche Betrachtung ein. 
2. Ethische Bestimmungen finden sich bereits in der vor- 
sokratischen Philosophie der Griechen. So betonen die 
Pythagoreer die Bedeutung von Maß und Harmonie auch 
für unser T)raktisches Verhalten, so fordert Heraklit (f 475 
V. Chr.) die Unterordnung des Ein^ielnen unter die All- 
gemeinheit und stellt Demokrit die Glückseligkeit {tvöm- 
fiovla) als die dauernde Freudigkeit der Seele unter den 
Gütern des Lebens am höchsten. Aber erst Sokrates hat 
eine wissenschaftliche Begründung dessen, was sittlich sei, 
zu liefern versucht, im Gegensatz gegen die Sophisten, die 
die Allgemeingültigkeit der sittlichen Vorschriften bestritten 
und dadurch die verpflichtende Kraft derselben bedrohten. 
Das Wesen einer Sache gibt nach Sokrates über deren Auf- 
90 
§ 9. Die Ethik und die Bechtsphilosophie. 
gäbe und Zweck Aufschluß. Weiß man, was der Mensch 
ist, so weiß man auch, was er soll. Über das Wesen aber 
kann uns nur eine begriffliche Untersuchung, die Feststellung 
der allgemeingültigen Merkmale, aufklären. Die Tugend 
kann hiernach ein Gegenstand des Wissens und durch Lehre 
mitgeteilt werden, und nicht gegen besseres Wissen, sondern 
nur aus Unwissenheit wird, wie Sokrates meint, gefehlt. 
In dem Streben nach Vorteil und Nutzen (insbesondere für 
die Gemeinschaft, zu der man gehört) findet er das Wesen 
aller Sittlichkeit, die somit auf der Einsicht in diese Zwecke 
des Lebens beruht. Ist aber sittliches Wollen und Handeln 
nur von der Einsicht abhängig, so können dafür ebenso all- 
gemein geltende Regeln entwickelt werden, wie in dem Ge- 
biete des Wissens. 
3. An diesen Standpunkt seines Meisters knüpft Piaton 
an. Er erweitert ihn durch seine Metaphysik, seine Ideen- 
lehre. Was nicht zum Wesen einer Sache gehört, das Kon- 
krete der sinnlichen Erscheinung, der Stoff, die Materie, ist 
nach ihm das Prinzip des Schlechten; der Begriff, die Idee 
ist aber nicht nur das Muster und Vorbild für das Einzelne, 
welches das Wesen in stofflicher Erscheinung andeutet, son- 
dern auch die Eealität im eigentlichen Sinne (vgl. § 3, 1). 
Die vollkommenste Idee ist die des Guten, die mit dem gött- 
lichen Wesen zusammenfällt. Pia ton unterscheidet vier 
Tugenden, die sämtlich die Herrschaft der Vernunft, der 
Einsicht über das Wollen und Handeln des Menschen aus- 
drücken: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtig- 
keit. Ein von der tJbung dieser Tugenden erfülltes Leben 
macht allein wahrhaft glücklich. Die Hauptquelle für Pia- 
tons ethische Ansichten ist sein Dialog über den Staat 
(ytoXiTsia, Republik). 
Die erste systematische Darstellung der Moralphilosophie 
hat Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik ge- 
geben. Hier wird als die Grundfrage das Problem des höch- 
sten Gutes, d. h. eines Gutes, das um seiner selbst willen 
begehrt wird und um dessen willen alle anderen Güter be- 
gehrt werden, eingeführt. Daß dieses höchste Gut die Glück- 
seligkeit sei, darin stimmen, wie Aristoteles sagt, alle 
91 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
nbcreiu. Aber worin ])esteht sie? Er definiert sie als die 
vernunftgemäße Tätigkeit der Seele (V-'u^^S ivsQysia xarä 
Xoyov). Diese aber ist für Aristoteles das theoretisch er- 
kennende und danach handelnde Geistesleben des Denkers, 
also diejenige Art des Lebens, die er selbst führte. Auch 
als Betätigung der Seele im Sinne der Tugend {tpvxrt^ 
hsQysia xar aQErrfv) bezeichnet er die Glückseligkeit, hi 
der Tugend aber findet er eine dauernde Gemütsrichtuug, 
eine Gesinnung, die zwischen einem Zuviel und einem Zu- 
wenig die richtige Mitte trifft. Die Vernunft ist das not- 
wendige Hilfsmittel, um diese Mitte zu erkennen. Im Gegen- 
satz zu der metaphysischen Ethik Piatons erscheinen hier 
die Grundzüge einer psychologischen Ethik. Bemerkens- 
wert ist noch die Unterscheidung einer esoterischen oder 
wissenschaftlichen und einer exoterischen oder populären 
Ethik bei Aristoteles und den Späteren. 
4. Keine wesentlich neuen Gedanken treten uns bei den 
Stoikern und Epikureern entgegen. Jene stellen die all- 
gemeine Forderung auf, naturgemäß zu leben. Da nun abei 
die Vernunft die eigentliche Natur des Menschen bildet, so 
heißt hier naturgemäß leben soviel wie vernunftgemäß leben. 
Der dieser Vorschrift entsprechende »Weise« ist der wahrhaft 
Gute. Er allein leistet die tugendhafte, pflichtgemäße Hand- 
lung (to xaxoQd^cona) und ist frei von Leidenschaften, welche 
die »Toren« unterjochen. Der Begriff der Pflicht (ro xad^rjxov) 
und die Annahme gleichgültiger, indifferenter, weder guter 
noch böser Dinge (t« döiag>0Qa) sind die wichtigsten Neue- 
rungen der stoischen Ethik, in der zwischen einer dogma- 
tischen (wissenschaftlichen) und einer paränetischen (er- 
mahnenden), d. h. praktischen, angewandten Lehre unter- 
schieden wird. 
Nach den Epikureern ist zwar das Glück, die Lust, da^; 
höchste Gut, aber auch sie halten die (der stoischen Leiden- 
schaftslosigkeit, Apathie, ähnliche) unerschütterliche, ins- 
besondere von den Begierden nicht gestörte Seelenruhe, At<<- 
raxie, neben der Gesundheit des Körpers für den eigentlichen 
Inhalt eines glücklichen Lebens. Die Einsicht ist darum 
auch nach ihnen die Bedingung für die Erlangung die><e>; 
92 
§ y. Die Ethik und die Rechtsphilosophie, 
Gutes, und so verkörpert sich auch ilmen das Ideal einer 
sittlichen L'ebenRfühiiing in einem »Weisen«. 
5. Eine neue Lebensanschauung in Verbindung mit einer 
neuen Religion bringt das Christentum. Seine eigentüm- 
lichen ethischen Gedanken mit der entsprechenden religiösen 
Fassung und Begründung sind folgende: 1. Der Mensch ist 
böse von Jugend auf, in Schuld und Gottentfremdung ver- 
strickt und ohne Kraft, sich von selbst aus diesem Zustand 
zu befreien. Dem natürlichen Menschen kommt die Er- 
lösung, die Versöhnung mit Gott durch den Gottessohn, der 
die Schuld der Menschheit als der Eeine, Fleckenlose tilgt, 
indem er der Sünde Sold, den Tod, erleidet. Denen, die 
an den Erlöser glauben, seine frohe Botschaft annehmen, 
wird Seligkeit, Frieden, Vergebung der Sünden zuteil. 2. -Vlle 
Menschen sind vor Gott gleich als seine Kinder und somit 
unter sich Brüder. Kein trennendes Moment, wie Nationali- 
tät, Stand, Geschlecht, begründet einen Unterschied in ihrer 
Stellung zum Höchsten. Darum lautet das ethische Grund- 
gesetz des Christentums: Liebe deinen Nächsten wie dich 
selbst! Und der Nächste kann Jeder sein oder werden. 
3. Zum Himmel, zur Seligkeit führt nur der schmale Pfad 
der Tugend, der Barmherzigkeit, Friedfertigkeit, Herzens- 
reinheit, das neue Leben, zu dem man wiedergeboren werden 
muß, indem man im Vertrauen auf den Erlöser den alten 
Adam auszieht. Zur Verdammnis aber führt die breite 
Straße des Lasters, auf der diejenigen wandeln, die ihren 
natürlichen Neigungen zu folgen fortfahren. Zur Umkehr 
uns zu bestimmen liegt in unserem Willen, doch können wir 
das Ziel der Eeinigung, des neuen Lebens in und mit Gott, 
nicht aus eigener Kraft erreichen. Von diesen Gedanken 
haben der zweite und dritte auch unabhängig von der reli- 
giösen Einkleidung eine dauernde Geltung erworben. Die 
Annahme einer ethischen Gleichberechtigung aller Menschen 
und einer ethischen Kausalität (wir ernten auch auf morali- 
schem Gebiet nur was wir säen) sind von den späteren Ethi- 
kern fast ausnahmslos vertreten worden. 
6. In der Abhängigkeit von den religiösen Vorstellungen 
bleibt die Ethik innerhalb der mittelalterlichen Philosophie 
93 
//. Kapitel. Die philosophischeil Disziplinen. 
durchweg. Die antike Ethik galt als eine heidnische, aus 
der man sich zwar einige passende Begriffe aneignete, wie 
den platonischen Gegensatz zwischen Erscheinung und Idee, 
Sinnlichkeit und Vernunft, nicht jedocli ohne diesen Be- 
griffen eine Umbiegung in christliche Anschauungen zuteil 
werden zu lassen. Vielfach neigte die christliche Ethik des 
Mittelalters zu Aslcese und Weltflucht. Als ein hochbedeut- 
sames ethisches Problem tritt das der Willensfreiheit 
auf und damit der Gegensatz zwischen dem Indeterminismus, 
der eine Freiheit der Willensentscheiduiig von der Natui- 
notwendigkeit behauptet, und dem Determinismus, der eine 
solche bestreitet. Der Humanismus geht wieder auf die 
antike Moral zurück und erneuert besonders die stoischen 
und die epikureischen Lehren. Die Eeformation aber 
stellt ihrer leitenden Idee nach nicht nur den religiösen, 
sondern auch den sittlichen Menschen auf sich selbst, indem 
sie ihn von der Vormundschaft der Tradition und der Kirche 
befreit. Der Glaube des Einzelnen wird zur entscheidenden 
Macht. Zugleich wird der Gegensatz und Wertunterschied 
zwischen Priestern und Laien, Heiligem und Weltlichem be- 
seitigt und die Berufserfüllung im irdischen Dasein schlecht- 
hin als die sittliche Aufgabe anerkannt. Obwohl Luther 
das Buch ethicorum des Aristoteles Ȋrger denn kein Buch, 
straks der Gnaden Gottes und christlichen Tugenden ent- 
gegen« genannt hatte, wird es doch von Melanchthon bei 
seiner Bearbeitung der Ethik stark benutzt, wenn auch mit 
christlichen Begründungen und Wendungen durchsetzt. 
7. Der Grundgedanke der ethischen Bestrebungen in der 
neueren Philosophie ist die Unabhängigkeit der Sittlich- 
keit von der Eeligion, der Ethik von der Theologie und der 
Metaphysik. Als erster in einer neueren Sprache fordert sie 
bereits der französische Skeptiker Charron (f 1603). Die 
Religion erzeugt nach ihm nicht die natürliche Moral, sondern 
bildet deren Folge und Krone. Die Wege, die zu diesem 
Zwecke einer selbständigen Begründung der Sittlichkeit ein- 
geschlagen werden, sind freilich sehr verschieden. Sie lassen 
sich unter zwei umfassende Gesichtspunkte bringen, den 
aprioristischen und den empiristischen. Nach jenem 
94 
§ 0. Die Ethik und die Rechtsphilosophie. 
wurzelt die Moral in einem ursprünglichen, nicht weiter ab- 
leitbaren, also a jyriori, nicht durch Erfahrung gerechtfertigten 
Besitz des Menschen, eigentümlichen Gefühlen, Grundsätzen 
und Willensrichtungen. Der Apriorismus sieht also den In- 
halt der sittlichen Ideen bzw. Vorschriften oder die sitt- 
lichen Gemütserregungen als ursprünglich und eigenartig an 
und gründet den wissenschaftlichen Aufbau der Ethik auf 
Voraussetzungen, deren Richtigkeit als fraglos und einleuch- 
tend gültig angesehen wird. Xach dem Empirismus ist der 
Inhalt der ethischen Ideen, Urteile und Pflichten nur aus 
der Erfahrung zu gewinnen und nur durch Erfahrungen 
(über den Folgen der verschiedenen Verhaltungsweisen) zu 
rechtfertigen. Durch mannigfaltige empirische Einflüsse ent- 
wickelt sich in der Geschichte der Menschheit und beim Ein- 
zelnen eine sittliche Gesinnung und Handlungsweise. Dabei 
wird die Ethik auch wohl in enge Abhängigkeitsbeziehun^ 
zu bestimmten Erfahrungswissenschaften gesetzt, insbeson- 
dere zur Psychologie, Biologie und Soziologie. Die Gesetze 
des Lebens und seiner Erhaltung, der Zusammenhang und 
die Entwicklung der seelischen Vorgänge, die Bildung und 
Gliederung menschlicher Gemeinschaftsformen gelten dann 
als Voraussetzungen einer Theorie des Sittlichen. 
8. Den Apriorismus vertreten in der englischen Moral- 
philosophie die Intuitionisten, so genannt, weil sie die 
ethischen Prinzipien füi' unmittelbar gewiß und intuitiv er- 
kennbar, ähnlich den geometrischen Axiomen, halten. Zu 
ihnen gehören Cudworth (f 1688), Butler (f 1752) und 
die schottische Schule mit Thomas Eeid (f 1796) an 
der Spitze. Sodann hat Kant einen Apriorismus aus- 
gebildet. Unter unseren praktischen Grundsätzen finden sich 
nach ihm neben hypothetischen Vorschriften (in der Form: 
wenn du dies Ziel willst, mußt du diese Mittel wollen) 
solche Forderungen, die unbedingt, kategorisch, gelten, 
wie das Gebot: Du sollst nicht lügen! Sucht man die all- 
gemeine Form dieser kategorischen Forderungen auszu- 
drücken, so ergibt sich der von Kant sog. »kategorische 
Imperativ«. Er lautet: Handle so, daß die Maxime deines 
Willens jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung 
95 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
werden könne! Bestimmten Inhalt gewinnt man für dieses 
formale Gebiet, indem man bei den Gelegenheiten zum Han- 
deln, die das Leben mit sich bringt, die beabsichtigte Hand- 
Inngsweisc prüft nnter dem Gesichtspunkt: Kann ich wollen, 
daß alle so handeln? Auch z. B. gegen mich selbst? Die 
ethischen Hauptschriften Kants sind die »Grundlegung zur 
Metaphysik der Sitten« 3 785 und die »Kritik der praktischen 
Vernunft«, 1788. Auch Schopenhauer (»die beiden Grund- 
probleme der Ethik«, 2. Aufl. 1860) ist Apriorist, denn die 
einzige »Grund-Triebfeder« der Handlungen von moralischem 
Wert, der freien Gerechtigkeit und dc^r echten Menschen- 
liebe, ist ein ursprünglich menschliches Gefühl, das Mitleid, 
ein »erstaunenswürdiger, ja mysteriöser« Vorgang, von dem 
nur die Metaphysik eine weitere Erklärung zu geben ver- 
mag (durch die Lehre von der Wesenseinheit aller wollenden 
Wesen). Das letzte Fundament der Ethik liegt somit »in 
der menschlichen Natur selbst«. Ferner ist Herbart (All- 
gemeine praktische Philosophie, 1808) der Ansicht, dai3 »das 
Löbliche und Schändliche eine urspiiingliche Evidenz besitzt, 
vermöge deren es klar ist, ohne gelernt und bewiesen zu 
werden«. Die grundlegenden sittlichen Urteile enthalten 
gewisse Musterbegriffe, »praktische Ideen«, wie die der inne- 
ren Freiheit, der Vollkommenheit, des Wohlwollens, die 
sich nicht weiter ableiten lassen. In der Gegenwart haben 
besonders F. Brentano, und von ihm beeinflußt, Phäno- 
menologen im Sinne Husserls (vgl. § 5, 12), besonders 
M. Scheler und A. Messer, eine apriorische Evidenz für 
die sittlichen Wertschätzungen behauptet und durch ein- 
dringende Analyse zu erweisen gesucht (vgl. § 28, 11). Als 
fertig angeboren brauchen diese deshalb nicht zu gelten. 
9. Locke ist der erste entschiedene Gegner des (psycho- 
logisch gerichteten) Apriorismus, der angeborene praktische 
Grundsätze annimmt. Ihm gegenüber vertritt er eine empi- 
ristische Auffassung von der Entstehung der sittlichen Ideen 
und Normen. Daneben ist er freilich der Ansicht, daß man 
aus der Voraussetzung Gottes und der vernünftigen Natui- 
der Menschen alle Eegeln für das Handeln mit Notwendig- 
keit ableiten könne. Insofern ist er selbst Apriorist (da er 
96 
§ 9. Die Ethik und die Rechtsphilosophie. 
die Geltung des Sittlichen nicht auf die Erfahrung giündet). 
Diese Grundansicht hat in klassischer Form das berühmte 
Werk des Spinoza {Ethica ordine geometrico demonstrata 
1677) durchgeführt, das die Ethik aus metaphysischen und 
aus psychologischen Prinzipien abzuleiten sucht. Indessen 
bei der Schilderung der menschlichen Knechtschaft (d. h. der 
Abhängigkeit von den natürlichen Affekten und Trieben), 
sowie bei der Lehre von der menschlichen Freiheit, d. h. von 
der Überwindung jener Herren des Willens durch die intel- 
lektuelle Liebe zu Gott, die Hingabe an die reine Erkenntnis, 
benutzt Spinoza doch tatsächlich die Erfahrung (wenn er 
es sich auch nicht zugesteht). Um so entschiedener und 
offener wird dagegen der Empirismus von Helvetius 
(t 1771) und Holbach (vgl. § 7 6) gegen alle theologische 
Begründung der Moral geltend gemacht. In der Gegenwart 
hat er sich vielfach zum Evolutionismus weitergebildet, 
der die Geschichte der Menschheit, die Entwicklung der 
Gesellschaft heranzieht, um die Tatsachen des Sittlichen zu 
erklären, diese also nicht mehr aus der Bildung des Wollens 
und Denkens im einzelnen Individuum hervorgehen läßt. 
In dieser Form ist der Empirismus als die herrschende An- 
schauung der modernen Ethik zu betrachten, die z. B. bei 
H. Spencer und Wundt ihre Ausprägung gefunden hat. 
Dem Empirismus gehören ferner die zahlreichen Versuche 
englischer Ethiker des 18. Jahrhunderts an, die Moralphilo- 
sophie auf die Psychologie zu gründen. Einen noch sehr un- 
vollkommenen Anfang in dieser Richtung macht Shaftes- 
bury ^). Er sieht das Wesen des Sittlichen in der mit Glück- 
seligkeit verbundenen Harmonie zwischen den selbstischen 
und den sozialen Affekten und meint, daß bei der Reflexion 
auf unseren inneren Zustand Gefühle der Billigung und 
Mißbilligung (die er »Reflexionsaffekte« nennt) entstehen, 
und er schreibt diesen eine das menschliche Wollen bestim- 
mende Triebkraft zu. Ihre Fortsetzung erhält diese psycho- 
logische Grundlegung der Ethik durch Hutcheson (f 1747), 
*) An inquiry concerning Virtue and Merit 1699, später umgearbeitet 
in den Charakteristics of Men etc. 1711 u. ö., deutsch in der Philos. 
Biblioth. von P. Ziertraann. 
KUIpe. FhUosophie. 10. Auil. 7 
97 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
der in dem Wohlwollen das einzige, auf egoistische Er- 
wägungen nicht zurückführbare, Motiv sittlicher Handlungen 
erblickt, sowie namentlich durch Hume und A. Smith^), 
die sich um eine Theorie der Sympathie (d. h. der »Ein- 
fühlung« in andere) bemühen. Gegenwärtig gilt die Psy- 
chologie allgemein als eine der Hilfswissenschaften der 
Ethik. Ferner sind, besonders von Spencer, Biologie und 
Soziologie als Hifswissenschaften der Ethik gewürdigt und 
benutzt worden. 
10. Diese kurze Übersicht der Bemühungen um die Be- 
gründung einer selbständigen ethischen Wissenschaft zeigt, 
daß die empiristische Richtung allmählich immer mehr an 
Boden gewonnen hat. In der Tat ist die moderne Ethik 
zumeist teils evolutionistisch, teils biologisch, psycho- 
logisch, soziologisch. Sie hat sich damit zu einer Erfahrungs- 
wissenschaft entwickelt, die ihre Tatsachen, ihr eigentüm- 
liches Objekt in dem sittlichen Verhalten, d. h. in der 
sittlichen Beurteilung von Handlungen und Gesinnungen, 
Grundsätzen und Absichten, und in dem dadurch be- 
stimmten praktischen Verhalten findet und die Erklärung 
dieser Tatsachen mit Hilfe von psychologischen, sozio- 
logischen, entwicklungsgescliichtlichen Betrachtungen und 
Gesetzen zu geben versucht. Einige Bemerkungen mögen 
diese Auffassung der Ethik näher begründen und erläutern 
und zugleich dartun, was eine solche empiristische Ethik 
leisten kann und was sie nicht zu leisten vermag. 
Die Handlungen in ihrer anschaulichen Tatsächlichkeit 
sind weder gut noch böse. Während die ästhetischen Prä- 
dikate, das Schöne und das Häßliche, auf die wahrnehmbare 
Erscheinung selbst bezogen werden, bedingen die ethische 
Wertung einer Handlung Annahmen über den Zweck, dem 
sie dient, die Absicht, der sie entsprungen ist, die Gesinnung, 
die sich in ihr kund gibt. Fassen wir alle diese subjektiven 
Bedingungen einer Handlung mit dem Wort Wille zusam- 
men, so ergibt sich die Wahrheit des Satzes von Kant: Es 
ist überall nichts in der Welt, ja auch außerhalb derselben 
*) Theory of Moral Sentiments 1759, deutsch 1791. 
§ 9. Die Ethik und die Bechtsphilosophie. 
zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte 
gehalten werden, als allein ein guter Wille. Die Ethik 
hat sich nun der Aufgabe unterzogen, den Begriff des Gu- 
ten, des sittlichen Wertes allgemeingültig zu bestimmen und 
daraus die einzelnen Anwendungsformen desselben verständ- 
lich zu machen. Aber die mannigfaltigen Versuche, die in 
dieser Eichtung angestellt worden sind, haben bisher noch 
zu keinem allgemein anerkannten Ergebnis geführt. In der 
Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit der Theorien gleicht 
die Ethik der Metaphysik. Nur die Tatsache, daß über- 
haupt Forderungen, Normen, Ideale von Menschen als ver- 
bindlich angesehen, gewisse Zwecke vor anderen erstrebt 
und gewisse Motive vor anderen gebilligt werden, darf man 
als eine von allen Ethikern zugestandene bezeichnen, wäh- 
rend über den Inhalt der gültigen Wertungen, Eegeln, Ziele 
und Absichten die Anschauungen erheblich weit ausein- 
andergehen. 
11. Diese Verschiedenheit der Theorien, mit der wir uns 
weiter unten in dem Abschnitte über die ethischen Eichtun- 
gen eingehender beschäftigen werden, hat zum Teil in dem 
geschichtlichen Wechsel der ethischen Ansichten selbst ihren 
Grund. Manches von dem, was wir heute als sittlich, gut 
oder verdienstlich betrachten, ist früher anders beurteilt 
worden oder hat überhaupt keine Aufgabe des menschlichen 
Willens gebildet. Aber auch in einer bestimmten Epoche, 
etwa in der Gegenwart, entfaltet sich ein offener und un- 
ausgeglichener Widerstreit der Eichtungen. Diesen können 
wir nicht, wie bei der Metaphysik, auf die Unsicherheit 
hypothetischer Ergänzungen der wissenschaftlichen Welt- 
erkenntnis zurückführen. Hier mirß er vielmehr in erster 
Linie auf Avirklichen Unterschieden in dem ethischen Ver- 
halten selbst beruhen, die zwischen einzelnen Individuen, 
einzelnen Gesellschaftsklassen usw. bestehen, und wohl 
als Folge von tatsächlich vorliegenden Unterschieden in den 
Wertungen selbst aufgefaßt werden müssen. Daraus er- 
wächst einer wissenschaftlichen Ethik die Aufgabe einer 
Ermittlung und Zergliederung der in ihrer Zeit 
herrschenden sittlichen Anschauungen, der sie sich 
99 
IL Kapitel. Die 'philosophischen Disziplinen. 
niclit entziehen darf, wenn sie niclit ein müßiges Erzeugnis 
lebensfremder Gedankenarbeit werden will. Man merkt es 
den Ethiken vielfach an, daß sie von Philosophen herrühren, 
die ihre persönliche Wertung zum allgemeinen sittlichen Ideal 
erhoben haben. Wenn z. B. Aristoteles das höchste, er- 
wünschteste • Ziel in der reinen Betrachtung des Denkens, 
Spinoza in der intellektuellen Liebe zu Gott oder in dem 
Streben nach philosophischer Erkenntnis sieht, so geht diese 
Bestimmung des höchsten Gutes offenbar von individuellen 
Bedürfnissen, nicht aber von einer unbefangenen Würdigung 
aller als sittlich geltenden Werte aus. Zu dieser Forderung 
einer möglichst weitgreifenden Sammlung und Sichtung von 
sittlichen Tatsachen tritt nun für die Ethik die weitere Auf- 
gabe, darzutun, ob und warum eine ethische Beurteilung vor 
anderen möglichen den Vorzug verdient und die ihr ent- 
sprechenden Zwecke und Normen als die sittlichen ausge- 
zeichnet werden dürfen. Von einer wissenschaftlichen Ethik, 
die auf das Machtmittel persönlicher Autorität ebenso wie 
auf die Benutzung religiöser Argumente verzichtet, könnte 
dies nur geleistet werden unter der Voraussetzung eines ob- 
jektiv und für alle gültigen Wertmaßstabes. Ob es aber 
einen solchen gibt, ist eine offene Frage. 
Auch stoßen wir hier auf eine Schranke aller empiristisch 
verfahrenden Ethik. Denn wenn sich wirklich aus der Fülle 
und Verschiedenartigkeit der in der Vergangenheit und Gegen- 
wart tatsächlich vorliegenden sittlichen Urteile ein gemein- 
samer Maßstab, d. h. ein oder einige allgemein anerkannte 
Grundurteile herausfinden ließen, so bliebe immer noch das 
Problem ungelöst: Ist das, was tatsächlich anerkannt wird, 
auch das objektiv Gültige, verdient es diese Anerken- 
nung % Diese Frage aber kann durch Hinweis auf Tatsachen — 
und darüber kommt die empiristische Ethik nicht hinaus — 
unmöglich überzeugend beantwortet werden (vgl. § 28, 9 — 11). 
Vielmehr wird der Einzelne (sofern er zu geistiger Selb- 
ständigkeit gelangt ist) sittliche Wertschätzungen als gültig 
nur anerkennen, sofern sie ihm selbst einleuchten. Hier 
liegt der relative Wahrheitsgehalt der aprioristisch-intuitiven 
Ethik. Freilich muß dabei mit der Möglichkeit gerechnet 
100 
§ 9. Die Ethik und die Rechtsphilosophie. 
werden, daß für verschiedene Menschen, Völker und Zeiten 
sich verschiedene sittliche Wertschätzungen und Ideale als 
gültig darstellen. 
Aus dem Gesagten geht auch hervor, daß die Ethik nur zum 
Teil — nämlich nur soweit sie Erfahrungswissenschaft von den 
sittlichen Tatsachen ist — als eine Einzel Wissenschaft ge- 
kennzeichnet werden kann, die mit der Hilfe anderer Einzel- 
wissenschaften, wie der Psychologie, Biologie, Soziologie, 
ihren Gegenstand behandelt. 
12. Für diesen Charakter einer Einzel Wissenschaft spricht 
auch das Verhältnis, das die empiristische Ethik gegenwärtig 
zur Metaphysik einnimmt. Seit Kant hauptsächlich ist 
einerseits die Unabhängigkeit des Sollens von Sein und damit 
der Ethik von der Metaphysik, andererseits die Wichtig- 
keit des Beitrags, den gerade sie für eine Metaphysik bei- 
steuert, allgemein anerkannt (vgl. § 4, 5. 8). Wie die Natur- 
wissenschaft oder die Psychologie mündet sie also in der Meta- 
physik, oder anders ausgedrückt; wie sich die letztere an 
jene Disziplinen als deren Ergänzung und Vollendung an- 
schließt, so sucht sie auch die Ethik weiterzuführen oder 
deren Leistungen für den Ausbau einer wissenschaftlich be- 
gründeten Weltanschauung zu verwerten! Eine Ablösung 
von der Philosophie ist darum auch für die empirisch ver- 
fahrende Ethik zu erwarten. Sie steht in dieser Beziehung 
noch weiter zurück als die Psychologie und veranschaulicht 
gleich dieser den Beruf der Philosophie, nicht nur einzel- 
wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch ganze Einzel- 
wissenschaften vorzubereiten. 
Ist diese Auffassung richtig, dann darf auch die andere 
Seite der philosophischen Untersuchung, die Wissenschafts- 
lehre, an der Ethik nicht unbeteiligt sein. Diese letztere 
arbeitet mit Voraussetzungen, die sie anderen Wissen- 
schaften (wie Psychologie, Biologie, Soziologie) entnimmt, 
und hat somit eine indirekte, eine durch die letzteren ver- 
mittelte Beziehung zur Erkenntnistheorie und Logik. Außer- 
dem aber hat sie einen Grundbegriff mit anderen Gebieten, 
der Ästhetik, der Nationalökonomie, gemein, nämlich den 
Begriff des Wertes. Die sittliche Beurteilung ist, wie wir 
101 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
schon oben (§9, 10) sagten, eine Art der Wertschätzung. So 
hat sich denn auch in der letzten Zeit das Bedürfnis nach 
einer allgemeinen Werttheorie (auch Timologie und Axio- 
logie genannt), von der nicht nur die Ethik, sondern auch 
Ästhetik und Wirtschaftslehre abhängig wären, lebhafter 
geregt. A. Döring (Philosophische Güterlehre, 1888), 
A. Meinong (Psychologisch-ethische Untersuchungen zur 
Werttheorie, 1894) und Chr. v. Ehrenfels (System der Wert- 
theorie, 2 Bde., 1897—1898) haben das Verdienst, eine der- 
artige Untersuchung, die ja auch Herbart bei seiner Ȁsthe- 
tik« (vgl. § 2, 6) vorschwebte, in umfassenderem Sinne unter- 
nommen zu haben^). Die allgemeine Werttheorie ist, insofern 
sie über die Bewußtseinstatsachen der Wertschätzung hinaus 
zu einer selbständig begründeten Eangordnung der Werte 
zu führen sucht und genötigt ist, neben den subjektiven auch 
objektive Kriterien des Wertes aufzustellen und zu verwenden, 
kein einfaches Anwendungsgebiet der Psychologie, sondern 
sie kann als ein Teil der Erkenntnistheorie angesehen werden. 
Noch mehr empfiehlt es sich, sie als selbständige philosophi- 
sche Disziplin neben diese zu stellen, da ja nicht nur die 
Erkenntnis der Werte, sondern diese selbst (ihre Arten, Be- 
ziehungen, Eangverhältnisse usw.) zu untersuchen sind. 
Jedenfalls zeigt sich hier, daß die Ethik, soweit sie nicht 
einfach sittliche Tatsachen behandelt, sondern die Frage der . 
Gültigkeit der sittlichen Wertschätzungen erörtert, zur 
Philosophie gehört. 
13. Endlich sei noch bemerkt, daß auch der Ethik, sowie 
nach früherer Mitteilung der Logik (§ 6, 6), die Bedeutung 
einer normativen Disziplin zugesprochen worden ist. Ihre 
»Normen« können freilich, soweit sie im Eahmen der empi- 
rischen Ethik sich halten, nur hypothetische Geltung 
haben und beanspruchen. Zeigt sie, welche Handlungen sitt- 
^) Vgl. dazu auch: J. C. Kreibig: Psychologische Grundlegung eines 
Systems der Werttheorie, 1902; Orestano: / valori umani, 1907; 
H. Münsterberg: Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltan- 
schauung, 1908; W. M. Urban: Valuation, its Nature and Laws, 1909; 
Th. Haering: Untersuchungen zur Psychologie der Wertung, 1912; 
E. Heyde: Grundlegung der Wertlehre, 1916. 
102 
§ 9. Die Ethik und die Rechtsphilosophie. 
liehe Werte, welche anderen dagegen sittliche Unwerte nach 
der von uns tatsächlich geübten Beurteilung sind, so kann man 
das auch so ausdrücken: wenn jemand sein Leben den tat- 
sächlichanerkannten sittlichen Wertschätzungen entsprechend 
einrichten will, so muß er sich so und so verhalten. Die nor- 
mative Anwendung setzt demgemäß die theoretische Er- 
kenntnis des Tatbestands der sittlichen Wertschätzungen 
voraus, sie besteht einfach in einer praktischen oder tech- 
nischen Umformung derselben. Eine philosophische Ethik, 
der es gelänge die objektive Gültigkeit von Wertschätzungen 
aufzuweisen, könnte schlechthin geltende "N"ormen ^kate- 
gorische Imperative) aufstellen. 
Aus der überreichen ethischen Literatur der Gegenwart 
können hier nur wenige Schriften genannt werden. In 
diesen sind leicht weitere literarische Nachweise aufzufinden. 
Für den Anfang empfehlen sich: 
G. Heymans: Einführung in die Ethik*, 1914. 
F. Jodl. Allgemeine Ethik, hrsg. von W. Börne-, 1918. 
K. Kautsky: Ethik imd materialistische Geschichtsauffassung 1906. 
9. Tausend 1919. 
Th. Lipps: Die ethischen Grundfragen, 2. Aufl. 1905. 
J. S. Mackenzie: A Manual of Ethics, 4. ed. 1901. 
A. Messer: Ethik*, 1918. Sittenlehre*, 1920. 
J. A. Muirhead: The Elements of Ethics, 3. ed. 1910. 
D. Parodi: Le probleme inorale et la pensee contemporaine, 1910. 
F. Paulsen: System der Ethik mit einem Umriß der Staats- und Gesell- 
schaftslehre, 2 Bde., 9.— 10. Aufl. 1913. 
C. Stange: Einleitung in die Ethik, 1901. 
F. Thilly: Einführung in die Ethik. Deutsch von Rud. Eisler, 1907. 
J. Unold: Grundlegung für eine moderne praktisch-ethische Lebens- 
anschauung, 1896. Aufgaben und Ziele des Menschenlebens, 4. Aufl. 
1914. Organische und soziale Lebensgesetze, 1906. 
G. Vidari: Elementi di Etica, 3. ed. 1911. 
Schwieriger sind: 
V. Cathrein, S. J. : Moralphilosophie, 5. Aufl. 2 Bde. 1911. 
H. Cohen: Ethik des reinen Willens, 2. Aufl. 1907. 
J. Dewey, and J. H. Tufts: Ethics, 1909. 
E. Dürr: Grundzüge der Ethik, 1909. 
E. V. Hartmann: Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins, 1879, 
dessen 2. Aufl. unter dem Titel »Das sittliche B3\vußtsein«, ISSG. 
W. Koppelmann: Ivritik des sittlichen Bewußtseins, 1904. 
103 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
L. Nelson: Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik. I. Bd. Ivxitik 
der praktischen Vernunft. 1917. 
M, Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik 
(Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus), 1916. 
H. Schwarz: Das sittliche Leben, 1901. 
H. Sidgwick: Die Methoden der Ethik. Deutsch von C. Bauer, 
2 Bde. 1909. 
G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, 2 Bde. 1892 — 1893. 
H. Spencer: The Principles of Morality, 2 Bde. 1892—1893. 
M. Wentscher: Ethik, 2 Bde., 1902—1905. 
W. Wundt: Ethik, 4. Aufl. 3 Bde. 1912. 
Historiscli orientieren: 
F. Jodl: Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie, I. 3. Aufl. 
1920. II. 2. Avifl. 1912. Dazu als Supplement: F. P. Fulci: Die 
Ethik des Positivismus in Italien. Übers, v. N. C. Wolf f, 1912. 
Reginald A. P. Rogers: A short History of Ethics, 1911. 
H. Sidgwick: Outlines of the History of Ethics, 4. ed. 1896. 
J. Wendland: Handbuch der Sozialethik. Die Kulturprobleme des 
Christentums, 1916. 
M. Wundt: Geschichte der griechischen Ethik, I. 1908. II. 1911. 
Th. Ziegler: Geschichte der Ethik. 1. Die Ethik der Griechen und 
Römer, 1881. II. Die christliche Ethik, 2. Ausg. 1892. 
14. Die Eeclitspliilosophie wächst geschieh tlicli aus der 
Annahme eines natürlichen, eines Natur rechtes hervor, 
das dem positiven, durch Gesetze des Staates bestimmten 
Rechte gegenübergestellt wird. Schon von Aristoteles 
wird zwischen dem von Natur und dem durch Satzung 
Gerechten oder Eechtmäßigen {q}vO£c — vofim öixacov) unter- 
schieden. Cicero prägt diesen Gegensatz in das jus naturae 
und das jus civile um. Innerhalb der römischen Rechts- 
wissenschaft wird das jus naturale als das allgemein mensch- 
liche Recht, ja als das für alle Lebewesen geltende {quod 
natura omnia animalia docuit) bezeichnet. Es ist unver- 
änderlich und besteht für jedermann, weil es in der mensch- 
lichen Natur seine Wurzel hat. Sein einziger Grundsatz ist 
der der Gerechtigkeit oder Billigkeit (aequitas), während das 
positive Recht, das jus civile und jus gentiurn, außerdem noch 
auf der Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit {utilitas) beruht. Seit 
dem 16. Jahrhundert beginnt die systematische Ausbildung 
eines Naturrechts, dessen Wurzel man in dem spezifischen 
104 
§ 9. Die Ethik und die Rechtsphilosophie. 
Wesen des Menschen, seiner Vernunft, sucht. Man ent- 
wickelt dessen Begriffe und Grundsätze auch aus reiner Ver- 
nunft, a priori, welche Auffassung insbesondere durch Hugo 
Grotius (t 1645) zur Herrschaft gelangt. Vielfach geht 
damit die Konstruktion eines Naturzustandes der Mensch- 
heit, wie bei Hobbes {Leviathan, 1651), und bei Eousseau 
Hand in Hand (Du contrat social, 1762). Indem man den 
Naturzustand als rechtlosen dem durch den Staat geschaffenen 
Eechtszustand gegenüberstellt, sucht man den Wert des 
letzteren und zugleich die Aufgaben und Grenzen der Staats- 
gewalt klar zu stellen. Bis in das 19. Jahrhundert hinein ist, 
namentlich in Deutschland, Naturrecht und Eechtsphilosophie 
zusammengefallen. Der letztere Name kommt erst zu An- 
fang des 19. Jahrhunderts auf. Damals begann auch die 
scharf ablehnende Stellung, welche die Juristen bis gegen 
Ende des Jahrhunderts dem Naturrecht gegenüber einge- 
nommen haben, seit die »historische Schule« die Veränder- 
lichkeit alles Eechts nachgewiesen hatte. Erst in den letzten 
Jahrzehnten hat die Eechtsphilosophie den relativ berech- 
tigten Kern der Naturrechtslehre wieder mehr zur An- 
erkennung gebracht (vgl. § 9, 15). 
Das Verhältnis der Eechtsphilosophie zur Ethik ist ein 
schwankendes gewesen. Im Altertum hängen beide eng 
miteinander zusammen: die Eechtsgesetze sind oder sollen 
doch wenigstens im letzten Grunde sittliche Forderungen 
sein, und sie gelten so gut wie die ungeschriebenen Gesetze 
der Götter oder des Gewissens als verbindlich für das mora- 
lische Handeln. Dagegen hat Kant Moralität und Legalität 
scharf voneinander gesondert: jene geht auf die Gesinnung, 
aus welcher eine Handlung stammt, diese auf die bloße 
Übereinstimmung der letzteren mit dem Gesetz. Herbart 
wiederum hat die Eechtsphilosophie zu einem Teil der Ethik 
gemacht, indem er die Idee des Eechts als des Mißfallens 
am Streit unter die fünf praktischen Ideen aufgenommen 
und dadurch den im engeren Sinne ethischen (§ 9, 8) zuge- 
ordnet hat. In der Gegenwart ist man geneigt, Ethik und 
Eechtsphilosophie dadurch in Verbindung miteinander zu 
bringen, daß man das gesetzlich Geforderte als eine Vor- 
105 
//. Kapitel. Die 'philosophischen Disziplinen. 
stufe des moralisch Gebotenen ansieht und in der Entwick- 
lung des Eechts eine fortschreitende Anpassung an die sitt- 
liche Beurteilung wahrnimmt. 
15. Die Eechtsphilosophie kann nach unserer Auffassung 
nur eine Philosophie der Eechtswissenschaft sein. 
Unter der Jurisprudenz verstehen wir dabei keineswegs bloß 
die wissenschaftliche Darstellung eines bestimmten positiven 
Eechts, etwa des in Deutschland oder in England geltenden, 
sondern auch die vergleichende Eechtswissenschaft, die sich 
mit den verschiedenen Eechtsformen beschäftigt, und die 
allgemeine Eechtslehre, welche die Grundbegriffe erörtert. 
Eine solche Eechtsphilosophie ist in erster Linie ange- 
wandte Wissenschaftslehre, welche die materialen und for- 
malen Voraussetzungen der Eechtswissenschaft behandelt. 
Zum Teil liegen hier Begriffe vor, die eine allgemeinere, über 
die Jurisprudenz selbst hinausführende Bedeutung besitzen 
und daher in dieser Einzelwissenschaft überhaupt nicht er- 
schöpfend dargestellt werden können, wie z. B. die Begriffe 
der Handlung, des Willens, des Versuchs, des Zufalls, der 
Freiheit, der Kausalität. Vielfach übernimmt hier die Psy- 
chologie die Vorarbeit. Auch die Soziologie ist gegenwärtig 
häufig als eine Grundlegung der Eechtswissenschaft heran- 
gezogen worden. Zum anderen Teil kommen aber Begriffe 
zur Sprache, die der Eechtswissenschaft eigentümlich sind, 
wie der des Eechts, der Strafe, der juristischen Person, der 
Zurechnungsfähigkeit. Hier haben die Juristen selbst die 
beste Voruntersuchung geliefert. Daneben fesseln das In- 
teresse des Logikers die eigentümlichen Methoden^ welche 
die Jurisprudenz, sofern sie durch ein Gesetzbuch gebundene 
Marschroute erhielt, auszubilden genötigt war. Die zweite 
Hauptaufgabe der Eechtsphilosophie besteht in der Kritik 
und Fortbildung des geltenden positiven Eechts im Sinne 
des sittlichen Bewußtseins (das ja ebenfalls in einer fort- 
schreitenden Entwicklung begriffen ist). In dieser Eichtung 
liegt die Aufstellung von Eechts- und Staatsidealen, wie sie 
schon durch Plato u. a. erfolgt; hierher gehört auch, was 
an dem Gedanken des »Naturrechts« haltbar ist. Dazu darf 
diese Idee freilich nicht verleiten, ein inhaltlich ausgeführtes 
106 
§ 9. Die Ethik und die Rechtsphilosophie. 
Eechtssystem zu entwerfen, das für alle Völker und 
Zeiten unabänderlich gelten soll. Der richtige und be- 
deutungsvolle Grundgedanke der naturrechtlichen Bestre- 
bungen besteht vielmehr darin, eine Weiterentwicklung 
des Eechts in der Eichtung des sittlichen Fortschrittes 
und im Einklang mit der Änderung der wirtschaftlichen 
und sonstigen Kulturverhältnisse anzuregen. Die Eechts- 
philosophie hat es hiernach mit einer idealen Vollendung 
der Jurisprudenz und ihres Gegenstandes, des Eechts, zu tun. 
16. Eine kurze, klare Darstellung der Eechtsphilosophie 
und ihrer Geschichte vom Standpunkte Herbarts ist: 
A. Geyer: Geschichte und Sj'stem der Rechtsphilosophie in Grund- 
zügen, 1863. 
Den katholischen Standpunkt vertritt: 
G. Graf von Hertling: Recht, Staat und Gesellschaft, 3. Aufl. 1916. 
Eine treffliche Übersicht im Sinne einer allgemeinen 
Eechtslehre geben: 
E. R. Bierling: Juristische Prinzipienlehre, 3 Bde., 1894—1905. 
A. Merkel: Philosophische Einleitung in die Rechtswissenschaft, in 
V, Holtzendorffs Enzyklopädie, 5. Aufl. 1890. 
Außerdem seien empfohlen: 
K. Bergbohm: Jurisprudenz und RechtsphiIosop?iie, I. 1891 (eine 
durch umfassende Literaturkenntnis unterstützte energische Polemik 
gegen das Naturrecht. Rechtsphilosophie ist nach dem Verfasser die 
Philosophie des positiven Rechts). 
F. Berolzheimer: System der Rechts- und Wirtschaf tsplülosophie, 
5 Bde. 1904—1907. 
Fr. W. Förster: Politische Ethik und politische Pädagogik, 1918. 
R. V. Ihering: Der Zweck im Recht, 2. Aufl., 2 Bde. 1884, 1886. 
J. Kohler: Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1909. Grundlagen des 
Völkerrechts, 1918. 
L. Nelson: Die Rechtswissenschaft ohne Recht. Kritische Betrach- 
tungen über die Grundlage des Staats- undVölkeri'echts, insbesondere 
über die Lehre von der Souveränität, 1917. (Das Festhalten an der 
uneingeschränkten Souveränität wird für die zwischen den Staaten 
herrschende Anarchie und »Machtmoral« verantwortlich gemacht.) 
H. Pesch, S. J.: Ethik und Volkswirtschaft, 1918. 
G. Radbruch: Grundzüge der Rechtsphilosophie*, 1914. 
G. Reinach: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, 
1813 (nach der phänomenologischen Methode Husserlsj. 
107 
II. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
M. SaloiTion: Dtis Problem der Rechtsbegriffe, 1907. 
R. Stammler: Die Lehre vom richtigen Recht, 1902 (eine eigenartig© 
Erneuerung naturrechtlicher Tendenzen auf dem Boden das kantischen 
Apriorismus). — Theorie der Rechtswissenschaft, 1911*). 
R. WalJaschek: Studien zur Rechtsphilosophie, 1889. 
F. V. Wieser: Macht und Recht, 1910. 
Von sozialpsychologischem Gesichtspunkt behandelt das 
Eecht: 
W. Wundt: Das Recht, 1917 (Bd. IX der Völkerpsychologie). 
Als historische Darstellungen kommen in Betracht: 
E. Cassirer: Natur- und Völkerrecht im Lichte der Geschichte und 
systematischen Philosophie, 1918. 
L. Gumplowicz: Geschichte der Staats theorien, 1905. 
K. Hildenbrand: Geschichte und System der Rechts- und Staats- 
philosophie. I. Das klassische Altertum, 1860. 
F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts. I. Geschichte der Rechts- 
philosophie, 5. Aufl. 1879. 
§ 10. DIE ÄSTHETIK. 
1. Der Name Ästhetik ist erst durch A. G. Baumgarten 
(1714 — 1762) eingeführt worden. Vorher gab es als Gesamt- 
bezeichnungen nur: über das Schöne (jieql rov xaXov Biotin), 
über das Erhabene (jisqI vrpovg Longin); über die schönen 
Wissenschaften und Künste, wobei man unter jenen Boesie 
und die Kunst der Eede, unter diesen die übrigen Künste 
verstand; endlich Benennungen einzelner Kunstlehren, wie 
Boetik, Ehetorik, de musica, de architectura usw. Diese 
letzteren sind mit der Zeit selbständige Disziplinen ge- 
worden, in denen namentlich die technischen Hilfsmittel 
der Künste dargelegt werden. Erst im 19. Jahrhundert er- 
langt der Name Ästhetik allgemeine Aufnahme zur Bezeich- 
nung einer philosophischen Disziplin, die es mit den Tat- 
sachen und Bedingungen des Wohlgefallens und Mißfallens, 
mit den ästhetischen Eindrücken überhaupt und ihrer Be- 
sonderheit in Natur und Kunst zu tun hat. 
*) Eine kiu-ze und klare Darlegung seiner Ansichten hat der Verf. in 
der »Kultur der Gegenwart« (Teil II Abteil. 8: Systematische Rechts- 
wissenschaft, 2. Aufl 1913) gegeben. 
108 
§ 10. Die Ästhetik. 
2. Beiträge zu dieser Wissenschaft sind im Altertum 
hauptsächlich von Piaton, Aristoteles und Plotin (-j- 269 
n. Chr.) geliefert worden. Plato unterscheidet zwischen einer 
Schönheit des Körpers und einer solchen der Seele, einer 
äußeren und einer inneren Schönheit; die letztere fällt für 
ihn mit der Tugend, der Sittlichkeit zusammen, und er 
fordert, daß die körperliche Schönheit der seelischen zu 
dienen habe. Das Ebenmaß räumlicher Formen, die Eein- 
heit der Töne und Farben bilden nach ihm ein an sich Schö- 
nes, dessen Vorhandensein eine eigentümliche Lust gewährt. 
Das Wesen der Kunst im engeren, ästhetischen Sinne 
dieses Wortes sieht Piaton und mit ihm auch Aristoteles 
in der Nachahmung (filfiTjötg). Als Hauptquellen für die 
platonische Ästhetik kommen (abgesehen von dem vermut- 
lich unechten Hippias major) die Dialoge Phädrus, Syrri' 
posion, Bepublik und Philebus in Betracht. Aristoteles 
bestimmt das Schöne als ein anschauliches Ganzes mit ge- 
setzmäßiger Ordnung der Teile und von mittlerer, also für 
uns überschaubarer Größe. Die Kunstlehre im engeren 
Sinne gehört zur poietischen Philosophie (vgl. § 3, 2). 
Von den ästhetischen Schriften des Aristoteles sind eine 
Rhetorik und eine Poetik, die letztere nur als Fragment, das 
namentlich die Tragödie behandelt, auf uns gekommen. In 
der Zeit nach Aristoteles wendet sich das Interesse der 
Darstellung einzelner Kunstlehren zu. Genannt seien die 
Leistungen des Aristoxenos für die Musik, des Quintilian 
für die Ehetorik, des Vitruv für die Baukunst. Erst bei 
dem Hauptvertreter des Neuplatonismus, bei Plotin, 
treffen wir wieder allgemeinere ästhetische Lehren an, 
wonach wir bei der Wahrnehmung des Schönen ein uns Ver- 
wandtes begrüßen') und die Schönheit des Wahrnehmbaren 
*) Ov yäp ßv 7td)TioTS siöev dipQ^aXfxöq TJhov fjXtoEiSijg (xfj yeyevijfxivoq ov6k 
t6 xaXöv av 'idoi xpvx^i fif] xaX^ ysvof^svri (Enn. I. 6, 9), ein Gedanke, den 
Goethe in den Zahmen Xenien so ausdrückt: 
War' nicht das Auge sonnenhaft, 
Die Sonne könnt' es nie erblicken; 
Lag' nicht in vms des Gottes eigne Klraft, 
Wie könnt' uns Göttliches entzücken ! 
10^ 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
auf der Teilnahme an der Idee {(jsroxv fWov?) beruht 
(vgl. die 6. Abhandlung der I. Enneade). Das dem Longin 
(t 273) wahrscheinlich mit Unrecht zugeschriebene Buch 
»Über das Erhabene« enthält Unterweisungen für die Eedner, 
der in der Schildei-ung wahrer Größe die bedeutendste Wir- 
kung soll ausüben können. 
3. Wir übergehen die spärlichen ästhetischen Eeflexionen 
des Mittelalters und die zahlreichen kunsttechnisehen 
Schriften der Eenaissancezeit. Im 17. und 18. Jahrhundert 
beginnt in der Ästhetik wieder eine lebhaftere, über die 
Antike hinausführende Bewegung. Unter den französi- 
schen Ästhetikern dieser Zeit ragen als die einflußreichsten 
Boileau {Art poetique 1764), Dubos {Reflexions critiques 
sur la poesie et la peinture 1719) und Batteux {Cours de 
heiles lettres 1765) hervor, die sich fast nur auf kunsttheore- 
tische Lehren beschränken. Viel bedeutender und umfassen- 
der sind die Leistungen der englischen Ästhetiker, die be- 
sonders die Psj'-chologie des Genießenden und des Schaffen- 
den (des Genies) ausbauen und sich um eine eindringende 
Zergliederung des Schönen bemühen. Nächst Shaftesbury 
(vgl. § 9, 9), bei dem das Ästhetische und das Ethische noch 
nicht hinreichend gesondert erscheinen i) sind hier vor allem 
Hutcheson {Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty 
and Virtue 1725, deutsch 1762) und Home {Elements of 
Criticism 1762, deutsch 1763 — 1766) zu nennen. Hutcheson 
betont die Unmittelbarkeit des Gefallens am Schönen, des 
Mßfallens am Häßlichen und unterscheidet eine absolute 
und eine relative Schönheit. Jene beruht auf einem Ver- 
hältnis von Einförmigkeit und Mannigfaltigkeit, das an 
einem Gegenstande für sich, wie z. B. an einer geometrischen 
Eigur, angetroffen werden kann. Die relative Schönheit da- 
gegen beruht auf der Übereinstimmung eines Gegenstandes, 
z. B. eines Porträts, mit der Vorstellung eines Urbildes, als 
dessen Nachahmung er betrachtet ^vird, also auf einer Ver- 
gleichung, einer Eelation. 
*) Vgl. Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus. Die Mora- 
listen. Deutsch von M. Frischeisen-Köhler in der Philosoph. Biblio- 
thek 1912. 
110 
§ 10. Die Ästhetik. 
4. Das Werk vou Home, das im Original wie in der deut- 
schen Übersetzung mehrfach neu aufgelegt worden ist und 
sich in der zeitgenössischen ästhetischen Literatur eines 
großen Ansehens erfreut hat, ist von Dilthey mit Eecht 
die »reifste und vollständigste analytische Untersuchung des 
18. Jahrhunderts über das Schöne« genannt worden. Eine 
eingehende Psychologie der Gefühle bildet hier den Aus- 
gangspunkt für die eigentlichen ästhetischen Ausführungen. 
Das Schöne ist nach Home eine sekundäre Eigenschaft der 
Körper im Sinne von Locke (vgl. § 7, 5), d. h. ein Subjek- 
tives und Objektives zugleich. Ohne ein fühlendes, empfäng- 
liches Subjekt gibt es keinen ästhetischen Eindruck, aber 
da nicht alles unterschiedslos gefällt, so sind gewisse Be- 
schaffenheiten der Farbe, Form, Bewegung usf. zugleich 
als objektive Bedingungen des Schönen anzuerkennen. Durch 
die Zusammenfassung aller elementaren Verbindungen zwi- 
schen bestimmten ästhetischen Erregungen und bestimmten 
Eigenschaften der erregenden Objekte, die wir nach dem 
übereinstimmenden Urteil einer höchstgebildeten Minorität 
febtstellen, entsteht ein Gesetz (Kanon) des Geschmacks. 
Das Schöne weckt in uns Gefühle, die mit keiner Begierde 
verbunden sind und den allgemeinen Charakter der Lieb- 
lichkeit und Heiterkeit an sich tragen. Auch Home unter- 
scheidet zw^ci Arten der Schönheit: die immanente (intrinsec), 
den Gegenständen an sich selbst zukommende, durch die 
Sinne empfundene, und die relative, auf einer Zweckmäßig- 
keits- oder Nützlichkeitsbetrachtung beruhende. Das Ge- 
fallen an einer regelmäßigen Gestalt gehört zu jener, das 
Gefallen an einem Wohnhause, sofern es bequem, also zweck- 
dienlich gebaut erscheint, zu dieser Art von Schönheit. 
5. In Deutschland hat zunächst Baumgarten die ästhe- 
tischen Erörterungen dadurch in Fluß gebracht, daß er die 
Ästhetik als eine neue, in dem Wol ff sehen System (vgl. 
§ 3, 4) eine Lücke ausfüllende philosophische Disziplin be- 
gründete {Aesthetica 1750, 1758). Der Logik als der Wissen- 
schaft vom oberen Erkenntnisvermögen oder von der Ver- 
standeserkenntnis tritt sie als Wissenschaft von der 
sinnlichen Erkenntnis, sds Gnoseologia inferior zur Seite. 
111 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Da nun die Vollkommenheit für die sinnliche Erkenntnis 
sich als Schönheit darstellt, so wird die Ästhetik zu einer 
Theorie des Schönen und der Kunst, und zu einer prakti- 
schen Anleitung, wie etwas Schönes hervorzubiingen sei. 
Die Schönheit kann sein eine solche der einzelnen Vorstel- 
lungen, eine solche der Anordnung, in der diese gegeben sind, 
und eine Schönheit des Ausdrucks oder der Darstellung. 
Von der Auffassung, daß es sich beim Genuß des Schönen 
um eine verworrene (weil sinnliche) Erkenntnis handle, der 
die Verstandeserkenntnis als höhere Form gegenüberstehe, 
befreite sich die Folgezeit durch die Einsicht, daß die Ge- 
fühle der Lust und Unlust gar nicht zum Erkenntnis-, aber 
auch nicht zum Begehrungsvermögen gehören, sondern einem 
eigentümlichen Empfindungs- oder Gefühlsvermögen ent- 
stammen. Um die Einführung dieses dritten Seelenver- 
mögens machen sich zuerst Sulzer und Mendelssohn, 
später Tetens (vgl. § 8, 6) und Kant verdient. Mendels- 
sohn (Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste 
und Wissenschaften, 1761) unterscheidet eine Schönheit 
der Form und des Ausdrucks und untersucht die letztere 
in den Künsten an der Hand einer Gegenüberstellung 
der natürlichen und willkürlichen Zeichen, der beiden 
Ai'ten von Ausdrucksmitteln. Sulz er hat eine sehr voll- 
ständige Übersicht des ästhetischen Wissens und Schrift- 
tums seiner Zeit in der lexikalisch geordneten »Allgemeinen 
Theorie der schönen Künste« (4 Bde. 1771 — 1775 u, ö.) ge- 
geben. 
6. In seiner »Kritik der Urteilskraft« (1790) sucht Kant 
zu zeigen, daß die Urteilskraft bei den Geschmacksurteilen 
nur von subjektiven Bedingungen abhängig ist, die man 
bei allen Menschen voraussetzen darf, und somit berechtigt 
ist, den Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben. 
Diese subjektive Bedingung besteht beim Schönen in der 
Lust an dem freien Spiel der Erkenntniskräfte Phantasie 
und Verstand, die sich allgemein mitteilen lassen muß, beim 
Erhabenen in der Lust an der Überlegenheit der Vernunft 
über die Sinnlichkeit und an unserer übersinnlichen Bestim- 
mimg (nämlich der Tugend). Die Lust am Schönen ist 
112 
§10. Die Ästhetik. 
unmittelbares interesseloses (d. h. begierdeloses) Wohlge- 
fallen an dem Formalen der Gegenstände, an der Eeinheit 
der Farben und Töne, an der Zeichnung in den bildenden 
Künsten, an der Komposition in der Musik. Neben der 
freien Schönheit gibt es freilich auch eine anhängende, 
bei der die Vollkommenheit des beurteilten Gegenstandes 
nach einem Begriff, dem er entsprechen soll, vorausgesetzt 
wird, und die man an Menschen und Gebäuden antrifft. 
Erhaben nennen wir das, was allen Maßstab der Sinne durch 
unvergleichliche Größe (das Mathematisch-Erhabene) oder 
durch unvergleichliche Kraft (das Dynamisch -Erhabene) 
übertrifft. Da wir nun die Idee solch unermeßlicher Größe 
oder Kraft nicht den Gegenständen entnehmen, sondern aus 
unserer Vernunft allein schöpfen können, so offenbart sich 
im Erhabenen die Überlegenheit der Vernunft über die Sinn- 
lichkeit. Ein Kunstwerk muß einerseits als Kunst, anderer- 
seits von allem Eegelzwang so frei wie die Natur erscheinen 
und ist somit nur als Schöpfung eines Genies, das der Kunst 
durch sein natürliches Schaffen die Eegel gibt, möglich. 
Die Künste werden von Kant nach den Ausdrucksmitteln 
Wort, Gebärdung und Ton in redende (Beredsamkeit und 
Dichtkunst), bildende (Skulptur, Architektur, Malerei) und 
Künste des Spiels der Empfindungen (hauptsächlich 
Musik) eingestellt. Schiller hat den allgemeinen ästhetischen 
Ansichten Kants in freier Weise sich angeschlossen und sie 
weiter entwickelt (»Briefe über die ästhetische Erziehung des 
Menschen«, 1795). 
7. In der Ästhetik nach Kant wird ein Gegensatz zweier 
Eichtungen, der Gehalts- oder idealistischen und der 
Form- oder formalistischen Ästhetik, bedeutungsvoll. Jene, 
von Schellingi), HegeF) und Schopenhauer^) begrün- 
det, hebt hervor, daß nur die symbolische, ausdrucksvolle 
^) Philosophie der Kunst, nach Vorlesungen aus den Jahren 1802 bis 
1805 in der Gesamtavisgabe der Werke (I. Abteil. 5. Bd.) 1859 veröffent- 
licht. 2) Vorlesvuigen über Ästhetik, in den Sämtlichen Werken (Bd. 10 
in 3 Tln.) 1836— 183S herausgegeben. ^) Die Welt als Wille und Vor- 
stellung (3. Buch) 1819, nebst den Ergänzungen des 2. Bandes, 1844. 
Beste Ausgabe von P. Deussen. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 8 
113 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Form, die ideenhaltige Erscheinung, nicht aber die Form 
als solche ästhetischen Wert habe. Das Kunstwerk wird 
aufgefaßt und gewürdigt als eine Darstellung von Ideen, 
die der Künstler durch das sinnliche Material von Tönen oder 
Farben oder Formen hat ausdmcken wollen. Kach Schel- 
ling gibt es außerhalb des Kelches der Kunst nur noch im 
Gebiete der organischen Natur Schönheit. Aus dem Kunst- 
werk tritt uns, wie Schopenhauer sagt, die Idee leichter 
entgegen, weil sie von störenden Zufälligkeiten, die ihr in 
der Natur anzuhaften pflegen, befreit ist. Die Naturschöne 
ist nach Hegel bloß Annäherung an oder Vorstufe für das 
Schöne. Diesen Standpunkt haben namentlich Ästhetiker 
Hegel scher Eichtung systematisch dargestellt, in erster 
Linie F. Th. Vi seh er in seiner großen Ästhetik (3 Tle. 
1846—1858). Die hier geschilderte Gehaltsästhetik trägt 
zugleich einen spekulativen, metaphysischen Charakter 
an sich, ist, wie Fe ebner sich ausdrückte, eine Ästhetik 
»von oben«, die aus allgemeinen Begriffen die Tatsachen abzu- 
leiten und den Zustand der ästhetischen Betrachtung, der 
reinen willenlosen Kontemplation in seiner Bedeutung für 
die Weltanschauung zu würdigen sucht. Von dieser Eich- 
tung ist, von feinsinnigen und geistreichen Einzelheiten ab- 
gesehen, nicht viel mehr als der allgemeine Gedanke des 
Symbolischen übrig geblieben. 
Den inductiven Weg (»von unten«) schlägt — ent- 
sprechend der Metaphysik — die Ästhetik E. v. Hart- 
manns ein: Sie trägt aber wiedie Schopenhauers, von der 
sie beeinflußt ist, deutlich einen metaphysischen Charakter. 
Schönheit gilt ihm als eine der Offenbarungsweisen des 
absoluten Geistes (des »Unbewußten«). Im ästhetischen 
Erlebnis fühlt das Subjekt seine Trennung vom Absoluten 
überwunden. 
Wieder an Kant knüpft an J. Cohn (1917). Er will vom 
Dogmatisch-Metaphysischen ins Transzendentale zurück. 
Alles ästhetisch Gewertete ist nach ihm »Ausdruck eines 
Innenlebens«. Dieser Ausdruck muß in einer bestimmten, 
unserem Auffassungsvermögen entsprechenden Gestaltung 
auftreten; endlich müssen Ausdruck und Gestaltung im 
114 
§10. Die Ästhetik. 
ästhetisch Vollendeten eine notwendige Einheit bilden. 
Eine Fortbildung der kritischen Ästhetik Kants gibt auch 
H. Cohen (1912). 
Im Gegensatz zur Gehaltsästhetik vertreten Herbart 
und seine Schule die formalistische Ansicht. Hiernach ist die 
Materie eines Gegenstandes ästhetisch gleichgültig, nur 
die Form, das Verhältnis dem Geschmacksurteil unterworfen. 
Die Ästhetik hat die Aufgabe, die elementaren Verhältnisse, 
die in allen komplexen Eindrücken schöner oder häßlicher 
Art wiederkehren, aufzusuchen und die Musterbegriffe zu 
bestimmen, nach denen sich die ästhetischen Urteile richten. 
Zu jenen gehören das Harmonische der Töne, der Einklang der 
Farben, der Rhythmus u. dgl. m. R. Zimmermann hat 
in seiner Allgemeinen Ästhetik als Formwissenschaft (1865) 
diesen Gedanken durchgeführt. Er unterscheidet Quantitäts- 
und Qualitätsformen und stellt für sie Grundsätze (z. B. die 
stärkere gefällt neben ^der schwächeren Vorstellung, diese 
mißfällt neben jener) und Musterbegriffe (z. B. der Voll- 
kommenheit, Wahrheit, Einheit) auf. — Zwischen beiden 
Eichtungen sucht Koestlin in seiner Ästhetik (1869) zu 
vermitteln, indem er von dem ästhetischen Gegenstande zu- 
nächst eine anregende Gestaltenfülle überhaupt, sodann einen 
ansprechenden oder interessanten Inhalt und eine vollbe- 
friedigende Form verlangt. 
8. Die starke empiristische Richtung im Denken des 
19. Jahrhunderts und die Entwicklung der Psychologie 
unter dem Einfluß der Naturwissenschaft hat zu Versuchen 
geführt, eine empirische im Gegensatz zur spekulativen 
oder konstruktiven Ästhetik zu begründen, und zwar ge- 
schieht dies nicht bloß hinsichtlich der Urteile über gefallende 
Eindrücke, sondern auch in bezug auf die Künste und die 
schöpferische Tätigkeit des Künstlers. So versucht H. Taine 
{Philosophie de Vart, deutsch in 2. Ausg. 1885) hauptsäch- 
lich einen naturgeschichtlichen Standpunkt gegenüber der 
Kunst einzunehmen, indem er die Faktoren betont, welche 
für das Auftreten der Kunstwerke in ihrer Zsit bedeutungsvoll 
erscheinen, und jenes seitdem zum Überdruß wiederholte 
Schlagwort des Milieu (das schon von Comte in ähnlichem 
115 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Sinne gebraucht war), der moralischen Temperatur, zur 
Bezeichnung des geistigen und sittlichen Gesamtzustandes 
einer Zeit verwendet. Dagegen haben Grant Allen {Physio- 
logical Aesthetics, 1881) und Georg Hirth (»Aufgaben der 
Kunstphysiologie«, 2 Tle. 2. Aufl. 1897) einen Versuch 
gemacht, die psychophysischen Bedingungen für die Auf- 
nahme von Kunstwerken, insbesondere von solchen, die 
der bildenden Kunst angehören, zu entwickeln. Endlich 
hat G. Th. Fechner (»Vorschule der Ästhetik« 2 Tle. 1876, 
2. Aufl. 1897) die empirischen Bedingungen des Wohl- 
gefallens und Mißfallens festzustellen unternommen und 
ist dabei zur Begründung einer aussichtsreichen Methode, 
der experimentellen, in der Ästhetik gelangt. Mit einem 
Gesetz oder Prinzip erklärt Fechner nicht ausreichen zu 
können, vielmehr stellt er eine beträchtliche Zahl von solchen 
(das Prinzip der ästhetischen Schwelle, der Klarheit, der 
Wahrheit, des Kontrastes usw.) auf, unter denen das Asso- 
ziation sprinzip eine große Bedeutung zugewiesen erhält. 
Er unterscheidet an dem ästhetischen Eindruck einen direk- 
ten und einen assoziativen Faktor, unter jenem versteht 
er die unmittelbar gegebene Vorstellung als solche, unter 
diesem die durch Assoziation oder Erinnerung vermittelten 
Bedingungen des Gefallens. Weitere Vertreter dieser empi- 
risch-psychologischen Ästhetik sind Groos, Müller-Freien- 
fels, Lipps, Lange, Witasek u. a.; auch Meumann 
und Volkelt, die aber beide deutlich das Hinausstreben 
über die Schranken der psychologischen Betrachtung zeigen i). 
Eine ausführliche Darstellung und eindringende Kritik dieser 
ganzen empirisch-psychologischen Ästhetik hat Paul Moos 
(1920) gegeben. 
9. Angesichts dieser einander widerstreitenden Auffassun- 
gen von der Aufgabe und der Methode der Ästhetik glauben 
wir unsere eigne Ansicht in Kürze andeuten zu sollen. 
Das ästhetisch Wertvolle (das »Schöne« i. w. S.) wird 
wie alles Wertvolle von uns erlebt als etwas Objektives. 
^) Dies gilt auch für den Verfasser dieses Werkes, O. Külpe. Der 
Herausgeber hat im Folgenden seine eigene Ansicht zur Geltvmg ge- 
bracht. 
116 
§10. Die Ästhetik. 
Wir haben uns also bei der philosophischen I^esinnung 
zu fragen: was ist das ästhetisch Wertvolle und wie verhält 
es sich zu den anderen Arten des Wertvollen; welches sind 
seine Wesensmerkmale, seine Arten (wie das Schöne [i. e. S.], 
Charakteristische, Erhabene, Tragische, Komische). 
Eine solche philosophische Ästhetik erweist sich somit 
als Teil der Werttheorie. Da ihr Hauptziel ist, das Wesen 
des ästhetisch Wertvollen klarzustellen, die schlichte Frage 
zu beantworten, was denn eigentlich mit »schön« (i. w. S.) 
geraeint ist, so ist hier die Methode der Besinnung am Platz, 
die Husserl als die »phänomenologische« bezeichnet hat. 
Wir knüpfen dabei insofern an das empirisch Gegebene 
an, als wir angesichts wirklicher schöner Objekte (aus 
Kunst oder Natur) zur Klarheit über das Wesen des Schönen 
zu kommen suchen. Die Methode ist aber nicht empirisch, 
sofern man unter Empirie die Erfahrungserkenntnis der 
Wirklichkeit als solche versteht. 
Sind Avir uns aber klar geworden, was schön ist, dann 
ermöglicht uns dies, wirkliche (oder in der Phantasie vor- 
gestellte) Objekte darauf hin zu beurteilen, ob und inwieweit 
sie schön sind. So bildet die phänomenologische Ästhetik 
die Grundlage einer normativen; insofern sie uns Maß- 
stäbe für die Beurteilung und damit Normen für unser 
ästhetisches Genießen und Schaffen an die Hand gibt. 
Dieses Genießen und Schaffen selbst sind seelische Vor- 
gänge. Die Untersuchung ihrer Gesetzmäßigkeiten (ihrer 
Bedingungen, Elemente — z. B. der »direkten« und der 
»assoziativen« — und ihrer Wirkungen) ist Sache der Psycho- 
logie. Diese hat dabei empirisch vorzugehen und kann, 
soweit technisch möglich, das Experiment verwenden. 
Die empirisch-psychologische Methode kann aber nie die 
phänomenologische ersetzen, noch auch ihrerseits Normen 
begründen. Denn ihrem Wesen nach ist sie auf die Fest- 
stellung von Tatsächlichem (Wirklichem) und seinen Kausal- 
zusammenhängen beschränkt, sie darf also nie den Anspruch 
erheben, Werturteile als gültig darzutun und Normen 
daraus abzuleiten. Sie kann also nie entscheiden, ob das,- 
was tatsächlich gefällt, auch verdient zu gefallen. 
117 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Wenn mau endlich der Metaijhysik die Aufgabe stellt, 
die gesamte erfahrbare Wirklichkeit aus obersten Prinzipien 
(oder einem solchen) zu deuten, so wird im Tatbestand 
der Wirklichkeit auch das Vorhandensein des Ästhetisch - 
Wertvollen und unserer Fähigkeit es zu schaffen und zu 
genießen mit in Anschlag zu bringen sein. 
Manchen Philosophen, wie z.B. — wenigstens zeitweise — 
Schelling kam diese Wirklichkeit des Ästhetisch- Wert- 
vollen als so bedeutsam vor, daß sie hauptsächlich von 
hier aus das Absolute zu bestimmen versuchten und so ihre 
Ästhetik in der Metaphysik verankerten. 
Die phänomenologische und normative Ästhetik einer- 
seits, die metaphysische andererseits mirden zur Philo- 
sophie zu rechnen sein, während die psychologische als 
eine empirische Einzelwissenschaft zu bezeichnen ist. 
Untersuchungen, wie diejenigen von Taine (vgl, §10, 8) 
oder die neueren von E. Große (Die Anfänge der Kunst, 
1893) und Y. Hirn (Der Ursprung der Kunst, deutsch von 
Barth, 1904) sind in den Bereich der Kulturgeschichte oder 
der Philosophie der Geschichte zu verweisen. 
10. Aus der reichen ästhetischen Literatur der Gegen- 
wart seien folgende Schriften hervorgehoben: 
L. Bray: JDm Beau, 1902. 
H. Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls, 2 Bde. 1912. 
J. Cohn: Allgemeine Ästhetik*, 1901. 
B. Croce: Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks. Deutsch von 
K. Federn, 1905. 
M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1906. 
K. Groos: Einleitung in die Ästhetik, 1892. Der ästhetische CJenuß*, 
1902. 
J. M. Guyau: Die Kunst als soziologisches Phänomen. Deutsch von 
P. Prinn und G. Baguier. Philos.-soziolog. Bücherei 24, 1911. 
Ästhetische Probleme der Gegenwart. Deutsch von E. Bergmann, 
1912. 
E. V. Hartmann: Ästhetik. I. Die deutsche Ästhetik seit Kant, 1886. 
IT. System der Ästhetik, 1887. 
E. Kulke: Kritik der Philosophie des Schönen, 1906. 
K. Lange: Das Wesen der Kunst, 2. Aufl. 1907. 
Th. Lipps: Ästhetik, 2 Bde. 1903. 1906. 
H. R. Marshall: Aesthetic Principles, 1895. 
F. Medicus: Grundfragen der Ästhetik, 1917. 
118 
§11. Die Religionsphilosophie. 
E, Meumann: Einführung in die Ästhetik der Gegenwart, 1908, 3. Aufl. 
1919. System der Ästhetik, 1914. 3. Aufl. 1919. 
P. Moos: Die deutsche Ästhetik der Gegenwart, 1920. 
R.Müller-Freienfels: Psychologie der Kunst, 2 Bde. 1912. 
E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft*, I. 1914. 
Joh. Volkelt: System der Ästhetik, I. 1905; II. 1910; III. 1914. Ästhetik 
des Tragischen, 2. Aufl. 1917. 
St. Witasek: Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, 1904. 
Dazu kommen als historische Darstellungen; 
B. Bosanquet: History of Aesthetic, 1892. 
W. Knight: The Phüosophy of the Beautiful being Outlines of the History 
of Aesthetics, 1895. 
H. Lotze: Geschichte der Ästhetik in Deutschland, 1868. N. Ausg. 1913. 
P. Moos: Die Philosophie der Musik von Kant bis E. v. Hartmann, 
Wagner als Ästhetiker, 1906. 
M. Schasler: Kritische Geschichte der Ästhetik, 2. Abt. 1872. 
H. V. Stein: Die Entstehung der neueren Ästhetik, 1886. 
J. Walter: Die Geschichte der Ästhetik im Altertum, 1893. 
R. Zimmermann: Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissen- 
schaft, 1858. 
§ 11. DIE EBLIGIONSPHILOSOPHIE. 
1. Innerhalb seiner i>theoreti sehen« Wissenschaft unter- 
scheidet Aristoteles neben der Mathematik und Physik 
eine Theologie (vgl. § 3, 2). Die philosophische Gottes- 
lehre wurde in der Metaphysik genannten Schrift von ihm 
dargestellt. Als sich im Anschluß an das Christentum eine 
neue, positive Theologie entwickelte, trug man dem Bedürf- 
nis nach einer namentlichen Unterscheidung beider zunächst 
da.durch Eechnung, daß man die aristotelische einfach als 
theologia, die positive aber als theologia christiana bezeich- 
nete. Später, durch Eaym.und v. Sabunde (f 1432), wurde 
der bald allgemein aufgenommene Ausdruck theologia naturalis 
für die metaphysische Gotteslehre eingeführt. Daneben 
konomt dann auch in neuerer Zeit, infolge der beim Eecht 
gleichfalls beliebten Zusammenstellung des Natürlichen mit 
dem Vernünftigen (vgl. § 9, 14), der Name theologia rationalis 
oder, um jede empirische Erkenntnisquelle abzuweisen, 
transcendentalis auf. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich für 
den Eeligionsbegriff verfolgen. Schon Varro (1. Jahrhundert 
119 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
V. Chr.) unterscheidet zwischen einer religio civilis und einer 
religio naturalis. Diese natürliche, aus der Natur des Men- 
schen selbst, ohne göttliche Offenbarung, fließende Eeligion 
faßt man im 17. und 18. Jahrhundert als Vernunftreligion. 
In der Religionsphilosophie, deren Name sich zuerst am 
Ende des 18. Jahrhunderts findet, empfangen im 19. Jahr- 
hundert die natürliche oder spekulative Theologie und die 
natürliche Religion ihre Vereinigung. In ihr wird vom psy- 
chologischen, erkenntnistheoretischen, metaphysischen und 
historischen Gesichtspunkt aus über Dasein und Eigen- 
schaften Gottes, über seine Stellung zur Welt im allge- 
meinen und zum Menschen im besonderen, sowie über die 
Religionsformen gehandelt. 
2. Die Anfänge einer philosophischen Gotteslehre treten 
uns im griechischen Altertum bei Anaxagoras (geb. um 
500 V. Chr.) entgegen, der ein die Welt gestaltendes und 
ordnendes Wesen annimmt und als vovg, Geist, bezeichnet. 
Danach hat Pia ton sein Ideenreich durch den Gottesbegriff, 
der mit der Idee des Guten zusammenfällt, gekrönt und 
Aristoteles auf ein göttliches Wesen als ersten Beweger 
{jtQmrov Tcivovv) der Welt, der reine Form, stoffloser Geist 
sei, geschlossen. Unter den Kirchenvätern ist namentlich 
Augustin (t 430) bemüht gewesen, die Theologie auch 
philosophisch zu begründen, während unter den Scholasti- 
kern zuerst Anselm v. Canterbury (t 1109) strenge Be- 
weise für das Dasein Gottes zu führen suchte. Mit der 
Vernunfttheologie haben sich dann in der neueren Philo- 
sophie besonders Descartes, Leibniz und Wolff ein- 
gehender beschäftigt. Die Ausgangspunkte derselben wur- 
den teils in der Naturlehre, teils in der Ethik gefunden und 
hiernach eine Physiko- und eine Ethiko-Theologie unter- 
schieden, je nachdem man von der Natur oder vom sittlichen 
Bewußtsein aus den Weg zu Gott suchte. Den wesentlichen 
Inhalt dieses Teils der Metaphysik bildeten nämlich die Be- 
weise für die Existenz Gottes, die sowohl a priori, in der Form 
des ontologischen, als auch o posteriori, in der Form des kosmo- 
logischen und teleologischen Beweises geführt wurden (vgl. 
§26). 
120 
§11' Die Beligionsphilosophie. 
Die natürliche Religion wurde hauptsächlich in der eng- 
lischen Philosophie, seit Herbert v. Cherbury (f 1648), 
der Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Nach Herbert 
ist der Allgemeinbegriff der Eeligion, das, worin alle Eeli- 
gionen der Erde miteinander übereinstimmen {consensTis 
omnium), zugleich die wahre Eeligion. So wird hier von 
vornherein die natürliche Eeligion zu einem Ersatz oder 
Vorbild für die positive. Die wichtigsten Nachfolger Her- 
berts, die diesen Gedanken noch schärfer ausprägen, sind 
Toland (f 1722) und Tindal (f 1733)^). Bei Hume end- 
lich gestalten sich die »Dialoge über die natürliche Eeligion« 
(1799 zuerst herausgegeben) zu einer vernichtenden Kritik 
der Beweise für die Existenz Gottes, namentlich des teleo- 
logischen Ai'guments, während in der »Naturgeschichte der 
Eeligion« (1755) eine psychologische Theorie des Ursprungs 
aller Eeligion vorgetragen wird, die darauf hinausläuft, statt 
in der Vernunft die Quellen des religiösen Glaubens in den 
Gefühlszuständen der Furcht und Hoffnung zu erblicken, so- 
wie in der instinktiven Wirksamkeit der Einbildungskraft, die 
in eindrucksvollen Naturvorgängen das Handeln menschen- 
ähnlicher, aber übermenschlicher Wesen erblickte. 
3. Etwas später erfuhr die natürliche Eeligion und Theologie 
im alten rationalen Sinne eine entscheidende Umbildung durch 
Kant. An den hergebrachten »Beweisen« für das Dasein 
Gottes wurde in der »Kritik der reinen Vernunft« dargetan, 
daß sie zwar überredenden Schein, aber gar keine wirkliche 
Beweiskraft besäßen. Eine Physiko-Theologie gibt es nach 
Kant nicht, nur eine Ethiko-Theologie und einen »mora- 
lischen Beweis« für Gottes Existenz (vgl. § 4, 4, 5). »Die 
Eeligion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) 
dagegen beschäftigt sich mit der Kritik und vernunftgemäßen 
Deutung der positiven Eeligion des Christentums, die in 
dem Gedanken wurzelt, daß die Eeligion in der Erkenntnis 
*) Neben den hier angeführten rationalistischen Bemühtingen um eine 
natürliche Theologie und Religion geht noch eine mystische Richtung 
auf unmittelbares Einssein mit der Gottheit einher, die z. B. bei Meister 
Eckhart (f c. 1330) und indem Pietismus des 18. Jahrh. zu höherer 
Entwicklung gelangte. 
121 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
unserer Pflichten als göttlicher Gebote bestehe. Hier wird 
also nicht eine Eeligion a priori entwickelt, sondern Sinn 
und Eecht einer historisch gegebenen geprüft und festgestellt. 
Dieser neue Standpunkt tritt in der von Hume und Kant 
beeinflußten »Allgemeinen Eeligion« (1797) von L. H. Jakob 
klar hervor. Er will »bloß eine psychologische Erklärung 
des vorhandenen Eeligionsglaubens« geben, seine Theorie 
sei jedoch »kein Grund ihn in anderen hervorzubringen«. 
Der Glaube an eine moralische Ordnung ist ihm das Motiv 
für den Glauben an ein Wesen, das hinreichender Grund 
derselben ist. Mehr Ernst macht mit der psychologischen 
Untersuchung F, Schleiermacher (Eeden über die Eeli- 
gion, 1799 u. ö.), der die Eeligion von der Metaphysik und 
der Ethik, vom Wissen und Handeln ablöst und in der An- 
schauung des Alls und im Gefühl absoluter Abhängigkeit von 
ihm ihr Wesen bestimmt. Zugleich hat er das Verhältnis 
von Eeligion und Theologie in neuer und bahnbrechender 
Weise erörtert. Vorwiegend geschichtsphilosophisch dagegen 
ist die Betrachtung, die HegeP) der Eeligion widihet. Die 
einzelnen Formen derselben erscheinen als Entwicklungs- 
stufen eines vernünftigen, dialektischen Prozesses. Die 
Eeligion fällt nach ihm sachlich mit der Philosophie zu- 
sammen, steht jedoch ihrer Form nach gegen sie zurück, 
indem sie das Absolute, die Wahrheit, Gott nur sinnbildlich, 
anschaulich, nicht begrifflich darstellt. Zu einer einschneiden- 
den Kritik aller Theologie wird die psychologisch-geschicht- 
liche Untersuchung der Eeligion endlich bei L. Feuer- 
bach (t 1872: Das Wesen der Eeligion, 1845). Theologie 
ist nach ihm nur Anthropologie, Gott ein Erzeugnis unserer 
Phantasie und unserer Sehnsucht nach Vollkommenem, ein 
Wunsch wesen, von dem man zugleich Glückseligkeit und 
Unsterblichkeit erhofft. Eeligion ist berechtigterweise nur 
das Gefühl des Menschen von seinem Zusammenhang, seinem 
Einssein mit der Natur oder Welt, von seiner Endlichkeit und 
Abhängigkeit von der Natur. 
4. In der Gegenwart pflegt man die Eeligion sphilo- 
*) Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 11. u. 12. Bd. der 
Werke, 1832. 
122 
§11- Die Religionsphilosophie. 
Sophie unter vier Gesichtspunkten zu bearbeiten: 1. Unter- 
suchung des Ursprungs und der Entwicklung der 
Religion als einer objektiven, geschichtlichen Erscheinung. 
Gestützt auf die Religionsgeschichte und die vergleichende 
Religionswissenschaft, werden hier das Wesen der Religionen, 
ihre treibenden Kräfte und ihr Fortschritt in einer all- 
gemeinen geschichtsphilosophischen Betrachtung erörtert. 
2. Psychologie der Religion als einer subjektiven, im 
Seelenleben der Individuen anzutreffenden Erscheinung. 
Die eigentümlichen Vorstellungen, Gefühle, Gedanken und 
Handlungen, welche die subjektive Wirklichkeit des reli- 
giösen Verhaltens bilden, gelangen hier zu einer mit den 
Hilfsmitteln und Methoden der Psychologie durchgeführten 
Untersuchung 1). 3. Prüfung des theoretischen Rechts 
der Religion. Dieser wichtige Teil befaßt sich einerseits 
allgemein mit der Frage der objektiven Gültigkeit eines 
religiösen Glaubens, wobei die Erkenntnistheorie und die 
Metaphysik den Ausgangspunkt bilden, andererseits mit der 
Haltbarkeit, der Berechtigung einer bestimmten, positiven, 
im Vordergrunde des Interesses stehenden Religion. Das 
Resultat dieser Prüfung ist vielfach die Aufstellung eines 
neuen Religionsideals, einer »Religion der Zukunft«, die den 
wissenschaftlichen Erkenntnissen und Anschauungen besser 
angepaßt sein soll, als etwa die zurzeit herrschende posi- 
tive Religionsform. 4. Untersuchung des praktischen 
Wertes der Religion. Hier handelt es sich um die Be- 
antwortung der Fragen nach dem Verhältnis von Religion 
und Moral, nach ihrem Einfluß auf das soziale Leben und 
auf die Erziehung und nach ihrer Bedeutung für die all- 
gemeine Kultur. 
Nach dieser Übersicht ist die Religionsphilosophie un- 
zweifelhaft eine philosophische Disziplin im engeren Sinne, 
die sich von den theologischen Disziplinen ebenso, wie von 
^) Vgl. dazu als Sammelpunkt dieser Bestrebungen das von W. Stäh- 
lin seit 1914 herausgegebene »Archiv für Religionspsychologie«, ferner 
R. Otto, Das Heilige*, 1917, K. Oesterreich, Einführung in die 
Religionspsychologie* (als Grundlage für Religionsphilosophie ^xad Reli- 
gionsgeschichte), 1917, F. Heiler, Das Gebet, 1918. 
123 
II. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
der vergleichenden Eeligionswissenschaft und der Keligions- 
geschichte abhebt. Nur ihr psychologischer Teil bewegt sich, 
wie die empirische Psychologie überhaupt, auf einzehvissen- 
ßchaftlichen Bahnen. Der Hauptsache nach aber erscheint sie 
als eine Philosophie der Eeligionswissenschaft, also 
auch der (positiven) Theologie, d. h. als eine Untersuchung 
ihrer Voraussetzungen vom Standpunkte der Wissenschafts- 
lehre, ihrer Bedeutung vom Standpunkte der Wertlehre und als 
eine Verarbeitung ihrer Ergebnisse im Geiste der Metaj)hysik. 
5. Aus der Literatur der Gegenwart über die Religions- 
philosophie und ihre Geschichte heben wir hervor: 
J. Caird: An Indroduction to the Phüosophy of Religion, 2. edit. 1891, 
deutsch V. Ritter, 1893. 
A. Dorner: Grundriß der Religionsphilosophie, 1903. 
H. Höffding: Religionsphilosophie. Deutsch von Bendixen, 1901. 
O. Pfleiderer: Religion und Religionen, 1906. 
B. Pünjer: Grundriß der Religionsphilosophie, 1886. 
R. Richter: Religionsphilosophie*, 1912. 
A. Sabatier: Esquisse d'une philosophie de la religion, 4. 6d. 1897, deutsch 
von A. Baur, 1898. 
C. P. Tiele: Einleitung in die Religionswissenschaft. Deutsche Ausgabe 
von Gehrich, 2 Tle. 1899. 1901. 
Während sich diese Schriften mehr zur Einführung eignen, 
dienen die folgenden einem eingehenderen Studium: 
E. Boutroux: Wissenschaft und Religion. Deutsch von E.Weber, 1910. 
R. Eucken: Der Wahrheitsgehalt der Religion*, 4. Aufl. 1920. Haupte 
Probleme der Religionsphilosophie der Gegenwart, 4. u. 5. Avifl. 1912. 
G. Gallo way: The Philosophy of Religion, 1914. 
K. Heim: Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage 
der Religion, 1916. (Dazu A. Messer: Preußische Jahrbücher 1920.) 
W. James: The Varieties of Religious Experience, 1902. Deutsch von 
Wobbermin: Die Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung, 1907. 
G. T. Ladd: The Philosophy of Religion, 2 Bde. 1906. 
T. K. Oesterreich: Einführung in die Religionspsychologie, 1917. 
O. Pfleiderer: Religionsphilosophie. I. Geschichte der Religionsphilo- 
sophie von Spinoza bis auf die Gegenwart, 3. Aufl. 1893; II. Gene- 
tisch-spekulative Religionsphilosophie, 3. Aufl. 1896. 
Rauwenhof f : Religionsphilosophie, aus dem Holland, v. Hanne, 1889, 
neue (Titel-)Auflage 1894. 
M. Schinz: Die Wahrheit der Religion nach den neuesten Vertretern 
der Religionsphilosophie, 1908. 
H. Scholz: Religionsphilosophie, 1920. 
124 
§12. Die Philosophie der Geschichte. 
R. Seydel: Religionsphilosophie im Umriß mit historisch-kritischer 
Einleitung über die Religionsphilosophie seit Kant, 1893. 
H, Siebeck: Lehrbuch der Religionsphilosophie, 1893. 
G. Thiele: Die Philosophie des Selbstbewußtseins und der Glaube an 
Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Systematische Grundlegung der 
Religionsphil osopliie, 1895. 
W. Wundt: Völkerpsychologie, II. Teil 1 — 3: Mythus und Religion. 
1905—1909. 
An historischen Darstellungen seien (neben Pfleiderer) 
genannt : 
Encydopaedia of Religion and Ethics ed. by J. Hastings and John 
A. Selbie, bisher 6 Bde. 1908—1913. 
O. Flügel: Religionsphilosophie in Einzeldarstellungen (Kant, Jakobi, 
Leibnizu. a.), 1907 ff. 
B. Pünjer: Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der 
Reformation, 2 Bde. 1880. 1883. 
Dazu für speziellere Gebiete: 
Newton H. Marshall: Die gegenwärtigen Richtungen der Religions- 
philosophie in England, 1902. 
L. V. Schroeder: Arische Religion, bisher 2 Bde. 1917. 
F. Heiler: Das Wesen des Katholizismus, 1920. 
§ 12. DIE PHILOSOPHIE DEE GESCHICHTE. 
1. Der Name Philosophie der Geschichte stammt von 
Voltaire (f 1778). Unter allen philosophischen Disziplinen 
hat sich diese am spätesten entwickelt. Sie ist die einzige, 
zu der das Altertum keine nennenswerten Beiträge geliefert 
hat, und sie ist zugleich die einzige, über deren Gegenstand 
und Aufgabe in der Gegenwart noch keinerlei Einigung er- 
zielt worden ist. Bald wird sie als eine philosophische, 
spekulative Betrachtung des geschichtlichen Verlaufs poli- 
tischer und kultureller Erscheinungen angesehen, die sich 
von der empirischen Schilderung desselben als eine den 
tieferen Gründen nachspürende unterscheidet, bald als eine 
Wissenschaftslehre und Metaphysik der Geschichtswissen- 
schaft, welche die erkenntnistheoretischen und logischen Vor- 
aussetzungen der letzteren erörtert und deren Ergebnisse 
im Interesse einer Weltanschauung ausbaut und verwertet, 
bald gilt sie als Soziologie, als eine Lehre von den Formen 
und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die 
125 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
man als eine einzel wissenschaftliche Ergänzung der Ge- 
schichtswissenschaft im engeren Sinne auffassen kann (da- 
her auch empirische Philosophie der Geschichte genannt). 
Diese Uneinigkeit wird einigermaßen verständlich, wenn man 
bedenkt, daß erst im 19. Jahrhundert eine wirkliche Tren- 
nung wissenschaftlicher und bloß laienhafter, dilettantischer 
Beschäftigung mit der Vergangenheit eingetreten ist, indem 
man die Notwendigkeit einer besondere Methode und Schu- 
lung einsah, um die Geschichtsquellen in wissenschaftlich 
gültiger Weise benutzen zu können. Sie wird erst recht 
begreiflich angesichts des Streites, der noch in der Gegenwart 
über den Gegenstand, die Aufgabe und die Methoden der 
Geschichtswissenschaft herrscht. Übrigens verleihen die 
Vertreter derselben nicht selten der Ansicht Ausdruck, 
mindestens ebensosehr, wie das rein wissenschaftliche, 
habe das künstlerische Streben bei der historischen Arbeit 
mitzuwirken. Wir dürfen darin wohl ein Anzeichen dafür 
erblicken, daß eine Geschichtswissenschaft im prägnanten 
Sinne noch nicht das selbstverständliche Ziel der auf diesem 
Gebiete Arbeitenden geworden ist. 
2. Die spekulative Philosophie der Geschichte — 
so wollen wir kurz die erste oben bezeichnete Auffassung 
dieser Disziplin nennen — versucht über das bloße Erzählen 
der Begebenheiten hinaus zu einer Begründung ihres Zu- 
sammenhanges über die bloße Zeitfolge zur kausalen, »prag- 
matischen« Darlegung fortzuschreiten. Das geschieht teils 
unter der Annahme, daß sich gewisse allgemeine Ideen oder 
ein »Schicksal« in dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse 
mit Notwendigkeit verwirklichen, teils unter Berufung 
auf empirische Faktoren, die von der Geschichtswissen- 
schaft nicht berücksichtigt zu werden pflegen, wie die Or- 
ganisation des Menschen, die Easse eines Volkes, die geo- 
graphische Lage, das Klima eines Landes, die wirtschaft- 
lichen Zustände einer Periode. So hat das erste geschichts- 
philosophische System, das Werk Augustins de civitate Dei, 
die christliche Idee eines göttlichen Heilsplans der Betrach- 
tung geschichtlichen Werdens zugrunde gelegt. Von ähn- 
lichen Voraussetzungen sind auch spätere Theologen aus- 
126 
§ 12. Die Philosophie der Geschichte. 
gegangen, wie Bossuet {Discours sur Vhistoire universelle, 
1681) und EochoU (Die Philosophie der Geschichte, 2. Bd. 
1893), obwohl daneben die natürlichen Bedingungen der 
Entwicklung, der fortschreitenden Erkenntnis entsprechend, 
hier mehr zu ihrem Eecht gekommen sind, als bei Augustin. 
Lessing (1729 bis 1781) denkt sich das geistige Werden, 
insbesondere dasjenige religiöser Anschauungen als eine 
Erziehung des Menschengeschlechts zum Vernünftigeren, 
Herder!) den geschichtlichen Prozeß als ein Wachstum der 
Humanität, HegeP) als eine dialektische Selbstentfaltung 
und Verwirklichung der Freiheit. Die allzu große Einfachheit 
derartiger Ideen erforderte zumeist eine ergänzende kausale 
Ableitung des Einzelnen aus Einzelnem und brachte zugleich 
eine gewisse Gewaltsamkeit in der Ordnung und AusTvahl der 
Tatsachen oder in der Abwägung ihrer Bedeutung mit sich. 
3. Anfänge einer empirischen Erklärung der geschicht- 
lichen Erscheinungen finden sich bei dem arabischen Philo- 
sophen Ibn Khaldun (f 1406), der bereits die Eigenart von 
Völkern aus ihren Lebensbedingungen, aus dem Boden und 
Klima ihres Landes abzuleiten versucht und sich bewußt ist, 
damit eine neue Wissenschaft entdeckt zu haben, deren 
Gegenstand die sozialen Verhältnisse der Menschen sind. 
In der gleichen Richtung bewegen sich die Erörterungen 
in der Staatslehre von Jean Bodin (f 1596) und besonders 
die Untersuchungen von Giambattista Vico (f 1744), 
dessen Principii di una scienza nuova (1725, 3. Aufl. 1744, 
deutsch von Weber, 1822) die Entwicklungsgesetze der 
Völker und die Stufen in dem allgemeinen Fortschritt der 
Zivilisation bestimmen und ihm den Euhm des Begründers 
der Geschichtsphilosophie eingetragen haben. Auch Mon- 
tesquieu {Vesprit des lois, 1748) und Voltaire sind zu den 
Vertretern einer derartigen Philosophie der Geschichte zu 
zählen. Diese empirischen Erklärungsgründe, deren sich 
übrigens Herder gleichfalls bedient hat, haben sich mit der 
^) Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784 
bis 1791. 2) Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, in den 
Werken 9. Bd. 1837. Neue Ausgabe von G. Lassen: Bd. 1: Die Ver- 
nunft in der Geschichte. 1917. 
127 
II. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Zeit immer mannigfaltiger und spezieller gestaltet, und niclit 
selten sind einige von ihnen in einseitiger Ausschließlichkeit 
angewandt worden. Das gilt namentlich von den wirtschafts- 
lichen Bedingungen der Entwicklung, deren Betonung bei 
K. Marx (t 1883) und seinen Anhängern zu einer »materia- 
listischen« Geschichtsphilosophie geführt hat. Sofern in allen 
solchen empirischen Erklärungen historischer Veränderungen 
wirkliche Forschung und nicht etwa spekulative Vermutungen 
und Deduktionen wirksam sind, wird man in ihnen eine 
einzehdssenschaftliche Ergänzung zur Geschichtswissenschaft 
im engeren Sinne sehen dürfen. In der Tat ist vieles von 
dem, was von der älteren Philosophie der Geschichte bei- 
gebracht worden ist, gegenwärtig in die besonderen Diszi- 
plinen der Kulturgeschichte, der Ethnologie, der Völker- 
psychologie und der Anthropogeographie übergegangen. 
Diese Form der Philosophie der Geschichte fülirt uns also 
wiederum eine Vorwegnahme einzelwissenschaftlicher Er- 
kenntnisse vor, deren wir bereits als einer wesentlichen Auf- 
gabe der Philosophie gedacht haben (vgl. § 7, 9). 
4. Die zweite Auffassung der Philosophie der Geschichte 
besteht darin, daß man ihr die Aufgabe einer Philosophie 
der Geschichtswissenschaft zuschreibt. Sie ist dann 
eine Anwendung der Erkenntnistheorie und Logik auf eine 
Disziplin, die sicherlich ein besonders dankbares und er- 
giebiges Feld dafür bildet. Denn die Geschichtswissenschaft 
hat in ganz anderer Weise, als die übrigen Erfahrungswissen- 
schaften, mit der Schwierigkeit einer Feststellung des von 
ihr zu bearbeitenden Tatbestandes zu tun. Betrachten wir 
als ihren Gegenstand die in der Vergangenheit erfolgten 
Entwicklungen in und an menschlichen Gemeinwesen, so 
ist klar, daß dieselben nicht unmittelbar als solche der Er- 
kenntnis offen stehen, sondern nur durch Vermittlung mehr 
oder weniger getrübter literarischer Quellen oder sonstiger 
Zeugnisse. Der Geschichtsforscher bedarf deshalb einer müh- 
samen und umständlchen Vorarbeit, bis er zu seinem eigent- 
lichen Gegenstande vorzudringen vermag. Für eine logische 
Prüfung bietet dieses Verfahren eine anziehende Aufgabe. 
Daneben aber wird die erkenntnistheoretische Frage nach 
128 
§12. Die Philosophie der Geschichte. 
dem Wert, nach der Geltung der auf solchem Wege gewon- 
nenen Erkenntnis aufgeworfen. Denn wenn Irgendwo von 
bloß wahrscheinlichen Ergebnissen wissenschaftlicher For- 
schung die Eede sein muß, so ist es hier der Fall. Ebenso 
wird die Frage nach der Berechtigung einer Ergänzung lücken- 
hafter Berichte erhoben werden müssen. Die Tatsache ferner, 
daß die Geschichtsforscher aus dem ungeheuren Stoff, den 
sie verarbeiten, eine Auswahl treffen, bei der sehr vieles 
beiseite gelassen werden muß, und daß sie bei gewissen Er- 
eignissen länger, bei anderen kürzer verweilen, schließt das 
Problem von Wertmaßstäben in sich, die auf ihre Begründung 
und ihre Leistungsfähigkeit, ihre Gleichartigkeit und ihre 
Objektivität zu untersuchen sind. Außerdem verdient die 
Frage nach der Möglichkeit geschichtlicher Gesetze, nach 
dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, nach der 
Anwendung und besonderen Bedeutung des Kausalitäts- 
prinzips und der als wirksam angesehenen Faktoren des ge- 
schichtlichen Verlaufs (z. B. Ideen; Einzelne, Massen) eine 
gründliche Erörterung. Als erkenntnistheoretische Aufgabe 
einer Geschichtsphilosophie wird auch die Prüfung der be- 
sonderen, in der Einzelwissenschaft hervortretenden Eich- 
tungen, des Individualismus und Kollektivismus z. B. zu 
betrachten sein. Endlich gehört hierher die Idee des Fort- 
schritts, die vielfach als ein regulatives Prinzip der Geschichts- 
wissenschaft aufgefaßt wird, und im engsten Zusammenhang 
damit steht der Begriff der Entwicklung als einer Entstehung 
des Höheren aus dem Niederen, des Vollkommeneren aus 
dem Unvollkommeneren, des Komplizierteren aus dem Ein- 
facheren. Die hier bezeichneten Aufgaben einer Philosophie 
der Geschichtswissenschaft sind erst in neuester Zeit zu 
einer selbständigen Bearbeitung gelangt. Man findet sie 
zumeist zerstreut behandelt in den Werken über Logik 
(namentlich in denen von Sigv/art und Wundt) oder in 
den Darstellungen einer Metaphysik oder endlich in einer 
allgemeinen methodologischen Betrachtung der Geschichts- 
wissenschaft, wie wir sie besonders Bernheim (»Lehrbuch der 
historischen Methode und der Geschichtsphilosophie«, 5. und 
6. Aufl. 1908, n. Abdr. 1914) verdanken. Einen anregenden 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 9 
129 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
Beitrag dazu hat G. Simmel: Die Probleme der Geschichts- 
philosopliie (3. Aufl. 1907) herausgegeben. 
5. Die dritte Auffassung der Philosophie der Geschichte 
und zugleich einen neuen Namen für sie hat A. Comte 
(vgl. §4, 6) im Anschluß an Condorcet (tl794) undSaint- 
Simon (f 1825) zur Herrschaft gebracht. Allein die Gesell- 
schaft hat na^ch ihm eine Geschichte, nicht der Einzelne, 
nicht die Natur. Und die Philosophie der Geschichte wird 
deshalb eine Lehre von den Bedingungen und Formen des 
Bestandes nud der Entwicklung der menschlichen Gesell- 
schaft oder Soziologie (auch soziale Physik genannt), die 
in eine soziale Statik und eine soziale Dynamik zerfällt. In 
der Eeihe der Wissenschaften, die nach abnehmender Ge- 
nauigkeit der Erkenntnis und zunehmender Komplikation 
der Gegenstände aufgestellt wird, nimmt diese Lehre von 
der menschlichen Gesellschaft den letzten Platz ein. Die 
Gesellschaft ist ein organisches System, ein sozialer Or- 
ganismus, in dem alle Teile miteinander und dem Ganzen 
zusammenhängen und übereinstimmen. In der Statik wird 
vornehmlich der strenge Zusammenhang der einzelnen Glie- 
der des sozialen Organismus hervorgehoben. Als die wich- 
tigste Ursache aller Veränderung der Gesellschaft erscheint 
in der Dynamik der menschliche Geist, und darum sind die 
Perioden oder Stufen, die dieser durchläuft, zugleich Stufen 
oder Perioden der geschichtlichen Entwicklung. Drei solche 
Stufen werden nach dem Vorgange von Tiirgot und Saint- 
Simon unterschieden, die theologische, die metaphysische 
und die positive, und die zuletzt genannte wird für die ab- 
schließende gehalten. Im einzelnen durchgeführt hat die 
Analogie der Gesellschaft mit dem Organismus namentlich 
H. Spencer {The Principles of Sociology, 3 Bde. 1876 — 1896, 
deutsch von Vetter 1876 ff.). Für den Entwicklungsprozeß, 
die Evolution, weiß er eine allgemeine Formel anzugeben, 
die für alle Stufen gilt. Hiernach geht bei der Ent\vicklung 
eine uii'<usammenhängende Gleichartigkeit in eine zusammen- 
hängende Verschiedenartigkeit über. Das Wachstum der 
Zelle erhält in den Gemeinschaftsformen: Horde, Stamm, 
Nation, sein Gegenbild; ferner werden die Stände innerhalb 
130 
§12. Die Philosophie der Geschichte. 
der menschlichen Gesellschaft mit der Struktur des Organis- 
mus in Verbindung gebracht, wobei dem Ektoderm^) der 
kriegerische Stand, dem Entoderm der friedliche oder ar- 
beitende, dem Mesoderm endlich der handeltreibende Stand 
entsprechen sollen. Und wie aus dem Ektoderm das Nerven- 
system als beherrschende Anlage des tierischen Organismus 
entsteht, so sollen innerhalb der Gesellschaft aus dem Krieger- 
stande die Führer, die Eegierenden hervorgehen. 
Der Anschluß an die Mechanik und an die Biologie wird 
gegenwärtig in der Soziologie mehr ausgeschaltet. Dagegen 
treten die Psychologie^) und die einzelnen Sozialwissen- 
schaften immer stärker in den Vordergrund. Auch macht 
sich das Bestreben geltend, die erkenntnistheoretischen Grund- 
lagen in dem Verhältnis der Individuen zu einander und in 
den Problemen der Gesellschaftsbildung und -entwicklung 
umfassender und fester zu legen. 
6. Was sich seit Comte als Soziologie herausgebildet hat, 
ist offenbar eine neue, die Geschichtswissenschaft ebenso 
ergänzende Disziplin, wie der oben geschilderte Versuch 
von Herder u. a., Naturbedingungen und menschliche An- 
lagen zur Erklärung des geschichtlichen Verlaufs heranzu- 
ziehen. Es ist mit Eecht darauf hingewiesen worden, daß 
diese Soziologie nicht mit dem Anspruch auftreten dürfe, 
die Geschichtswissenschaft überhaupt oder im eigentlichen 
Sinne zu bilden. Denn es ist ebenso einseitig, die Gesellschaft 
als einzigen Gegenstand einer historischen Betrachtung an- 
zusehen, wie die politischen Ereignisse oder die großen Per- 
sönlichkeiten ausschließlich zu behandeln. 
Als eine wirkliche Philosophie der Geschichte kann 
nach dem bisherigen nur eine solche Untersuchung gelten, 
die ihrem Charakter nach auf eine Stufe gestellt werden darf 
mit den früher erörterten Disziplinen einer Naturphilosophie 
oder einer Eechtsphilosophie. Offenbar hat sie es dann 
nicht mit dem geschichtlichen Tatbestande selbst und den 
^) Die Ausdrücke bezeichnen die drei Teile der Eizellen, aus denen sich 
die organischen Wesen entwickeln: äußeres, inneres und mittleres 
Keimblatt. ^) Vgl. z. B.: W. Mc Dougall: An Introduction to Social 
Psychology, 3. ed. 1910. 
9» 
131 
II. Kapitel. Die 'philosophischen Disziplinen. 
ihn bedingenden Natur- und Kulturfaktoren zu tun, sondern 
mit den von der Geschichtswissenschaft vorausgesetzten 
Grundbegriffen und Grundsätzen und mit dem logischen 
Charakter der von ihr angewandten Methoden, d. h. mit 
dem, was wir oben als zweite Auffassung der Philosophie 
der Geschichte (§ 12, 4) bezeichnet haben. Dazu kommt aber 
noch die Beziehung zur Metaphysik. Zweifellos bieten die 
Ergebnisse der Geschichtswissenschaft eine wichtige, un- 
entbehrliche Grundlage für eine jede umfassende Metaphysik. 
Während wir der üsTaturwissenschaft und der Psychologie 
bestimmende Gesichtspunkte für eine Anschauung über das 
Wesen der Welt, über ihr Werden nach der Naturseite oder 
über die individuelle geistige Entwicklung entnehmen können, 
verdanken wir der Geschichtswissenschaft neuen wertvollen 
Stoff zur Vervollständigung unserer Weltanschauung. Über 
die weitere Entwicklung der Menschheit läßt sich ohne Eück- 
sicht auf die Kenntnis des bisherigen geschichtlichen Verlaufs 
nichts Begründetes vorbringen. Die Vorstellung einer Voll- 
endung des geschichtlichen Fortschritts wirft natürlich ihr 
Licht zugleich rückwärts auf das geschichtlich bereits Fest- 
stehende, und so kann man von einem höheren Sinn der 
Geschichte, einem Ziel, dem sie zustrebe, einer Idee, die sie 
verwirkliche, reden, ohne auch nur das Geringste an den 
Ergebnissen der historischen Forschung zu ändern. Damit 
tritt die Philosophie der Geschichte zugleich in ein näheres 
Verhältnis zur Ethik, insofern der sittliche Fortschritt als 
eine Haupttendenz in der geschichtlichen Entwicklung auf- 
gewiesen wird^). Spezielle Metaphysik^) und angewandte 
Wissenschaftslehre kehren demnach, wenn wir von den oben 
1) Vgl. A. Görland: Ethik als Kritik der Weltgeschichte, 1914 (ent- 
hält zugleich eine gute Einführung in die Denkweise der neukantischen 
Marburger Schule Cohens). ^) Auch die anregende und sachkundige 
Würdigung der gegenwärtigen Kultur bei E. Hammacher: Haupt- 
fragen der modernen Kultur, 1914, enthält einen starken metaphysischen 
Einschlag; ebenso das Werk von Oswald Spengler, Der Untergang 
des Abendlandes 1919 u. ö., das in ganz naturalistischem Geiste das 
Kulturleben völlig nach Analogie des Pflanzenlebens und seiner Ent- 
wicklungsgesetze auffaßt. Vgl. auch J. Cohn: Der Sinn der gegen- 
wärtigen Kultur, 1914. 
132 
§12. Die Philosophie der Geschichte. 
gekennzeichneten einzel"v\issenschaftlichen Vorwegnahmen ab- 
sehen, auch in der letzten der besonderen philosophischen 
Disziplinen als bestimmende Momente wieder. 
7. Weitere Literatur über die Philosophie der Geschichte 
und Soziologie: 
F. Emmel: Der Tod des Abendlandes. Geg. O. Spenglers skeptische 
Philosophie, 1920. 
A. Fouillee: La science sociale contemporaine, 3. ed. 1896. 
F. H. Giddings: The Principles of Sociology, 1896. Deutsch von 
P. Seliger, 1911. 
A. Grotenfelt: Die Wertschätzung in der Geschichte, 1903. — Ge- 
schichtliche Wertmaßstäbe, 1905. 
L. Gumplowicz: Grundriß der Soziologie, 2. Aufl. 1905. 
Th. Lindner: Geschichtsphilosophie, 2. Aufl. 1904. 
H. Lotze: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte 
der Menschheit, 4. Aufl. 3 Bde. 1884 ff. (geschichtsphilosophischen 
Inhalts ist namentlich der dritte Band; die Auffassung ist die einer 
Philosophie der Geschichte im ersten Sinne unserer Ausführungen). 
G. Mehlis: Lehrbuch der Geschichtsphilosophie, 1915. 
F. Müller-Lyer: Phasen der Kultur und Richtlinien des Fortschritts 
1908, 2. Aufl. 1918. Phasen der Liebe. Eine Soziologie des Ver- 
hältnisses der Geschlechter. 4. Aufl. 1918. Die Zähmung der Nornen. 
Eine Soziologie der Zuchtwahl, der Erziehung und der Erbfolge. 
2 Bde. 1918. 
H. Rickert: Die Grenzen der natxirwissenschaftlichen Begriffsbildvmg. 
Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften*, 1902. 
2. Aufl. 1913. Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 2. Aufl. 
1910. Ztir Kritik der hier entwickelten Auffassung vgl. K. Stern- 
berg: Zur Logik der Geschichtswissenschaft. Philosoph. Vorträge, 
veröffentlicht von der Kantgesellschaft, herausg. v. A. Lieber t, 
Nr. 7, 1914. 
H. Scholz: Zum Untergang des Abendlandes, 1920. 
G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Ver- 
gesellschaftung, 1908. 
W. Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung, 7. Aufl. 1918. 
F. Squillace: Die soziologischen Theorien. Deutsch von R. Eisler, 
1911. 
L, Stein: Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, 2. Aufl. 1903. 
F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft*, 2. Aufl. 1912. 
J. Unold: Organische und soziale Lebensgesetze, 1906. 
L. F. Ward: Reine Soziologie. Deutsch vonUnger, 2 Bde. 1907—1909. 
W. Wundt: Elemente der Völkerpsychologie. Grvmdlinien einer psy- 
chologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit, 1912. 
133 
II. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
X6nopol: Les principes fondamentaux de Vhistoire, 1899, 2. Aufl. unter 
dem Titel: La theorie de Vhistoire, 1908 (entspricht mit Rickert und 
Grotenfelt am meisten der erkenntnistheoretischen Auffassung der 
Geschichtsphilosophie). 
Zur historischen Orientierung dienen: 
A. Alengry: Essai historique et critique sur la sociologie chez Auguste 
Comte, 1900. 
P.Barth: Die Geschichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer bis auf 
Marx und Hartmann, 1890. 
P. Barth: Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. I. Ein- 
leitung und kritische ÜTaersicht, 1897. 2. Aufl. 1915 (enthält eine 
eingehende Kritik der modernen Soziologie). 
J. Delvaille: Essai sur Vhistoire de Videe de progres jusqu'a la fin du 
XVIII' siede, 1910. 
H. Eibl: Metaphysik und Geschichte. Eine Untersuchung zur Ent- 
wicklung der Geschichtsphilosophie, I. 1913 (behandelt die vorchrist- 
liche Zeit). 
R. Fester: Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, 1890. 
R. Flint: The philosophy of history in Europe, I. 1874 (behandelt nur 
die französischen und deutschen Forscher), 2. sehr umgearbeitete 
Aufl. : Historical Philosophy in France, French Belgium and Switzer- 
land, 1893. 
J. Goldfriedrich: Die historische Ideenlehre in Deutschland, 1902. 
§ 13. EBGÄNZENDE UND KEITISCHE BEMEEKUNGEN. 
1. Unter den im vorstehenden besprochenen philosophi- 
schen Disziplinen kann man namentlich zwei vermissen, die 
zu den besonderen gerechnet werden müßten, die Philo- 
sophie der Mathematik und die der Sprachwissenschaft 
oder die Sprachphilosophie. Die Übergehung dieser 
beiden Disziplinen rechtfertigt sich zunächst dadurch, daß 
sie nur ausnahmsweise eine besondere Behandlung an den 
Universitäten finden, während alle von uns aufgeführten 
Wissenschaften sich fast überall einer regelmäßigen Dar- 
stellung erfreuen. Ganz ähnlich, und das ist unser zweiter 
Eechtfertigungsgrund, verhält es sich mit der Literatur über 
diesen Gegenstand. Zwar findet man nicht wenig Philo- 
sophisches über Mathematik oder Sprachwissenschaft in den 
Werken, die der Logik der Erkenntnistheorie, der Psycho- 
logie dienen, aber eigentümliche systematische Darstellungen 
nur vereinzelt. Dieser mehr zufällige Umstand hat uns ver- 
134 
§13. Ergänzende und kritische Bemerkungen. 
hindert, die beiden als solche von uns anerkannten philo- 
sophischen Disziplinen in unseren Kreis mit hereinzuziehen^). 
Die geschilderten Tatsachen sind um so merkwürdiger, als 
Beiträge zur Philosophie der Mathematik und zur Sprach- 
philosophie zu den ältesten gehören, die wir in der Geschichte 
der Philosophie überhaupt kennen. Denn einen beachtens- 
werten Anfang zu einer Philosophie der Mathematik finden 
wir schon bei Pythagoras und einen eben solchen zur 
Sprach Philosophie schon bei Platon in seinem Kratylos. 
Außerdem, sind die Mathematik und die Sprachwissenschaft 
zu den frühesten Einzelwissenschaften zu rechnen, die sich 
von der Philosophie abgetrennt haben, und es wäre deshalb 
erst recht zu erwarten gewesen, daß eigentümliche philo- 
sophische Untersuchungen diesen beiden Gebieten gegenüber 
in umfassenderem Maße stattgefunden hätten. Einige Gründe 
für das der Erwartung nicht entsprechende tatsächliche Ver- 
halten wollen wir im folgenden anführen. 
2. Die Mathematik ist unter den Einzelwissenschaften 
insofern die allgemeinste, als sie die vielseitigste Anwendung 
zu finden vermag. Die Zählbarkeit gehört zu denjenigen 
Bestimmungen, die grundsätzlich allen Gegenständen des 
Denkens zukommen, und die Eäumlichkeit gilt als eine 
wenigstens für alle realen Gegenstände der ISTatur voraus- 
zusetzende Ordnungsform. Indem die Mathematik diese 
Bestimmungen in idealwissenschaftlicher Isolierung behan- 
delt, wird sie zu einer sehr allgemeinen Formalwissenschaft, 
einer Schwester der Logik. Diese allgemeine Bedeutung der 
Mathematik gegenüber allen anderen Einzelwissenschaften 
macht es verständlich, daß sie eine Ausnahmestellung unter 
ihnen seit langer Zeit eingenommen hat, und daß sie der 
Philosophie nebengeordnet worden ist, anstatt einen Gegen- 
stand ihrer Untersuchung zu bilden. Dazu kommt noch 
ein zweiter Umstand. Durch ihre logische Strenge, ihren 
überzeugenden Aufbau wurde die Mathematik seit dem Be- 
ginn der neueren Philosophie zu einem Vorbild für alle wissen- 
schaftlichen Bestrebungen, und man versuchte allen Ernstes 
die Philosophie nach ihrem Muster zu gestalten, um dieser 
^) In der neuesten Zeit scheint darin ein Wandel einzutreten. 
135 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
eine gleiche Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit zu er- 
werben. Auch diese Erscheinung verhinderte eine unbe- 
fangene und objektive Philosophie der Mathematik. Endlich 
drittens sind logische und erkenntnistheoretische Erörte- 
rungen über die materialen und formalen Voraussetzungen 
einer Wissenschaft, die der Mathematik gegenüber fast die 
einzige Aufgabe der Philosophie bilden, verhältnismäßig- 
neuen Datums. Die mathematische Gewißheit wird zum 
Problem erst durca Hume und Kant, und eine Logik der 
Mathematik ist noch beträchtlich später hervorgetreten i). 
3. Etwas anders steht es mit der Sprachphilosophie. 
Zunächst konnte die Logik als diejenige Disziplin gelten, 
welche die philosophische Ergänzung der Sprachwissenschaft 
zu bilden habe. IS'achdem dann der Unterschied zwischen 
beiden Disziplinen genügend festgestellt w^ar, übernahm die 
Psychologie die Aufgabe einer philosophischen Ergänzung 
der Sprachwissenschaft, und zwar mit so entschiedenem Er- 
folge, daß die sprachphilosophischen Bemühungen der Gegen- 
wart im allgemeinen als psychologische charakterisiert werden 
dürfen. ISTeben der Individualpsychologie, die besonders die 
Entwicklung der Sprache beim Kinde näher verfolgt, ist 
hauptsächlich mit Eücksicht auf den Tatbestand der Sprache 
eine Völkerpsychologie erwachsen, die sich unter anderem 
das Problem gestellt hat, den Entwicklungsprozeß der 
Sprache auf allgemeine psychologische Bedingungen in der 
Geschichte der Menschheit zurückzuführen und daneben die 
vielfach verhandelte Frage nach dem Ursprung der Sprache 
zu beantworten^). Da wir nun der Meinung sind, daß die 
1) Vgl. A. Voß: Über das Wesen der Mathematik, 2. Avifl. 1913; Über 
die mathematische Erkenntnis in der »Kultur der Gegenwart«, 1914. — 
L. Couturat: Die philosophischen Prinzipien der Mathematik. Deutsch 
von C. Siegel, 1908. L. Brunschvicg: Les etapes de la phüosophic 
mathematique, 1911. P. Boutroux: Les principes de Vanalyse mathc- 
matique, I, 1914. ^) Vgl. W. Wundt: Völkerpsychologie I : Die Sprache, 
2 Tle. 3. Avifl. 1910 und O. Dittrich: Die Probleme der Sprachpsycho- 
logie, 1913, der mit Recht den Ausdruck Völkerpsychologie für eine 
Wissenschaft von den an eine beliebig zu denkende Gemeinschaft ge- 
bundenen psychischen bzw. psychophysischen Vorgängen beanstandet 
und dafür »Gemeinpsychologie« vorschlägt. 
136 
§13. Ergänzende und kritische Bemerkungen. 
empirische Psychologie bereits einen rein einzelwissenschaft- 
lichen Charakter angenommen hat und binnen kurzem auch 
äußerlich zur Einzelwissenschaft werden wird, so können wir 
in dieser psychologischen Bearbeitung des Tatbestandes der 
Sprache keine eigentliche Philosophie der Sprachwissenschaft 
erblicken. Diese wird sich ausbilden, sobald die Sprach- 
wissenschaft als besonderer Teil einer allgemeinen Zeichen- 
lehre erscheinen wird. In dieser werden wir dann die eigent- 
liche Sprachphilosophie zu erblicken haben ^). i!s"eben dem 
Inhalt fesselt jedoch auch die Form der Sprachwissenschaft 
ein philosophisches Denken. Denn die Methoden, die die 
Philologie im allgemeinen Sinne des Wortes entwickelt hat, 
bilden gewiß einen eigenartigen Gegenstand für logische 
Untersuchungen. Daran ändert sich auch nichts, wenn 
man mit hervorragenden Vertretern dieser Wissenschaft 
annehmen sollte, daß sie nur eine Hilfsdisziplin der Ge- 
schichtswissenschaft darstelle. Deutung, Erklärung und 
Beurteilung der Quellen, die sich der Geschichtsforscher 
muß angelegen sein lassen, setzen in der Tat die genaue 
Kenntnis der Formen und der Entwicklung der Sprache 
voraus. Dazu kommt, daß die letztere, wie die Kunst, 
das Eecht, die Beligion, selbst ein Gegenstand historischer 
Untersuchungen geworden ist. Daher hat die Sprach- 
philosophie an der Philosophie der Geschichtswissenschaft 
ebenfalls eine philosophische Ergänzung. Die Beziehung 
zur Geschichtsforschung kann aber keinesfalls die Abhängig- 
keit der Sprachwissenschaft von der Psychologie und einer 
allgemeinen Zeichenlehre (Semasiologie, vgl. § 6, 6) ersetzen. 
Auch hier darf endlich, -s^ie bei der Mathematik, hervor- 
^) Ansätze dazu finden sich bei H. Gomperz: Weltanschauungslehre, 
2 Bde. 1907 und A. Marty: Untersuchungen zur Grundlegung der all- 
gemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, I. 1908. Ein erkenntnis- 
theoretisches Ziel verfolgen die sehr anregenden, aber auch anfechtbaren 
»Beiträge zu einer Kritik der Sprache« von F. Mauthner (3 Bde., 2.Aufl. 
1906 — 13; ferner: Wörterbuch der Philosophie; Neue Beiträge zu einer 
Ivritik der Sprache, 2 Bde. 1910). Die Worte sind nach ihm ungeeignet 
zum Eindringen in das Wesen der Realität, weil sie nur Erinnerungs- 
zeichen sind für die Empfindungen unserer Sinne und weil diese Sinne 
Zufallssinne sind. 
137 
//. Kapitel. Die philosophischen Disziplinen. 
gehoben werden, daß die Metaphysik so gut wie ganz un- 
beteiligt bleibt, wenn wir von phantastischen Spekulationen 
absehen, die den Zahlen und den Zeichen gelegentlich ge- 
widmet worden sind. So erklärt es sich hier, daß eine selb- 
ständige Sprachphilosophie noch kaum zur Ausbildung ge- 
langt ist. Erst in der neuesten Zeit beginnt sie sich im An- 
schluß an psychologische, logische und erkenntnistheoretische 
Untersuchungen über das Bedeutungsbewußtsein, die Zeichen- 
funktion und die Methoden der vergleichenden Sprachwissen- 
schaft zu entwickeln. 
4. Neben den philosophischen Disziplinen, die Kultur- 
gebiete wie Sittlichkeit, Eecht, Kunst, Wissenschaft und 
Eeligion behandeln, darf eine Philosophie der Er- 
ziehung nicht fehlen. Da aber die Wissenschaft von der 
Erziehung, die Pädagogik, die gesamte Philosophie zur 
Grundlage hat und die Philosophie der Erziehung diese 
Grundlage aufzudecken hat, so wollen wir auf diese Fragen 
erst am Schlüsse eingehen, wenn wir zu einem Überblick 
über die gesamte Philosophie gelangt sind (vgl. § 35). 
Daß wir die Geschichte der Philosophie nicht in 
den Umkreis unserer philosophischen Disziplinen aufge- 
nommen haben, wird keiner eigentlichen Eechtfertigung be- 
dürfen. Wir zählen sie natürlich zu dem Teil der allgemeinen 
Geschichtswissenschaft, der die Geschichte der Wissenschaf- 
ten umfaßt. Zur Einführung sei empfohlen: A. Messer, 
Geschichte der Philosophie* (3 Bändchen der Sammlung 
»Wissenschaft und Bildung« des Verlags Quelle & Meyer, 
Leipzig), 4. Aufl. 1920. Darin ist auch weitere Literatur 
angegeben. 
5. Zu diesen ergänzenden haben noch einige kritische Be- 
merkungen zu treten. Die Übersicht der philosophischen 
Disziplinen in diesem Kapitel wird dem Unbefangenen ohne 
weiteres die in §§ 2 und 3 geäußerten Bedenken gegen die 
herkömmliche Begriffsbestimmung und Einteilung der Philo- 
sophie bestätigt haben. Die Ungleichartigkeit der unter 
dem Namen Philosophie heute behandelten Wissenschaften 
hat sich deutlich gezeigt. Hier steht die Metaphysik mit 
ihrer Aufgabe, eine Ergänzung der von den Einzelwissen- 
138 
§13. Ergänzende und kritische Bemerkungen. 
Schäften ermittelten Erkenntnisse zu leisten, dort die Wissen- 
schaftslehre, die in ihren beiden Teilen, Erkenntnistheorie 
und Logik, den allgemeinsten Inhalt und die allgemeinsten 
Formen alles wissenschaftlichen Denkens darlegen und prüfen 
soll. In der Naturphilosophie und der philosophischen 
Psychologie dagegen sehen wir speziellere Gebiete zu jenen 
allgemeineren in Beziehung gebracht ; in der Ethik, Ästhetik, 
empirischen Psychologie, Soziologie endlich einzelwissen- 
schaftliche Bemühungen allmählich zu selbständigem Be- 
triebe heranreifen. Und alles das soll Philosophie sein ? Mit 
erneuter und vermehrter Energie spricht aus diesem Tat- 
bestande zu uns die Aufforderung, den Begriff der Philo- 
sophie in einer von der üblichen abweichenden Weise zu 
bestimmen und danach zugleich eine andere Einteilung 
ihres Gebiets zu entwerfen. Und so sei auch hier auf das 
IV. Kapitel verwiesen. 
Als Werke, die eine Übersicht, über den gegenwärtigen 
Stand der unter dem Namen Philosophie zusammenge- 
faßten Wissenschaften zu geben suchen, seien genannt: 
Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts, 2 Bde., 
herausgegeben von Windelband, 2. Aufl. 1907. Darin haben Wundt 
die Psychologie, Th. Lipps die Naturphilosophie, Bauch die Ethik, 
Tröltsch die Religionsphilosophie, Windelband die Logik und die 
Geschichte der Philosophie, Lask die Rechtsphilosophie, Rickert die 
Geechichtsphilosophie und Groos die Ästhetik behandelt. 
Die Kultur der Gegenwart, herausgegeben von Hinneberg, 
Tl. I, Abt. VI: Systematische Philosophie, 2. Aufl. 1908, worin Dilthey 
das Wesen der Philosophie, Riehl die Logik iind Erkenntnistheorie, 
Wundt die Metaphysik, Ostwald die Naturphilosophie, Ebbinghaus 
die Psychologie, Eucken die Philosophie der Geschichte, Paulsen die 
Ethik und die Zukunftsaufgaben der Philosophie, Münch die Pädagogik 
tmd Lipps die Ästhetik behandelt haben. 
Sodann begannen Jahrbücher der Philosophie, herausgegeben von 
M. Frischeisen-Köhler, zu erscheinen (I 1913, II 1914), in denen 
Übersichten über die einzelnen philosophischen Disziplinen von sach- 
kundigen Vertretern derselben geboten wurden. 
Eine knappe, einführende Darstellung gibt A. Messer, Philosophie 
der Gegenwart* (Sammlung: »Wissenschaft u. Bildung«) 3. Aufl. 1920, 
139 
///. KAPITEL. 
DIE PHILOSOPHISCHEN ßlCHTMGEN. 
§ 14. EINTEILUNG DEE PHILOSOPHISCHEN EICH- 
TUNGEN. 
1. Das Ergebnis der beiden vorausgehenden Kapitel war 
die Feststellung einer Anzahl unter sich verschiedener philo- 
sophischer Aufgaben. Demgemäß kann man nicht erwarten, 
daß eine etwa in der Metaphysik eingenommene An- 
schauung schlechthin bestimmend für den Standpunkt in 
allen anderen philosophischen Disziplinen sein müsse. Viel- 
mehr sind je nach den einzelnen philosoj^hischen Wissen- 
schaften besondere Eichtungen zu unterscheiden, und wo 
gleichartige Ausdrücke uns trotz einer solchen Verschieden- 
heit der Disziplinen begegnen, werden wir nur allgemeine 
Ähnlichkeiten, nicht aber eine tiefere Verwandtschaft zu 
vermuten haben. So redet man z. B. von einem Formalis- 
mus in der Logik und in der Ästhetik, aber in jeder dieser 
Wissenschaften bedeutet der gleiche Ausdruck eine wesent- 
lich verschiedene Auffassung, und man würde sehr irre gehen, 
wenn man auf irgend einen notwendigen Zusammenhang 
zwischen ihnen schließen wollte. Allerdings bezeichnet man 
häufig einen Philosophen schlechthin, durch Unterordnung 
unter eine einzige Kategorie, z. B. als Individualisten oder 
als Pantheisten. Dabei wird jedoch nur ein philosophischer 
Standpunkt angedeutet, der in einem System besonders aus- 
geprägt erscheint, oder die Meinung zum Ausdruck gebracht, 
daß die Metaphysik die wichtigste philosophische Disziplin 
sei und daher in ihrem Sinne vornehmlich die Charakteristik 
eines Philosophen ausfallen müsse. Will man dagegen genau 
verfahren, so ist bei der Angabe solcher Bestimmungen stets 
auf die Disziplin hinzuweisen, für die sie gelten sollen. Es 
werden dann auch von selbst gewisse Irrungen beseitigt, die 
140 
§14. Einteilung der philosophischen Richtungen. 
lediglich in der Mehrdeutigkeit der Worte wurzeln, \ne 
z. B. das beliebte Kampfmittel gegen den metaphysischen 
Materialismus (der alles Eeale als körperlich ansieht), ihn 
mit der gleichnamigen ethischen Richtung zu verwechseln, 
die nur materielle Güter schätzt. 
2. Der Begriff der Eichtung kann nicht nur auf den inhalt- 
lichen Ausbau einer Wissenschaft, sondern auch auf die 
allgemeine Bedeutung angewandt werden, die man einer 
Disziplin im ganzen beilegt. So gibt es verschiedene Rich- 
tungen hinsichtlich der Bestimmung von Aufgaben der Logik 
oder der Psychologie oder der Erkenntnistheorie. Von solchen 
Richtungen haben wir, soweit sie für die Gegenwart von 
größerer Wichtigkeit zu sein scheinen, schon im II. Kapitel 
gehandelt (vgl. §§ 5, 6, 8). Darum behalten wir uns für diesen 
Abschnitt lediglich die Richtungen vor, die sich auf den 
Inhalt der Disziplinen selbst beziehen und innerhalb der- 
selben typische Lösungen einzelner Probleme be- 
deuten. Eine sachliche Verschiedenheit von Richtungen in 
bezug auf dasselbe Problem beweist offenbar einen Mangel 
an Allgemeingültigkeit der Erkenntnis. Diesen Mangel zeigt 
unter allen philosophischen Disziplinen am stärksten die 
Metaphysik, weil sie am meisten über das erfahrungsgemäß 
und einzelwissenschaftlich Festgestellte hinausgeht und zu- 
gleich von den zufälligen Fortschritten aller Sonderdisziplinen 
in ihrem allgemeinen Teil nur wenig berührt wird (vgl. § 4, 9). 
So überragen denn die Richtungen innerhalb der Metaphysik 
an Mannigfaltigkeit und Langlebigkeit alle übrigen. Dagegen 
finden wir die entscheidendsten Richtungsgegensätze in der 
Erkenntnistheorie. Denn abgesehen davon, daß diese die 
Voraussetzungen aller wissenschaftlichen Erkenntnis nach 
der Seite des Inhalts darzulegen und zu prüfen hat (vgl. § 5), 
werden die Ergebnisse, die sie gewinnt, auch von Einfluß 
auf das Verfahren, ja selbst auf die Anerkennung der Mög- 
lichkeit einer Metaphysik. Die \\ässenschaftlich am besten 
ausgebildete Logik bietet uns keinen Anlaß zur Aufstellung 
wesentlicher Richtungsunterschiede. Von der iSTaturphilo- 
sophie und Psychologie betrachten wir die entsprechenden 
Gegensätze innerhalb der Metaphysik. Dann aber gibt es 
141 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
nur noch eine philosophische Disziplin, in der eine größere 
Mannigfaltigkeit von bedeutungsvollen Eichtungen hervor- 
getreten ist, nämlich die Ethik. Wir erhalten somit die 
Haupteinteilung : 
A. Die erkenntnistheoretischen Eichtungen, 
B. die metaphysischen Eichtungen, 
C. die ethischen Eichtungen. 
3. Die Erkenntnistheorie hat nach drei Gesichts- 
punl?:ten eine Verschiedenheit von Eichtungen entstehen 
lassen. Die Frage nach dem Ursprung aller Erkenntnis, 
die Ansicht über ihre Geltung oder ihre Grenzen und die 
Bestimmung ihres Gegenstandes hat die Ausbildung fol- 
gender Gegensätze begründet: 
a) Den Ursprung der Erkenntnis verlegt der Eationalis- 
mus in den menschlichen Geist, der Empirismus dagegen 
in die Erfahrung, während der Kritizismus (Transzen- 
dentalismus) den Anteil beider Quellen an dem Zustande- 
kommen einer Erkenntnis zugibt und näher zu bestimmen 
versucht. 
b) Die volle Geltung aller Erkenntnis vertritt, ohne sie 
näher zu prüfen, der Dogmatismus. Dagegen bestreitet 
der Skeptizismus die allgemeine oder absolute Geltung 
jeglicher Erkenntnis, indem er sie für subjektiv (Subjekti- 
vismus) oder relativ (Eelativismus) erklärt. Der Posi- 
tivismus (vgl. § 4, 5) beschränkt die Gültigkeit der Er- 
kenntnis auf das Gebiet des Immanenten, der Erfahrung und 
der »positiven« Wissenschaften, und der Kritizismus ver- 
langt vor aller Transzendenz (d. h. Überschreitung der Er- 
fahrung) eine genaue Untersuchung der Bedingungen unserer 
Erkenntnis, ohne jedoch die metaphysischen Behauptungen 
für schlechthin unmöglich oder unzulässig zu halten. 
c) Alle Erfahrungsgegenstände erscheinen dem Wirklich- 
keitsstandpunkt i) nur als Bewußtseins-Bestimmtheiten 
oder -Inhalte. In besonderer Anwendung auf das Problem 
der Außenwelt wird diese von dem Idealismus als Vor- 
») Über den hier vorliegenden Sinn des Wortes DWirklichkeit« vgl. 
S. 46 A 1 und 62. 
142 
§14. Einteilung der philosophischen Richtungen. 
Stellung bzw. Erzeugnis des Denkens charakterisiert. Im 
Gegensatz hierzu behauptet der Eealismus, daß es ein 
von der Wirklichkeit des Bewußtseins verschiedenes Eeales 
gibt, dessen Bestimmung die Aufgabe der Erfahrungswissen- 
schaften und einer sie ergänzenden Metaphysik sei. Der 
Phänomenalismus endlich betrachtet die empirischen 
Gegenstände der Erkenntnis als Erscheinungen, denen ein 
unerkennbares Eeales zugrunde liege. 
4. Die Eichtungsunterschiede in bezug auf den Inhalt der 
metaphysischen Spekulation lassen sich nach sechs Ge- 
sichtspunkten ordnen. Von diesen beanspruchen die drei 
ersten eine allgemeine Bedeutung, insofern sie sich auf alle 
Prinzipien, die beim Aufbau einer Weltanschauung Ver- 
wendung finden können, beziehen. Die drei letzten da- 
gegen sind mehr besonderer Art. 
Die erste Klasse metaphysischer Eichtungen bezieht sich 
auf die Frage nach der Zahl der in einer Weltanschauung 
anzunehmenden Prinzipien. In der Eegel stellt man die 
darüber möglichen Ansichten unter den Namen Monismus, 
Dualismus und Pluralismus einander gegenüber. Da 
aber die ersten beiden Bezeichnungen gegenwärtig vor- 
wiegend qualitative Unterschiede ausdrücken, so ziehen wir 
es vor, dem Pluralismus den Singularismus als rein 
quantitativen Gegensatz zuzuordnen. Während dieser 
aus einem einzigen Prinzip alle Besonderheiten der Welt 
ableitet, behauptet jener eine Mehrheit selbständiger Prin- 
zipien annehmen zu müssen. 
Eine zweite Gruppe metaphysischer Eichtungen hat das 
Problem der Qualität der Prinzipien zum Ausgangspunkt. 
Hierbei lassen sich Prinzipien des Seins und des Ge- 
schehens voneinander sondern. Als Prinzipien des Seins 
können das Materielle oder das Geistige oder beide oder end. 
lieh eine Einheit von beiden gelten. Danach erhalten wir die 
Eichtungen des Materialismus, Spiritualisrnu s, Dualis- 
mus und Monismus. Als Prinzipien des Geschehens werden 
die Kausalität, der mechanische Zusammenhang von Ur- 
sache und Wirkung, und die Finalität, die Verknüpfung 
aller Vorgänge nach dem Gesichtspunkte des Zweckes, auf- 
143 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
gefaßt; unter den Namen Mechanismus und Teleologie 
sind die entsprechenden metaphysischen Richtungen be- 
kannt. 
Für eine dritte Klasse allgemeiner metaphysischer Rich- 
tungen steht der Wert der Welt, des Daseins und Geschehens, 
in Frage. Nach dem Pessimismus hat das Nichtsein der 
Welt den Vorzug vor ihrem Sein, während der Optimismus 
sie entweder für die beste unter den möglichen Welten er- 
klärt oder wenigstens einen Fortschritt, ein Wachstum im 
Sinne des Guten, Wertvollen annimmt. 
5. Die mehr besonderen metaphysischen Eichtungen be- 
ziehen sich auf die Auffassung dreier Begriffe, die vor allem 
in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts im Vorder- 
grunde des metaphysischen Interesses standen, auf die Be- 
stimmung oder Annahme eines höchsten Wesens, einer Willens- 
freiheit und einer Seele. 
Die vierte Gruppe metaphysischer Gegensätze bringt 
die Stellung der Metaphysiker zum Gottesbegriff zum Aus- 
druck. Wir unterscheiden hiernach den Pantheismus, 
den Theismus, den Deismus, den Panentheismus und 
den Atheismus und fassen sie kurz als theologische Eich- 
tungen zusammen. 
Einen fünften Einteilungsgrund bildet das Problem der 
Willensfreiheit, deren Anerkennung und Verteidigung der 
Indeterminismus, deren Verwerfung (oder Umdeutung) 
im Sinne der Annahme einer ausnahmslosen Gesetzmäßig- 
keit menschlichen Wollens und Handelns der Determinis- 
mus fordert und leistet. 
Eine sechste und letzte Klasse metaphysischer Eich- 
tungen beschäftigt sich mit der Bestimmung des Wesens 
der Seele. Die Namen Substantialitäts- und Aktuali- 
tätstheorie weisen auf die Anerkennung oder Verwerfung 
einer Seelensubstanz als Träger des (aktuellen) seelischen 
Geschehens hin, während man von einem Intellektualis- 
mus und Voluntarismus mit Eücksicht auf die quali- 
tative Beschaffenheit der Grundeigenschaften oder -fähig- 
keiten des seelischen Lebens redet. Der Intellektualist be- 
trachtet das Denken oder das Vorstellen als die wesentliche 
144 
§14. Einteilung der philosophischen Richtungen. 
Tätigkeit der Seele, der Voluntarist dagegen erblickt bie in 
dem Wollen. 
Von den innerhalb einer Klasse aufgeführten metaphysi- 
schen Auffassungen darf man im allgemeinen sagen, daß 
sie nicht gleichzeitig innerhalb eines philosoxjhischen Systems 
zur Anwendung gelangen können. Sie sind also Gegensätze 
und damit unverträglicher Natur. Die Verbindung von 
Eichtungen, die verschiedenen Klassen angehören, ist jedoch 
bis auf wenige Ausnahmen prinzipiell unbeschränkt, und so 
können mannigfaltige Gesamtanschaungen durch eine ver- 
schiedenartige Verknüpfung von Eichtungen der sechs Grup- 
pen gebildet werden. Trotzdem findet man in der Ge- 
schichte der Philosophie gewisse Verbindungen bevorzugt. 
So ist z. B. der Spiritualist in der Eegel Vertreter der Sub- 
stantialitätstheorie und Theist, der Monist ebenso regel- 
mäßig Pantheist und Determinist. Man wird daraus ent- 
nehmen können, daß eine völlige Unabhängigkeit dieser ver- 
schiedenen Klassen metajjhysischer Eichtungen voneinander 
nicht besteht, und in der Tat ist vorauszusetzen, daß irgend 
eine Annahme über die allgemeine Qualität der Prinzipien 
einer Weltansicht zugleich auch die Stellungnahme zu den 
besonderen Fragen beeinflußt. Wir werden bei der Einzel- 
darstellung gelegentlich auf solche Beziehungen hinweisen. 
6. Wie die bisher aufgeführten Kategorien irgend einem 
Philosophen gegenüber zur Anwendung kommen, ist hier- 
nach leicht einzusehen und mag durch ein Paar Beispiele 
veranschaulicht werden. Spinoza erscheint uns erkennt- 
nistheoretisch als Eationalist, Dogmatiker und Eealist, meta- 
physisch als Singularist, Monist, Mechanist und Optimist, 
als Pantheist, Determinist, Aktualitätstheoretiker und In- 
tellektualist. Damit ist der Standpunkt, den er in der 
theoretischen Philosophie einnimmt, in allen wesentlichen 
Punkten bestimmt. Dagegen werden wir Lotze erkennt- 
nistheoretisch als Kritizisten in beiden Bedeutungen dieses 
Namens, sowie als Eealisten, und metaphysisch als Ver- 
treter eines sehr gemäßigten Singularismus, des Spiritualis- 
mus, der Teleologie, des Optimismus, des Theismus, des 
Indeterminismus und der Substantialitätstheorie zu charak- 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 10 
145 
III. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
terisieren haben, während ein GHed des Gegensatzes Intel- 
lektualismus und Voluntarismus hier deshalb nicht ange- 
wandt werden darf, weil Lotze nicht bloß eine wesentliche 
Eigenschaft oder Fähigkeit der Seele anerkennt. Hieraus 
ergibt sich, daß die Weltanschauungen von Lotze und 
Spinoza fast völlige Gegensätze bilden. Näher verwandt 
dem Standpunkt, den Lotze einnimmt, ist der von Herbart 
und Leibniz vertretene. Nur sind beide entschiedene Plu- 
ralisten, dazu Deterministen und Intellektualisten. So stellt 
sich die Metaphysik Herbarts als eine Erneuerung der 
Leibniz sehen dar, da sie in allen von uns hervorgehobenen 
Beziehungen gleiche Anschauungen begründet. Die Unter- 
schiede zwischen beiden Denkern finden sich in der Erkennt- 
nistheorie und in der Ethik, sowie in dem Verfahren, ver- 
möge dessen sie zu jenen Eesultaten der Metaphysik gelangen. 
Einen Einwand gegen unsere Einteilung der metaphysi- 
schen Eichtungen könnte man darin suchen, daß nicht bei 
allen Denkern eine einer bestimmten Klasse zugehörige Kate- 
gorie anwendbar ist. Wo dies durch die Unvollständigkeit 
der zu schildernden Metaphysik selbst bedingt ist, fällt es 
natürlich unserem Schema nicht zur Last. Aber es gibt, 
wie wir z. B. oben bei Lotze gesehen haben, auch Anschau- 
ungen, die neben den durch besondere Namen von uns aus- 
gezeichneten Auffassungen dem gleichen Gegenstande gelten 
und somit auf eine Unvollständigkeit unserer Einteilung hin- 
deuten. Wir rechtfertigen diesen Mangel damit, daß wir 
in der philosophischen Literatur ausgeprägte, allgemeiner 
Geltung sich erfreuende Bezeichnungen für solche Ansichten 
nicht gefunden haben und es hier nicht für unsere Aufgabe 
halten konnten, die ohnehin verwickelte philosophische 
Terminologie noch mit einigen neuen Ausdrücken zu. be- 
reichern. 
7. In der Ethik scheiden sich die Eichtungen im allge- 
meinen nach zwei Gesichtspunkten. Zunächst hinsichtlich 
der Frage nach dem Ursprung des Sittlichen, und zwar 
sowohl der sittlichen Verpflichtung als auch des sittlichen 
Urteils, sodann in bezug auf das Problem des Wesens der 
Sittlichkeit. 
146 
§ 14. Einteilung der philosophischen Richtungen. 
a) Den Ursprung der sittlichen Verpflichtung suchen die 
autonomen Moralsysteme in dem handelnden Indivi- 
duum selbst; die heteronomen oder autoritativen da- 
gegen in Vorschriften, die von außen her, z. B. in der Form 
kirchlicher oder staatlicher Gesetze, an den Einzelnen heran- 
treten. Den Ursprung der sittlichen Beurteilung oder Er- 
kenntnis findet der Intuitionismus oder Apriorismus 
in einem eigenartigen Vermögen, das in der Kegel zugleich 
als angeborene Anlage des menschlichen Geistes bzw. Ge- 
müts gefaßt wird, während der Empirismus oder Evolu- 
tionismus den Maßstab der moralischen Wertung von der 
Erfahrung oder der Entwicklung des Einzelnen und der 
Menschheit abhängig sein läßt. 
b) Das Wesen des Sittlichen kann entweder nur formal 
oder auch dem Inhalt nach bestimmt werden. Der Forma- 
lismus behauptet, daß sich empirische Güter oder Zwecke 
überhaupt nicht allgemeingültig für das sittliche Wollen 
und Handeln festsetzen lassen, während die materiale Be- 
stimmung gerade diesen Weg einschlägt. Von der letzteren 
aus gelangen wir zu einer besonderen Angabe von Motiven, 
Objekten und Zwecken des sittlichen Verhaltens und zu 
entsprechenden drei spezielleren Klassen ethischer Eich- 
tungen. 
c) Ihrem psychologischen Charakter nach bestimmt die 
Gefühlsmoral oder die emotionale Ethik die Motive 
des sittlichen Wollens und Handelns als Gefühle, Affekte 
u. dgl. Die Eeflexionsmoral ihrerseits erblickt in einer 
Überlegung, einer verständigen oder vernünftigen Reflexion 
den Beweggrund zum Sittlichen. Man unterscheidet auch 
wohl innerhalb der Eeflexionsmoral zwischen einer Ver- 
standes- und einer Vernunft moral, wobei man die Vernunft 
als das höhere geistige Vermögen auffaßt, das aus allge- 
meineren Gründen dem sittlichen Streben und Tun seine 
Richtung vorschreibt. 
d) Als Objekte, an denen die sittlichen Absichten verwirk- 
licht werden sollen, bestimmt der Individualismus einzelne 
Menschen, sei es nun, daß das handelnde Subjekt selbst 
diesen Gegenstand des Strebens bilde, wie der Egoismus 
10* 
147 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
behauptet, sei es, daß andere Individuen dazu dienen, was 
der Altruismus fordert. Der Universalismus dagegen 
lehrt, daß irgendeine Gesamtheit oder Gemeinschaft, z. B. 
die Nation oder der Staat, Objekt des sittlichen Strebens sei. 
e) Den Zweck des sittlichen Wollens sieht der Subjek- 
tivismus in der Herstellung eines subjektiven Zustandes, 
der Lust oder der Glückseligkeit (Hedonismus — Eudä- 
monismus), der Objektivismus in der Erreichung eines 
durch objektive Maßstäbe oder Kriterien zu bestimmenden 
Zieles. Die Namen Perfektionismus, Evolutionismus, 
Naturalismus Ymd Utilitarismus bezeichnen die ver- 
schiedenen speziellen Eichtungen, in denen man dieses Ziel 
anzugeben versucht hat. 
Die Anwendung dieser neuen Kategorien mag auch hier 
an den oben erwähnten Philosophen veranschaulicht werden. 
Hiernach würde Spinoza in ethischer Hinsicht die Prädikate 
des Autonomismus, der materialen Bestimmung, eines ge- 
wissen Apriorismus, eines zwischen Gefühls- und Eeflexions- 
moral vermittelnden Standpunkts, des Egoismus und des Ob- 
jektivismus verdienen. Lotze dagegen wäre als Autonomist, 
Vertreter der materialen Bestimmung, als Intuitionist, Ge- 
fühlsmoralist, Altruist und Eudämonist zu charakterisieren. 
8. Zum Schlüsse möchten wir noch darauf hinweisen, daß 
einige der von uns oben definierten Ausdrücke in verschie- 
denen Bedeutungen vorkommen. So bezieht sich z. B. der 
Name Evolutionismus nicht nur auf die Entwicklung der 
sittlichen Beurteilung, sondern auch auf eine gewisse Be- 
stimmung der sittlichen Zwecke^). Ähnlich verhält es sich 
mit dem Namen Kritizismus. Diesem Übelstande war des- 
halb nicht auszuweichen, weil keine anderen geltenden Be- 
zeichnungen zur Verfügung standen und es nach der ganzen 
Aufgabe dieses Buches wichtiger schien den herrschenden 
^) Außerdem wird der Name Evolutionismus in umfassenderer Bedeu- 
tung zur Bezeichnung einer metaphysisclien Richtung angewandt, die 
z. B. durch A. Fouilldi in Frankreich und H. Spencer in England ver- 
treten ist. Dasselbe gilt für den Ausdruck Individualismus. So ent- 
halten die Ausfüllrungen von B. Bosanquet in seinen Qifford-Lecturea 
1911 — 12 über die Individualität eine ganze Metaphysik. 
148 
§15. Rationalismus j Empirismus und Kritizismus. 
Sprachgebrauch zu schildern, als dessen unliebsame Viel- 
deutigkeiten zu beseitigen. Nur in einem Falle haben wir 
zu einem neuen Terminus greifen zu sollen geglaubt, nämlich 
bei dem Objektivismus. Und hier geschah es nur, um ver- 
schiedene Eichtungen zusammengehöriger Natur ihrer ge- 
meinsamen Gattung unterordnen zu können. 
Als allgemeine Literatur für die philosophischen Eich- 
tungen seien folgende Schriften empfohlen: 
M. W. Calkins: The persistent problems of Phüosophy, 1907, 3. ed. 1912. 
G. Dumesnil: Les conceptions phüosophiques perdurables, 1912. 
R. Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 3. Aufl. 1910. 
Handwörterbuch der Philosophie, 1913. 
R. Eucken: Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, 
1878, 4. Aufl. unter dem Titel: Geistige Strömungen der Gegen- 
wart, 1909. 
O. Flügel: Die Probleme der Philosophie und ihre Lösungen, 4. Aufl. 
1906 (vom Standpunkte Herbarts). 
K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 1919. 
Kirchner-Michaelis: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, 
6. Aufl. 1911, 
Fr. A. Lange: Geschichte des Materialismtis 1865. 9. Aufl. 1914. 
O. Liebmann: Zur Analysis der Wirklichkeit*, 1876, 4. Aufl. 1911 
(geistreiche und anregende Betrachtungen über Probleme der Er- 
kenntnistheorie, Naturphilosophie, Psychologie, Ethik und Ästhetik). 
Dazu: Gedanken und Tatsachen*, 2 Bde. 1899—1904 (wertvolle Er- 
gänzungen in bezug avd erkenntnistheoretische, metaphysische, natur- 
philosophische und psychologische Probleme). 
B. Varisco: I massimi problemi, 1910, 2. ed. 1912 (Erkenntnistheore- 
tische, psychologische, werttheoretische iind metaphysische Probleme) 
W. Windelband: Geschichte der Philosophie, 8. Aufl. 1919, die im 
Gegensatz zu anderen chronologisch iind biographisch gehaltenen Dar- 
stellungen eine Geschichte der Probleme und Begriffe gibt. 
A. DIE ERKENNTNISTHEORETISCHEN RICHTUNGEN. 
§ 15. RATIONALISMUS, EMPIRISMUS UND KEITIZIS- 
MUS (TEANSZENDENTALISMUS). 
1. Wenn ich den Satz ausspreche: Leibniz ist ein Haupt- 
vertreter der rationalistischen Denkrichtung, so habe ich 
damit einer Erkenntnis Ausdruck verliehen. Woher stammt 
sie, d. h. worauf stützt sie sich, da sie doch mehr sein will, 
als ein bloß subjektives Meinen und Vermuten oder als eine 
149 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
ganz willkürliche Behauptung 1 Zweifellos ist die Erfahrung, 
und zwar die geschichtliche Erfahrung, an ihrer Gewinnung 
wesentlich beteiligt. Ohne von Leibniz und seineu Werken, 
ohne von dem Eationalismus und seinen sonstigen Vertretern 
eine Kenntnis erhalten zu haben, aus bloßer Überlegung 
oder geistiger Spontaneität heraus hätte ich jenen Satz nie 
bilden können. Aber andererseits wären die Schriften, die 
Berichte, aus denen ich geschöpft habe, totes und nichts- 
sagendes Material gewiesen, wenn nicht mein Verständnis, 
meine Deutung, Untersuchung und Vergleichung dazu ge- 
treten wären. Dasselbe Material Avürde dem Tiere, dem 
Wilden, dem Ungebildeten keine solche Bestimmung über 
Leibniz abgenötigt haben. Es ist also bei dieser Erkennt- 
nis, und wir dürfen, da ihre individuellen Züge bei unserer 
Betrachtung keine wesentliche Rolle gespielt haben, hinzu- 
fügen: bei jeder Erkenntnis dieser Art ein Doppeltes be- 
teiligt. Ein empirischer Faktor, demgegenüber wir uns 
empfangend (rezeptiv) verhalten, und ein rational er Faktor, 
der unsere Selbsttätigkeit, unser Erfassen und Verarbeiten 
des gegebenen Stoffes darstellt, wirken in der Erkenntnis zu- 
sammen. Dann fragt sich, ob ein Wertunterschied zwischen 
diesen Faktoren besteht, ob der eine von ihnen als der wich- 
tigere, primäre anzusehen ist. 
2. Auf diese Frage antwortet der Eationalismus, daß 
das Ausschlaggebende bei der Erkenntnis das Denken sei. 
Unser Geist, unsere Vernunft, die gestaltende Kraft des 
Intellekts mit seiner ursprünglichen Anlage, mit seinen Ideen 
und Grundsätzen macht eine Erkenntnis eigentlich erst zur 
Erkenntnis. Betrachtet man als ideale Aufgabe oder als 
letztes Ziel einer Erkenntnis, daß sie notwendig und all- 
gemeingültig ist, wie das von den mathematischen Sätzen 
behauptet werden darf, so ist es leicht, die Un Vollkommenheit 
und Minderwertigkeit des empirischen Faktors darzutun. 
Jede Erfahrung könnte anders sein als sie ist. Daß die Sonne 
am Morgen aufgeht, geschieht zwar regelmäßig, aber das 
Gegenteil ist keine Undenkbarkeit, also die Behauptung 
des Sonnenaufgangs kein notwendiges Urteil. Auch ist jede 
solche empirische Feststellung nur von relativer bzw. »kom- 
150 
§15. Rationalismus, Empirismus und Kritizismus. 
parativer« Allgemeinheit (wie Kant sagt), irgendeine neue 
Erfahrung kann sie beschränken oder ändern. Soweit also 
Erkenntnisse von empirischen Faktoren abhängen, soweit 
ist das höchste Ziel aller Erkenntnis für sie unerreichbar. 
Nun gibt es aber außerdem Gebiete des Wissens und For- 
schens, auf denen die Erfahrung überhaupt keine 
Rolle spielt. Dazu gehört vor allem die reine Mathematik. 
Ihre Sätze werden a priori (d. h. unabhängig von Erfahrung) 
entwickelt und bewiesen, und gerade sie zeichnen sich durch 
jene Merkmale der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit 
als rein rationale Erkenntnisse aus. Wenn also eine Wissen- 
schaft möglich ist, die nur dem rationalen Faktor ihre Ent- 
stehung und Ausbildung verdankt und dabei der idealen 
Aufgabe aller Erkenntnis in befriedigendstem Maße ent- 
sprechen kann, so muß offenbar der rationale Faktor vor 
dem empirischen, der ein derartiges Ziel nicht erreichen 
läßt, den Vorrang verdienen. Aber auch in den Erfahrungs- 
wissenschaften wird man das Beste und Wichtigste unserer 
Erkenntnis auf den rationalen Faktor zurückführen müssen. 
Nicht in dem Gegebensein und Vorgefundenwerden be- 
stimmter Tatsachen, sondern in dem, was wir daraus machen, 
wie wir sie bearbeiten und durchdringen, liegt alle Erweite- 
rung und Vertiefung unserer Erkenntnis begründet. Die 
bloße blinde, plumpe, starre Macht erlebter Inhalte pflegt, 
wo kein Denken sich ihrer leitend und verknüpfend annimmt, 
weder ein Untersuchen anzuregen noch ein Wissen zu ent- 
wickeln. Insbesondere aber sind die Eealitäten, die wir 
auf dem Gebiete der äußeren und der inneren Erfahrung 
setzen und bestimmen, die Materie sowie die Seele, nur 
durch das Denken zu fassen. Das Wesen der Welt, die Ur- 
sachen des Geschehens, die Gesetze, die den Ablauf der 
Ereignisse beherrschen, sind nur auf rationalem Wege zu 
erfassen und auszudrücken^). 
3. Schon im Altertum hat der rationalistische Standpunkt 
eine entschiedene Vertretung gefunden. Typisch für die 
Vorsokratiker ist das Schelten auf die Sinne und der Preis 
^) Infolge der Beziehung zum a priori (= vor der Erfahrung, unab- 
hängig von ilu-) nennt man den Rationalismus auch Apriorismus. 
151 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
des Denkens. Nicht nur die Eleatcn, namentlich Parme- 
nides (um 470 v. Chr.), haben der Vernunft allein die Fähig- 
keit zugeschrieben, das Seiende zu erkennen, auch innerhalb 
der so sehr verschiedenen Eichtung des Atomismus ist von 
Demokrit die rationale Erkenntnis für die echte, die sinn- 
liche dagegen für die dunkle erklärt worden. Ferner sind 
Sokrates und Pia ton, die dem Begrifflich- Allgemeinen 
vor dem Empirisch-Konkreten einen hohen Vorrang zu- 
gestanden, als Kationalisten anzusehen. Dasselbe gilt für 
Aristoteles, insofern er die Vernunft als das Organ der 
höchsten und unmittelbar gewissen Wahrheiten betrachtet. 
Seine genauere Begrenzung und Ausbildung erhält freilich der 
Eationalismus in der Neuzeit, wo er die Grundrichtung in der 
festländischen Philosophie des 17. und eines Teils des 18. Jahr- 
hunderts ist. Hauptvertreter sind Descartes, Spinoza, 
Leibniz und Wolf f. Das Vorbild der Mathematik ^vlrd 
hier bestimmend für die Gestaltung der Philosophie. Der 
rationale Faktor erlangt nicht nur die Herrschaft über die 
theoretischen Disziplinen, sondern wird auch in der Ethik als 
die höchste Autorität für das Leben und Handeln anerkannt. 
Alle rein empirische Weltauffassung ist nach Spinoza eine 
»inadäquate« (unzulängliche) Erkenntnis, der die adäquate 
der Vernunft gegenübergestellt T\ird. Ewige, allgemein- 
gültige, notwendige Wahrheiten gibt es nach Leibniz nur im 
Sinne von verites de raison, deren Grundsatz das principe 
de la contradicton (d. h. der sog. Satz des Widerspruchs: 
A ist nicht = non-A) ist. Dagegen sind von bloß zufälliger 
Geltung die verites de fait, die nach dem Prinzip des zu- 
reichenden Grundes oder des Zweckes, dem Grundsatz du 
meilleur (Alles was ist und geschieht, hat einen Grund oder 
Zweck, warum es so und nicht anders ist und geschieht) 
beurteilt werden müssen. Nach der Ausbildung von Kants 
Kritizismus ist der eigentliche Eationalismus zurückgetreten. 
4. Auf die oben gestellte Frage erteilt der Empirismus 
eine ganz andere Antwort. Für ihn unterliegt es keinem 
Zweifel, daß die Erfahrung das wichtigere und wesentlichere, 
das eigentlich grundlegende und primäre Moment ist. Denn 
— so etwa pflegt er seine Anschauung zu rechtfertigen — 
152 
§15. Rationalismus, Empirismus und Kritizismus. 
ohne Erfahrung gibt es überhaupt keine Erkenntnis. 
Allüberall hebt diese erst an, Avenn ein empirisch Gegebenes 
vorliegt. Der kindliche Geist erwacht erst in und mit den 
Einwirkungen von Sinnesreizen. Zwar hat man von an- 
geborenen Ideen und Einsichten, geredet, die vor aller Er- 
fahrung einen Grundstock gewisser und allgemeiner Er- 
kenntnisse bilden sollen. Aber diese Annahme ist unhalt- 
bar; der Geist ist vielmehr, wie die Beobachtung des ent- 
stehenden Bewußtseins lehrt, als eine tabula rasa, ein leeres 
Blatt zu betrachten, bevor die Erfahrung ihre Zeichen darauf 
einträgt. Sodann ist der empirische Faktor auch einziges 
Motiv eines Fortschritts in unserem Wissen: neue Er- 
fahrung ist die unerläßliche Bedingung für neue Erkenntnis 
(vgl. § 7, 5). Wollte man lediglich denkend weiterkommen, 
so bliebe man stets im Kreise des einmal gewonnenen und 
angeeigneten Materials. Denn die Bewegung des reinen 
Denkens steht unter der Herrschaft des Grundsatzes der 
Identität und vermag daher zwar allerlei Umformungen her- 
beizuführen, aber keine stoffliche, inhaltliche Änderung aus 
sich heraus zu erzeugen. Nennt man mit Kant das Urteil 
ein analytisches, welches in seinem Prädikat den Subjekts- 
begriff bloß erläutert, ganz oder teilweise dem Sinne nach 
wiederholt (z. B. alle Körper sind ausgedehnt), so tragen 
demnach die Leistungen des reinen Denkens sämtlich ana- 
lytischen Charakter. Nur auf Grand der Erfahrung läßt 
sich ein synthetisches Urteil bilden, das über den Sub- 
jektsbegriff hinausführt, etwas Neues hinzufügt (z. B.: das 
Jahr 1762 ist Baumgartens Todesjahr und J. G. Fichtes 
Geburtsjahr). Endlich läßt sich zeigen, daß alle unsere 
Begriffe, selbst die abstraktesten und allgemeinsten, aus 
Erfahrungen hervorgegangen sind, und daß aller Inhalt 
unseres Denkens auf sie zurückgeführt werden kann. So 
ist, was wir Substanz nennen, nur ein regelmäßiges Zu- 
sammenvorkommen von empirisch gegebenen Eigenschaften 
und die Kausalität eine regelmäßige Folge von empirisch 
gegebenen Vorgängen. Auch hat nur die unmittelbare Er- 
fahrung unumstößliche Gewißheit, während das Denken 
in Irrtümer verstrickt, sofern man sich nicht genau an seinen 
153 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
empirischen Sinn hält und vor Vertauschungen verschiedener 
Begriffe hütet. 
5. Der Empirismus scheint im Altertum zuerst bei den 
Sophisten (besonders Protagoras um 440 v. Chr. und 
bei der sokratischen Schule der Kyrenaiker (deren Stifter 
Aristipp um 400 v. Chr.) vertreten worden zu sein. Später 
haben die Stoiker und die Epikureer die Wahrnehmung 
als die Grundlage alles Wissens bezeichnet. Doch fällt 
auch für diese philosophische Eichtung die hauptsächliche 
Entwicklung in die Neuzeit. Die ganze englische Erkennt- 
nistheorie des 17. und 18. Jahrhunderts pflegt man schlecht- 
hin der rationalistischen des Festlandes als die empiristische 
gegenüberzustellen. Bei Bacon freilich ebenso wie bei 
Ilobbes trifft man neben solchen Tendenzen auch rationa- 
listische Auffassungen an. Erst mit Locke, dem energi- 
schen Gegner der Lehre von den angeborenen Ideen, ist der 
Empirismus in voller Entschiedenheit zum Durchbruch ge- 
langt (vgl. § 5, 2). Wenn man als Kriterium der Apriorität 
die Allgemeingültigkeit aufgestellt hatte, die solchen Ideen 
wie der der Ursache oder Gottes zukomme, so zeigt Locke, 
daß diese allgemeine Geltung gar niefit besteht. Die einzigen 
Quellen der Erkenntnis sind die äußere und die innere Er- 
fahrung, aus der sich alle unsere Ideen ableiten lass^en. 
Seinen Standpunkt folgerichtig durchzuführen, waren die 
Nachfolger bemüht. Berkeley beseitigte den Begriff einer 
materiellen Substanz (die noch bei Locke als ein unbekann- 
tes Etwas Anerkennung gefunden hatte), indem er sie in eine 
bloße Verbindung von Empfindungsinhalten (Farben, Tönen, 
Dmcken usw.) auflöste. Daneben bestritt er die Annahme 
von abstrakten Vorstellungen, an der Locke ebenfalls noch 
festgehalten hatte, und setzte bestimmte Einzelerfahrungen 
an deren Stelle. Noch einen Schritt weiter ging Hume, der 
auch den Begriff einer geistigen Substanz, einer seelischen 
Eealität als Trägerin der inneren Erfahrung aufhob und ein 
empirisches Zusammen von Bewußtseinsinhalten, ein »Bündel 
von Perzeptionen« als Sinn des Ichbegriffs aufzuweisen 
suchte. Den Glauben an eine notwendige Verknüpf ung von 
Ursache und Wirkung erklärte er psychologisch durch die 
154 
§ 15. Rationalismus, Empirismus und Kritizismus. 
Macht der Gewohnheit, die uns bei häutiger Aufeinanderfolge 
zweier Vorgänge a und b gemäß dem Gesetz der Assoziation 
die Erwartung von b aufnötigte, wenn a eintrete. Zu einem 
prinzipiellen Abschluß wurde dieser Empirismus durch John 
Stuart Mi 11 gebracht, nach dem sogar die mathematische 
Erkenntnis aus der Erfahrung abgeleitet werden kann. In der 
Gegenwart sind derartige Ansichten gleichfalls in Geltung 
und verbinden sich in der Eegel mit dem weiter unten zu 
schildernden Positivismus und Wirklichkeitsstandpunkt. — 
Zum Sensualismus wird der Empirismus bei Condillac 
{Traite des sensations, 1754), der nur eine Quelle aller Er- 
kenntnis, die Sinneswahrnehmung, annimmt und somit von 
einer daneben bestehenden Selb st Wahrnehmung absieht. 
6. Eine dritte Antwort auf die Frage nach der Herkunft 
der Erkenntnis verdanken wir dem Kritizismus. Diese 
von Kant begründete Eichtung vermittelt zwischen dem 
Empirismus und dem Eationalismus, indem sie das relative 
Eecht beider anerkennt und sich über eine äußerliche Ver- 
knüpfung ihrer Grundgedanken zu einer neuen Ansicht er- 
hebt. Die Grundzüge derselben lassen sich an der Hand des 
folgenden Schemas leicht übersehen: 
Ding an sich > Stoff (empirischer Faktor, a posteriori), 
^^iu -<^eta ' Erfahrungserkenntnis, Real- 
^ -itis J^J'a/^ [ Wissenschaft 
(a priori, transzendentaler Faktor) Form ■< Gemüt (Sinnlichkeit 
— . und Verstand) 
Anschauungsform Denkform 
(Raum imd Zeit) (Kategorie der Realität, Kausalität 
"^ ■ u. a.) 
Reine Erkenntnis, 
Formalwissenschaft (Mathematik z. B.). 
Aus diesem Schema ergibt sich zunächst, daß nach Kant 
an jeder auf die Wirklichkeit bezüglichen Erkenntnis zwei 
Faktoren beteiligt sind, ein empirischer, der Stoff genannt 
wird, mit den Empfindungen zusammenfällt, und a posteriori 
gegeben ist, und ein transzendentaler, die Form, die a priori 
155 
III. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
besteht. Der »Stoff« (Inhalt) der Erkenntnis stammt von 
Gegenständen (»Ding an sich«), die unsere Sinnlichkeit, den 
äußeren oder inneren Sinn, »affizieren«. Die »Form« rührt 
her von unserem Erkenntnisvermögen (»Gemüt« in der 
Sprache Kants), das in Sinnlichkeit und Verstand zerfällt 
und demnach auch zwei Arten von Formen, Anschauungs- 
formen (Eaum und Zeit) und Denkformen (12 Kategorien) 
bereitstellt. Auf das Zusammenwirken dieser Formen gründet 
sich alle »reine«, d. h. von empirischen Faktoren freie Er- 
kenntnis, die in der Mathematik, in der theoretischen Natur- 
wissenschaft, auch wohl in der Logik und Erkenntnistheorie, 
d. h. in allen Formalwissenschaften nach neuerer Ausdrucks- 
weise, geübt wird. Von »Dingen an sich« dagegen gibt es 
keine unmittelbare Erkenntnis aus bloßer Vernunft, also 
keine rationale Metaphysik. Eine solche wäre nur möglich, 
wenn wir über eine »intellektuelle Anschauung« verfügten, 
d. h. wenn der Verstand ohne das Mittelglied der Sinnlich- 
keit von Gegenständen erfahren könnte. Statt dessen sind 
wir bei aller auf diese gerichteten Erkenntnis stets auf »Er- 
scheinungen«, d. h. auf den in Eaum und Zeit gegebenen 
Stoff angewiesen. Was jenseits aller möglichen Erfahrung 
liegt (die »Dinge an sich«, das »Transzendente«) ist also nie- 
mals so, wie es an sich ist, zu erfassen. Unsere Erkenntnis 
ist auf Immanentes, auf das innerhalb der Grenzen möglicher 
Erfahrung Gelegene, eingeschränkt. Der Empirismus ist 
daher im Eecht, soweit er für alle Einsicht in die Wirklich- 
keit einen empirischen Faktor unerläßlich findet. Aber auch 
der Eationalismus ist im Eecht, wenn er die Allgemeingültig- 
keit und Notwendigkeit mathematischer oder anderer Wahr- 
heiten auf Faktoren a priori zurückführt. Doch bedarf der 
Begriff des empirischen Faktors einer Veränderung, die sich 
zugleich auf den des rationalen erstreckt. Nicht nur der 
Verstand, sondern auch die Sinnlichkeit enthält und liefert 
Elemente a priori. Darum wird das Empirische von Kant 
auf die räumlich und zeitlich noch nicht geordnete »Emp- 
findung« beschränkt und ein umfassenderer transzendentaler 
Faktor für den rationalen eingesetzt (vgl. § 4, 4; 5, 4). Zu- 
gleich hat er zu zeigen gesucht, daß »Erfahrung« (im Sinne 
156 
§15. Rationalismus, Empirismus und Kritizismus. 
der Empfindungen) und »Verstand« nicht für sich selbständige 
Erkenntnisquellen darstellen, sondern daß sie erst in ihrem 
Zusammenwirken Erkenntnis (von realen Objekten) ver- 
mitteln. 
7. Die Gnindzüge des Kritizismus werden auch heute noch 
festgehalten. So formuliert z. B. Liebmann den »Kern- 
gedanken« desselben dahin, »daß der Mensch alles schlecht- 
hin nur in dem Medium des menschlichen Bewußtseins er- 
kennt, daß mithin auch alle Philosophie, wie überhaupt alle 
Wissenschaft, sich immer nur innerhalb der Sphäre mensch- 
licher Gedanken und menschlicher Vorstellungen bewegen 
kann und diese Sphäre niemals und unter keinen Umständen 
zu überschreiten vermag«. Auch als Transzendentalis- 
mus oder als Transzendentalphilosophie wird der Kriti- 
zismus in diesem Sinne bezeichnet. In etwas anderer Eich- 
tung bekennt sich Windelband zum Kritizismus, wenn er 
der genetischen die kritische Methode entgegensetzt und 
von dieser erklärt, daß sie die Aufgabe habe, die Geltung 
der Axiome, der allgemeinsten Voraussetzungen von Wissen- 
schaft, Moral und ästhetischer Beurteilung darzutun. Diese 
Geltung lasse sich nur teleologisch erweisen, indem gezeigt 
werde, daß nur bei solcher Annahme gewisse Ideale auf den 
genannten Gebieten erreichbar seien. Die genetische Methode 
ist aber im wesentlichen die vom Empirismus empfohlene 
und durchgeführte. So betont auch K. Lasswitz, daß die 
Erkenntnis im Sinne des Kritizismus nicht etwa ein subjek- 
tiver Vorgang sei, der sich bloß im Bewußtsein des einzelnen 
Menschen abspielte, sondern vielmehr »die gesetzliche Grund- 
lage dessen, was allen Einzelwesen gemeinsam ist, d. h. die 
Bedingung aller Gestaltung der Erfahrung«. »Sinnlichkeit 
und Verstand bestimmen Beschaffenheit und Ordnung der 
Dinge«. Und wenn früher Schelling und Schopenhauer 
den erkenntnistheoretischen Grundsatz aussprachen, daß 
Subjekt und Objekt Wechselbegriffe seien und kein Objekt 
ohne ein Subjekt gedacht werden könne, so gaben sie damit 
ebenfalls einer kritizistischen, transzendental-philosophischen 
Überzeugung einen kurzen zusammenfassenden Ausdruck. 
Dieser grundlegende Gedanke beherrscht in mannigfaltigen 
157 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Fassungen die gesamte neuere Erkenntnistheorie, sofern sie 
nicht einen rein empiristischen Charakter trägt. 
8. Fragen wir am Schluß dieser Übersicht, welche von den 
streitenden Parteien recht habe! Da ergibt sich zunächst, 
daß der Empirismus eine ganz andere Fragestellung zum 
Ausgangspunkt nimmt, als der Eationalismus und der Kriti- 
zismus. Dort soll im Geiste einer geschichtlichen, psycho- 
logischen, genetischen Betrachtung gezeigt werden, wie 
unsere Erkenntnis tatsächlich entstanden ist und sich ent- 
wickelt. Ursprung bedeutet also für den Empirismus soviel 
als: zeitlicher Anfang einer werdenden Erkenntnis. Ea- 
tionalismus und Kritizismus dagegen bemühen sich um eine 
Analyse des fertigen, gegebenen, gewordenen Wissens und 
verstehen demgemäß unter Ursprung das logisch Primäre, 
die für erreichte oder erreicht gedachteErkenntnis 
geltenden Voraussetzungen. Aus dieser Unterscheidung von 
an sich gleich berechtigten Aufgaben i) geht sofort hervor, 
daß der Gegensatz der besprochenen Eichtungen im Prinzip 
nur ein scheinbarer ist, daß sie vielmehr sehr wohl neben- 
einander bestehen können, und daß auch der Kritizismus die 
besondere Untersuchung der Erkenntnis in ihrer Entwick- 
lung weder überflüssig noch unmöglich gemacht hat. Die 
entscheidende Bedeutung der Erfahrung in diesem Entwick- 
lungsgange hat der Empirismus mit unbestreitbarem Eechte 
hervorgehoben. Gewiß setzt alle Erkenntnis erst mit der 
Erfahrung ein, gewiß sind bei der Bildung unserer Begriffe 
empirische Faktoren durchweg beteiligt gewesen, gewiß 
wirken diese zugleich auf den Fortschritt unseres Wissens be- 
ständig ergänzend, verallgemeinernd und verändernd ein. 
Aber die Schilderung der tatsächlichen, im Seelenleben des 
Erkennenden sich vollziehenden Akte und Änderungen ist 
^) Göring hat gegen diese von Riehl betonte Unterscheidung pole- 
misiert. Es sei darum zur Verdeutlichung bemerkt, daß der Chemiker, 
der einen gegebenen Stoff analysiert, in der gleichen Lage ist, wie der 
Rationalist bzw. Kritizist. Wie und woher die Elemente, die er darin 
findet, in die Verbindung hineingekommen sind, vermag er nicht an- 
zugeben. Diese tatsächliche Entstehung einer Verbindung kann aber, 
wie z. B. für den Geologen, von Interesse sein, und deren Schilderung 
gleicht der Tätigkeit des Empiristen. 
158 
§15. Rationalismus, EmpirisTnus und Kritizismus. 
eine psychologische, keine erkenntnistheoretische Auf- 
gabe, und es darf dabei nicht vergessen werden, geistige An- 
lagen, angeborene und erworbene Dispositionen heran- 
zuziehen und zu verwerten. Wenn der Empirismus jedoch 
auch für das fertige Wissen die überragende oder gar aus- 
schließliche Bedeutung des darin etwa enthaltenen empiri- 
schen Faktors dartut, so ist ihm dies bisher nicht gelungen 
und wird ihm aller Voraussicht nach auch nicht gelingen. 
Der Eationalismus bleibt demgegenüber im Eecht, wenn 
er an der erreichten Erkenntnis das rationale Moment in den 
Vordergrund stellt, wenn er die Erfahrung für die Formal- 
wissenschaften (wie reine Mathematik) als logische Be- 
dingung ablehnt. Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit in 
einem von der Erfahrung unabhängigen Faktor begründet 
sieht und Eealitäten nur mit Hilfe des Denkens gesetzt und 
bestimmt werden läßt. Von diesem Gesichtspunkt aus ist der 
Kritizismus nichts anderes als ein verbesserter und einge- 
schränkter Eationalismus, der namentlich die Unersetzlich- 
keit und Unentbehrlichkeit der Erfahrung für alle Wirklich- 
keitserkenntnis betont, damit die rationale Metaphysik auf- 
hebt und zugleich nicht nur dem Verstände, sondern auch 
der Sinnlichkeit a priori gegebene, d. h. unabhängig von der 
Erfahrung (obgleich nicht zeitlich vor ihr) wirksame »For- 
men« zuteilt. 
9. Bei dieser Auffassung kann ein Kampf der Eichtungen 
offenbar nur entstehen, wenn sie ihre eigentlichen Aufgaben 
verkennen und sich auf den Boden der anderen begeben, oder 
wenn sie ihr besonderes Problem für das einzig mögliche hal- 
ten und jede andere Fragestellung ablehnen. In der Tat hat 
der Eationalismus durch seine Lehre von den angeborenen 
Ideen und Grundsätzen sich in die genetisch-psychologische 
Untersuchung eingemischt und eine Abwehr von selten des 
Empirismus herausgefordert. Selbst der kantische Kritizismus 
ist nicht frei von dieser Verfehlung seines besonderen Ziels, 
wenn er die Anschauungs- und Denkformen im »Gemüt bereit 
liegen« läßt und wiederholt seinen Ausführungen eine psycho- 
logische Färbung und Eichtung gibt. Andererseits hat der 
Empirismus nicht selten gemeint, seine Fragestellung und 
159 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Lösung für die allein mögliche oder berechtigte halten zu 
sollen und dadurch der rationalistischen bzw. kritizistischen 
Denliweise natürlichen Anlaß geboten, ihn in seine Schranken 
zurückzuweisen. Von hier aus begreift es sich, daß der Em- 
pirismus seinerseits Probleme behandelt hat, die seiner Zu- 
ständigkeit von vornherein entzogen waren, daß er die All- 
gemeingültigkeit und Notwendigkeit bestimmter, etwa der 
mathematischen, Wahrheiten gänzlich geleugnet oder ver- 
gebliche Anstrengungen gemacht hat, sie von seinen Prin- 
zipien aus zu erklären, und daß ihm alle Eealität als ein un- 
berechtigtes Erzeugnis einer spekulativen Phantasie erschie- 
nen ist, die in ernsthafter Wissenschaft nicht mitreden dürfe. 
Der Streit zwischen den Eichtungen hört auf, sobald man 
derartige Grenzüberschreitungen vermeidet und zum klaren 
Bewußtsein der eigentümlichen Aufgaben einer psychogene- 
tischen Untersuchung des Erkennens der Individuen einer- 
seits und einer logischen Zergliederung von fertigen Gedanken- 
inhalten (wie sie z. B. in Büchern vorliegen) andererseits 
gelangt. Und erkenntnistheoretisch wird der Transzendenta- 
lismus als gereinigter und gemäßigter Eationalismus bei allen 
Wandlungen im einzelnen die maßgebende Auffassung sein 
und bleiben. 
LITERATUR: 
A. Buchenau: Grundprobleme der reinen Vernunft, 1914 (führt in 
den kritischen Idealismus der Marburger Schule Cohens ein). 
C. Göring: System der kritischen Philosophie, 2 Bde. 1874 — 1875 
(unvollendet, der Verf. vereinigt empiristische und kritizistische 
Tendenzen). 
F. Maug6: Le rationalisme comme hypothese methodologique, 1909. 
A. Meinong: Die Erfahrimgsgrundlagen unseres Wissens, 1906. 
Anmerkung: Unter Eationalismus versteht man im 
weiteren Sinne die ausschließliche Anerkennung des von der 
Vernunft Zugelassenen oder mit dem Verstände Bewiesenen. 
Wer an den Dogmen einer kirchlichen Gemeinschaft eine 
Kritik übt, deren einziger Maßstab die Vernünftigkeit, die 
Begründbarkeit ist, wird in dieser Bedeutung des Wortes 
Eationalist genannt. Als Suprarationalismus (bzw. 
Supranaturalismus) bezeichnet man die im Gegensatz 
160 
§16. Dogmatismus, Skeptizismus, Positivismus u. Kritizismus. 
dazu stehende Behauptung übervernünftiger, von dem natür- 
lichen Lichte des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht 
aufzuklärender Eealitäten, über die man belehrt zu sein meint 
aus einer gleichfalls über unser Verstehen erhabenen Erkennt- 
nisquelle, der Offenbarung. Die Aufgabe, den Suprarationalis- 
mus zu behandeln und damit das Problem: Wissen und Glauben 
zu behandeln, ist Sache der Eeligionsphilosophie (vgl. § 11,4), 
die — als Philosophie — natürlich rationalen Charakter trägt. 
Ebenso ist es Sache der philosophisch-rationalen Er- 
kenntnistheorie, zu dem — gerade neuerdings wieder mächtig 
sich regenden — Irrationalismus kritisch Stellung zu 
nehmen. Dieser pflegt die Einsicht der Vernunft (des »kalten, 
nüchternen Verstandes«, wie es gewöhnlich polemisch heißt) 
gering zu schätzen und sich dafür auf eine »höhere« Er- 
kenntnisquelle, die man Intuition, d. h. Anschauung (oder 
auch Ahnung, Gefühl nennt) zu berufen. 
Sofern man mit Intuition plötzlich auftauchende Gedanken 
meint, die die überzeugende Kraft von (sinnlichen) An- 
schauungen haben, ist deren Vorkommen gar nicht zu be- 
streiten. Sie zu beschreiben und zu erklären ist eine Sache 
der Psychologie. Was aber die objektive Geltung (den Er- 
kenntniswert) solcher Intuitionen betrifft, so wird eine 
wissenschaftliche (und eben darum rationale) Philosophie, 
eine solche nur soweit anerkennen, als sie sich vor kritischer 
Prüfung rechtfertigen läßt. Ähnlich verhält sie sich zu 
der in der Gegenwart üppig wuchernden Theosophie^). 
§ 16. DOGMATISMUS, SKEPTIZISMUS, POSITIVISMUS 
UND KEITIZISMUS. 
1. Eine zweite große Frage, die aller Erkenntnis gegenüber 
aufgeworfen wird, ist die ihrer Geltung. Wenn wir Sätze, 
wie: Wasserstoff hat das Atomgewicht 1; im Jahre 1788 
erschien Kants Kritik der praktischen Vernunft; die Seele 
ist ein einfaches, unvergängliches Wesen; über das Mora- 
lische entscheidet nur die Gesinnung — vergleichen, so läßt 
^) Näheres über die irrationalistischen Richtungen und die theo- 
sophische Bewegung der Gegenwart bei A. Messer, »Philosophie der 
Gegenwart«, 3. A\ifl. 1920. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 11 
161 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
sich aus ihrer, kategorischen Form gar nicht ersehen, ob sie 
sämtlich auf gleicher Stufe der Geltung stehen oder über- 
haupt nur einige von ihnen den Titel von Erkenntnissen ver- 
dienen. Schon im vorigen § 15 lernten wir als höchste Stufe, 
als idealen Charakter einer Erkenntnis betrachten, daß sie 
allgemeingültig und notwendig ist. Aber dort handelte es 
sich nur um die Frage, welcher der beiden Faktoren, der 
apriorische oder der aposteriorische, für die Erreichung des 
letzten Zieles in Anspruch zu nehmen sei. Hier dagegen soll 
die Geltung schlechthin zum Problem werden. Inwieweit, 
d. h. innerhalb welcher Grenzen läßt sich eine Erkenntnis 
gewinnen und in welchem Sinn ist sie überhaupt erreichbar ? 
Besteht ein Zusammenhang zwischen den Gebieten, auf denen 
wir uns erkennend betätigen, und der Geltung, die wir für 
unsere Erkenntnis dabei erlangen können ? Dürfen wir an- 
nehmen, daß unser forschender Geist die Wahrheit finden 
kann, oder ist sie für uns ein Bild von Sai-^, ewig verschleiert, 
dem Zweifel preisgegeben ? Trifft das geistreiche Gemälde 
von Sascha Schneider, das uns den Kampf um die Wahr- 
heit schildert und dabei diese selbst als eine in Wolken ge- 
hüllte Frauengestalt vorführt, die nur um so dichter verdeckt 
wird, je mehr und je länger bereits um sie gestritten, nach 
Erschließung ihres geheimen Wesens gestrebt wurde, das 
Eichtige? Die grundlegende Bedeutung derartiger Fragen 
macht es begreiflich, daß sie geradezu auch das Problem 
einer Erkenntnistheorie als Wissenschaft aufrollen, deren 
Eecht und Sinn mit der, wenn auch begrenzten, Möglichkeit 
einer Erkenntnis, ihres Gegenstandes, steht und fällt. 
2. Der Name öoyfiatixoi, Dogma tiker, begegnet uns 
schon in der griechischen Philosophie, indem die Skeptiker 
alle Philosophen, die die Eichtigkeit gewisser Ansichten ver- 
traten, mochten sie nun auf dem Gebiet der Logik, der Physik 
oder der Ethik behauptet werden, mit diesem Namen be- 
legten. Eine speziellere erkenntnistheoretische Bedeutung 
erhielt er sodann durch Kant, der als dogmatisch eine 
Lehre bezeichnet, die einer erkenntnistheoretischen Vorunter- 
suchung über den Grad der Gewißheit oder die Grenzen der 
Gültigkeit ihrer Annahmen entbehrt. In diesem allgemeinen 
162 
§16. Dogmatismus, Skeptizismus, Positivismus u. Kritizismus. 
Sinne dogmatisch ist freilich auch jede einzelwissenschaft- 
liche Untersuchung. Man pflegt hier nur eine speziellere, 
gewissermaßen technische Kritik zu verlangen, die uns z. B. 
über die Wahrscheinlichkeit eines historischen Ergebnisses 
oder über die Fehlergrenzen einer experimentellen Beob- 
achtungsreihe belehrt. Von der erkenntnistheoretischen Prü- 
fung kann hier abgesehen werden, weil sie ein- für allemal 
durch allgemeine Überlegungen für den Umkreis der Einzel- 
wissenschaften geleistet sein kann, und weil da, wo sich die 
Forschung innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung be- 
wegt, besondere Schwierigkeiten erkenntnistheoretischer Art 
kaum aufzutreten Gelegenheit haben. Darum pflegt man 
von einem Dogmatismus nur in der Philosophie zu reden und 
insbesondere die Eichtungen darunter zu befassen, welche 
eine Grenzlinie zwischen Erfahrungserkenntnis und Angaben 
über transzendente (d. h. jenseits der Erfahrung liegende) 
Objekte nicht zu ziehen für nötig halten. Für den Dogma- 
tismus gibt es daher überhaupt keine Grenzen des Wis- 
sens. Er ist die unbesonnenste und zugleich stolzeste, die 
positivste und zugleich naivste Auffassung von der Lei- 
stungsfähigkeit unseres Erkenntnisvermögens. Daher ver- 
bindet er sich auch vorzugsweise mit dem Eationalismus und 
läßt die Grenzen des Erkennens mit denen des Denkens zu- 
sammenfallen. So finden wir gerade unter den Kationalisten 
des 17. und 18. Jahrhunderts die typischen Dogmatiker. Der 
konsequenteste von ihnen allen ist Spinoza, der ohne 
eine genauere erkenntnistheoretische Eechtfertigung seines 
deduktiven Verfahrens gleich mit einer ganzen Anzahl von 
Definitionen und Axiomen größter Tragweite auf den Plan 
tritt. 
3. Ein Dogmatismus im spezifischen Sinne des Wortes 
läßt sich auch schon im Altertum antreffen, denn Pia ton 
und Aristoteles haben ebensowenig wie die Eationalisten 
des 17. Jahrhunderts Metaphysik und Wissenschaft grund- 
sätzlich voneinander geschieden. Aber hier war der Dogma- 
tismus durch den Mangel einzel wissenschaftlicher Forschung 
bedingt. Noch hob sich nicht die Allgemeingültigkeit einer 
Aussage über Ei-fahrbares von den mehr oder weniger un- 
11* 
163 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
sicheren Vermutungen über das Transzendente ab. Auf das 
Problem der Grenzen der Erkenntnis ist man deshalb auch 
erst gestoßen, als man die bunten und widersprechenden 
Versuche einer Metaphysik dem stetigen, Anerkennung er- 
zwingenden Fortschritt mathematischer und naturwissen- 
schaftlicher Untersuchung gegenüberzustellen in der Lage 
war. Auch der Empirismus trägt zunächst dogmatische 
Züge, indem er ohne tiefere Prüfung aus der Bestimmung 
der Erfahrung als einziger Quelle unserer Erkenntnis die 
Forderung ihrer Beschränkung auf das Erfahrbare ableitet 
oder gar mit gleicher Unbefangenheit wie der Eationalismus 
die Grenzen zwischen dem Immanenten und Transzendenten 
verwischt. Noch bei Locke sehen wir deutlich diese Unklar- 
heit über den Geltungsbereich des Empirismus. Erst bei 
Hume bricht sich die Überzeugung Bahn, daß wissenschaft- 
liche Aussagen und metaphysische Ansichten überhaupt 
nicht auf eine Stufe miteinander gestellt werden dürfen, 
und daß der Empirismus zugleich den Positivismus als seine 
natürliche Ergänzung fordert. Nach der umfassenden Kritik 
der dogmatischen Eichtung durch Kant ist ein eigentlicher 
Dogmatismus nicht mehr aufgetreten, wenn man von Mate- 
rialisten des 19. Jahrhunderts absieht, die in der Erkenntnis- 
theorie instinktiv ihre größte Feindin erblicken und sie daher 
für gänzlich überflüssig erklären. So darf dem Dogmatismus 
als pseudo-erkenntnistheoretischer Richtung nur noch eine 
historische Bedeutung beigelegt werden. 
4. Im Gegensatz zu den Dogmatikern nannten sich die 
Skeptiker (von oxsjtzsoß-ai überlegen) auch sg)£XTixol (Zurück- 
haltende, nämlich : mit dem Urteil) und ajcoQTjxixoi (Zweifelnde) 
und hieß man sie consideratores und quacsitores, die über 
den Zustand des Fragens und Abwägens nie hinauskommen. 
Kennt der Dogmatismus keine Grenze des Wissens, so 
bestehen dagegen für den Skeptizismus im Prinzip keine 
Grenzen des Nichtwissens. Der absolute Skeptizis- 
mus behauptet, nichts behaupten zu können, und kann des- 
halb nicht einmal mit Sokrates sagen, er wisse, daß er 
nichts wisse, weil es ihm als eine unberechtigte Anmaßung 
erscheint, überhaupt etwas wissen zu wollen. Unter den 
164 
§16. Dogmatismus, Skeptizismus, Positivismus u. Kritizismus. 
mancherlei Gründen, die der Skeptizismus für seinen Stand- 
punkt beigebracht hat, ragen zwei hervor, ein rela- 
tivistischer und ein subjektivistischer. Nach jenem ist 
alle unsere Erkenntnis relativ, d. h. abhängig von den zu- 
fälligen einzelnen Umständen, unter denen sie stattfand, und 
daher, wenn überhaupt, nur für bestimmte Orte oder Zeiten 
oder sonstige Verhältnisse gültig. Der Subjektivismus be- 
tont die Beteiligung des erkennenden Subjekts an dem Zu- 
standekommen jeder Erkenntnis. Was ich finde und be- 
haupte, braucht nicht auch ein anderer anzuerkennen, die 
Wahrheit ist daher eine ganz individuelle Angelegenheit. 
Daneben wird noch auf die Schwierigkeiten hingewiesen, 
die den Hauptquellen aller Erkenntnis, der Wahrnehmung 
und dem Denken anhaften. Die Schwäche und Unvollkom- 
menheit der Sinne macht eine zuverlässige Wahrnehmung 
unmöglich. Will man sich aber auf das Denken stützen, 
80 gerät man in eine endlose Eeihe von Voraussetzungen 
hinein, die nur mit einer willkürlichen Behauptung oder 
Annahme abgebrochen werden kann. So läßt sich zu jedem 
Satze sein (konträres oder kontradiktorisches) Gegenteil aus- 
sprechen. 
5. Ihre glänzendste Entwicklung hat diese Denkrichtung 
im Altertum gefunden. Es hängt das einerseits mit der durch 
die öffentlichen Zustände begünstigten Neigung zu dialek- 
tischen Künsten, andererseits damit zusammen, daß eine 
wissenschaftliche Forschung im strengeren Sinne des Wortes 
den Skeptizismus noch nicht zu einem erfolglosen Spiel herab- 
drückte. Schon bei den Sophisten scheinen sich Eelativis- 
mus und Subjektivismus einzustellen. Protagoras ver- 
kündet: aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß 
sie sind, und der nicht seienden, daß sie nicht sind. Gorgias 
(um 430) hat drei Sätze zu beweisen versucht; daß nichts sei; 
daß, wenn etwas wäre, es sich nicht erkennen ließe; und daß, 
selbst wenn es erkennbar wäre, eine Mitteilung der Erkennt- 
nis unmöglich wäre. Aber vielleicht waren diese Behaup- 
tungen mehr polemischer oder gar positivistischer Natur. 
Eine eigentliche skeptische Schule tritt erst seit dem 4. Jahr- 
hundert auf. Pyrrhon (um 320) begründet die sog. ältere 
165 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
oder pyirhonischeSkepsis, indem er die Unzugänglichkeit 
(dxaraXi]xpia) der Dinge für unsere Erkenntnis behauptet 
und als die sich daraus ergebende Aufgabe die Zurückhaltung 
{ixoxrj) ini Uiteil betrachtet. Nur dann könne man sich die 
volle Gemütsruhe {araQa^ia) bewahren (vgl. § 9, 4). Timon 
(um 290) hat sich in Spottgedichten {^iXXoi, daher Sillo- 
graph genannt) gegen die Philosophen gewandt, die eine Er- 
kenntnis erlangt zu haben meinten. Weniger radikal verfuhr 
man in der akademischen oder mittleren Skepsis, die 
in die platonische Akademie durch Arkesilaus (um 275) 
eingeführt wurde. Zwar kann man nach ihm nichts wissen, 
aber Wahrscheinlichkeit wenigstens ist erreichbar. Der 
Hauptvertreter dieser Anschauung war Karneades (213 bis 
129), der ein Kriterium der Wahrheit ebenso wie die Mög- 
lichkeit einer Beweisführung bestreitet und dafür drei Grade 
der Wahrscheinlichkeit {jtid^aporrjg) unterscheidet: eine von 
selbst einleuchtende, einer Vorstellung für sich selbst zu- 
kommende, eine zugleich auf der Widerspruch slosigkeit mit 
anderen Vorstellungen beruhende und eine dazu noch durch 
eine vollständige vielleicht empirisch zu denkende) Prüfung 
bewährte Wahrscheinlichkeit. Die dritte und letzte skep- 
tische Schule, die jüngere genannt, ist eine Erneuerung der 
pyrrhonischen und wird von Aenesidemus (1. Jahrh. v. 
Chr.) gestiftet, der zehn Gründe {tqojioi) für den skeptischen 
Standpunkt formulierte. Agrippa (1. Jahrh. n. Chr.) stellte 
fünf derartige Gründe auf, die später auf zwei zurückgeführt 
wurden. Der Hauptschriftsteller der ganzen Eichtung im 
Altertum ist der Arzt Sextus Empiricus (2. Jahrh. n. 
Chr.), dessen Werke^) die wichtigste Grundlage für unsere 
Kenntnis des antiken Skeptizismus bilden. Hier wird aus- 
drücklich erklärt, daß die Skeptiker nicht an den Sinnes- 
inhalten, sondern nur an der Wahrheit der Behauptungen 
über das Wesen der in ihnen erscheinenden Dinge (des Un- 
erfahrbaren, der aöi]Xa, der voovfisva, Noumena) zweifeln. 
So ist die Theorie der Skeptiker ein Phänomenalismus. 
') Tlv^QÜjveioi vnozvnwaeig (Pyrrhoneae institutiones) und ÜQÖq ßa&tj' 
fiatucovq (Contra mathematicos), worunter fünf Bücher »gegen die Dog- 
matiker« gerichtet sind. 
166 
§16. Dogmatismus^ Skeptizismus, Positivismus u. Kritizismus. 
6. In der Neuzeit findet sich der Skeptizismus fast au8- 
schließlich bei französischen Philosophen. Da haben wir 
Montaigne (f 1592), der den Relativismus insbesondere 
auch für die Moral geltend machte, ferner Charron und 
Bayle, die beide durch die skeptische Bestreitung jeder 
Gewißheit auf dem Gebiete theoretischer Erkenntnis für den 
religiösen Glauben Raum zu gewinnen suchten. Seitdem 
ist von theologischer Seite vielfach versucht worden, den 
Unterschied zwischen wissenschaftlicber Erkenntnis und 
religiösem Glauben hervorzuheben oder wenigstens diejenigen 
Punkte innerhalb einer wissenschaftlichen Anschauung, die 
sich mit überkommenen Religionsvorstellungen nicht in Ein- 
klang bringen lassen, als zweifelhaft und bestreitbar nachzu- 
weisen. Wenn man ferner Hume seinen eigenen Ausfüh- 
rungen gemäß als Skeptiker bezeichnet, so darf man nicht 
übersehen, daß sich eine Skepsis nur gegen die eigentlichen 
Vernunfterkenntnisse richtet, daß er dagegen die Tatsachen 
des Lebens und der Erfahrung in ihrer Überzeugungskraft 
durchaus nicht abzuschwächen unternimmt. Im Jahre 1792 
erschien der »Aenesidemus«, als dessen Verfasser sich später 
G. E. Schulze (f 1833) erwies. Der in dieser Schrift ver- 
tretene Skeptizismus wendet sich nur gegen die kritische 
Philosophie von Kant und von C. L. Reinhold und hat 
eine weitere Ausbildung nicht erfahren. So ist der Skeptizis- 
mus als erkenntnistheoretische Richtung aUvSgestorben, und 
nur noch zu bestimmten Zwecken oder gelegentlich bedient 
man sich seines Verfahrens, um zu verhüten, daß gar zu 
dogmatisch gedacht werde oder daß die Bäume der Er- 
kenntnis in den Himmel wachsen. 
7. Unzweifelhaft ist ein radikaler Skeptizismus nur dann 
folgerichtig durchführbar, wenn man sich überhaupt eines 
Urteils oder einer Behauptung enthält. Denn auch die An- 
sicht, daß man nichts wissen könne, und ihre Begründung ist 
im Sinne einer radikalen Skepsis eine dogmatische zu nennen. 
Wer nichts für beweisbar hält, kann auch nicht beweisen 
wollen, daß man nichts zu wissen imstande sei. Der Skepti- 
zismus hebt sich daher als absoluter Standpunkt selbst auf. 
Dagegen kann er — und das ist sein unbestreitbarer Vorzug 
167 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
vor dem Dogmatismus — als Methode einen bedeutenden 
Wert für alle wissenschaftliche Untersuchung beanspruchen. 
Denn nicht jeder Einfall, Intuition oder zufällige Beobachtung 
trägt schon die Gewähr in sich, ein bleibendes oder allge- 
meingültiges Ergebnis der Forschung zu sein. Daher ist der 
akademische Zweifel, wie sich Hume ausdiückte, die not- 
wendige Begleitung eines unbestechlichen Wahrheitseifers. 
Er führt zu vielseitiger Abänderung der Bedingungen, zu 
wiederholten Überlegungen, zu unausgesetzter Prüfung. So 
bildet der Skeptizismus eine wichtige Schule für jeden For- 
scher. Insbesondere werden sich diese methodischen Vor- 
teile des skeptischen Verhaltens in einer Metaphysik fruchtbar 
erweisen, indem sie das Gewicht der Giünde abschätzen 
lehren und damit zugleich die Begriffe und Anschauungen 
innerhalb dieses Gebietes auf ihren wahren Wert zurückführen 
lassen. Endlich aber läßt sich der Unterschied zwischen 
einer theoretischen Annahme und einem praktischen Ein- 
stehen für die Eichtigkeit oder Wahrheit seiner Behaup- 
tungen durch eine skeptische Betrachtung dartun. Daß alle 
theoretische Gewißheit im letzten Grunde nicht unbezweifel- 
bar ist und daß daher der eigentliche Schwerpunkt aller 
unserer Überzeugungen in der Sphäre des Wollens und Han- 
delns liegt, diese besonders von J. G. Fichte eindrucksvoll 
entwickelte Einsicht ergibt sich bei dem fortgesetzten Ver- 
suche alle Erkenntnis in Zweifel zu ziehen. In naher Ver- 
wandtschaft mit dieser Auffassung steht der gegenwärtig in 
England und Amerika (namentlich durch F. C. S. Schiller, 
W. James, J. Dewey u. a.) vertretene Pragmatismus, 
der eine Wahrheit lediglich nach ihren Konsequenzen, nach 
ihrem Wert für die Erkenntnis und das Leben beurteilt und 
alle Prinzipien a priori, alle selbstevidenten oder notwendigen 
Wahrheiten in Postulate bzw. Erwartungen umdeutet, die 
auf Grund ihrer erprobten Nützlichkeit unbestritten gelten. 
So gilt z. B. der Satz, daß jede Veränderung ihre Ursache 
habe, nicht als eine selbstgewisse Wahrheit, sondern als eine 
Annahme, die sich bisher bewährt hat, und deren Bestätigung 
wir auch von der künftigen Erfahrung erwarten. Sicherlich 
wird damit eine Methode wissenschaftlicher Erkenntnis, 
168 
1 
§16. Dogmatismus^ Skeptizism,us, Positivismus u. Kritizismus. 
die Bewahrheitung (»Verifikation«) von Annahmen, Hypo- 
thesen oder Ansätzen durch die Erfahrung oder durch Folge- 
rungen, und ein Prüfungsmittel für Glaubensansichten, die 
Brauchbarkeit für das Leben, richtig bezeichnet. Aber daß 
alle Wahrheiten nur auf diese Weise zu begründen seien, ist 
eine zu weitgehende Behauptung. Weder läßt sich die Bich- 
tigkeit, d. h. die Übereinstimmung eines Urteils mit dem 
in ihm ausgesagten Sachverhalt, noch die (logische oder for- 
male) Wahrheit, d. h. die Übereinstimmung eines Urteils 
mit sich selbst und anderen Urteilen^), nach der Lehre der 
Pragmatisten zureichend erklären. 
8. Sind Dogmatismus und Skeptizismus völlig entgegen- 
gesetzte, so sind Positivismus und Kritizismus nächst- 
verwandte Bichtungen. Beide sind einig in der Behauptung 
von Grenzen für das Wissen und für das Nicht- 
wissen, und beide halten sich bei dieser Grenzbestimmung 
an die Tatsache der Wissenschaft. Nicht Wissen zu schaffen 
oder möglich zu machen, sondern gegebene Erkenntnis zu 
begreifen und die Frage nach der Geltung durch genauere 
Bestimmung des Gebietes, auf dem sie besteht, zu beant- 
worten — das ist die bescheidenere, aber zugleich besonnere 
Auffassung der neuen Eichtungen. Sie nehmen also beide 
eine vermittelnde Haltung ein. Die entscheidenden Merk- 
male des Positivismus ergeben sich aus seiner Stellung zu 
den Einzelwissenschaften. Ein Wissen besteht nach 
ihm in genau der Art und dem Umfange, wie die »positiven« 
Wissenschaften, Mathematik, Physik u. dgl., es ausgebildet 
haben und vertreten. Damit ist für die Philosophie auf eine 
besondere Methode, ja auf ein eigentümliches Gebiet Verzicht 
geleistet. Ihre einzige Aufgabe ist, die Einzelwissenschaften 
*) Der allgemeine Sprachgebrauch pflegt in der Regel die Worte »richtig« 
und »wahr« unterschiedslos zu gebrauchen. Die hier von Külpe voll- 
zogene Unterscheidung ist sachlich völlig gerechtfertigt; jedoch würde 
ich nach meinem Sprachgefühl die Bedeutungen gerade umgekehrt ver- 
teilen. So kann z. B. ein Urteil richtig aus anderen abgeleitet (insofern 
mit ihnen übereinstimmend) sein, ohne daß es deshalb wahr (d. h. mit 
einem Sachverhalt im Einklang) zu sein braucht. Da Külpe aber die 
hier vollzogene Unterscheidung auch in anderen Werken verwendet hat, 
so habe ich von einer Änderung abgesehen. (Der Herausgeber.) 
169 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
zu fördern, und, was als Vorbedingung dafür gelten darf, zu 
verstehen, in ihien Aufbau und Zusammenhang, in ihr Ver- 
fahren und Ziel einen Einblick zu gewinnen. Organisation 
des wissenschaftlichen Betriebs könnte man kurz 
diese Bestimmung der Philosophie nennen. So wird die 
Philosophie wissenschaftlich und die Wissenschaft philo- 
sophisch, die Zersplittemng unschädlich gemacht und das 
Allgemeine in den Dienst des Besonderen gestellt. 
9. Es ist begreiflich, daß sich der Positivismus im engeren 
Sinne nur zu einer Zeit entwickeln konnte, wo die Trennung 
der Philosophie von den Einzelwissenschaften vollzogen war. 
In Frankreich und England finden wir seine Vorbereitung im 
18. Jahrhundert. Der große Mathematiker d'Alembert, der 
Geschichtsphilosoph Turgot bezeichnen dort den Beginn einer 
positivistischen Denkweise. In das 19. Jahrhundert leitet 
der geistreiche Schüler d'Alemberts und Lehrer Comtes, 
der Sozialist Saint- Simon hinüber, der bereits gewisse 
Grundgedanken des positivistischen Systems verkündete. 
Zur vollständigen Ausgestaltung dieses Systems ist es aber 
erst bei Auguste Comte (1798—1857) gekommen, der nicht 
nur die alte Idee der Enzyklopädisten, daß man die Wissen- 
schaften einheitlich zusammenfassen müsse, mit einem schon 
von seinen Vorgängern aufgestellten Gesetz der drei Stadien 
des erkennenden Geistes verband, sondern auch durch die 
Begründung der Soziologie im Geiste einer exakten Disziplin 
den prinzipiellen Abschluß in dem System der Wissenschaften 
herbeizuführen suchte. Als grundlegende Wissenschaften, 
auf der alle anderen sich aufbauen, erscheinen Comte Ma- 
thematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und So- 
ziologie, in denen der positive Geist um so mehr zur Herr- 
schaft gelangt ist, je tiefer sie in der hier aufgestellten Stufen- 
reihe stehen. Die theologische, d.h. animistische, anthropo- 
morphistische Phase des Erkennens, die hinter allen Er- 
scheinungen seelenartige bzw. menschenähnliche Wesen, 
Götter, sieht, geht durch die Vermittlung des metaphysi- 
schen Stadiums, das abstrakte Ursachen und Kräfte, wie 
Lebenskraft oder Seele, annimmt, in das positive über, in 
dem man sich damit begnügt, Gesetze zu finden, und alle 
170 
§16. Dogmatismus, Skeptizistnus, Positivismus u. Kritizismus. 
Spekulation über das Wesen der Dinge und die letzten Prin- 
zipien aufgibt. Die Philosophie hat nach dieser Auffassung 
nur die formale Aufgabe einer Beförderung der allgemeinen 
Herrschaft des positiven Geistes in allen Wissenschaften 
(vgl. § 4, 6; 12, 5). Die bedeutendsten Anhänger Comtes 
waren Littre {A. C. et la philosophie positive, 3. ed. 1877) in 
Frankreich und G. H. Lewes in England, der sich jedoch 
später von dem strengen Positivismus entfernte. 
10. Der Grundrichtung nach ist eine positivistische Denk- 
weise in England seit Fr. Bacon vorhanden. Die Wissen- 
schaften zu organisieren, durch eine zweckmäßige For- 
schungsmethode und ein umfassendes, ihre Aufgaben voll- 
ständig darstellendes System ihren Betrieb zu fördern, ist 
das offenbare Ziel seiner Bemühungen. Aber auf eine selb- 
ständige Untersuchung des Erkenntnisvermögens und eine 
Kritik seiner Leistungen haben Locke, Berkeley und vor 
allen Hume nicht verzichtet. Man kann den letztgenannten 
Denker darum nur insofern einen Positivisten nennen, als er 
jeder Transzendenz (d. h. Überschreitung der Erfahrung) 
entgegentritt. Darin liegt jedoch vielmehr ein Hinweis auf 
einen Wirklichkeitsstandpunkt, als auf einen Positivismus 
in unserem Sinne. Dieser ist viel eher durch J. St. Mill 
{A. Comte and Positivism, 2. ed. 1866, deutsch 1864), den 
Freund und Verehrer Comtes, vertreten worden, dessen 
Logik in erster Linie eine wissenschaftliche Methodenlehre 
sein will (vgl. § 6, 4). Auch Spencer, dessen System der 
Wissenschaften demjenigen von Comte verwandt ^i st und 
dessen »Agnostizismus« gegenüber einer positiven Metaphysik 
die Unerkennbarkeit des Absoluten geltend macht, ist nur 
mit Vorbehalt für den Positivismus in Anspruch zu nehmen. 
Denn sein »System der synthetischen Philosophie« und dar- 
unter namentlich der erste, die Prinzipienlehre enthaltende 
Teil {First Principles 6. ed. 1899, deutsch von Carus, 1901) 
trägt so entschieden die Züge einer, die Einzel Wissenschaften 
überragenden, begründenden und ergänzenden Philosophie 
an sich, daß von einem Aufgehen in die positiven Disziplinen, 
von bloßer Organisation nicht gut gesprochen werden kann. 
Das gleiche gilt für verwandte Strömungen in Deutschland. 
171 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Der »Empiriokritizismus« von Eich. Avenarius (f 1896), 
die »Wirklichkeitsphilosophic« von E. Dühring, der »Posi- 
tivismus« von Laas, der »Kritizismus« von Eiehl, die 
»immanente Philosophie« von Schuppe, Kauff mann u. a., 
der »Neukantianismus« von Cohen, Natorp, Lasswitz 
u. a. — alle diese dem Positivismus hinsichtlich der Frage 
nach dem Eecht einer Metaphysik als Wissenschaft nahe- 
stehenden Eichtungen sclieiden sich doch insofern erheblich 
von seiner eigentlichen, in Comte ausgeprägten Anschau- 
ungsweise, als sie der Philosophie eine besondere, von den 
Einzelwissenschaften verschiedene Aufgabe zuweisen und 
diese vornehmlich in der Erkenntnistheorie erblicken. 
11. Damit ist bereits ein wesentliches Merkmal der anderen 
zwischen Dogmatismus und Skeptizismus vermittelnden 
Eichtung, des Kritizismus, bestimmt. Er gibt die Philo- 
sophie nicht einfach an die positiven, einzelnen Wissenschaf- 
ten preis, sondern spricht ihr eine bleibende Daseinsberech- 
tigung zu, indem er eine Prüfung der Leistungsfähigkeit 
unseres Erkenntnisvermögens fordert und damit zugleich ein 
kritisches Verhalten gegenüber den Voraussetzungen und der 
Betriebsweise der besonderen Disziplinen ermöglicht. Aber 
auch die Metaphysik erlangt von diesem Standpunkt aus 
wieder eine Bedeutung. Nicht als ob die alte dogmatische 
Lehre dieses Namens wieder zugelassen werden soll! Aber 
in anderem Sinne, im Anschluß an die einzelwissenschaft- 
liche Forschung als deren Ergänzung und provisorische Voll- 
endung ^der als kritische Erörterung der Versuche, über die 
letzten Fragen des nach Erkenntnis verlangenden Geistes 
eine Aufklärung zu gewinnen, ist auch dann noch eine un- 
verächtliche und unersetzliche metaphysische Arbeit denk- 
bar, wenn Exaktheit, Gewißheit und Allgemeingültigkeit bei 
derartigen Bestrebungen von vornherein aufgegeben werden 
müssen. So verbindet sich denn diese Anerkennung der 
Metaphysik mit einer genauen Abwägung der Gewißheits- 
grade, die für unsere wissenschaftliche Untersuchung erreich- 
bar sind, und mit einer Abgrenzung der Gebiete, auf denen 
prinzipiell der eine oder der andere Grad erzielt werden kann. 
Von diesem Gesichtspunkt aus zeigt sich alsbald, daß eine 
172 
§16. Dogmatismus, Skeptizismus, Positivismus u. Kritizismus. 
scharfe Trennungslinie zwischen »positiver« Wissenschaft und 
Metaphysik gar nicht besteht^), daß jene sehr viele »meta- 
physische« Einschläge enthält, die trotz der energischsten 
antimetaphysischen Bemühungen nicht auszuscheiden sind. 
Ist für den Positivismus alle Wissenschaft nur auf Gesetze 
gerichtet und nur für deren Aufstellung bestimmt, so ist da- 
gegen der Kritizismus in der Lage, nachzuweisen, daß es 
außer Gesetzen noch mancherlei anderes Wissenswerte gibt 
und daß Hypothesen über Elemente und Beschaffenheiten, 
über Vergangenes und Zukünftiges, über Ursachen und Kräfte 
nicht nur den metaphysischen Trieb befriedigen, sondern auch 
dem einzelwissenschaftlichen Fortschritt zugute kommen. 
12. Diesen Kritizismus haben eingeleitet Locke und 
Hume, insofern beide die Bedingungen und Formen, Grenzen 
und Gewißheitsgrade der Erkenntnis einem besonderen Stu- 
dium, wenn auch in vorwiegend psychologischer Eichtung, 
unterzogen haben. Sein eigentlicher Begründer ist wieder- 
um Kant, der die alte rationale, dogmatische Metaphysik 
durch eine einschneidende Kritik zersetzte, ohne damit ihre 
Gedanken oder gar die Idee einer Wissenschaft dieses 
Namens gänzlich aufzuheben. Nicht nur mündet bei ihm die 
Ethik in eine Lehre von Postulaten der praktischen Vernunft, 
die zu den Glaubensobjekten der alten Aufklärungsphilo- 
sophie einen neuen Zugang fand, er kennt auch eine Meta- 
physik als Naturanlage und Wissenschaft, als angeborenes 
und innerhalb der Grenzen menschlicher Vernunft zu be- 
friedigendes Bedürfnis. Und so regte sich denn gerade in 
seinem Namen die Metaphysik von neuem und feierte bei 
den »Idealisten« J. G. Fichte, Schelling und Hegel ebenso 
wie bei den »Eealisten« Herbart und Schopenhauer ihre 
glänzende Auferstehung. Seit der IVIitte des 19. Jahrhunderts 
beginnen Fechner u. a. jene induktive Metaphysik auszu- 
^) Eine scharfe Scheidxing versucht H. Driesch (Wirklichkeitslehre, 
1917) zu vollziehen, indem er alles, was nicht zu den unmittelbar ge- 
gebenen Bewußtseinsinhalten (der »Wirklichkeit« im Sinne Külpes; 
vgl. S. 46 u. 62) gehört, der Metaphysik zuweist. Danach wäre z. B. 
schon die Überzeugung von der realen Existenz der Natur eine »meta- 
physische« Annahme. Das scheint mir dem allgemeinen Sprachgebrauch 
zu wenig zu entsprechen. 
173 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
bilden, deren Charakter wir früher (§ 4, 7 ff.) geschildert 
haben. Aber auch Denker, die Kant näher stehen, wie 
Lieb mann, halten an der Berechtigung einer solchen Dis- 
ziplin fest. Er erklärt: »Auf den Inhalt unseres Bewußtseins 
beschränkt, können wir, deren Wissen als hellbeleuchtete 
Insel aus tiefer Nacht hervortaucht, über jenes große Unbe- 
kannte, jenes außerhalb und jenseits des menschlichen Be- 
wußtseins Gelegene weder positive, noch negative Prädikate 
mit kategorischer Bestimmtheit aufstellen. Ansichten frei- 
lich, Vermutungen, Meinungen, Hypothesen oder auch Glau- 
benssätze darüber gibt es genug. Und diese Hypothesen, 
die innerhalb der Grenzen der menschlichen Vernunft ge- 
legen sind, fordern unsern Verstand zu ernsthafter Piüfung 
heraus; sie können untereinander verglichen, auf ihre Glaub- 
haftigkeit untersucht und an den Tatsachen der äußeren und 
inneren Erfahrung gemessen werden. Dies nenne ich — 
kritische Metaphysik, die sich bescheidet, eine strenge 
Erörterung menschlicher Ansichten, menschlicher Hypo- 
thesen über das Wesen der Dinge zu sein. Wir halten sie fest. 
Sie bleibt nach wie vor eine aus tiefwurzelnden, unausrott- 
baren Geistesbedürfnissen hervorwachsende Gedankenarbeit 
und eine logische Verstandespflicht.« Auch in England ist 
man dem jede Metaphysik ablehnenden Agnostizismus neuer- 
dings in eingehender Untersuchung entgegengetreten. Es 
sei nur auf J. Ward und E. Flint hingewiesen. In Frank- 
reich ist Ch. Eenouvier (t 1903), der Hauptvertreter einer 
kritizistischen Bewegung geworden, und in Nordamerika 
haben sich Ladd und J. Eoyce um die Ausbildung einer 
kritischen Metaphysik bemüht. 
13. Die Entscheidung hinsichtlich der vier entwickelten 
Eichtungen haben wir z. T. schon vorweggenommen. Wir 
sahen, daß die radikale Skepsis sich selbst aufhebe, also nur 
eine Pseudotheorie sei. Die Naivität des Dogmatismus ist seit 
den Zeiten kritischer Eeflexion unwiederbringlich dahin. 
Schwieriger ist es, zwischen Positivismus und Kritizismus die 
Wahl zu treffen. Wir machen dafür folgendes geltend. Zu- 
nächst ist offenbar der Positivismus die strengere und ein- 
seitigere, der Kritizismus dagegen die mildere und vielsei- 
174 
§ 16. Dogmatismus, Skeptizismus, Positivismus u. Kritizismus. 
tigere Kichtung. Jener läßt nur positive Wissenschaft zu 
und kennt nur ein Ziel der letzteren, das Gesetz; dieser be- 
stimmt und schätzt auch andere Aufgaben des forschenden 
Geistes. Damit hängt es ferner zusammen, daß für den Po- 
sitivismus ein selbständiges Gebiet der Philosophie und ein 
kritisches Geschäft derselben gegenüber den Einzelwissen- 
schaften nicht besteht, während der Kritizismus in der Er- 
kenntnistheorie und -kritik sowie in einer besonnenen Meta- 
physik bleibende und eigenartige Aufgaben und Arbeitsfelder 
der Philosophie findet. Dort sind die Einzelwissenschaften 
schlechthin Norm und Grenze aller Erkenntnis, sie allein sind 
berufen, die Wahrheit zu erfassen; hier werden auch diese 
Disziplinen zum Gegenstande genauerer Prüfung und Unter- 
suchung und wird auch deren Ergebnis als eine in die Grenzen 
menschlicherFähigkeiten eingeschlossene Wahrheit gewürdigt. 
Endlich ist der Positivismus der Standpunkt der Eesignation, 
der auf die Befriedigung natürlicher und starker Bedürfnisse 
verzichtet, weil sie einem vermeintlichen Ideal des Wissens 
niemals soll entsprechen können. Der Kritizismus dagegen 
bestreitet die Aufrichtung haarscharfer Grenzen zwischen 
Wissen und Nichtwissen und erlaubt eine mit kritischen 
Dämpfern versehene, von jeder dogmatischen Anmaßung 
freie Entwicklung von Hypothesen und Annahmen, die eine 
provisorische Vollendung unserer Einsicht anbahnen. Nach 
dieser Charakteristik dürfen wir uns wohl für den Kritizis- 
mus entscheiden, der ohne plötzlichen Bmch mit den 
Gepflogenheiten und Tendenzen der Einzelwissenschaften eine 
metaphysische Erweiterung derselben einsetzen läßt und 
dadurch zugleich der Tatsache des wissenschaftlichen Ver- 
fahrens und Fortschritts besser Eechnung trägt. 
Es gibt also, werden wir abschließend sagen können, Gren- 
zen des Wissens und Grenzen des Nichtwissens. Zwischen 
ihnen liegt ein weites Gebiet des mehr oder minder sicheren, 
des besser oder schlechter begründeten Vermutens und Mei- 
nens, das auch in die »positiven« Wissenschaften sich er- 
streckt und dessen Anbau und Kultur, mit rationellen Mitteln 
betrieben, eine für den Haushalt unserer Erkenntnis nicht zu 
unterschätzende Frucht abwirft. Zugleich aber hat die 
175 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Philosophie als Erkenntnistheorie daräber zu wachen, daß 
die Achtung vor den Einzelwissenschaften nicht in eine dog- 
matische, d. h. kritiklose Billigung ihrer Leistungen um- 
schlage und die letzten Schleier, die die Wahrheit auch dem 
eindringendsten Blick menschlicher Augen entziehen, niemals 
übersehen werden. 
LITERATUR: 
E. Dürr: Über die Grenzen der Gewißheit, 1903. 
Flint: Agnosticism, 1903 (versteht unter Agnostizismus jede Art von 
Negation der Erkenntnis und gibt eine eingehende Geschichte und 
Kritik dieser Richtung in ihren verschiedenen Formen vom thei- 
stischen Standpunkt aus). 
A. Fouill6e: Le mouvement positiviste et la conception sociologique du 
monde, 1896 (sucht zu zeigen, daß sich die positive und die idealistische 
Philosophie [eines Descartes, Malebranche usw.] in iliren letzten 
Schlüssen vereinigen lassen). 
A. Goedeckemeyer: Die Geschichte des griechischen Skeptizismus, 
1905. 
H. Gruber: Auguste Comte, der Begründer des Positivismus, 1889. 
Der Positivismus vom Tode Auguste Comtes bis atif unsere Tage, 
1891. (Vom konfessionell katholischen Standpunkt aus). 
R. Herbertz: Das Wahrheitsproblem in der griechischen Philosophie, 
1913. 
R. Hönigswald: Die Skepsis in Philosophie und Wissenschaft. Wege 
zur Philosophie 7, 1914 (eine feinsinnige Analyse und Würdigung 
des skeptischen Verhaltens). 
W. James: Der Pragmatismus*. Deutsch von Jerusalem, 1908. The 
Meaning of Truth: A Sequel to »Pragmatisma, 1909. 
E. Laas: Idealismus und Positivismus, 3 Bde., 1879—1884. (Enthält 
eine fortlaufende kritische Auseinandersetzung mit dem Idealismios 
zugunsten eines Positivismus. Der 3. Band ist speziell der Erkennt- 
nistheorie gewidmet.) 
L. Liard: Wissenschaft und Metaphysik. Deutsch von F. und G. Valyi 
nebst einem Anhang: E. Boutroux: Die Philosophie in Frankreich 
seit 1867. Philos.-soziolog. Bücherei 22, 1911 (Auseinandersetzung 
mit dem Positivismus und dem Kritizismus zugunsten der Meta- 
physik). 
A. Liebert: Das Problem der Geltung*. Ergänzungshefte der Kant- 
studien Nr. 32, 1914. 
Fr. Münch: Erlebnis und Geltung*, ebenda Nr. 30, 1913. 
J. B. Pratt: What is Pragmatism? 1909. 
R. Richter: Der Skeptizismus in der Philosophie, 2 Bde. 1904—1908. 
176 
§17. Idealismus, Realismus und Phänomenalismus. 
F. C. S. Schiller: Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philo- 
sophie. Deutsch von R. Eisler. Ausgewählte Kapitel aus Schriften 
des Verf., der die Beziehung zum Menschen für alle Erkenntnis betont 
und selbst die Verwandtschaft mit dem Satze des Protagoras 
[§ 16, 5] hervorhebt.) Philos.-soziolog. Bücherei 25, 1911. 
A. Schinz: Anti-Pragmatisme, 1909. 
M. Schinz: Die Anfänge des französischen Positivismus, I. Die Erkennt- 
nislehre (behandelt d'Alembert und Turgot), 1914. 
M. Schlick: Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik. Viertel- 
jahrsschr. f. wissensch. Philos. 34 S. 386 — 477 (kritische Übersicht der 
Wahrheitstheorien und positive Untersuchungen über Kriterium und 
Wesen der Wahrheit). 
J. Ward: Naturalism and Agnosticism, 1899 (bekämpft neben den agno- 
stischen auch die materialistischen Lehren und bildet eine spirituali- 
stische Metaphysik aus). 
O. Will mann: Die Wissenschaft vom Gesichtspunkt der katholischen 
. Wahrheit, 1916. 
§ 17. IDEALISMUS, EEALISMUS UND PHÄNOMENA- 
LISMUS. 
1. Man pflegt, wie wir bereits erwähnt haben (§ 15, 6), die 
Wissenschaften in Ideal- und Eealwissenschaften ein- 
zuteilen. Jene, zu denen Logik und Mathematik gehören, 
arbeiten mit idealen (bloß gedachten) Gebilden. Die Zahlen 
und Figuren der Mathematik werden von uns ohne Eücksicht 
auf Erfahrung als selbständige Objekte konstruiert 'und be- 
stimmt. Innerhalb der Realwissenschaften dagegen, zu 
denen die Natur- und die Geisteswissenschaften zu rechnen 
sind, hat man es zunächst mit vorgefundenen Gegenständen 
zu tun. Außenwelt, Innenwelt, geschichtliche Ereignisse 
werden auf Grund gegebener Tatsachen bestimmt, die sich 
irgendwie dem Bewußtsein des Erkennenden aufdrängen und 
dessen Inhalt unmittelbar ausmachen. Hier ist der Forscher 
an eine räumliche und zeitliche Ordnung in dem Bei- und 
Nacheinander der Erscheinungen gebunden, hier ist seine 
Erkenntnis nicht die logische Arbeit an willkürlich abge- 
grenzten und aufeinander bezogenen Objekten, sondern von 
Beschaffenheiten und Veränderungen abhängig, die unmittel- 
bar erfahren werden. Dabei bleiben die Eealwissenschaften 
nirgends bei dieser Erfahrung (im Sinne der unmittelbar vor- 
gefundenen Bewußtseinsinhalte) stehen, sondern benutzen 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 12 
177 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungev. 
sie nur zur Erkenntnis von realen Objekten, d. h. von solchen, 
die unabhängig von unserem Bewußtsein existieren und sich 
verändern. Dieser Unterschied ergibt ein besonderes erkennt- 
nistheoretisches Problem. Wir fragen nämlich, ob und in- 
wieweit die Kealwissenschaften berechtigt sind, über das, 
was von den vorgefundenen, gegebenen Tatsachen in der 
unmittelbaren Erfahrung enthalten ist, hinauszugehen, ob 
sie Eealitäten setzen^) und bestimmen dürfen, die mit der 
Wirklichkeit (d. h. dem Inhalt) des Bewußtseins, mit 
den Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen, Gedanken nicht 
zusammenfallen. Wir fragen also nach dem eigentlichen 
Gegenstande der Eealwissenschaften, nach der Möglichkeit 
einer Erkenntnis von Eealitäten. Bei den Idealwissenschaften 
ist die Frage nach ihren Gegenständen im allgemeinen un- 
schwer zu beantworten. Diese entstehen nämlich durch 
unsere eigene Wahl und Festsetzung und enthalten darum 
auch nur die von uns ihnen beigelegten oder (wenn es sich 
um Abstrakta aus der Erfahrung handelt) ihnen belassenen 
Beschaffenheiten. Die Bewußtseinserscheinungen der Wirk- 
lichkeit aber treten uns wie eine selbständige Welt entgegen, 
die wir nach Art und Gesetzlichkeit nur insofern kennen, als 
wir sie beachtet und untersucht haben. Ist es erlaubt, ihnen 
Eeales zugrunde zu legen und dieses Eeale als den eigentlichen 
Gegenstand der Erkenntnis zu betrachten'? Auf die Frage 
antwortet der Idealismus (Wirklichkeitsstandpunkt oder 
Konszientialismus)2) verneinend: für ihn ist der Gegen- 
stand der Eealwissenschaften das im Bewußtsein Gegebene, 
die »wirklichen« Empfindungen und Gefühle; für ihn ist somit 
einzige Aufgabe der Kealwissenschaften, Zusammenhänge und 
Beziehungen zwischen diesen Elementen des A-orgefundeneii 
Tatbestandes zu ermitteln. Dagegen meint der Eealismus, 
eigentliches Objekt dieser Wissenschaften sei nicht das Wirk- 
liche, sondern die sich darin offenbarende Eealität, eine reale 
*) »Setzen« bedeutet hier nicht erzeugen, sondern Existierendes als 
solches anerkennen. (Vgl. O. Külpe, Die Realisierung, I [1912]. S. 3, 
A. 2.) -) Von conscieniia (Be^Vußtsein); sofern hier nur der Bewußt- 
seinsinhalt als Wirkliehkoit anerkannt wird; vgl. S. 46, 62, 172 A. Über 
den Ausdruck »Idealismus« vgl. Anm. zu § 17, 6. 
178' 
§17. Idealismus, Realismus und Phänomenalismus. 
Außenwelt, eine reale Innenwelt, die realen historischen Be- 
gebenheiten. Der Phänomenalismus endlich nimmt einen 
vermittelnden Standpunkt ein, indem er erklärt, daß es zwar 
ein Keales, ein »Ding an sich«, einen Träger jener selbständigen 
Gesetzlichkeit des Vorgefundenen gebe, daß wir aber nur die 
Phänomene, die Bewußtseinserscheinungen erkennen können. 
2. Der älteste von diesen Standpunkten ist zweifellos der 
Eealismus. Wir alle denken realistisch von Jugend auf, 
d. h. nehmen an, daß die Dinge außer uns ebenso wie wir 
selbst mehr sind als das, was im Bewußtsein gerade gegeben 
ist, und bestimmen mit mehr oder weniger Sicherheit das 
Wesen dieser Realitäten. Zumeist unterscheiden wir sie nicht 
grundsätzlich in ihrer qualitativen Beschaffenheit von den 
auf sie bezogenen Bewußtseinserscheinungen, sondern be- 
trachten die Dinge einfach als die Originale, die von unseren 
Empfindungen abgebildet werden. Wir halten somit die 
Gegenstände selbst für rot und grün, für hell und dunkel, laut 
und leise, rauh und glatt, süß und bitter. Diese Ansicht des 
naiven Eealismus hat in der Bildertheorie der griechischen 
Philosophen, wonach unsere Sinnesorgane durch Bilder er- 
regt werden, die aus Teilchen der Objekte hervorgegangen 
sind, ihren Ausdruck gefunden. Eine solche Annahme hing 
mit dem Grundsatz zusammen, daß Gleiches nur das Gleiche 
erkennen und bewirken könne. Es mußten darum die Vor- 
stellungen den Dingen und diese den Vorstellungen gleichartig 
sein. An dem naiven Eealismus halten wir praktisch immer 
noch fest, obgleich er theoretisch widerlegt worden ist, sowie 
wir auch von Auf- und Untergang der Sonne reden, obwohl 
wir seit Kopernikus wissen, daß die Erde sich um die Sonne 
bewegt. Der Hauptgrund dafür ist wohl darin zu suchen, 
daß für uns im Verkehr des Lebens nur die Erscheinung, 
nicht aber ein davon verschiedenes, bloß denkbares Wesen 
in Betracht kommt. Über das, was wir sehen und hören, 
riechen und schmecken, läßt sich eine für die praktischen Be- 
dürfnisse ausreichende Verständigung relativ leicht erzielen, 
während die wissenschaftliche oder metaphysische Bestim- 
mung von Eealitäten weder allgemein bekannt, noch völlig 
abgeschlossen und sichergestellt ist. Zur Orientierung in der 
179 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
uns umgebenden Welt ist die unserer Sprache aufgeprägte 
Redeweise des naiven Eealismus zweifellos die bequemste 
und einfachste. Was so für die körperliche Welt gilt, gilt auch 
für die seelische. Übrigens gehen wir auch als naive Realisten 
schon vielfach über den Bewußtseinsinhalt (d. h. das uns un- 
mittelbar Gegebene) hinaus; wir glauben z. B., daß die Dinge 
auch da sind, wenn wir sie nicht gerade wahrnehmen oder an 
sie denken; ebenso unterscheiden wir gelegentlich zwischen 
dem Ding selbst und seiner Erscheinung. Wir wissen z. B. daß 
die Dinge in der Ferne, oder im Nebel oder durch ein farbiges 
Glas betrachtet, anders aussehen als sie sind usw. Wir tragen 
kein Bedenken, uns einen Charakter, ein Talent, einen irgend- 
wie gearteten Verstand u. dgl. zuzuerkennen und gehen damit 
über die Bewußtseinswirklichkeit weit hinaus, sofern z. B. 
nur einzelne Charakteräußerungen, nicht den Charakter selbst 
im Bewußtsein unmittelbar gegeben sein kann. Wenn wir 
zum Ich auch den Körper, den sichtbaren und berührbaren, 
rechnen und diesem gegenüber, wie bei einem sonstigen Stück 
der Außenwelt, naiv realistisch urteilen, so sind wir doch 
keineswegs geneigt, uns mit ihm zu identifizieren. Wir 
schreiben uns wie den Mitmenschen eine Seele zu, obwohl 
diese auch nicht zum unmittelbaren Vorgefundenen gehört. 
3. Die Selbständigkeit des Vorgefundenen, die Eigenart 
des Tatsächlichen, Gegebenen ist überall der Grund für die 
Setzung von Eealitäten. Insbesondere lassen sich für die 
Annahme einer realen Außenwelt folgende Momente gel- 
tend machen: 
a) Der Unterschied zwischen der Sinneswahrnehmung 
einerseits, der Erinnerung und Einbildung andererseits. Jene 
drängt sich auf, läßt sich nicht beliebig und willkürlich ändern, 
hat eine normalerweise sonst kaum erreichbare Stärke, 
Frische und »Leibhaftigkeit«, unterliegt in ihrem Kommen 
und Gehen, in ihrem Verlauf und in ihrer Verbindung mit 
anderen Wahrnehmungen von uns unabhängigen Regeln und 
Bedingungen, ist an die Funktion der Außenwerke unseres 
Körpers, der Sinnesorgane, an eine gewisse Stellung und Be- 
wegung unserer Glieder gebunden und wird durch Umstände, 
wie Beleuchtung, Umgebung, Entfernung beeinflußt, welche 
180 
§17. Idealismus, Realismus und Phänomenalismus. 
bei der Erinnerung oder Einbildung keine wesentliche Kolle 
spielen. Diese Eigentümlichkeit der Sinneswahrnehmung 
findet ihre einfache Erklärung in der Annahme von realen 
Gegenständen und Vorgängen, von denen wir durch unsere 
Sinne erfahren. 
b) Die Tatsache, daß die so häufigen Wahrnehmungs- 
pausen für die Entstehung und die Beschaffenheit der Wahr- 
nehmungen keine Bedeutung zu haben brauchen. Nach 
vielen Jahren der Abwesenheit kehre ich in meine alte Heimat 
zurück. Ich selbst bin ein ganz Anderer geworden, anders in 
meinem Denken, Fühlen und Wollen, aber hier grüßen mich 
Berg und Tal, Fluß und Wald, Haus und Hof wie sonst, als 
lägen nicht Jahre, sondern bloß Stunden zwischen dem Einst 
und dem Jetzt. In kleinerem Maßstabe erleben wir solche 
Fälle an jedem Tage. Namentlich bildet die Nacht, der 
Schlaf einen derartigen Einschnitt im Ablauf unserer Wahr- 
nehmungen. Der Konszientialist John Stuart Mill hat diesem 
Tatbestande dadurch Eechnung zu tragen versucht, daß er 
von einer beharrenden Möglichkeit {'permanent possibility) 
der Wahrnehmung sprach. Aber wie es möglich ist, daß die 
gleiche Wahrnehmung unter Umständen wiederkehren kann, 
die von uns und unserer subjektiv veränderten Disposition 
und Stimmung der Hauptsache nach gänzlich unabhängig 
sind, ist ja eben das Problem, das der Kealist durch die An- 
nahme von fortbestehenden, während der Wahrnehmungs- 
pausen sich erhaltenden Dingen zu lösen sucht. Anderseits 
können diese Pausen auch das entgegengesetzte Ergebnis 
haben. Derselbe Ort, an dem ich noch vor kurzem bestimmte 
Eindrücke gewann, überrascht mich nun durch große Wand- 
lungen; Brände können Altes zerstört, menschlicher Fleiß 
Neues errichtet haben. So wenig ich in jenen Fällen an dem 
Fortbestand, so wenig bin ich in diesen Fällen an der Um- 
gestaltung der Wahrnehmungsbilder beteiligt. Vielmehr liegt 
ein selbständiges Geschehen vor, das der Eealist an die Wirk- 
samkeit realer Dinge außerhalb seines Bewußtseins geknüpft 
denkt. 
c) Die gesetzmäßigen Beziehungen und Zusam- 
menhänge zwischen den wahrgenommenen Inhalten. Die 
181 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
räumlichen Verbältnisse und Eigenschaften z. B., wie Ent- 
fernung und Lage, Größe, Gestalt und Bewegung, ebenso wie 
die zeitlichen, als da sind Dauer und Folge, Geschwindigkeit 
und Gleichzeitigkeit, sind und bleiben etwas Gegebenes, von 
unserer Erwartung, unserem Wissen, unserer Erfahrung 
Unabhängiges. Die Ordnung der Himmelserscheinungen und 
der irdischen Vorgänge und Dinge können wir aus uns selbst 
nicht ableiten, und wir betrachten daher als deren Träger 
reale Gegenstände. 
d) Die Möglichkeit einer Voraussage von Ereig- 
nissen. Das Zusammentreffen unserer Folgerungen aus 
bisher gewonnener Einsicht in den Ablauf der Wahrneh- 
nmngen mit späteren tatsächlich auftretenden, bestätigenden 
Beobachtungen, ohne daß wir eingegriffen haben, läßt sich 
am einfachsten erklären, wenn wir eine reale, selbständigen 
Gesetzen folgende Welt annehmen, deren Wirkungen sich 
erkennen und berechnen lassen. 
4. Von der hierdurch nahe gelegten Setzung von Eealitäteu 
gelangt man zum kritischen Eealismu<?, indem man sich 
durch besondere Erwägungen von der Unhaltbarkeit des 
naiven überzeugt. Ein solcher kritischer Realismus ^vird 
schon bei den Vorsokratikern angetroffen, die bereits 
durchweg das Wesen der Dinge im Unterschiede von ihrer 
Erscheinung bestimmen. Wer in Wasser, Luft oder Feuer, 
in dem Einen, Seienden oder in zahllosen Atomen und leerem 
Raum die Realität sieht, darf sicherlich nicht mehr naiver 
Realist genannt werden. Nur das Widerspruchslose hat 
Anspinich auf das Prädikat der Existenz, wie die Eleaten und 
nach ihnen viele Metaphysiker bis auf Bradley meinen. Die 
erscheinende Welt aber ist mit Widerspilichen behaftet und 
stellt sich somit als ein ÜSTichtseiendes dar. Demokrit for- 
muliert ausdrücklich das Prinzip der Subjektivität der 
Sinnesqualitäten, wonach die Dinge süß und bitter, warm 
und kalt und farbig zu sein scheinen, tatsächlich aber nur 
Atome und leerer Raum sind (vgl. § 7, 5). Auch Piaton und 
Aristoteles, auch die Stoiker und Epikureer, sowie die 
Neuplatoniker sind kritische Realisten gewiesen, nicht min- 
der die Philosophen des Mittelalters und viele der Neuzeit und 
182 
§ 17. Idealisrmis, Realismus und Phänomenalismus . 
die Vertreter der modornen Einzelwissenscliaften. Zwar haben 
sie alle für die Außenwelt und die Innenwelt sehr verschiedene 
Eealitäten eingesetzt, aber daß es Derartiges über die Be- 
wußtseinswirklichkeit hinaus geben müsse, und daß man es 
nicht mit den Wahrnehmungsqualitäten behaftet denken 
dürfe, darüber hat kein Streit und Zweifel obgewaltet. Erst 
in der englischen Philosophie des 18. Jahrh. wird der Eealis- 
mus überhaupt in Frage gestellt. Aber auch noch gegenwärtig 
ist der kritische Eealismus neben dem Phänomenalismus in 
den Kreisen der Einzelwissenschaft und der Philosophie die 
herrschende Anschauung. 
5. Die Gründe, die uns veranlassen, den naiven Eealis- 
mus zu einem kritischen umzubilden, sind hauptsächlich 
folgende : 
a) Trotz der im großen und ganzen bestehenden Überein- 
stimmung der Individuen hinsichtlich ihrer Sinneseindrücke 
von dem nämlichen Gegenstande, gibt es zahlreiche gröbere 
und feinere Abweichungen, wie die totale und partielle 
Farbenblindheit und Tontaubheit, die Unterschiede in der 
Sehschärfe, in der Feinheit des Gehörs, welche zeigen, daß 
die Inhalte unserer Sinneswahrnehmung von subjektiven 
Faktoren in einem viel zu hohen Maße abhängig sind, als daß 
wir ihre Beschaffenheit ohne weiteres den Dingen selbst als 
deren Merkmal zuschreiben dürften. Sonst müßte das gleiche, 
d. h. einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit einneh- 
mende Ding einander entgegengesetzte Eigenschaften haben. 
b) Auf ein ähnliches Eesultat führt die Tatsache der Eela- 
tivität unserer Sinneswahrnelimung, Was demeinen kalt, 
erscheint dem anderen warm, was der für eine groß hält, 
spricht der andere als klein an, eine Bewegung kann diesem 
i'asch, jenem langsam vorkommen. Und nicht nur verschie- 
dene Individuen verhalten sich in ihren Empfindungen und 
Urteilen über dasselbe Objekt verschieden, auch eine einzige 
Person kann verschiedene Eindrücke davon erhalten und es 
je nachdem hell oder dunkel, laut oder leise, hart oder weich, 
süß oder bitter finden. Wollte man alle solche gegensätzlichen 
Bestimmungen auf das Objekt selbst beziehen, so käme man 
zu lauter einander widerspi-echenden Urteilen über dieses. 
183 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
c) Unser Eindruck von einem Gegenstande hängt erfah- 
rungsgemäß von allerlei Umständen ab, bei denen nicht 
einzusehen ist, wie sie das Ding selbst verändern und beein- 
flussen sollen. Im Dunkeln erscheint es uns anders als im 
Hellen, sein perspektivisches Bild wandelt sich mit der Stel- 
lung, die wir zu ihm einnehmen, und mit der Entfernung, die 
uns von ihm trennt. Einen schwächeren Ton hören wir nicht, 
wenn gleichzeitig andere stärkere Geräusche einwirken, und 
die Sterne werden unsichtbar, wenn die Sonne uns scheint. 
d^ Welche Beschaffenheit hat ferner der Gegenstand 
während der Wahrnehmungspausen? Ist er braun oder 
grün, auch wenn niemand ihn sieht; tönt, schmeckt und 
riecht er, auch wenn niemand ihn hört oder genießt ? Es 
empfiehlt sich offenbar nicht, den Objekten an sich selbst 
die sinnlichen Qualitäten zuzuschreiben, die nur in der Be- 
ziehung zu Sinnesorganen und auffassenden Individuen er- 
faHrungsgemäß entstehen. 
e) Die Tatsachen der Eeiz- und Unterschiedsschwelle 
zeigen, daß unsere Wahrnehmung keine ausreichende Quelle 
für die Erkenntnis der Gegenstände ist. Ein Licht muß eine 
gewisse Stärke, ein Helligkeitsunterschied eine gewisse Größe 
haben, damit wir sie überhaupt merken. Unterhalb solcher 
»ebenmerklichen« Eeize und Eeizunterschiede gibt es dem- 
nach solche, die unserer Wahrnehmung entgehen. Also kann 
diese nicht den Gegenständen, auf die sie sich richtet, 
gleichartig sein. 
f) Das bewaffnete Auge und Ohr sieht und hört bekannt- 
lich mehr als das unbewaffnete. Die Hilfsmittel des Hör- 
rohrs, Fernrohrs, Mikroskops usw. lehren uns, daß die Dinge 
mehr enthalten, als die normale Sinneswahrnehmung offen- 
bart. 
g) Naturforscher und Psychologen sind bemüht, bei ihren 
Untersuchungen die Beobachtungsfehler auszuschließen, 
die in konstante und zufällige unterschieden zu werden 
pflegen. Die letzteren zeigen sich namentlich in unregel- 
mäßigen Schwankungen unserer Angaben über das Wahr- 
genommene. Maß, Zahl und Gewicht werden angewandt, um 
die Dinge und Vorgänge zuverlässig bestimmen zu können. 
184 
§17. Idealismus, Realismus und Phänomenalismus. 
Unsere einfache, schlichte Wahrnehmung aber gilt nicht als 
ein irgend sicherer Ausdruck für das reale Verhalten. 
6. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein nicht mehr 
»naiver«, sondern »kritischer« Eealismus, der in fortgesetzter 
Untersuchung und Arbeit von den Mängeln und Unvoll- 
komraenheiten der Wahrnehmung frei zu werden sich be- 
strebt, als ein entwicklungsfähiger und -bedürftiger 
Standpunkt anzusehen ist, dessen Ziel mit dem Ziel aller 
wissenschaftlichen Erkenntnis zusammenfällt, d. h. in einer 
unbestimmbar fernen Zukunft liegt. Aller Abschluß kann 
hiernach für die Bestimmung des Kealen einen nur provi- 
sorischen Charakter tragen. Man darf sich daher nicht darüber 
wundern, daß der naturwissenschaftliche ebenso wie der 
geisteswissenschaftliche Eealismus eine reiche Geschichte 
wechselnder Hypothesen und Theorien aufzuweisen haben, 
und daß vollends der metaphysische Eealismus sich in ver- 
schiedenartigen Versuchen und Systemen ergeht. 
Dagegen darf wohl die Frage aufgeworfen werden, ob es 
sich denn verlohne, derartigen Spekulationen über Trans- 
zendentes nachzuhängen, deren Grenzenlosigkeit ihrer Un- 
sichherheit gleichkommt, und ob man denn überhaupt be- 
rechtigt sei, über die Bewußtseinswirklichkeit hinaus^zugreifen, 
die doch den Vorzug des unbestreitbar Gewissen habe. Damit 
erreichen wir den Standpunkt des Konszientialismus 
(Wirklichkeitsstandpunkt). Zur ersten entschiedenen Aus- 
bildung gelangte dieser bei Berkeley, der ihn aber nur der 
Außenwelt gegenüber vertrat und dessen Lehre man als 
subjektiven Idealismus^) bezeichnet. Die Körper sind 
nach ihm nichts anderes, als unsere Wahrnehmungsinhalte, 
der Apfel z. B. ein Komplex von Gesichts-, Geruchs-, Ge- 
schmacks- und Tastempfindungen. Eine Materie sich als 
Trägerin dieser Empfindungen oder als deren transzendente 
Ursache zu denken ist unmöglich oder verwickelt in Wider- 
sprüche. Das Sein der Dinge besteht in ihrem Wahrgenommen- 
*) Idee bedeutet im damaligen Sprachgebrauch lediglich Vorstellung, 
Bewußtseinsinhalt. So erklärt sich diese Bezeichnung für eine Lehre, 
welche die Erkenntnis auf die Bewußtseinsinhalte des Subjekts einzu- 
schränken sucht. 
185 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
werden, esse = percipi. Psychologisch dagegen war er ein 
Eealist, der nicht nur die einzelnen geistigen Akte auf 
eine Seelensubstanz bezog, sondern auch eine Vielheit von 
Geistern annahm. Um aber die oben geschilderte Unab- 
liängigkeit der Sinneswahrnehmuugen von unserer Willkür 
erklären zu können, meinte er Gott als deren Ursache an- 
sehen zu sollen (womit er freilich wieder eine realistische An- 
sicht vertrat, sofern er Gott als reales Wesen anerkannte). 
Er hat seinen Idealismus besonders eingehend und eindring- 
lich in den drei Dialogen zwischen Hylas und Philonous 
(1713, deutsch von Kichter 1901), dargelegt. Den Konszien- 
tialismus vollendete sein großer Nachfolger Hume, indem 
er auch den psychologischen Eealismus aufhob und die Seele 
ebenso wie den Körper zu einem bloßen »Bündel von Per- 
zeptionen« (Bewußtseinsinhalten) machte. Daneben hat er 
mit besonderem Nachdruck die realistischen Begriffe der 
Substanz und der Kausalität auf Elemente und Gesetze der 
Bewußtseinswirklichkeit zurückzuführen gesucht. Damit 
verlor die Ursache den Charakter einer erzeugenden Kraft, die 
Beziehung zur Wirkung den einer objektiv notwendigen Yf r- 
knüpfung, und die Substanz hörte auf, ein reales Wesen zu 
sein, das dem regelmäßigen Beieinander von Empfindungen 
zugrunde liege (vgl. § 15, 5). Dieser Konszientialismus hat bei 
V. Schubert- Soldern die Form des Solipsismus i) am,e- 
nommen, welcher nur das Bewußtsein des Erkennenden als 
erkennbare Wirklichkeit betrachtet. Ich kann, so lehrt er, 
in keiner Weise, weder dem Inhalte noch der Beziehung nach, 
über mich hinaus. Alles, was hinter dem Bewußtsein befind- 
lich sein soll, gehört zu ihm. Ein Transzendentes annehmen, 
bedeutet nichts anderes als den Mund aufmachen und das, 
was man nicht hereinbekommen hat, schlucken, aber trotz- 
dem nachher ein besonderes Gefühl der Sättigung bekunden. 
Dieser philosophische Standpunkt erscheint ihm niclit als 
eine Theorie, sondern als eine selbstevidente und des Be- 
weises gar nicht bedürftige Tatsache. 
7. Von diesem subjektiven Idealismus und Solipsismus 
unterscheidet sich ein objektiver Idealismus dadurch, daß 
^) Von soluß ipse allein ich (nämlich: existiere). 
186 
§17. Idealismus, Realismus und Phänomenalism^is. 
er nicht das individuell-persönliche Bewußtsein und Ich des 
Erkennenden zum Ausgangspunkt nimmt, sondern ein all- 
gemeines Ich bzw. Bewußtsein voraussetzt. So stellte 
J, G. Fichte den Begriff eines absoluten Ich auf, der als 
Grundbegriff der gesamten »Wissenschaftslehre«, der theore- 
tischen und der praktischen Philosophie, zu gelten hatte. 
Dieses Ich setzt erst dem teilbaren (d. h. subjektiven, per- 
sönlichen, individuellen) Ich ein teilbares Nicht-Ich (die 
Außenwelt) entgegen, und zwar vermöge einer produktiven, 
unbewußten Einbildungskraft. Der Sinn der Welt soll sein, 
die Stätte für unsere sittliche Betätigung, das »Material« 
unserer Pflicht zu bilden. Dieses sich in ein Ich und ein 
Nicht-Ich differenzierende Absolute wurde bei Schelling 
zur absoluten Identität oder Indifferenz, bei Hegel zur 
absoluten Idee. Dieser objektive Idealismus ist also zugleich 
ein metaphysischer Spiritualismus, insofern er die Welt 
aus einem geistigen Prinzip abzuleiten versucht. 
Ein anderer objektiver Idealismus wird besonders von dem 
Neukantianismus der Marburger Schule, von Cohen und 
Natorp vertreten, indem sie den Unterschied zwischen 
den realen und idealen Objekten, den Eeal- und den Ideal- 
wissenschaften aufheben und die mathematische Natur- 
wissenschaft zum Typus aller Wissenschaft machen. 
Auch die immanente Philosophie von Schuppe, 
Kauffmann u. a. hat einen ähnlichen Standpunkt einge- 
nommen, den sie als erkeuntnistheoretischen Monismus, auch 
wohl als Bewußtseinsmonismus bezeichnet. Hiernach ist 
alles Seiende ein Bewußt- Seiendes, es gibt kein Sein, das 
nicht gedacht, gewußt würde, und kein Denken bzw. Wissen, 
das nicht ein Seiendes dächte oder wüßte. Aber innerhalb 
dessen, was man Bewußtsein nennt, gibt es ein allgemeines 
oder abstraktes und ein individuelles oder konkretes Bewußt- 
sein. Jenes ist das allen Individuen gemeinsame, dem auch 
eine für alle geltende Wirklichkeit als objektive, von den ein- 
zelnen Subjekten unabhängige Welt entspricht, bestimmt 
durch die Prädikate, die dem allgemeinen Bewußtsein ent- 
stammen. Zum konkreten Bewußtsein dagegen wird alles das 
gerechnet, was den einzelnen Subjekten eigentümlich und 
187 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
daher auch so vielmal vorhanden ist, als es Subjekte gibt. 
Zu dieser Richtung des Konszientialismus ist auch der 
Empiriokritizismus von Avcnarius und seiner Schule 
zu zählen, dem E. Mach, H. Cornelius und K. Reininger 
nahe stehen. Avenarius spricht von einer Prinzipial- 
koordination als ursprünglichem Tatbestände aller Er- 
kenntnis. Das Ich befindet sich einer Umgebung gegenüber, 
und es gibt danach kein Objekt ohne ein Subjekt. Auch für 
Mach sind Ich und Nicht-Ich nur abstrakte Zusammenhänge, 
die wir nach bestimmten Gesichtspunkten aus den gleichen 
Elementen, den Empfindungen, aufbauen. Reflektieren wir 
auf deren Abhängigkeit von unserm eigenen Leibe, so haben 
wir es mit subjektiven, psychischen, reflektieren wir dagegen 
auf deren selbständige Abhängigkeitsbeziehungen zueinander, 
so haben wir es mit objektiven, physischen Tatsachen zu tun 
(vgl. §8,8). Die Außenwelt ist nach Cornelius nichts anderes 
als die eigene Gesetzlichkeit der Wahrnehmungsinhalte. Von 
einer Realität jenseits des Bewußtseinszusammenhangs, der 
Prinzipialkoordination (von Subjekt und Objekt), der Emp- 
findungen, ist hier überall nicht die Rede. In besonders an- 
ziehender Form hat in der Gegenwart H. Bergson den Wirk- 
lichkeitsstandpunkt ausgeprägt, indem er alle begrifflichen 
Fassungen der Wirklichkeit für unvermögend erklärt, deren 
volles Sein und Wesen darzustellen, und die unmittelbare 
Intuition, das ursprüngliche Erleben und das intellektuelle 
Miterleben, als die einzige Methode ansieht, die uns das Ansich 
der Welt aufzeigen kann. Aber freilich: hier ist der Wirk- 
lichkeitsstandpunkt zugleich zum Realismus, zu einer rea- 
listischen Metaphysik geworden. Eine unverkennbare Ver- 
wandtschaft mit den gen. Gegnern des Realismus zeigt, 
I. Rehmke, insofern er die Lehre vom zweierlei Gewußten 
(»im Wissenden« und »außer dem Wissenden«) entschieden 
bekämpft. Freilich, indem er auch den Begriff »Bewußt- 
seinsinhalt« ablehnt, unterscheidet er sich von den Ver- 
tretern des Idealismus und der immanenten Philosophie. 
8. Die Gründe, die der Konszientialismus im allgemeinen 
gegen den Realismus ausspielt, knüpfen an das Problem 
der Realität an, das man etwa so formulieren kann: wie 
188 
§17. Idealismus, Realismus und Pkänomenalismus. 
und mit welchem Eecht läßt sich etwas denken, das nicht 
zur Bewußtseinswirklichkeit gehört und gehören kann ? 
Denken lassen sich Gegenstände, die zur Bewußtseinswirk- 
lichkeit gehören bzw. gehören können, wie Gefühle, Über- 
legungen, Vorstellungen u. dgl., weil sie auch unabhängig 
vom Denken erlebt werden. Wesentlich anders steht die 
Sache bei dem Denken von Kealitäten. Hier ist zunächst die 
Schwierigkeit zu berücksichtigen, daß sich jenseits der Be- 
wußtseinswirklichkeit auch Fiktionen beliebiger Art, wie 
z. B. ein absolut starrer Körper, ein perpetuum mobile, ein ab- 
solut vollkommener und glücklicher Endzustand der Mensch- 
heit, ein Schlaraffenland u. dgl. denken lassen. Darum be- 
darf es hier einer Kriterienlehre, die das Eeale von dem 
bloß Fiktiven an bestimmten Kennzeichen (»Kriterien«) zu 
unterscheiden gestattet. Sodann aber ist mit der bloßen Tat- 
sächlichkeit solchen Denkens hier noch nicht das Eecht er- 
wiesen, die Gegenstände desselben als jenseits der Bewußt- 
seinswirklichkeit bestehende Eealitäten anzusehen. Ein 
solches Eecht wird ja gerade von dem Konszientiahsmus be- 
stritten. Darum ist es erforderlich, die Gründe kennen zu 
lernen, die von dem Wirklichkeitsstandpunkt gegen das Eecht 
der Transzendenz geltend gemacht werden, und sich mit ihnen 
auseinanderzusetzen. Sofern bei diesen Gründen nicht so- 
wohl die Bestimmung, als vielmehr die bloße Annahme von 
Eealitäten in Frage steht, wird ihre Diskussion nicht nur 
dem Eealismus, sondern auch dem Phänomenalismus zugute 
kommen. Von den im folgenden aufgeführten fünf Argu- 
menten hat namentlich das erste eine solche allgemeinere, 
den Eealismus im engeren Sinne nicht berührende Bedeutung. 
a) Der Begriff einer vom Denken unabhängig existierenden 
Eealität (eines »Dinges an sich«) ist ein sich selbst wider- 
sprechender. Indem man die Eealität denkt, ist sie eben 
nicht mehr vom Denken unabhängig. Ebenso enthält der 
Begriff des Gegenstands (des Objekts) notwendig die Be- 
ziehung auf ein Ich (Subjekt). Im Begriff der Eealität 
wird diese Beziehung verneint. 
b) Denken läßt sich tatsächlich nur, was zur Bewußt- 
seinswirklichkeit gehört, und damit anschaulich vorstellbar 
189 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
ist, d. h. Denken und Vorstellen sind nicht verschieden von- 
einander. Ein solcher empirisch-psychologischer Gesichts- 
punkt liegt dem Berkeleyschcn Idealismus zugrunde, der 
eine außen weltliche Eealität materieller Substanzen auch aus 
dem Grunde ablehnt, weil sie nicht anschaulich vorstellbar ist. 
c) Das Ideal der Wissenschaft ist die volle Gewißheit, die 
Allgemeingültigkeit ihrer Ergebnisse. Dies Ideal kann nur 
erreicht werden, wenn man alles Hypothetische, Problema- 
tische, Ungewisse ausscheidet. Nun ist für die Real Wissen- 
schaften das unmittelbar im Bewußtsein Gegebene das einzig 
Gewisse. Was darüber im Sinne einer Ergänzung oder Ände- 
rung hinausgeht, ist unsichere Spekulation, gewagte Ver- 
mutung. Darum ist alle Transzendenz im Interesse der 
Allgemeingültigkeit zu vermeiden und die Wissenschaft auf 
die Aufgabe zu beschränken, daß sie das Bewußtseinswirk- 
liche darstellen, in Gedanken nachbilden soll. 
d) Ein anderes Ideal der Wissenschaft ist die größtmög- 
liche Zweckmäßigkeit und Einfachheit der Darstellungs- 
mittel. Dies Ideal wird erreicht, wenn man alle überflüssigen 
Annahmen unterläßt. Das Grundgesetz der Wissenschaft ist 
von diesem Gesicht simnkt aus das Prinzip der Sparsamkeit, 
der Ökonomie. Die Annahme von Eealitäten ist hiernach als 
entbehrliche Zutat metaphysischer Herkunft preiszugeben. 
e) Alle Begriffe sind auf Grund von Bewußtseinswirk- 
lichem, von Erlebnissen gebildet und sind darum auch 
nur auf solche sinngemäß anwendbar. Darum können die 
real wissenschaftlichen Begriffe einer Materie, einer Seele 
u. dgl. nur durch ihre Beziehung auf Tatsachen des Be- 
wußtseins eine verständliche und anzuerkennende Bedeutung 
erlangen. 
9. Eine Prüfung der Beweiskraft dieser Argumente wird 
das erste, logische (a), ohne sonderliche Mühe entkräften 
können. Der Begriff eines ungedachten Dinges an sich wäre 
gewiß ein Widerspruch, wenn ich unter einem Ding an sich 
ein schlechthin ungedachtes Ding verstände; denn da der 
Begriff eines Dinges das gedachte Ding darstellt, so wäre 
es allerdings ein Widerspruch zu denken, ein gedachtes Ding 
sei nicht gedacht. Aber unter einem Ding an sich (einer Rea- 
190 
§ 17. Idealismus^ Realismus und Phänomenalismus. 
lität) verstehen die Kcalisten ja ein Ding, das unabhängig 
vom Gedachtwerden existiert. Zu ihm gehört das Gedacht- 
werden, das »Gegenstand eines Denkens sein« nicht als eine 
es bestimmende Eigenschaft hinzu, mithin auch nicht die 
Beziehung auf ein Ich (Subjekt). In unseren Gegenstands- 
begriffen wie Baum, Katze, Stein, Wolke liegt doch nichts 
vom Begriff »Ich« oder von einer BeziehiTug auf ihn; eine 
solche tritt dagegen deutlich heivor im Begriff »meine Katze«. 
Damit ist aber wohl vereinbar, daß alle diese Dinge für ein 
denkendes Subjekt Objekt werden können. Es tritt dann zu 
ihrer (absoluten) Existenz die Beziehung: Objekt für ein Sub- 
jekt zu sein, hinzu. Sodann aber bedeutet das Gedachtwerden 
nicht eine Abhängigkeit vom Denken. Folglich liegt darin, 
daß ich eine Eealität denke, die von meinem Denken unab- 
hängig ist, kein Selbstwiderspruch. Daß endlich alle gedach- 
ten Gegenstände nur etwas Gedachtes und damit ein Bewußt- 
seinswirkliches seien, kann nicht bewiesen werden. Dem 
widerspricht unter anderem auch die Tatsache, daß, so wir 
sonst innerhalb der Bewußtseinswirklichkeit Gelegenheit 
haben, das Verhältnis des Gedankens zu seinem Gegenstande 
zu beobachten (z. B. bei Gefühlen, Willensakten, die wir 
denken), der Gegenstand sehr wohl vom Denken unabhängig 
bestehen kann. Es darf somit aus der bloßen Behauptung, 
daß etwas gedacht wird, nicht geschlossen werden, daß es 
nur ein Gedanke sei. 
Das empirische Argument (b), daß sich nur denken lasse, 
was zur Bewußtseinswirklichkeit gehöre oder gehören könne, 
entspricht nicht den Tatsachen. Denn die Gegenstände des 
Denkens umfassen einen viel größeren Bereich, als den durch 
die Erlebnisse unseres Bewußtseins umschriebenen Kreis von 
Objekten. Nicht nur lassen sich, wie wir früher (§ 6, 10) 
gezeigt haben, Begriffe denken, d. h. logisch fixierte Bedeu- 
tungen von Zeichen, sondern innerhalb der Klasse der »Ob- 
jekte« haben wir neben den »wirklichen« (d. h. phänomena- 
len) die idealen und die realen Objekte zu unterscheiden. 
Weder die Begriffe noch die letzten beiden Arten von Objek- 
ten sind aber anschaulicher, vorstellbarer Natur. Man kann 
darum sicherlich das Unanschauliche und — in diesem Sinne 
191 
///. Kapitel. Die ^philosophischen Richtungen. 
— Unvorstellbare^) denken, und es besteht ein unmittel- 
bares Meinen^) von Objekten, die nicht zur Bewußtseins- 
wirklichkeit gehören. Mögen darum Materie, Energie, Seele 
sich nicht anschaulich vorstellen lassen, so können sie doch 
gedacht werden, und zwar nicht nur als Begriffe, sondern auch 
als Objekte. 
10. Das formale Argument (c) aus der Allgemeingültigkeit 
der Wissenschaft übersieht, daß von den unmittelbar gegen- 
wärtigen Bewußtseinsinhalten, für die allein eine volle em- 
pirische Gewißheit in Anspruch genommen werden kann, 
überhaupt keine Wissenschaft möglich ist. Denn diese In- 
halte sind rein subjektiv, insofern sie nur dem individuellen 
Subjekt angehören, das sie gerade erlebt, die Aussagen 
darüber entziehen sich also jeder eigentlichen Kontrolle ihrer 
Eichtigkeit, und sie wechseln mit der Gegenwart im unauf- 
haltsamen Strom des Geschehens, lassen sich nicht fixieren 
und einer dauernden bzw. wiederholten Untersuchung unter- 
ziehen. Man nimmt daher regelmäßig fremde Beobachtungen 
zu den eigenen und frühere zu den jetzigen hinzu, um die 
Wissenschaft von dem zufälligen Subjekt und dem zufälligen 
Moment der Erkenntnis unabhängig zu machen. Damit aber 
hat man den Boden des Eealismus bereits betreten. Außerdem 
aber ist es ein, wie die wissenschaftliche Forschung zeigt, un- 
gerechtfertigtes Vorurteil, daß die Aussagen über die unmittel- 
bar gegenwärtigen Empfindungen schlechthin zuverlässig 
seien. Weder traut die Naturwissenschaft ohne weiteres einer 
solchenAngabe über momentan Erlebtes, noch diePsychologie. 
Will sodann der Konszientialismus im Sinne seines teleo- 
logischen Arguments (d) dartun, daß der Eealismus über- 
flüssige Annahmen in die Wissenschaft bringe, die gegen das 
Prinzip der Ökonomie des Denkens verstoßen, so ist dagegen 
zu erklären, daß zum mindesten eine realistische Ausdrucks- 
^) Vorstellung ist ein sehr vieldeutiges Wort. In seiner weitesten Be- 
deutung umfaßt es alles Denken mit. Hier ist dagegen im Gegensatz zum 
unanschaulichen Denken das anschauliche, sozusagen bildhafte Gegen- 
wärtigsein eines Gegenstandes im Bewußtsein gemeint. ^) »Meinen« 
hier nicht im Sinne eines unsicheren Glaubens, sondern des innerlich 
Gerichtetseins; wie ich z. B. einem anderen ein Haus in einer Straße 
zeige und sage: »Ich meine dieses«. 
192 
§ 17. Idealismus, Realismus und Phänomenalismus. 
weise weit einfacher, bequemer und zweckmäßiger erscheint, 
als eine konszientialistische. Man versuche nur irgendein 
Gesetz der Physik^) oder Chemie oder irgend einen Tat- 
bestand der Geschichte streng vom Wirklichkeitsstandpunkt 
aus darzustellen, also ohne die uns unmittelbar gegebenen 
Bewußtseinsinhalte zu überschreiten, und man wird als- 
bald finden, daß das höchst umständlich, wenn nicht gar 
unmöglich ist. Man wird daher den Eealwissenschaften im 
Interesse der Ökonomie empfehlen müssen, wenigstens so zu 
reden, als ob es Eealitäten gäbe. 
Das genetische Argument (e) endlich enthält zwei un- 
bewiesene und unzutreffende Voraussetzungen. Zunächst die, 
daß alle Gedanken aus Empfindungen oder (anschaulichen) 
Vorstellungen hervorgegangen seien, und dann die andere, 
daß die Herkunft eines Gedankens über seinen Anwendungs- 
bereich entscheide. Selbst wenn es richtig wäre, daß wir die 
Gegenstände unseres Denkens urspiünglich nur der sinn- 
lichen Erfahrung entnehmen, würde daraus noch nicht folgen, 
daß es für keine anderen Gegenstände gelten könne. 
11. Mit dieser Widerlegung der Einwände gegen den Eea- 
lismus ist natürlich nur dessen Möglichkeit dargetan. Aber 
unberührt von ihnen sind die Tatsachen geblieben, die den 
naiven und den kritischen Eealismus begründet haben, und 
auf sie gestützt darf er den Eang einer wahrscheinlichen 
Hypothese für sich beanspruchen. Nun besteht jedoch 
ein beträchtlicher Unterschied zwischen der Setzung und der 
Bestimmung von Eealitäten. Jene kann sehr sicher, diese 
sehr zweifelhaft sein. Tatsächlich sind die Eealwissenschaften 
zwar einig hinsichtlich der Annahme existierender Eeali- 
täten, aber ihre Lehren über deren Essenz (ihre Wesenheit, 
ihre Beschaffenheit) gehen auseinander und sind größeren 
Wandlungen unterworfen. Da liegt es nahe, sich auf den 
*) Es sei avif beliebige Beispiele hingewiesen a) aus der Physik: Bei 
jedem Vorgang, der elektrische Ladungen frei macht, entsteht genau 
gleichviel positive wie negative Ladung; b) aus der Chemie: FejOg-}- 
3H2 = Fcg + 3H._.0 (Eisenoxyd und Wasserstoff in bestim.mten Ge- 
wichtsmengen zusammengebracht ergeben Eisen und Wasser); aus der 
Geschichte: Alexander der Große plante Indien zu erobern. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 13 
193 
///, Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Vermittlungsstandpunkt des Phänomenalismus zu stellen, 
alle Bestimmung von Kealitäten abzulehnen und nur an 
deren Setzung festzuhalten. Diese schon von den Skep- 
tikern des Altertums vertretene (vgl. § 16, 5) und in der 
Neuzeit namentlich von Kant begmndete Lehre betrachtet 
das in der Erfahrung Gegebene als Erscheinung, als einen 
Hinweis auf Eeales, auf Dinge an sich. Die im Eaume 
sich ausdehnende Welt der äußeren Erfahrung ist hiernach 
ebenso wie die in der Zeit ablaufende Welt der inneren Er- 
fahrung nicht die Welt, wie sie an sich ist, sondern wie sie 
uns, den Erkennenden, erscheint. Denn die Anschauungs- 
formen Eaum und Zeit, die »reinen «i) Anschauungen stam- 
men nicht selbst aus der Erfahrung, sondern sind im »Gemüt« 
(d. h. im erkennenden Subjekt) bereit liegende, den Stoff, 
die Empfindungen, gestaltende und ordnende Hilfsmittel, 
über die wir als Erkennende verfügen und die wir an die Er- 
fahrung heranbringen um aus ihr unsere Welt der Körper 
und Seelen aufzubauen. Wie die Außenwelt und die Seele 
unabhängig von Eaum und Zeit, also »au sich« sind, 
vermögen wir nicht zu sagen. Denn auch die Bearbeitung, 
die der Verstand an der Anschauung vornimmt, befreit sie 
nicht von den subjektiven Faktoren, sie fügt vielmehr noch 
weitere hinzu. Die Begriffe und Urteile nämlich, in welche 
wir hier unsere Erkenntnis fassen, indem wir von Dingen oder 
Substanzen, von ursächlicher Verknüpfung der Vorgänge, von 
einem oder von vielen Objekten reden, hier eine Möglichkeit, 
dort eine Notwendigkeit behaupten, alle diese logischen Ope- 
rationen gehen selbst wieder auf einen urspmnglichen Besitz 
des erkennenden Geistes zurück, bilden ein a priori, das wir 
der Erfahrung nicht entnehmen können. Empirische Eealität 
kommt den so bestimmten, geformten Erscheinungen frei- 
lich zu, d. h. die Erfahrungsobjekte, die wir gewohnt sind, 
real zu nennen, können wir ruhig weiter so nennen, aber die 
Dinge an sich bleiben unerkennbar. Sie sind »Noumena« 
(Gedankendinge), die einer uns versagten »intellektuellen« 
*) »Rein«, nämlich: von Empfindung; »rein« dient bei Kant als Adjektiv 
zu a priori (= unabhängig von Erfahrung, d. h. von Empfindungen). Die 
Bildung »apriorisch« findet sich bei ihm nicht. 
194 
§17. Idealismus, Realismus und Phänomenalismus. 
Anschauung, nicht unserer sinnhchen, zugänglich sein mögen, 
ein Grenzbegriff, der die Anmaßung des naiven Eealismus 
einschränkt (vgl. § 15, 6). 
12. Nach dieser Lehre Kants sind die »Erscheinungen«, 
auf die sich unsere Erkenntnis soll beschränken müssen, und 
die sich gleichsam zwischen uns und die Dinge an sich 
schieben, nicht mit der Bewußtseinswirklichkeit der Kon- 
szientialisten identisch. Denn zu ihnen gehören nicht nur die 
Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, die in räum- 
licher bzw. zeitlicher Ordnung gegeben sind, sondern auch 
die bloß gedachten materiellen Substanzen, kausal verbun- 
denen Ereignisse, in Wechselwirkung miteinander stehenden. 
Wesen. Der Phänomenalismus räumt also jenen unmittel- 
baren Inhalten des Bewußtseins keinen Vorrang ein vor den 
durch begriffliche Arbeit aus ihnen hervorgegangenen Be- 
stimmungen, deren Objekte doch auf empirische Eealität 
mit demselben Eechte Anspruch erheben dürfen, wie die 
Wahrnehmungs- und sonstigen Bewußtseinsinhalte. Darum 
wird der Phänomenalismus von der oben (§ 17, 9) vorge- 
tragenen Widerlegung der konszientialistischen Argumente 
nicht getroffen. So hat der Eealismus, wie es scheint, allen 
Grund, den Phänomenalismus anzuerkennen. Aber auch der 
Wirklichkeitsstandpunkt kann gegen die Setzung von Dingen 
ansich^) nichts ausrichten, nachdem der vermeintliche Wider- 
spruch in diesem Begriff gehoben ist. Wie sollte auch ein 
derartiger Grenzbegriff der sonst herrschenden Übereinstim- 
mung zwischen beiden Eichtungen Eintrag tun können, da 
er doch lediglich dazu bestimmt ist, die Grenzen der Erkennt- 
nis durch die Angabe eines unerkennbaren Gegenstandes 
abzustecken? So haben sich denn viele Philosophen der 
neuesten Zeit für den Phänomenalismus erklärt, der die be- 
rechtigten Tendenzen des Eealismus und des Wirklichkeits- 
standpunktes in sich zu vereinigen scheint. Die Agno- 
stiker, wie H. Spencer, ein Logiker, wie z. B. Erdmann, 
*) Dabei muß freilich offen gelassen werden, ob von einem Dinge an 
sich oder von Dingen an sich (in der Mehrzahl) zu reden ist, da die An- 
gabe der Zahl schon eine über die bloße »Setzung<(hinaTi3gehende »Bestim- 
mung« wäre, wodurch man die Grenze des Phänomenalismus überschritte. 
13* 
195 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
ja selbst mancher Konszientialist, Mach und Mill nicht 
ausgenommen, sind als Vertreter eines Phänomenalismus zu 
betrachten, mag auch dessen besondere Färbung bei Kant 
von ihnen mehr oder weniger erheblich abgeändert worden 
sein. In dem Gedanken oder Zugeständnis eines unerkenn- 
baren Dinges an sich, das nur gesetzt oder gefordert werden 
kann, würde man dann das einzige wesentliche Merkmal dieser 
Richtung zu erblicken haben. 
13. In der Tat wird man dieser Grundidee des Phänomena- 
lismus schon deshalb den Vorzug vor dem konszientia- 
listischen Bekenntnis einräumen müssen, weil sie die Ge- 
fahr des letzteren vermeidet, in eine dogmatische Behauptung, 
nämlich eine nicht zu begiündende Verneinung der Eealität, 
auszuarten, und sich somit als die vorsichtigere und weit- 
herzigere Auffassung vom Gegenstande der Eeal Wissenschaften 
empfiehlt. Es kann sich daher für die schließliche Entschei- 
dung über das hier erörterte Problem nur noch darum han- 
deln, zwischen dem Phänomenalismus, der jede Bestimmung 
von Eealitäten im Sinne von Dingen an sich für unmöglich 
hält, und dem kritischen Realismus, der sie anstrebt, die 
Wahl zu treffen. Folgende Überlegung dürfte geeignet sein, 
diese Wahl zu erleichtern. In bezug auf den Fortschritt im 
Gebiet der Realwissenschaften führt der phänomenalistische 
Standpunkt zu der einem Skeptizismus nicht unähnlichen 
Vorstellung, daß man dem Realen selbst ewig gleich fern 
bleibe und alle Forschung und Untersuchung im Grunde nur 
ein Drehen und Wenden der Erscheinungen bedeute. Das 
Ziel aller Arbeit in diesen Gebieten ist hiernach im besten 
Falle eine vollständige Einsicht in das Wesen der Phänomene. 
Der kritische Realismus kennt, wie wir oben (§ 17, 6) sahen, 
ein anderes Ziel und ermöglicht eine befriedigendere Auf- 
fassung vom Fortschritt unseres Wissens. Und fragen wir 
nun, warum denn eigentlich die Dinge an sich a priori für 
unbestimmbar gehalten werden, so werden wir auf den trü- 
benden Einfluß der subjektiven Faktoren hingewiesen, die 
unabänderlich und unberechenbar die reale Welt verhüllen, 
indem sie die Gegenstände der Erkenntnis mitgestalten. 
Demgegenüber hat schon E. v. Hart mann einen trans- 
196 
§ 17. Idealismus, Realiswus und Phänomennlismus. 
zendentalen Kealismus iiusgebildet, nach dem gerade 
unsere Kategorien, wie die der Zahl, der Kausalität u. a. 
selbst ein reales Verhalten zum Ausdruck bringen. Sind die 
Dinge an sich bei dem Zustandekommen des Stoffs unserer 
Erkenntnis, der Wahrnehmungsinhalte beteiligt, so müssen 
sie unter den Gesichtspunkt von Ursachen fallen. Verschie- 
dene Wirkungen müssen aber verschiedenen Ursachen ent- 
sprechen, und so eröffnet sich durch die Annahme einer 
»transzendenten« Kausalität die Möglichkeit, über das Eeale 
selbst nähere Bestimmungen zu treffen. Die Beschaffen- 
heit des Realen muß an Mannigfaltigkeit mindestens ebenso 
reich gedacht werden, als der durch das Reale bedingte 
unmittelbar gegebene Erfahrungsinhalt (d. h. die Bewußt- 
seinswirklichkeit). Ebenso müssen dem anschaulich erlebten 
Räumlichen und Zeitlichen transzendente Ordnungen ent- 
sprechen, die wir freilich nur begrifflich denken, nicht anschau- 
lich vorstellen können. (Vgl. M. Schlick, Allg. Erkenntnis- 
lehre, S. 205 ff.) 
Somit wird man dem Phänomenalismus nicht den Einwand 
ersparen können, daß er von vornherein von einem dog- 
matischen Vorurteil beherrscht ist, indem er ohne Be- 
weis — denn wie sollte ein Beweis dafür angetreten werden ? 
— annimmt, daß unsere Erkenntnisformen, insbesondere das 
Denken, notwendig einen verhüllenden Einfluß auf die Er- 
kenntnis des Realen ausüben und sich niemals von einer ge- 
ringeren zu einer größeren, von einer unrichtigeren zu einer 
richtigeren Einsicht in das Wesen der Dinge erheben können. 
Nicht jedes Gefäß braucht ja den Stoff zu ändern, der in ihm 
aufgefangen wird. In unserem Denken haben wir ein so an- 
passungsfähiges Werkzeug, daß es mit seiner Hilfe wenigstens 
sollte gelingen dürfen, eine tiefere, vollständigere und rich- 
tigere Erkenntnis des Realen allmählich zu erringen. Endlich 
läßt sich zeigen, daß die sog. Denkformen, wie Anzahl, Ab- 
hängigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit, Substanz und Ak- 
zidens u. a. als Gegenstandsbestimmtheiten aufzufassen 
sind, die z. T. allen, z. T. nur gewissen Arten von Gegenständen 
zukommen. Der transzendentale Idealismus Kants ist, von 
hier aus betrachtet, eine unhaltbare Umkehrung der wirk- 
197 
III. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
liehen Beziehungen zwischen dem Denken und seinen Gegen- 
ständen, indem er lehrt, daß die Gegenstände sich nach 
unseren Begriffen, nicht die Begriffe nach den Gegenständen 
zu richten hätten. Die »kopernikanische Wendung«, die 
Kant damit in die Erkenntnistheorie eingeführt zu haben 
glaubte, verkehrt den Sinn des Erkennens. 
14. Beseitigt man nun das bezeichnete Vorurteil, indem 
man ein wachsendes Wissen von den Eealitäten für möglich 
hält, so ist der kritische Eealismus das Ergebnis unserer 
Erwägungen. Nicht im ersten Anlauf, wie der naive Eeahs- 
mus meinte, ist das Wesen der Welt zu erfassen, sondern 
in unendlicher Arbeit nähern wir uns diesem Ziele. Dann 
gilt auch der phänomenalistische Gedanke von der Un- 
erkennbarkeit der Dinge an sich für jeden bestimmten 
Zeitpunkt wissenschaftlicher Forschung, insofern das Ziel 
selbst ein tatsächlich unerreichtes Ideal bildet. Für jeden 
solchen Zeitpunkt aber die Summe zu ziehen, ist eine real- 
wissenschaftliche Metaphysik im Anschluß an die Einzel- 
forschung berufen. Sie ist von diesem Gesichtspunkt aus die 
provisorische Vollendung der Natur- und der Geisteswissen- 
schaften, die wenigstens in den Grundzügen das Ziel vorweg- 
nimmt, das diese in unablässiger Untersuchung erstreben. 
Auch dem Wirklichkeitsstandpunkt (Konszientialismus) 
wird in solchem Zusammenhange sein relatives Eecht. Denn 
für die Erkenntnis der Dinge sind wir zunächst auf die Be- 
wußtseinswirklichkeit, die Empfindungen bzw. Wahrneh- 
mungen (die Erscheinungen) angewiesen. Auf Grund ihres 
Verhaltens deuten und bestimmen wir das Eeale, gestalten 
wir die Begriffe von einer realen Außenwelt und Innenwelt 
und einer realen Vergangenheit. So erweist sich der kritische 
Eealismus als die umfassendste Ansicht, die sich in keine 
dogmatischen Grenzen einschließt, die weder die Setzung 
noch die Bestimmung von Eealitäten, die ihrer Natur nach 
bloß gedacht werden können, als a priori unmöglich bestreitet 
und damit zugleich die höchste und förderlichste Idee von 
der Aufgabe der Eealwissenschaften vertritt. Indem wir 
uns diesen Standpunkt zu eigen machen, sind wir in der Lage, 
den im folgenden zu erörternden metaphysischen Eichtungen 
198 • 
§ 17. Idealismus, Realismus und Phänomenalism,HS. 
ein positives Interesse zu widmen. Sie sind nicht von vorn- 
herein abzulehnen, weil und sofern sie metaphysische Rich- 
tungen sind, sondern verdienen eine über den historischen 
Bericht hinausgehende Prüfung. 
LITERATUR (vgl. die § 5 angeführte): 
B. Bauch: Das Substanzproblem in der griechischen Philosophie bis zur 
Blütezeit. Seine geschichtliche Entwicklung in systematischer Be- 
deutung, 1910. 
H. Bergson: Essai sur les donnees immedtates de la conscience, 4. 6d. 1904. 
Deutsch unter dem Titel: Zeit und Freiheit*, 1911. 
F. H. Bradley: Appearance and Reality, 3. ed. 1899. 
C. D. Broad: Perception, Physics and Reality: an Enquiry into the In- 
formation that Physical Science and supply dbout the Real, 1914. 
E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuch\ingen 
über die Grundfragen der Erkenntniskritik (steht der Marbtirger 
Schule nahe), 1910. 
H. Cornelius: Transzendentale Systematik, 1916. 
L. Dilles: Der Weg zur Metaphysik, 2 Tle. 1903—1906. 
W. Freytag: Der Realismus und das Transzendenzproblem, 1902. 
M. Frischeisen- Köhler: Wissenschaft und Wirklichkeit, 1912. — Das 
Realitätsproblem 1912 (tritt für einen Realismus ein). 
E. V. Hartmann: Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, 1889, 
2. Aufl. 1914. Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismvis, 
1870, 4. Aufl. 1914. (Vgl. M. Schmitt: Die Behandlung des erkennt- 
nis-theoretischen Idealismus bei E. ar. Hartmann 1918). 
Fr. Jodl: Kritik des Idealismus. Leipzig 1920. 
V.Kraft: Weltbegriff und Erkenntnisbegriff, 1912 (sucht den Realismus 
zu begründen). 
O. Külpe: Die Realisierung*. Ein Beitrag zur Grundlegung der Real- 
wissenschaften, I, 1912; II, 1920. (Das Werk wird von A.Messer 
aus dem Nachlaß herausgegeben im Verlag Hirzel, Leipzig.) 
F. Kuntze: Die kritische Lehre von der Objektivität, 1906 (idealistisch). 
Ladd: A Theory of Reality, 1899. 
Fr. R. Lipsius: Einheit der Erkenntnis imd Einheit des Seins, 1913. 
A. Messer: Der kritische Idealismus*. Internat. Monatsschr. 1911 — 12, 
Heft 6 (verteidigt gegenüber der Marbiirger Schule den kritischen 
Realismus); vgl. seine Diskussion mit B. Bauch, Kant-Studien, 
Bd. 20 (1915). 
J. Petzoldt: Das Weltproblem vom Standpunkte des relativistischen 
Positivismus, 2. Aufl. 1912 (gibt namentlich eine entwicklungs- 
geschichtliche Auflösung des Substanzbegriffs). 
The new Realism. Cooperative Studies in Philosophy by E. B. Holt, 
W. T. Marvin, W. P. Montague, R. B. Perry, W. B. Pitkin and 
E. G. Spauling, 1912. Vgl. G. Jacoby: Die »Neue Wirklichkeits- 
199 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
lehre« in der amerikanischen Philosophie. Internat. Monatsachr. 
1913—14. 
H. Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis, 1892, 3. Aufl. 1915. 
J. Royce: The World and the Individual. I. The four hiatorical concep- 
tiona of being, 1900. 
M. Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre, 1918 (realistisch). 
F. J. Schmidt: Grundzüge der konstitutiven Erfahrungsphilosophie 
als Theorie des immanenten Erfahrungsmonismus, 1901. 
H. Schwarz: Das Wahrnehmungsproblem, 1892. Die Umwälzung der 
Wahrnehmungshypothesen durch die mechanische Methode, 1895. 
P. Stern: Das Problem der Gegebenheit, 1903. 
G. Störring: Einführung in die Erkenntnistheorie. Eine Auseinander- 
setzung mit dem Positivismus und dem erkenntnistheoretischen 
Idealismus (zugunsten eines Realismus), 1909. 
H. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, 
praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines 
idealistischen Positivismus, 1911, 3. Aufl. 1918. 
H. Vaihinger und R. Schmidt: Annalen der Philosophie, mit 
besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als-Ob-Betrachtung, 
I. Bd. 1919. 
J. Volkelt: Die Quellen der menschlichen Gewißheit*, 1906. Gewiß- 
heit und Wahrheit. Untersuchung der Geltungsfragen als Grund- 
legung der Erkenntnistheorie, 1918. 
W. Wundt: Über naiven und kritischen Realismus. Philos. Studien, 
XII und XIII 1896—1897, auch in den Kleinen Schriften, I 1910 
(eine Kritik der immanenten Philosophie und des Empiriokritizismus 
von Avenarius). 
Anmerkung. Schon Schopenhauer beklagte sich über 
den mit dem Namen Idealismus getriebenen Mißbrauch. Im 
populären Wortverstande begreift man darunter jede löbliche 
Erhebung über das Alltägliche, Gewöhnliche, Durchschnitt- 
liche, In der philosophischen Terminologie redet man von 
einem metaphysischen, erkenntnistheoretischen, ethischen 
und ästhetischen Idealismus und Eealismus. In dieser 
Mannigfaltigkeit hat die vom Standpunkte der katholischen 
Philosophie aus geschriebene »Geschichte des Idealismus« 
von Will mann (3 Bde., 2. Aufl. 1907—08) diese Denkrich- 
tung behandelt. Mehr erkenntnistheoretisch gefaßt (als Be- 
tonung des Subjekts) erscheint sie in der »Geschichte des 
Deutschen Idealismus« von M. Kronenberg (1 1909, II1912). 
Als absoluten Idealismus bezeichnet man vielfach das 
System Hegels. Von einem Eealismus im metaphy- 
200 
§ 18. Singularismus und Pluralismus. 
Bischen Sinne spricht man bei Herbart, der die letzten 
Elemente des Seienden in seiner Metaphysik ?>Reale<t ge- 
nannt hat. 
B. DIE METAPHYSISCHEN RICHTUNGEN. 
§ 18. SINGULAEISMUS UND PLURALISMUS. 
1. Die Frage nach der Zahl der bei Auffassung und Er- 
klärung der Welt verwandten Prinzipien kann einen sehr ver- 
schiedenen Sinn haben, weil Prinzip ein vieldeutiger Begriff 
ist. Man kann darunter z. B. die Ursache der Welt ver- 
stehen, man kann aber auch einen logischen Grundsatz oder 
einen letzten, obersten Begriff damit meinen. Je nachdem 
das Eine oder Andere als Prinzip bezeichnet wird, erhält man 
verschiedene Antworten auf die oben gestellte Frage, die 
nicht notwendig einander widersprechen. Einheit und Viel- 
heit, Singularismus und Pluralismus sind daher nur dann 
metaphysische Gegensätze, wenn das Gezählte derselben 
Art ist. Ein Singularismus in bezug auf die Weltursache aber 
kann sehr wohl mit einem Pluralismus hinsichtlich der logi- 
schen Prinzipien verbunden werden. Hiernach muß unsere 
Aufgabe der Erörterung dieser Richtungen in der Weise 
erfüllt werden, daß wir die Formen, in denen von Einheit 
und Mehrheit gesprochen wird, voneinander unterscheiden 
und nur innerhalb derselben Form einen Gegensatz aufrich- 
ten. Da nun ferner nur der Singularismus eine Begründung 
a priori, d. h. ohne Rücksicht auf die besondere Beschaffen- 
heit der zu lösenden Aufgabe, gefunden hat, wird es sich 
empfehlen, hier, wo wir nur die allgemeine Frage nach der 
Zahl zu behandeln haben, diese Richtung in den Vordergrund 
zu stellen und demgemäß in ihrem Sinne die Unterscheidung 
der einzelnen Formen durchzuführen. Wir werden dazu 
um so mehr berechtigt sein, als nicht jede der im folgen- 
den zu schildernden fünf »Einheiten« durch die Gegenüber- 
stellung einer Vielheit ihren pluralistischen Gegensatz ge- 
funden hat. 
2. a) Die Einheit der Ursache meinen alle diejenigen, 
die Gott als Schöpfer der Welt betrachten. Dazu gehören 
201 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
zunächst die Theisten und Deisten^). In diesem Sinne ist 
Piaton, sind die Neuplatoniker (insbesondere Plotin), 
Descartes und Leibniz, die englischen Deisten, wie 
Herbert v. Cherbury, und viele andere Singularisten ge- 
wesen. Aber auch die Pantheisten und Panentheisten^) 
haben eine solche Weltursache efnheitUcher Art angenom- 
men, insofern sie überhaupt den Begriff einer letzten Ur- 
sache bilden. So bezeichnet z. B. Spinoza, der Gott und 
Welt, natura naturans und natura naturata, miteinander 
identifiziert, die einheitliche Substanz des Universums als 
causa sui, als Grund ihrer selbst, und versteht darunter »das, 
dessen Essenz die Existenz einschließt oder das, dessen Natur 
nur als existierend gedacht werden kann«, ein Wesen somit, 
dessen bloßer Begriff im Sinne des ontologischen Verfahrens 
(vgl. § 26, 3) die Existenz des Gedachten setzt und verbürgt. 
Ein Pluralismus ist in bezug auf diese Frage nicht ausgebildet 
worden. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß die Welt 
selbst allgemein als eine Einheit aufgefaßt zu werden pflegt 
und man für einen einheitlichen Tatbestand auch eine ein- 
heitliche Ursache fordern zu müssen glaubt. Aber vielfach 
wird die Frage nach der Weltursache als eine wissenschaftlich 
überhaupt nicht zu beantwortende abgelehnt. Erstlich er- 
scheint die Annahme einer letzten Ursache als eine unvoll- 
ziehbare. Der Trieb nach kausaler Erklärung kann nicht 
durch eine willkürliche Begrenzung, die weiteres Forschen 
abschneidet, befriedigt werden. Für uns gibt es daher keine 
letzte Ursache im absoluten Sinne, sondern immer nur eine 
vorletzte, d. h. eine solche, bis zu der wir vorläufig bei unserer 
Untersuchung vorgedrungen sind, die aber in sich bereits 
den Keim einer neuen kausalen Zurückführung enthält. 
Zweitens gibt es Ursachen nach der Grundvoraussetzung 
unserer Naturwissenschaft nur für Veränderungen. Das 
^) Beide Richtungen lehren die Existenz eines persönUchen göttUchen 
Wesens. Die Theisten sehen in Gott den Schöpfer und Regierer der 
Welt, die Deisten schreiben ihm lediglich die Schöpfung zu und glauben, 
daß er sich aller Eingriffe in die Welt und den naturgesetzlichen Verla\if 
des Geschehens enthalte. ^) Der Pantheismus setzt Gott und Welt 
gleich; der Panentheismus lehrt, daß Gott die AVeit in sich enthalte, 
aber sie auch noch überrage. 
202 
§ 18. Singularismus und Pluralismus. 
Seiende, Bestehende hat daher keine Ursache. Die großen 
Prinzipien der Erhaltung des Stoffes und der Energie schließen 
jede Schöpfung aus nichts von unserer Erkenntnis aus und 
beschränken die kausale Betrachtung auf den Austausch von 
Stoffen, auf die Umwandlung von Energien. Die Stoff menge 
der Welt kann ebensowenig wie deren Energiemenge ver- 
mehrt oder vermindert werden, sie hat ewigen Bestand. 
Diese Erwägungen veranlassen uns, die Frage nach der 
Weltschöpfung für eine in der wissenschaftlichen Metaphysik 
unbeantwortbare zu erklären. 
3. b) Die Einheit des Universums ist der Grund- 
gedanke des Singularismus bei Xenophanes (um 540 
v.Chr.), der vom ev xal jcäv (Eins und Alles) redete und das 
All-Eine damit meinte, und bei Dühring, nach dem das 
allumfassende Sein einzig sein muß. Diese Behauptung ist 
eine dialektische, d. h. aus dem bloßen Begriff des Univer- 
sums abgeleitete: das All ist rein analytisch (vgl. § 15, 4) als 
Einheit zu bestimmen. Ist das Universum schlechthin das 
Seiende, so folgt zugleich, wie Parmenides, Zenon und 
Meli s SOS, die eleatische Schule, sagen, daß das Seiende nur 
Eines sein kann, Vielheit des Seienden führt nach ihnen zu 
Widersprüchen. Das All wäre ja nicht das All, wenn es außer 
ihm noch etwas gäbe. Auch gegen diesen Singularismus ist 
ein Pluralismus nicht erstanden. Wer von einer Vielheit des 
Seienden redet, meint danüt eben nicht das All, sondern Teile 
desselben, und es hat keine logische Schwierigkeit, neben der 
Einheit des Ganzen eine Mehrheit seiner Teile zu setzen. 
Aber die Eleaten haben sich auch gegen die letztere erklärt : 
das All ist für sie eine unteilbare Einheit. Die Vielheit ge- 
hört ebenso wie die Veränderung nach ihnen zum Trug und 
Schein der Sinne oder zum ISTichtseienden. Das Denken 
allein erfaßt die Eealität, indem es das Eine, ungewordene 
und ewig sich selbst gleich bleibende Seiende der wechselnden 
Mannigfaltigkeit des Nichtseienden entgegenstellt. So sind 
die Eleaten die einzigen strengen Singularisten geworden, 
welche die Geschichte der Philosophie kennt, und haben 
damit jede Brücke zum Verständnis der Erfahrung abge- 
brochen. 
203 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
4. c) Die Einheit der Voraussetzung, des letzten 
Grundsatzes oder Gmndbegriffs vertreten besonders die 
nachkantischen »Idealisten«, J. G. Fichte, Schelling und 
Hegel. Als absolut ersten Grundsatz, aus dem sich alle Er- 
kenntnis ableiten lasse, stellt Fichte das Urteil auf: das Ich 
setzt sich selbst, und er gewinnt aus diesem auf dialektischem 
Wege eine Anzahl anderer Sätze, ja die theoretische und prak- 
tische Wissenschaftslehre, das ganze System notwendiger 
Vernunftwahrheiten oder »Tathandlungen«. Schelling baut 
sein philosophisches System auf den einen Begriff der abso- 
luten Identität oder Indifferenz und leitet daraus nach geo- 
metrischer Methode alle Besonderheiten als Differenzen oder 
Potenzen ab. Hegel hat den Begriff des reinen Seins zur 
obersten Voraussetzung erhoben und nach »dialektischer« 
Methode aus ihm alle übrigen Kategorien entwickelt (vgl. 
§ 3, 6). In allen diesen Fällen aber liegen tatsächlich bereits 
mindestens zwei Voraussetzungen vor, nämlich außer der 
die Deduktion einleitenden Setzung auch noch die der Me- 
thode, welche zur Deduktion benutzt wird. Faktisch läßt 
sich auch keine Wissenschaft auf ein einziges logisches 
Prinzip aufbauen. Nicht einmal in der Mathematik hat man 
es dazu gebracht, obgleich hier das Streben nach möglichster 
Vereinfachung der axiomatischen Voraussetzungen sehr rege 
ist. Weder Zahlen- noch Eaumwissenschaft sind soweit 
logisch einheitlich durchgeführt. Ebensowenig kann man die 
ganze Logik auf das eine Prinzip der Identität gründen oder 
die Mechanik auf das der Trägheit. Was bei diesen ganz oder 
annähernd idealen Wissenschaften nicht gelungen ist, kann 
natürlich bei den Eealwissenschaften und damit der Meta- 
physik erst recht nicht gelingen. Die allgemeinen Gründe 
dafür sind folgende. Die Mannigfaltigkeit des Ein- 
zelnen, Besonderen läßt sich niemals aus inhaltsarmen 
Abstraktionen, die aller Besonderheit entbehren, auf rein 
logischem Wege ableiten. Je höher aber in der logischen 
Stufenfolge ein Bogriff steht, um so inhaltsleerer ist er. Aus 
dem Begriff des Seins ist ebensowenig der eines bestimmten 
Seins abzuleiten, wie etwa aus dem Begriff eines Lebewesens 
der einer Nachtigall. Denn alle Analyse eines Begriffs karm 
204 
§ 18. Singularismus und Pluralismus. 
k 
aus ihm immer nur das herausholen, was in ihm enthalten 
ist, nieht speziellere Merkmale, welche die Artbegriffe bilden. 
Die dialektische Methode, welche dies Kunststück zu leisten 
vorgab, ist logisch betrachtet eine Erschleichung. Man kann 
daher sagen : der logische Singularismus ist undurchführbar, 
und der Pluralismus ist hier einzig vernünftig. 
5. d) Die Einheit des Ideals wird von denen behauptet, 
die das Schönste, Beste, Mächtigste oder überhaupt den In- 
begriff alles Wertvollen als ein Wesen fassen, das sie mit Gott 
oder dem All gleichsetzen. So hat z. B. der Begründer der 
eleatischen Schule, Xenophanes, erklärt, das Eine müsse 
von Allem das Gewaltigste sein. Ähnlich fordert Piaton die 
Einheit des Besten und Schönsten, d. h. Gottes. Eine solche 
Einheit des Ideals kann auch zum Ziel der ganzen Welt- 
entAvicklung werden und dadurch zugleich Beziehungen zur 
letzten Ursache gewinnen. Denn nach dem Begriff der causa 
finalis, der Zweckursache, ist der im Geist vorausgedachte 
Zweck, wie das menschliche Handeln regelmäßig zeigt, eine 
Bedingung für den Erfolg, für die Erreichung des Zieles (vgl. 
§ 23, 10). Von diesem Gesichtspunkte aus ist Gott nicht 
sowohl Schöpfer, als vielmehr Leiter und Kegierer der Welt, 
der sie seinen Zwecken entsprechend sich entwickeln läßt 
und sie seinen Zielen zuführt. Nicht nur Th eisten, sondern 
auch Panth eisten und Panentheisten, wie Fechner und 
Paulsen, haben in diesem optimistischen Sinne das Welt- 
geschehen bzw. die Selbstentfaltung Gottes gedeutet. Wir 
wollen der späteren Erörterung der theologischen Eichtungen 
und des Optimismus nicht vorgreifen und hier nur bemerken, 
daß die Einheit des Ideals als solche eine Abstraktion ist 
und daher an sich keinen metaphysischen Singularismus zu 
begründen vermag. Die Eine Schönheit verträgt sich ebenso- 
gut mit einer Vielheit des Schönen, wie die Eine Wahrheit 
mit einer Vielheit des Wahren. Die Wahl des Superlativs 
ändert daran nichts, da es keinen Widerspruch in sich 
birgt, von einer Mehrheit schönster oder bester Wesen zu 
reden. Darum ist ein metaphysischer Pluralismus mit der 
Einheit des Ideals sehr wohl verträglich und bedarf diese der 
Ergänzung durch andere Gesichtspunkte, um dem meta- 
205 
///. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
physischen Singularismus eine eindeutige Ausprägung ver- 
leihen zu können. Die Einheit des Zieles oder Zweckes ist 
aber dazu in einer wissenschaftlichen Metaphysik schon des- 
halb nicht geeignet, weil für letztere zunächst die Einheit des 
Weltgeschehens, der zweckvolle Zusammenhang aller Sonder- 
ereignisse im Universum feststehen müßte. Eine derartige 
Weltteleologie aber überschreitet die Grenzen möglichen 
Wissens. 
6. e) Die Einheit des Elements, d. h. der letzten, ein- 
fachen Qualität des Eealen, wird in der Annahme Eines 
Grundstoffs, Einer Grundkraft behauptet. Wenn Thaies 
(um 585 V. Chr.) das Wesen aller Dinge im Wasser, Anaxi- 
menes in der Luft, Heraklit im Feuer findet, so haben sie 
damit eine singularistische Auffassung dieser Art vertreten. 
Aber auch die Atomiker sind insofern Singularisten der 
nämlichen Kategorie gewesen, als sie ihren zahllosen Atomen 
nur quantitative, keine qualitativen Unterschiede beilegten. 
Dagegen sind Empedokles mit seinen vier Elementen 
(Feuer, Wasser, Luft und Erde), die durch die bewegenden 
Kräfte der Liebe und des Hasses verbunden und getrennt 
werden, und Anaxagoras mit seinen qualitativ eigenartigen 
Stoffen (Fleisch, Blut, Gold usw.) in deren chaotischen 
Urzustand einst der Geist {vovg) Ordnung und Bewegung 
gebracht hat, ausgeprägte Pluralisten gewesen. Ferner kann 
man Dualisten, wie Descartes, die das Materielle und das 
Seelische als zwei wesensverschiedene Eealitäten betrachten, 
zu den Pluralisten rechnen, Materialisten, Spiritualisten und 
Monisten dagegen als Singularisten ansehen. So sind der 
Spiritualist Leibniz, dessen Monaden sämtlich ein qualitativ 
gleichartiges inneres Sein zugewiesen erhalten, ebenso wie 
Schopenhauer, der den Willen als das Wesen der Welt 
betrachtet, der materialistische Verfasser des Systeme de la 
nature, der kein anderes Sein als das der Materie anerkennt, 
ebenso wie der Monist Spinoza, für den Bewußtsein und 
Ausdehnung nur die zusammengehörigen Seiten eines und 
desselben Wesens sind, zu den Singularisten zu zählen. Aber 
auch die moderne Chemie wandelt in den Spuren dieser 
Denkrichtung, wenn sie sich bemüht, ihre etwa 80 Elementar- 
206 
§18. Singularismus und Pluralismus. 
Stoffe als bloße Vielfache eines und desselben Urelennents 
nachzuweisen, und das Gleiche gilt von modernen Physikern, 
sofern sie alle Kräfte bzw. Energien auf eine einzige, etwa 
die Gravitation, zurückzuführen versuchen. Für derartige 
Bestrebungen wird ein Einheit sbedürfnis der mensch- 
lichen Vernunft verantwortlich gemacht, die es angeblich 
nicht ertragen kann, eine Vielheit von wesensverschiedenen 
Eealitäten anerkennen zu sollen. Aber dieses vermeintliche 
Einheitsbedürfnis ist nichts anderes als ein Vereinfachungs- 
bedürfnis, dessen Befriedigung mit objektiver Eichtigkeit 
und Gültigkeit nichts zu tun hat. Ein wirkliches Einheits- 
bedürfnis bliebe "nur dann unerfüllt, wenn das wesensver- 
schiedene Viele ohne Zusammenhang und Beziehung wäre. 
Besteht dagegen ein gesetzmäßigesWechselverhältnis zwischen 
den mannigfachen Elementen, so kann nur noch ein Verein- 
fachungsbedürfnis unbefriedigt bleiben, das um eine Keduk- 
tion auch des Wesensverschiedenen, um eine Verwandlung 
aller qualitativen in quantitative Unterschiede bemüht ist. 
Wir haben es hierin jedoch bloß mit einer, von teleologischen 
Ideen über die Wissenschaft beherrschten (vgl. § 17, 8) 
Maxime zu tun, deren Befolgung nicht schlechthin gefordert 
werden kann, und die daher einer pluralistischen Metaphysik 
keineswegs a priori den Boden entzieht. Man kann nur 
versuchen, jene Eeduktion der Qualitäten durchzuführen, 
soweit sie von den Tatsachen erlaubt wird. Übrigens be- 
deutet die quantitative Betrachtung in der Physik nur 
ein Absehen vom Qualitativen. 
7. Fassen wir alle diese Erörterungen zusammen, so werden 
wir etwa folgendes zu sagen haben. Die Einheit der letzten 
Ursache entzieht sich der Bestimmung in einer wissenschaft- 
lichen Metaphysik. Die Einheit des Universums ist eine 
analytische Behauptung, wenn man sich bewußt bleibt, daß 
diese Einheit den Ausschluß einer im Einzelnen bestehenden 
Vielheit keineswegs fordert. Es kann nicht nur eine Vielheit 
des Einfachen, sondern auch eine Einheit des Zusammen- 
gesetzten geben. So braucht auch die letzte Ursache im 
Sinne des Singularismus durchaus nicht als eine einfache 
Substanz gedacht zu werden, aus der sich die Mannigfaltig- 
207 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
keit der empirischen Welt niemals verständlich machen ließe. 
Bei Herbart stehen daher die Religionslehre, die ein gött- 
liches Wesen mit verschiedenen Eigenschaften anerkennt, 
und die Metaphysik, nach der ein Seiendes immer zugleich 
ein einfaches Seiendes ist, in einem unaufgelösten Wider- 
spruch miteinander. Verbindet man aber Einheit und Ein- 
fachheit für das Universum, so gelangt man zu dem leeren, 
starren Begriff eines All- Einen, die jedes Verständnis für die 
Mannigfaltigkeit des Gegebenen, Vorgefundenen unmöglich 
macht. Der logische Singularismus ist unhaltbar, die Ein- 
heit des Ideals oder Zwecks an sich keine ausreichende meta- 
physische Bestimmung über die Realität und die Einheit des 
Elements nur eine zweckmäßige Forschungsmaxime, ein 
regulatives Prinzip ohne Gewähr für die Existenz des Er- 
strebten und Geforderten. Hiernach kommen wir zu dem 
Ergebnis, daß sich über die Zahl der Realitäten a priori 
nichts ausmachen läßt, und daß es von der besonderen Natur 
der zu erklärenden Tatsachen abhängt, wieviel Reales ange- 
nommen werden muß; wobei zu beachten ist, daß Ja Einheit 
sehr wohl als Einheit (einheitlicher Zusammenhang) von 
Mannigfaltigen gedacht werden kann. Damit gewinnen 
wir den Übergang zu der Frage nach der Qualität der Prin- 
zipien teils in bezug auf die Beschaffenheit des Seienden, 
teils in bezug auf die des Geschehens in der Welt. 
LITERATUR: 
J. H. Boex-Borel: Le pluralisme. Essai sur la discontinuite et l'hetero- 
geneite des phenomenes, 1909. 
W. James: A pluralistic universe, 1909. Deutsch von J. Goldstein, 
191.3. 
M. Schlick (s. § 22, 17) vertritt {neben erkenntnistheoretischem 
Monismus) den Pluralismus in dem Sinne, daß die Welt »ein Gewebe 
unendlich vieler Qualitäten ist«. 
§ 19. DER MATERIALISMUS. 
1. Unter den eine singularistische Welterklärung im Sinne 
der Einheit des Elements, der letzten wesentlichen Beschaffen- 
heit aller Realität (vgl. § 18, 6) erstrebenden metaphysischen 
Richtungen sei zuerst der Materialismus, der die Materie als 
208 
§19. Der Materialismus. 
die einzige oder wenigstens als die allen anderen zugrunde 
liegende Realität ansieht, einer Besprechung unterzogen. 
Mit Eücksicht auf die große Mannigfaltigkeit der unter dem 
Namen Materialismus zusammengefaßten Ansichten erscheint 
es wünschenswert, durch eine Übersicht zunächst seine ver- 
schiedenen Formen zu ordnen und darunter diejenigen heraus- 
zuheben, welche eine metaphysische Bedeutung besitzen. 
Wir trennen vor allem den theoretischen und den prak- 
tischen Materialismus. Dieser letztere ist eine ethische 
Richtung und als solche den Begriffen, welche dieVerschieden- 
heit der Zweckbestimmung des Sittlichen zum Ausdruck 
bringen (vgl. § 14, 7), zuzurechnen, indem er als die einzig 
erstrebenswerten Ziele die materiellen oder sinnlichen Güter 
des Lebens ansieht. Der theoretische Materialismus sodann 
kann als regulatives Prinzip und als metaphysische 
Richtung aufgefaßt werden (vgl. § 5, 4). Als regulatives 
Prinzip würde der theoretische Materialismus nur die Vor- 
schrift bedeuten, alle Einzelforschung so einzurichten, als 
ob das Materielle die einzige Qualität des Seienden wäre 
und daher allein zur Erklärung gegebener Tatbestände ver- 
wendet werden dürfte. Eine solche Ansicht ist z. B. von 
Fr. A. Lange vertreten worden und wird auch von einigen 
modernen Psychologen und Physiologen ihrer Einzelarbeit 
zugrunde gelegt. Als metaphysische Richtung hat der Ma- 
terialismus eine singularistische und eine dualistische 
Form angenommen. Nach der letzteren gibt es zwei wesent- 
lich verschiedene Arten von Materie, eine gröbere und eine 
feinere, eine trägere und eine beweglichere, nach der singu- 
laristischen Auffassung dagegen ist die Materie von wesent- 
lich gleicher Beschaffenheit. Innerhalb der singularistischen 
Anschauung lassen sich endlich drei verschiedene Betrach- 
tungsweisen sondern, von denen die attributive Form das 
Geistige als eine Eigenschaft, die kausale es als eine Wir- 
kung der Materie ansieht, während die äquative (d. h. 
gleichsetzende) Form die seelischen Vorgänge ihrem Wesen 
nach als materielle bezeichnet. Zur leichteren Orientierung 
mögen diese verschiedenen Materialismen in folgender Tabelle 
zusammengestellt werden : 
Külpe. PhiloBophie. 10. Aufl. 14 
209 
///. Kapitel. Die philosophischeyi Richtungen. 
Materialismus 
theoretisch praktisch 
regulatives Prinzip metaphysische Richtung 
dualistisch singularistisch 
äquativ attributiv kausal. 
2. Nur die metaphysische Form des theoretischen Materia- 
lismus hat uns hier zu beschäftigen. Ihre dualistische Aus- 
prägung finden wir bloß im Altertum vertreten, und zwar bei 
dem von Leukippos begründeten, von Demokrit weiter 
ausgeführten, später von den Epikureern wieder aufge- 
nommenen Atomismus. Hiernach ist die ganze sichtbare 
Welt aus unsichtbaren kleinen Körperchen, den Atomen, 
durch Verdichtung entstanden. Der Stoff wird als qualitativ 
gleichartig angesehen und alle Verschiedenheit nur in die 
Größe Gestalt und Lage der Atome verlegt. Auch die Seele 
soll aus ihnen bestehen, aber aus besonders glatten, feinen 
und runden, oder wie Lucrez (f 55 v. Chr.) in seinem Lehr- 
gedicht De rerum natura^) sagt, aus den kleinsten, rundesten 
und beweglichsten Atomen. Dualistisch darf man diesen 
antiken Materialismus insofern nennen, als nach ihm Körper 
und Seele aus verschiedenen Atomen zusammengesetzt ge- 
dacht werden. Daneben kann im Altertum noch von einem 
Materialismus der Stoiker gesprochen werden, insofern sie 
alles Seiende für körperlich erklären und die Seele als einen 
warmen Hauch, als etwa Luftartiges bestimmen. 
3. In der neueren Philosophie entwickelt sich ein singu- 
laristischer Materialismus im 17. Jahrhundert auf englischem 
Boden. Hobbes hält alles, was in der Welt real vorgeht, für 
Bewegung. Die Vorstellungen sind nichts Eeales, Substan- 
zielles, sie sind bloße Erscheinungen oder ihrem Wesen nach 
Bewegungen oder haben ihre Ursache in solchen. Mit der 
wachsenden Erkenntnis der Abhängigkeit der psychischen 
Zustände von physischen nimmt auch der Materialismus eine 
speziellere Gestalt an. Nach dem Freidenker John Toi and 
^) Über die Natur der Dinge; deutsche Übersetzung von Max Seydel, 
1881. 
210 
§19. Der Materialismus. 
ist (las Denken eine Funktion des Gehirns, und der Natur- 
forscher Eobert Hooke (f 1703) erblickt in dem Gedächtnis 
eine materielle Niederlage von Vorstellungen in der Gehirn- 
ßubstanz. Ihm verdanken wir bereits eine Berechnung der 
Zahl der von einem Erwachsenen während seines Lebens er- 
worbenen Vorstellungen und die tröstliche Versicherung, daß 
das Gehirn, wie das Mikroskop zeige, für diese fast 2 000 000 
Vorstellungen genügend Platz habe. In dem französischen 
Materialismus des 18. Jahrhunderts erreicht die vorkantische 
Eichtung dieses Namens ihren Höhepunkt. La Mettrie 
{Uhomme machine 1748^)) schreibt der Materie die Fähigkeit 
zu, bewegende Kraft und Empfindungen zu erwerben, und 
bezeichnet die Seele als die Ursache dieser Fähigkeit. Da 
sie ihren Sitz oder ihre Sitze im Körper habe, so müsse sie 
ausgedehnt, also materiell sein. Allerdings sei es schwer be- 
greiflich, wie die Materie denken könne, aber manches andere 
sei ebenso schwer zu verstehen. Verschiedene ärztliche Er- 
fahrungen und die vergleichende Anatomie bewiesen die 
Abhängigkeit der psychischen Vorgänge von körperlichen, und 
ihre Wirkung auf den Körper könne die Seele nur als ein 
Teil des Gehirns ausüben. Ganz ähnliche Vorstellungen ent- 
wickelt das Hauptwerk der materialistischen Literatur dieser 
Zeit, das Systeme de la nature von Holbach. Die Haupt- 
absicht dieses Werkes ist die Bekämpfung jeglicher Form 
von Supranaturalismus, d. h. einer Anschauung, die jenseits 
des mechanischen Zusammenhangs der natürlichen, sinnlichen, 
materiellen Dinge noch eine Eealität annimmt. In einer 
wesentlich strengeren Form als bei La Mettrie werden hier 
die materialistischen Behauptungen vorgetragen. Die Seele 
erscheint darnach als der Körper unter dem Gesichtspunkt 
gewisser seiner Funktionen oder Fähigkeiten. Neue Gründe 
werden jedoch nicht beigebracht (vgl. § 7, 6). 
4. Im 19. Jahrhundert regt sich der Materialismus wieder 
nach dem Zerfall der spekulativen Philosophie Hegels und 
unter dem Einfluß zahlreicher neuer Beobachtungen und 
Erfahrungen über den Zusammenhang zwischen Körper und 
Seele auf deutschem Boden. Besonders aus einem Streit über 
^) Deutsch in der Philosophischen Bibliothek von M. Brahn. 
14* 
211 
///. Kapitel. liie philosophischen Richtungen. 
diese Dinge auf der Naturforscherversammlung zu Göttingen 
1854 erwächst eine Literatur materialistischer Eichtung, aus 
der die Schriften von C. Vogt (»Köhlerglaube und Wissen- 
schaft«, 1855), von Moleschott (»Der Kreislauf des Lebens«, 
1852, 5. Aufl. 1887) und von B ü ch n er (»Kraft und Stoff «,1855, 
21. Aufl. 1904) hervorzuheben sind. Im ganzen unterscheidet 
sich dieser Materialismus von dem früheren dadurch, daß 
er schwache Spuren einer erkenntnistheoretischen Begrün- 
dung seines Standpunkts aufweist. So erklärt Vogt, daß 
die Grenze alles Denkens mit der Grenze der sinnlichen Er- 
fahrung zusammenfalle; diese liege darin, daß das Gehirn 
das Organ der seelischen Funktionen sei. Dieser Behauptung 
soll eine ebenso große Sicherheit zukommen, wie der Glei- 
chung 2x2 = 4. Doch könne man die letzten Abstraktionen 
der Erscheinungen niemals erklären, das Bewußtsein so 
wenig wie die Muskelkontraktion. Ausführlich wird nun hier 
wie in den anderen Schriften auf den genauen Zusammenhang 
hingewiesen, der zwischen den geistigen Fähigkeiten und 
dem Gewicht des Gehirns, der Größe seiner Oberfläche und 
seinem Eeichtum an Windungen bestehe. Das bedeutendste 
Werk dieser Eichtung ist zweifellos das von Moleschott 
verfaßte, das sich in folgenden erkenntnistheoretischen Er- 
örterungen bewegt. Alles Sein ist ein Sein durch Eigen- 
schaften, aber es gibt keine Eigenschaft, die nicht bloß durch 
ein Verhältnis besteht. Darum gibt es keinen Unterschied 
zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich. Hat der 
Mensch alle Eigenschaften der Stoffe erforscht, die auf seine 
entwickelten Sinne einen Einfluß zu üben vermögen, dann 
hat er auch das Wesen der Dinge erfaßt und der Menschheit 
absolutes Wissen. Die Materialisten bekennen sich nach 
Moleschott zur Einheit von Kraft und Stoff, von Geist und 
Körper, von Gott und Welt. Der Gedanke ist eine Bewegung, 
eine Umsetzung des Hirnstoffes. Er ist ein ausgedehnter Vor- 
gang, weil er nach gewissen psychologischen Experimenten 
(Eeaktionsversuchen) Zeit braucht (!). Der Mensch ist die 
Summe von Eltern und Amme, von Ort und Zeit, von Luft 
und Wetter, von Schall und Licht, von Kost und Kleidung. 
Wir sind ein Spiel von jedem Druck der Luft. 
212 
§ 19. Der Materialismus. 
5. In unheilbarer Verwirrung befinden sich die mannig- 
faltigen Äußemngen von Büchner. Er erklärt zunächst, 
daß Kraft und Stoff ebenso wie Geist und Materie nur Be- 
zeichnungen für zwei verschiedene Seiten oder Erscheinungs- 
weisen eines und desselben, seiner eigentlichen Natur nach 
uns unbekannten Wesens seien. Dieser ganz monistisch ge- 
haltenen Auffassung tritt bald darauf die widersprechende 
gegenüber, daß die Materie lange vor dem Geist dagewesen 
sei und der letztere nur auf Grund organisierter Materie 
existieren könne. Es stimmt dies merkwürdig zu der späteren 
Behauptung, daß es keine Materie ohne Geist gebe, und daß 
der Materie nicht bloß physikalische, sondern auch geistige 
Kräfte innewohnen. Dann wieder wird die Seele zu einem 
Sammelbegriff für die gesamte Tätigkeit des Gehirns , so 
wie die Atmung ein solcher Begriff für die Tätigkeit der 
Atmungsorgane sei. Wie die Atome, die Nervenzellen oder 
die Materie es anfangen, um Empfindungen oder Bewußtsein 
zu erzeugen, könne uns vollkommen gleichgültig sein: es 
genüge vollständig zu wissen, daß es so sei. Neben dieser 
kaum zu überbietenden Verwirrung der Begriffe hat Büchner 
sich auch mit der genaueren Verteilung der geistigen Prozesse 
an besondere Ganglien des Gehirns beschäftigt, und so wer- 
den Vernunft, Phantasie, Gedächtnis, Zahlensinn, Eaumsinn, 
Schönheitssinn u. a. in besonderen Zellen untergebracht. Nur 
etwa 100 000 Vorstellungen rechnet er auf das entwickelte 
Bewußtsein eines Erwachsenen und erhält so die beglückende 
Aussicht, daß bei den zur Verfügung stehenden 500 — 1000 
Millionen Ganglienzellen noch sehr viel Platz für neue geistige 
Schöpfungen (und Fähigkeiten?) offen stehe. 
Im Todesjahre Büchners, 1899, erschien sodann ein 
Werk von E. Haeckel: Die Welträtsel, das den Materialis- 
mus ebenfalls ohne deutliche Abgrenzung gegen den Monis- 
mus vertritt und auch sonst von einer ähnlichen theoretischen 
Unklarheit beherrscht ist^). Zum Schlüsse dieser kurzen 
historischen Übersicht mag noch die merkwürdige Form eines 
logisch abgeleiteten Materialismus erwähnt werden, den 
*■) Vgl. die Darstellung und Beurteilung dieses Werkes in: O. Külpe, 
Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland, 7. Aufl. 1920. 
213 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Überweg ausgebildet hat. Hiernach sind die Dinge der uns 
erscheinenden Welt unsere Vorstellungen. Da nun jene aus- 
gedehnt sind, so sind es auch die Vorstellungen. Da ferner 
diese in der Seele ablaufen, so ist auch die Seele ausgedehnt 
und, da die Materie das Ausgedehnte ist, zugleich materiell. 
Es ist kein Zweifel, daß man von demselben Ausgangspunkt 
logisch zu einem ganz entgegengesetzten Eesultate kommen 
könnte. 
6. Da in der geschichtlichen Darstellung der Haupttypen 
des Materialismus alle seine Beweisgründe zur Sprache ge- 
bracht sind und die von uns unterschiedenen Formen seiner 
singularistischen Ausprägung nirgends in scharfer und rein- 
licher Abgeschlossenheit vorliegen, so dürfen wir ohne Ver- 
zug eine zusammenfassende Kritik dieser metaphysischen 
Eichtung überhaupt vortragen. Wenn eine Metaphysik dog- 
matisch genannt werden kann, so ist es diese. Denn 
die Gründe, welche sie vorbringt, sind recht dürftig. Das 
Altertum wurde den Tatsachen durch seinen Dualismus der 
Materien noch einigermaßen gerecht, und unter den Formen 
des singularistischen Materialismus bestreitet die attributive 
und die kausale Ausdrucksweise wenigstens nicht die quali- 
tative Eigentümlichkeit des Geistigen. Zu einer naiven Sinn- 
losigkeit wird jedoch die Behauptung des äquativen Ma- 
terialismus, sobald man sie nicht im Sinne des später zu be- 
handelnden Monismus auslegt. Eine Identität kann begriff- 
lich nur behauptet werden, wo die Merkmale der in Frage 
stehenden Begriffe als identisch zu betrachten sind. Es ist 
jedoch eine alte und eine der sichersten Beobachtungen, daß 
das sog. Psychische ganz oder doch der Hauptsache nach in 
seinen Merkmalen abweicht von dem Physischen. Wie sollte 
z. B. ein Gefühl der Bewunderung oder ein Willensentschluß 
dasselbe sein wie die Bewegung von Gehirnmolekülen ? Was 
soll also die Behauptung, das Geistige sei ein materieller Vor- 
gang? Sie ist ebenso unhaltbar wie etwa die, blau sei 
dasselbe wie gelb. 
Bis auf die neueste Zeit fehlt es dem Materialismus ganz 
an einem Versuche seine Eichtung erkenntnistheoretisch zu 
begründen. Man darf es wohl als einen Erfolg der Kantschen 
214 
19. Der Materialismus. 
Erkenntniskritik betrachten, daß man im 19. Jahrhundert 
diesen Versuch gewagt hat. Aber an der eigentlichen Schwie- 
rigkeit ist man, wie aus den mitgeteilten Äußerungen von 
Vogt oder von Moleschott zu ersehen, mit achtloser Leich- 
tigkeit vorübergegangen. Die einzige Tatsache, auf die sich 
der Materialismus stützt, ist die offenkundige Abhängigkeit 
der psychischen Vorgänge von den physischen. An einer 
solchen Beziehung zwischen beiden haben jedoch auch Philo- 
sophen anderer Eichtung nicht gezweifelt, und sie muß daher 
wohl als eine vieldeutige, nicht aber als eine notwendig zum 
Materialismus führende Tatsache angesehen werden. Aus 
den im nachstehenden angeführten Gründen ist vielmehr 
zu folgern, daß der Materialismus weder die wahrschein- 
lichste noch die einfachste Erklärung dieses Tatbestandes ist. 
7. Zunächst einige Bemerkungen über den attributiven 
Materialismus^). Dieser kann nur als eine vorläufige Be- 
stimmung des Verhältnisses zwischen Gehirn und Bewußt- 
sein gelten. Denn die Angabe, daß ein Inhalt der Erfahrung, 
etwa das Gefühl der Unlust oder die Vorstellung eines Löwen, 
einer materiellen Substanz, wie sie durch bestimmte Teile 
des Nervensystems dargestellt ist, als Eigenschaft zukomme, 
liefert keine auch nur in den allgemeinsten Zügen befriedigende 
Aufklärung über den Sachverhalt. Die Beziehung zwischen 
Ding und Eigenschaft wird überall in der Wissenschaft nur 
als eine vorläufige Beschreibung der Tatsachen gewürdigt. 
Fällt das Ding mit der Summe seiner Eigenschaften zu- 
sammen, so fragt es sich sofort, wie sich die in Eede vStehende 
Eigenschaft zu den übrigen verhalte, und diese Frage be- 
deutet gerade in unserem Falle nichts weniger als die Wieder- 
holung der alten Problemstellung. Ist aber das Ding von 
seinen Eigenschaften verschieden, so tritt zu der eben ge- 
nannten Frage noch die weitere nach der Beziehung zu 
diesem substantiellen Hintergrunde der einzelnen Merkmale 
hinzu, vermehrt sich also die Schwierigkeit, die wir hervor- 
gehoben haben, um eine neue. Ferner kann die Angabe, daß 
das Psychische Eigenschaft des Gehirns sei, nicht einmal als 
') Vgl. dazu die treffenden Ausführungen bei Thiele: Die Philosophie 
J. Kants, I, 2, S. 276ff. 
215 
III. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
eine richtige Beschreibung der Tatsachen angesehen werden. 
Denn die Bewußtseinserscheinungen tragen, wie die Psy- 
chologie lehrt, den Charakter von Vorgängen und nicht den 
von Eigenschaften an sich, und das Prinzip des psychophy- 
sischen Parallelismus (vgl. § 8, 5) setzt daher auch die Be- 
wußtseinsinhalte zu Gehirnprozessen in eine gesetzmäßige 
Beziehung. Das Verhältnis des Körperlichen zum Bewußt- 
sein ist also ein Verhältnis von Vorgängen zueinander. Ein 
solches kann aber durch den attributiven Materialismus 
niemals begriffen werden, nur der kausale ist dazu wenigstens 
prinzipiell imstande. Darum richten wir uns im folgenden 
fast ausschließlich gegen diese wissenschaftlich allein ernst- 
lich zu berücksichtigende Form des metaphysischen Mate- 
rialismus. 
8. a) Der Materialismus steht in Widerspruch mit einem 
Grundgesetz der modernen Naturwissenschaft, nämlich mit 
dem Gesetz von der Erhaltung der Energie. Nach diesem 
ist die Summe der in einem geschlossenen, materiellen System, 
also, sofern das ganze Universum als ein derartiges System 
betrachtet werden kann, in der Welt vorhandenen Energie 
stets eine konstante, und alle hier oder da auftretenden 
Veränderungen sind nur Wandlungen in der Verteilung der 
Energie, die auf einem wechselseitigen, streng gesetzmäßigen 
Austausch beruhen (vgl. § 18, 2; 21, 6. 7). Unter dieser Vor- 
aussetzung besteht ein lückenloser Zusammenhang zwischen 
allen sog. physischen Prozessen und ist gar kein Platz vor- 
handen für eine neue Erscheinungsform, das Psychische 
oder das Geistige. In denselben allgemeinen Zusammenhang 
sind auch die Lebeusvorgänge und unter ihnen die Tätig- 
keiten des Nervensystems, insbesondere des Gehirns ein- 
geschaltet zu denken. Gehört nun das Geistige nicht zu den 
selbständigen Energieformen, der mechanischen, elektrischen 
oder chemischen, zwischen denen ein Austausch auf Grund 
von quantitativen Äquivalenzgesetzeu herrscht, so ist nicht 
einzusehen, wie es entstehen soll. Wird eine Empfindung 
durch eine Gehirnerregung hervorgerufen, so muß diese da- 
durch an Energie (wohl chemischer Art) verloren haben. 
Dann hat sich die Energie dieses Systems um ein wenn auch 
216 
§ 19. Der Materialismus. 
noch so geringes Quantum verändert, ist also das Erhaltungs- 
gesetz verletzt. Die einzig folgerichtige Vorstellung wäre, 
auch die geistigen Prozesse als eine besondere Energieform 
der chemischen, elektrischen, thermischen oder mechanischen 
Energie zuzuordnen und zwischen ihr und diesen denselben 
gesetzmäßigen Zusammenhang von Austausch und Aus- 
gleich anzunehmen, der innerhalb der physischen Energie- 
formen herrschend gedacht wird. Aber diese, neuerdings 
v^on Ostwald vertretene, Ansicht richtet den alten dualisti- 
schen Materialismus wieder auf. Denn mag man auch ein 
Eecht dazu haben, den Energiebegriff auf die seelischen Vor- 
gänge anzuwenden, ein Eecht, das manchen Bedenken aus- 
gesetzt ist (vgl. § 21, 6), so muß doch zweifellos ein großer 
Unterschied zwischen dieser geistigen Energie und den anderen 
anerkannt werden. Hier Bewegungen als allgemeines Merk- 
mal der physischen Prozesse, sichtbare oder unsichtbare, 
grobe oder Molekularbewegungen, dort das raumlose Ge- 
schehen von Empfindungen und Gefühlen, Wollen und 
Denken; hier die Abwesenheit eigentlich qualitativer Ab- 
weichungen zwischen den Körpern und ihren Kräften und 
darum ein gemeinsames Maß und eine weitreichende Äqui- 
valenz zwischen allen, dort eine reiche, durch tiefere Analyse 
nur immer wachsende Mannigfaltigkeit von Vorgängen und 
Zuständen und eine entsprechende Fülle subjektiver Dis- 
positionen und Fähigkeiten; hier eine mechanische Gesetz- 
mäßigkeit des Ablaufs und der Verbindung von Energie- 
änderungen und Stoffen, dort Absicht, Zweck und Persön- 
lichkeit, einheitliche Eegelung des geistigen Lebens und 
die eigentümliche Herrschaft idealer Gesichtspunkte. Diese 
Unvergleichbarkeit des physischen und psychischen Ge- 
schehens macht die Einführung eines sie beide umspannenden 
Energiebegriffs zu einem für den Materialismus höchst zweifel- 
haften Gewinn, weil ihn von einer dualistischen Auffassung 
dann nur noch der Name trennt. 
9. b) Der Materialismus ist nicht imstande, auch nur 
den einfachsten psychischen Vorgang zu erklären. 
Demi dazu würde erfordert werden, daß sich dieser mit Not- 
wendigkeit aus der gegebenen oder gedachten Voraussetzung 
217 
III. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
einer bestimmten Konstellation materieller Vorgänge ab- 
leiten ließe. Wie aber Empfindung aus Bewegung als selbst- 
verständliche Folge hervorgehen soll, das ist so wenig ein- 
zusehen, daß selbst die Materialisten diese Schwierigkeit 
einzugestehen pflegen. Wenn sie in solchem Falle behaupten, 
daß auch bei rein physischen Zusammenhängen die gleiche 
Unbegreiflichkeit stattfinde, so ist das nicht zutreffend. 
Denn daß eine äußere oder innere Bewegung die Folge einer 
Bewegung ist, deren Größe und Geschwindigkeit von be- 
stinambaren Umständen abhängig ist, bedarf ebensowenig 
einer besonderen Beweisführung, als daß ein Gedanke aus 
einem anderen Gedanken hervorgeht. Und somit kann hier 
durch eine begriffliche oder anschauliche Konstruktion die 
Notwendigkeit des Eintritts bestimmter Ereignisse dar- 
gelegt werden. Mag es daher auch metaphysisch im letzten 
Grunde unverständlich sein, wie ein materielles Wirkendes 
es anfängt, ein anderes in Tätigkeit zu setzen, und mag somit 
die Unbegreiflichkeit des Kausalzusammenhangs, der her- 
vorbringenden, erzeugenden Kraft auch für das physische 
Gebiet zutreffen, so bleibt doch immerhin der Bedingungs- 
zusammenhang hier unvergleichlich einfacher und durch- 
sichtiger. Welche anschauliche Konstruktion dürfte eine 
Molekularbewegung im Gehirn mit einem Denkakt ver- 
knüpfen, der einer geometrischen Darstellung keinen Winkel 
und keine Linie bietet? Welche begrifflich-anah^tische 
Folgerung ließe sich aus einer solchen Bewegung auf eine 
Empfindung oder auf ein Gefühl ziehen? Die wesentlichen 
oben aufgeführten Unterschiede zwischen dem Physischen 
und Psychischen würden die Zurückführung des letzteren 
auf das erstere im Sinne eines Hervorgehens, Erzeugtwerdens 
nur als eine letzte Tatsache anerkennen, nicht aber als einen 
anschaulich oder begrifflich notwendigen Zusammenhang er- 
scheinen lassen. Der Materialismus aber ist nicht die Fest- 
stellung eines tatsächlichen Verhaltens. Noch ist es niemand 
gelungen, das Auftreten eines Affekts z. B. als unmittelbare 
Folgeerscheinung eines Gehirnvorgangs anschaulich und über- 
zeugend darzutun. Er ist vielmehr eine Hypothese, die au 
dem Maßstabe ihrer Denkbarkeit und ihrer Leistungsfähig- 
218 
19. Der Materialismus. 
keit geprüft werden muß. Und ihre Denkbarkeit steht nacli 
denri hier entwickelten psychologischen Argument ebenso 
wie ihre Leistungsfähigkeit sehr in Frage. Das Psychische 
als Produkt von körperlichen Geschehnissen zu fassen, ist 
eine sehr unwahrscheinliche Annahme, und die Erklärung 
der Eigenart geistigen Lebens wird durch die Behauptung, 
daß sie aus materiellen Vorgängen hervorgehe, nicht im 
mindesten gefördert. Die beredte Darstellung dieses längst 
bekannten Sachverhalts durch Du Bois-Eeymond (Ȇber 
die Grenzen des Naturerkennens« 1872 u. ö.) hat dazu bei- 
getragen, auch in den Kreisen der Naturforscher seine An- 
erkennung zu verbreiten. 
10. c) Die Biologie beschäftigt sich mit dem Problem des 
Lebens und sucht, wie schon im Altertum, so auch jetzt 
wieder in der Mitwirkung oder dem Einfluß seelischer Fak- 
toren die Erklärung für den Unterschied zwischen lebloser 
und lebender Materie. Damit wird aber offenbar voraus- 
gesetzt, daß die Seele nicht aus der Materie ableitbar ist, 
denn sonst könnte sich diese ja selbst organisieren. Führt 
man das Leben auf die Seele zurück, so geschieht das, weil 
man es durch bloßes Beieinander materieller Elemente und 
Vorgänge, durch den körperlichen Mechanismus, den Physik 
und Chemie lehren, nicht erklären kann. Dieser Vorteil 
geht jedoch auf dem Boden des Materialismus verloren, der 
nicht nur das Leben im weiteren Sinne, sondern auch alle 
seelischen Vorgänge und Fähigkeiten als Erzeugnisse physiko- 
chemischer Konstellationen und Geschehnisse betrachtet. 
So gerät der Materialismus in einen Widerspruch mit 
den vitalistischen Eichtungen der Biologie, und 
es ist für eine Metaphysik immer mißlich und bedenklich, 
einer starken Strömung innerhalb einer Einzelwissenschaft 
nicht gerecht werden zu können (vgl. § 23). 
d) Der Begriff der Abhängigkeitsbeziehung ist ein 
viel allgemeinerer als der des kausalen Verhältnisses. Denn 
jener besagt nur, daß zwischen zwei Erscheinungen a und b 
eine solche Beziehung besteht, daß jede Veränderung in oder 
an a von einer entsprechenden Veränderung in oder an b 
gesetzmäßig gefolgt oder begleitet ist. Entsprechend aber 
219 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
nennt man eine Veränderung dann, wenn sie in qualitativer 
und in quantitativer Hinsicht sich einer andern äquivalent 
erweist, so daß gleiche oder ähnliche Vorgänge in oder an a 
auch gleiche oder ähnliche Vorgänge in oder an b auftreten 
lassen, oder daß größere, kleinere, stärkere, schwächere usw. 
Veränderungen dort auch in gleicher Eichtung erfolgende 
Veränderungen hier nach sich ziehen. Für die Kausalität 
treffen diese Bestimmungen zwar ebenfalls zu, aber für sie 
wird außerdem ein bestimmter zeitlicher Zusammenhang 
erforderlich, der für die Abhängigkeit als solche völlig gleich- 
gültig ist, und eine Umkehrung des Verhältnisses, die hier 
ohne weiteres vorgenommen werden kann, ist mit Eück- 
sicht auf die zeitliche Folge der kausal verbundenen Pro- 
zesse bei diesen nicht angängig. Darum ist die Behauptung 
einer Abhängigkeitsbeziehung zwischen psychischen und 
physischen Prozessen scharf zu trennen von der Behauptung 
ihrer kausalen Verknüpfung. Da nun die Beobachtung dem 
Unbefangenen sowohl die Abhängigkeit psychischer Vorgänge 
von physischen als auch die umgekehrte aufzeigt, so ist 
offenbar für den vorurteilslosen Forscher zunächst nur der 
allgemeine Begriff einer Abhängigkeits-, einer Funktions- 
beziehung, nicht aber der speziellere einer kausalen Ver- 
knüpfung auf diesen Tatbestand anwendbar. Die moderne 
Psychologie trägt diesem Sachverhalt durch das Prinzip des 
psychophysischen Parallelismus Eechmmg, wonach 
die Bewußtseinsinhalte von körperlichen Vorgängen gesetz- 
mäßig begleitet sind, ohne daß die Art dieses Parallel- 
gehens vorläufig genauer bestimmt werden könnte (vgl. 
§ 8, 5). Der Materialismus dagegen setzt sofort die speziellere 
Vorstellung eines einseitigen Kausalverhältnisses voraus und 
ist sich weder des hervorgehobenen Unterschiedes in den 
Begriffen noch der Einseitigkeit seiner Auffassung des Tat- 
bestandes bewußt. 
11. e) Der Begriff der Materie ist nur gebildet, um das 
Objektive an den Erlebnissen zu hypostasieren (d. h. als 
real zu denken). Um das in unserer Erfahrung von uns Unab- 
hängige, einer selbständigen Gesetzlichkeit des Geschehens 
Angehörige sachgemäß darzustellen, hat die Naturwissen- 
220 
§ 19. Der Materialismus. 
Bchaft eine materielle Substanz angenommen, in der Kräfte 
der Anziehung und Abstoßung wirksam sind, und die sich 
demgemäß in Spannungszuständen oder Bewegungen be- 
findet. Die Qualität unserer Bewußtseins- oder auch nur der 
Wahrnehmungsinhalte selbst dagegen, die Röte und Bläue, 
Süßigkeit und Säure, Schmerz und Kitzel auszudrücken 
oder zu erklären, sind solche Realitäten weder bestimmt 
noch geeignet. Sie wollen nur die Tatsache verständlich 
machen, daß unsere Sinneseindrücke in einer von uns nicht 
willkürlich herzustellenden oder abzuändernden Reihen- 
folge und Verbindung auftreten und verschwinden, daß sie 
in einem ihnen als solchen zufälligen, und insofern fremd- 
gesetzlichen Zusammenhang gegeben sind. Aus dieser er- 
kenntnistheoretischen Erwägung (vgl. § 17, 3) geht der tiefere 
Grund für die Unmöglichkeit hervor, das Psychische in den 
Kreis des Energiesatzes einzubeziehen und als Erzeugnis 
materieller Vorgänge verständlich zu machen. Die Begriffe 
von Materie und Energie müßten wesentlich umgestaltet 
werden, wenn sie fähig werden sollten, die ihnen vom Mate- 
rialismus zugewiesene Bedeutung für das geistige Leben zu 
erlangen. 
Nach diesen Erörterungen müssen wir den Materialismus 
als eine nicht nur sehr hypothetische, sondern auch als eine 
unwahrscheinliche metaphysische Annahme betrachten. 
Wenn er auch in philosophischen Kreisen heutzutage jegliche 
Geltung verloren hat, so ist doch in denen der ^Naturforscher 
and Ärzte eine Neigung zu dieser Vorstellung noch immer 
sehr verbreitet^), und in weiten Kreisen des Volks und der 
sog. Gebildeten wird dieses Schlagwort vielfach im Sinne 
einer sicheren naturwissenschaftlichen Theorie angewendet. 
Wir haben es darum nicht für überflüssig gehalten, die wich- 
tigsten Argumente gegen den Materialismus vom natur- 
wissenschaftlichen, psychologischen und erkenntnistheore- 
tischen Standpunkt aus zu entwickeln. 
Zum Schluß verweisen wir auf das vortreffliche Werk von 
F. A. Lange: »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner 
^) Vgl. z. B. Fr. A. Legahn: Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins 
(auf physiologischer Grundlage), 1914. 
221 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Bedeutung in der Gegenwart*« (9. Aufl. 2 Bde. 1914 f., auch 
in der Eeclamschen Universalbibliothek herausgegeben von 
EUissen^)). 
§ 20. DEE SPIEITUALISMUS. 
1. Viel später als der Materialismus ist sein direkter meta- 
physischer Gegensatz, der Spiritualismus, in der Geschichte 
der Philosophie aufgetreten. Denn die einzige Eichtung des 
Altertums, die diesen Charakter zu besitzen scheint, nämlich 
die Ideenlehre Piatons, betrachtet zwar Ideen als die realen 
Träger aller Erscheinung, sieht in ihnen aber keineswegs von 
vornherein und ausschließlich etwas Psychisches. Der er- 
kenntnistheoretische Idealismus paart sich hier noch mit 
dem metaphysischen Spiritualismus in unklarer Weise. 
Eeiner ist der letztere in der neuplatonischen Emana- 
tionslehre herausgearbeitet. Die höchste Ursache, das Eine, 
scheidet sich hier in den Geist und das Gedachte, in Subjekt 
und Objekt; aus dem Geist geht die Seele und aus dieser der 
Körper hervor, der demnach geistiger Natur sein muß. Aber 
als ein Grenzbegriff wird hier, ähnlich wie bei Piaton, eine 
Materie, als die Seinsweise des (angeblich) Nichtwirklich- 
seienden, gefordert, und der Spiritualismus Avird auch hier 
zu einer sekundären, aus den Voraussetzungen des Systems 
abzuleitenden Anschauungsweise. 
Darum können wir als den ersten Vertreter eines echten 
Spiritualismus erst Leibniz bezeichnen^). Alles Zusam- 
mengesetzte weist hin, wie er lehrt, auf das Einfache, aus 
dem es besteht. Ein solches wahrhaft Einfaches darf nicht 
selbst wieder teilbar sein, muß also, da alles Stoffliche seiner 
Natur nach nicht unteilbar ist, einen unstofflichen, im- 
materiellen Charakter tragen. Darum sind diese letzten Ein- 
heiten alles Komplexen »metaphysische Punkte«, ausdeh- 
^) Vgl. auch H. Schwarz: Grundfragen der Weltanschauung, 1912, 
dessen erster Abschnitt eine Würdigung des Material ismvis enthält, 
während der zweite die Freiheit des W^illens und der dritte das Gottes- 
problem behandelt. ^) Die Abhandlungen Monadologie und Principes 
de la nature et de la grace, um 1714 verfaßt (deutsch in der Philos. 
Biblioth.), enthalten eine systematische Darstellung seiner Lelire. 
222 
§ 20. Der Spiritualismus. 
iiungslose Eealen. Solche können weder entstehen noch ver- 
gehen, sondern nur geschaffen oder vernichtet werden, d. h. 
sie sind einfache Substanzen, die durch sich existieren, 
selbständig sind. Descartes hatte die Substanz definiert 
als das Wesen das so existiert, daß es keines anderen Wesens 
zur Existenz bedarf, und daraus gefolgert, daß nur Gott im 
eigentlichen Sinne Substanz genannt werden dürfe. Doch 
schienen ihm die Materie und die Seele, die res extensa und 
die res cogitans (das ausgedehnte und das denkende Wesen), 
insofern auch das Prädikat der Substanz zu verdienen, als 
sie bloß Gottes, sonst aber keines anderen Wesens zur Exi- 
stenz bedürfen. Diesen ungenauen Sprachgebrauch be- 
seitigte Spinoza, indem er die absolute Unabhängigkeit 
von der Substanz aussagte, und somit nur Gott mit diesem 
jS^amen belegte. Er versteht unter Substanz das, was in sich 
ist und durch sich begriffen wird, d. h. dessen Begriff nicht 
des Begriffs eines anderen Wesens bedarf, von dem er ge- 
bildet werden müßte. Die Definition von Leibniz kehrt im 
wesentlichen zurück zu der des Descartes. Sie lautet: 
substantia est ens per se existens (die Substanz ist ein für sich 
existierendes Wesen). Während jedoch seine Vorgänger die 
Einzigkeit der Substanz behauptet hatten, verknüpft Leib- 
niz mit der ähnlichen Bestimmung die durch die Tatsache 
zusammengesetzter Erscheinungen geforderte Annahme einer 
unendlichen Vielheit von Substanzen. 
2. Alle Veränderung setzt tätige, wirkende Kräfte voraus. 
Sofern also die einfachen Substanzen die realen Träger alles 
Seins und Geschehens sind, werden sie als kraftbegabte 
Wesen zu betrachten sein. IS'ach dem Vorgange von Gior- 
dano Bruno nennt Leibniz diese selbständigen Einheiten 
alles Seienden Monaden. Da nun ihr ganzes Wesen Selb- 
ständigkeit ist, so können sie nichts empfangen, es kann nichts 
in sie eindringen, und die scheinbare Wechselwirkung zwischen 
den Vorgängen der sichtbaren Welt beruht vielmehr auf 
einer weisen göttlichen Vorherbestimmung, der prästabi- 
lierten Harmonie, vermöge deren die Zustände aller Sub- 
stanzen zueinander passen, ohne sich gegenseitig zu beein- 
flussen. Nur die Analogie unserer Seele erlaubt es, das innere 
223 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Sein aller Monaden näher zu bestimmen, weil wir nur in ihr 
ein absolut einfaches und selbsttätiges Wesen wirklich 
kennen. Man kann daher die Monaden als Seelen bezeichnen 
und muß dann die Körper, diese Monadenaggregate, als 
Vielheiten von Seelen fassen. Äußerlich können sich nun 
die Monaden überhaupt nicht voneinander unterscheiden, 
da sie punktuell gedacht werden. Andererseits müssen sie 
voneinander verschieden sein, weil sonst gar kein Eecht vor- 
läge, eine Vielheit von ihnen anzunehmen. Die damit ge- 
forderte innere Verschiedenheit baut sich aus den in den 
Monaden ablaufenden Zuständen auf. Sie besteht in einer 
Mannigfaltigkeit von Klarheitsgraden ihrer Vorstellungen. 
Schon im Altertum war es üblich, die Sinneswahrnehmung 
als ein Abbild der objektiven Welt aufzufassen. Indem 
Leibniz diese dem populären Bewußtsein aller Zeiten ge- 
läufige Annahme mit dem mathematischen Begriff der Dar- 
stellung verknüpft, gelangt er zu der Bestimmung, daß jede 
Monade das ganze Universum mit einer ihr eigentümlichen 
Klarheit und Deutlichkeit vorstelle oder darstelle, daß jede 
in diesem Sinne ein Mikrokosmus oder ein Spiegel des Alls, 
une concentration de Vunivers, sei. Die Einfachheit der Monade 
hindert nicht eine Vielheit ihrer Zustände, die durch die ver- 
schiedenartigen Beziehungen der Monaden zueinander ge- 
fordert wird. Neben den Vorstellungen sind damit Stre- 
bungen oder Begierden vorhanden, durch die der Über- 
gang von einer Vorstellung zur anderen vermittelt wird. Die 
Vorstellungen aber zerfallen nach Leibniz in zwei große 
Klassen, indem sie als Perzeptionen oder als Apperzep- 
tionen gegeben sein können. Jene bestehen in dem bloßen 
Erlebnis des psychischen Zustandes, diese enthalten noch 
dazu ein Bewußtsein von ihm. Wenn ein Eaubtier auf seine 
Beute lauert, so hat es eine Perzeption, ein Erlebnis, aber 
keine Apperzeption, sofern es von dieser Tätigkeit nichts 
weiß, sie nicht selbst wahrnimmt, sofern sie also ihm unbe- 
wußt bleibt (vgl. § 8, 4). Die ganze Welt besteht somit nach 
Leibniz aus Seelen oder seelenartigcn Wesen. — Diesem 
Spiritualismus hat sich Maine de Biran (f 1824) ange- 
schlossen, doch ist für ihn die psychische Urtatsache nicht die 
224 
§ 20. Der Spiritualismus. 
k 
VorstelluDg, sondern der »effort voulu«, und so wird Aktivität 
und Wille das Wesen aller einfachen Substanzen. 
3. Einen ähnlichen Standpunkt hat dann Herbart be- 
gründet. Von einer allgemeinen Begriffsbestimmung des 
Seins geht er aus. Es besteht nach ihm in der absoluten Po- 
sition, womit einerseits alle Beziehung (Relation), anderer- 
seits alle Negation abgelehnt wird. Nun würde eine Vielheit 
von Qualitäten des Seienden etwas Relatives in dasselbe 
hineinbringen, also muß die Beschaffenheit des Seienden als 
eine ganz einfache gedacht werden. Der Widerspruch, der 
in dem Erfahrungsbegriff eines Dinges mit vielen Merkmalen 
liegt, kann ohne Verstoß gegen die diesem Begriffe zugrunde 
liegenden Tatsachen nur dadurch aufgelöst werden, daß man 
eine Vielheit von Seienden annimmt, von denen jedes absolut 
einfach ist (vgl. § 18, 7). Das sind die Realen Herbarts, 
auch unkörjjerliche Wesen wie die Monaden des Leibniz, 
aber ihrer einfachen Qualität nach unbestimmbar. Die Be- 
ziehungen, in denen die Realen zueinander stehen, sind 
Störungen, die sie erfahren, und Selbsterhaltungen, die von 
ihnen ausgehen, wobei jede Selbsterhaltung die Störung auf- 
hebt, »dergestalt, daß sie gar nicht eintritt«. Nun ist nach. 
Herbarts psychologischer Auffassung die Vorstellung der 
einzige Vorgang, in dem sich unser bewußtes Seelenleben 
äußert. Die Selbsterhaltungen des Seelenrealen können daher 
als Vorstellungen gelten. Hier ist der Spiritualismus offenbar 
weniger ausgeprägt als bei Leibniz, da Herbart die Selbst- 
erhaltungen der das Körperliche bildenden Realen und die ein- 
fache Qualität aller ihrem Wesen nach nicht näher bestimmt. 
— Viel rückhaltloser hat sich zum Spirituahsmus Lotze 
bekannt. Den Begriff des Seins definiert er als das Stehen 
in Beziehungen oder als die Fähigkeit zu wirken und zu leiden. 
Solche Beziehungen erscheinen jedoch nur denkbar unter 
der Voraussetzung einer Einheit, die alle Wesen verbindet. 
Darum betrachtet Lotze die einzelnen Dinge als Modifika- 
tionen eines Absoluten, einer Substanz. Als füi^ sich seiende 
Einheiten endlich lassen sich alle Dinge nur dann denken, 
wenn man ihnen eine nach Analogie unseres eigenen Bewußt- 
seins aufzufassende geistige Qualität beilegt. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 16 
225 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
4. Besonders deutlich hat Schopenhauer das wesent- 
liche Motiv des Spiritualismus zur Geltung gebracht. Der 
Gegensatz, den Kant zwischen Erscheinung und Ding an 
sich aufgerichtet hatte (vgl. § 17, 11), wird von ihm an- 
erkannt, aber in uns selbst, meint er, erfassen wir beides. 
Dem erkennenden Subjekt ist sein Leib, sein Ich, auf zwei 
ganz verschiedene Weisen gegeben, einmal als Vorstellung, als 
körperliches Objekt, und sodann als das Jedem unmittelbar 
Bekannte, als Wille (worunter er nicht nur das vernünftige 
Wollen, sondern auch alles Streben, Begehren, Wünschen, 
alle Triebe und Leidenschaften versteht). Ist nun der Wille 
in uns das Ding an sich, so ist dairdt zugleich die ganze Welt 
der Erscheinungen aufgeschlossen. Jede strebende und wir- 
kende Kraft in der Natur ist wesentlich identisch mit dem 
Willen in uns. ~ Auch Wundt kann man als Spiritualisten 
bezeichnen. Von der in der unmittelbaren Erfahrung ge- 
gebenen Eealität der Erlebnisse führen nach ihm die natur- 
wssenschaftliche und die psychologische Forschung auf 
getrennte Bahnen, jene zu einer exakten r^ntersuchung der 
isoliert gedachten Vorstellungen, die als solche zu Objekten 
werden, diese zu einer Erkenntnis des Bestandes und inneren 
Zusammenhanges der ganzen, aus Vorstellungen, Gefühlen, 
Willensvorgängen sich zusammensetzenden Erfahrung. Die 
letzte Einheit, bei der eine metaphysische Betrachtung der 
naturwissenschaftlichen Ergebnisse stehen bleiben kann, ist 
das lediglich formal bestimmte Atom, über dessen eigene 
Natur wir nichts erfahren. Dagegen gelangt eine ent- 
sprechende Untersuchung des psychologischen Tatbestandes 
zu der Annahme, daß der Wille »die wirkliche Eealität unseres 
eigenen Seins« ist. »Da wir nun unmöglich annehmen können, 
daß die Objekte überhaupt kein eigenes Sein haben, und ein 
anderes eigenes Sein als unser Wille uns nirgends gegeben 
ist . . ., so wird hier unweigerlich eine Ergänzung des kosmo- 
logischen durch den psychologischen Regressus gefordert : das 
eigene Sein der Dingo ... ist dem unseren gleichartig; es ist 
Wollen.« Die letzte Einheit alles Seins aber wird als Willens- 
einheit bestimmt. 
5. Daneben findet man spirualistische Ansichten, deren 
226 
§ ifO. Der Spiritualismus. 
Begründung mit Hilfe deis Idealismus (vgl. § 17) vollzogen 
wird. Ist hiernach die Welt unsere Vorstellung , so liegt es 
nahe, vorstellende Wesen, d. h. Seelen, als die einzigen Reali- 
täten anzuerkennen. In typischer Form hat diesen Stand- 
punkt G. Berkeley ausgebildet, nach dessen »Immaterialis- 
mus« oder »Psychismus« es nur Geister, nur psychische Sub- 
stanzen gibt. Zuweilen spielen auch Wertbeurteilungen bei 
diesen Anschauungen mit, indem man die seelischen Pro- 
zesse als die wichtigeren, allein wertvollen ansieht und 
darum die materiellen Vorgänge zu einer unwesentlichen Er- 
scheinungsform herabsetzt. Mit dieser Begründung kann der 
Monismus, die Zweiseitentheorie des universellen Parallelis- 
miis (vgl. § 22), in den Spiritualismus umschlagen. Beson- 
ders nahe liegt die metaphysische Ansicht des Spiritualismus 
für den, der in der Naturphilosophie einer dynamistischen 
Auffassung (vgl. § 7, 6) huldigt. Wer die Atome lediglich 
als Kraftzentren und somit als mathematische Punkte be- 
trachtet, wird geneigt sein, ihr Wesen durch irgendeine 
psychische Qualität vollständig bestimmt zu finden. Daß 
eine psychologische Betrachtung mit dem Spiritualismus 
in widerspruchslosen Zusammenhang gebracht werden kann, 
ist ohne weiteres einleuchtend. Zwar hat man gemeint, es 
erwachse dieser metaphysischen Deutung der Welt daraus 
eine besondere Schwierigkeit, daß die Existenz fremder Be- 
wußtseinszentren unter ihrer Voraussetzung weder erklärt 
noch auch nur verständlich gemacht werden könne. Es ist 
jedoch nicht einzusehen, warum die metaphysische Deutung 
der Bewegungsvorgänge fremder Individuen, aus denen wir 
ihr inneres oder psychisches Sein zu erschließen pflegen, 
diesen Analogieschluß gefährden müsse. Denn die Tat- 
sachen selbst würden ja dadurch in keiner Weise andere 
werden, nur müßte sich ihre sonst in naturwissenschaftlichen 
Begriffen dargestellte Auffassung in das neue Gewand einer 
spiritualistischen Deutung kleiden. Aber auch der Besitz- 
stand der durch die Naturforschung ausgebildeten Be- 
griffe, Gesetze und Methoden würde durch den Spiritualismus 
keine Veränderung erfahren. Ob man bei dem Begriff 
materieller Atome und der Vorstellung eines mechanischen 
15» 
227 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Zusammenhangs zwischen ihnen stehen bliebe, oder ob man 
diese Begriffe durch die Annahme eines geistigen Inhalts, der 
ihr eigentliches Wesen ausmachte, zu vertiefen suchte, würde 
an der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nichts ändern. 
Jedenfalls müßte auch in letzterem Falle das Stattfinden 
aller der Beziehungen und die Herrschaft aller der Eegeln 
vorausgesetzt werden, welche die Naturwissenschaft mit 
Hilfe von Beobachtung und Eechnung in allgemeingültiger 
Weise festgestellt hat. Endlich verträgt sich der Spiritualis- 
mus auch mit einer realistischen Erkenntnistheorie, 
insofern er Kealitäten nicht nur den Bewußtseinserschei- 
uungen, sondern auch der Außenwelt zugrunde legt. 
6. Ist der Spiritualismus somit eine sehr wohl denkbare 
Hypothese, so wird die genauere Prüfung seiner Argu- 
mente festzustellen haben, ob ihm darüber hinaus eine höhere 
Wahrscheinlichkeit zugesprochen werden darf. 
a) Das wichtigste Argument für den Spiritualismus be- 
steht in derVoraussetzung, daß sich dieinnen weit leichter, 
sicherer und tiefer erkennen und bestimmen lasse, 
als die Außenwelt. Das erkennende Subjekt und das 
zu erkennende Objekt fallen bei jener zusammen. Der 
Grundsatz, daß Jeder sich selbst der Nächste ist, scheint 
nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch zu gelten. Die 
Außenwelt wird als das Fremde, Unbekannte betrachtet, zu 
dem wir einen Zugang nur von uns selbst aus haben. Moderne 
Psychologen haben diese Ansicht unterstützt, indem sie die 
innere Wahrnehmung für schlechthin evident und zuver- 
lässig erklärten und das Psychische mit den Bewußtseins- 
inhalten gleichsetzten. Der Unterschied von Erscheinung 
und Ding an sich, Wirklichkeit und Eealität wird für die 
Innenwelt aufgehoben: wir erfassen uns unmittelbar so, Avie 
wir sind. So verbindet sich ein Eealismus hinsichtlich der' 
Außenwelt mit einem psychologischen Konszientialismus. 
Aber dieser letztere Standpunkt ist für den Spiritualismus 
tatsächlich unhaltbar. Denn fiele das Ich, die Seele mit den 
einzelnen Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühlen und 
Willensakten, die zufällig im Bewußtsein gegeben sind, zu- 
sammen, 80 hätten wir, wie Humc behauptete, in dem Ich 
228 
§ 20. Der Spiritualismus. 
k 
ein bloßes »Bündel von Perzeptionen«. Der Spiritualismus 
aber meint ja ein selbständiges Wesen, eine Kealität, wenn er 
Seele oder Seelisches hinter allen Erscheinungen sucht. 
Damit stellt er sich auf den Boden eines psychologischen 
Eealismus, der die Bewußtseinsinhalte nur als Hinweise auf 
das ihnen zugrunde liegende reale Sein betrachtet. Welch 
ein Eecht aber hat er alsdann, die Erkennbarkeit und Be- 
stimmbarkeit des Psychisch- Kealen für leichter und sicherer 
zu halten, als die des Physisch-Eealen ? Der tatsächliche 
Entwicklungsgang der Naturmssenschaft und der Psycho- 
logie gibt ein solches Eecht ohne Zweifel nicht. Die Er- 
kenntnis ist auf jenem Gebiet vielmehr weiter fortgeschritten 
als auf diesem. Wie langsam und mühsam bahnt sich die 
Psychologie den Weg zu ihrem Objekt ! Der inneren Wahr- 
nehmung pflegt sie durchaus nicht blindlings zu vertrauen 
und ihre Fortschritte bestehen nicht nur in einer Einsicht in 
die Gesetze des Seelenlebens, sondern auch in einer Verfeine- 
rung der Analyse des Tatbestandes und in einer Eeinigung 
desselben von den Mängeln der Selbstbeobachtung. Die 
Selbsterkenntnis hat ja auch von alters her als eine beson- 
ders schwierige Aufgabe gegolten, deren Erfüllung durch 
intellektuelle und zugleich durch moralische Fehler gehindert 
werde. Daß endlich Subjekt und Objekt der Erkenntnis hier 
dasselbe Wesen sind, bedeutet keinen Vorteil, sofern dieses 
Wesen dadurch unserer Erkenntnis nicht zugänglicher 
wird (vgl. §27, 8 ff.). 
7. b) Ein zweites Argument, dessen sich Leibniz bedient 
hat, geht von der Behauptung aus, daß Ausdehnung wesent- 
liches Merkmal aller Körper ist. Nun ist aber die Ausdehnung, 
wie der Eaum überhaupt, ins Unendliche teilbar. Es 
gibt keinen letzten Eaumteil, also auch kein absolutes klein- 
stes Körperchen. Man gelangt daher bei der Analyse der 
Körper, bei der Zerlegung dieser komplexen Erscheinungen 
niemals zu den letzten, einfachsten Elementen, die eine voll- 
ständige und befriedigende Bestimmung der Eealität anzu- 
geben hätte. Das absolut Einfache muß somit raumlos und, 
was auf dasselbe hinauskommt, immateriell, also geist- 
artig gedacht werden. 
229 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Dies Argument wäre nur dann eine Empfehlung für den 
Spiritualismus, wenn die unendliche Teilbarkeit des Raumes 
mit der Frage nach den Elementen des Raumerfüllenden 
notwendig zusammenhinge. Dies ist aber nicht der Fall, 
sobald man auseinanderhält, was gesondert werden muß, 
die qualitative Beschaffenheit des Rauminhalts und den von 
ihm eingenommenen Raum. Warum soll nicht ein Raum- 
erfüllendes trotz seiner räumlichen Teilbarkeit einfach, 
letztes Element sein können? Ein großer Klumpen reinen 
Goldes ist doch sicherlich einfacher, als ein winziges Tröpfchen 
Eiweiß, d. h. es besteht zwischen Größe und Volumen einer- 
seits und der Einfachheit oder Komplexität andererseits gar 
keine selbstverständliche Beziehung. Die Elementaratome 
der Körper brauchen daher nicht unräumlich, nicht punk- 
tuell oder immateriell gedacht zu werden. 
8. c) In einem dritten Argument wird die Verwandt- 
schaft von Kraft und Seele betont. Um die Verände- 
rungen in der Natur zu erklären, ist man genötigt, den Begriff 
der Kraft einzuführen upd diese als das eigentlich Treibende 
und Wirkende zu betrachten. Die Materie erscheint hiernach 
bloß als Angriffspunkt für Kräfte, als der Schauplatz, auf 
dem diese sich betätigen. Vollends deutlich wird die Über- 
legenheit der Kraft in der realen Welt, wenn man die Ele- 
mente der Körper als dynamische Einheiten, als Kraft- 
zentren faßt. Das Wesen solcher anziehenden und abstoßen- 
den Kräfte aber wird uns nur verständlich, sofern wir uns 
selbst als schaffende aktive Wesen, unser eigenes Innenleben 
als beherrscht von einer Willenskraft wissen und mit jenen 
einfachen Naturereignissen vergleichen. Dann können wir 
»den Willen in der Natur« finden und die Naturkräfte als 
Vorstufen und Analoga geistiger Fähigkeiten anerkennen. 
Damit wird die ganze Welt zu einem Stufenreich psychischer 
Realitäten. 
Aber auch dies Argument versagt, sobald wir es genauer 
prüfen. Denn die Kräfte in der Natur dürfen doch nur so 
gefaßt werden, wie sie sind und sein sollen, d. h. als Ur- 
sachen für Bewegungen, bzw. Bewegungsänderungen. Die 
psychischen Vorgänge dagegen, die wir unserer Seele entstam- 
230 
§ 20. Der Spiritualismus. 
men lassen, sind keine Bewegungen. Sind die Leistungen un- 
vergleichbar verschieden voneinander, so weiden es auch die 
Ursachen sein. Man hat also gar kein Recht und keinen Grund, 
den Naturkräften ein psychisches, geistartiges Wesen zuzu- 
schreiben. Darin liegt überhaupt eine große Schwierigkeit 
lür den Spiritualismus, daß er gezwungen ist, den Begriff des 
Psychischen so weit auszudehnen, daß dieser den Zusammen- 
hang mit dem empirisch aus unserem Bewußtsein bekannten 
Seelenleben gänzlich verliert. Dann aber kommen wir zu 
einem Analogon des dualistischen Materialismus, zu einer 
Zweiseelenlehre, bei der nicht einzusehen ist, warum 
überhaupt noch zur Bezeichnung wesensverschiedener Dinge 
der nämliche Ausdruck gebraucht wird. 
9. Damit haben wir die Argumente des Spiritualismus ab- 
gewiesen und den Versuch widerlegt, diese metaphysische Be- 
stimmung aller Eealität als eine wahrscheinliche darzutun. 
Aber wir können auch behaupten, daß Naturwissenschaft 
und Psychologie, die nächstbeteiligten Einzel Wissenschaf- 
ten, zu einer derartigen Auffassung keineswegs drängen. 
Eine Nötigung oder Aufforderung zur spiritualistischen 
Deutung der Naturvorgänge besteht in den Ergebnissen der 
Naturwissenschaft selbst nicht, wenigstens soweit sie 
sich mit der anorganischen Natur befaßt. Je mehr sie sich 
entwickelt hat, um so mechanischer und exakter, um so 
freier von animistischen Tendenzen, von anthropomorphisti- 
schen Neigungen ist sie geworden. Der Spiritualismus ist, 
von hier aus gesehen, ein Eückfall in alte, längst überwun- 
dene Irrtümer. Außerdem wird durch ihn der Wahn genährt, 
als habe nicht die betreffende Einzelwissenschaft über die 
reale Beschaffenheit ihres Gegenstandes das entscheidende 
Wort zu sagen, sondern als gäbe es darüber hinaus eine be- 
sondere, neue Erkenntnis desselben, die tiefer ginge und in 
das Wesen der Dinge selbständig einzudringen vermöchte. 
Die metaphysische Ergänzung hat nicht die Aufgabe, die 
einzelwissenschaftliche Betrachtung zu ersetzen, sondern die 
bescheidenere, deren Richtungslinie über das zurzeit erreichte 
Ziel hinaus weiter zu verfolgen. 
Ebensowenig findet der Spiritualismus eine Stütze in der 
231 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Psychologie. Denn unser persönliches geistiges Leben 
denken wir uns an einen äußerst kompliziert gebauten Be- 
standteil unseres Organismus gebunden und keineswegs in 
letzte materielle Teilchen desselben eingeschlossen. Nicht 
an einem Punkte, ja nicht einmal in einer Zelle des Gehirns 
sitzt nach der modernen Auffassung der physiologischen 
Psychologie das Bewußtsein oder die Seele, sondern die un- 
mittelbaren Bedingungen für die geistigen Erscheinungen 
sind an verschiedenen Orten der Großhirnrinde gelegen. Es 
ist daher ganz ohne Analogie anzunehmen, daß jedes Atom 
ein solches geistiges Sein, wie unser Bewußtsein es darstellt, 
vertrete. Und wenn wir mit der vergleichenden Psychologie 
zu den niedersten Stufen hinuntersteigen, auf denen noch eine 
Spur vom seelischen Leben vermutet wird, so werden wir 
auch hier bei der Zelle oder vielleicht dem Zellkern, also bei 
einer sehr komplexen chemischen Verbindung stehen zu 
bleiben haben, nicht aber in die Atome jenes keimhafte 
Seelische verlegen dürfen. Innerhalb der anorganischen Welt 
ist aber ein Erfahrungsgrund für die Annahme einer Be- 
seelung in wissenschaftlich einwandfreier Form noch nicht 
entdeckt worden. 
LITERATUR: 
G. Dumesnil: Le spiritualisme, 2. 6d. 1911 (sucht die Anschauungen 
von Maine de Biran und Ravaisson fortzuführen). 
E. Vacherot: Le nouveau spiritualisme, 1884 (sucht einen Spiritualis- 
mus auf naturphilosophischer Basis und in kritischer Auseinander- 
setzvmg mit anderen Richtungen zu begründen). 
Anmerkung. Zuweilen wird der Spiritualismus als Idea- 
lismus bezeichnet. Es mag dies zum Teil an dem Zusammen- 
hang liegen, in den der erkenntuistheoretische Standpunkt 
dieses Namens mit jener metaphysischen Eichtung geraten 
ist (vgl. S. 187). Neuerdings liebt es auch der Spiritismus 
sich den Namen des Spiritualismus beizulegen. Die spiritua- 
lis tische Schule, von der man in der französischen Philo- 
sophie des 19. Jahrhunderts redet, ist hauptsächlich durch die 
Betonung der Psychologie als der grundlegenden Disziplin 
charakterisiert. Als ihre Begründer gelten der schon er- 
232 
§ 21. Der Dualismus. 
wähnte Maine de Biran (vgl. § 20, 2) und Eoyer-Collard 
(t 1843). 
§ 21. DEE DUALISMUS. 
1. Wir kommen nunmehr zu zwei vermittelnden Stand- 
punkten, die der selbständigen Bedeutung der vom Materia- 
lismus und Spiritualismus einseitig bevorzugten Qualitäten 
des Eealen gerecht zu werden versuchen. Nach dem Dua- 
lismus bilden das Seelische und das Körperiiche, Geist und 
Materie zwei voneinander wesensverschiedene und selb- 
ständige Existenzen. Er ist die Ansicht des sog. gesunden 
Menschenverstandes und der christlichen Dogmatiker des 
Mittelalters und der Neuzeit, auch tritt er in der Geschichte 
der Metaphysik verhältnismäßig früh auf. Am deutlichsten 
unter den Vorsokratikern hat Anaxagoras einen Dualis- 
mus entwickelt (vgl. § 18, 6). Er scheidet den Geist {vovq) 
als das geistige Prinzip von den unendlich vielen Urstoffen, 
den Spermata, d. i. Samen {oxeQuaxa). Jener bringt erst 
Ordnung und Bewegung in den an sich trägen und chaotischen 
Stoff und wird durch die Prädikate der Selbständigkeit, 
der Einfachheit und der Identität mit sich selbst bestimmt. 
Ferner kann man als Dualisten die beiden größten Philo- 
sophen des Altertums bezeichnen. Bei Piaton trennen sich 
das von ihm sog. »Nichtseiende« und das »Seiende«, das 
sinnenfällige Einzeldasein und sein in der Idee sich aus- 
prägendes Wesen. Auch ein Wertgegensatz besteht zwischen 
beiden und wirkt verschärfend auf ihre metaphysische Ab- 
sonderung zurück (vgl. § 9, 3). Bei Aristoteles finden wir 
zwar nicht die gleiche Schroffheit der Trennung, aber einen 
analogen Gegensatz durch die Begriffe Stoff und Form zum 
Ausdruck gebracht. Jedes Einzelwesen {ovola) ist in seiner 
konkreten Wirklichkeit geformter Stoff, und so wenig der 
Stoff an sich eine Existenz begründet, so wenig gibt es — 
von der Gottheit abgesehen — eine reine Form. Vielmehr 
verhalten sich beide Bestimmungen zueinander wie Mög- 
liches und Verwirklichendes, wie potentia und actus {dvvaficg 
und hsgysia). So erscheint auch die Seele als die »Ente- 
233 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
lechie«, Verwirklichung des Leibes (vgl. § 8, 2). Die Gottheit 
soll reine Form sein, und von den verschiedenen Fähigkeiten 
der menschlichen Seele wird, wie bei Piaton, der vovg (die 
Vernunft) als der unsterbliche Teil herausgehoben. In der 
mittelalterlichen Philosophie erhält sich dieser Dualismus 
sowohl in der metaphysischen als auch in der ethischen 
Fassung des Gegensatzes. 
2. Der antike Dualismus ist nicht der moderne. Denn 
nach ihm sind Körper und Seele nur Glieder eines Gegen- 
satzes, der als Beispiel des allgemeineren von Stoff und Form 
zu gelten hat. Sie machen also nicht durch ihre Eigentüm- 
lichkeit den Dualismus aus, sondern bilden nur einen Fall, 
an dem sich ein allgemeineres Wesen veranschaulichen läßt. 
Zum Schöpfer des modernen Dualismus und damit zum 
typischen Vertreter dieser Metapyhsik in der neueren Philo- 
sophie ist Descartes geworden, indem er die begriffliche 
Unterscheidung von corpus (Körper) und 7nens (Seele) zur 
Basis wählte. Das Merkmal alles Körperlichen ist nach ihm 
die Ausdehnung, das Merkmal alles Seelischen das Denken, 
dessen Begriff also die Tätigkeiten umfaßt, deren wir uns 
unmittelbar bewußt sind, also etwa mit dem des Bewußtseins 
zusammenfällt (vgl. § 8, 2). Und so gibt es zwei Substanzen, 
eine res extensa und eine res cogitans (ausgedehnte und 
denkende Wesen, vgl. § 20, 1), die voneinander unabhängig 
existieren, aber in Beziehungen der Wechselwirkung zu- 
einander stehen. Wie diese bei der völligen Ungleichartigkeit 
beider Substanzen möglich ist, darüber hat sich Descartes 
nicht näher ausgesprochen. Diese Lücke seines Systems aus- 
zufüllen haben Spätere unternommen. Unter ihnen sind 
namentlich die sog. Okkasionalisten (Arnold Geulincx 
t 1669) hervorzuheben. Nach ihnen ist eine reale Wechsel- 
wirkung zwischen so grundverschiedenen Wesen unmöglich. 
Der Schein derselben aber wird hervorgebracht durch das 
direkte Eingreifen Gottes {concursu Dei). So werden die 
Vorstellungen, die wir von der Außenwelt durch die Erregung 
der Sinnesorgane empfangen zu haben glauben, von Gott 
dieser entsprechend erzeugt und ebenso die Bewegungen 
unseres Körpers, die einer bestimmten Willensabsicht ent- 
234 
§ 21. Der Dualismus. 
spningen zu sein scheinen, dieser gemäß hervorgerufen. Es 
gelten also Seelisches und Körperliches als zufällige oder 
scheinbare Ursachen für die in dem anderen entstehen- 
den Veränderungen, als causae per occasionem (Gelegenheits- 
lirsachen). Sie sind nur die Gelegenheit, der Anlaß für die 
Wirksamkeit der wahren Ursache, die wir in Gott zu er- 
blicken haben. Am meisten metaphysisch vertieft wurde diese 
Anschauung durch Nicole Malebranche (f 1715). Auch 
Lotze ist in seiner Theorie des Wirkens auf ähnliche Ge- 
dankengänge geführt worden, 
3. Es ist merkwürdig, daß der Dualismus seitdem — wenn 
wir von den Vertretern der mittelalterlichen Philosophie 
absehen — gar keine abschließende Durchführung mehr ge- 
funden hat. Man hält ihn im allgemeinen gegenwärtig für 
widerlegt, weil er an dem Problem der Wechselwirkung, der 
psychophysischen Kausalität, und an dem Einheits- 
bedürfnis unseres Denkens scheitere. Daneben hat er 
jedoch in dem populären Bewußtsein noch immer eine 
höchstens durch den Materialismus etwas beschränkte Gel- 
tung, und in den empirischen Wissenschaften der Psychologie 
nnd der Naturwissenschaft ist wenigstens eine dualistische 
Ausdrucks weise in bezug auf das Verhältnis von Psychischem 
und Physischem zueinander üblich. In der Gegenwart wird 
eine Erneuerung der Wechselwirkungsannahme wieder leb- 
haft empfohlen, eine Bewegung, deren Berechtigung wir im 
folgenden durch eine Besprechung der gegen sie vorgebrach- 
ten Einwände prüfen wollen. 
4. Gegen die Annahme einer psychophysischen Kausalität 
wird zunäch st geltend gemacht, daß sie mit dem allgemeinen 
Begriff der Kausalität im Wiederspruch stehe. Der mittel- 
alterliche, noch von Descartes und Spinoza vertretene 
Kausalbegriff forderte nämlich, da er sich von dem Prinzip 
der Begründung nicht wesentlich unterschied und daneben 
die populäre Vorstellung einer erzeugenden Kraft mit dem 
Begriff der Ursache verband, die Gleichartigkeit der 
letzteren und der Wirkung. Darum war natürlich der karte- 
s;ianische Dualismus in sich widerspruchsvoll, insofern er ein 
kausales Verhältnis zwischen dem Verschiedenartigen be- 
235 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
hauptete und doch die Gleichartigkeit der verknüpften Glie- 
der als Merkmal der Kausalität anerkannte. 
Aber dieses Merkmal ist durch die eindringende Eevision 
des Prinzips von Ursache und Wirkung, die Hume und 
Kant angestellt haben, bereits beseitigt worden. Hiernach 
gilt als Bedingung der Anwendung dieses Prinzip auf zwei 
Erscheinungen a und b nur: 1. daß eine von ihnen regel- 
mäßig der anderen vorausgeht, und 2. daß gewisse quan- 
titative Beziehungen zwischen ihnen bestehen, z. B. dem 
größeren a auch das größere b in einer gesetzlich darstell- 
baren Weise nachfolgt. Ferner hat die moderne Natur- 
wissenschaft in ihren Erhaltungsgesetzen die Unmöglichkeit 
anerkannt, daß ein Stoff oder eine Kraft erzeugt wird. Alle 
kausale Beziehung in der Natur beschränkt sich daher auf 
einen Austausch, eine Umformung von Stoffen und Kräften. 
Derjenige nun, welcher diesen gereinigten Kausalbegriff an- 
nimmt, ist offenbar berechtigt, den aus dem alten Begriff 
stammenden Einwand gegen den Dualismus als gegenstands- 
los abzulehnen. 
Außerdem ist es bedenklich, die Ungleichartigkeit von 
Ursache und Wirkung zu verwerfen und dabei als einzigen 
Fall, in dem sie verwirklicht ist, das Verhältnis des Psychi- 
schen zum Physischen zu betrachten. Wahrlich eine seltsame 
Regel, die sich nur auf einen Fall stützt und zugleich als 
Regel nur behauptet wird , um eine Anwendung auf diesen 
Fall zu ermöglichen. An einer psychischen, zwischen den 
Seelenvorgängen herrschenden Kausalität i) pflegt man a prior» 
ebensowenig Anstoß zu nehmen, wie an einer physischen, 
innerhalb der Körperwelt bestehenden Beziehung von Ur- 
sache und Wirkung. Unterschiede der Gleichartigkeit, Grade 
derselben gibt es doch auch hier, und man sollte daher ver- 
muten, daß sich zum wenigsten eine ihnen entsprechende 
Erleichterung oder Erschwerung kausaler Beziehungen auch 
hier finden würde. Statt dessen verfährt man bei der An- 
wendung jener Regel so, als wenn es nur eine Gleichartigkeit 
und nur eine Ungleichartigkeit in der Welt gäbe. Das ist 
*) Vgl. darüber die Ausführungen von R. Hörn in der Vierteljahrsschr. 
f. wiss. Philos. 36 und 37. 
236 
§ 21. Der Dualismus. 
ein Moment, welches allein schon gegen die Gültigkeit der- 
selben mißtrauisch machen sollte. 
5. Ein zweiter, die Annahme einer psychophysischen 
Kausalität treffender Einwand besagt, daß die physische, 
die Naturkausalität einein sich geschlossene, sich selbst 
genügende ist. Sie bedarf nicht psychischer Faktoren, die 
in sie eindringen oder durch sie bestimmt werden. Das 
Psychische erscheint von hier aus als eine Erscheinung un- 
bekannter Herkunft, das sich gewissen körperlichen Pro- 
zessen zufällig hinzugesellt, ohne auf sie Einfluß gewinnen 
und ohne von ihnen erregt werden zu können. Die Natur- 
vorgänge laufen in mechanischer Gesetzmäßigkeit, unbe- 
kümmert um diese seltsame Begleitung eines Seelenlebens, 
nach ihren eigenen Prinzipien ab (vgl. § 22, 15). 
Dagegen ist zu sagen, daß eine solche Auffassung zunächst 
doch nur von der leblosen Natur hergeleitet ist und daher 
auch nur für diese eine allgemeine Geltung beanspruchen 
kann. Die Biologie aber hat es nicht an Versuchen fehlen 
lassen, den Lebenserscheinungen einen eigentümlichen, »vita- 
listischen« Charakter zuzuerkennen (vgl. § 23, 4). Insbeson- 
dere zeigen die Willenshandlungen einen aus rein mecha- 
nischen Prinzipien überhaupt nicht völlig verständlichen 
Zusammenhang. Wollte man Wesen, die solche Tätigkeiten 
vollziehen, als Maschinen oder Automaten betrachten, so 
würde man zwar die äußere Folge der einzelnen Vorgänge, 
aber niemals ihren folgerichtigen Zusammenhang im ganzen 
begreifen. Die Physiologie des Gehens und Stehens, der 
Muskelkontraktion und der Nervenerregung kann nur die 
möglichen Leistungen des Organismus demonstrieren und 
erklären, nicht jedoch für die wirklichen, unter der Herr- 
schaft eines zwecksetzenden Willens geschehenden, auf ideale 
Ziele gerichteten Handlungen ein Verständnis eröffnen. Wir 
erfahren durch Jene Wissenschaft nur, wessen die Muskeln 
und sonstigen Organe fähig sind, aber nicht, was die leben- 
dige Persönlichkeit des Menschen damit macht und erreicht. 
In diesem Gebiet also genügt das Prinzip der geschlossenen 
Naturkausalität nicht, um das reale Geschehen zu verstehen. 
Wir werden daher zu einer Durchbrechung bzw. Ergänzung 
237 
///. Kapitel. Die philoaophischen Eichtungen. 
desselben genötigt und damit zu der Annahme einer psycho- 
physischen Kausalität berechtigt. 
6. Ein dritter Einwand, mit dem diese Annahme be- 
stritten wird, gründet sich auf den Satz von der Erhal- 
tung der Energie. Ist die gesamte Sunmie der in der Welt 
vorhandenen lebendigen und latenten Energie konstant, so 
kann, abgesehen von dem Wechsel der Verteilung, niemals 
und nirgends ein Quantum davon schlechthin verloren oder 
gewonnen werden. Denken wir uns nun aber, daß Psychisches 
durch Physisches bewirkt wird und umgekehrt, so muß 
offenbar in dem ersteren Falle ein Quantum Energie ver- 
loren, im anderen ein solches gewonnen werden. 
Von den verschiedenen Bemühungen, diesem Konflikt mit 
dem Erhaltungsgesetz zu entgehen, erscheint zunächst als 
die wichtigste die Ausdehnung des Begriffs der Energie auch 
auf die psychischen Vorgänge und die Annahme, daß der 
bei der Verursachung eines psychischen Ereignisses ent- 
standene Verlust an physischer Energie durch die Eück- 
wirkung der Seele auf den Körper restlos wieder ersetzt 
werde. Diese Annahme steht mit der empirischen Psycho- 
logie insofern in bestem Einklang, als sich in dieser das 
Prinzip des psychophysischen Parallelismus eine allgemeine 
Geltung erworben hat (§8, 5), wonach gesetzmäßige Be- 
ziehungen zwischen Bewußtseinsinhalten und physischen Vor- 
gängen herrschen. 
Die Schwierigkeiten, die sich bei genauerem Durchdenken 
einer solchen Annahme einstellen und deren Ablehnung zur 
Folge haben, erheben sich bei der Frage nach der Anwend- 
barkeit des Begriffs der Energie auf die psychischen Vorgänge. 
Wir haben schon früher (§19, 7) auf den wesentlichen Unter- 
schied zwischen dem physischen und dem psychischen Ge- 
schehen hingewiesen, der zu einem Dualismus der Ener- 
gien führen muß, wenn man das Seelenleben unter diesen 
Begriff unterordnen will. Dazu kommt aber noch ein anderer 
Gesichtspunkt. Unter Energie versteht man in der Natur- 
wissenschaft die Fähigkeit, Ai'beit zu leisten. Nun spricht 
man gewiß auch von geistiger Arbeit, aber nur in sehr 
begrenzter Bedeutung dieses Ausdrucks. Nicht jede Emp- 
238 
§ 21. Der Dualismus. 
firidung, Wahrnehmung, Vorstellung wird dazu gerechnet, 
sondern eine zielbewußte Aktivität und damit ein Verhältnis 
zwischen erstrebter oder aufgegebener Leistung und den 
dazu aufgewandten Mitteln ist die Voraussetzung für die 
Anwendung dieses Begriffs. Etwas Ähnliches gilt von dem 
Begriff einer geistigen Energie. Auch hat er nicht für 
das ganze seelische Geschehen, sondern nur für eine bestimmte 
Form desselben, die Spontaneität, den Willen, die Aktseite, 
eine natürliche Bedeutung. Alle physischen Prozesse sind 
ferner auf eine Einheit der Arbeit bzw. der Energie zurück- 
zuführen, die sich genau definieren und die physikalischen 
Erscheinungen durch ein gleichartiges, allen gemeinsames 
Maß ausdrücken läßt. Eine solche Einheit der Energie oder 
Arbeit für die Gesamtheit des psychischen Geschehens auf- 
zustellen, muß bei der Unmöglichkeit, dessen Mannigfaltig- 
keit auf eine und dieselbe Leistung zurückzuführen, als ein 
hoffnungsloses Unternehmen betrachtet werden. Ebenso- 
wenig ist es bisher gelungen, auf die psychische Energie als 
solche oder irgendeine ihrer Formen ein in den bekannten 
physischen Energien ausdrückbares Maß anzuwenden und 
damit den Begriff erst wissenschaftlich brauchbar zu machen. 
Wenn die Psychologie von einer Aufmerksamkeits- oder 
Willensenergie redet, so geschieht das nicht im Sinne der 
Physik, sondern zunächst, um unmittelbar erlebte Stärke- 
grade dieser Funktionen zum Ausdruck bringen zu können, 
und sodann, um die Größe der Leistungen, die wir ihnen zu- 
schreiben, auf eine entsprechende Größe der Fähigkeiten 
zurückzuführen, die ihnen zugninde gelegt werden. Die 
sorgfältigen Versuche von Atwater über die Gültigkeit des 
Gesetzes von der Erhaltung der Energie für den lebenden 
Menschen haben nicht nur eine volle Bestätigung dieses Ge- 
setzes erbracht, sondern zugleich gezeigt, daß stundenlange 
geistige Arbeit keinen anderen Effekt für die Größe meß- 
barer, vom Körper abgegebener Energiemengen hat, als 
stundenlange geistige Euhe. Man darf somit den Versuch, 
die psychophysische Kausalität als eine Umformung, einen 
Austausch von Energieformen anzusehen, vorläufig nicht 
wagen, zumal es mit unserer Kenntnis des Seelenlebens kaum 
239 
111. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
vereinbar wäre, wenn wir es in einen von zufälligen Um- 
ständen abhängigen Energieaustausch hineingestellt dächten. 
7. Da nun das Gesetz von der Erhaltung der Energie nur 
für Energien gilt, so kann es nach den vorausgegangenen, 
Erörterung(in für die Entstehung und Wirkung psychischer 
Vorgänge lediglich insofern in Betracht kommen, als bei 
jener physische Energie verloren, bei dieser gewonnen zu 
werden scheint. Dieser Schwierigkeit kann man auf ver- 
schiedenem Wege zu begegnen suchen. Man kann sagen, 
daß bei der durch physische Eeize und Nervenerregungen 
veranlaßten psychischen Eeaktion ein Nebeneffekt zu- 
stande komme, der die regelrechte Umsetzung der physischen 
Energien nicht hindert oder beeinträchtigt. Oder man kann 
annehmen, daß es physische Änderungen gibt, bei denen von 
Arbeit und Energie nicht zu sprechen sei. Man hat dabei 
an Auslösungsprozesse, bei denen sich potentielle Energie 
in kinetische umwandelt, und an richtunggebende Einflüsse 
gedacht, die an der vorhandenen Bewegung nichts ändern. 
Nehmen wir an, daß die psychischen Wirkungen senkrecht 
zur Bewegungsrichtung der Gehirnelemente stattfinden, so 
bleiben ohne Verletzung des Energiesatzes zahlreiche Eich- 
tungsänderungen möglich. 
Solchen Vermittlungsversuchen gegenüber hat Busse 
einen anderen Ausweg vorgeschlagen. Er unterscheidet in 
dem Energieprinzip zwei besondere und innerhalb gewisser 
Grenzen voneinander unabhängige Annahmen. Die eine be- 
zeichnet er als das Äquivalenz-, die andere als das Kon- 
stanzprinzip. Jenes behauptet nur, daß, wo physische 
Energien in Austausch miteinander treten, dieser ein streng 
gesetzmäßiger, auf quantitativer Äquivalenz beruhender, in 
bestimmten Maßbeziehungen vor sich gehender ist, ohne 
über die absolute Größe der Energien und ihre Summe etwas 
festzusetzen. Das Konstanzprinzip dagegen erklärt gerade 
diese Summe für eine endliche, weder vergrößert noch ver- 
mindert zu denkende. Für die Gültigkeit der letzteren An- 
nahme ist jedoch notwendige Voraussetzung die Geschlossen- 
heit des Systems, innerhalb dessen der Austausch erfolgt, 
d. h. eine solche Beschaffenheit desselben, bei der Energie 
240 
§ 21. Der Dualismus. 
weder von außen eindringen noch nach außen abgegeben 
werden kann. Das Konstanzprinzip steht und fällt mit dem 
Prinzip der geschlossenen Naturkausalität und darf mit 
diesem abgelehnt werden. Aber dieser von Busse einge- 
schlagene Ausweg ist durch den Nachweis der Geltung des 
Konstanzprinzips für den lebenden Organismus versperrt 
worden. 
Schließlich kann der Dualismus die psychophysische Kau- 
salität als eine überhaupt nicht energetisch zu fassende und 
zu bestimmende Beziehung ansehen. Kausalität und Energie- 
austausch fallen ja nicht zusammen, es kann somit eine 
Wechselwirkung zwischen Leib und Seele geben, die keinerlei 
energetische Momente einschließt. Wie freilich eine solche 
psychophysische Kausalität näher zu denken wäre, muß vor- 
läufig dahingestellt bleiben. 
8. Neben den im vorstehenden besprochenen Einwänden 
gegen die Annahme einer psychophysischen Kausalität wird 
speziell und direkt als ein Argument gegen den Dualismus 
das folgende geltend gemacht. Er befriedigt, wie man sagt, 
nicht das Einheitsbedürfnis der menschlichen Vernunft 
und kann daher als eine abschließende metaphysische An- 
sicht über die Prinzipien der Welt nicht angesehen werden. 
Aber dieser Einwand geht entweder von einer falschen 
Deutung des Einheitsbedürfnisses oder von einer unrich- 
tigen Ansicht über den Dualismus aus. Einheit verlangt 
unser Erkenntnistrieb nur im Sinne des Zusammenhangs, 
nicht in dem der Einfachheit. Das Beziehungslose, Isolierte 
können wir nicht ertragen, Verschiedenheit dagegen sehr 
wohl. Ein Dualismus, der das Physische und Psychische in 
enge Wechselbeziehung zueinander setzt, der zwischen ihnen 
ebenso kausale Wirkungen stattfinden läßt, wie zwischen 
den einzelnen Vorgängen der objektiven Sphäre, verdient 
wahrlich den Vorwurf nicht, daß er dem Einheitsbedürfnis 
der Vernunft kein Genüge leiste. Nicht auf die Eeduktion 
des Vielen und des Verschiedenen kann vernünftigerweise 
die metaphysische Arbeit gerichtet sein, sondern nur auf die 
Geschlossenheit der Verknüpfung aller (vgl. § 18, 6). Darum 
könnte dieser Einwand nur gegen einen Dualismus, wie 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. Iß 
241 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
den kartesianischen, gelten, bei dem die Körper- und Seelen- 
substaiiz fremd, ohne verständliche Beziehung einander 
gegenübergestellt sind, und würde sich darüber hinaus einer 
unberechtigten Verallgemeinerung schuldig machen. 
Demjenigen endlich, der es nicht begreifen zu können be- 
hauptet, wie Körperliches es anfange etwas Seelisches zu 
verursachen und umgekehrt, wäre mit Hume und Lotze zu 
erwidern, daß wir die Kausalität nirgends besser begreifen. 
Die Anschaulichkeit von Stoß und Druck und Zug in der 
Körperwelt täuscht uns ein Verständnis der kausalen Be- 
ziehung vor, das wir in der Tat hier ebensowenig besitzen. 
Nicht also dem Dualismus speziell, sondern der Kausal- 
theorie überhaupt wäre dieser Mangel zur Last zu legen. . 
9. Nach alledem wird man den Dualismus als eine mögliche, 
ja wahrscheinliche metaphysische Eichtung ansehen dürfen. 
Denn mit der Naturwissenschaft und der Psychologie 
verträgt er sich offenbar besser als der Materialismus und 
der Spiritualismus. Er wird nicht nur der tatsächlichen Ver- 
schiedenartigkeit von Körper und Seele gerecht, sondern 
auch den zwischen beiden erfahrungsgemäß bestehenden Ab- 
hängigkeitsbeziehungen. Er entspricht zugleich den Bestre- 
bungen der modernen Biologie, die einseitig mechanistische 
Auffassung der Lebensvorgänge, die sich zur Deutung der- 
selben nicht als ausreichend erweist, zu überwinden (vgl. 
§ 19, 10), und vermag die Bewußtseinserscheinungen als ein 
notwendiges Glied in der Entwicklung der Lebewesen zu be- 
greifen. Nicht minder befindet er sich im Einklang mit der 
Erkenntnistheorie, die das Subjektive und das Objek- 
tive als die beiden phänomenalen Faktoren der vollen Er- 
fahrung nachweist, und hält er sich von der willküilichen 
Ausdehnung des Psychischen frei, die wir am Spiritualismus 
zu rügen hatten und am Monismus zu beanstanden haben 
werden. Auch verliert sich der strenge Charakter des Gegen- 
satzes zwischen seinen beiden Kealitäten, wenn man sich 
vergegenwärtigt, daß innerhalb einer jeden von ihnen 
ganz erhebliche Unterschiede tatsächlich bestehen. Man ver- 
gleiche nur das Seelenleben einer Amöbe mit dem eines er- 
wachsenen Kulturmenschen, die amorphen Massen minera- 
242 
§ 22. Der Monismus. 
lischer Ablagerung mit den feinen und komplizierten Bil- 
dungen der Kristalle und die zahlreichen chemischen Elemente 
untereinander! Die eigentlichen Seh wierigk ei ten des Dua- 
lismus liegen nicht in dem allgemeinen Standpunkt, sondern 
in der speziellen Ausgestaltung seiner Lehre und hängen teils 
mit der Frage nach dem Wesen der Seele, teils mit den ge- 
naueren Vorstellungen über die Natur der psychophysischen 
Kausalität zusammen. Auf jene Frage kommen wir später 
(§27) zurück. 
LITERATUR (außer der im § 8 genannten): 
E. Becher: Gehirn und Seele*, 1911 (tritt in gemäßigter Form für eine 
Wechselwirkung ein). 
L. Busse: Geist und Körper, Seele und Leib, 1903 (vertritt unter um- 
fassender Berücksichtigung der modernen Literatur die Wechsel- 
wirkungstheorie gegen den Materialismus und den Parallelismus, steht 
aber metaphysisch auf spiritualistischem Standpunkte); 2. Aufl. 1913, 
herausg. u. mit einem den »partiellen Monismus« vertretenden Anhang 
versehen von E. Dürr. 
H. Driesch, Leib und Seele*, 1916 (vertritt den Dualismus). 
A. Klein: Die modernen Theorien über das allgemeine Verhältnis von 
Leib und Seele, 1906. 
W. Mc Dougall : Body and Mind. A History and a Defense of Animism, 
1911. (Kritik der Wechsel wirkungslehre bei G. Heymans in der 
Zeitschrift f. Psychologie, Bd. 63 und 64 und bei M. Schlick, Allg. 
Erkenntnislehre, 1918, S. 233—89. 
§ 22. DEE MO:^[ISMUS. 
1. Der andere Vermittlungsstandpunkt, der gegenüber den! 
Materialismus und dem Spiritualismus eingenommen werden 
kann, aber zu dem Dualismus und der Wechselwirkungslehre 
in einen Gegensatz tritt, ist der Monismus^), nach dem 
Physisches und Psychisches, als Erscheinungsweisen oder 
Seiten wesentlich verschieden und gleichberechtigt, in der 
Eealität eine Einheit bilden oder dem Wesen nach dasselbe 
sind. Mit Eücksicht auf das von ihm festgesetzte Verhält- 
nis der beiden Seiten zueinander wird der Monismus auch 
^) Der Xame monista findet sich schon bei Chr. Wolff zur Bezeich- 
nung der Philosophen, die nur eine Art der Substanz annehmen. Von 
einem Monismus hat zuerst Göschel 1832 in bezug auf Hegels Lehre 
gesprochen. 
16* 
243 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
Parallelismustheorie, mit Eücksicht auf ihre wesentliche 
Einheit wird er auch Identitätslehre und Zweiseiten- 
theorie genannt. In den Kreisen der Naturforscher sowohl, 
wie in denen der Psychologen und der Metaphysiker ist gegen- 
wärtig diese Weltanschauung sehr verbreitet. Wir finden sie 
besonders in zwei Formen vertreten. Nach der einen bilden 
das Geistige und das Materielle zwei verschiedene Seiten 
eines und desselben Wesens, das eben aus diesen Seiten be- 
stehend gedacht wird; nach der anderen dagegen wird dieses 
einheitliche Wesen, dessen Erscheinungsweisen Geist und 
Materie sein sollen, als von diesen verschieden bestimmt. 
Wir wollen diese beiden Formen des Monismus unter dem 
Namen konkreter und abstrakter Monismus auseinander- 
halten. Der abstrakte Monismus läßt wiederum zwei ver- 
schiedene Ausprägungen zu, indem man entweder jenes ein- 
heitliche Wesen als näher bestimmbar oder als schlechthin 
unbekannt auffassen kann. Neben diesen leidlich klaren 
Angaben über den monistischen Standpunkt findet man aber, 
besonders in weiteren Kreisen, den Ausdruck Monismus auch 
zur Bezeichnung des Materialismus verwendet, und zuweilen 
wird auch von einem spiritualistischen Monismus geredet. 
Es hängt dies zum Teil damit zusammen, daß in der Eegel 
zwischen Monismus und Singularismus (vgl. § 14, 4) nicht 
unterschieden und daher mit jenem Ausdruck bald eine 
eigentümliche qualitative Bestimmung des Seienden, bald 
'lediglich die Zahl der bei dieser Bestimmung gebrauchten 
Prinzipien gemeint wird. 
2. Der konkrete Monismus ist eine der ältesten Ansichten 
überhaupt. In der Form des Animismus oder des Hylo- 
zoismus finden wir ihn schon bei den Naturvölkern neben 
einem dualistischen Materialismus vertreten. Die ganze 
Natur erscheint nach Analogie des menschlichen Individuums 
als beseelt. Der Unterschied zwischen einer mechanischen 
Gesetzmäßigkeit und einer seelischen Motivierung wird 
ebensowenig erkannt, wie die Bedeutung eines unverbrüch- 
lichen Kausalzusammenhangs. So wird die persönliche Will- 
kür auch auf die Natur übertragen. Der Hylozoismus ist 
zugleich die Lehre der ältesten griechischen Philosophen, bei 
244 
§ 22. Der Monismus. 
denen wir ebenfalls eine unklare Mischung zwischen dualisti- 
schen und monistischen Gedanken finden. Es ist ferner der 
Standpunkt des Kindes, das in naiver Analogiebildung alle 
Dinge personifiziert und als belebt betrachtet. Wir alle end- 
lieh fallen von der Höhe unserer wissenschaftlichen Welt- 
erkenntnis in diese animistischen Neigungen zurück, sobald 
wir uns ästhetisch verhalten. Wenn wir von einem schwei- 
genden Walde, einer lachenden Wiese, einer munteren und 
geschäftigen Quelle oder einer sich aufrichtenden Säule reden 
und solchen Gegenständen in unmittelbarer Mitempfindung 
(Einfühlung) unsere inneren Zustände leihen, so befinden wir 
uns auf dem Standpunkt des konkreten Monismus. 
3. In dem späteren Verlauf der Philosophie ist dieser 
Monismus zu einer folgerichtigen Durchführung nicht mehr 
gelangt. Seitdem sich die Einsicht entwickelte, daß das An- 
organische und das Organische zwei getrennte Gebiete seien, 
daß die Gesetzmäßigkeit der körperlichen Prozesse sich in 
einer anderen Form äußere als die der seelischen, und daß 
von einer Seele nur da geredet werden dürfe, wo man Be- 
wußtsein voraussetzen könne, seitdem ist der Animismus mit 
der naiven Allgemeinheit seiner Naturbeseelung einer der 
anderen Formen der metaphysischen Bestimmung des Seien- 
den gewichen. Nur zuweilen klingt noch seine Tonart an, 
so z. B. wenn Materialisten die Einheit von Materie und Geist 
mit derjenigen von Stoff und Kraft auf eine Stufe stellen. 
Aber diese vereinzelten Zeichen moderner Gedankenlosigkeit 
können darüber kaum hinwegtäuschen, daß der konkrete 
Monismus im ganzen und großen verschwunden ist. In der 
Tat löst er ja nicht ein Problem, sondern er stellt es bloß. 
Denn die Einheit zwischen materiellem und geistigem Sein, 
die er behauptet, ist für ihn nichts anderes als ein tatsächlich 
sich vorfindender Zusammenhang, und gerade die Natur 
dieses Zusammenhangs zu erklären ist die Aufgabe, welcher 
die Metaphysik ihre Kräfte widmet. Daher kann man den 
Animismus ebenso wie den attributiven Materialismus (vgl. 
§ 19, 1. 7), von dem er sich eigentlich bloß dem Namen nach 
unterscheidet, nur als eine Durchgangsstufe betrachten, nicht 
als ein abschließendes System, und in diesem Sinne ist er 
245 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
sogar noch von Fe ebner und Wundt aufgenommen worden. 
Wenn sie erklären : die Seele ist die innere Einheit dessen, 
was wir von außen als den zu ihr gehörigen Leib anschauen, 
und demnach beide nur als zwei verschiedene Seiten desselben 
durch diese zugleich völlig bestimmten Wesens auffassen, 
so ist damit der Standpunkt des konkreten Monismus be- 
zeichnet. Aber ihre Metaphysik führt weiterhin zu der An- 
nahme, daß das geistige Sein der erschöpfende Ausdruck für 
diese einheitliche Wirklichkeit der Dinge ist, und damit zu 
einer Umbildung des Animismus in einen Spiritualismus. 
4. Zu einer viel reicheren historischen Entfaltung hat es 
der abstrakte Monismus gebracht. Sein erster typischer 
Vertreter ist Spinoza. Die eine, unendliche Substanz, Gott 
oder causa sui genannt, hat nach ihm unzählig viele Attri- 
bute. Von diesen sind aber nur zwei für uns erkennbar, näm- 
lich die Ausdehnung und das Denken (Bewußtsein). Jedes 
dieser Attribute prägt sich in einzelnen Modis aus. So sind 
die verschiedenen Körper Modi des Attributs der Ausdeh- 
nung und die verschiedenen Seelen eben solche Modi des 
Attributs des Denkens. Da aber das göttliche Wesen noch 
eine Anzahl anderer Attribute besitzt, so ist es seiner eigent- 
lichen Natur nach unbekannt, und wir erhalten damit die 
Form des abstrakten Monismus, nach der das Substrat von 
Materie und Geist nicht näher bestimmbar ist. Eine Wechsel- 
wirkung gibt es natürlich für diesen Monismus nicht, sondern 
nur einen Parallelismus mit wesentlicher Identität der einan- 
der entsprechenden Vorgänge. Das ausgedehnte Ding ist 
zugleich das denkende Ding, jedem Modus innerhalb des einen 
Attributs entspricht ein Modus innerhalb des anderen. Daher 
der berühmte Satz des Spinoza: Ordo et connexio idearum 
idem est ac ordo et connexio rerum. (Die Ordnung und der Zu- 
sammenhang der Bewußtseinsinhalte ist derselbe wie die 
Ordnung und der Zusammenhang der Dinge.) Das Geschehen 
im eigentlichen Sinne wird an der Einen Substanz, in Gott, 
sich abspielend gedacht. Was wir davon in der Seele oder 
am Körper wahrnehmen, ist nur ein beschränkter, einseitiger 
oder lückenhafter Vorgang. 
Einer ganz ähnlichen Bedeweise bedienen sich viele neuere 
246 
§ 22. Der Monismus. 
Denker. Wenn sie auch nicht von unendlich vielen Attri- 
buten der Ureinheit sprechen, so halten sie doch daran fest, 
daß diese ein an sich unbekanntes Wesen ist, von dessen 
Kealität wir nur durch die einander parallel gehenden For- 
men des äußeren und des inneren Geschehens etwas erfahren. 
In diesem Sinne Monist ist z. B. Herbert Spencer. Sein 
Agnostizismus (vgl. § 4, 6) bedeutet nur den Verzicht auf 
die Bestimmung der ursprünglichen Eealität. Auch Fech- 
ner schwankt zwischen diesem Standpunkt und dem des 
Spiritualismus. 
5. Größere Kühnheit beseelt die zweite Form des ab- 
strakten Monismus, indem sie es unternimmt, die Einheit 
des Geistigen und des Materiellen, oder, wie sie sich gern 
ausdrückt, der idealen und der realen Seite zu bestimmen. 
Die typischen Vertreter dieser Anschauung sind Fichte, 
Schelling und Hegel. Nach Fichte ist das absolute Ich 
oder (nach seiner späteren einfacheren Eedeweise) das Ab- 
solute die einheitliche Quelle für die Entwicklung eines 
individuellen Ich und Nicht-Ich, kurz das metaphysische 
Prinzip. Schelling^) dagegen betrachtet die absolute 
Identität oder Indifferenz als jenes Ursein, aus dem infolge 
der Selbsterkenntnis, die diesem Absoluten zugeschrieben 
wird, zunächst der Gegensatz von Subjekt und Objekt 
hervorgeht, der aber, weil die Identität qualitativ gar nicht 
aufgehoben werden kann, nur eine quantitative Differenz 
darstellt. Alle Einzeldinge sind nun nichts weiter als solche 
Differenzen (oder »Potenzen«), und auch der Gegensatz des 
Idealen und Kealen ist natürlich kein prinzipieller, sondern 
nur ein formaler oder quantitativer. Bei Hegel erscheint 
das Absolute zunächst in der unbestimmten Form des Seins. 
Durch den dialektischen Prozeß (vgl. § 3, 6) wird der Inhalt 
dieses Begriffs ein immer reicherer, und so vollendet sich 
in den einzelnen Bestimmungen, welche die rastlose Ge- 
dankenentwicklung erwachsen läßt, allmählich das Wesen 
des Absoluten oder Gottes. Die besonderen Daseinsweisen 
dieses Absoluten sind Natur und Geist. Einen ähnlichen 
Monismus hat in der Gegenwart E. v. Hartmann ausge- 
^) »Darstellung meines Systems der Philosophie«, 1801. 
247 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
bildet, der die Beschaffenheit des Absoluten als das Unbe- 
wnßte bezeichnet. Auch Lotze kann man insofern als einen 
Monisten betrachten, als er die allumfassende Substanz, deren 
er bedarf, iim eine Wechselwirkuung der Einzeldinge unter- 
einander als möglich erscheinen zu lassen, zugleich im reli- 
giösen Sinne mit der Gottheit gleichsetzt und mit sittlichen 
Eigenschaften ausstattet, durch die das Urwesen nicht nur 
als schöpferische Substanz, sondern auch als sittliches Ideal 
und als Leiter der geschichtlichen Entwicklung erscheint. 
Aber in allen diesen Fällen fehlt es an einer bestimmten 
monistischen Lehre über das Verhältnis des Physischen zum 
Psychischen innerhalb der individuellen Einheiten, v. Hart- 
mann und Lotze neigen vielmehr zur Anerkennung der 
psychophysischen Kausalität. 
6. Von dem Versuch einer kritischen Würdigung des 
Monismus können wir von vornherein seine konkrete Form 
ausschließen. Denn diese ist ohne Zweifel nur ein durch 
Worte verhüllter Dualismus. Eine wirkliche Aufklärung über 
die Art des Zusammenhangs zwischen dem Geistigen und 
dem Materiellen liefert sie nicht. Sie drückt nur die Tat- 
sachen etwas anders aus, als es der Dualismus tut, ohne da- 
durch auch nur einen Schatten eines wirklichen Vorzugs vor 
diesem zu gewinnen. 
Anders verhält es sich mit dem abstrakten Monismus. 
Denn indem man sich beide Erscheinungsweisen aus dem 
einen bekannten oder unbekannten Wesen hervorgehend 
denkt, wird der Ablauf dieser Prozesse und ihr Parallelismus 
scheinbar verständlicher. Wir wollen deshalb im folgenden 
uns die Frage vorlegen, ob und inwieweit diese Form des 
Monismus eine zureichende oder befriedigende Lösung des 
von den Einzelwissenschaften aufgegebenen Problems ge- 
nannt werden könne. Von vornherein dürfen wir annehmen, 
daß eine realistische Erkenntnistheorie mit dieser Form 
des Monismus nicht im Widerspruch zu stehen braucht. Denn 
sie entscheidet nicht darüber, welcher Art die dem Objek- 
tiven und Subjektiven der Erfahrung entsprechende Realität 
ist, und muß die Annahme einer beiden Bestandteilen der 
Erfahrung zugrunde liegenden Eealität als möglich zuge- 
248 
§ 22. Der Monismus. 
stehen. Dagegen erhebt sich jedoch eine Anzahl Bedenken, 
teils rein logischer, teils psychologischer und naturwissen- 
schaftlicher Art, von denen wir die hauptsächlichsten in der 
nachstehenden Übersicht entwickeln wollen. 
7. Halten wir uns zunächst an die allgemeine Frage der 
Denkbarkeit des Monismus als metaphysischer Eichtung, 
so stoßen wir sofort auf eine gewisse Unsicherheit in seiner 
Formuherung. Bei Spinoza sind die zwei Seiten reale 
Attribute der absoluten Substanz, bei den modernen Mo- 
nisten dagegen, z. B. Heymans, Laß witz, wird der Unter- 
schied zwischen dem Physischen und Psychischen in der 
Eegel auf den Unterschied in der Betrachtung, in dem 
Gesichtspunkt, von dem aus man das einheitliche Wesen 
anschaut, zurückgeführt. Hiernach ist letzteres weder 
psychisch noch physisch, es erscheint bloß je nach der ge- 
wählten Auffassung als das eine oder das andere. Diese 
subjektive Zweiseitentheorie, wie wir sie im Gegen- 
satz zu der von Spinoza vertretenen objektiven nennen 
wollen, ist treffend mit der Theorie der Planetenbewegungen 
unseres Sonnensystems verglichen worden. "Wie diese in der 
Annahme des Ptolemäus den Standort auf der Erde 
wählte und damit den Tatbestand darzustellen versuchte, 
so hat sie in der Form des kopernikanischen Weltbildes die 
gleiche Aufgabe von dem Standort der Sonne aus behandelt. 
Die Verschiedenheit der Theorien ist hier nicht in den Stel- 
lungen und Bewegungen der Planeten als solchen, -wde sie der 
Beobachtung zugänglich sind, begründet, sondern beruht auf 
der Wahl des Standpunktes. In der subjektiven Zweiseiten- 
theorie werden das Physische und das Psychische in gleicher 
Weise zu einer Ansichtssache. Mit Eücksicht auf diese beiden 
Formen des abstrakten Monismus werden wir die allgemeine 
Frage seiner Denkbarkeit zu beantworten haben. 
8. Welche von beiden Theorien man für die Auffassung 
der zwei Seiten auch in Anspruch nehmen mag, für jeden von 
ihnen, so wie sie in der Eegel formuliert werden, besteht die 
Schwierigkeit, daß sie den Parallelismus nicht als eine 
notwendige oder selbstverständliche Folge hinzustellen ver- 
mag. Daß nüt einer Änderung auf der einen Seite eine ent- 
249 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
sprechende auf der anderen verbunden ist, kann weder inner- 
halb der subjektiven noch innerhalb der objektiven Bestim- 
mung der »Seiten« gefordert werden. In unserer Erfahi-ung 
sind z. B. Dauer und Stärke eines Tons unabtrennbare Eigen- 
schaften desselben, aber es folgt daraus mit nichten, daß 
jeder Änderung der Dauer eine solche der Stärke parallel 
gehen müsse. Ebensowenig braucht eine Modifikation inner- 
halb einer subjektiven Betrachtungsweise zugleich eine ent- 
sprechende Modifikation innerhalb einer anderen zu bedeu- 
ten. Dies ist nur dann notwendig und natürlich, wenn jede 
Änderung der Auffassung auf einer solchen der Sub- 
stanz beruht. In der Tat: sind die Planetenbewegungen 
selbst andere geworden, so hat davon nicht nur die ptole- 
mäische, sondern auch die kopernikanische Konstruktion 
des Sonnensystems ISTotiz zu nehmen. Also nur wenn man 
die »Seiten« jeder relativen Selbständigkeit beraubt, ist 
der Parallelismus eine Folgerung des monistischen Grund- 
gedankens. Aber die hier angegebene Voraussetzung pflegt 
nicht hervorgehoben zu werden und ist auch keine nahe- 
liegende oder wahrscheinliche. Warum soll nicht jede Be- 
trachtungsweise für sich noch besonderen Gesetzen unter- 
liegen, die für die andere nicht gelten und auch mit der auf- 
zufassenden Substanz selbst nichts zu tun haben ? Wenn ich 
unter dem Gesichtspunkt des 'ptolemäischen Systems hier 
einige Gleichungen anders ordne, dort den Ansatz einfacher 
in Eechnung stelle, so sind das Modifikationen, die nicht auf 
einer Änderung des darzustellenden Tatbestandes beleihen 
und somit auch nicht entsprechende Umgestaltungen in dem 
anderen System mit sich führen. Ist der universelle, durch- 
gängige Parallelismus der »Seiten« nur unter einer be- 
stimmten, nicht gerade wahrscheinlichen Voraussetzung für 
die subjektive Zweiseitentheorie abzuleiten, so gewinnt er 
dagegen für die objektive den Charakter einer Selbstver- 
ständlichkeit, wenn man die beiden Seiten für identisch 
hält. Dann freilich ist jede Änderung der einen Seite zugleich 
und notwendig eine solche der anderen Seite; dann aber hat 
auch das Eecht zur Unterscheidung zweier Seiten natürlich 
aufgehört. In jedem anderen Falle ist nicht einzusehen, 
250 
§ 22. Der Monismus. 
warum eine jede Änderung, ein jeder modus in dem einen 
Gebiet mit einem entsprechenden Vorgang in dem anderen 
verbunden sein muß. 
9. Ein besonderer Vorzug der subjektiven Zweiseiten- 
theorie ist darin zu finden, daß sie denUnterschied zwischen 
der einheitlichen Eealität und ihren beiden Erscheinungs- 
weisen deutlich hervortreten läßt, während die objektive 
Theorie genötigt ist, zu künstlichen Hilfsmitteln zu greifen, 
um den Unterschied verständlich zu machen. Ein solches 
Hilfsmittel ist z.B. die Annahme des Spinoza, daß der Sub- 
stanz außer den beiden erkennbaren noch unzählige andere 
unerkennbare Attribute zukommen. Ohne derartige be- 
sondere Konstruktionen ist die objektive Zweiseitentheorie 
stets in Gefahr, in den konkreten Monismus umzuschlagen, 
d.h. die Eine Substanz mit ihren beiden Attributen zu identi- 
fizieren. Auf den gleichen Gesichtspunkt läuft ein weiterer 
Vorzug der subjektiven Theorie hinaus. Sie kann zweifellos 
die Identität der sich selbst gleichbleibenden, einheitlichen 
Eealität besser verständlich machen. Ob man ein Wesen so 
oder so ansieht, muß natürlich auf die Identität des Wesens 
ohne Einfluß bleiben. Für die objektive Theorie dagegen 
sind die beiden Seiten zugleich objektive Merkmale der 
Eealität, nimmt diese also an dem Unterschiede jener teil, 
die, wie Spinoza sagt, ihre essenfta ausdrücken. Daß daher 
das ausgedehnte und das denkende Ding nur ein Ding ist, 
ist hier nicht ohne weiteres begreiflich. 
10. Diesen Vorzügen der subjektiven stehen aber auch 
solche der objektiven Zweiseitentheorie gegenüber. Ein 
erster liegt darin, daß sie das Physische und Psychische als 
reale Unterschiede anerkennt und damit der Auffassung 
der Einzelwissenschaften entgegenkommt, während die sub- 
jektive Theorie in den beiden Seiten bloße Erscheinungs- 
weisen, Unterschiede der Auffassung erblickt und damit die 
Objekte der Naturwissenschaft bzw. der Psychologie zu bloßen 
Phänomenen herabdrückt. In der Tat wird für die subjek- 
tive Zweiseitentheorie der Monismus regelmäßig zu einer 
provisorischen Ansicht von relativer Berechtigung, die mit 
dem Idealismus verbunden in eine spiritualistische Meta- 
251 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
phyßik übergeht oder in den Materialismuß umschlägt, wenn 
die Naturreahtät allein anerkannt wird. Man kann daher 
von diesem Standpunkt aus sagen, daß nur die objektive 
Theorie ernsthafter metaphysischer Monismus ist. Ferner 
— und darin besteht ein zweiter Vorzug dieser Theorie — 
ist nur sie in der Lage, die Zweiheit der beiden Seiten als 
eine tatsächlich bestehende, wirklich gegebene hinzustellen 
und damit der Frage zu entziehen, die sich bei der subjek- 
tiven Theorie sofort erhebt, warum es nämhch nur zwei 
solche Auffassungen des einen Wesens soll geben können. Als 
eine subjektive Angelegenheit ist die Wahl des Standpunktes 
von dem zu betrachtenden Gegenstande unabhängig. So 
kann denn auch unser Sonnensystem nicht nur von der Erde 
oder der Sonne, sondern noch von beliebig vielen anderen 
Standorten aus aufgefaßt werden. Es ist darum sehr unwahr- 
scheinlich, daß Physisches und Psychisches sich nur durch 
den zufälligen Gesichtspunkt unterscheiden sollen, den man 
bei der Erkenntnis desselben Wesens zugrunde legt. Endlich 
dürfen wir der objektiven Theorie einen dritten Vorzug 
deshalb zuschreiben, weil sie alle Unterschiede der einen 
oder anderen Seite ohne weiteres als Unterschiede der Sub- 
stanz begreifen läßt. Jede Änderung der Eigenschaften ist 
eine Änderung des in ihnen sich offenbarenden Wesens. Da- 
gegen ist es für die subjektive Theorie durchaus nicht selbst- 
verständlich, daß eine Modifikation innerhalb einer Betrach- 
tungsweise auch für die einheitliche, identische Substanz 
eine Modifikation bedeutet. 
11. Bei dieser Sachlage scheint es nun das beste zu sein, 
beide Theorien miteinander zu vereinigen, damit die 
Vorzüge einer jeden von ihnen zur Geltung kommen und zu- 
gleich die in ihrer Einseitigkeit wurzelnden Schwierigkeiten 
verschwinden. Man würde demgemäß anzunehmen haben, 
daß es sich bei dem Physischen und Psychischen um zwei 
objektive Seiten desselben Wesens und außerdem um zwei 
subjektive Standpunkte oder Betrachtungsweisen handle. 
In einem von Fechner gebrauchten Bilde tritt uns diese 
Ansicht entgegen. »Wenn jemand innerhalb eines Kreises 
steht, so liegt dessen konvexe Seite für ihn ganz verborgen 
252 
§ 22. Der Monismus. 
unter der konkaven Decke; wenn er außerhalb steht, um- 
gekehrt die konkave Seite unter der konvexen Decke. Beide 
Seiten gehören ebenso untrennbar zusammen, als die geistige 
und leibliche Seite des Menschen, und diese lassen sich ver- 
gleichsweise auch als innere und äußere Seiten fassen; es 
ist aber auch ebenso unmöglich von einem Standpunkt in 
der Ebene des Kreises beide Seiten des Kreises zugleich zu 
erblicken, als von einem Standpunkt im Gebiete der mensch- 
. liehen Existenz diese beiden Seiten des Menschen. Erst wie 
wir den Standpunkt wechseln, wechselt sich die Seite des 
Kreises, die wir erblicken, und die sich hinter der erblickten 
versteckt.« Das Bild läßt sich offenbar noch vollkommener 
durchführen, wenn wir den Kreis durch eine Kugelschale 
ersetzen, bei der es in der Tat unmöglich wird, von außen 
ihre Konkavität und von innen ihre Konvexität zu bemerken. 
Da nun beide sicherlich objektive Eigenschaften sind (man 
denke nur an die Behandlung von Konkav- und Konvex- 
spiegeln in der Optik), so haben wir eine Verbindung von 
subjektiver und objektiver Zweiseitentheorie vor uns. Dieser 
neuen Auffassung des Monismus könnte man zunächst ent- 
gegenhalten, daß sie den Unterschied der zwei Seiten über- 
flüssigerweise verdoppelt. Es würde genügen, ihn 
nur in objektiver oder subjektiver Form bestehend zu 
denken. Mit den Begriffen der äußeren und inneren Wahr- 
nehmung und Erfahrung ist ja überhaupt nichts Eechtes 
anzufangen; sie bedeuten nicht sowohl ursprüngliche Ver- 
schiedenheiten des wahrnehmenden Aktes, als vielmehr Unter- 
schiede in der Eichtung, in dem Gegenstande desselben 
(vgl. § 8, 3. 8-10). 
Schwerer wiegt, daß die Vorteile, die man sich von dieser 
Verbindungstheorie versprechen konnte, gar nichtbestehen. 
Denn nicht nur die Nachteile der beiden in ihr vereinigten 
Theorien haben ihren Grund in deren einseitiger Geltung, 
sondern auch die Vorzüge. Immerhin könnte man meinen, 
daß sich dann ein Ausgleich zwischen den Mängeln und Vor- 
teüen herausbilde, die der Veibindungstheorie ein Über- 
gewicht gegenüber den einseitigen Auffassungen des Monis- 
mus verleihe. Aber dieser angebliche Vorzug wird sofort 
253 
///. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
hinfällig, wenn man bedenkt, daß die Verbind ungstheorie 
eine neue Schwierigkeit einführt, die durch die Voraus- 
setzung eines Parallelismus zwischen den objektiven und 
subjektiven Seiten entsteht. Warum soll und muß zu jedem 
der beiden objektiven Merkmale auch je eine subjektive 
Betrachtungsweise in genauer Koordination gehören ? Sind 
Konkavität und Konvexität objektive Eigenschaften, so be- 
darf man zu ihrer Feststellung nicht zweier gesonderter 
Standpunkte der Beobachtung. Andererseits braucht eine 
Änderung des Standpunkts durchaus nicht eine Änderung 
des Gegenstandes zu bedeuten. Somit verdient auch die 
Verbindungstheorie keine größere Anerkennung. Sie teilt 
mit der subjektiven und objektiven Anschauung deren Vor- 
züge und Mängel und fügt dazu noch eine weitere höchst 
zweifelhafte Annahme hinzu. 
12. Eine letzte, vierte Möglichkeit besteht darin, daß man 
nur die eine Seite subjektiv, die andere dagegen 
objektiv interpretiert. Hiernach würde z. B. das Psy- 
chische durch eine bloße Betrachtungsweise entstehen, sich 
als Erscheinung darstellen, und das Physische die ihr zu- 
grunde liegende Eealität sein. Oder es müßte das Phy- 
sische als ein durch unsere Erkenntnisart mögliches Phä- 
nomen (bzw. als eine begriffliche Fiktion; so Schlick 
s. u. S. 243) und das Psychische als die allein vorhandene, auch 
hinter dieser Erscheinung stehende Eealität gelten. Dann 
wüi'den sich also beide »Seiten« wie Erscheinung und Eealität 
zueinander verhalten. 
Damit ist offenbar der Monismus aufgegeben. Denn seine 
Eigentümlichkeit besteht ja gerade in der Anerkennung 
gleichen Seinswertes für beide Seiten. Entweder 
sind sie beide Standpunktssache im Sinne der subjektiven 
oder beide reale Eigenschaften im Sinne der objektiven 
Theorie. Hebt man diese Gleichwertigkeit auf, so haben wir 
einen Materialismus oder einen Spiritualismus vor uns. 
Jener betrachtet das Psychische, dieser das Physische als 
bloße Erscheinung. Der Materialismus aber macht es nicht 
verständlich, wie Materie und Energie, Körper und Bewe- 
gungen als Empfindungen und Vorstellungen, Gefühle und 
254 
<^ 22. Der Monismus. 
Gedanken »erscheinen« können. Setzt er voraus, daß solche 
Erscheinung nur für ein erkennendes Subjekt entstehe, so 
hat er bereits Psychisches, das nicht Erscheinung ist, ange- 
nommen oder sich in eine unendliche Eeihe verstrickt (ist 
das erkennende Subjekt Erscheinung, so muß es einem er- 
kennenden Subjekt erscheinen, auch dieses muß wieder für 
ein erkennendes Subjekt Erscheinung sein usw.). 
Die spiritualistische Möglichkeit ist neuerdings, auch 
unter dem Namen eines psychophysischen Idealismus, 
mit besonderem Nachdruck von Hey maus und Strong ver- 
treten worden. Wenn dabei angenommen wird, daß Bewußt- 
seinsinhalte überhaupt die eigentlichen Gegenstände unserer 
Wahrnehmungen seien, so läßt sich diese Annahme nur auf 
die Wahrnehmung belebter, beseelter Körper stützen und 
gewiß nicht verallgemeinern. Aber auch bei der idealsten 
Beobachtung eines fremdes Bewußtsein begleitenden Hirn- 
prozesses wäre eben nur dieser, physiologisch und anatomisch 
näher zu bestimmende, körperliche Vorgang und nicht das 
fremde Bewußtsein zu erfassen. Es ist ja eine für die Psy- 
chologie in gewisser Hinsicht grundlegende und für die Praxis 
des Lebens sehr bedeutungsvolle Einsicht, daß wir nur von 
unserem eigenen Bewußtsein eine unmittelbare, von dem 
fremder Individuen dagegen eine nur mittelbare, mehr oder 
weniger lückenhafte und unsichere Kenntnis haben i). Diese 
Einsicht hinwegzudeuten, wird auch dem psychophysischen 
Idealisten nicht gelingen. Ebenso ist es bedenklich, die Kea- 
litäten, die von der Naturwissenschaft aus dem, was unserer 
äußeren Wahrnehmung gegeben ist, herausgearbeitet werden, 
schlechthin für x)hänomenal zu erklären. Die Naturrealität ist 
nicht eine »mögliche Wahrnehmung«, die stets die Beziehung 
zu einem w^ahrnehmenden Subjekt enthielte. Vielmehr wollen 
und sollen die naturwissenschaftlichen Begriffe das dar- 
^) Damit steht es natürlich nicht im Widerspruch, daß Erfalirtmg in 
dem psychologischen Verständnis unserer Mitmenschen den Anschein 
einer ebenso unmittelbaren Erfassung ihres Seelenlebens, wie des eige- 
nen, entstehen läßt. Eine Evidenz der psychologischen Fremdwalir- 
nehmung aber, die mit der der psj'^chologischen Selbstwahrnehmung 
wetteifern könnte, gibt es nicht. 
255 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
stellen, was vom wahrnehmenden Subjekt unabhängig ist, 
und sie entfernen geradezu alle anschaulichen, vorstellbaren 
Bestandteile aus ihrem Inhalt. Sind wir aber zur Erkenntnis 
gelangt, daß weder das Psychische noch das Physische in 
unmittelbarer Erfahrung so erfaßt werden, wie sie an sich 
sind, daß auf dem Gebiet der »inneren« ebenso wie auf dem 
der »äußeren« Wahrnehmung ein kritischer Eealismus zu 
Eecht besteht, dann wird der spiritualistischen Wendung 
des Monismus eine Hauptstütze entzogen. Nach dieser Ab- 
schweifung über pseudomonistische Richtungen kehren wir zu 
der eigentlichen und besonderen Gestalt dieser Theorie zurück. 
13. Der Monismus Avird, wie wir oben gezeigt haben {7. — 11.), 
in jeder Gestalt zu einem Dogma, das sich durch Bilder 
verständlich zu machen sucht und mit diesen wehrlos zahl- 
reichen Angriffen preisgegeben ist. Und das alles geschieht, 
um der Annahme einer psychophysischen Kausalität zu ent- 
gehen, die, wie die Monisten selbst zugeben, einfacher und 
näherliegend wäre, aber aus den in § 2 behandelten Gründen 
unzulässig sein soll! Daß diese Gründe nicht allzu schwer 
wiegen, haben wir gezeigt, und es scheinen darum die Opfer, 
die der Monismus seinerseits bringen muß, in keinem rechten 
Verhältnis zu dem mit ihnen errungenen Vorteil zu stehen. 
Denn außer den die allgemeine Durchführung des monistischen 
Grundgedanken^ • betreffenden, im bisherigen zur Sprache 
gekommenen Schwierigkeiten ergeben sich weitere aus den 
besonderen Folgerungen, die er einschließt. Eine erste 
bedenkliche Folgerung besteht in der doppelten Transzen- 
denz des abstrakten Monismus. Nicht nur wird eine (be- 
stimmbare oder unbestimmbare) Einheit des Physischen und 
Psychischen angenommen, die durchaus jenseits der Grenzen 
möglicher Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis liegt, 
sondern es wird auch das Gebiet des Seelenlebens über alle 
durch Erfahrung bekannten und geforderten Grenzen hinaus 
erweitert. Nach dem Prinzip des psychophysischen 
Parallelismus (vgl. § 8, 5) hat man anzunehmen, daß 
jedem Bewußtseinsinhalt ein physiologischer Prozeß im Ge- 
hirn, den man mit Eücksicht darauf einen psychophysischen 
Prozeß nennt, gesetzmäßig entspricht. Da dies Prinzip über 
256 
§ 22. Der Monismus. 
die Art des Zusammenliangs selbst nichts aussagt und keine 
Ergänzung des empirisch Feststellbaren in sich schließt, ist 
es so recht geeignet der exakten Forschung als vorsichtige 
allgemeine Formulierung eines bisher als gültig befundenen 
Verhaltens gute Dienste zu leisten^). Wird dies Parallel- 
gehen aber im monistischen Sinne dahin gedeutet, daß 
sich Körper und Seele wie zwei Seiten eines und desselben 
Wesens ansehen lassen, so muß natürlich der Unterschied 
zwischen den von Bewußtseinsvorgängen begleiteten und 
den ohne sie erfolgenden physiologischen Prozessen ver- 
schwinden. Das unbewußt Psychische in einem viel weiteren 
Umfange, als es die reine Psychologie (vgl. § 8, 4) braucht 
und annimmt, hält damit seinen Einzug. Denn nicht nur 
Gehirnprozesse aller Art, sondern auch beliebige andere 
körperliche Vorgänge, wie Blutzirkulation, Diüsensekretion, 
Wachstum einzelner Organe, Stoffwechsel u. a. müssen hier- 
nach ihre psychische Ergänzung empfangen. Aber das Seelen- 
leben, das wir einer jeden Körperzelle zuschreiben, ist der 
Selbstwahrnehmung nicht zugänglich und darum nicht mit 
demjenigen auf eine Stufe zu stellen, das an die Leistungen 
eines großen Zellkomplexes, des Gehirns, gebunden gedacht 
wird. Die durchgehende Entsprechung, den universellen 
Parallelismus, den der Monismus also annehmen muß, hat 
mit dem empirischen Prinzip des psychophysischen Paralle- 
lismus nichts zu tun und bedeutet daher eine Überschreitung 
unserer Erfahrung und erfahrungswissenschaftliche Erkennt- 
nis in einer durch diese nicht vorgezeichneten Eichtung. 
14. Aber der Monismus geht noch weiter, indem er ein 
Seelenleben auch der anorganischen Welt beilegt und somit 
zu der Annahme gelangen muß, daß jedes Atom, die letzte 
körperliche Einheit, schon einen gewissen keimhaften Ansatz 
seelischen Seins in sich berge. Damit macht sich der Monismus 
einer gleichen Erfahrungsüberschreitung schuldig, wie wir 
sie bereits beim Spiritualismus bedenklich fanden (vgl. 
§ 20, 9), ja einer noch schlimmeren, indem er dem Atom eine 
neue, durch keine wissenschaftliche Untersuchung nahe- 
*) Darüber scheint auch der von Dürr entwickelte partielle Monismus 
(vgl. S. 241) nicht wesentlich hinauszuführen. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 17 
257 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
gelegte Eigenschaft zuerkennt, während der Spiritualismus 
nur an dem Begriff des Atoms eine andere Deutung vornimmt. 
Daraus ergibt sich zugleich die auch bei dem Spiritualismus 
hervorgehobene Schwierigkeit, daß das Seelische im Gebiet 
des Anorganischen seinen aus der unmittelbaren Erfahrung 
eines Jeden verständlichen Sinn völlig einbüßen, zu einem 
inhaltsleeren Ausdruck werden muß, der uns eine Lösung des 
Welträtsels vorspiegelt, ohne sie zu geben. Denn das Psy- 
chische läßt sich bei anderen Wesen immer nur auf Grund 
der Ähnlichkeit unserer Ausdrucksbewegungen mit den 
ihrigen bestimmen. Unseren Mitmenschen schreiben wir ein 
dem unsrigen analoges Bewußtsein zu, weil sie reden und 
handeln, Mienen und Gebärden verändern gleich wie wir. 
Diese Analogie wird um so geringer und der darauf gebaute 
Schluß daher auch um so schwieriger, je weiter wir in der 
Eeihe der Lebewesen hinuntersteigen, sie erreicht ihr un- 
widerrufliches Ende bei dem einfachsten derselben, bei der 
Zelle. Über die Natur der Psyche einer Zelle können wir nur 
ganz unsichere Vermutungen hegen, wir können sie nur 
konstruieren, nicht nachempfinden. Welcher Art aber ein 
Seeleninhalt beim Atom oder bei einem anorganischen Atom- 
komplex ist, darüber ist eine begründete, nicht rein willkür- 
liche Aussage noch nicht vorgebracht worden. Natürlich 
entsteht außerdem für den Monismus noch die wissenschaft- 
lich ungelöste Aufgabe, zu zeigen, wie sich die Atomseelen 
zu Zellenseelen und diese wiederum zu den uns empirisch be- 
kannten Einzelseelen verbinden. Somit kennzeichnet sich 
auch von diesem Gesichtspunkt aus der Monismus als eine 
phantastische und nicht als eine wissenschaftlichen Bedürf- 
nissen entsprungene und genügende Metaphysik. 
15. Eine zweite bedenkliche Folgerung betrifft die für 
den Monismus notwendige Auffassung des Geschehens. 
Physisches und Psychisches sind zwei Erscheinungsreihen, 
die in sich geschlossen, einander selbständig und einfluß- 
los gegenüberstehen und zugleich wunderbarerweise einander 
genau entsprechende Änderungen zeigen. Man darf hiernach 
ein Psychisches nur aus Psychischem und ein Physisches nur 
aus Physischem ableiten und erklären. Damit aber kommen 
258 
§ 22. Der Monismus. 
wir zu seltsamen Vorstellungen auf psychischem ebenso 
wie auf physischem Gebiet. Dort wird die einfachste Wahr- 
nehmung für uns unverständlich. Höre ich ein Geräusch, das 
plötzHch erschallt, so kann ich dieses doch nicht auf mein 
vorhergehendes Seelenleben zurückführen, ich darf es aber 
nach dem Monismus nicht aus physischen Vorgängen er- 
klären. Ich muß mir also eine psychische Kausalreihe erst 
konstruieren, indem ich annehme, daß den Luftschwingungen, 
ebenso wie den von ihnen veranlaßten Erregungen des Hör- 
nerven und schließlich einer gewissen Partie des Gehirns 
psychische Begleiterscheinungen entsprechen, die zum Auf- 
treten der Empfindung geführt haben. Nicht also die phy- 
sischen Vorgänge als solche, sondern vorausgesetzte, gänzlich 
unbekannte psychische Parallelvorgänge sind bei jeder Wahr- 
nehmung als Entstehungsbedingungen anzusehen. Die schwie- 
rige Frage, ob und inwieweit es überhaupt so etwas wie 
seelische Kausalität gibt und geben kann, wird ohne weiteres 
bejaht und ein allumfassender rein-seelischer Zusammenhang 
konstruiert, dessen rein spekulative Art und Eichtung un- 
zweifelhaft ist. 
Noch auffälliger nimmt sich dies Bedenken in dem anderen 
Gebiet aus: wird auf psychischem die Wahrnehmung, so 
wird auf physischem die Willenshandlung unverständlich. 
Hier führt der Parallelismus zur Maschinen- oder Automa- 
tentheorie, welche nur mechanisches Geschehen kennt 
und das Psychische zu einer einflußlosen Beigabe der körper- 
lichen Vorgänge macht. Bei der Entwicklung der Organismen 
haben deren psychische Eigenschaften keine Eolle gespielt. 
Kant hat die Worte seiner Kritik der reinen Vernunft nieder- 
geschrieben, nicht weil der Gedankenzusammenhang diese 
Worte forderte, sondern weil sein Gehirn seine Schreibbewe- 
gungen mechanisch leitete. 
16. Und nun das größte aller Wunder, auf das Lieb mann 
nachdrücklich hingewiesen hat, die genaue Entsprechung 
beider Seiten bei ganz verschiedener Gesetz- 
mäßigkeit! Unsere Gedanken folgen normalerweise logi- 
schen Eegeln, unser Wollen untersteht sozialen und ethischen 
Erwägungen und Normen, unser Gefallen und Mißfallen 
259 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
ästhetischen Gesichtspunkten. Was hat damit die mecha- 
nische Kausalität zu tun, die unsere Gehirnprozesse nach der 
parallelistischen Auffassung beherrscht ? Mischung und Ent- 
mischung, Austausch von Stoffen und Energiemengen sollen 
trotzdem so vor sich gehen, daß den logischen, ethischen 
und ästhetischen Eegeln Entsprechendes geschieht. Dazu 
kommt, was besonders H. Driesch (Leib und Seele, 1916) 
betont hat, daß das Seelische einen weit höheren Grad von 
Mannigfaltigkeit aufweist als das Körperliche. Das Letztere 
ist erschöpfend gekennzeichnet durch folgendeBestimmungen : 
beharrlich, beweglich, so groß, durchaus unzusammen- 
drückbar, stoßen- und gestoßen-werden-können, anziehen 
können. Damit vergleiche man den unübersehbaren Eeich- 
tum letzter, d. h. unableitbarer Bewußtseinslemente, z. B. 
die Fülle der Empfindungen, Gefühle, Gedanken. Ferner 
sind im Körperlichen alle Beziehungen (von der Kausal- 
beziehung abgesehen) Abwandlungen der Beziehung Neben, 
während die Beziehungen gedanklicher und seelischer Art 
eine überreiche Mannigfaltigkeit aufweisen: man denke an 
die logischen, sprachlichen, ethischen, politischen, sozialen, 
wirtschaftlichen, ästhetischen, religiösen Beziehungen. Wie 
soll man sich aber eine Entsprechung zwischen der Armut 
an Elementen und Beziehungen in der körperlichen und dem 
Überfluß in der seelischen Welt denken? 
Jede der beiden Welten ferner verläuft nach Stumpfs 
Darstellung des Monismus genau so, wie wenn die andere 
nicht existierte. »Das ganze Tun und Treiben der Menschen, 
des Einzelnen, wie der Völker« könnte nach F. A. Lange 
»durchaus so vor sich gehen, wie es wirklich vor sich geht, 
ohne daß übrigens auch nur in einem einzigen dieser Indi- 
viduen irgend etwas wie Gedanke, Empfindung usw. vor sich 
ginge.« Und das gleiche ließe sich wenigstens von Geschehnissen 
unseres Bewußtseins behaupten: dieser Gedankengang, jener 
Vorstellungsverlauf müßte sich abwickeln, auch wenn es gar 
keine physischen Parallelvorgänge gäbe. Trotzdem aber wird 
die genaueste Anpassung beider Erscheinungsreihen anein- 
ander gefordert. Die allgemeine Unvergleichbarkeit des Phy- 
sischen und des Psychischen, die wir früher, namentlich für 
260 
§ 22. Der Monisrmis. 
die einzelnen Vorgänge als solche, hervorgehoben haben, 
kehrt hier bei der Gegenüberstellung der für beide geltenden 
Gesetze und Prinzipien des Geschehens wieder. Einflußlos 
nebeneinander ablaufend, sollen doch beide Erscheinungs- 
reihen sich so zueinander verhalten, als wenn beständig eine 
Wechselwirkung zwischen ihneo stattfände. Eine prästabi- 
lierte Harmonie, viel wunderbarer, als die nach Leibniz 
zwischen lauter gleichartigen Monaden bestehende, ist so- 
mit die Voraussetzung des Parallelismus. (Wenn Spinoza 
erklärt, daß Ordnung und Zusammenhang der Gedanken 
derselbe sei, wie Ordnung und Zusammenhang der Dinge 
[vgl. § 22, 4], so tritt hier, wie der Beweis dieses Lehrsatzes 
zeigt, eine andere Beziehung neben der parallelistischen des 
Monismus auf. Das Denken und sein Gegenstand, nicht das 
Denken und seine körperliche Begleiterscheinung sind mit 
Gedanke {idea\ und Ding \_res\ gemeint. Nun richtet sich 
das Denken nach seinen Objekten, wird durch sie bestimmt, 
ist von ihnen abhängig. Also muß auch sein Verlauf dem 
seiner Gegenstände gleichen.) 
17. IS'un kann man ja gewiß, um allen diesen Schwierig- 
keiten zu entgehen, die seltsame Übereinstimmung ebenso 
wie die inneren Zusammenhänge des Physischen und Psy- 
chischen auf das Wirken und Wollen der ihnen zugrunde 
liegenden substantiellen Einheit zurückführen und alle Ge- 
heimnisse in diesen unergründlichen realen Urgrund verlegen. 
Aber damit hat man zugleich zugegeben, daß der Monismus 
sich bei jedem Versuch, seine Ideen anzuwenden und durch- 
zudenken, in unlösbare Eätsel und Schwierigkeiten ver- 
strickt, und daß eine wissenschaftliche Metaphysik über seine 
bloße leere Möglichkeit nicht hinauskommt. 
Wir können uns daher nicht davon überzeugen, daß der 
Monismus die überzeugendste metaphysische Bestimmung 
des Seienden genannt werden dürfe. Vielmehr behaupten 
wir als Ergebnis unserer Kritik der die Qualität des Eealen 
bestimmenden metaphysischen Eichtungen, daß der Dua- 
lismus gegenwärtig die größte Wahrscheinlichkeit für sich 
beanspruchen kann, sowohl wegen seiner relativ besten 
Übereinstimmung mit den Einzelwissenschaften, als auch 
261 
///. Kapitel. Die pkilosophi'^chen Richtungen. 
wegen seiner Vereinbarkeit mit erkenntnistheoretischen und 
logischen Anforderungen. Gewiß bestehen auch gegen ihn 
Bedenken, aber diese liegen nicht sowohl darin, daß der all- 
gemeine Gedanke und die Durchführbarkeit desselben 
logisch oder einzel wissenschaftlich zu beanstanden wären, als 
vielmehr darin, daß manche Einzelfragen, wie die nach der 
Herkunft des Psychischen oder nach der eigentlichen Natur 
der psychophysischen Beziehung, bisher keine völlig be- 
friedigende Beantwortung gefunden haben. 
Anmerkung. Der Name Monismus ( = Einheitslehre) wird 
auch für die Annahme eines Zusammenfallens von Gott und 
Welt oder den Pantheismus (vgl. § 26) in Anwendung ge- 
bracht. Selbst in der Erkenntnistheorie redet man in der 
Gegenwart von einem Monismus, indem man die Behauptung 
einer ursprünglichen Einheit der Erkenntnis oder des Be- 
wußtseins im Gegensatz zur dualistischen Trennung von 
Vorstellung und Gegenstand so bezeichnet (vgl. § 17, 7). 
In dieser Mannigfaltigkeit der Bedeutungen hat eine kritische 
Darstellung von F. Klimke: Der Monismus und seine philo- 
sophischen Grundlagen, 1911, darüber gehandelt. Unold 
hat einen erkenntnistheoretischen Begriff des Monismus 
aufgestellt, wonach die Mittel und Wege der wissenschaft- 
lichen Forschung die einzigen sind, die zu einer Erkenntnis 
führen. Ähnlich vertritt M. Schlick, Allg. Erkenntnislehre 
1918 S. 276 ff. den Monismus als die Überzeugung, »daß 
alle Qualitäten des Universums, daß alles Sein überhaupt 
insofern von einer und derselben Art ist, als es der Erkennt- 
nis durch quantitative Begriffe (d. h. solche der Physik) 
zugänglich gemacht werden kann«. Den metaphysischen 
Monismus lehnt er ab. 
An Literatur sei außer der § 8 zitierten genannt: 
A. Drews : Geschichte des Monismus im Altertum. (Synthesis 5), 1913. 
A. Drews: Der Monismus, dargestellt in Beiträgen seiner Vertreter 
(I. Systematisches, II. Historisches). 
Rud. Eisler: Leib und Seele, 1906. Geschichte des Monismus, 1910. 
B. Erdmann: Wissenschaftliche Hypothesen über Leib und Seele, 
1908. 
262 
§ 23. Mechanismus und Teleologie. 
C. A. Strong: Why the Mind has a Body, 1903 (vertritt den psycho- 
physischen Idealismus; ebenso G. Heymansin der Ztschr. f. Psychol. 
Bd. 63 f. und 75 f.). 
M. Wartenberg: Das Problem des Wirkens und die monistische Welt- 
anschauung, 1900. 
§ 23. MECHANISMUS UND TELEOLOGIE. 
1. Von der Frage nach der Qualität des realen Seins werden 
wir nun zu dem Problem des realen Geschehens ge- 
führt, dessen Form und Gesetzmäßigkeit nach dem Mecha- 
nismus in dem blinden und notwendigen Zusammenhang 
von Ursache und Wirkung besteht, wie er in der sogenannten 
Naturkausalität vorbildlich dargestellt ist. Da hier alle 
Zusammenhänge im letzten Grunde auf statische und dyna- 
mische Gesetze (d. h. solche des Gleichgewichts und der Be- 
wegung) zurückgeführt werden können und die Wissenschaft- 
von solchen Gesetzen Mechanik heißt, so pflegt man diese 
ganze Betrachtung selbst eine mechanistische zu nennen. 
Dadurch tritt sie offenbar in eine enge Beziehung zu dem 
Materialismus, und in der Tat finden wir diesen in der Ge- 
schichte der Philosophie durchweg gepaart mit dem Mecha- 
nismus. So ist das Verhältnis schon innerhalb des antiken 
Atomismus, der frühesten Form des Materialismus (vgl. 
§ 19, 2). Das ganze Geschehen vollzieht sich nach Leukipp 
und Demokritin Form von Bewegungsvorgängen, die teils 
in einem freien Fall der Atome, teils in den durch gegen- 
seitigen Druck oder Stoß bewirkten Änderungen desselben 
bestehen. Von der ausnahmslosen Geltung des Mechanismus 
sind ebenso in der neueren Philosophie Hobbes und der 
Verfasser des Systeme de la nature überzeugt. Aber nicht nur 
bei Materialisten finden wir diese Eichtung vertreten, sondern 
auch bei Monisten. So ist z. B. Spinoza ein nicht minder 
entschiedener Verfechter des Mechanismus als Hobbes. 
Weder gibt es einen freien Willen, der den Zusammen- 
hang zwischen Ursache und Wirkung durchbräche, noch 
sind Zwecke vorhanden, nach denen sich das Geschehen zu 
richten hätte. In dem Prinzip der geschlossenen Natur- 
kausalität (vgl. § 21, 5) und in der darauf beruhenden Auto- 
263 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
matentheorie (vgl. § 22, 15) des Monismus ist der Mechanis- 
mus gleichfalls zu einer wenn auch beschränkten Anwendung 
gekommen. 
2. Eine ausschließliche Ausprägung der teleologischen, 
eine Zielstrebigkeit und Zweckmäßigkeit des Geschehens in 
der Welt behauptenden Ansicht finden wir in der Geschichte 
der Philosophie nirgends. Denn überall, wo sie zur Geltung 
gebracht wird, pflegt der Mechanismus zugleich als eine, 
wenn auch untergeordnete, Form des Geschehens anerkannt 
und eingeschlossen zu werden. So steht es bereits bei Piaton, 
dem ersten unzweifelhaften Teleologen in der Geschichte der 
Philosophie. Nach Zwecken, nach Urbildern der Dinge, nacb 
Ideen ist Alles bei ihm entstanden und entwickelt sich Alles. 
Aber zugleich werden die unmittelbaren Veranlassungen 
jeder einzelnen Stufe oder Phase des Werdens im Sinne einer 
rein kausalen Betrachtungsweise beurteilt. Der Gegensatz 
zwischen Idee und Materie prägt sich darin aus, daß dort 
Vernunft und Zweck, hier dagegen blinde Notwendigkeit 
herrschen soll. Noch schärfer und klarer wird diese Unter- 
ordnung des Mechanismus unter die Teleologie von Aristo- 
teles durchgeführt. Einerseits findet sich in der Natur alle 
Veränderung in der Form der Ortsveränderung oder Be- 
wegung verwirklicht und hier beherrscht durch eine rein 
mechanische Gesetzmäßigkeit. Andererseits aber liegt das Ziel 
alles Werdens in dem Wachstum der Form, der Energie, des 
aktuellen Prinzips. Und so wird der mechanischen Gesetz- 
mäßigkeit eine teleologische übergeordnet. Die Natur handelt 
nicht zwecklos, sondern verwendet Alles zu etwas Nütz- 
lichem, und diese allgemeine Zweckmäßigkeit kann nur er- 
klärt werden, wenn man das Wirken der Natur selbst als 
ein zielstrebiges oder zwecktätiges auffaßt. Darum sind die 
mechanischen Ursachen zwar unentbehrliche Bedingungen 
oder Hilfsmittel zur Realisierung dieser Zwecke, aber als 
eigentliche Ursachen betrachtet Aristoteles die Zweck- 
ursachen {causae finales). Diese Teleologie ist für eine ganze 
Reihe ähnlicher Auffassungen typisch geworden. So hat 
späterhin Leibniz eine Versöhnung von Mechanismus und 
Teleologie durchzuführen versucht und im 19. Jahrhundert 
264 
§ 23. Mechanismus und Teleologie. 
Lotze die ausnahmslose Gellung und zugleich untergeord- 
nete Bedeutung des Mechanismus vertreten. 
3. Im Gegensatz zu diesen metaphysischen Auffassungen 
des Mechanismus und der Teleologie, die zu einer Aufnahme 
des erstcren in die letztere, also zu einer Unterordnung des 
Mechanismus unter die Zweckbetrachtung geführt haben, 
gelangt Kant bei einer kritisch-empirischen Untersuchung 
ihres Verhältnisses in seiner »Kritik der Urteilskraft« zu einer 
Nebenordnung beider. Zweckmäßig nennen wir nach 
ihm einen Naturgegenstand, insofern er seinem Begriff ange- 
messen erscheint oder seine Teile durch das Ganze bestimmt 
werden. Eine solche Zweckbetrachtung ist nicht eine meta- 
physische, transzendente Zwecke oder Ziele der Natur auf- 
stellende, sondern eine erkenntnistheoretische, den 
immanenten Zusammenhang eines Gegenstandes selbst be- 
rücksichtigende und ausdrückende. 
Die nächste Veranlassung zu einer derartigen Betrachtung 
der Natur liefert der Organismus, in dem wir alle Glieder und 
Funktionen der Erhaltung des Individuums und der Art 
dienstbar finden, und in dem sich eine regulierende Wechsel- 
wirkung zwischen den einzelnen Bestandteilen abspielt. Von 
hier aus aber erweitert sich die teleologische Auffassung über 
die ganze Natur, die gleichfalls als ein System nach der Eegel 
der Zwecke angesehen werden kann. Als Ziel der gesamten 
Naturentwicklung erscheint Kant das moralische Subjekt, 
denn nur bei der Sittlichkeit höre die Frage nach dem Wozu 
auf, einen Sinn zu haben. Mit der mechanistischen Auffassung 
streitet die teleologische nicht, sobald man sich bewußt ist, 
nur ein regulatives (vgl. § 5, 4), nicht aber ein konstitutives 
Prinzip damit vertreten zu können, d. h. wenn man etwas 
lediglich vom Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit betrachtet 
und beurteilt, wenn man aber den Zweck und die Zweck- 
mäßigkeit nicht in den Gegenstand selbst verlegt. Als eine 
subjektive Maxime der Urteilskraft (ein Leitsatz der Beur- 
teilung) wird daher die Teleologie vornehmlich dort anzu- 
wenden sein, wo eine mechanistische Auffassung nicht oder 
noch nicht durchführbar ist. So würden sich beide ergänzen, 
aber auch fördern, denn die Annahme der Zweckmäßigkeit 
265 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
kann als heuristisches Prinzip bei einer kausalen Unter- 
suchung dienen, d. h. uns bei der Auffindung der einzelnen 
ursächlichen Zusammenhänge förderlich sein, deren Zusam- 
menwirken das Ergebnis hat, das wir als den Zweck beurteilen 
(nämlich die Erhaltung und Entwicklung von Individuum 
und Gattung). Für eine intellektuelle (d. h. nicht sinn- 
liche) Anschauung (vgl. § 15, 6), deren wir nicht fähig sind, 
würde überhaupt der Gegensatz beider Betrachtungen völlig 
verschwinden. Ihr Ausgangspunkt ist nur verschieden, sofern 
die mechanistische von den einzelnen kausalen Bedingungen 
herkommt, die teleologische von deren Gesamtergebnis. 
Seitdem ist in ähnlicher Weise auch von modernen Logi- 
kern (besonders Sigwart und Wundt) das Verhältnis 
zwischen mechanistischer und teleologischer Auffassung be- 
stimmt worden. Neuerdings hat Goß mann das Verhältnis 
genauer zu beschreiben versucht. 
4. Empirischen und erkenntnistheoretischen Bestimmungen 
dieser Art bietet das Eeich der Lebenserscheinungen die 
Grundlage dar. Für ihr Verständnis erschien dem Altertum 
die »Seele« notwendig (vgl. § 8, 2). Mit der Beschränkung 
dieses Begriffs auf das Bewußtsein wurden bei Descartes die 
vitalen (d.h. Lebens-) Vorgänge als solche zu rein automatisch- 
mechanisch sich vollziehenden. Dagegen erhob sich ein 
Vitalismus, der alles Lebendige als von einem besonderen 
Prinzip, einer sog. Lebenskraft beherrscht ansah und da- 
durch von allem Leblosen und Maschinenmäßigen unterschied. 
Insbesondere suchte die Schellingsche Naturphilosophie 
mit einer derartigen »organischen« Ansicht die Entwicklung 
und Gestaltung der Naturwesen zu durchdringen. Aber 
diese Aufstellung einer Lebenskraft im Sinne einer besonderen 
einheitlichen Naturkraft erwies sich der wissenschaftlichen 
Forschung mehr hinderlich als förderlich, da sie ledig- 
lich dem unbekannten Etwas, das eben das Leben be- 
dingen sollte, einen Namen gab^). So hat «ie das Gebiet 
•) Ist man sich bewußt, daß »Lebenskraft« nichts anderes darstellt als 
einen Sammelnamen für die — erst noch zu erforschenden — mannig- 
faltigen Kraftkomponenten des Lebensprozesses, so ist gegen den Aus- 
druck nichts einzuwenden. 
266 
§ 23. Mechanismus und Teleologie. 
des Organischen ebensowenig wirklich erklären können, als 
die Begriffe besonderer seelischer Vermögen im 18. Jahr- 
hundert das Gebiet der Bewußtseinsvorgänge. Darum war 
es eine natürliche Reaktion der einzelwissenschaftlichen 
Forschung, daß die moderne Physiologie (namentlich auf 
Veranlassung von Lotze) als regulatives Prinzip (d. h. als 
Leitgedanken) für die Untersuchung der Lebensvorgänge 
den Mechanismus einführte. 
Schon vor dieser Bekämpfung des Vitalismus in der 
Physiologie hielt nach der endgültigen Ablehnung der alten 
Seelenvermögen der Mechanismus seinen Einzug auch in 
die Psychologie, indem Herbart nichts Geringeres an- 
strebte, als eine Mechanik des Geistes zu entwerfen (vgl. 
§ 8, 6). Etwas später wurde durch die Darwinsche Deszen- 
denzlehre eine mechanische Theorie der organischen Zweck- 
mäßigkeit auch in der Entwicklungslehre zu geben 
versucht. Nach dieser Theorie findet unter den »zufällig« 
variierenden Gliedern einer Familie eine natürliche Auslese 
der zweckmäßiger organisierten Wesen statt, indem sie sich 
leichter im »Kampf ums Dasein« erhalten und dadurch zu- 
gleich größere Aussichten erlangen, durch Fortpflanzung das 
Bestehen ihrer Art zu sichern. Denken wir uns diesen Vor- 
gang der Auslese durch große Zeiträume hindurch fortgesetzt, 
so soll sich durch ihn die Entwicklung zum Zweckmäßigen 
hin erklären lassen. Aber diese Theorie setzt offenbar eine 
gewisse Zweckmäßigkeit, deren Steigerung sie allein wahr- 
scheinlich machen kann, schon voraus. Was Darwin da- 
her im besten Falle erklären kann, ist nur die Entstehung 
neuer zweckmäßiger Organe, eine weiter getriebene Diffe- 
renzierung, die Entwicklung komplexerer Daseinsformen aus 
einfacheren, nicht aber die bereits in jedem Organismus 
als lebender Substanz irgendwie verwirklichte Wechsel- 
beziehung der Teile auf das einheitliche Ziel der Erhaltung 
des Individuums und der Art. 
Diese offenbaren Mängel des Darwinismus haben in neuester 
Zeit wiederum vitalistische Tendenzen hervortreten lassen, 
die sich jedoch von dem älteren Vitalismus durch eine größere 
Vorsicht unterscheiden, insbesondere durch das Bemühen, 
267 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
der kausal-mechanischen Forschung nicht den Weg zu 
versperren, sondern ihr Aufgaben zu stellen. Driesch, 
ein Vorkämpfer dieses Neovitalismus, hat die »Autonomie 
der Lebensvorgänge« genauer präzisiert. Dabei ist er zu dem 
Begriff der Entelechie von Aristoteles zurückgekehrt, 
einer »intensiven Mannigfaltigkeit« als der Konstanten eines 
organischen Systems, die eine mitbestimmende Bedingung 
desselben ist. Zur näheren Fassung dieses Begriffs hat er 
auch die »Seele« wieder herangezogen. Sie ist die Trägerin 
des teleologischen Geschehens in den Lebenserscheinungen 
und mit einer gewissen Zielstrebigkeit (»prospektiven Po- 
tenz«) ausgerüstet, darin ist ausgedrückt, daß die früheren 
Stadien des Lebensprozesses eine bedingende, richtunggebende 
Bedeutung haben. In seiner konkreteren Schilderung der den 
zweckmäßigen Gestaltungen zugrunde liegenden psychischen 
Prozesse hat Pauly diese »Potenz« unter dem Namen eines 
»urteilenden Prinzips« zusammengefaßt. 
5. Nur eine oberflächliche und der geschichtlichen Kenntnis 
entbehrende Betrachtung konnte stolz verkünden, daß Jiiit 
dem Wachstum des Mechanismus die teleologische Auf- 
fassung des Weltgeschehens ihr Kecht ganz verloren habe. 
Denn von einer weit größeren Herrschaft des mechanischen 
Zusammenhanges, als sie heute nachgewiesen ist, war 
bereits Leibniz überzeugt, und auch Kant hat die in der 
Gegenwart erworbenen Fortschritte im großen und ganzen 
schon vorausgesehen. Ebenso ist Lotze trotz seiner scharf- 
sinnigen Bekämpfung der Annahme einer Lebenskraft und 
seiner Empfehlung einer mechanistischen Auffassung des Or- 
ganischen ein Teleologe geworden und geblieben. Es muß 
also doch wohl eine Vereinigung beider Beurteilungen der 
Natur möglich sein. Um das zu prüfen, suchen wir uns den 
Sinn von Mechanismus und Teleologie oder von Kausalität 
und Finalität etwas näher zu vergegenwärtigen. 
Für die Kausalität gilt als allgemeiner Grundsatz: Gleiche 
Ursachen bzw. Bedingungen haben gleiche Wir- 
kungen bzw. Folgen. Die Annäherung eines Eisenstabes 
hat immer die Drehung einer Magnetnadel zur Folge ; Sonnen- 
strahlen erwärmen stets einen Stein, auf den sie fallen. Die 
268 
§ 23. Mechanismus und Teleologie. 
Naturgesetze sind, soweit sie kausale Verhältnisse zum 
Ausdruck bringen, Formeln, welche diese konstanten Be- 
ziehungen zwischen Ursache und Wirkung bzw. zwischen Be- 
dingungen und Folgen darstellen. Für die Finalität dagegen 
gilt als allgemeiner Grundsatz: Gleiche Zwecke oder 
Ziele können durch verschiedene Mittel erreicht 
werden. Der Erhaltung eines Organismus dienen die mannig- 
faltigsten Schutzvorrichtungen; die Ernährung desselben 
kann auf die verschiedenartigste Weise bewirkt werden. 
Wegen der relativen Einfachheit und der Konstanz der 
Zwecke sind diese meist leichter und besser erkennbar, als 
die Ursachen, durch die sie verwirklicht werden. Ein Wider- 
spruch mit dem kausalen Verhalten liegt jedoch nicht vor, 
weil man den oben angeführten Grundsatz nicht umkehren 
darf. Zwar sind gleiche Ursachen notwendig mit gleichen 
Wirkungen verbunden, aber gleiche Wirkungen können aus 
verschiedenen Ursachen hervorgehen. Denn zu einer Ur- 
sache gehört eine ganze Mannigfaltigkeit einzelner Be- 
dingungen a, b, c usw. Es muß daher eine bestimmte 
Konstellation derselben immer eine ganz bestimmte Folge- 
erscheinung hervorbringen, dagegen sind sehr verschiedene 
Kombinationen der a, b, c usw. denkbar, von denen die näm- 
liche Folge herrühren kann. Darum ist von einer bestimmten 
Wirkung aus niemals auf eine bestimmte Kombination der 
Bedingungen, also eine bestimmte Ursache mit Sicherheit zu 
schließen. Außerdem können auch gewisse Elemente durch 
andere ersetzt oder im Austausch mit anderen vergrößert 
oder verringert werden, ohne daß sich das Ergebnis zu 
ändern braucht. Wir können uns somit im allgemeinen 
zwar leicht Wirkungen konstruieren, indem wir bestimmte 
Ursachen als gegeben voraussetzen, aber nicht ebenso sicher 
von einer vorhandenen Wirkung aus die Ursache, die zu ihr 
geführt haben muß, erschließen. 
6. Die Einförmigkeit des Kausalzusammenhangs in der 
leblosen Natur überhebt uns der dadurch entstehenden 
Schwierigkeit für dieses Gebiet, und die Astronomie, Physik 
und Chemie pflegen daher mit der gleichen Zuverlässigkeit 
und Eindeutigkeit von gegebenen Wirkungen auf die Ur- 
269 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Sachen zu schließen, wie aus diesen jene abzuleiten. Newton 
stellte geradezu die Forschungsregel auf, man müsse, soweit 
es angehe, gleichartigen Wirkungen dieselben Ursachen zu- 
schreiben. Ganz anders verhält es sich jedoch damit in der 
organischen Natur. Was uns hier mit unverkennbarer 
Konstanz gegeben ist, das ist eine Wirkung, mögen wir sie 
nun die Befriedigung eines Lebensbedürfnisses oder die Er- 
haltung des Individuums oder die Erhaltung der Art oder 
die Form nennen ; dagegen sind die Vorrichtungen, die diese 
Wirkung hervorbringen, so mannigfaltig und wechselnd, daß 
von ihr aus auf einen bestimmten Kausalzusammenhang 
gar nicht geschlossen werden kann. So gelangen wir hier 
zu demselben Verfahren, das wir Maschinen gegenüber ein- 
schlagen, deren Bau wir verstehen wollen: ihre Leistung ist 
uns der Schlüssel für die Bedeutung und den Zusammenhang 
der einzelnen Teile. Wegen dieser Verwandtschaft mit der 
Maschine ist auch der lebende Organismus nicht selten eine 
natürliche Maschine genannt worden. 
Damit ist bereits gesagt, daß der Mechanismus in weite- 
stem Umfang in den teleologischen Zusammenhang eines 
lebenden Wesens aufgenommen werden kann. Alle physi- 
kalischen und chemischen Prozesse, die sich im Leibe der 
Pflanze oder des Tieres, im einzelligen oder vielzelligen Or- 
ganismus abspielen, sind für sich, d. h. von ihrer Beziehung 
auf die Lebensbedürfnisse abgesehen, physikalisch und che- 
misch zu fassen und zu behandeln. Man braucht also nicht 
von »Siegen« der mechanistischen (d. h. antiteleologischen) 
Anschauung zu sprechen, wenn es gelungen ist, die Gärung 
oder die Befruchtung, eine Drüsenausscheidung oder eine 
Muskelzusammenziehung auf rein mechanischem Wege an- 
zuregen und organische Stoffe künstlich herzustellen. Erst 
wenn die Erzeugung eines noch so primitiven Lebewesens 
auf physikochemischem Wege möglich geworden sein sollte, 
würde der Mechanismus eine beachtenswerte Bedeutung für 
die Erklärung der eigentlichen Lebenserscheinungen erlangt 
haben. Daraus geht zugleich die Belanglosigkeit des Ein- 
wandes hervor, daß der Psychovitalismus die vitalen Pro- 
zesse im einzelnen nicht erkläre. Er will und soll gar nicht 
270 
§ 23. Mechanismus und Teleologie. 
an die Stelle des Mechanismus treten, sondern diesen er- 
gänzen; jedenfalls hält er ihm die mechanisch noch nicht 
gelösten Probleme vor Augen. Wer eine Handlung auf Über- 
legung und Willensentschluß zurückführt, beansprucht 
ja auch nicht die einzelnen Muskelkontraktionen und motori- 
schen Nervenerregungen dadurch in ihrem physiologischen 
Ablauf zu erklären. 
7. Die rein kausale Betrachtung kennt erstlich keinen 
Wertunterschied zwischen Ursache und Wirkung. Beide 
sind nur flüchtige Durchgangspunkte in dem Weltlauf, 
jede von ihnen heißt Ursache bzw. Wirkung nur in bezug 
auf die zu ihr in Beziehung gesetzte Wirkung bzw. Ursache 
und die Wirkung kann daher mit Eücksicht auf eine ihr 
folgende, aus ihr abzuleitende Erscheinung als Ursache, die 
Ursache ebenso mit Rücksicht auf eine ihr vorausgehende 
Erscheinung als Wirkung angesehen werden. Die Begriffe 
von Nutzen und Schaden, von Wohl und Wehe, von erhal- 
tungsgemäßem und erhaltungswidrigem Geschehen finden 
im einzelnen keine Anwendung in der leblosen Natur, weil 
sie keine ausgezeichneten dauernden Wirkungen kennt, 
auf die alles hinzuarbeiten scheint. 
Für die finale Betrachtung aber besteht ein Wertunter- 
schied z\vischen dem konstanten Zweck und den verschie- 
denen Mitteln, und diese selbst werden, je nachdem sie mehr 
oder weniger leicht, rasch oder vollkommen ihr Ziel erreichen, 
als mehr oder minder zweckmäßig und damit wertvoll be- 
trachtet. Für lebende Wesen hat es einen guten Sinn, von 
Nutzen und Schaden zu reden, und wir finden bei ihnen 
genug erhaltungswidrige, Wohl und Dasein bedrohende Um- 
stände, um im Gegensatz dazu das Erhaltungsgemäße be- 
sonders hervorheben zu dürfen. 
8. Ein zweiter sekundärer Unterschied zwischen Kausa- 
lität und Finalität besteht in folgendem. Alle kausale Auf- 
fassung und Untersuchung hat eine rückwärts gewandte 
(retrospektive) Tendenz, d. h. die Wirkung hängt nur von 
der (vorausgehenden) Ursache, ab. Es hat keinen Sinn zu 
behaupten, daß die Drehung der Magnetnadel auf die An- 
näherung des Eisenstabes einen Einfluß habe. Bei der 
271 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Finalität dagegen scheint uns in der Tat eine solche vor- 
blickende (prospektive) Tendenz vorzuliegen, vermöge 
deren die Mittel auf den Zweck abzielen und dieser sie 
geradezu vorausbestimmt. Wenn sich z. B. der Stoff- 
wechsel in den Organismen immer so vollzieht, daß deren 
Form erhalten bleibt, daß die einzelnen Teile in Ent- 
sprechung miteinander wachsen, wenn die Sinnesorgane 
so funktionieren und mit solchen Hilfsmitteln ausgestattet 
sind, daß wir eine möglichst vollkommene Kenntnis der 
Außenwelt erlangen können, wenn der Verdauungsapparat 
so eingerichtet ist, daß die für die Ernährung brauchbaren 
Stoffe assimiliert und die anderen ausgeschieden werden, so 
schreiben wir diesen Tätigkeiten eine bestimmte Eichtung zu 
und betrachten den durch sie erreichten Zweck als irgendwie 
mitwirkende Bedingung für ihre Leistung. Das Dasein eines 
Organs machen wir von seiner Funktion, diese von ihrer Wir- 
kung abhängig. Auch wenn es gelingen sollte, die einzelnen 
kausalen Faktoren in diesen Fällen aufzudecken, d. h. 
alle Einzelheiten mechanistisch zu erklären, so wüi'de doch 
noch ein unverständlicher Best übrig bleiben, eben dies Zu- 
sammenwirken zu derselben Gesamtwirkung oder 
die aktive, sich selbst regulierende Einheit des Organismus. 
Die mechanistische Betrachtung darf sich nicht darauf be- 
schränken, die einzelnen Kausalketten gleichsam nur als 
isolierte Linien zu verfolgen, sie muß beachten, daß die in 
der Erfahrung gegebene Einheitlichkeit des Organismus 
(die wir als Zweckmäßigkeit beurteilen) nur aus Gesetzen 
des Zusammenwirkens wechselseitiger Bedingung zahl- 
reicher Kausalfaktoren zu erklären ist. Solange dies nicht 
erreicht ist, wird der Vitalismus dem Mechanismus immer 
mit Eecht den Vorhalt machen, er könne die Konstanz 
der Wirkung nicht verständlich machen, und es sei somit 
eine prospektive Tendenz, ein Abzielen auf den Zweck usw. 
gefordert. Damit streitet nicht, daß es auch in der organischen 
Welt vieles Unzweckmäßige gibt oder daß die Zweck- 
mäßigkeit ihre Grenzen hat. Alles Unzweckmäßige ist 
genauer betrachtet nur eine unvollständige oder einge- 
schränkte Zweckmäßigkeit, und diese hebt den allgemeinen 
272 
§ 23. Mechanismus und Teleologie. 
Charakter der Finalität offenbar nicht auf. Das Problem, 
welches dann allein noch übrig bleibt, ist die Frage nach 
dem Grunde des in der Natur anzutreffenden Unterschieds 
zwischen Erscheinungen, die sich teleologisch begreifen 
lassen, und anderen, bei denen der Mechanismus ausreicht, 
oder mit anderen Worten zwischen Erscheinungen, die 
eine konstante Wirkung aufweisen, und solchen, die keine 
ausgezeichneten, trotz verschiedener Mittel gleichartigen 
Wirkungen erkennen lassen. 
9. Für die Beantwortung dieser Frage stehen uns zwei dem 
organischen Leben verwandte Tatsachen zur Verfügung: die 
Maschinen und das bewußte Wollen und Handeln 
des Menschen. Auch bei den Maschinen — um mit diesen 
zu beginnen — ist eine konstante Wirkung vorhanden, die 
durch ein kunstreiches Zusammenwirken aller Teile ermög- 
licht und hervorgebracht wird, auch bei ihnen ist das Ver- 
ständnis für ihre einzelnen Stücke und deren Leistung nur 
aus der Gesamtleistung zu gewinnen, und den Wert der 
ganzen Maschine und ihrer Besonderheiten bestimmen wir 
nach dem Maße, in dem sie jene Hauptarbeit verwirklichen. 
Aber das Ziel ist hier ein äußeres, nicht ein inneres, von der 
Maschine selbst gesetztes. Sie empfindet weder ihre Mängel 
noch ihre Vorzüge; sie ergänzt sich nicht selbst, wenn sie 
etwa ein Eädchen verloren hat ; sie pflanzt sich nicht fort, 
weder durch Teilung, noch geschlechtlich; sie verfügt über 
keine aktive Selbstregulierung; sie hat keine Anpassungs- 
fähigkeit an wechselnde äußere Umstände, sie weiß sich nicht 
in andere Verhältnisse, als für die sie gebaut und bestimmt 
ist, zu schicken. Der Zweck, den sie erfüllt, ist somit für sie 
selbst ein zufälliger, ihr von außen auf- und eingeprägter. 
Sie verhält sich nur zweckmäßig, weil sie so eingerichtet und 
gemacht, konstmieit und ausgeführt ist. Bei aller Verwandt- 
schaft mit dem Lebendigen bleibt sie daher ein totes 
Kunstwerk, dessen Scheinleben erborgt ist, und das der 
Pflege und Leitung nicht entraten kann. Das ihr geliehene 
Leben aber stammt aus der Quelle, die wir an zweiter Stelle 
oben unter den nächstverwandten Tatsachen aufgeführt 
haben, aus dem bewußten Wollen und Handeln des Menschen. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 18 
273 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
10. Daß wir in unserem Bewußtsein eine innere und primäre 
Zweckmäßigkeit antreffen, wird nicht bezweifelt. Durch die 
Zweckvorstellung, die eine wahre Vorausnahme der er- 
strebten Wirkung ist, erhalten die zu seiner Erreichung an- 
gewandten Mittel eine prospektive Tendenz in natürlichster 
Form. Hier hat daher auch der Begriff der »Zweckursache«, 
der causa finalis, seinen wohlverständlichen Sinn und seine 
unangetastete Berechtigung. Der Mensch weiß sich zugleich 
als ein innerhalb weiter Grenzen selbständiges Wesen, das 
die IVIittel wählt und dafüi' Sorge tragen kann, daß zufällige 
Einflüsse ihr Abzielen auf den beabsichtigten Zweck nicht 
verhindern. Mannigfaltige Wege zur Erreichung des gesteckt 
ten Zieles stehen dabei offen, und insbesondere bei höheren 
umfassenderen, von Grundsätzen und einer Lebensanschau- 
ung getragenen Zielen ist eine konstante Wirkung mit einer 
Mannigfaltigkeit von Mitteln verbunden. Die sittliche Per- 
sönlichkeit ist eine in ausgezeichnetem Maße Zwecke setzende 
und nach Zwecken handelnde, und sie durchdringt den ganzen 
zu ihr gehörigen Organismus, indem sie ihn den Aufgaben 
dienstbar macht, die sie sich stellen zu sollen glaubt. Soweit 
bewußtes Wollen wirksam ist, soweit darf somit die Zweck- 
mäßigkeit des Lebens davon abhängig erscheinen. 
Aber der Geltungsbereich dieser Tätigkeit ist erfahrungs- 
gemäß ein beschränkter. Die vegetativen Funktionen der 
Organismen sind ihm entzogen, und es ist sehr fraglich, ob 
ein Bewußtsein überhaupt allen Lebewesen zugesprochen 
werden darf. Man \\ird daher die Analogie der organischen 
mit der im Bewußtsein hervortretenden Zweckmäßigkeit 
nur in dem Sinne verwerten können, daß man von der Seele 
oder psychischen Faktoren im allgemeinen redet und diese 
mit dem Bewußtsein nicht gleichsetzt. Also nur wenn man 
im Gegensatz zu Descartes und einer Anzahl moderner 
Psychologen das Psychische auch in unbewußter Form für 
möglich hält und zugleich die Zweckmäßigkeit an diese 
allgemeinere Form des Psychischen bindet, wird man auf 
dem hier bezeichneten Wege zu einer Erklärung der Finalität 
gelangen. Diese Konsequenz haben auch die modernen 
Biologen, die, wie Pauly, Driesch, Wolff oder Neu- 
274 
§ 23. Mechanismus und Teleologie. 
meist er, von psychischen oder psychoiden Faktoren behufs 
einer Erklärung der organischen Zweckmäßigkeit reden, un- 
bedenldich gezogen. Als ein Kennzeichen des Psychischen 
und damit der lebenden Substanz gilt dabei vielfach die 
Fähigkeit »Erfahrungen« zu machen und zu verwerten, sich 
an neue Aufgaben anzupassen, zu lernen, also das Gedächtnis 
im weitesten Sinne. Finalität als Organisation der Mittel 
zur Erreichung eines bestimmten Zweckes würde hiernach 
nicht nur dort möglich sein, wo bewußte Vorausnahme und 
Auswahl stattfindet, sondern in allen Fällen, wo frühere 
»Erfahrungen« (die bei Vererbung erworbener Eigenschaften 
auch durch Fortpflanzung übertragbar wären) einen be- 
stimmenden Einfluß auf späteres Verhalten gewinnen. 
11. Die zweckmäßigen Eeaktionen einer Amöbe oder der 
Blutkörperchen im tierischen Blut oder die erhaltungs- 
gemäße Funktion des Darms, Herzens und Magens, der 
Nieren und der Lungen würden hiernach durch eine Psyche, 
die ihnen zuzuschreiben wäre, und der wir ein Analogon des 
aus unserem bewußten Handeln bekannten Zwecksetzens und 
-erstrebens beilegen müßten, bestimmt werden. Auch den 
Pflanzen wäre dann eine Art von Seele zuzuerkennen, wofür 
besonders Fechner in seiner »Nanna« (2. Aufl. 1899) geist- 
reich und entschieden eingetreten ist. Diese Ansicht ist die 
einzige, die empirisch übrig bleibt, wenn man nicht in der 
Finalität lediglich eine vor^issenschaftliche Ansicht sieht, 
die durch kausale ersetzt werden müsse; wobei aber die 
eigenartige Kombination der Kausalreihen im Organismus 
ebenfalls rein kausal erklärt werden müßte. Aber wer 
erkenntnistheoretisch (vgl. § 28, 8 ff.) zu der Überzeugung 
gelangt ist, daß es sich bei unserem Bewußtsein nur um 
psychische Erscheinungen, nicht um den Gesamtumfang 
des psychisch Eealen handelt, wird keine grundsätzliche 
Schwierigkeit darin sehen, den Begriff des unbewußt Psy- 
chischen zu bilden und allen lebenden Zellen etwas Seelen- 
artiges beizulegen. Das Vorurteil, daß jenseits des Bewußt- 
seins von keinerlei Seelischem geredet werden düi'fe (vgl. 
§ 20, 6), und die damit zusammenhängende Vorstellung, 
als erfasse man im Bewußtsein unmittelbar und ohne jegliche 
18* 
275 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Trübung das Psychische, sowie es an sich ist, haben von 
diesem Standpunkt aus keine Geltung. 
12. Und hier eröffnet sich uns zugleich ein Einblick allge- 
meinerer Art. Daß der Mechanismus für die leblose Natur 
recht hat, wird nicht bestritten; daß die Teleologie für das 
bewußte Wollen und Handeln des Menschen zutrifft, ebenso- 
wenig. Aber das Zwischenreich, die Lebensvorgänge, werden 
teils von dem Mechanismus in Anspruch genommen, teils als 
finale anerkannt. Da liegt es doch wohl nahe, zu sagen: 
sofern leblose Natur in ihnen steckt und wirkt, die Stoffe 
und Kräfte des physikalisch-chemischen Geschehens eine 
EoUe spielen, hat auch der Mechanismus sein Eecht auf die 
Organismen; sofern aber geistige Vorgänge, psychische Fak- 
toren das Lebendige durchdringen und ihre eigentümliche 
Zielstrebigkeit und ihre empirisch bedingten Regulationen 
betätigen, besteht eine Autonomie der Lebensvorgänge, ein 
Vitalismus, eine Teleologie zu Eecht. 
Diese Formulierung führt uns in die Metaphysik hinüber. 
Wir haben bei der Prüfung der Eichtungen, welche die Qua- 
lität des seienden Eealen zu bestimmen sich bemühen, auf 
den Dualismus als die wahrscheinlichste Auffassung hin- 
gewiesen. Mit ihm verträgt sich das Ergebnis, zu dem wir 
hinsichtlich des Mechanismus und der Teleologie gelangt 
sind, auf das Beste. Das reale Sein ist von zweierlei Art, 
und dem entspricht eine doppelte Gesetzmäßigkeit des Ge- 
schehens, eine kausale und eine finale. Dabei ist die teleo- 
logische Betrachtung nicht eine Aufhebung, sondern eine 
Ergänzung der mechanistischen, wie sich in und an der 
lebenden Natur zeigt. Eine Ausdehnung der teleologischen 
Auffassung auf die leblose Natur und damit auf das 
ganze Universum aber ließe sich nur so durchgeführt 
denken, daß man jene als eine Maschine ansähe, die so ein- 
gerichtet wäre, daß sie zweckmäßige, d. h. Leben und Be- 
wußtsein ermöglichende Leistungen vollbringt. Dann trüge 
die leblose Natur nicht ihren Zweck in sich, sondern erhielte 
ihn durch ihren Künstler, eine zwecksetzende Intelligenz, 
die sich damit zugleich als eine den finalen Einheiten 
lebender Organismen übergeordnete, auch sie beherrschend 
276 
§ 23. Mechanismus und Teleologie. 
und auf ein allgemeines Ziel des Universums hinführende 
Macht erwiese. Daß dieses Ziel nicht der Mensch und die 
Befriedigung seiner Bedürfnisse ist, wie eine kurzsichtige 
Teleologie noch im 18. Jahrhundert annahm, braucht heute 
nicht mehr ausdrücklich gesagt zu werden. Vielmehr wird 
eine wissenschaftliche Metaphysik hier einhalten und auf 
eine bloße Spekulation verzichten müssen. Die Frage 
nach dem letzten Zweck des Universums ist ebenso wie 
die Frage nach seiner letzten Ursache (vgl. § 18, 2. 5) in 
ein für die wissenschaftliche Untersuchung undurchdring- 
liches Dunkel gehüllt. 
LITERATUR: 
E. Becher: Leben und Seele. Deutsche Rundschau Nov, 1912. 
Th. Boveri: Die Organismen als historische Wesen, 1906. 
K. Braeunig: Mechanismus und Vitalismus in der Biologie des 19. Jahr- 
hunderts, 1907 (gegen den Vitalismus). 
O. Bütschli: Mechanismus und Vitalismus, 1901. 
P. N. Goß mann: Elemente der empirischen Teleologie, 1899. 
H. Driesch: Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre*, 1905. Natur- 
begriffe und Natururteile, 1904. Philosophie des Organischen, 1909. 
Rud. Eisler: Der Zweck. Seine Bedeutung für Natur und Geist, 1914. 
E. V. Hartmann: Das Problem des Lebens, 1906. 
N. Hartmann, Philosophische Grundfragen der Biologie* 1912 (führt 
gut ein in das Verhältnis von mechanischer und vitalistischer Biologie). 
O. Hartwig, Allgemeine Biologie, 1906. 
L. T. Hobhouse: Development and Purpose. An essay toivards a philo- 
sophy of evolution, 1913 (teleologische Erklärung bedeutet nach dem 
Verf. stets die Beziehung des zu Erklärenden auf ein Wertziel, dem 
es dient). 
P. Jensen: Organische Zweckmäßigkeit, Entwicklung und Vererbung 
vom Standpunkte des Physiologen, 1907. 
E. König: Die Entwicklung des Kausalproblems, 2 Bde. 1888, 1890. 
R. Kroner: Zweck und Gesetz in der Biologie, 1913. 
A. Lang: Das Kausalproblem. I. Geschichte des Kaiisalproblems, 1904. 
R. Neuraeister: Betrachtungen über das Wesen der Lebenserschei- 
nungen, 1903. 
A. Pauly: Darwinismus und Lamarekismus, 1905. 
W. Roux: Die Entwicklungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen 
Wissenschaft, 1905. 
K. C. Schneider: Vitalismus, 1903. 
J. Schultz: Die Maschinentheorio des Lebens, 1909 (für den Mecha- 
nismus), 
277 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Ch. Sigwart: Der Kampf gegen den Zweck. Kleine Schriften II, 
2. Aufl. 1889. 
A. Stadler: Kants Teleologie, 1874. 
W. Stern: Person und Sache*. System d. philos. Weltanschauung I. 
1906, II. (Die menschliche Persönlichkeit), 1918; 2. Aufl. 1920 (ver- 
tritt eine teleologische Weltanschauung ; vgl. auch seine Schrift: Die 
Psychologie und der Personalismus, 1917). 
.\. Stöhr: Der Begriff des Lebens, 1909 (eine Entwicklungsgeschichte 
4ieses Begriffs). 
F. Strecker: Das Kausalitätsprinzip der Biologie, 1907 (sucht Mechanis- 
mus und Vitalismus dui'ch eine psychologische Betrachtungsweise sni 
überwinden). 
de Vries: Mutation, 1901. 
E. Wasmann, S. J. : Die moderne Biologie und die Entwicklungs- 
theorie, 3. Aufl. 1906. 
A. Weißmann: Vorlesungen über Deszendenztheorie. 2. Aufl. 1904. 
G. W^olff : Zur Kritik der Darwinschen Theorie, 1898. Mechanismus 
und Vitalismus, 2. Aufl. 1905 (gegen Bütschli [s. o.] gerichtet). 
§ 24. OPTIMISMUS UND PESSIMISMUS. 
1. Die letzte allgemeine metaphysisclie Frage betrifft den 
Wert des aus und nach den besprochenen Prinzipien Ent- 
standenen nnd Gewordenen, des Seins und Geschehens in 
der Welt. Alle Wertbestimmung aber setzt einen Maßstab 
des Wertens voraus, der ein objektiver oder subjektiver 
sein kann. Objektiv ist er, wenn das Gewertete mit etwas 
anderem ebenso gegenständlich Gegebenen verglichen wird. 
So wird z. B. der Wert des Geldes an den Waren gemessen, 
die man dafür erwerben kann, oder eine Werteinheit wird 
willkürlich festgesetzt, auf die sich alle zu bestimmenden 
Werte beziehen lassen. Wie eine beliebige Länge als ein 
Vielfaches von einem Meter darstellbar ist, so läßt sich auch 
ein beliebiger Wert als ein Vielfaches einer solchen Wert- 
einheit ausdrücken. Damit soll nun aber nicht behauptet 
werden, daß sich alle Werte in einer Werteinheit aus- 
drücken ließen. Dem widerspricht die Tatsache, daß wir 
verschiedene Arten von Werten unterscheiden, wie An- 
nehmlichkeitswerte (Lust, Unlust), Lebens(Vital-)werte (wie 
Gesundheit, Kraft), geistige Werte (wie Erkenntnis, Kecht, 
Sittlichkeit, Kunst, Eeligion). Diese Verschiedenartigkeit 
278 
§ 24. Optimismus und Pessimismus. 
schließt zwar nicht jede Vergleichbarkeit aus. Im allge 
•meinen gelten z. B. die geistigen Werte höher als die sog, 
materiellen, d. h. die Annehmlichkeits- und Vitalwerte (vgl 
Schillers Wort: Das Leben ist der Güter Höchstes nicht) 
Aber die bei solchen Vergleichen sich aufdrängende Eang- 
Ordnung stellt sich uns nicht als eine quantitative dar, 
Denn wir werden es bestreiten, daß durch ein noch so großes 
Quantum sinnlicher Lust (das an sich einen positiven Wert 
darstellen würde) der Unwert einer schurkigen Handlung 
aufgewogen werden könne. Somit haben wir den ge- 
nannten Wertarten gegenüber das Bewußtsein objektiver 
Werte und objektiver Wertunterschiede, ohne daß wir diese 
doch vermittelst einer gemeinsamen Werteinheit messen 
könnten. 
Eine objektive Wertbestimmung ist auch auf Grund des 
Verhältnisses zwischen dem Zweck und den ihn ver^\irk- 
lichenden Mitteln (vgl. § 23, 6) durchzuführen. Als Maß- 
stab gilt hier die bestmögliche Erreichung des Ziels, die voll- 
kommenste Erfüllung der in dem Zweck den Mitteln gesetzten 
Aufgabe. Je tauglicher ein Werkzeug ist, um die ihm zuge- 
dachte Leistung zu vollbringen, um so mehr Wert schreiben 
wir ihm hiernach zu; je besser und einfacher eine Theorie 
einen Erscheinungszusammenhang erklären kann, um so 
größer erscheint uns ihr wissenschaftlicher Wert. Es ist aber 
einleuchtend, daß diese Art des Messens nicht wie das vorige 
auf das in sich Wertvolle (auf Selbstwerte), sondern nur auf 
solches, das abgeleiteten Wert besitzt, angewandt werden 
kann. Denn die Mittel sind nur wertvoll, sofern der Zweck, 
dessen Verwirklichung sie dienen, gewertet wird; sie emp- 
fangen also von diesem erst ihren Wert. 
Subjektiv ist ein W^ertmaßstab dann, wenn ein persön- 
liches Verhalten des wertenden Subjekts, sein Bedürfnis, sein 
Wohl und Wehe, sein Wunsch oder seine Absicht, der Wert- 
bestimmung zugninde liegt. Individuelle Anlagen, zufällige 
Neigungen oder Abneigungen spielen hier eine große Eolle 
und geben der Wertung einen schwankenden, von Fall zu 
Fall, von Subjekt zu Subjekt wechselnden Charakter. 
Man hat sogar alles Werten und Vorziehenfür subjektiv er- 
279 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
klärt und dies durch folgende Erwägung zu begründen ge- 
sucht : Sobald wir die Beziehung auf wertendcWesen überhaupt 
ausschalten, bleibt nichts mehr von eigentlichen Wertunter- 
schieden übrig. Für eine rein theoretische, von Anerkennen 
und Verwerfen, von Billigen und Mißbilligen, von Vorziehen 
und Abweisen freie Weltbetrachtung verliert der Begriff 
eines Wertes und einer Wertabstufung sowie der des Gutes 
und Übels^) seinen Sinn. Will man, angesichts dieser all- 
gemeinen Subjektivität des Wertschätzens noch von objektiv 
gültigen Werturteilen reden, so würden das solche sein, die 
von allen oder wenigstens von einer überwiegenden Mehrheit 
gefällt werden. 
Dieser Umdeutuug des objektiv Gültigen in das tatsächlich 
allgemein Anerkannte widersetzt sich aber unser Bewußt- 
sein, daß diese Begriffe verschiedenen Sinn haben. Auch 
sind wir überzeugt, daß Einzelne oder Minderheiten doch 
in ihren Bewertungen (z. B. sittlicher oder künstlerischer 
Art) recht haben können. Es würde endlich jede Erörterung 
über die objektive Eichtigkeit von Werturteilen sinnlos 
sein, wenn in ihnen nur subjektive Zustände und Stellung- 
nahmen zum Ausdruck kämen. 
Übrigens ist auch alles theoretische Urteilen (d. h. solches 
über Seinsfragen) subjektiv in dem Sinne, daß es sich in 
Denkakten von Subjekten verwirklicht. Das schließt aber 
nicht aus, daß wir den Inhalten solcher Urteile objektive 
Gültigkeit zuschreiben. Analoges gilt doch wohl auch für 
Werturteile. Freilich stehen die Untersuchungen über die 
objektiven Werte, ihre Arten, ihre Rangordnung, noch in 
den Anfängen, und wir sind noch weit davon entfernt, eine 
zulängliche Werttheorie zu besitzen. Dieser Mangel macht 
sich natürlich auch bei unserer Stellungnahme gegenüber 
dem Streit des Optimismus und Pessimismus geltend. 
2. DerOptimismus behauptet und lehrt den Wert dcrWelt, 
der Pessimismus ihren Unwert. Nach jenem ist sie sogar 
*) Die Ausdrücke Wert und Gut werden vielfach als gleichbedeutend 
gebraucht. Oft unterscheidet man sie auch so, daß man unter Gut den 
Träger von Wert versteht. In diesem Sinne kann man sagen : die Welt 
ist ein Gut, sofern sie Wert hat. 
280 
§ 24. Optimismus und Pessimismus. 
die beste unter den möglichen Welten (daher der von Crousaz 
[t 1748] stammende Name!), nach diesem kann sie kaum 
schlechter sein als sie ist. Dabei hat man auseinanderzu- 
halten einen praktischen und theoretischen, sowie einen 
empirischen und metaphysischen oder spekulativen, 
einen individuellen und universellen Standpunkt dieses 
Namens. Der praktische Optimismus bzw. Pessimismus ist 
ein Grundsatz, der für das Wollen und Handeln Geltung hat 
und von Vertrauen bzw. Mißtrauen zu den Menschen und 
Verhältnissen, zum Geschick und zu der Zukunft begleitet 
wird. Die empirischen Anschauungen optimistischer oder 
pessimistischer Art stützen sich auf Erfahningen und werden 
nur für den Umkreis des erfahrungsmäßig Gegebenen be- 
hauptet. Von einem individuellen Optimismus und Pessimis- 
mus reden wir mit Kücksicht auf bestimmte Fälle oder Per- 
sonen. Für unsere Aufgabe kommen nur der theoretische, 
metaphysische und universelle Standpunkt in Betracht, der 
eine Lehre, keine Maxime für das praktische Verhalten, eine 
die ganze Welt in ihrer Eealität, in ihrem gesamten Sein 
und Geschehen umspannende, nicht eine auf Einzelerschei- 
nungen oder das empirisch Zugängliche beschränkte Auf- 
fassung sein will. Innerhalb dieses Standpunktes aber kann 
die Begründung teils eine prinzipielle, teils eine faktische 
sein. Prinzipiell ist sie, wenn aus den die Welt erldärenden, 
bei ihrer Entstehung und Entwicklung wirksamen Faktoren 
Wert oder Unwert derselben abgeleitet wird. Indem Leibniz 
aus der Allmacht Gottes, des Allgütigen, die Welt hervor- 
gehen läßt, kommt er auf dem Wege prinzipieller Begründung 
zu der Ansicht, daß sie die beste unter den möglichen Welten 
sein muß. Sucht dagegen ein Pessinüst, wie Schopenhauer, 
zu zeigen, daß die Übel tatsächlich an Größe und Bedeutung 
die Güter in der Welt weit überragen, so liefert er eine fak- 
tische Begründung für die pessimistische Theorie. Da nun 
eine solche faktische Begründung immer nur für einen em- 
pirischen, nicht aber für einen metaphysischen Optimismus 
oder Pessimismus ausreichen kann, so muß der letztere stets 
eine prinzipielle Begründung anstreben. Aber die faktische 
pflegt ihm den Weg dazu zu ebnen, und ein Widerspruch 
281 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
zwischen ihren Ergebnissen muß im Interesse einer in sich 
übereinstimmenden Weltanschauung vermieden werden. 
3. Alle Wertbestimmung erfolgt unter richtunggebenden 
Gesichtspunkten, die für einen und denselben Gegenstand 
der Wertung verschieden sein können. Ein Gemälde z. B., 
das eine Schlacht darstellt, kann ästhetisch betrachtet einen 
hohen Wert haben, dagegen wissenschaftlich, d. h. auf seine 
geschichtliche Wahrheit geprüft, wertlos sein. Eine Theorie 
kann von rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus eine 
wertvolle Leistung bilden und zugleich praktisch als gänzlich 
unbrauchbar gelten. Die Begriffe von Wert und Unwert sind 
daher genauer zu bestimmen, wenn sie eindeutig werden 
sollen. Für die Welt als Ganzes müßte gefordert werden, daß 
sie nach der optimistischen Auffassung in jeder Eichtung 
gut, nach der pessimistischen in jeder Eichtung schlecht sei, 
oder daß wenigstens ein Übergewicht des Guten bzw. 
Schlechten vorliege. In der Tat preist der Optimist die 
Schönheit der Welt, hebt er ihre Zweckmäßigkeit und Ord- 
nung anerkennend hervor und entdeckt er in ihrer Ent- 
wicklung einen Fortschritt zum Besseren, Vollkommeneren, 
Höheren. Daneben werden in der Eegel mehrere Arten von 
Übel unterschieden. Das metaphysische Ül3el besteht in der 
Endlichkeit und den mit ihr zusammenhängenden Mängeln 
und Gebrechen auf körperlicher und auf geistiger Seite. Ein 
physisches Übel ist aller Schmerz, mag er duiTh Unglück oder 
Not, Verletzung oder Enttäuschung bedingt sein. Das 
moralische Übel endlich beruht auf dem bösen Willen und der 
entsprechenden Gesinnung. Zu diesen namentlich von 
Leibniz eingehend behandelten Formen des Unwerts hat 
Kant noch eine weitere gefügt, indem er das Mißverhältnis 
zwischen Verbrechen und Strafe, zwischen Tugend und Glück, 
also den Mangel einer ausgleichenden Gerechtigkeit betonte. 
Aber die Mannigfaltigkeit der möglichen Wertrichtungen ist 
damit keineswegs erschöpft. So kann man z. B. noch die 
Begreiflichkeit der Welt für ihre W^rtbestimmung in An- 
schlag bringen. In dem Maße, als sie für verständlich ge- 
halten wird, würde sie von diesem Gesichtspunkt aus einen 
Wert darstellen, während die Fülle des Unbegriffenen, ein 
282 
§ 24. Optimismus und Pessimismus. 
Ignoramus und Ignorabimus'^), das für ihre Bätsei von Du 
Bois-Eeymond nachdrücklich behauptet worden ist, sie 
zu einem Unwert stempeln würde. Um dieser schier unab- 
sehbaren Vielheit von Wertgesichtspunkten Herr zu werden, 
hat man den Versuch gewagt, sie alle auf einen einzigen 
zurückzuführen. Leibniz ist z. B. der Ansicht gewesen, daß 
alle Übel in dem metaphysischen Übel ihre Quelle haben, 
also durch die Endlichkeit und Un Vollkommenheit des Ge- 
schöpflichen bedingt sind. 
4. Nach diesen allgemeinen Auseinandersetzungen über 
die Grundlagen und Formen des Optimismus und Pessimismus 
wenden mr uns zu einer kurzen Schilderung der geschicht- 
lichen Entwicklung beider Bichtungen. Im Altertum hat 
die indische Philosophie zwar einen Pessimismus hinsicht- 
lich des Begehrens und Handelns vertreten, aus denen nur 
Leiden hervorgehen sollen, aber zugleich die Erlösung von 
ihnen als möglich gelehrt. Die Erkenntnis, das richtige Wissen 
befreien von allen Übeln und verschaffen selige Buhe, die 
auch im Nirvänam der Buddhisten verheißen wird. In der 
griechischen Philosophie herrscht ein entschiedener Opti- 
mismus vor. Das Seiende erscheint den Eleaten, Piaton, 
den Neuplatonikern ohne weiteres als das Gute und 
Schöne, das Nichtseiende, bloß Scheinende dagegen, das 
gelegentlich auch Materie heißt, wird zum Bösen oder zur 
Quelle des Bösen. Das Seiende, könnte man etwa argumen- 
tieren, beweist durch sein Sein, daß es zu sein verdient, muß 
also gut sein. Und die Stoiker sind geneigt, in den mora- 
lischen Übeln bloße Folgen der menschlichen Unvollkommen- 
heit zu erblicken und die physischen Übel als Strafen für 
Verfehlungen oder als Förderungsmittel der Tugend zu be- 
trachten. Nur ein Pessimist wird erwähnt: Hegesias (um 
280 V. Chr.) mit dem Beinamen Peisithanatos, »der 
zum Selbstmord Überredende«, der zur Schule der Kyrenaiker 
gehörte. Die Glückseligkeit, nach der alle streben, ist nach 
seiner Auffassung unmöglich, weil allzu viele Gefahren und 
Übel uns bedrohen. 
*) Wir wissen es nicht und werden es nicht wissen. 
283 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
5. Für die Philosophie des Christentums verbinden 
sich ein Diesseits- und Gegenwartspessimismus mit einem 
Jenseits- und Zukunftsoptimismus. Die Welt war vollkom- 
men, frei von Schuld und Übeln aus der Hand des allmächtigen 
und allgütigen Gottes hervorgegangen. Der Sündenfall 
des ersten Menschenpaares hat eine Erbsünde begründet 
und das Paradies für diese Welt verschlossen. Eine ewige 
Seligkeit aber wird denen verheißen, die an den Erlöser 
Christus glauben, der die Schuld der Menschheit auf sich 
genommen und durch seinen Tod gesühnt hat, und die seiner 
Lehre gemäß auf dem engen Pfade der Tugend bleiben. 
Unter dem Einfluß der starken Erwartung einer Wiederkunft 
Christi, der heftigen Verfolgungen, denen die Christen in den 
ersten Jahrhunderten ausgesetzt waren, und der strengen 
Sonderung von den Lasterhaften und Ungläubigen bildet 
sich im Christentum ein entschiedener Diesseitspessimismus 
aus, der namentlich bei den Gnostikern eine spekulative 
Gestalt erhält. Daneben bemühen sich jedoch die Kirchen- 
väter zu zeigen, daß die Welt durch ihre Schönheit und Ord- 
nung ihren göttlichen Ursprung dartut und daß die Übel das 
Gute so wenig zu beeinträchtigen imstande sind, wie die 
Schatten das Licht oder die Schuttmassen die Trefflichkeit 
eines Bauwerks. Contrariorum opposUione sae.cull pulchritudo 
componitur (aus Gegensätzen setzt sich die Schönheit der 
Welt zusammen), erklärt Augustin, und weil aus dem 
Bösen Gutes hervorgehen könne, werde Gott das Böse zu- 
gelassen haben. So wird der Optimismus zur Theodicee, 
zur Eechtfertigung des Welturhebers und -lenkers. 
Am eingehendsten hat Leibniz {Theodicee, 1710)die Lehre 
von der besten der möglichen Welten ausgebildet. Gott 
wählte nach dem principe du meilleur (vgl. § 15, 3) unter den 
zahllosen denkbaren Welten die vollkommenste aus, die 
freilich als Schöpfung mit dem Makel der Endlichkeit be- 
haftet sein mußte. Und so ist denn das Monadenreich mit 
seiner prästabilierten Harmonie (vgl. § 20, 2) von der größt- 
möglichen Zweckmäßigkeit beherrscht. An dieser Über- 
zeugung können die Übel, die wir wahrnehmen, nicht irre 
machen. Denn sie verlieren ihre Bedeutung, sobald man nicht 
284 
§ 24. Optimismus und Pessimismus. 
seinen Standpunkt für die Beurteilung auf der Erde nimmt, 
sondern sein Auge in die Sonne stellt. Dann werden die 
alltäglichen und regelmäßigen Güter, die uns so leicht als 
selbstverständlich erscheinen, vor den wegen ihrer Selten- 
heit auffallenderen tlbeln den ihnen gebührenden Vorrang 
behaupten. Dieser Optimismus erfährt eine beachtenswerte 
Verschiebung durch Lessing und Herder. Die Welt ist 
nach ihnen nicht die beste unter den möglichen Welten, aber 
sie wächst und entwickelt sich in dieser Kichtung. Wo 
irgend Menschen wohnen, da werden nach Herder dereinst 
vernünftige, billige und glückliche Menschen wohnen. Die 
Geschichte ist nach Lessing eine im Sinne des Fortschritts 
sich vollziehende Entwicklung, die zugleich den Charakter 
einer »Erziehung des Menschengeschlechts« hat. Die groß- 
artigste Durchführung hat ein solcher evolutionistischer 
Optimismus bei Hegel gefunden. Kampf und Überwindung, 
Selbstentzweiung und Untergang sind notwendige Durch- 
gangsstufen, mit deren Hilfe die Vernunft ihre Werte und 
Zwecke verwirklicht. 
6. Der Pessimismus als Weltanschauung fand im Abend- 
lande seine wirksamste Begründung durch Schopenhauer, 
dessen Ausführungen eine deutliche innere Verwandtschaft 
mit der indischen Philosophie in den Upanishads, in dem 
System des Vedänta und im Buddhismus aufweisen. Die 
spekulative Begründung stützt sich auf den Gedanken, der 
eigentliche Kern der Welt sei Wille, d. h. ein endloses, blindes 
Streben und Drängen. Zum Wesen dieses Willens gehört 
Abwesenheit alles Zieles und aller Grenzen. Das Streben 
kann nur gehemmt, nie und nimmer gestillt irnd befriedigt 
werden. Jeder einzelne Willensakt hat einen Zweck, das ge- 
samte Wollen keinen. Darum gibt es keine Euhe und keinen 
Frieden, so lange der Wille tätig ist. In unruhiger Sehnsucht, 
wildem Verlangen, ungezügelter Gier treibt er von Objekt zu 
Objekt, von Handlung zu Handlung, von Zustand zu Zu- 
stand. Kein Genuß vermag mehr als nur vorübergehend 
zu befriedigen. Für einen erfüllten Wunsch bleiben zehn 
andere unerfüllt, und »im Genuß verschmacht' ich nach Be- 
gierde«. 
285 
///. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
Unterstützt wird diese, den notwendigen Zusammenhang 
von Wollen und Unbefriedigtsein aufzeigende Betrachtung 
durch die empirische Schilderung aller Schattenseiten des 
Lebens. »Jedes ein Jäger und jedes gejagt, Gedränge, 
Mangel, Not und Angst, Geschrei und Geheul — und das 
geht so fort, in saecula saeculorum oder bis einmal wieder die 
Einde des Planeten bricht.« »Was für eine entsetzliche Natur 
ist diese, der wir angehören!« Alle Anstrengung und Mühsal 
der Menschen stejit in gar keinem Verhältnis zu dem Erfolg, 
den sie erzielen. »Wenn des Übeln auch hundertmal weniger 
auf der Welt wäre, als der Fall ist, so wäre dennoch das bloße 
Dasein desselben hinreichend, die Wahrheit zu begründen, 
daß wir über das Dasein der Weit uns nicht zu freuen, 
vielmehr zu betrüben haben; — daß ihr Nichtsein ihrem 
Dasein vorzuziehen wäre; — daß sie etwas ist, das im Grunde 
nicht sein sollte; usf.« Das Seiende erschien Piaton als selbst- 
verständlich gut, für Schopenhauer ist es ebenso selbst- 
verständlich schlecht, während er das Nichtsein für den 
erstrebenswerten Zustand erklärt. Das Leben gleicht nach 
ihm einer eingegangenen Schuld, deren Zinsen die Leiden 
sind, und die erst durch den Tod zurückgezahlt wird. Nicht 
Bejahung, sondern Verneinung des Willens kann allein aus 
diesem grauenvollen Zustande befreien. Vorübergehend 
erfolgt sie in Form eines willenlosen, interesselosen geistigen 
Zustands, der am vollkommensten durch den ästhetischen 
Genuß verwirklicht ist. Die Erkenntnis des Wesens der 
Dinge an sich aber wird zum bleibenden Quietiv (d. h. Be- 
ruhigungsmittel) alles Wollens. Freiwillige Entsagung, wahre 
Gelassenheit, gänzliche Willenlosigkeit sind der dauernde 
praktische Erfolg solcher Erkenntnis. Der Zustand des 
Heiligen, der sich zu dieser Askese durchgerungen, ist uner- 
schütterlicher Friede, tiefe Euhe und innige Heiterkeit. Was 
nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für 
Alle die, die noch des Willens voll sind, allerdings nichts. 
Aber auch umgekehrt ist denen, in welchen der Wille sich 
verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren 
Sonnen und Milchstraßen — Nichts. 
7. Eine Fortbildung und Milderung dieses Pessimismus 
286 
§ 24. Optimismus und Pessimismus. 
hat E. V. Hartmann dadurch herbeigeführt, daß er als 
Weltprinzip das Unbewußte, das zudeicli Wille und Vernunft 
ist, aufstellte. Die Existenz, das Daß der W^elt wird auf den 
Willen, die Essenz, das Was und Wie der Welt auf die Ver- 
nunft zurückgeführt. Die Welt ist hiernach so gut, als sie 
überhaupt nur sein kann, aber sie ist schlechter als keine 
Welt. Durch den Willen sind zugleich psychologisch not- 
wendig Schmerz und Unlust bedingt, die im Überschuß über 
die Lust vorhanden sind. Die Zunahme des Bewußtseins, 
der Fortschritt der Kultur und der Intelligenz dienen nur 
dazu, die Übel mannigfaltiger und größer und die Ein- 
sicht in ihre Notwendigkeit deutlicher und allgemeiner zu 
machen und damit in der Kulturmenschheit den Entschluß 
zum Nichtsein vorzubereiten, durch dessen Ausführung die 
Erlösung des Unbewußten von der Qual des Daseins sich 
vollzieht. 
Dagegen hat Bahnsen^) den Pessimismus Schopen- 
hauers noch überboten. Auch für ihn ist der Wille das 
Weltprinzip, aber sein Wesen innerer Streit, Selbstwider- 
spruch, vermöge dessen in jedem Moment gewollt und nicht- 
gewollt wird. Damit wird das logisch Unmögliche, der Wider- 
spruch, zum Eealen und das logisch Notwendige, die Wider- 
spruchslosigkeit, zum real Unmöglichen. Aus dieser Qual 
gibt es keinen Ausweg; die Hoffnung auf Erlösung ist eine 
Illusion, eine Verneinung des Willens mit Hilfe der Erkennt- 
nis ist ausgeschlossen. Ein anderer Pessimist, Ph. Main- 
1 ander (Pseudonym für Batz^)), findet, daß die Welt als 
Gesamtheit der Individuen ist, was jedes Individuum ist: 
Wille zum Tode. Die Ureinheit, Gott, wählte zum Zweck 
ihrer Selbstvernichtung die Zersplitterung in eine Vielheit indi- 
viduellerWesen, die alle das Streben nach dem Nichtsein haben, 
sich darin gegenseitig hindern und dadurch ihre Kraft schwä- 
chen, bis endlich völlige Unmöglichkeit der Existenz ein- 
tritt. 
8. Diese Übersicht über die Hauptformen in der Entwick- 
lung des Optimismus und des Pessimismus zeigt, daß jener 
1) »Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt«, 2 Bde. 1880—1881. 
^) »Philosophie der Erlösung«, 2 Bde. 2, u. 3. Aufl. 1894. 
287 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
in der sijekulativeu, dieser in der faktischen Be- 
gründung seine Stärke hat. In letzterer Beziehung 
leistet der Optimismus nur ein mehr oder weniger geschick- 
tes Eaisonnement, das dazu bestimmt ist, die Übel hinweg- 
zudisputieren. Aber metaphysisch ist er unwiderleglicli. 
Denn da wir den letzten Zweck des Seins und Geschehens in 
der Welt nicht kennen, muß es immer denkbar bleiben, 
daß die Übel notwendig sind, um diesen Weltzweck zu ver- 
wirklichen. Wer dürfte sich vermessen, bessere Wege und 
vollkommenere Hilfsmittel namhaft zu machen, die zu einem 
unbekannten Ziele führen und einen unerforschlichen Zweck 
erfüllen sollen *? Namentlich würde einem evolutionistischen 
Optimismus im Sinne Hegels diese Geltungsberechtigung 
zugeschrieben werden können. Daß Unwerte sich höheren 
und umfassenderen Werten unterordnen und damit deren 
Eindruck steigern, ist ja auch für unseren Erfahrungskreis 
nichts Ungewöhnliches, wie der Gebrauch von Dissonanzen 
und Disharmonien in der Musik, ungefälliger Farbenzu- 
sammenstellungen in einem Gemälde, die erzieherische Wir- 
kung des Leidens, der Not und der Strafe u. dgl. mehr 
lehren. 
Der Pessimismus dagegen wird nicht müde, auf die tat- 
sächlichen Übel hinzuweisen und deren Größe und Umfang 
hervorzuheben. Eine Wertbilanz soll zeigen, daß die Unlust 
unter den Gefühlen die überwiegende Bedeutung hat. So 
wenig hier ein wirklicher Beweis geführt werden kann, so 
wenig ist eine Widerlegung dieser Lehre möglich. Denn selbst 
wenn man auf die vitale Zweckmäßigkeit, auf den Fort- 
schritt der Kultur, auf das Wachstum von Lebensgenuß und 
Erkenntnis, Aufklärung und Bildung als Gegeninstanzen auf- 
merksam machen wollte, so würde immer die Frage offen 
bleiben, ob damit auch zugleich eine Verringerung der Übel 
und namentlich ihres Eindrucks, ihrer Bedeutung verbunden 
sei. Die Tatsache schwerer und böser Unwerte im Dasein 
genügt, um einen empirischen Pessimismus zu recht- 
fertigen. Die prinzipielle Begründung jedoch trägt bei 
dieser Eichtung zu sehr den Charakter einer zu diesem be- 
sonderen Zweck zurechtgemachten Spekulation an sich, um 
§ 24. Optimismus und Pessimismus. 
wissenschaftlich überzeugen oder befriedigen zu können. Dem 
grundlos wollenden blinden Willen gegenüber versagt jedes 
Verständnis. Ein Wille, der an dem Selbstwiderspruch zu 
wollen und nicht zu wollen unheilbar kiankt, ist ebenso 
a priori unbegreiflich. Ähnliches gilt hinsichtlich eines 
Gottes, der sich selbst in Individuen zersplittert, um unter- 
gehen, sich in das Nichts auflösen zu können. 
Daß das Wollen mit Unlust und Leiden notwendig ver- 
knüpft ist, muß als eine durchaus willkürliche und unhaltbare 
Ansicht vom psychologischen Standpunkte aus beurteilt 
werden. Erstlich beruht jede Erhaltung eines bestehenden 
erfreulichen Zustandes ebensogut auf einem Wollen, wie die 
Beseitigung eines eingetretenen Leides. Zweitens ist das 
Streben zumeist auf das für wert Gehaltene gerichtet und 
nimmt durch das Vorgefühl seines Ziels selbst an dem Wert 
desselben teil. Drittens ist das ungehemmte Wollen an sich, 
wie die Schaffenslust beweist, eine ursprüngliche Quelle des 
Vergnügens. Da nun der Schopenhauer-Hartmannsche 
Wille gar nicht gehemmt werden kann, vielmehr rastlos sich 
frei auswirkt, so müßte eine wahrhaft dithyrambischer Jubel 
ihn begleiten und damit ein schrankenloser Optimismus mög- 
lich werden. Es ist Nietzsches Verdienst, gerade auf die 
in der Aktivität wurzelnde Lust im Unterschiede von dem 
quietistischen Ideal nachdrücklich hingewiesen zu haben. 
Nicht besser steht es mit den Erlösungsideen, die solche 
Weltanschauungen krönen. Denkbar erscheinen darum auf 
Grund der bisherigen Entwicklung nur ein metaphysischer, 
universeller Optimismus und ein empirischer, individueller 
Pessimismus, zwischen denen ein Widerpsruch nicht zu be- 
stehen braucht. 
9. Aber nicht alles, was denkbar ist, hat ein Becht, in 
wissenschaftlicher Untersuchung über die Welt und ihre 
Prinzipien beachtet und als wahrscheinliche oder zweck- 
mäßige Hypothese aufgenommen zu werden. Eine Wert- 
schätzung kann, wie wir sahen, objektiv oder subjektiv sein. 
Zur objektiven Wertschätzung gehört ein objektiver Wert- 
maßstab. Dieser kann für unser Problem in einem Welt- 
zweck oder in einer für alle Wertphänomene gültigen Wert- 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 10 
289 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
einheit bestehen. Den Welt zweck kennen wir nicht, und er 
ist für uns auf wissenschaftlichem Boden auch nicht fest- 
stellbar. Eine Werteinheit aber, die Sein und Geschehen der 
ganzen Welt auf ein Wertquantum zurückzuführen gestattete, 
steht uns ebensowenig zur Verfügung, und die Verschieden- 
heit der Wertgesichtspunkte macht es recht unwahrschein- 
lich, daß die Eeduktion auf eine einzige Wertrichtung jemals 
durchführbar sein werde. Damit ist die wissenschaftliche 
Möglichkeit einer objektiven Wertbestimmung des Univer- 
sums ausgeschlossen. 
Die subjektive Wertbestimmung fußt auf den jeweiligen 
Schätzungen des Wertenden. Diese sind tatsächlich verschie- 
den voneinander, und auch die scheinbar allgemein geltenden 
sind doch von sehr verschiedenem Gewicht. Wert und Un- 
wert werden demnach zu relativen Prädikaten, wenn man 
sie auf Grund subjektiver Schätzung bestimmen will; Op- 
timismus und Pessimismus gehen in Ausdrücke für per- 
sönliche Stimmungen und Auffassungen über, ver- 
lieren somit gänzlich ihre metaphysische Bedeutung. Von 
diesen Bedenken bleibt aber auch der empirische Optimismus 
und Pessimismus nicht verschont i). Für den unbefangenen 
Blick ist ja die uns gegebene und bekannte Welt in ihrer 
Gesamtheit weder ein Hospital und Zuchthaus noch ein 
Paradies und Schlaraffenland, weder ein Friedhof und 
Schlachtfeld noch eine Idylle und ein Schäferspiel, weder ein 
Jammertal und eine Tragödie noch ein Meer von Wonne und 
Seligkeit. Ob das eine oder das andere Moment einen stär- 
keren Eindruck macht, hängt vom Temperament, von 
dauernden oder zufälligen Gemütsdispositionen ab, kann aber 
nicht als notwendig oder auch nur wahrscheinlich in allge- 
meingültiger Form dargetan werden. Auch kann selbst eine 
pessimistische Schätzung überwogen werden durch eine 
heroische Lebensauffassung im Sinne Nietzsches, die trotz 
») Neuerdings hat W. Benett (The Kthical. Aspects of Evolution, re- 
garded as the Parallel Orowth of Oppositc Tcndencies, 1908) darauf hin- 
gewiesen, daß Glück und Unglück, Vorteile und Nachteile parallel mit- 
einander wachsen und somit weder Optimismus noch Pessimismus be- 
rechtigt sind. 
290 
§ 25. Determinismus und Indeterminismus. 
der überwiegenden Übel und Unwerte das Leben bejaht und 
in der dadurch bewiesenen seelischen Stärke einen obersten 
Wert empfindet. Wir sehen also keinen Weg, um den Wert 
der Welt wissenschaftlich bestimmen zu können. 
LITERATUR: 
A. Döring: Philosophische Güterlehre, 1888 (zeigt die Möglichkeit über- 
wiegender Lust, der Glüclcseligkeit). 
E. V. Hartmann: Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus, 
2. Aufl. 189L Axiologie*. Bd. V des Systems der Philosophie im 
Grundriß, 8 Bde., 1906—1909. 
E. Heyde: Grundlegung der Wertlehre*, 1916. 
A. Kowalewski: Studien zur Psychologie des Pessimismus, 1904. 
J. Kremer: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Litera- 
tur des 18. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Kant und 
Schiller. Ergänzungsheft zu den Kantstudien 13, 1909. 
O. Lempp: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur 
des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller, 1910. 
H. Lindau: Die Theodicee im 18. Jalirhundert. Entwicklungsstixfon des 
Problems vom theoretischen Dogma zum praktischen Idealismus. 
1911. 
M. Meyer: Nietzsches Zukunftsmenschheit, das Wertproblem und die 
Rangordnungsidee, 1916. 
A. Ölzel t-Newin: Kosmodicee, 1897 (tritt für einen evolutionistischen 
Optimismus ein). 
O. Plümacher: Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart, 
1884 (steht auf dem Boden des Hartmannschen Pessimismus). 
J. Volkelt: Das Unbewußte und der Pessimismus, 1873. 
G. P. Weygoldt: Kritik des philosophischen Pessimismus der neuesten 
Zeit, 1875. 
O. Willareth: Die Lehre vom Übel in den großen Systemen der nach- 
kantischen Philosophie und Theologie, 1903. 
Die angeführten ethischen Schriften von A. Messer und 
M. Scheler gehen auch auf die allgemeine Werttheorie ein; 
vgl. ferner die S. 102 Anm. genannten Schriften. 
§ 25. DETEEMINISMUS UND INDETEEMINISMUS. 
1. In einer gewissen Verwandtschaft mit dem § 23 be- 
sprochenen Gegensatze steht der neue, im Titel angedeutete. 
Denn der Determinismus behauptet eine ausnahmslose 
Gültigkeit des kausalen Zusammenhangs von Ursache und 
19* 
291 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
Wirkung, "Bedingung und Folge auch für das Gebiet der 
menschlichen Willens- und Wahlhandlungen, während der 
Indeterminismus, gestützt auf gewisse Tatsachen des 
sittlichen Lebens, wenigstens die Möglichkeit nicht kausal be- 
dingter, d. h. freier Wilensakte annimmt. Aber die Ver- 
wandtschaft zwischen beiden Gegensätzen ist schon des- 
halb keine engere, weil Mechanismus und Teleologie beide 
mit einer kausalen Auffassung vereinbar sind (vgl. § 23, 5); 
und in der Tat finden wir in der Geschichte der Philosophie 
nicht nur die Vertreter des Mechanismus unter den Deter- 
ministen, sondern auch verschiedene Teleologen. Ein selbst- 
verständlicher Zusammenhang besteht bloß zwischen dem 
Mechanismus und dem Determinismus, der unter dem Ein- 
fluß der Annahme einer alles beherrschenden Naturkausalität 
zum Fatalismus gesteigert worden ist. Nach dieser Denk- 
richtung, die mit der Prädestinationslehre verwandt ist, 
gibt es einen unvermeidlichen, durch den Einzelnen gar nicht 
abzuändernden Zusammenhang von Ursachen und Wir- 
kungen und ist alles Geschehen wie durch eine mathema- 
tische Formel im voraus bestimmt und berechnet. So bleibt 
dem Menschen nichts übrig als sich in sein Schicksal {jatum) 
zu ergeben und dem Glauben an eine freie Selbstbestimmung 
zu entsagen. Den Wert dieser Anschauung sucht z. B. das 
Systeme de la nature (vgl. § 19, 3) seinen Lesern eindringlich 
zu empfehlen. Der Indeterminismus pflegt nur in bezug auf 
den menschlichen Willen behauptet zu werden, weil hier 
der psychologische Vorgang der Wahl eine größere Kolle 
spielt, ein Freiheitsbewußtsein nachweisbar ist und die damit 
zusammenhängenden sittlichen und rechtlichen Begriffe von 
Verdienst und Schuld, Verantwortlichkeit und Zurechnung 
ausgebildet worden sind. 
2. Das Problem der Willensfreiheit hat in der antiken 
Philosophie keine erhebliche Beachtung gefunden. Die An- 
nahme einer durchgängigen Bestimmtheit des Willens durch 
vernünftige Einsicht oder durch Leidenschaften begegnete 
kaum einem Widerspruch, und nur die Epikureer glaubten 
mit Eücksicht auf die menschliche Verantwortlichkeit eine 
Freiheit des Willens im Sinne der Ursachlosigkeit behaupten 
292 
§ 25. Determinismus und Indeterminismus. 
zu sollen. Erst die christliche Ethik und Metaphysik 
brachte den prinzipiellen Gegensatz zwischen Determinismus 
und Indeterminismus auf. Die göttliche Vorsehung wurde 
bei Augustin zur Prädestination, die jede freie, dem Welt- 
plan Gottes etwa zuwiderlaufende Entscheidung auszu- 
schließen schien. Durch den Sündenfall ist das posse non 
peccare (die Fähigkeit nicht zu sündigen) in das non posse 
non peccare (die Unfähigkeit nicht zu sündigen) übergegangen. 
Aber ein gewisser Eest von Willensfreiheit wird daneben 
zugestanden. Inder Scholastik glaubte man eine Willens- 
freiheit fordern zu müssen, weil sich nur unter ihrer Voraus- 
setzung der Abfall des Menschen von der ursprünglichen Kein- 
heit und Schuldlosigkeit, die Entscheidung zum Bösen schien 
erklären zu lassen. Nach Thomas v. Aquino besteht die 
Willensfreiheit in dem moveri ex se (d. h. in der Spontaneität 
und Selbsttätigkeit). Der Wille ist nur durch den Endzweck 
der Glückseligkeit und des Guten bestimmt, kann aber unter 
den dazu führenden mannigfaltigen Wegen aus sich heraus 
die Wahl treffen. Nach Duns Scotus (t 1304) wird der Wille 
in seinen Entscheidungen zwar von Gründen, Gewohnheit, 
Neigung u. a. beeinflußt, aber nicht eigentlich determiniert. 
Er bestimmt sich selbst und kann auch in anderer als in der 
Eichtung jener Einflüsse entscheiden. Damit wird der Be- 
griff eines liberum arbitrium indifferentiae (einer Freiheit der 
Indifferenz) möglich, wonach auch bei ganz gleichwertigen 
Motiven und Umständen eine Wahl des freien Willens er- 
folgen kann. Seitdem durchzieht der Streit zwischen De- 
terminismus und Indeterminismus die ganze Geschichte der 
Philosophie. Einige Stadien dieses Kampfes sollen im folgen- 
den bezeichnet werden. 
3. Einer energischen Leugnung aller Freiheit des Willens 
begegnen wir bei Spinoza, dessen Mechanismus selbstver- 
ständlich einen vollen Determinismus fordert. Das Freiheits- 
gefühl, das dem Menschen bei seinen Handlungen innewohnt, 
beruht nach ihm nur auf der Unkenntnis der Gründe. Wie 
aus der Natur des Dreiecks alle seine Eigenschaften folgen, 
so geht aus der Natur jedes Wesens mit Notwendigkeit sein 
ganzes Verhalten hervor. In etwas anderer Form vertritt 
293 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
den Determinismus Leibniz. Er unterscheidet zwischen 
dem mechanischen Zwange und dem Bestimmtsein durch 
Motive, zwischen der metaphysischen Notwendigkeit, deren 
Gegenteil unmöglich, und der moralischen, deren Gegenteil 
unpassend (inconveniens) ist. So wenig man bei geome- 
trischen Sätzen gezwungen werden könne, ihre Wahrheit 
anzuerkennen, so wenig wird unser Wollen und Handeln in 
mechanischer Weise durch die Motive verursacht. Sie beugen 
uns, ohne zu nötigen {inclinent sans necessiter). Unzählige 
große und kleine, äußere und innere Beweggründe, deren 
man sich meistenteils nicht bewußt ist, treffen bei einer 
Willenshandlung in uns zusammen. Zu den Glaubens- 
objekten der Aufklärungsphilosophie und ihrer Vernunft- 
religion gehört neben der Unsterblichkeit der Seele und dem 
Dasein Gottes die Freiheit des Willens, deren Möglichkeit 
man sich durch Bilder zu gewährleisten versuchte. So ver- 
gleicht Tetens (vgl. § 8, 6) den Willen mit einer Stahlfeder: 
in welcher Eichtung sie wirken werde, hänge ab von zufälligen 
Gegenständen, die sich ihr darbieten, aber die Kraft ihrer 
Wirkung sei ihr ursprünglich zu eigen. Ja, selbst die Eich- 
tung, in der der Wille sich entscheidet, wird durch ihn selbst 
bestimmt: wie aus einem mit Wasser gefüllten Gefäße nur 
dort die Flüssigkeit auslaufen könne, wo eine Öffnung ent- 
stehe, aber auch bereits an diesem Punkte ein Druck des 
Wassers stattgefunden haben müsse, so sei auch der Wille 
schon in der Eichtung potentiell tätig zu denken, in der 
bei dem Eintritt zufälliger Umstände seine Kraft sich äußere. 
In der englischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts 
wird der Determinismus einmütig anerkannt. Hobbes^) stellt 
Willens- und Handlungsfreiheit einander gegenüber und ge- 
steht letztere zu, während er die erstere bestreitet. Nach 
Hume ist das Kausalverhältnis zwischen Motiv und Willens- 
entschluß dasselbe wie bei kausal durcheinander bedingten 
Bewegungen. Mit besonderer Klarheit und Eindringlichkeit 
hat Priestley {The iloctrine oj philosophical Necessity, 1777) 
den Determinismus gelehrt. Die Vorstellung, daß man auch 
') Quaestiones de libertate, necessitate et casu contra doctorem Bramhallum, 
1656. 
294 
§ 25. Determinisrmis und Indeterminismus. 
anders als geschehen hätte liandeln können, bezeichnet er 
als eine Täuschung. Man habe nur zu wählen zwischen der 
Annahme einer notwendigen Bedingtheit des Willens oder 
absolutem Unsinn. 
4. Eine neue Begründung des Indeterminismus finden wir 
bei Kant. Die Tatsache, von der er in seiner Ethik aus- 
geht, ist das die unbedingte Befolgung fordernde und ge- 
bietende Sittengesetz, der kategorische Imperativ (vgl. § 9, 
8; 29, 2). Eine solche Tatsache wäre nach seiner Meinung 
unverständlich, wenn nicht in jedem Augenblick die Möglich- 
keit diesem Gesetze nachzukommen bestände. Da nun die 
durchgängige Herrschaft des Kausalzusammenhangs in der 
Erfahrung eine absolute Möglichkeit sittlich zu handeln un- 
denkbar erscheinen läßt, so ist es geboten, die Forderung 
der Freiheit im Gebiet des Transzendenten oder des Dinges 
an sich für verwirklicht zu halten. Folglich ist der Wille an 
sich frei, dagegen als Erscheinung (als Gegenstand der Er- 
fahrung und damit der wissenschaftlichen Erkenntnis) ver- 
flochten in den denknotwendigen Zusammenhang von Ur- 
sache und Wirkung. Eine ähnliche Anschauung hat Schel- 
lingi) und mit besonderer Klarheit Schopenhauer aus- 
gebildet. Auch dieser stützt sich auf den Gegensatz zwischen 
den unter den Formen Eaum, Zeit und Kausalität ange- 
schauten und gedachten Erscheinungen und der unanschau- 
lichen, unbegreiflichen Welt der Dinge an sich. Aber die 
Freiheit des Willens verlegt er in den Zeitpunkt einer ersten 
Entscheidung bei der Entstehung des Individuums. Dadurch 
wird der Charakter des Einzelnen für alle Folgezeit bestimmt, 
und alle Handlungen gehen dann hervor aus der empirischen 
Kausalität eines unveränderlichen Charakters. Dagegen hat 
Herbart den Determinismus schon darum als notwendig 
gefordert, weil sonst von einer geregelten Erziehung des 
Menschen gar nicht die Eede sein könnte, sondern alles in 
Willkür und Zufall sich auflösen müßte. Lotze hat wiederum 
dem Indeterminismus das Wort geredet. Von einer sittlichen 
Beurteilung der menschlichen Handlungen, von einer Zu- 
*) Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen 
Freiheit, 1809. 
295 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
rechnung und Verantwortlichkeit könne nur dann gesproclien 
werden, wenn man eine im übrigen gar nicht erklärbare Frei- 
heit des Willens voraussetze. Nur deren Vereinbarkeit mit 
dem empirischen Kausalzusammenhange müsse und könne 
man nachweisen. Die herrschende Auffassung in der Psycho- 
logie, Metaphysik und Ethik der Gegenwart ist der Deter- 
minismus, aber einige Phüosophen und Strafrechtstheore- 
tiker, theologische Dogmatiker und die populäre Ansicht 
pflegen noch an dem Indeterminismus festzuhalten und 
neuerdings mehren sich wieder seine Vertreter auch unter 
den Philosophen. 
5. An dem Problem der Willensfreiheit kann man eine 
metaphysische, eine psychologischeund eine ethische 
Seite unterscheiden. Zunächst darf man behaupten, daß 
niemand auf die Idee einer solchen Ausnahme vom allge- 
meinen kausalen Zusammenhang geraten wäre, wenn nicht 
gegebene Tatsachen des sittlichen Lebens sie anscheinend 
gefordert hätten. Denn die Begründung, welche vom meta- 
physischen Gesichtspunkt aus dem Indeterminismus zu- 
teil zu werden pflegt, ist, von dieser Grundlage abgesehen, 
ohne Überzeugungskraft. Man begnügt sich in der Eegel 
damit, die Möglichkeit der Freiheit zu behaupten und zu 
rechtfertigen, und die Art, wie dies geschieht, ist wissen- 
schaftlich unbefriedigend. Mit einem Bilde muß man sich 
behelfen oder mit dem Gegensatze zweier Weiten, einem 
Eeich der Erscheinungen und einem solchen der Dinge an 
sich. Auch auf mystische Glaubensakte oder auf unmittel- 
bares, intuitives Erfassen einer angeblichen Tatsache freier 
Selbstbestimmung wird verwiesen. Der wissenschaftlichen 
Erkenntnis und Erklärung muß diese allerdings entzogen 
werden. Denn sie wäre ja nicht das, was sie sein soll, wenn 
sie sich aus irgendwelchen Bedingungen zureichend ableiten 
ließe und dadurch wissenschaftlich erklären ließe. 
Weist man im Sinne des transzendentalen Idealismus 
darauf hin, daß die Notwendigkeit eines kausalen Zusammen- 
hangs lediglich eine kategoriale Funktion des die Erschei- 
nungen nach seinen Denkformen auffassenden Verstandes 
sei, und daß die Welt selbst keinen Anteil daran habe, so 
296 
§ 25. Determinismus und Indeterminismus. 
vertritt man einen keineswegs selbstverständlichen oder auch 
nur als wahrscheinlich vorauszusetzenden erkenntnistheore- 
tischen Standpunkt (vgl. § 17) und übersieht zugleich die für 
ihn bestehende Unmöglichkeit einer positiven Aussage über 
transzendente Gegenstände. Außerhalb der Kategorie der 
Kausalität stehen heißt doch noch nicht frei sein. Entweder 
man verzichtet auf jede positive Bestimmung der Dinge an 
sich, und dann ist auch für die Freiheit kein Eaum, oder man 
hält sie für erkennbar, und dann wird eine kausale Erklärung 
des Geschehens zur Aufgabe. Auch würde sich durch diesen 
Gegensatz zwischen Erscheinung und Ding an sich niemals 
die besondere Freiheit des Willens rechtfertigen lassen, und 
nur um diese ist es ja dem Ethiker und dem in seinen Diensten 
stehenden Metaphysiker zu tun, nicht um eine Freiheit, die 
allen Dingen (an sich) gleichmäßig zukäme, dem fallenden 
Steint so gut wie dem wählenden Willen. Nimmt man aber 
diese Ausnahme von der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des 
Geschehens nur für den menschlichen Willen an, so muß 
man auch noch den des Kindes davon in Abzug bringen und 
schließlich ihn auf diejenigen Willensakte einer gewissen 
Altersstufe des normalen Kulturmenschen einschränken, bei 
denen die ethischen Prädikate Verdienst bzw. Schuld an- 
wendbar sind. 
Wer ferner der »Intuition« im Sinne von Bergson vertraut, 
hat diese Erkenntnisart erst als eine allgemeingültige Me- 
thode zu erweisen. Wenn diese Intuition nur Auserwählten 
als zugänglich gilt, die ihre Einsicht in die realen Verhält- 
nisse den Eingebungen glücklicher Stunden verdanken, wird 
sie darauf verzichten müssen, über persönliche Vertretung 
und Anhängerschaft, über Glauben und Vertrauen hinaus 
für ihre Ergebnisse Anerkennung zu finden. (Vgl. § 15, 9, 
Anm.) 
Endlich wird die metaphysische Denkbarkeit auch noch 
dadurch in Frage gestellt, daß die indeterministische Freiheit 
einen Widerspruch in sich schließt. Man muß nämlich, wenn 
man mit ihrem Begriff Ernst macht, annehmen, daß der 
Wille im gleichen Zeitpunkt dasselbe wollen und nicht wollen 
kann. Behauptet man, um diesem Widerspruch zu entgehen, 
297 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
daß in demselben Zeitpunkt dasselbe nur gewollt bzw. nur 
nicht-gewollt werden kann, so gibt man eine Freiheit im 
strengeren Sinne preis. Man wird sich hiernach fragen 
müssen, ob denn überhaupt die Sachlage in Psychologie und 
Ethik zu einer so bedenklichen metaphysischen Hypothese 
drängt, ob die Freiheit eine seelische Tatsache und eine sitt- 
liche Forderung ist, was die verzweifelten Anstrengungen sie 
denkbar zu machen einigermaßen begreiflich und gerecht- 
fertigt erscheinen ließe. 
6. Die Tatsache, von der bei der psychologischen 
Untersuchung der Freiheit ausgegangen wird, ist die Wahl 
unter verschiedenen scheinbar gleich möglichen Handlungen. 
Denn eine Freiheit des Handelns bedeutet zugleich eine 
Abhängigkeit von dem handelnden Subjekt und seinem 
Willen, und eine Freiheit des Wollen s überhaupt ist ent- 
weder eine spekulative Annahme, die sich der psychologischen 
Feststellung entzieht, oder fällt mit einem Aktivitätsbewußt- 
sein zusammen, das eine kausale Bedingtheit nicht aus- 
schließt. Bei der Wahl aber lehrt uns die innere Beobach- 
tung nicht selten, daß ein ganz bestimmter Grund schließlich 
das ausschlaggebende Motiv gebildet habe, und in den Fällen, 
wo ein solches Übergewicht bestimmter Antriebe unserer 
Wahrnehmung oder Erinnerung nicht bewußt wird, darf 
man doch wohl nach einem auch sonst üblichen Verfahren 
durch Analogie schließen, daß es sich ebenso verhalten haben 
werde. Bei der lückenhaften Natur unseres Bewußtseins 
kann ein solcher Schluß keine Schwierigkeiten haben. Ist 
doch das, was wir den Charakter einer Person zu nennen 
gewohnt sind, auch nicht eine Summe deutlich zu zerglie- 
dernder Vorgänge, sondern vielmehr ein Inbegriff von Dis- 
positionen, in dem sich die ganze Entwicklung eines Indi- 
viduums zusammenfaßt. Was hiervon an die Oberfläche des 
Bewußtseins tritt, läßt den ganzen Eeichtum seines Inhalts 
und seiner Energie nur ahnen. Dieses Mißverhältniss 
zwischen der inneren Erfahrung und der realen Seele (vgl. 
§ 27, 8 ff.) wird auch durch eine andere unleugbare Tatsache 
unseres seelischen Lebens bezeugt, nämlich durch dessen 
weitgehende Unabhängigkeit von äußeren oder zufälligen 
298 
§ 25. Determinismus und Indeterm,inismus. 
Bestimmungsgründen. Der einfachste Fall, in dem wir uns 
von dem Zwang der Außenwelt freizuhalten wissen, beruht 
auf der Fähigkeit, mit unserer Aufmerksamkeit einem wenn 
auch an sich schwachen und geringfügigen Inhalt trotz des 
Andringens weit kräftigerer Eeize zu folgen und treu zu 
bleiben. Die Vertiefung in die Gedankenarbeit bei einem Ge- 
lehrten oder in die künstlerische Produktion bei einem Dich- 
ter kann starke äußere Einflüsse wirkunsglos an dem Be- 
wußtsein abprallen und zugleich gegen die gewohnheits- 
mäßige, assoziative Verbindung von Vorstellungen und Hand- 
lungen neue Verknüpfungen und Beziehungen entstehen 
lassen. Wir reden in solchem Falle von der Wirkung der 
Apperzeption, von der Herrschaft der Aufgabe, von deter- 
minierenden Tendenzen. Diese Tatsachen pflegt der Fata- 
lismus völlig zu übersehen, und auch der Determinismus ist 
in der Eegel nicht geneigt, auf sie so nachdrücklich hinzu- 
weisen, wie sie es verdienen. Sie lehren uns eine Freiheit 
im Sinne einer Unabhängigkeit von äußeren Ein- 
flüssen, von sinnlichen Eeizen und assoziativen 
Zusammenhängen. Wenn wir also bei der Wahl zwischen 
zwei oder mehreren Möglichkeiten, die wir uns vergegen- 
wärtigen, den Eindruck haben, daß wir und nicht sie (ver- 
möge ihrer Stärkeverhältnisse oder Gefühlsbetonungen oder 
Keproduktionstendenzen) darüber bestimmen, welche von 
ihnen verwirklicht wird, so ist das im Hinblick auf die hier 
geschilderten Tatsachen wohl berechtigt. Nur darf man dies 
Freiheitsbewußtsein nicht als Beweis für die Ursachlosigkeit 
des Indeterminismus ansehen. 
7. Der Inhalt des Freiheitsbewußtseins besagt vor einem 
Entschluß, daß wir uns stark und fähig wissen verschiedene 
Eichtungen einzuschlagen, der Pflicht wie der Neigung, der 
Gewohnheit wie dem Eeiz der Neuheit, dem guten Eat 
Anderer wie der eigenen Erwägung zu folgen. Die Erfahrung 
unseres Lebens hat uns mit dem Einen wie mit dem An- 
deren bekannt gemacht und läßt uns daher an verschie- 
dene Fälle denken und an unsere Macht, einen beliebigen von 
ihnen eintreten zu lassen, glauben. Nicht anders verhält es 
sich, wenn wir nach einem Entschluß die Überzeugung 
299 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
haben, daß wir auch anders als geschehen uns hätten ent- 
scheiden können. Denn auch hier bildet die Erfahrung die 
Grundlage für diese Behauptung. Wir wissen, daß es uns 
früher gelungen ist, in ähnlicher Situation die andere Ent- 
scheidung zu treffen. Von einem Widersi)ruch gegen das 
Kausalprinzip ist dabei nicht die Eede, weil wir ja gerade den 
einmal gefällten Entschluß uns zurechnen, uns für die Ur- 
heber aller solcher Wahlen tatsächlich halten. Es kann also 
das Freiheitsbewußtsein nur den Sinn einer allgemeinen Be- 
hauptung über unsere Fähigkeiten haben, während im Einzel- 
fall eine zureichende Bedingtheit keineswegs bestritten wird. 
Diese Freiheit ist es, die man meint, wenn man der Über- 
legung, der Vernunft die Aufgabe zuschreibt, das Wollen 
und Handeln des Menschen zu lenken. Die Grenzen der 
Fähigkeit hierzu sind recht weit gezogen und individuell 
sehr verschieden. Dies beruht im letzten Grunde auf der 
Tatsache, daß ein psychophysischer Organismus ein außer- 
ordentlich verwickeltes System von Kräften darstellt, das auf 
denselben äußeren Eeiz zu verschiedenen Zeiten sehr ver- 
schieden reagieren, auf schwache Anlässe mit überraschender 
Stärke und Ausgiebigkeit, auf intensive Einflüsse mit er- 
staunlicher Zurückhaltung antworten kann oder gar nicht 
zu antworten braucht. Es beruht ferner auf dem für die 
Organismen allgemein geltenden Gegensatz zwischen Ee- 
zeptivität und Spontaneität, zwischen Nachgiebigkeit und 
Selbstbestimmung, zwischen passiver Anpassung und akti- 
vem Streben und Wählen. 
Endlich lehrt uns die moderne Psychologie (soweit sie 
naturwissenschaftlich denkt), daß ein Wille im Sinne des 
Indeterminismus eine Fiktion ist. Ein Vermögen sui generis, 
einen aus unbekannten Quellen gespeisten Kraftvorrat, 
»Wille« genannt, kennt die wissenschaftliche Psychologie 
nicht. Sie sucht mit Erfolg alle auf ihn zurückgeführten Er- 
scheinungen und Leistungen aus den Gesetzen der Eepro- 
duktion, Assoziation und Determination, aus Persevera- 
tions-, Eeproduktions- und determinierenden Tendenzen zu 
erklären, auch wenn sie eine besondere Funktion des Wollens 
annimmt. Damit wird die metaphysische Denkbarkeit des 
300 
§ 25. Determinismus und Indeterminismus. 
Indeterminismus abermals in Frage gestellt. Wenigstens 
ist die Lage einer über psychische Faktoren urteilenden und 
dabei mit der Psychologie in Widerspruch geratenden Meta- 
physik keine beneidenswerte. 
8. Die ethischen Begriffe, auf die sich der Indeterminis- 
mus beruft, sind die unter den Namen Verdienst und 
Schuld bekannten. Wir bezeichnen als verdienstlich den 
guten Willen und als schuldig den schlechten, der sich 
auch anders hätte entscheiden können. Demgegen- 
über macht der Determinismus geltend, daß die Prädikate 
gut und schlecht nur eine Qualität des Willens zum 
Ausdruck bringen und mit unserer Streitfrage nichts zu 
tun haben. Wir können von guten und bösen Handlungen 
reden, ohne dabei voraussetzen zu müssen, daß sie aus einer 
Freiheit hervorgegangen seien. Das muß um so mehr betont 
werden, als gerade in der reinen Güte, in der schlichten Selbst- 
verständlichkeit einer selbstlosen Gesinnung nach unserer 
Ansicht das Höchste sittlichen Wertes anerkannt wird. Die 
Berücksichtigung abweichender Möglichkeiten schließt in der 
Eegel einen gewissen inneren Kampf ein. Nicht derjenige 
erscheint uns des höchsten Preises der Sittlichkeit würdig, 
der anderen Tendenzen zum Trotz sich den Entschluß zum 
Guten hat abringen müssen. Vielmehr ist die edle Einfach- 
heit des Guten, die sich wie aus innerer Naturnotwendigkeit 
entfaltet, das Größte, was uns am sittlichen Menschen be- 
gegnen kann. Abweichende Möglichkeiten aber bedeuten 
für einen sie berücksichtigenden Willensakt einander ent- 
gegenstehende, den Entschluß hindernde Motive. Die Größe 
von Verdienst und Schuld messen wir geradezu an solchen 
vorausgesetzten oder nachgewiesenen Widerständen, die zu 
überwinden waren. Wenn ein schwacher Mensch der Über- 
redung zu einer schlechten Handlung gegenüber standhaft 
bleibt, so finden wir das verdienstlicher, als wenn es einem 
selbständigen Charakter gelingt, die Versuchung von sich 
abzuwehren. Ein von langer Hand, mit kühler "Überlegung 
vorbereiteter und trotz aller Gegenmotive durchgeführter 
Mord wird für eine weit schwerere Schuld gehalten, als ein 
im Affekt, etwa in momentaner zorniger Aufwallung ver- 
301 
///. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
übter. Die Wohltat, die der Arme spendet, erscheint ver- 
dienstlicher, als die vom Reichen stammende. Diese uns 
allen geläufige Beurteilung weist unzweideutig darauf hin, 
daß bei der Anwendung der Prädikate Verdienst und Schuld 
mit einem weitgehenden, quantitativ abstufbar gedachten 
Einfluß von Motiven auf den wählenden Willen gerechnet 
wird. Im täglichen Leben wird ebenso wie vor dem Gericht 
nach der Qualität, der Zahl und der Stärke der Motive, die 
einer bestimmten Willenshandlung nachweisbar oder wahr- 
scheinlich entgegengewirkt haben, die Größe des verbreche- 
rischen oder verdienstlichen Entschlusses in Anschlag ge- 
bracht. Es darf demnach als feststehend behauptet werden, 
daß gerade Verdienst und Schuld sittliche bzw. unsittliche 
Willensakte bezeichnen, bei denen eine Determination des 
Willens durch Motive allgemein vorausgesetzt wird. 
Der Indeterminismus pflegt diesen Erwägungen entgegen- 
zuhalten, eine Beeinflussung des Wollens durch Motive (und 
Charakter) bestreite er nicht; diese sei aber nicht die ein- 
deutige Bestimmtheit des Naturgeschehens. Ferner sei es 
Tatsache, daß wir auch Wesen, denen wir keine in- 
deterministische Freiheit zuschrieben (z. B. Tiere), in be- 
zug auf ihr Verhalten bewerteten. Aber dieser Bewer- 
tung fehle eben der spezifische Charakter der sittlichen 
Bewertung. 
Ferner betont er, das unbedingte Sollen, das für uns im 
Bewußtsein des Sittengesetzes liege, setze ein unbedingtes 
Können, also indeterministische Freiheit voraus, und verliere 
ohne diese seinen Sinn. Darauf erwidert der Determinismus: 
Das Sollen verbürgt nicht das Können und seine Verwirk- 
lichung. Es verliert seinen Sinn nicht, auch wenn ihm nicht 
in konkreten Fällen entsprochen würde und werden könnte. 
Seine ideale Forderung ist von der Frage nach der Ver- 
ursachung oder Freiheit des beurteilten Willens innerhalb 
weiter Grenzen unabhängig. Kants Schluß vom Sollen auf 
das Können (du kannst, denn du sollst!) war nur insofern 
berechtigt, als die Fähigkeit, überhaupt sittliche Ziele sich 
als Aufgaben zu stellen und zu erreichen, bei einem normalen 
Subjekt vorausgesetzt werden darf und eine einmal über- 
302 
§ 25. Determinismus und Indeterminismus. 
nommene Aufgabe eine besonders starke Determination auf 
die Willensbetätigung ausübt. 
9. Der Indeterminismus legt jedoch noch besonderen Wert 
auf die logische Interpretation der Behauptung, daß man 
auch anders als geschehen sich habe entschließen können, 
und beruft sich auf die alte Definition, wonach dasjenige als 
notwendig gilt, dessen Gegenteil unmöglich ist. War nun 
etwas anderes als das tatsächlich Geschehene möghch, so 
kann man dieses letztere nicht als notwendig bezeichnen, 
und da wir einen kausalen Zusammenhang uns nicht ohne 
diese Eigenschaft denken können, so war es auch nicht kausal 
bedingt. Diese Argumentation übersieht jedoch die doppelte 
Bedeutung, die den Begriffen Möglichkeit und Notwendigkeit 
zukommt. Wenn ich aus dem Vordersatz: die Summe der 
Winkel eines ebenen Dreiecks ist gleich zwei rechten, schließe, 
daß die Winkelsumme bei einem ungleichseitigen Dreieck 
diesen Betrag haben müsse, so ist dieser Schluß notwendig, 
d. h. sein Gegenteil undenkbar. Denn würde ich das Gegen- 
teil, würde ich denken, daß ein anderer Betrag jener Summe 
für dieses Dreieck gültig sei, so würde ich einen Widerspruch 
denken. Die Notwendigkeit, welche ausschließt, was einen 
Widerspruch setzt, wollen wir die logische nennen. Von 
ihr verschieden ist die reale, die auf einem kausalen Zu- 
sammenhange beruht. Wenn ich behaupte, daß ein Ereignis 
eintreten mußte, weil gewisse Bedingungen gegeben waren, 
die wir als seine Ursache betrachten, so läßt sich sehr wohl 
ein anderes, als das eingetretene, denken, ohne daß ein 
Widerspruch zu befürchten wäre. In der gleichen Weise unter- 
scheiden wir eine logische und eine reale Möglichkeit. 
Logisch möglich ist alles, was sich ohne Widerspruch denken 
läßt, real möglich nur das, wofür gewisse Bedingungen, nicht 
die ganze Ursache gegeben sind. Hiernach kann ein real not- 
wendiger Vorgang sehr wohl mit der logischen Möglichkeit 
seines Gegenteils zugleich gesetzt werden. Ebensowenig, wie 
diese Begriffe, stehen die der realen Notwendigkeit eines 
Ereignisses und der realen Möglichkeit eines anderen in aus- 
schließendem Gegensatz zueinander, sondern sind beide 
nebeneinander denkbar, falls nänüich nicht nur die Gesamt- 
303 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
heit der Bedingungen für jenes, sondern auch einige für 
dieses vorhanden waren oder vorausgesetzt werden konnten. 
Das Urteil, daß der Wille sich auch anders als geschehen, 
habe entscheiden können, ist demnach mit der Annahme 
einer realen oder kausalen Notwendigkeit des erfolgten Ent- 
schlusses nicht nur psychologisch, wie wir oben gezeigt 
haben, sondern auch logisch im besten Einklänge, und wir 
sind durchaus berechtigt, nicht nur die logische, sondern 
auch die reale Möglichkeit einer anderen als der eingetre- 
tenen Handlung zu behaupten, weil jeder Wahl Vorgang Be- 
dingungen (Motive und Dispositionen) aufweist, die allein 
oder im Übergewicht vorhanden allerdings unserer Tätigkeit 
eine andere Kichtung gegeben hätten. 
Wer die Komplikation der bei einer Willenshandlung be- 
teiligten psychophysischen Faktoren einigermaßen erkannt 
hat, wird nicht bestreiten, daß die Möglichkeit füi' sehr ver- 
schiedene Handlungen in unserer körperlichen und seelischen 
Organisation vorliegt. Zum Überfluß beweist auch noch die 
Tatsache der Wahl, daß wir zu völlig voneinander abweichen- 
den, ja ganz entgegengesetzten Zielen hinstreben können. Es 
kann also an der Berechtigung des Ausspruchs, daß auch 
anders als geschehen hätte gehandelt werden können, im 
Sinne logischer und realer Möglichkeit nicht gezweifelt 
werden. 
Auch die juristisch bedeutungsvollen Begriffe der Ver- 
antwortlichkeit und Zurechnung bilden, wie der De- 
terminismus zu zeigen sucht, für ihn keine Gegeninstanz. 
Daß jeder der Täter seiner Taten ist und, normale Verfassung 
vorausgesetzt, bei der Ausführung einer Handlung weit 
stärker beteiligt zu sein pflegt, als zufällige äußere Umstände, 
ist eine Wahrheit, die nach unseren bisherigen Ausführungen 
keiner Erläuterung oder Bestätigung bedarf. Die Freiheit 
also, die der Eichter beim Verbrecher voraussetzt, ist nicht 
die indeterministische, sondern die Unabhängigkeit von 
äußeren Beweggründen und zufälligen Motiven und die Wirk- 
samkeit derjenigen Überlegungen, die sich auf die Bedeutung 
der gesetzlichen Vorschriften oder der sittlichen Grundsätze 
beziehen. Wie wäre sonst eine Bestimmung der Alters- 
304 
§ 25. Determinismus und Indeterminismus. 
grenze für die Strafbarkeit denkbar, wenn man nicht eine 
Freiheit in diesem Sinne allein gemeint hätte, und wie sollte 
ein unbedingter Wille durch alle die Zustände des Bausches, 
des Wahnsinns, des Affekts u. dgl., die allgemein als straf- 
mildernd oder die Zurechnung aufhebend beurteilt werden, 
eine Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit erfahren?^) 
Dagegen würde die Annahme eines grundlosen und gesetz- 
losen Entschlusses jede Stetigkeit und Zuverlässigkeit der 
inneren Entwicklung und der Beziehungen der Menschen zu- 
einander in Frage stellen und das unberechenbare Spiel des 
Zufalls an die Stelle eines geordneten Zusammenhangs 
menschlichen Wollens und Handelns rücken. 
10. Nach dem Determinismus sind es Verwechslungen 
und Mißverständnisse, die dem Indeterminismus zu- 
grunde liegen. Man verwechselt eine Freiheit des Handelns 
mit einer Freiheit des Wollens, eine weitgehende Unab- 
hängigkeit von äußeren Einflüssen und assoziativen Zu- 
sammenhängen mit einer Ursachlosigkeit überhaupt, die 
Möglichkeit einer Wahl mit dem Mangel einer zureichenden 
Motivierung. Man mißversteht den Sinn des den ethischen 
Begriffen Verdienst und Schuld zukommenden Merkmals, 
daß auch anders als geschehen hätte gewollt werden können, 
man verkennt die gerade in diesen Prädikaten enthaltene 
Voraussetzung von Motiven, die das Wollen determinieren, 
und nicht minder die Bedeutung der Verantwortlichkeit und 
Zurechnung, die gerade eine sittlichen Eegungen und Forde- 
rungen zugängliche und durch sie bestimmbare Persönlich- 
keit voraussetzten. 
Es ist in der Tat zuzugeben, daß alle Anstrengungen 
des Indeternunismus, die Möglichkeit seiner Annahme meta- 
physisch zu rechtfertigen, und alle Bemühungen, die er in 
der neuesten Zeit mit unleugbarem Scharfsinn unternommen 
hat, um seine Verträglichkeit mit der Naturgesetzlichkeit, 
insbesondere mit dem Prinzip von der Erhaltung der Energie 
nachzuweisen, sich als anfechtbar herausgestellt haben, daß 
*) Heymans hat in seiner Einfülirung in die Ethik (S. 66 ff.) eine 
treffende Analyse der Fälle von geminderter und völliger Unzurech- 
nungsfähigkeit gegeben. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 20 
305 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
ferner auf dem Gebiete der Ethik und Eechtslehre sich 
beachtenswerte Erwägungen zugunsten des Determinismus 
geltend machen lassen. 
Indessen wird er hier nicht überzeugend den Einwand 
zu widerlegen vermögen, daß er den uns geläufigen Sinn der 
sittlichen und rechtlichen Beurteilung, insbesondere der Be- 
griffe Schuld und Strafe, Verdienst und Belohnung, ändere, 
und daß seine Anhänger in Gefahr sind, dem Fatalismus 
zu verfallen und der sittlichen Forderung sich zu ändern, zu 
bessern, die Erldärung entgegenzusetzen: Ich bin nun ein- 
mal so. * 
Die psychologische Beobachtung zeigt, daß es nur dann zu 
einem wirklichen »Wollen« kommt, wenn auch der zuversicht- 
liche Glaube besteht zu können. So wird auch nur der 
jederzeit den Willen zum Guten haben, der sich fähig glaubt, 
das sittlich Geforderte unter allen Umständen zu verwirk- 
lichen. Darin zeigt sich der praktische Wert des Glaubens 
an eine indeterministische Freiheit für alle Erziehung und 
Selbsterziehung. Diesen praktischen Wert kann aber auch 
der Determinist zugestehen; denn er muß sich sagen, daß 
ein Mensch, in dem jener Freiheitsglaube lebt, ein anderer 
ist und — gerade nach dem Grundgedanken des Determi- 
nismus — auch anders sich verhalten wird als ein solcher, 
dem dieser Glaube fehlt. 
Mag also auch der Indeterminismus als metaphysische 
Theorie gegenüber dem Determinismus (nach dem Urteil des 
theoretischen Denkens) entschieden im Nachteil sein: als 
praktischer Glaube scheint er — aus sittlichen, pädagogischen 
und rechtlichen Erwägungen — geradezu unentbehrlich. 
LITERATUR: 
M. Couailhac: La liberte et la conservation de Venergie, 1897 (vertritt 
einen Indeterminismus). 
H. Driesch: Das Problem der Freiheit*, 1917 (sucht zu zeigen, daß es 
theoretisch unlösbar sei). 
M. W. Drobisch: Die moralische Statistik und die menschliche Willens- 
freiheit, 1867 (im Sinne des Herbartschen Determinismus). 
G. L. Fonsegrive: Essai sur le Obre arbitre, 2. ed. 1896 (enthält eine 
eingehende historische Darstellung des Problems und den Versuch 
der Rechtfertigung eines gemäßigten Indeterminismus). 
306 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
H. Gomperz: Uas Problem der Willensfreiheit, 1907 (sucht dem Streit 
durch Ablehnung des »dynamischen« Kausalbegriffs eine neue Form 
zu geben). 
C. Gutberiet: Die Willensfreiheit und ihre Gegner, 1893 (vom inde- 
terministischen Standpunkt aus). 
K. Joel: Der freie Wille, eine Entwicklung in Gesprächen, 1908. 
G. F. Lipps: Das Problem der Willensfreiheit, 1912 (vertritt den Deter- 
minismus). 
J. Mack: Kritik der Freiheitstheorien, 1906 (vertritt einen Indeter- 
minismus). 
A. Messer: Das Problem der Willensfreiheit*, 2. Aufl. 1918 (sucht die 
Beweisführung des Indeterminismus und Determinismus möglichst 
objektiv darzustellen). 
L. Müf feimann: Das Problem der Willensfreiheit in der neuesten deut- 
schen Philosophie, 1902 (vertritt den Determinismus). 
M. Offner: Willensfreiheit, Zurechnung und Verantwortung, 1904 (ver- 
tritt den Determinismus). 
J. Petersen: Willensfreiheit, Moral und Strafrecht, 1905. Kausalität, 
Determinismus und Fatalismus, 1909 (vertritt den Determinismiis und 
sucht zu zeigen, daß er nicht zum Fatalismus fülire). 
O. Pfister: Die Willensfreiheit, 1904 (vertritt den Determinismus). 
W. V. Rohland: Die Willensfreiheit und ihre Gegner, 1905 (vertritt den 
Indeterminismus). 
L. Traeger: Wille, Determinismus, Strafe, 1895 (vom deterministischen 
Standpunkt aus werden hier namentlich die praktischen Fragen einer 
treffenden Prüfung unterzogen). 
J. Verweyen: Das Problem der Willensfreiheit in der Scholastik, 1909. 
Philosophie des Möglichen, 1913. 
S. Werner: Das Problem von der menschlichen Willensfreiheit, 1914 
(lehrt im Gegensatz zu Kant eine metaphysische Unfreiheit und eine 
empirische Freiheit). 
W. Windelband: Über Willensfreiheit*, 1904, 2.Aufl. 1905 (vertritt den 
Determinismus). 
Die Lehrbücher der Ethik enthalten in der Eegel ebenfalls 
eine Behandlung des Frelheitsproblems. Es kommt also auch 
die S. 103 f. angeführte Literatur in Betracht. 
§26. DIE THEOLOGISCHEN KICHTUNTGEN IN DEE 
METAPHYSIK. 
1. Zu einer zweiten Form speziellerer Gegensätze inner- 
halb der Metaphysik gelangen wir bei dem Gottesproblem. 
Unter den Namen Theismus, Deismus, Pantheismus, 
Panentheismus und Atheismus sind die hier zu berück- 
20* 
307 
III. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
sichtigenden Auffassungen bekannt. Theismus und Deismus 
haben den Begriff eines transzendenten, von der Welt ver- 
schiedenen Gottes miteinander gemein, unterscheiden sich 
jedoch dadurch, daß Gott vom Deismus bloß als erste Ur- 
sache der Welt, als Weltschöpfer, von dem Theismus da- 
gegen auch als Lenker der Welt und ihrer Geschicke in 
lebendiger, fortdauernder Einwirkung auf sie gedacht wird. 
Der Pantheismus vertritt einen immanenten Gottesbegriff, 
indem er Welt und Gott zusammenfallen läßt. Eine Ver- 
mittlung zwischen Theismus und Pantheismus strebt der 
Panentheismus an, indem er die Immanenz Gottes in der 
Welt neben einer Transzendenz desselben lehrt. Für den 
Atheismus endUch gibt es ein göttliches Wesen überhaupt 
nicht. Der Begriff des Monotheismus umfaßt die mit der 
Gottesidee in positiver Weise operierenden Richtungen. Die 
Geschichte der Eeligion kennt auch andere Formen, wie den 
Fetischismus oder den Polytheismus, aber da diese in einer 
philosophischen Metaphysik keine folgenreiche Ausbildung 
oder Eechtfertigung gefunden haben, so werden wir uns hier 
auf jene monotheistischen Lehren beschränken. 
Im Zusammenhang mit den allgemeineren metaphysischen 
Eichtungen stehen auch die theologischen Auffassungen. 
Der Theismus pflegt sich mit dem Spiritualismus und dem 
Dualismus zu verknüpfen, der Pantheismus mit dem Monis- 
mus, und der Atheismus erscheint als natürlicher Begleiter 
des Materialismus. Selbstverständlich ist außerdem der Ver- 
treter des Theismus Teleologe. Schon aus dieser Betrachtung 
ergibt sich, daß der Deismus die farbloseste Anschauung ist, 
insofern er die größte Verträglichkeit mit verschiedenen all- 
gemeineren Eichtungen aufweist. Praktisch kommt er 
offenbar dem Atheismus gleich. Denn wenn ein göttliches 
Wesen bloß als letzte Ursache der Welt angenommen, von 
ihr aber sonst ganz losgelöst gedacht wird, ist ein religiöses 
oder ethisches Verhältnis zu ihm, von einer unbestimmten 
Verehrung abgesehen, überhaupt nicht möglich. Dagegen 
pflegen der Theismus und der Pantheismus in der theore- 
tischen Philosophie nur in Umrissen ausgeführt zu werden. 
Ihre eigentliche Bedeutung erhalten sie erst durch die sitt- 
308 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
liehen Prädikate, die man dem göttlichen Wesen als höch- 
stem Ideal beilegt, und durch das religiöse Verhältnis, in das 
man sich zu ihm setzt. 
2. Der Theismus ist die in der Geschichte der Philosophie 
am nachdrücklichsten vertretene theologische Eichtung. Im 
Altertum haben Piaton und Aristoteles, im Mittelalter 
Augustin und Thomas, in der Neuzeit Descartes,Leib- 
niz, Kant, Herbart, Lotze, um nur wichtigste Namen 
anzuführen, dieser Anschauung gehuldigt. Als gemeinsames 
Merkmal der auf verschiedenem Wege begründeten theisti- 
schen Ansichten darf man die Annahme eines persönlichen 
Wesens bezeichnen, das als Ursache der Welt und Lenker ihres 
Verlaufs betrachtet wird. Die nähere qualitative Bestim- 
mung dieses Wesens ist zumeist in Eücksicht auf das prak- 
tisch-religiöse Interesse ausgeführt worden. Wenn man z. B. 
neben den Eigenschaften der Allmacht und der Allwissen- 
heit noch die Allgüte und Liebe aufzuführen pflegt, so sind 
diese letzten Attribute der theoretischen Philosophie als 
solcher kaum zugänglich. Die anderen beiden jedoch kann 
man als Postulate des metaphysischen Erkennens ansehen, 
insofern sie diejenigen Bedingungen bezeichnen, die erfüllt 
sein müssen, wenn das göttliche Wesen zu seiner Aufgabe 
der Welt gegenüber befähigt gedacht werden soll. Wegen 
der Betonung der ethischen Beiträge zur Ausbildung einer 
theistischen Metaphysik redet man bei Chr. H. Weiße 
(t 1866), H. Ulrici (t 1884) und J. H. Fichte (f 1879) von 
einem ethischen Theismus. Die Ait der Begründung des 
Theismus ist natürlich von den besonderen metaphysischen 
Anschauungen abhängig, die dem einzelnen Denker geläufig 
sind, und ist daher bei Piaton eine andere als bei Aristo- 
teles, bei Descartes eine andere als bei Leibniz und bei 
Kant wiederum eine andere als bei Herbart oder Lotze. 
Unter dem Titel von Beweisen für das Dasein Gottes 
pflegt man die üblichsten Begründungen für den Theismus 
zusammenzufassen. Man unterscheidet einen ontologi sehen, 
kosmologischen,teleologischen(physiko-theologischen), 
einen logischen und einen moralischen Beweis. Der in 
der Eegel noch angeführte, von selten des Deismus vorzugs- 
309 
///. Kapitel. Die philosopliischen Richtungen. 
weise verwendete Beweis e consensu gentium (aus der Über- 
einstimmung der Völker), oder der historische Beweis kann 
hier beiseite bleiben. Aber eine spezifische Bedeutung für 
den Theismus hat überhaupt kaum einer von diesen Be- 
weisen. Wir wollen sie daher als allgemeine Versuche 
einer Begründung für die Annahme eines göttlichen 
Wesens betrachten und würdigen. 
3. Die besonderen Formen des ontologischen, zuerst 
von Anselm v. Canterbury (vgl. § 11, 2) aufgestellten Be- 
weises brauchen nicht sämtlich hier aufgeführt zu werden. 
Sie alle kommen darauf hinaus, aus dem Begriff eines 
Wesens, aus seiner Essenz, seine Existenz zu erschließen. 
So wird zu B. von dem Begriff Gottes als eines ens perfec- 
tissimum oder realissimum (eines vollkommensten oder aller- 
realsten Wesens) ausgegangen und die absolute Vollkommen- 
heit bzw. Eealität mit dem Mangel an Existenz unverein- 
bar gefunden. Die Existenz gehört also zu den notwendigen 
Merkmalen des Begriffs eines allervollkommensten Wesens. 
In dieser Auffassung sind Descartes und Leibniz völlig 
einig. Doch macht der letztere schon darauf aufmerksam, 
daß vor allem die Denkbarkeit des Begriffs selbst nachge- 
wiesen werden müsse. Sei der Begriff widerspruchslos gedacht, 
also möglich, so müsse auch die Wirklichkeit des durch ihn 
bezeichneten Gegenstandes daraus folgen. Schon vor Kant, 
der gerade mit Eücksicht auf seine Kritik der Gottesbeweise 
der »AllesZermalmende« genannt wurde, sind in der deutschen 
(z. B. Crusius) und in der englischen (Hume) Philosophie 
des 18. Jahrhunderts einige gegen dieses Argument geltende 
Einwände vorgebracht worden. Auch im Mittelalter selbst 
haben es die Hauptvertreter der Scholastik unter der Füh- 
rung des Thomas v. Aquino abgewiesen. Kant aber ge- 
bührt da; Verdienst, im Geiste seiner ganzen Erkenntnis- 
theorie eie umfassendste Kritik an ihm geübt zu haben. 
Hiernach ist die Existenz niemals ein Merkmal neben anderen 
desselben Begriffs. Sie ist vielmehr ein Prädikat, das wir 
nur auf Objekte möglicher Erfahrung anwenden können, und 
das dem Begriffe solcher Objekte keine neue inhaltliche Be- 
stimmung hinzufügt. Das Mögliche und das Wirkliche sind 
310 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
daher nicht dadurch voneinander verschieden, daß jenes 
diesem gegenüber in seinem begrifflichen Inhalt um ein Merk- 
mal verkürzt ist; sie sind vielmehr, begrifflich betrachtet, 
völlig gleich. Darum kann auch aus der Möglichkeit eines 
Begriffs auf Dasein des Begriffs ohne weiteres geschlossen 
werden, nicht aber auf die Existenz eines diesem Begriff ent- 
sprechenden Objekts. 
Eine eigentümliche Wendung hat der ontologische Beweis 
durch Hegel erfahren, für den das Absolute zugleich Idee 
und Seiendes ist. Es versteht sich danach von selbst, daß der 
Gedanke Gottes sein reales Gegenbüd findet. Nur von dem 
Prinzip des Hegeischen Panlogismus aus kann dieser Form 
des ontologischen Arguments eine gewisse Beweiskraft zu- 
gestanden werden. Aber eben jenes Prinzip ist keine zu- 
lässige Voraussetzung. Ohne darin einen wirklichen Beweis 
sehen zu wollen, hat Lotze eine logische Betrachtung an- 
gestellt, die auf einen ähnlichen Gedanken wie den des onto- 
logischen Beweises hinausläuft: Wäre das Größte nicht, so 
wäre das Größte nicht, und es ist ja undenkbar, daß das 
Größte von allem Denkbaren nicht wäre. Daß wir mit 
diesem überredenden Wortspiel, in dem übrigens auch eine 
Wertbeurteilung anklingt, ebenfalls nicht über den Kreis 
unserer Gedanken oder des Denkbaren hinauskommen, 
braucht nicht näher gezeigt zu werden. 
4. Der Fehler des ontologischen Beweises liegt zunächst 
darin, daß er seine Voraussetzung, den Gedanken eines 
vollkommensten oder realsten Wesens, gar nicht auf ihre 
Berechtigung prüft. Leibniz verlangte wenigstens die Fest- 
stellung, daß dieser Gedanke kein sich selbstwidersprechen- 
der sei. Aber die Erfüllung dieser Forderung reicht offenbar 
nicht aus, da das Denkbare einen viel weiteren Kreis umfaßt, 
als das Wirkliche oder Eeale. Widerspruchslose Begriffe 
kann man sich auch im Sinne von Fiktionen bilden. So sind 
z. B. die Begriffe eines schwerelosen Fadens oder einer 
reibungslos arbeitenden Maschine, eines geflügelten Pferdes 
oder eines Marsbewohners gewiß ohne logischen Wider- 
spruch vollziehbar. Aber das gewährleistet uns, wie wir ein- 
sehen, noch nicht die Eealität eines so gedachten Dinges 
311 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
oder Wesens. Selbst wenn es nun gelingen sollte, niclit nur 
die Mögliclikeit, sondern sogar die logische Notwendigkeit 
eines Begriffs von der im ontologischen Beweise angenom- 
menen Beschaffenheit darzutun, würde auch damit noch 
nichts für die Eealität seines Gegenstandes bewiesen sein. 
Denn in der Mathematik und in der Logik, also in den Formal- 
wissenschaften, haben wir es häufig mit notwendigen Ge- 
danken zu tun, und doch gilt es nicht als erlaubt, ihren 
Gegenständen daraufhin Eealität beizulegen. Mag daher der 
Begriff eines e7is perfectissimum (allerrealsten [und zugleich 
allervollkommensten] Wesens) denkmöglich oder denknot- 
wendig sein, so braucht daraus an sich nicht zu folgen, daß es 
ein Wesen dieser Art gibt. 
Damit hängt der zweite Fehler des ontologischen Be- 
weises zusammen. Er vernachtässigt die besonderen Be- 
dingungen für das Setzen und Bestimmen von Eealitäten. 
Gott ist und soll nach dem Beweise eine Eealität sein. Eine 
solche sind wir nach früheren erkenntnistheoretischen Aus- 
führungen im Sinne des kritischen Eealismus nur dann zu 
setzen und zu bestimmen befugt, wenn ein Gegebenes, Vor- 
gefundenes darauf hinweist (vgl. § 17). Das gilt in allen 
Eealwissenschaften als unumgängliche Voraussetzung rea- 
listischen Verfahrens, und an sie hat sich auch die Meta- 
physik zu halten, wenn anders sie eine Wissenschaft sein 
will. Durch die Deduktion aus einem bloßen Begriff kann 
man aber Eealitäten überhaupt nicht erschließen. Gott kann 
daher für die Metaphysik nur eine Hypothese sein, zu 
der wir direkt oder indirekt auf Grund von Tatsachen geführt 
werden. Dieser Forderung genügt der ontologische Beweis 
nicht, er ist somit von vornherein abzulehnen. Dagegen sind 
die anderen Gottesbeweise bemüht, dieser Forderung nach- 
zukommen. 
5. Der logische Beweis geht von der Tatsache des 
wahren Denkens aus. Der eine von den kartesianischen 
Gottesbeweisen hat eine gewisse Beziehung zu diesem Ver- 
fahren. Descartes behauptet zunächst, daß aus unserem 
Denken nur entspringen könne, was uns oder ihm adäquat 
sei. Alles das aber trage den Charakter des Endlichen, Be- 
312 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
schränkten, Unvollkommenen an sich. Wenn wir die Idee 
eines unendlichen, vollkonmienen Wesens haben, so kann 
diese daher nicht ein Erzeugnis unserer eigenen Denktätig- 
keit sein, sondern nur einer Eealität entstammen, die ihr 
entspricht. Zugleich verbürgt die Wahrhaftigkeit Gottes die 
Wahrheit unseres Denkens, da Gott gewiß nicht die Absicht 
gehabt, uns zu täuschen, sondern uns vielmehr eine Vernunft 
verliehen haben werde, mit deren Hilfe wir die Wahrheit 
erkennen können. Somit wird hier die Möglichkeit wahrer 
Erkenntnis auf ein göttliches Wesen zurückgeführt. 
Deutlicher ist der logische Beweis von Trendelenburg. 
Das menschliche Denken wisse sich selbst als ein endliches 
Denken, und dennoch strebe es über jede Schranke hinaus. 
Es wisse sich abhängig von den Dingen und verfahre doch 
so, als wären sie nur von ihm bestimmbar. Diese Zuversicht 
würde ein Widerspruch sein, wenn nicht im Wirklichen selbst 
Wahrheit oder in den Dingen Denkbares vorausgesetzt 
würde. Alles Denken wäre ein Spiel des Zufalls oder eine 
Kühnheit der Verzweiflung, wenn nicht Gott, die Wahrheit, 
dem Denken und den Dingen als gemeinsamer Ursprung und 
als gemeinames Band zugrunde läge. Man kann diesen 
Gedankengang wohl noch wesentlich einleuchtender ge- 
stalten, wenn man ihm folgende Form gibt. Nennen wir ein 
den Tatsachen entsprechendes Denken richtig, ein nüt sich 
selbst nach den Gesetzen der Logik übereinstimmendes, 
widerspruchsloses Denken wahr^), so ergibt sich aus der 
Betrachtung der Eealwissenschaften die eigentümliche Tat- 
sache, daß das richtige Denken nicht zugleich ein 
wahres Denken und umgekehrt ist. Eine notwendige, 
selbstevidente Beziehung zwischen beiden besteht nicht. Das 
geht schon daraus hervor, daß Philosophen, wie Hamann 
(t 1788) und Bahnsen (vgl. § 24, 7), das Eeale als wider- 
spruchsvoll und daher mit dem Verstände nicht erfaßbar be- 
zeichnet haben. Ebensowenig wird in der Wissenschaft ohne 
weiteres aus der Kichtigkeit auf die Wahrheit oder umgekehrt 
geschlossen. Wenn also trotzdem das System richtiger Be- 
griffe von der Welt zugleich ein System wahrer Begriffe ist, so 
M Vgl. über diese Begriffe die Anm. S. 169. 
313 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
liegt darin eine unzweifelhaft sehr zweckmäßige, aber durch- 
aus nicht selbstverständliche und darum einer Begründung 
bedürftige Tatsache vor. Aus dieser Tatsache kann vielleicht 
auf ein diese Harmonie ermöglichendes und verbürgendes 
göttliches Wesen geschlossen werden. Da es sich aber um 
eine besondere zweckmäßige Einrichtung in diesem Beweise 
handelt, so ist der hier formulierte logische Beweis nur eine 
speziellere Form des allgemeinen teleologischen 
Beweises. 
6. Der kosmologische Beweis schließt aus der Tatsäch- 
lichkeit des Weltganzen (im Sinne der Nichtnotwendigkeit, 
Zufälligkeit der Welt, e contingentia mundi) auf eine letzte 
Ursache desselben. Alle Schö]3fungstheorien von Piaton bis 
auf die Neuzeit arbeiten mit diesem Argument. Die Forschung 
nach den Ursachen führt zu immer weiter zurückliegenden 
Bedingungen des Weltgeschehens. Schließlich sind wir mit 
unserer Erkenntnis am Ende angekommen, d. h. bei einer 
nicht zu erldärenden Tatsache. Tatsachen aber, die sich 
nicht aus anderen ableiten lassen, trugen das Gepräge der 
Zufälligkeit an sich. Behauptet man demnach, daß Sein 
und Geschehen der Welt nicht weiter erklärt werden können, 
so ist man bei einem Faktum angelangt, das gewissermaßen 
in der Luft schwebt, ursachlos ist. Der Versuch, auch diesem 
Faktum seine Zufälligkeit zu nehmen, führt dann zu der An- 
nahme eines Wesens, das als Schöpfer der Welt, als causa 
sui (d. h. Ursache seiner selbst), als absoluter Intellekt und 
Wille usw. bestimmt werden kann. 
Auch diesem Beweis hat Kant in eingehender Wider- 
legung seine Kraft bestritten. Die Kausalität ist nach ihm 
ein Begriff, der lediglich auf Erscheinungen, auf das empi- 
risch Mögliche anwendbar ist; über das Gegebene hinaus 
kann er daher nicht führen, also auch nicht zu einer transzen- 
denten Ursache der Welt. Ferner ist der Begriff der Zu- 
fälligkeit wohl ein für das Einzelne der Erfahrung geltender; 
aber daraus folgt noch nicht, daß auch das Ganze der Welt 
als ein bloßer Zufall anzusehen sei und transzendente 
Ursache haben müsse. Theoretisch ist auch für unsere Er- 
kenntnis nichts gewonnen, wenn wir diesen Schritt über das 
314 
,<^' 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
letzte Gegebene der Welt hinaus vollzogen haben. Denn ob 
wir bei der Ewigkeit des Stoffes und der Bewegung stehen 
bleiben, oder beides durch ein göttliches Wesen bewirkt sein 
lassen, bleibt sich insofern für die theoretische Betrachtung 
gleich, als ja eine wissenschaftliche Ableitung der 
Welt aus der schöpferischen Tätigkeit Gottes unmöglich 
und in der Bestimmung desselben als einer causa sui unserem 
Denken nur durch einen Machtspruch ein Ruhepunkt ange- 
wiesen ist. Endlich aber folgt der rastlose Fortschritt unserer 
kausalen Forschung nach den Bedingungen des Gegebenen 
nur einem regulativen Prinzip, welches keinen endgültigen 
Abschluß gebietet, sondern jeden Ruhepunkt bloß als einen 
provisorischen, die weitere Forschung anregenden auf- 
fassen läßt. Wir verweisen dazu auf die früheren Ausfüh- 
rungen über die singularistische Einheit der Ursache, wo wir 
bereits gegen den kosmologischen Beweis implicite Stellung 
genommen haben (vgl. § 18, 2). Es ist bemerkenswert, daß 
Aristoteles mit seiner Forderung eines ersten Bewegers 
{primum movens) der dort geltend gemachten Bestimmung 
Rechnung getragen hat, daß sich Ursachen nur für ein Ge- 
schehen, eine Veränderung, nicht aber für das beharrende 
Sein angeben lassen (vgl. § 11, 2). 
7. Der teleologische Beweis schließt aus der zweck- 
mäßigen Einrichtung der Welt auf ein Zwecke setzendes und 
realisierendes Wesen, welches als ein Intellekt und Wille 
gedacht werden muß. Schon Anaxagoras betraute seinen 
Nus nur mit der Aufgabe einer Ordnung der chaotisch gege- 
benen Weltmasse (vgl. § 21, 1), und sofern Piaton Gott als 
Weltbildner, als Demiurgen faßte, scheint er eine Materie, 
aus der gebildet wurde, ebenfalls vorausgesetzt zu haben. 
Im Mittelalter ist dieser Beweis besonders von Thomas mit 
Rücksicht auf die Zweckmäßigkeit der Natur formuliert 
worden. In der Neuzeit hat Leibniz und die an ihn an- 
schließende deutsche Phüosophie sich seiner gern bedient. 
Er erscheint nach Kant als der klarste und die größte Ach- 
tung verdienende und ist auch später noch für Herbart der 
Anknüpfungspunkt zu religionsphilosophischen Anschauungen 
geworden. Wie Kant ausführt, ermöglicht er zwar nur den 
315 
///. Kapitel. Die pfiilosophischen Richtungen. 
Schluß auf einen Weltbaumeister, einen Ordner, da sich die 
Zweckmäßigkeit auf die Form der Verknüpfung, nicht auf 
den Stoff der Natur bezieht. Aber hier haben wir es in der 
Tat mit einem Vorgefundenen zu tun, das für die wissen- 
schaftliche Forschung den Ausgangspunkt für die Setzung 
einer göttlichen Eealität bilden kann. Die wesentlichsten 
Erscheinungen sind von Liebmann folgendermaßen ge- 
schildert worden. »Planmäßig ist die Verteilung und Be- 
wegungsart der Gestirne im Weltenraum; unzählige Sterne 
bewegen sich in solchen Bahnen und in solchen Distanzen, 
daß sie ruhig koexistieren können, nicht aber in ein Chaos 
zusammenstürzen. Planmäßig ist insonderheit die Anord- 
nung unseres Planetensystems; jeder Planet hat die üm- 
laufsgeschwindigkeit, die seiner Entfernung von der Sonne 
angemessen ist und ihn daran verhindert, entweder in die 
Sonne hineinzufallen oder aus ihrem Gravitationsbereich in 
den unendlichen Eaum zu entfliehen ; die gegenseitigen Stö- 
rungen und Perturbationen der Planeten müssen sich, wie 
Kewton gezeigt hat, immer wieder ausgleichen, so daß der 
Gravitationstheorie gemäß die Stabilität des Planeten- 
systems für eine unermeßliche Zukunft gesichert ist. Plan- 
mäßig scheint der Makrokosmus darauf berechnet, daß 
unsere Erde, wie wohl gar mancher andere Weltkörper, von 
lebendigen Wesen bewohnt werden kann. Planmäßig wird 
die Atmosphäre von der Gravitationsanziehung an die Erde 
gefesselt und kann sich nicht ins Unendliche verflüchtigen; 
Luft, Wasser und Land, physikalische und chemische Pro- 
zesse, Sonnenlicht und Sonnenwärme arbeiten zusammen, 
um das Dasein einer Pflanzenwelt zu ermöglichen, ohne welche 
wiederum die Tierwelt und der Mensch nicht existieren 
könnte . . . Das Niedere ist im Stufenbau des Universums 
Mittel zum Zweck der Existenz des Höheren«. Man kann, wie 
wir schon früher (§ 23, 12) sahen, die leblose Natur, sofern 
sie der Entstehung und Erhaltung von Leben und Bewußt- 
sein dient, eine Maschine nennen, die ein Künstler gebaut hat 
und deren Gang er überwacht. Auf solche Weltteleologie hat 
auch schon das logische Argument hingewiesen, indem es die 
Anpassung der Seinsformen an die Erkenntnisformen und 
31G 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
umgekehrt hervorhebt. Sie ist auch der eigentliche Nerv des 
moralischen Beweises. 
8. Der moralische Beweis für das Dasein Gottes schließt 
aus der Voraussetzung einer sittlichen Welt Ordnung, 
aus der Annahme von Sinn und innerem Zusammenhang in 
dem geschichtlichen Verlauf der Menschheit, aus dem uns 
alle beherrschenden Glauben an eine ethische Kausalität, 
nach der wir die Früchte unserer Taten ernten, auf ein diese 
Ordnung wollendes und verwirklichendes Wesen. Unser 
Staats- und Gesellschaftsleben ist tatsächlich auf die Voraus- 
setzung gegründet, daß Vernunft und Sinn besser sind, als 
Unvernunft und Unsinn, Eecht und Sittlichkeit besser, als 
Unrecht und Unsittlichkeit. In der Kichtung zum Ideal der 
Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Humanität suchen wir 
uns zu vervollkommnen; unter eine bewußt oder unbewußt 
anerkannte sittliche Ordnung beugen wir uns, indem wir 
ihre Absichten zu fördern, ihre Vorschriften zu erfüllen 
streben. Als Leiter und Hort einer derartigen Weltord- 
nung, der wir uns als dienende Glieder einfügen, erscheint 
Gott. 
Dagegen kann die mangelnde Entsprechung von Tugend 
und Glück, die uns die Erfahrung oft zeigt, nicht, wie Kant 
meinte, als ein ausreichendes Fundament für die Forderung 
einer göttlichen Gerechtigkeit und demnach der Existenz 
eines Gottes angesehen werden. Denn zunächst kann es sich 
hier doch nur um einen Wunsch handeln, den Tugendhaften 
zugleich nüt allen Glücksgütern des Lebens beschenkt zu 
sehen, und es hat Zeiten gegeben, in denen es geradezu als 
ein Kennzeichen des sittlichen Charakters galt, das Glück 
zu meiden, auf die Güter des Lebens zu verzichten. Sodann 
aber schließt dieser Beweisversuch eine doppelte Transzendenz 
ein, indem nicht nur ein persönlicher Gott, sondern auch eine 
Unsterblichkeit des Individuums gefordert wird, damit jener 
Ausgleich in einem Jenseits zustande kommen könne. End- 
lich wäre zu fragen: nach welchem Maßstab soll ein gerechter 
Ausgleich zwischen Tugend und Glück hergestellt werden, 
und wäre nicht auch eine Entsprechung zwischen Laster und 
Unglück, also eine »Hölle«, sittlich gefordert? 
317 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Seit J. G. Fichte ist namentlich die sittliche Weltordnung 
oder das sittliche Ideal einer ethisch vollkommenen Mensch- 
heit zum Ausgangspunkt einer theistischen Metaphysik ge- 
worden. Auch dieser Beweis ist eine besondere Form des 
teleologischen, indem dieVerwirklichung sittlicher Zwecke, 
die moralische Vervollkommnung als höchstes Ziel der ganzen 
Entwicklung in der Welt betrachtet wird. Wir haben es 
daher nur mit drei wesentlich verschiedenen Gottesbeweisen, 
dem ontologischen, dem kosmologischen und dem teleo- 
logischen zu tun. Von ihnen gebührt aber nur dem letzt- 
genannten eine positive Bedeutung für die wissen- 
schaftliche Metaphysik. Ob sich aus ihm ein Theismus 
ergibt, werden wir später zu untersuchen haben. Zunächst 
gilt es die übrige^ theologischen Ansichten durchzugehen 
und zu prüfen. 
9. Der erste Entwurf eines Deismus wird auf Herbert 
von Cherburyi) zurückgeführt (vgl. § 11, 2). Im Gegensatz 
zur historischen, autoritativ begründeten Religion wollte er 
eine natürliche, nur durch die Vernunft geforderte und ge- 
rechtfertigte formulieren. Als eine solche hat nach ihm die- 
jenige zu gelten, die sich einer allgemeinen Zustimmung (des 
consensus omnium) erfi^eut. Somit wird der Begriff der Ee- 
ligion, das, was allen ihren Formen gemeinsam ist, zum 
Kennzeichen ihrer Wahrheit. Der Inhalt der auf diesem 
Wege gewonnenen Vorstellungen wird in fünf Sätzen zu- 
sammengefaßt, die als wahrhaft katholische, d. h. allgemein 
gültige Grundsätze bezeichnet werden. Sie behaupten: die 
Existenz eines höchsten Wesens ; die Verpflichtung zu seiner 
Verehrung ; Tugend und Frömmigkeit als die wichtigsten Be- 
standteile des cultus divinus (Gottesdienstes) ; ferner das Eecht 
der Eeue und der Vergeltung und von Lohn und Strafe 
nach diesem Leben. Damit verknüpft sich die merkwürdige, 
noch im 18. Jahrhundert vorwaltende Anschauung, daß die 
geschichtliche Urform der Eeligion diesem reinen Allgemein- 
begriff entsprochen habe, und daß erst durch Betrug und 
List Einzelner die besonderen Merkmale der positiven Ee- 
ligionen entstanden seien. Bestimmter wurde der Deismus 
1) De veritate, 1624 u. ö. 
318 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
durch John Locke gefaßt, der die allgemeine Übereinstim- 
mung in der Vorstellung und Verehrung eines göttlichen 
Wesens leugnete (vgl. § 15, 5) und den Begriff desselben durch 
eine Verknüpfung und Steigerung der vorzüglichsten Eigen- 
schaften im Menschen entstehen ließ. Auf die Existenz 
Gottes aber wurde von ihm durch das kosmologische Argu- 
ment geschlossen. Später haben namentlich Toi and (vgl. 
§ 19, 3) und TindaP) den Deismus vertreten. Von nun an 
ist er auch in Frankreich und Deutschland heimisch geworden. 
Als sein Hauptverteidiger kann dort Voltaire, hier H. S. 
Eeimarus^) (f 1768) betrachtet werden. Erst in der spä- 
teren Entwicklung erhält der Deismus, der sich ursprünglich, 
auch noch bei Eeimarus, von dem Theismus nur durch 
die Methode seiner Untersuchung und Begründung unter- 
scheidet, den ihm oben (§ 26, 18) zugeschriebenen eigentüm- 
lichen Charakter. 
10. Der Deismus, der im 19. Jahrhundert beispielsweise 
noch einen begeisterten Anhänger in Thomas Buckle 
(t 1862) gefunden hat, betrachtet Gott als ein transzendentes 
Wesen, als überweltlichen Schöpfer des Universums, der 
alles so vortrefflich geordnet hat, daß ein späteres Eingreifen 
in den Gang der Dinge nicht nur unnötig, sondern auch mit 
seiner Würde unverträglich erscheint. Der IS^achteil, in dem 
er sich durch seine praktische Unfruchtbarkeit gegenüber 
dem Theismus befindet, und der ihn tatsächlich dem Atheis- 
mus gleichstellt, hat es wohl vor allem bewirkt, daß er all- 
mählich ganz zurückgetreten ist. Die Welt wäre, wie er 
meint, schlecht geschaffen und Gott kein vollkommenes 
Wesen, wenn immer wieder eine Eegelung und l^achbesse- 
rung von selten Gottes dem Verlauf der Dinge zuteil werden 
müßte. In diesem Sinne hat der Deismus besonders gegen 
die Wunder gekämpft. Aber wenn er mit seinem Gottes- 
begriff Ernst machte, den er mit Merkmalen ausstattet, die 
sich nur andeutungsweise bei den Menschen vorfinden, so 
müßte er sich zugleich bescheiden, darüber nichts bestimmen 
zu können, was Gottes Zwecke oder Absichten bei der 
^) Christianity as old as the creation, 1730, die »Bibel« des Deismus. 
^) Von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, 1754 u. ö. 
319 
///. Kapitel. Die philosophsichen Richtungen. 
Weltschöpfung gewesen und was seiner würdig sei. Man 
kann sehr im Zweifel sein, ob ein ruhiges, passives Zuschauen 
und Gewährenlassen, eine unwirksame Kontemplation ein 
für Gott würdigeres Verhalten genannt werden darf. Nicht 
an der automatenhaften Selbständigkeit, sondern an der 
Größe, Bedeutung und Vollkommenheit ihrer Leistungen 
pflegen -wir im allgemeinen den Wert einer kunstreichen 
Maschine zu messen. Insofern der Deismus auf dem kosmo- 
logi sehen Ai'gument beruht, entzieht er sich der wissen- 
schaftlichen Beurteilung; insofern er das teleologische be- 
nutzt, hat er eine sehr angreifbare Vorstellung vom zweck- 
mäßigen Geschehen und Wirken. Die Welt wird ihm zu 
einem abgeschlossenen, fertigen Gebilde, in das nichts 
Neues hineinkommt, das vollendet aus der Hand seines 
Schöpfers hervorgegangen ist. Die Wissenschaft lehrt uns 
eine ganz andere Welt kennen, die in beständigem Werden 
und Wachsen begriffen ist, die nicht ein für allemal zweck- 
mäßig ist und bleibt, sondern sich nur in ihrem Verlauf, in 
der Entwicklung und im Fortschritt als eine Zwecken dienende 
erweist und bewährt. Die allgemeine Übereinstimmung 
aber, die der Deismus ursprünglich zur Aufstellung seines 
ßeligions- und Gottesbegriffs verwertet hat, ist natürlich 
kein Beweis für die Wahrheit dessen, worin übereingestimmt 
wird, und die platonische Metaphysik, die den Allgemein- 
begriff für das reale Wesen aller konkreten Erscheinungen 
nahm und bei dem englischen Deismus unzweifelhaft nach- 
gewirkt hat, beruht auf einer Vermischung des Logischen mit 
dem Eealen. 
11. Zu einer sehr verbreiteten Anschauung ist in der Gegen- 
wart der Pantheismus geworden. Insbesondere pflegt 
sich der bei Philosophen und Naturforschern vielfach aus- 
gebildete Monismus mit dieser theologischen Ansicht zu 
verbinden. Wenn Gott und Welt zusammenfallen, so muß 
offenbar die Bestimmung des göttlichen Wesens von den 
Ansichten abhängen, die über die Eealprinzipien der Welt 
aufgestellt werden. In der Tat lassen sich hiernach ein 
materialistischer oder naturalistischer, ein spiritua- 
listischer und ein monistischer Pantheismus unterschei- 
320 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Meta'physik. 
den. Den naturalistischen vertritt z. B. Haeckel, wenn er 
die Einheit von Gott und Welt behauptet. Innerhalb des 
spiritualistischen kann man einen intellektualistischen 
und einen voluntar istisch en Pantheismus einander gegen- 
überstellen, je nachdem Geist oder Wille die das Wesen der 
Eealität bestimmenden Faktoren sind. Einen Allgeist hat der 
Hegeische Panlogismus, einen Allwillen der Schopen- 
hauer sehe Pantheismus angenommen, während E. v. 
Hartmann in seinem Unbewußten den Allgeist mit dem 
Allwillen vereinte. Monistisch ist der Pantheismus der 
Eleaten zu nennen, die Gott und das Eine, seiende All 
identifizieren, und besonders die grandios durchgeführte 
Weltanschauung von G. Bruno ^), in der jedoch z\Näschen 
Gott und Welt ein Unterschied hervorgehoben wird, den man 
durch die Begriffe der intensiven und der extensiven Unend- 
lichkeit bezeichnen kann. »Ich nenne Gott in seiner Ganzheit 
unendlich, weil er jegliche Grenze von sich ausschließt und 
jedes seiner Attribute einzig und unendlich ist, und ich nenne 
Gott absolut und völlig unendlich, weil er überall ganz ist, 
in der ganzen Welt und in jedem ihrer Teile unendlich und 
völlig allgegenwärtig ist, — im Gegensatz zur Unendlichkeit 
des Weltalls, welches letztere vollkommen nur im ganzen 
ist und nicht in jedem seiner Teile«. Eindeutig ist der 
monistische Pantheismus von Spinoza vertreten worden, 
nach dem Gott und Natur nur zwei verschiedene Ge- 
sichtspunkte sind, unter denen man dieselbe Substanz be- 
trachten kann. Gott bedeutet das aktive Prinzip, die 
schöpferische Natur, Natur das passive Prinzip, die ge- 
schaffene, gewordene Natur. 
12. Der Pantheismus wird, wie es scheint, durch drei Ein- 
wände in Frage gestellt. Erstlich gefährdet diese Eichtung, 
wenn man sich so ausdrücken darf, die relative Selbstän- 
digkeit der Einzelrealitäten. Ist Gott der Inbegriff aller 
Eealität, so ist alles Sein und Geschehen in der Welt sein 
Geschehen und Sein. Die erfahrungsgemäß gegebene Unab- 
hängigkeit der Individuen wird dadurch unverständlich oder 
1) Vom Unendlichen, dem All und den Welten. Deutsch v. Kuhlen- 
beck, 1893. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 21 
321 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
muß für bloßer Schein erklärt werden. Zweitens aber — 
und das ist die Kehrseite des nämlichen Einwandes — muß 
Gott nach dem Pantheismus an allen Unvollkommen- 
heiten und Übeln der Welt teilnehmen. Die Un- 
zweckmäßigkeit, Schlechtigkeit, der böse Wille, die der 
empirische Pessimismus aufzeigt, sie sind alle in Gott, und 
der evolutionistische Optimismus vermag dieses Enthalten- 
sein aller Mängel im göttlichen Wesen nicht aufzuheben. 
Damit verliert Gott den Charakter des Ideals, der den 
theistischen und deistischen Gotte&begriff auszeichnet. Drit- 
tens ist geltend zu machen, daß die Gottesidee beim Pan- 
theismus als unbegründet erscheint. Ist wirklich die 
Formel Spinozas: Gott oder Natur [Dens sive natura) an- 
zuerkennen, so begreift man nicht, warum noch das Welt 
oder Natur Genannte auch Gott genannt wird. Handelt es 
sich um Synonyma, so ist von einem eigentlichen und selb- 
ständigen Gottesbegriff überhaupt nicht mehr die Kede, 
und der Pantheismus wird dem Atheismus gleich. Soll da- 
gegen doch Verschiedenes mit beiden Ausdrücken gemeint 
sein, so wird der Pantheismus aufgegeben und dem göttlichen 
Wesen eine besondere Aufgabe neben der Welt zuteil. Dann 
aber würde es sich dai-um handeln, diese eigentümliche Stel- 
lung des Gottesbegriffs durch eine Eigentümlichkeit des Tat- 
sächlichen, Gegebenen verständlich zu machen bzw. ge- 
fordert erscheinen zu lassen. Wir können diesem Hauptein- 
wand auch eine andere Fassung geben. Ist die Welt, das 
Universum, der Inbegriff aller Kealität, so ist kein Platz 
für eine neue außer ihr: das All kann nur Eines sein (vgl. 
§ 18, 3). Daß man diesen Inbegriff auch noch Gott nennt, 
ist genau ebenso wichtig, wie die Tatsache, daß ich ein Stief- 
mütterchen auch viola tricolor oder daß ich ein Examen 
auch eine Prüfung heiße. Soll aber der neue Name eine andere 
Eealität bezeichnen, so ist die Welt nicht mehr der Inbegriff 
aller Eealität, der Pantheismus macht einer der anderen 
Eichtungen Platz und hat dann die Verpflichtung, für das 
neue Prinzip, das er aufgestellt, auch einen besonderen Grund 
anzugeben. Der ästhetische Zauber einer andächtig-kon- 
templativen, erhabenen Stimmung, in die ein empfängliches 
322 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
Gemüt gerät, wenn es in schweigender Nacht den bestirnten 
Himmel sich wölben oder das gewaltige Meer weithin er- 
glänzen oder den ewigen Schnee auf Bergriesen im Sonnen- 
lichte strahlen sieht, ist selbstverständlich kein empirischer 
Beweis für den Pantheismus, sondern läßt sich von jeder 
theologischen Eichtung aus verständlich machen. Der Pan- 
theismus wird somit entweder zum Atheismus, wenn er mit 
seiner Lehre Ernst macht, oder geht in eine der anderen 
theologischen Ansichten über, sobald er die Verschiedenheit 
von Gott und Welt betont. Will er endlich das monistische 
Schema der zwei Seiten auf das Verhältnis von Gott und 
Welt zueinander übertragen, so sind die Bedenken zu wieder- 
holen, die früher gegen eine Zweiseitentheorie ausgeführt 
wurden (vgl. § 22, 7 ff.). 
13. Von diesem dritten Einwand gegen den Pantheismus 
hat sich der Panentheismus befreit, indem er zwar die 
Welt in Gott, nicht aber Gott in der Welt aufgehen läßt und 
damit theistische Gedanken in den Pantheismus hinein- 
bringt. K. Chr. F. Krause (f 1832) hat in rein spekulativer 
Form eine solche Allingottlehre vertreten. Eine anschauliche 
und geistvolle Begründung und Ausbildung hat ihr sodann 
Fe ebner gegeben. Die Tatsache, daß unsere Empfindungen, 
Vorstellungen, Gedanken und Gefühle miteinander in leben- 
diger Wechselbeziehung stehen, sich reproduzieren und ver- 
drängen, sich vertragen und um die Vorherrschaft im Be- 
wußtsein miteinander streiten, hängt nach ihm an der Be- 
dingung, daß sie alle Glieder und Teilerscheinungen eines und 
desselben Bewußtseins sind. Ohne dieses würden sie sich 
weder finden noch aufeinander wirken, würden sie sich weder 
fördern noch hemmen. Auch die sog. unbewußte Tätigkeit 
unseres Geistes ist nicht ohne Bewußtsein, sondern nur ein 
von dem allgemeinen Bewußtsein verschlungenes, aber dessen 
Haltung und Gestaltung wesentlich mit ermöglichendes 
BewTißtsein. Nun finden wir auch einen entsprechenden 
lebendigen Verkehr und Austausch der Menschen unter- 
einander, ein Wachstum der Ideen und Verschlingungen der 
Seelen in- und miteinander. Auch diese Tatsache fordert 
die Annahme eines größeren und mächtigeren Bewußtseins, 
21* 
323 
///, Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
das sie alle trägt und hält. Natürlich haben wir uns jene 
höhere Seelenform, von der wir selbst umschlossen sind, 
ungleich leistungsfähiger und reicher zu denken, als unser 
eigenes enges und schwaches Bewußtsein. So wie wir nun 
selbst mehr sind, als die einzelnen Empfindungen und Ge- 
fühle, die wir wahrnehmen, so muß auch der höhere Geist, 
an dem wir teilhaben, mehr sein, als die verschiedenen ein- 
zelnen Seelen, die er umschließt. Er empfindet zwar alles, 
was wir empfinden und wie wir es empfinden, aber er fühlt 
auch, wie das Was und das Wie unseres Empfindens in Be- 
ziehungen eingeht, die wir nicht verstehen' und erfassen 
können, und die viel höhere Bedeutung haben als unsere ein- 
zelnen Bewußtseinsakte. Ein solches umfassenderes Sein 
schreibt Fechner der Erde und den übrigen Himmels- 
körpern zu, und diese sind wieder enthalten in dem größten, 
in dem schlechthin reichsten und mächtigsten Bewußtsein, 
demjenigen Gottes. Gott nimmt also alle besonderen Formen 
der Eealität, von den kleinsten bis zur relativ größten, den 
ganzen psychophysischen Stufenbau der Welt in sich auf, 
aber ragt zugleich darüber hinaus, bleibt eine eigentümliche 
Einheit über ihnen. Gegen den Panentheismus gelten 
zunächst die ersten beiden dem Pantheismus gegenüber her- 
vorgehobenen Einwände. Außerdem aber ist er in der 
Fechner sehen Fassung mit den Schwierigkeiten" verbunden, 
die eine spiritualistische Anschauung nach früherer Dar- 
legung belasten (vgl. § 20, 6 ff.). 
14. Ein Atheimus ist in der Philosophie nur selten aus- 
drücklich vertreten worden. Selbst Materialisten haben nicht 
immer die Gottesidee bestritten, sondern in der für sie cha- 
rakteristischen unklaren Hinneigung zu monistischen Ge- 
dankenkreisen gelegentlich einen Pantheismus im Sinne 
einer Einheit von Gott und Welt gelehrt. Wir haben zwischen 
einem primären und einem sekundären oder indiffe- 
renten Atheismus zu unterscheiden. Jener steht auf dem 
Boden der Metaphysik und bekämpft von hier aus jegliche 
Setzung und Bestimmung eines göttlichen Wesens. Dazu 
sind prinzipiell nur die materialistische und die mecha- 
nistische Eichtung geeignet, die erstere, weil sie nur reale 
324 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
Materie, die zweite, weil sie nur den blinden Kausalzusam- 
menhang der Natur anerkennt. Der sekundäre Atheismus 
ist eine Folge des erkenntnistheoretischen Standpunktes. 
Erklärt man überhaupt eine Erkenntnis von Eealitäten für 
unmöglich, d. h. ist man Konszientialist oder Phäno- 
menalist (vgl. §17), so muß man auch die Erkennbarkeit 
und Bestimmbarkeit einer göttlichen Eealität für ausge- 
schlossen halten. Mit der Metaphysik fällt natürlich auch 
jede theologische Ansicht der Metaphysik, mit der Transzen- 
denz überhaupt ist auch die theologische Transzendenz un- 
möglich geworden. Diesen sekundären Atheismus lehnen wir 
auf Grund unserer früheren erkenntnistheoretischen Kritik 
des Wirklichkeitsstandpunkts und des Phänomenalismus ab. 
Ebenso ist der primäre dadurch für uns erledigt, daß wir uns 
gegen den Materialismus und für die Teleologie entschieden 
haben (vgl. §§ 19 u. 23). Wenn L. Feuerbach (vgl. § 11, 3) 
einen Atheismus durch anthropologische Betrachtungen über 
die Entstehung der Gottesvorstellung im Bewußtsein zu be- 
gründen suchte, indem er zeigte, daß der Mensch eine ideale 
Projektion seiner selbst sich als göttliche Eealität gegen- 
überstelle, so ist zu betonen, daß die Entstehungsge- 
schichte einer Ansicht oder Lehre niemals über deren 
Eecht und Geltung etwas auszumachen imstande ist. Wie 
wir zur Annahme einer Außenwelt tatsächlich geführt werden, 
ist für die Eichtigkeit oder Unrichtigkeit derselben belanglos. 
Ob wir also auf diesem oder jenem Wege uns eine Gottesidee 
bilden, kann für die Berechtigung, zur Setzung und Bestim- 
mung einer entsprechenden Eealität nicht maßgebend sein. 
Feuerbach ist denn auch später zu einer materialistischen 
Lehre gelangt und hat sich damit füi- den primären Atheis- 
mus erklärt. 
15. Ziehen wir nach dieser Erörterung aller theologischen 
Eichtungen die Summe aus unseren Erwägungen, so werden 
wir uns zunächst daran zu erinnern haben, daß von allen 
sog. Gottesbeweisen nur der teleologische für eine wissen- 
schaftliche Metaphysik in Betracht kommt. Der einzige 
wissenschaftliche Ausgangspunkt für eine positive Setzung 
und Bestimmung göttlicher Eealität ist in der Weltzweck - 
325 
///. Kapitel, Die 'philosophischen Richtungen. 
mäßigkeit gegeben, soweit wir eine solche zu erfassen im- 
stande sind. Die Übereinstimmung von Wahrheit und Eich- 
tigkeit im Denken und Erkennen der Welt, die Anpassung 
der leblosen Natur an die Erhaltung und Entwicklung von 
Leben und Bewußtsein, der Fortschritt vom Niederen zum 
Höheren, Sinn und Zusanmaenhang im geschichtlichen Wer- 
den, moralische Vervollkommnung weisen uns darauf hin, 
die ganze Welt als ein »System nach der Eegel der Zwecke« 
zu betrachten und insbesondere die leblose Natur einer Ma- 
schine gleichzusetzen, die außer ihr liegende Ziele verwirk- 
licht. Nun haben wir früher die immanente Zweckmäßigkeit 
der Organismen auf Sefelen, psychische Faktoren zurückzu- 
führen gesucht (vgl. § 23, 10 f.). Übertragen wir diese An- 
sicht auf die Zweckmäßigkeit des Universums, so ergibt sich 
daraus die Bestimmung und Setzung einer Weltseele oder 
eines Weltgeistes, dem für die Welt etwa dieselbe Bedeutung 
zukommt, wie den Einzelseelen für ihre Organismen. In die 
physische Welt als den Leib Gottes gehen demnach eine 
große Anzahl von individuellen OrganivSmen mit ihren zuge- 
hörigen Seelen ein, in ähnlicher Weise, wie die Zellen unseres 
Körpers von den unserer Gehirnseele untergeordneten psy- 
chischen Faktoren beherrscht und geleitet werden. Damit 
ist die relative Selbständigkeit unserer Individualgeister 
völlig gewahrt. Unser bewußter Geist verhält sich zu Gott 
ungefähr so, wie sich die Zellseele, etwa unserer Blutkörper- 
chen, zu unserem bewußten Geiste verhält. Alle unsere 
Zwecke werden von uns in eigenartiger Weise und auf selb- 
ständigen Wegen verfolgt, aber diese Zwecke streben schließ- 
lich dem gleichen Ziele, demjenigen Gottes zu. Und so wenig 
wir für irgendeine lokale Erkrankung einzelner Zellen- 
gruppen unseren bewußten Geist verantwortlich machen 
können, so wenig werden wir die einzelnen Abirrungen der 
Individuen vom rechten Pfade dem Weltgeiste als seine 
Verfehlung zur Last legen. Bei dem Dualismus, den wir für 
das Verhältnis des Physischen zum Psychischen festgehalten 
haben, ist Gott von der Welt verschieden zu denken, bei der 
teleologischen Auffassung, die wir vertreten, hat Gott einen 
beständigen und wirksamen Einfluß auf das Weltgeschehen. 
326 
§ 26. Die theologischen Richtungen in der Metaphysik. 
Mit diesen Prinzipien ist somit ein Theismus gegeben^). 
Wie aber den Zellseelen kaum eine dämmernde Ahnung von 
dem Wesen und Walten des ihnen übergeordneten bewußten 
Geistes zuzuschreiben ist, so werden auch wir uns mit diesen 
dürftigen und inhaltsleeren Analogien bei Bestinamung der 
uns und unsere Geschicke leitenden Weltseele zu begnügen 
haben. Mag die Eeligion ein reiches, lebensvolles Gebilde 
aus dieser Idee sich errichten, die Metaphysik wird ihrer 
wissenschaftlichen Aufgabe eingedenk nicht weiter gehen 
dürfen, als allgemeine Erfahrung und wissenschaftliches Den- 
ken zu gehen gestatten. Diese reichen aber nicht aus, um 
auch nur die Grundeigenschaften, die z. B. der christliche 
Glaube Gott beilegt, als real zu erweisen und das Problem 
der Theodicee (vgl. § 24, 6) in wirklich überzeugender Weise 
zu lösen. 
LITERATUR: 
A. Daniels: Quellenbeiträge und Untersuchungen zur Geschichte der 
Gottesbeweise im 13. Jahrh. Ebd. VIII, H. 1.2, 1909. 
A. Drews: Die deutsche Spekulation seit Kant mit besonderer Rück- 
sicht auf das Wesen des Absoluten und die Persönlichkeit Gottes, 
2 Bde., 1893, 2. Ausg. 1895 (vom Standpunkt E. v. Hartmanns aus 
werden die einzelnen Denker beurteilt). 
A. C. Fräser: Phüosophy of Theism, 2. voll. 2. ed. 1899 (zur Einführung 
in eine theistische Metaphysik sehr geeignet). 
Jos. Geyser: Das philosophische Gottesproblem, 1899 (knüpft an die 
antike Philosophie an und steht auf einem gemäßigten thomistischen 
Standpunkt). 
G. Grunwald: Geschichte der Gottesbeweise im Mittelalter. Beiträge 
zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, herausgegeben von 
Baeumker und von Hertling. VI, H. 3, 1907. 
Friedr. Heiler: Das Wesen des Katholizismus, 1920. 
W. E. Hocking: The Meaning in Human Experience. A Philosophie 
Study of Religion, 1912 (vertritt einen theistischen Standpunkt). 
A. Kästner: Geschichte des teleologischen Gottesbeweises von der Re- 
naissance bis zur Aufklärung, 1907. 
J. Lindsay: Recent advances in Theistic Philosophy of Religion, 1897 
(eine vom christlichen Standpunkt entworfene kritische Übersicht 
der modernen Religionsphilosophie und theistischen Metaphysik). 
R. Otto: Kantisch-Friessche Religionsphilosophie*, 1909. 
*) Vgl. dazu die schönen Ausführungen in dem Sclüußabschnitt von 
K. Joels Buch über den freien Willen (zitiert S. 272). 
327 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
J. Royce: The conception of God, 1897. Vgl. § 17, 14. 
G. Runze: Der ontologische Gottesbeweis, 1882 (historische und kri- 
S,- tische Ausführungen). 
H. Schwarz: Der Gottesgedanke in der Geschichte der Philosophie. I. 
*Von Heraklit bis Jacob Böhme. Synthesis IV, 1913. 
F. Traub: Theologie und Philosophie, 1910 (hält die Metaphysik in 
'jeglicher Gestalt für unmöglich)^ 
James Ward: The Realm of Ends, or Pluralism and Theism, 1911 (eine 
spiritualistische und theistische Metaphysik). 
G. Wobbermin: Theologie und Metaphysik, 1901 (eine erkenntnis- 
'theoretische Untersuchung und eine Behandlung des Ich- und des 
Kausalitätsproblems ) . 
Vgl. außerdem die Literatur zur Keligionspliilosophie § 11. 
§ 27. DIE PSYCHOLOGISCHEN EICHTÜNGEN IN 
DER METAPHYSIK. 
1. Ein doppelter Gegensatz ist es, den wir in neuester Zeit 
zwischen metaphysisclien Ansichten psychologischer Art auf- 
treten sehen. Zunächst scheiden sich die Wege in der Be- 
stimmung des Wesens der Seele, in dem die Substantiali- 
tätstheorie eine den einzelnen seelischen Vorgängen zu- 
grunde liegende Substanz, die Aktualitätstheorie da- 
gegen die gesamte Wirklichkeit des geistigen Geschehens 
selbst, wie es unmittelbar, aktuell erlebt wird, mit dem 
Namen Seele belegt. Der zweite Gegensatz bezieht sich auf 
die Bestimmung der wesentlichen Qualität alles Psychischen. 
Der Intellektualismus behauptet, daß die intellektuellen 
Prozesse des Wahrnehmens, Vorstellens und Denkens Grund- 
lage oder Quelle aller übrigen bilden. Der Voluntarismus 
dagegen erklärt die Willenserscheinungen, also die Triebe, 
Leidenschaften, Affekte, Gefühle und Strebungen für das 
Bestimmende und Primäre, für Wesen und Bedingung 
unserer inneren Erfahrung. 
Alle Substantialitätstheorien verstehen unter der Seele ein 
reales, von ihren wechselnden Erscheinungen verschie- 
denes, selbständiges imd einheitliches Wesen. Vielfach wird 
auch die Einfachheit und Beharrlichkeit zu den Merkmalen 
der Seelensubstanz gerechnet. Die Aktualitätstheorien da- 
gegen erblicken in dem von fortwährend wechselnden Be- 
328 
§ 27. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik. 
wußtseinszusammenhang, in dem es nur Vorgänge oder 
Ereignisse gibt, die miteinander verbunden auftreten, also 
in den Wahrnehmungen, Gemütsbewegungen, Denkprozessen 
und Strebungen selbst, nicht in einem von ihnen verschiede- 
nen realen Subjekt derselben das Wesen der Seele. Hier- 
nach leuchtet ein, daß ein erkenntnistheoretischer Gegensatz 
dem hier in Frage stehenden metaphysischen zugrunde liegt, 
der Gegensatz zwischen einem psychologischen Eealis- 
mus und Konszientialismus (vgl, § 17). Nach der Sub- 
stantialitätstheorie ist die Seele ein Eeales, auf das ihre 
Phänomene, die Bewußtseinsinhalte, nur hinweisen, nach der 
Aktualitätstheorie ist sie mit dem im Bewußtsein Gegebenen 
identisch. Da nun die Auffassung der Seele als einer Sub- 
stanz nur eine der möglichen Formen ist, in denen das 
Seelenreale bestimmt werden kann, so ist die Substantialitäts- 
theorie nur ein typischer, nicht ein umfassender und 
strenger Gegensatz zu der den psychologischen Konszien- 
tialismus darstellenden Aktualitätstheorie. 
2. Der eigentliche Begründer der Substantialitäts- 
theorie ist Descartes. Im Altertum, das die Seele mit dem 
Lebensprinzip gleichsetzte, gab es noch nicht eine so schroffe 
Gegenüberstellung des Körperlichen und Seelischen, obwohl 
eine mit den Bewußtseinsinhalten nicht zusammenfallende 
Realität des Psychischen durchweg angenommen wurde. 
Erst mit der kartesianischen Scheidung der denkenden und 
der ausgedehnten Substanz (vgl. § 21, 2) tritt uns eine schär- 
fere Ausprägung des Begriffs einer den Bewußtseinserschei- 
nungen zugrunde liegenden Seelensubstanz entgegen. In 
einer anderen Form finden wir sie bei Leibniz (vgl. § 20, 1. 2) 
wieder. Die Seele ist hier eine Monade, ein für sich existie- 
rendes Wesen {ens per se existens). In der Psychologie des 
18. Jahrhunderts war diese Vorstellung im allgemeinen 
neben der kartesianischen die herrschende. Auch bei Locke 
und bei Berkeley ist die gleiche Annahme in Geltung. 
Der letztere löst zwar den Begriff einer Körpersubstanz 
konszientialistisch auf, läßt aber den der Seelebsubstanz 
unangetastet (vgl. § 17, 6). Daß die Seele eine Substanz sei, 
als solche unsterblich und selbständig, war so sehr in das 
329 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
allgemeine Bewußtsein dieser Zeit übergegangen, daß es 
erst der H um eschen und Kant sehen Kiitik dieser Ansicht 
gelang, das Transzendente solcher Behauptungen einleuch- 
tend zu machen. In der neuesten Zeit sind besonders Her- 
bart und Lotze Anhänger der Substantialitätstheorie ge- 
wesen. Nach jenem ist die Seele ein Eeales, dessen einfache 
Qualität wir nicht kennen; was wir erfahren, was über die 
Schwelle unseres Bewußtseins tritt, das sind die Selbst- 
erhaltungen, durch die sich dieses Eeale in seinen Wechsel- 
beziehungen gegenüber anderen Wesen behauptet (vgl. § 20, 3). 
Lotze meint: »Die Tatsache der Einheit des Bewußtseins 
ist es, die eo ipso zugleich die Tatsache des Daseins einer Sub- 
stanz ist«. Dabei ist aber jede Seele »das, als was sie sich 
gibt: in bestimmten Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen 
lebende Einheit«. Nicht also als eine mystische Wesenheit 
hinter den reichen Inhalten der inneren Erfahrung, sondern 
als deren Zusammenhang erscheint die Seelensubstanz bei 
Lotze. Dadurch nähert sich seine Auffassung sehr der 
Aktualitätstheorie und sie ist fast nur noch dem Namen nach 
von ihr verschieden. 
3. Die Aktualitätstheorie hat eine weit kürzere Ge- 
schichte. Erst in neuester Zeit ist sie mit vollem Bewußtsein 
der Substantialitätstheorie gegenübergestellt worden. Als 
eine Vorbereitung dieses Standpunkts erscheint die Kritik, 
welche Hume und Kant an der Annahme einer geistigen 
Substanz geübt haben. Dabei hat Hume den psycholo- 
gischen Konszientialismus, Kant den psychologischen Phä- 
nomenalismus vertreten. Jener lehrt die Seele, das Ich 
schlechthin als eine bloße Vereinigung von Bewußtseinsvor- 
gängen fassen (vgl. § 17, 6), dieser leugnet nicht eine Seele 
als Ding an sich, ist aber der Ansicht, daß unsere wissen- 
schaftliche Erkenntnis sich auf die seelischen Erschei- 
nungen beschränke, daß die Seele selbst unerkennbar sei, 
jedoch hat er durch die Aufstellung des Postulats der indivi- 
duellen Unsterblichkeit sich tatsächlich für die Bestimmung 
des Seelenrealen als einer Substanz ausgesprochen. Man 
kann daher nur Hume als den Begründer der Aktualitäts- 
theorie betrachten. Gegen den psychologischen Phänomena- 
330 
§ 27. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik. 
lismus hat sich sodann namentlich Beneke erklärt, indem 
er meinte, daß wir uns selbst »unmittelbar und ohne eine dem 
zu Erkennenden fremdartige, Vermittlung« erkennen. In 
der Gegenwart ist die Aktualitätstheorie durch Wundt, 
von dem auch der Name herrührt, und Paulsen eingehend 
dargestellt und begründet worden. Die Begründung hat sich 
hierbei ganz in die Form einer Kritik kleiden können. Denn 
die Aktualitätstheorie setzt nicht etwa der Substantialitäts- 
theorie eine neue Metaphysik entgegen, sondern verharrt 
bei der gegebenen Mannigfaltigkeit von Bewußtseinsvor- 
gängen, also bei Tatsachen, welche die empirische Betrach- 
tung des Seelenlebens jederzeit anerkannt hat und aner- 
kennen mußte. Sie ist daher eine besondere Theorie nur, 
insofern sie die übliche psychologische Metaphysik bekämpft, 
und hat uns hier, bei der Besprechung metaphysischer Eich- 
tungen, zunächst nur insoweit zu beschäftigen, als wir uns 
mit den Gründen bekannt machen müssen, welche gegen 
die Substanztheorie eingewandt worden sind. Die Aktuali- 
tätstheorie selbst haben wir sodann vor allem von dem 
Gesichtspunkt der Psychologie als empirischer Wissen- 
schaft zu prüfen. Eine psychologische Metaphysik ist nur 
möglich, wenn sie bereits in der Eichtung der Einzelwissen- 
schaft selbst liegt. Wäre daher die Psychologie mit der 
Aktualitätstheorie im. Einklang, d. h. beruhte sie auf der 
Voraussetzung des psychologischen Konszientialismus, so 
wäre jede weitere Bemühung um eine Eealität der Seele ab- 
zuweisen. Durch diese zAveite prinzipielle Darlegung er- 
gänzen wir zugleich die erkenntnistheoretischen Ausfüh- 
rungen des § 17 und die bei der Prüfung des Spiritualis- 
mus vorgetragenen Einzelbemerkungen (vgl. § 20, 6). 
4. a) Eine Seelensubstanz, sagt Paulsen, ist kein Gegen- 
stand unserer Wahrnehmung. — Daran ist nicht zu zweifeln, 
aber auch die Atome lassen sich nicht wahrnehmen, und die 
unbewußten psychischen Vorgänge, die Paulsen unbedenk- 
lich annimmt, gehören auch nicht in den Kreis möglicher Er- 
fahrung. Man könnte einwenden: wenn auch die Atome 
nicht wahrnehmbar sind, so sind es doch wenigstens die 
Atomkomplexe, und das Einfache, welches in sie eingeht, 
331 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
muß dann natüilicli auch als existierend gedacht werden. 
Aber auch Atomkomplexe, die Körper der Physik und 
Chemie werden nicht eigentlich wahrgenommen, sondern sie 
sind der meisten Eigenschaften entkleidet, die sie in der 
Wahrnehmung zu besitzen scheinen, und ihre Existenz be- 
steht unabhängig von der Wahrnehmung, die sie uns zum 
Bewußtsein bringt. Damm kann die Feststellung, daß etwas 
nicht wahrgenommen wird, keine Instanz gegen seine An- 
nahme bedeuten. 
b) Ferner erklärt Paulsen, daß die Verbindung zwischen 
der Seelensubstanz und den erfahrenen psychischen Vor- 
gängen unvorstellbar sei. Aber ist denn die Verbindung 
zwischen den psychischen und physischen Erscheinungen, 
die der von Paulsen vertretene Monismus annimmt, irgend- 
wie besser vorzustellen? Außerdem wäre der Einwand nur 
dann beweiskräftig, wenn man den konszientialistischen Satz 
von der Zurückführbarkeit alles Denkens auf das (anschau- 
liche) Vorstellen (vgl. § 17, 8) als gültig voraussetzt. Warum 
sich das Verhältnis einer Seelensubstanz im bezeichneten 
Sinne zu den seelichen Phänomenen schwerer soll denken 
lassen, als etwa die Zweiseitentheorie (vgl. § 22, 7 ff.), ist 
nicht einzusehen. 
c) Weiterhin wird gegen die Annahme einer solchen 
Seelensubstanz von Paulsen behauptet, daß deren Eigen- 
schaften nur aus Negationen beständen. Aber ist denn die 
Selbständigkeit, Eealität und Einheit etwas Negatives, und 
sind etwa die Eigenschaften, welche man der Materie beilegt, 
nicht auch zum Teil von rein negativer Beschaffenheit ? 
Eeale Wesen müssen so gedacht werden, daß sie fähig und 
geeignet erscheinen, die ihnen zugeschriebenen realen Vor- 
gänge und Beziehungen zu tragen, enthalten also genau so- 
viel an positiven Bestimmungen wie diese. 
5. d) Wenn die Substantialitätstheorie das Vorhanden- 
sein bloßer Akte oder Funktionen ohne einen Träger der- 
selben als undenkbar bezeichnet, so soll nach Paulsen diese 
Schwierigkeit durch die Bestimmung aufgehoben sein, daß 
ein seelischer Akt, wie etwa das Gefühl, niemals vereinzelt 
vorkomme, sondern immer nur im Zusammenhang eines 
332 
§ 57. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik. 
ganzen Seelenlebens. Aber dieser Zusammenhang läßt, wenn 
er eine nicht weiter angebbare einheitliche Verknüpfung 
bloßer Akte oder Vorgänge sein soll, die Frage wiederum 
laut werden, wie sich eine Vereinigung von Akten eigentlich 
denken lasse. Nicht einmal die empirische Forschung bleibt 
dabei stehen, sondern ergründet das Problem der Einheit 
des Seelenlebens und schreitet über das in der unmittelbaren 
Erfahrung Gegebene in der Form der reinen oder der phy- 
siologischen Psychologie hinaus. Erst recht aber pflegt es 
als eine Aufgabe der Metaphysik betrachtet zu werden, diese 
Vereinigung verständlich und denkbar zu machen. Die 
materialistische Metaphysik sucht uns den Zusammenhang 
psychischer Vorgänge auf ihre Weise nahe zu bringen, ebenso 
die spiritualistische oder dualistische Substanztheorie, und 
auch der Monismus hilft unserer Fassungskraft dadurch nach, 
daß er das Ganze der Wirklichkeit mit ihren zwei Seiten sub- 
stanzialisiert. Sodann aber ist der behauptete Zusammen- 
hang eines ganzen Seelenlebens als aktuelles Bewußtsein 
genommen, gar kein so geschlossener und kontinuierlicher, 
wie jener Einwand ihn erscheinen läßt. Jede neue Wahr- 
nehmung, jeder »Einfall«, dessen Herkunft unbekannt ist, 
unterbricht den jeweils vorhandenen Zusammenhang, Zeiten 
des Schlafes legen sich zwischen Zeiten wachen Bewußtseins. 
6. e) Eine größere Bedeutung scheint der Einwand von 
Wundt zu haben, daß die innere Kausalität unseres geistigen 
Lebens mit dem unveränderlichen Beharren einer Substanz 
nicht vereinbar sei. Dieser Einwand entscheidet in der Tat 
gegen eine Metaphysik, wie diejenige Herbarts, nach der 
das einfache Seelenreale dem tatsächlichen Wechsel des 
psychischen Geschehens fremd und fern gegenübersteht und 
sich an dem leeren Vorzug genügen lassen muß, als die Eea- 
lität zu gelten. Aber nicht das Merkmal unveränderlichen 
Beharrens, sondern das der Selbständigkeit, Einheit und 
Eealität ist in erster Linie von den älteren Theorien mit dem 
Substanzbegriff verknüpft worden. Wenn sie die Seele als 
eine Substanz bei^eichneten, so leitete sie dabei der Gedanke, 
die Gesamtheit eigenartiger Tatsachen, die unsere innere Er- 
fahrung enthüllt, als eine selbständige gegenüber anderen 
333 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
Tatsachen abzugrenzen. Sodann bedeutet die Beharrlich- 
keit dort, wo sie als ein Merkmal der Seelensubstanz aufge- 
führt worden ist, meist nicht sowohl eine qualitative Unver- 
änderlichkeit, als vielmehr eine Fortdauer der Existenz und 
gewisser Grundkräfte, die der Seele beigelegt werden. Gibt 
man aber das Merkmal der Beharlichkeit im Sinne der 
qualitativen Unveränderlichkeit preis, wie man es wohl tun 
muß, dann besteht auch nicht mehr der von Wundt hervor- 
gehobene Widerspruch mit der tatsächlichen Veränderlich- 
keit. Die psychische Eealität erscheint vielmehr, wie der 
leibliche Organismus, an den sie gebunden ist, als ein wer- 
dendes, wachsendes, Anlagen entwickelndes, in Wechsel- 
beziehungen stehendes Wesen. Diese Bestimmung ist mit 
der Feststellung des empirischen Zusammenhangs von Be- 
wußtseinstatsachen nicht identisch. Will man endlich die 
Einheit des Seelenlebens, die übrigens in sehr verschiedenen 
Formen auftritt, auf die des Organismus oder des Gehirns 
zurückführen, so übersieht man, daß der Vitalismus die 
letztere gerade durch die Einwirkung psychischer Faktoren 
erst zu erklären versucht. 
f) Keinen eigentlichen Einwand gegen die Substanz- 
theorie erblicken wir darin, daß sie, wie Wundt geltend 
macht, den Tatsachen der Erfahning gegenüber sich als eine 
grundlose Annahme erweise, weil sie zur Erkenntnis des Zu- 
sammenhangs dieser Tatsachen nicht das geringste beitrage. 
Für die reine Psychologie (vgl. § 8, 9) spielt ja der Substanz- 
begriff geradezu die Eolle einer einzelwissenschaftlichen 
Hypothese, wie sich das am deuthchsten bei Th. Lipps dar- 
tun läßt. Daß man bei der einfachen deskriptiven Behaup- 
tung der Aktualitätstheorie überhaupt nicht stehen bleiben 
kann, wenn man die seelischen Tatsachen begreifen will, läßt 
sich schwerlich bestreiten. Vorgänge ohne ein Etwas, an 
dem sie sich ereignen, Akte ohne ein Agens sind nun einmal 
nicht denkbar, und so treibt jeder Versuch einer wirklichen 
Theorie über die scheinbare des Aktualismus mit der inneren 
Notwendigkeit des Denkens hinaus. 
7. Nicht eine Bekenntnis zur Substantialitäts- 
theorie haben wir in dieser Auseinandersetzung nüt deren 
334 
§ 27. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik. 
Kritik von Seiten des Aktualismus ablegen wollen; es schien 
uns nur nützlich zu zeigen, daß die Einwände gegen jene 
Auffassung durchaus nicht die Natur zwingender Beweise 
haben und somit die Möglichkeit der Substantialitäts- 
theorie nach wie vor anerkannt werden muß. Insbesondere 
dürfte es sich empfehlen, diese Theorie nur von dem näm- 
lichen Substanzbegriff aus zu bekämpfen, den sie voraus- 
setzt. So lange sie nicht ausdrücklich die Seele mit dem 
naturwissenschaftlichen Atombegriff auf eine Stufe stellt 
und das Prinzip von der Erhaltung des Stoffes für sich in 
Anspruch nimmt, wird eine Kritik, die ihr diese Vorstellungen 
ohne weiteres unterschiebt, als gegenstandslos bezeichnet 
werden müssen. Das »hölzerne Seelenatom«, das »isolierte, 
starre Wirklichkeitsklötzchen*, wie Paulsen,die psychische 
Substanz nennt, ist sie natürlich nur für den, der sie so 
nimmt, d. h. für den Kritiker, und seine Kritik erweist sich 
hiernach als ein wohlfeiler Kampf gegen die von ihm selbst 
geschaffene Anschauungsweise. 
Die Realität der Seele läßt sich übrigens auch anders 
denken. Man kann der Substanzauffassung eine dyna- 
mische gegenüberstellen, dieeinAnalogonderdynamistischen 
Theorie der Materie wäre. Dann müßten wir die Seele als ein 
eigentümliches Kraftzentrum ansehen, auf das sich eine 
Vielheit von Betätigungen zurückführen ließe. Wie weit die 
empirisch beobachtbaren psychischen Funktionen auf eine 
bestimmte Anzahl ursprünglich voneinander verschiedener 
zurückgeführt werden können, wissen wir noch nicht, da die 
Aktpsychologie erst in den Anfängen ihrer Entwicklung steht. 
Darum sind auch genauere Angaben über die Beschaffenheit 
der Seelenrealität verfrüht. Mit der einfachen Annahme des 
Voluntarismus dürfte man sicherlich nicht auskommen, so- 
fern sie über den Allgemeinbegriff einer psychischen Akti- 
vität oder Spontaneität hinauszugehen beabsichtigt. 
8. Unsere zweite Aufgabe besteht in einer Prüfung der 
Aktualitätstheorie, die sich durch eine Kritik des psycho- 
logischen Konszientialismus erledigen läßt. Denn sobald ge- 
zeigt werden kann, daß die Aktualitätstheorie entweder zu 
transzendenten Annahmen greifen muß, um mit der Wissen- 
335 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Schaft in Fühlung zu bleiben, oder sich außerhalb der Wissen- 
schaft und ihrer Möglichkeit stellt, ist ihr prinzipieller Gegen- 
satz gegen die Substantialitätstheorie überwunden. Daß 
aber die Psychologie als Wissenschaft einen Eealismus in 
bezug auf das Seelenleben fordert und voraussetzt, geht aus 
folgenden allgemeinen Erwägungen und Tatsachen hervor. 
a) Die Annahme eines fremden Seelenlebens ist Grund- 
bedingung einer wissenschaftlichen Psychologie. Wollte sich 
der Psychologe lediglich auf sein eigenes Bewußtsein bei 
seiner Untersuchung einschränken, so würde er der Allge- 
meingültigkeit seiner Ergebnisse verlustig gehen. Er hätte 
gar kein Kriterium, um zu entscheiden, ob das, was er fest- 
stellt, eine bloß individuelle oder eine allgemeine Erscheinung 
ist, wenn er nur von eigenen Bewußtseinsinhalten berichten 
dürfte. Es gäbe dann soviel Psychologien, als es Psycho- 
logen gibt, alle Gemeinsamkeit der Arbeit und Forschung 
wäre aufgehoben. Nun ist aber das fremde Seelenleben in 
jeglicher Gestalt, mag es anderen Menschen oder den Tieren 
zugeschrieben werden, ein Transzendent-Keales, das niemals 
Inhalt meines Bewußtseins sein oder werden, sondern immer 
nur auf Grund von Äußerungen hörbarer, sichtbarer oder 
sonstwie wahrnehmbarer Art erschlossen, konstruiert, ge- 
dacht und nacherlebt werden kann. Entweder muß also die 
Aktualitätstheorie dies transzendente Psychische anerkennen 
und damit ein von seiner Erscheinung verschiedenes reales 
Seelenleben zugestehen, oder sie setzt sich in Widerspruch 
mit der wissenschaftlichen Psychologie, welche die Beobach- 
tungen anderer, obwohl sie nur aus Äußerungen erkennbar 
sind, mit denen des eigenen Bewußtseins grundsätzlich gleich 
wertet. Daß das fremde Seelenleben zunächst nur als ak- 
tuell gesetzt wird, ändert nichts an der Beweiskraft dieses 
Arguments. 
9. b) Die Annahme eines vergangenen Seelenlebens, 
früherer Bewußtseinserscheinungen ist ebenfalls eine unent- 
behrliche Voraussetzung für die Psychologie als Wissen- 
schaft. Ohne diese Annahme ließe sich kein Geschehen, keine 
Veränderung, kein zeitlicher Zusammenhang feststellen, ohne 
sie wäre selbst eine Aussage über das unmittelbar Erlebte, 
336 
§ 27. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik. 
in der Gegenwart Vorgefundene zweck- und bedeutungslos. 
Denn jede derartige Aussage hätte Sinn und Verstand nur 
für den Augenblick ihres Zusanunenfallens mit dem be- 
schriebenen Erlebnis und verlöre mit dessen Erlöschen ihren 
aktuellen Inhalt. Die Aufstellung von Gesetzen in der Psy- 
chologie ist an Beobachtungsreihen, die sich über einen ge- 
wissen Zeitraum erstrecken, gebunden; die Aufstellung von 
Theorien kann nur erfolgen, wenn Vergangenes und Gegen- 
wärtiges als grundsätzlich gleichwertig anerkannt wird. Von 
Akten, Ereignissen und Vorgängen dürfte die Aktualitäts- 
theorie kaum mehr reden, wenn sie nur die unmittelbar 
gegenwärtigen Bewußtseinsinhalte als psychisch ansehen und 
zulassen wollte. Nur die letzteren dürfen aber als gegebene 
Tatsachen bezeichnet werden, wenn man den Konszientialis- 
mus streng festhalten will. Das früher Erlebte wird auf Grund 
von Erinnerungsdaten erschlossen, konstruiert, hinzugedacht, 
ist somit ein Transzendent-Eeales und kann (weil wir die 
Zeit nicht umkehren können) niemals Gegenstand unmittel- 
baren Bewußtseins werden. So wird die Aktualitätstheorie 
wiederum vor die Entscheidung gestellt, entweder ein Psy- 
chisch-Eeales anzunehmen und damit sich selbst aufzugeben 
oder mit der wissenschaftlichen Psychologie in einen unlös- 
baren Widerstreit zu geraten. 
10. c) Die Verschiedenheit des Bewußtseins von 
seinem Gegenstande wird durch eine Anzahl von Ergeb- 
nissen der psychologischen Forschung gefordert. Das Be- 
wußtsein hat seine besonderen Eigenschaften und Gesetze, 
die nicht diejenigen seines Gegenstandes sind. Es kann klar 
oder unklar sein, diese oder jene Eichtung haben, auf eine 
kleinere oder größere Zahl von Einzelheiten eingeschränkt 
sein, von gewissen Seiten des Gegenstandes zugunsten einer 
besonders deutlichen Erfassung anderer abstrahieren, eine 
genauere oder ungenauere Eechenschaft von seinen Objekten 
geben, eine feinere oder gröbere Analyse derselben anstellen. 
D>as Bewußtsein des Kindes ist ein anderes, als das des Er- 
wachsenen und bei dem geschulten Psychologen wiederum 
von anderer Leistungsfähigkeit, als bei dem ungeschulten. 
Seine Sicherheit und Zuverlässigkeit hängt von besonderen 
Külpe, Philosophie. 10. Auf). 22 
337 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Bedingungen ab, die teils in der Übung und Ermüdung und 
anderen allgemeinen Dispositionen, teils in individuellen Fak- 
toren hervortreten, "welclie als Treue und Umfang des Ge- 
dächtnisses, als Bestimmtheit und Lebhaftigkeit der Beob- 
achtung, als Schärfe der Sinne u. dgl. erhebliche persönliche 
Verschiedenheiten aufweisen. Daraus geht hervor, daß 
das Bewußtsein eine Auffassungs- und Erkenntnis- 
weise, ein Gegenwärtigsein des Psychischen einschließt, 
nicht dieses selbst ist, daß es mit der inneren Wahrnehmung 
oder der Selbstbeobachtung, mit dem, was Leibniz Apper- 
zeption nannte, einen Faktor enthält, der fehlen kann, ob- 
wohl Psychisches vorhanden ist und abläuft. Wenn wir den 
Tieren oder gar den Zellen XJSychische Zustände zuschreiben, 
so meinen wir damit nicht ein Bewußtsein von ihnen. Sind 
also die Inhalte des Bewußtseins nicht mit dem Seelenleben 
identisch, so müssen wir ein real Psychisches von dem phä- 
nomenal Psychischen unterscheiden, d. h. die Aktualitäts- 
theorie verwerfen. 
d) Endlich darf nicht übersehen werden, daß die psycho- 
logische Forschung unbedenklich über die Grenze des ak- 
tuellen Bewußtseins hinausgreift, um dessen Tatsachen zu- 
sammenhängend erklären zu können. Wenn sie von einer 
psychischen Kausalität Gebrauch macht, eine Assoziation 
von Vorstellungsdispositionen und eine auf Gi-und derselben 
wirksame Eeproduktionsteudenz annimmt, den Vorstel- 
lungen eine Perseverationstendenz (d.h. einen Drang wieder 
bewußt zu werden) zuschreibt und das Seelenleben auch im 
sog. traumlosen Schlafe nicht vollständig erlöschen läßt, so 
wird die Identifikation von Seele und Bewußtsein bzw. 
unmittelbarer Erfahning völlig aufgegeben. Es kann dar- 
um keinem Zweifel unterliegen, daß die wissenschaftliche 
Psychologie nicht nach der Vorschrift der Aktualitäts- 
theorie, nach dem Grundgedanken des Konszientialismus 
verfährt 1). 
Diese Kritik des Aktualismus führt somit zum psycho- 
*) Wundts metaphysischer Voluntarismus steht übrigens mit seiner 
Aktunlitätetheorie in offenem Widerspruch, sofern letztere einen psycho- 
logischen Realismus ablehnt (vgl. § 27, 14). 
338 
§ 27. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik. 
logischen Realismus und ergibt das Eecht einei- psycho- 
logischen Metaphysik. Aber freilich, ob diese den Charakter 
einer Substantialitätstheorie tragen soll, ist damit keines- 
wegs entschieden. Das psychisch Reale kann ja auch 
anders gedacht werden, wie wir bereits oben bemerkt haben. 
Die wissenschaftliche Psychologie ist noch nicht weit und 
reif genug, um bestimmtere Annahmen über das Wesen der 
Seele zu ermöglichen, und so scheint es vorläufig richtiger 
und vorsichtiger zu sein, den Begriff einer psychischen Rea- 
lität in der bisher gegebenen Ausführung zu belassen, statt 
unbestinamte Vermutungen und billige Einfälle hinzuzu- 
fügen. 
11. Auch der Gegensatz zwischen Intellektualismus 
und Voluntarismus hat sich erst in der Neuzeit zu einem 
scharfen und bewußten ausgebildet. Im Altertum findet sich 
noch keine Spur davon, weil die Eigenschaft der Seele über- 
haupt nicht in einer einzigen wesentlichen Funktion ge- 
sucht wird. Auch hier hat Descartes den ersten Anstoß 
gegeben, indem er das Denken^) schlechthin als das Attribut 
der Seelensubstanz bezeichnete und damit den Intellek- 
tualismus begründete. Hierin folgte ihm Spinoza, ob- 
gleich er die Einzelseele nicht als Substanz, sondern bloß als 
einen Modus des Attributs des Denkens betrachtete (vgl. 
§ 22, 4). Ein ähnlicher Intellektualismus ist sodann von 
Leibniz und seiner Schule durchgeführt worden. Die all- 
gemeine Tätigkeit aller Monaden besteht im Vorstellen (vgl. 
§ 20, 2). Aber die farblose Allgemeinheit dieses Begriffs ließ 
es zu, neben dem Erkenntnisvermögen auch ein Begehrungs- 
vermögen der Seele zuzuschreiben. Die Anerkennung des 
Gefühls Vermögens als einer dritten Fähigkeit (vgl. § 10, 5) 
durchbrach vollends das einfache Schema des Intellektualis- 
mus. Zu einer strengen Durchführung desselben ist es erst 
wieder bei Herbart gekommen. Die Vorstellungen sind 
nach ihm die eigentlichen Träger des Geschehens im Bewußt- 
sein. Aus den Wechselverhältnissen der Fördening und 
^) Dieser Begriff wird freilich durch eine Definition als Zusammen- 
fassung für alles das bestimmt, dessen wir uns unmittelbar bewnßt sind 
(vgl. § 8, 2), aber gelegentlich auch in einem engeren Sinne angewandt. 
22* 
339 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Hemniung (oder Klemmung), in die sie miteinander geraten, 
gehen die Gefühle der Lust oder Unlust hervor, und der Ein- 
druck der Begierde oder des Widerstrebens wird erzeugt 
durch das Ansteigen einer Vorstellung im Bewußtsein gegen 
Hindernisse oder durch den Widerstand, den sie ihrem Sinken 
entgegensetzt. Gefühl und Wille sind also nur Nebenergeb- 
nisse der vorstellenden Kräfte, nicht selbständige, gleich- 
berechtigte Erscheinungen neben diesen. In der Herbart- 
schen Schule ist dieser Standpunkt zwar vielfach abge- 
schwächt, aber nicht völlig aufgegeben worden. Sie stellt 
daher noch in der Gegenwart den Intellektualismus dar. 
12. Der Voluntarismus findet sich zuerst bei Augustin 
und dann bei Duns Scotus angedeutet, der im Gegen- 
satz zu Thomas die Überlegenheit des Willens über den 
Verstand behauptete und auf die Selbsttätigkeit des Geistes 
beim Erkennen als eine Stütze seiner Anschauung hin- 
wies. Dann wieder begegnet er bei Kant im Zusammen- 
hang mit seiner ethischen Metaphysik. Ist Freiheit erforder- 
lich, damit das Sittengesetz als absolutes Gebot begreiflich 
und wirksam erscheinen könne, so ist das Ding an sich unseres 
geistigen Lebens ein freier Wille (vgl. § 4, 5; 25, 4). Zu einer 
allgemeinen Weltansicht hat diesen Standpunkt jedoch erst 
Schopenhauer erweitert. Nach ihm ist das Ding an sich 
überall Wille, in der äußeren Natur so gut wie in der inneren, 
und der Verstand nur ein Werkzeug, dessen sich der Wille 
bedient. Nur im Menschen befreit sich zuweilen die Erkennt- 
nis von der Herrschaft des Willens, und zwar am vollkom- 
mensten in dem Zustande des leidenschaftslosen ästhetischen 
Genusses und in dem heiligen Leben des Asketen (vgl. § 20, 4 ; 
24, 6). In der neuesten Zeit haben dann besonders Wundt 
und Paulsen, der den zuerst von Tönnies 1883 geprägten 
Namen populär gemacht hat, den Voluntarismus zu be- 
gründen versucht. 
Wundt hat daneben ein methodologisches Prinzip 
mit diesem Ausdruck bezeichnet, wonach der Willenshand- 
lung eine typische Bedeutung innerhalb der seelischen Tat- 
sachen zukommt, insofern der bei dem Wollen längst aner- 
kannte Charakter des Vorgangs, des Ereignisses, auch 
340 
§ 27. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik. 
allen anderen Bestandteilen der inneren Erfahning, insbeson- 
dere den Vorstellungen, eigentümlich sei. Es verstellt sich 
von selbst, daß in diesem von den psychologischen Eich- 
tungen in der Metaphysik handelnden Abschnitt von einer 
solchen Bedeutung des Ausdrucks Voluntarismus völlig ab- 
gesehen wird. Ebensowenig haben wir es hier mit einer 
psychologischen Theorie, die einzelwissenschaftlichen Auf- 
gaben diente, zu tun. Die Psychologie hat bisher, soweit sie 
empirische Wissenschaft ist, keinen Nachweis dafür er- 
bracht, daß der Wille die Grundfunktion der Seele, die ihr 
schlechthin wesentliche Tätigkeit ist, und wird, wenn nicht 
alle Zeichen trügen, diesen Nachweis niemals erbringen. 
Aber die metaphysische Behauptung des Voluntarismus muß 
sich, wie alle des gleichen Charakters, vor der Einzelwissen- 
schaft, die zu ergänzen sie bestimmt ist, rechtfertigen, und 
die Gründe, die z. B. Paulsen oder Schopenhauer für den 
von ihnen vertretenen Voluntarismus vorgebracht haben, 
sind zum guten und größeren Teil selbst aus der psycho- 
logisch-empirischen Beobachtung geschöpft. Wenn daher 
in der nachfolgenden Prüfung der von den Vertretern eines 
metaphysischen Voluntarismus für ihre Ansicht entwickelten 
Argumente psychologische Gegengründe geltend gemacht 
werden, so ist dafür einerseits die allgemeine Ansicht über 
das Verhältnis der Metaphysik zu den Einzelwissenschaften, 
andererseits die Tatsache maßgebend gewesen, daß die Vo- 
luntaristen vorausgegangen sind. Eine besondere Berück- 
sichtigung Schopenhauers aber erschien entbehrlich, weil 
Paulsen seinen Standpunkt im wesentlichen teilt. 
13. a) Zunächst wird von Paulsen die entwicklungs- 
geschichtliche Priorität des Willens betont. Bei den 
niedersten Organismen kann von irgendwelchen Vorstel- 
lungen, also intellektuellen Vorgängen nicht geredet werden, 
ein blinder Drang allein scheint sie zu beherrschen. Der 
Trieb wird daher als Grundfunktion des inneren Geschehens 
bezeichnet. Ebeno zeigt sich beim Kinde zunächst bloß das 
Willensleben ausgebildet, und nur allmählich verknüpfen 
sich damit in wachsender Fülle die Tätigkeiten der Intelli- 
genz. — Dagegen ist zu bemerken, daß der Entwicklungs- 
341 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
gedanke methodologisch ein undifferenziertes Ganzes 
als Ursprung der geistigen Funktionen fordert, nicht aber 
einen in unserem entwickelten Seelenleben als etwas Eigen- 
artiges ausgebildeten Vorgang. Wir haben also den nieder- 
sten Organismen ein nicht weiter definierbares Ganzes see- 
lischer Art zuzuschreiben, aus dem sich durch den Entwick- 
lungsprozeß nach und nach ebensowohl intellektuelle wie 
triebartige oder Willens-Vorgänge als unterscheidbare Zu- 
stände nebeneinander entfalten^). Das Seelenleben des Neu- 
geborenen aber scheint uns von vornherein nicht bloß Be- 
gierden und Gefühle zu enthalten, sondern auch gleichzeitig 
eine Anzahl von Empfindungen der Sinne. 
b) Ferner besteht nach Paulsen eine psychologische 
Priorität des Willens. Denn von ihm hängt das Ziel ab, 
das jemand seinem Leben setzt, und durch ihn werden alle 
die besonderen Zwecke aufgestellt und festgehalten, die im 
einzelnen zur Verwirklichung gelangen. Er lenkt auch unsere 
Aufmerksamkeit und trifft die Auswahl unter den unser 
Bewußtsein erregenden Eeizen, und von dem Interesse, also 
einem Willensmoment, hängt es ab, was wir von unseren Er- 
fahrungen dem Gedächtnis einverleiben und was wir der 
Vergessenheit anheimfallen lassen. Auch der Vorstellungs- 
verlauf wird nach Eichtung und Tendenz vom Willen be- 
herrscht, so daß selbst die theoretischen Erkenntnisse und 
Urteile diesen Einfluß beständig verraten. — Aber das, was 
Paulsen hier als Wille beschreibt, ist gar nicht jener ein- 
fache Trieb, jener blinde Drang, von dem er zunächst bei 
der Scheidung der seelischen Vorgänge ausgegangen war. 
Nicht grundlos verfährt dieser Wille, sondern gestützt auf 
mehr oder weniger komplizierte Motive und Überlegungen, 
und so könnte man mit demselben Kecht oder Unrecht sagen, 
das eigentlich Bestimmende und Primäre usseres Seelen- 
lebens sei nicht der Wille, sondern dasjenige, was ihn zu 
seiner Wirksamkeit veranlaßt. Schon in der Verschiedenheit 
der psychologischen Begriffsbestimmung des Willens, die 
sich zwischen a) und b) aufzeigen ließ, tritt uns das eigen- 
*) So pflegen auch die Neo vitalisten ein Analogen des Wissens und 
Wollens den niedersten Organismen beizulegen (vgl. § 23, 4). 
342 
§ 27. Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik. 
tümliche, füi- die Schoxjenhauersehe Metaphysik ver- 
hängnisvoll gewordene Geschick des Voluntarismus ent- 
gegen, daß er eine Klarheit über das, was nun eigentlich Wille 
genannt wird, vermissen läßt. Insbesondere zeigt die neue 
Psychologie der Funktionen, die Stumpf nament- 
lich auszubauen begonnen hat, daß nicht jede Aktivi- 
tät, nicht jedes Eingreifen in die Welt unserer Erscheinungen 
ein Wollen ist. Der Voluntarismus beruht demnach auf einer 
psychologisch ungerechtfertigten Ausdehnung des Willens- 
begriffs. 
14. c) Endlich hat Wundt die metaphysische Priori- 
tät des Willens behauptet. Inhalt der psychischen Erfahrung 
sind nach ihm einerseits die Vorstellungen, andererseits die 
sie begleitenden subjektiven Zustände. Die Elemente jener 
heißen Empfindungen, die Elemente dieser einfache Gefühle. 
Beide Seiten des wirklichen Geschehens lassen sich in dem 
zusammenfassenden Ausdruck »vorstellendes Tun und Lei- 
den« vereinigen. Das Leiden ist jedoch nicht bloß vermin- 
derte, CS ist gehemmte Tätigkeit. Da nun ferner das Leiden 
an die auf Objekte bezogenen Vorstellungen gebunden ist, 
so ist es die Tätigkeit, die wir unserem Ich unmittelbar zu- 
teilen, als das Leiden. Das Ich, isoliert gedacht von den Ob- 
jekten, die seine Tätigkeit hemmen, ist unser Wollen. Somit 
ist eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen gegeben, denen 
gegenüber ein Wollen sein Wirken entfaltet. Das letztere 
bildet den einzigen stetig zusammenhängenden, in sich gleich- 
artigen Bestandteil des Bewußtseinsinhalts, den einzigen 
daher, der unseren Erlebnissen wirkliche Einheit verleiht. 
Die Stetigkeit der inneren Entwicklung wird nur durch die 
Einheit des Willens verbürgt. Dadurch gelangt Wundt 
nun dazu, den reinen Willen als die letzte, nicht weiter 
zurückzuverfolgende Bedingung jeder Erfahrung anzusehen, 
die »natürlich nirgends in der Erfahrung wirklich anzutreffen« 
ist. — Hier erregt aber zunächst Bedenken, daß der Begriff 
des Willens in zwei ganz erheblich voneinander verschie- 
denen Bedeutungen gebraucht wird. Das wirkliche, von der 
Psychologie beschriebene Wollen ist nämlich nach Wundt 
selbst »aus Empfindungen und Gefühlen zusammengesetzt«, 
343 
///. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
dem reinen Willen der Metaphysik stehen die Yorstellungen 
und somit auch deren Elemente, die Empfindungen, gegen- 
über. Trotzdem wird von diesem Wollen gesagt, daß es Be- 
standteil des Bewußtseinsinhalts sei, später freilich, daß 
es nirgends in der Erfahrung wirklich anzutreffen ist, sondern 
nur als deren Bedingung vorausgesetzt werden muß. Sodann 
scheint uns der Übergang von den Vorstellungen und den 
sie begleitenden subjektiven Zuständen zu dem Begriff eines 
vorstellenden Tuns und Leidens und von diesem zu dem 
einer bloßen Willenstätigkeit, von anderem abgesehen, nicht 
hinreichend motiviert zu sein. 
Das Ergebnis dieser Kritik des Voluntarismus ist nicht 
etwa die Überzeugung von der Kichtigkeit des Intellektualis- 
mus, sondern die Erkenntnis, daß keiner von den elemen- 
taren Vorgängen unseres seelischen Lebens als schlecht- 
hin primär anzusehen ist. Intellektualismus und Volun- 
tarismus haben daher beide nach unserer Ansicht unrecht. 
LITERATUR: 
N. Cotlarciuc: Das Problem der immateriellen geistigen. Seelensub- 
stanz. Stölzles Studien zur Philosophie und Religion, 6. Heft 1910. 
A. Drews: Das Ich als Grundproblem der Metaphysik, 1897 (tritt für 
den psychologischen Realismus ein). 
O. Flügel: Die Seelenfrage, 3. Aufl. 1902 (über den Standpunkt des 
Verf. vgl. die Literatur zu § 14). 
A. Fouill6e: La pensee et les nouvelles ecoles antüntellectualistes, 1911 
(geht nicht nur auf die psychologischen Fragen ein, sondern behandelt 
namentlich auch den Erkenntniswert des Denkens. Der Standpunkt 
wird intellektualistischer Voluntarismus genannt). 
J. Geyser: Die Seele. Ihr Verhältnis zum Bewußtsein und zum Leibe, 
1914 (versteht unter der Seele ein im Menschen lebendes Einzelwesen, 
das die Zustände des Vorstellens und Fühlens sowie die Tätigkeiten 
des Denkens und Wollens in sich trägt und sich dieser seiner Lebens- 
vorgänge be-^vußt is). 
C. Gutberiet: Der Kampf um die Seele, 2. Aufl., 2 Bde., 1903 (unter- 
zieht einige Probleme der Psychologie einer kritischen Erörterung 
vom thomistischen Standpunkt aus). 
G. Kafka: Versuch einer kritischen Darstellung der neueren Anschau- 
ungen über das Ichproblem. Archiv f. d. gesamte Psychologie, Bd. 19. 
1910. 
N. Losski j: Die Grundlehren der Psychologie vom Standpunkte des 
Voluntarismus. Deutsch von Kleuker, 1904. 
344 
§ 28. Die Ansichten über den Ursprung des Sittlichen. 
K. Meumann: Intelligenz und Wille*, 2. Aufl. 1913 (tritt für einen 
gemäßigten Voluntarismus bzw. Intellektualismus ein). 
K. Oesterreich: Die Phänomenologie des Ich. I. 1910. 
.1. Rehmke: Die Seele des Menschen. 4. Aufl., 1914 (redet nicht von 
einer Seelensubstanz, wohl aber von einem Bewußtseinssubjekt). 
H. Scholz: Der Unsterblichkeitsgedanke als philosophisches Problem, 
1920. 
C Stumpf: Erscheinimgen und psychische Funktionen*, 1907. 
J. H. Witte: Das Wesen der Seele vmd die Natur der geistigen Vor- 
gänge im Lichte der Philosophie seit Kant und ilirer grundlegenden 
Theorien historisch-kritisch dargestellt, 1888 (Verf. ist Anhänger, aber 
kein geschickter Vertreter der Substantialitätstheorie). 
Vgl. außerdem die Literatur zu § 8, namentlich die 
Psycliologie von Volkmann, Bd. I und die Werke von 
Wundt, Ladd, Münsterberg, James, Jodl, Ebbing- 
haus und Elsenhans. 
§ 28. DIE ANSICHTEN ÜBEB DEN UBSPEUNG DES 
SITTLICHEN, 
a) DIE AUTORIT ATI VENUND DIE AUTONOMEN MORALSYSTEME . 
1. Auf äußere Vorschriften, Eegeln und Gesetze wird von 
Seiten der autoritativen Auffassung die sittliche Verpflich- 
tung des Einzelnen zurückgeführt. Gott bzw. die Kirche oder 
der Staat erscheinen hierbei als die Gesetzgeber. Nicht inmier 
läßt sich bei den Anschauungen dieser Art ein zureichender 
Unterschied zwischen einer rein historischen Behaup- 
tung (wonach die Autoritäten einen tatsächlichen Einfluß 
auf die Gestaltung sittlichen Handelns und sittlicher Urteile 
geübt haben) und einer ethischen Theorie (nach der sich 
die Forderung sittlichen Verhaltens nur durch die Be- 
rufung auf Autoritäten begründenläßt) feststellen. Es ist daher 
bei den folgenden IVIitteilungen über Vertreter dieses Stand- 
punktes der Zweifel offen zu lassen, ob sie die Autorität des 
Staates oder der Kirche auch zur Begründung ihrer ethi- 
schen Behauptungen und Gebote in Anspruch genommen 
haben. Schon Sokrates erklärte nur denjenigen für gerecht, 
der sich nach den geschriebenen Gesetzen des Staates und 
den ungeschriebenen der Götter richte. Sodann hat nament- 
lich die theologische Ethik eine Heteronomie (Fremdgesetz- 
345 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
gebung) vertreten, indem sie die sittliche Vei-pflichtung auf 
den Willen Gottes und auf seine Offenbarung zurückführte. 
Hierbei ist in strengerer Form behauptet worden, daß etwas 
nur deshalb gut und geboten sei, weil Gott es wolle, und daß, 
wenn Gott es anders wollen sollte, unsere Sittlichkeit einen 
anderen Charakter annehmen müßte. Eine mildere Fassung 
dagegen ließ der menschlichen Vernunft die Fähigkeit, selb- 
ständig das Gute und Rechte zu finden, und betonte bloß 
die Übereinstimmung zwischen der menschlichen Erkenntnis 
und dem Willen Gottes. Einer politischen Heteronomie hat 
Hobbes das Wort geredet, indem er seinem absolutistisch 
gedachten Staat die Befugnis zuspricht, die Art und die 
Richtung des menschlichen Handelns zu bestimmen. Frei- 
lich erkennt Hobbes daneben auch ein natürliches Sitten- 
gesetz und die Gebote Gottes an, aber wegen ihrer Abhängig- 
keit von individuellen Deutungen sollen sie nicht die gleiche 
Allgemeingültigkeit und Gewalt besitzen wie das Gesetz des 
Staates. Einen ähnlichen Standpunkt hat in neuester Zeit 
noch J. H. von Kirchmann (t 1884) eingenommen. 
2. Als historische Ansicht über die Entstehung einer 
sittlichen Verpflichtung kann die Annahme, daß soziale oder ' 
politische oder religiös-kirchliche Bestimmungen ursprüng- 
lich dazu geführt haben, sehr wohl gelten. Ebenso kann man 
vom Standpunkte einer pädagogischen Auffassung zu- 
geben, daß heteronome Einflüsse, Lehre und Vorbild An- 
derer, unentbehrliche Hilfsmittel sind, um sittliche Disposi- 
tionen und Willensrichtungen zu entwickeln. Aber darüber 
hinaus darf die ethische Unmündigkeit nicht gehen. Auf 
die allgemeine, normative Frage: was soll als sittliche 
Aufgabe gelten? kann nicht geantwortet werden: das, was 
Staat, Kirche, Gesellschaft oder sonstige Autoritäten fordern. 
Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, daß eine der- 
artige Unterordnung unter Vorschriften, die schlechthin für 
verbindlich gehalten werden, also eine Heteronomie, vielfach 
praktisch besteht. Wer ein Verbrechen unterläßt, weil es 
vom Staate verboten und mit Strafe belegt ist, empfindet 
nicht eine unmittelbare sittliche Verpflichtung zum Unter- 
lassen dieser Handlung, und wer, um Gott zu gefallen oder 
346 
§ 28. Die Ansichten über den Ursprung des Sittlichen. 
den kirchliclien Bestimmungen zu genügen, ein mit den 
moralischen Normen übereinstimmendes Leben zu führen 
sucht, hat sich ebenfalls der Herrschaft einer Autorität 
untergeordnet. 
Daß unser sittliches Urteil sich dagegen für die Autono- 
mie (Selbstgesetzgebung, d.h. sittliche Selbständigkeit) ent- 
scheidet, läßt sich kaum bestreiten. Denn von einer ethisch 
zu billigenden Willenshandlung verlangen wir in erster Linie, 
daß sie aus innerer Freiheit entsprungen sei und sich 
nicht durch bloße Kücksicht auf fremde Einflüsse zu ihrer 
Ausführung habe bestimmen lassen. Wir unterscheiden 
daher mit großer Schärfe zwischen gesetzlichen Vorschriften, 
Regeln der Sitte und des Verkehrs, kultischen Gewohnheiten 
und Bestinamungen und zwischen der Pflicht, die wir als eine 
sittliche beurteilen. Auch die mögliche und erwünschte in- 
haltliche tJbereinstimmung zwischen dem Einen und dem 
Anderen hebt diesen Unterschied nicht auf. Mag auch mein 
Wollen und Wirken mit denen Anderer zusammentreffen, 
jedenfalls kann letzten Endes nur ich selbst darüber ent- 
scheiden, was ich für gut oder böse, für recht oder unrecht zu 
halten habe. Selbstverständlich ist damit nicht aus- 
geschlossen, daß den Forderungen Anderer nachgekommen 
wird, sofern sie als berechtigt anerkannt und gebilligt worden 
sind. 
Will man nun den Stolz und die Hoffart der Menschen 
tadeln, die sich ein eigenes Urteil darüber anmaßen, ob ein 
sittliches Gebot für sie vorbildlich ist oder nicht, und die ihre 
eigenen Gesetzgeber auf ethischem Gebiet zu werden ver- 
suchen, und will man im Gegensatz dazu die Demut und den 
Gehorsam jjreisen, die sich in der Unterwerfung unter eine 
Autorität bekunden, so hat das mit der ethischen Frage nach 
dem Ursprung der sittlichen Verpflichtung nichts zu tun. 
Diese wissenschaftliche Frage wird nicht durch Lob und 
Tadel, sondern durch Untersuchung beantwortet, die ergibt, 
daß eine sittliche Verpflichtung im Unterschiede von Zwang 
und Gehorsam nur entsteht, wenn der Wollende selbst ideale 
Werte oder Normen einsichtig anerkennt und ihnen gemäß 
sein Leben einzurichten beschließt. Darum ist der einzig be- 
347 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
rechtigte Standpunkt der Ethik die Autonomie, und es er- 
scheint verständlich, daß, von den wenigen Besipielen ab- 
gesehen, die wir gebracht haben, und die auch nicht einmal 
sämtlich eine unzweifelhafte Vertretung der Heteronomie in 
dem normativen Sinne des Wortes darstellen, die Moral - 
Systeme älterer und neuerer Zeit durchweg autonomen 
Charakter an sich tragen. Wir können daher auf ihre be- 
sondere Aufzählung hier verzichten. 
b) APRIORISMUS UND EMPIRISMUS. 
Wie in der Erkenntnistheorie zwischen dem Eationalismus 
und dem Empirismus über die Grundlage der Erkenntnis 
ein Streit entstanden ist (vgl. § 15), so stehen sich in der 
Ethik ein Apriorismus, auch Nativismus und Intuitio- 
nismus genannt, und ein Empirismus (in der neuesten Zeit 
zum Evolutionismus fortgebildet) einander gegenüber^). 
Nennen wir die Funktion, welche die sittliche Beurteilung 
(nicht nur in bezug auf die eigenen Handlungen) vollzieht, 
das Gewissen, so bezeichnen die hier erwähnten Gegensätze 
verschiedene Anschauungen über die Herkunft des Ge- 
wissens und die Geltungsart (d. i. verpflichtende Kraft) der 
Gewissensaussprüche. Während das Gewissen von der einen 
Seite als eine ursprüngliche, angeborene, nur intuitiv ver- 
fahrende Tätigkeit aufgefaßt wird, sucht die andere Rich- 
tung es auf die Erfahrung oder auf einen allmählichen Ent- 
wicklungsprozeß zurückzuführen. Es sind also zunächst auch 
hier historisch-psychologische Fragen, die durch den Gegen- 
satz solcher Anschauungen zum Austrag gebracht werden. 
Außerdem aber glaubt man von aprioristischer Seite her der 
verpflichtenden Kraft der sittlichen Normen und der All- 
gemeingültigkeit der ethischen Urteile nur dadurch gerecht 
werden zu können, daß man sie auf praktische Vernunft 
(vgl. § 9, 8) oder eine ähnliche apriorische (Wert-)Erkenntnis 
zurückführt, jedenfalls ihre Geltung nicht stützt auf Er- 
fahrungen (etwa über die Folgen der menschlichen Hand- 
lungen) wie der Empirismus es tut. Aus diesem Grunde 
*) Diese Richtungen treffen in der Hauptsache mit den § 9, 7 ff. er- 
wähnten Versuchen, die Ethik selbständig zu begründen, zusammen. 
348 
§ 28. Die Ansichten über den Ursprung des Sittlichen. 
finden wir den ethischen Nativismus mit dem erkenntnis- 
theoretischen Rationalismus verbunden. Descartes, Spi- 
noza, Leibniz und dessen Schule sind Aprioristen gewesen. 
Auch bei Kant herrscht der nämliche Zusammenhang. Das 
Sittengesetz mit seiner absoluten Forderung ist nach ihm 
»gleichsam ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir 
uns a priori bewußt sind, und welches apodiktisch gewiß 
ist«, dessen Geltung aber eine Bestätigung durch Erfahrung 
gar nicht bedarf. Das Gewissen bezeichnet Kant als die 
Funktion, durch welche die Urteilskraft eine Handlung mit 
dem Sittengesetz vergleicht, es ist »der Vertreter des Sitten- 
gesetzes im empirischen Bewußtsein des Menschen«. Als 
solcher hat es nicht nur die Aufgabe, die menschlichen 
Handlungen zu beurteilen, sondern auch die Obliegenheit, 
mahnend und warnend die Wahl zu beeinflussen. 
4. Stark ist der Intuitionismus in der englischen Ethik 
vertreten. Hier werden die sittlichen Ideen oder Urteile mit 
den mathematischen Axiomen oder den ]S^aturgesetzen auf 
eine Stufe gestellt. So wenig diese eines Beweises fähig oder 
bedürftig erscheinen, so wenig sollen jene durch Demonstra- 
tion gerechtfertigt und allgemeiner Anerkennung teilhaftig 
werden können. Es ändert nicht viel an diesem Standpunkte, 
wenn der Nativismus gelegentlich in psychologisch befrie- 
digenderer Weise dahin bestimmt wird, daß die sittlichen 
Grundsätze erst durch den Verkehr der Menschen miteinan- 
der zum Bewußtsein gelangen, also vorher sich in einem 
Latenzzustand befinden. Als Hauptvertreter des Intuitionis- 
mus in England gelten Cudworth, Butler und die »schot- 
tische Schule« (vgl. § 9, 8). 
Unter den Nachfolgern Kants sind Fichte, Schleier-. 
mach er und zum Teil auch Schopenhauer Aprioristen 
gewesen. Ferner wird man Herbarts sittliche Geschmacks- 
urteile diesem Gesichtspunkte unterordnen können, insofern 
die praktischen Ideen, die sie zum Ausdruck bringen, als 
ewig und unveränderlich angesehen werden. Auch Lotze 
endlich muß zu den Vertretern dieser Richtung gerechnet 
werden, da er sich mit voller Entschiedenheit für die Apriori- 
tät des Gewissens als gesetzgebender Funktion ausgesprochen 
349 
III. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
und dem Empirismus jede Fähigkeit bestritten hat anzu- 
geben, welche ethischen Vorstellungen für uns verbindlich 
sein sollen. 
5. In der philosophischen Ethik doi' Gegenwart wiegt wohl 
der Empirismus, namentlich in der Form des Evolutionismus 
vor. Wie gegen den Apriorismus in der Erkenntnistheorie, 
so hat auch gegen die entsprechende Eichtung in der Ethik 
John Locke zuerst eine Anzahl von Gegengriinden ins Feld 
geführt. Seine Argumente gegen das Angeborensein prak- 
tischer Grundsätze oder Ideen gehen zunächst davon aus, 
daß es keine allgemein anerkannten Urteile dieser Art gebe, 
da man bei anderen Völkern oder bei Verbrechern nicht die 
nämlichen sittlichen Grundsätze antreffe, wie bei den 
Kulturnationen oder den Individuen, die sich den Ord- 
nungen des Staates und der Gesellschaft fügen. Sodann 
erscheint es Locke mit einem angeborenen Grundsatz 
unvereinbar, daß tatsächlich eine so häufige Übertretung 
seiner Forderungen stattfinden, und daß dort, wo der In- 
halt eines solchen Gesetzes anerkannt und befolgt wird, 
verschiedene Eichtungen ganz verschiedene Gründe dafür 
angeben. Endlich ist er der Meinung, daß die sittlichen Vor- 
schriften allerdings eines Beweises bedürfen, der ihren An- 
spruch auf Gültigkeit zu rechtfertigen habe, während ange- 
borene Wahrheiten weder bewiesen werden könnten noch 
demonstriert zu werden brauchten. Die einzige Anlage, die 
Locke gelten läßt, ist die Fähigkeit, Lust und Schmerz zu 
empfinden; neben ihr aber haben die Eegeln der Eeligion, 
des Staates und der Gesellschaft auf die Ausbildung sittlicher 
Ideen einen maßgebenden Einfluß geübt. Dieser Empirismus 
war namentlich nach seiner negativen Seite hin den Materia- 
listen besonders willkommen. Helvetius und Holbach 
haben sich bemüht, noch gründlicher als Locke das Ange- 
borensein sittlicher Ideen abzulehnen, auch haben sie eine 
ursprüngliche Gleichheit aller Menschen angenommen (vgl. 
§ 9, 8). 
Solange man jedoch in der Entwicklung des Einzelnen 
eine erfahrungsmäßige Entstehung der Moralität nachweisen 
wollte, mußte der Empirismus unbefriedigend bleiben. Denn 
350 
§ 28. Die Ansichten über den Ursprung des Sittlichen. 
der unleugbare Fortschritt in dem ethischen Charakter der 
menschlichen Gesellschaft und der jj^roßc individuelle Unter- 
schied in dem sittlichen "Verhalten der Einzelnen kann nicht 
erklärt werden, wenn man Jeden in gleicher Weise die mora- 
lischen Ideen und Grundsätze erwerben läßt und gar keinen 
Unterschied der Anlagen annimmt. 
6. Weitergreifende evolutionistische Gedanken finden wir 
zuerst bei Schelling und Hegel; aber es sind logische und 
nicht empirische Gesichtspunkte, die sie auf die Entwick- 
lung des Sittlichen in der Geschichte anwenden. Daher 
fragen sie nicht nach den besonderen Faktoren, welche die 
Veränderung der sittlichen Anschauungen bedingt haben, 
sondern sie begnügen sich damit, einem allgemeinen logischen 
Gesetz die einzelnen Erscheinungen in der Wirklichkeit an- 
zupassen. Offenbar kann das besondere Wie und Warum 
der moralischen Vorstellungen auf diesem Wege nie begriffen 
werden. Der große Fortschritt, denDarwin in der Lehre von 
der Entwicklung der Organismen begründet hat, besteht in 
der Aufzeigung einer Anzahl Erfahrungstatsachen, durch 
welche die Entstehung und die Umwandlung der Arten ver- 
ständlich zu werden scheinen. Ihm verdanken wir auch eine 
erste genauere Schilderung der Entstehung des Gewissens 
(in der »Abstammung des Menschen«). Als wirksam betrach- 
tet er bei diesem Vorgang zunächst die schon beim Tiere 
als angeboren anzuerkennenden sozialen Instinkte; ferner 
die in der Tierreihe allmählich wachsende Fähigkeit, das 
Gegenwärtige mit dem Vergangenen zu vergleichen, Erfah- 
rungen zu sammeln und fruchtbar zu machen; weiterhin 
die allgemeine Wirksamkeit der Gewohnheit, die alle Tätig- 
keiten und Neigungen kräftigt. Dazu kommen noch die natür- 
liche Zuchtwahl und der Einfluß, den die Anerkennung oder 
Verurteilung von Seiten der Nebenmenschen auf unser Tun 
und Treiben üben. Durch jene sollen z. B. Völker, die eine 
größere Selbstbeherrschung ausgebildet oder bei denen die 
sozialen Triebe eine größere Bedeutung erlangt haben, im 
Kampfe ums Dasein über andere in dieser Hinsicht zurück- 
gebliebene Völker obsiegen. 
7. In einer philosophisch befriedigenderen Form hat so- 
351 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
dann Spencer den Evolutionismus in der Ethik durchzu- 
führen versucht. Alles Handeln besteht nach ihm in Tätig- 
keiten, die gewissen Zwecken angepaßt sind, und eine Hand- 
lung erscheint um so vollkommener je mehr die Anpassung 
gelungen ist. Die natürlichen Zwecke der Willenstätigkeit 
sind dabei entweder die Erhaltung und Förderung des eigenen 
Lebens oder die der Art oder endlich die Herstellung eines 
Zustandes innerhalb der Gemeinschaft, der es den Einzelnen 
gestattet, in möglichst großer Übereinstimmung ihrer Ab- 
sichten und Ziele miteinander zu leben und zu wirken. Die 
entsprechenden Stufen des Handelns nennt Spencer das 
selbsterhaltende, das arterhaltende und das universale Han- 
deln. Hauptgegenstand der Ethik ist die dritte Stufe. Diese 
Wissenschaft hat aus den Gesetzen des Lebens und den all- 
gemeinen Daseinsbedingungen abzuleiten, warum gewisse 
Handlungsweisen verderblich und gewisse andere nützlich 
sind. Gut ist im allgemeinsten Sinne das, was zur Er- 
reichung eines Zweckes dient. Der Endzweck aller Lebens- 
tätigkeit besteht aber darin, Lust zu erwecken oder zu er- 
halten und Unlust zu vermeiden oder fortzuschaffen. Wenh 
vielen ethischen Systemen und moralischen Urteilen diese 
Beziehung zur Lust nicht deutlich hervortritt, so liegt es nur 
daran, daß man an die Stelle des eigentlichen oder letzten 
Zweckes andere setzt, die als Mittel für ihn Geltung und Be- 
deutung haben. Das höchst entwickelte Handeln ist nun zu- 
gleich das gute Handeln, und so deckt sich das ideale Endziel 
der naturgemäßen Entwicklung des Handelns mit dem 
idealen Maßstab einer vom sittlichen Standpunkt aus er- 
folgten Beurteilung des Handelns. 
8. Wieder in anderer Form äußert sich der Evolutionismus 
bei Wundt. Die Veränderung der sittlichen Urteile und 
Zwecke erklärt sich nach ihm hauptsächlich aus dem Gesetz 
der Heterogonie der Zwecke, wonach eine jede Willens- 
handlung Wirkungen entstehen läßt, die »mehr oder weniger 
weit über die ursprünglichen Willensmotive hinausreichen«, 
und wonach so neue Motive entspringen, »die abermals neue 
Effekte hervorbringen«. Dieser äußerst fruchtbare Gesichts- 
punkt macht es begreiflich, daß zwischen den nächsten und 
352 
§ 28. Die Ansichten über den Ursprung des Sittlichen. 
ursprünglichen Zwecken einer Willenshandlung und spä- 
teren Zielen derselben ein bedeutender Unterschied bestehen 
kann, der durch einen Entwicklungsvorgang erzeugt worden 
ist. So kann z.B. aus egoistischen oder individualistischen 
Handlungen eine altruistische oder universalistische all- 
mählich hervorgehen. In drei Stadien glaubt Wundt 
femer die Entwicklung der sittlichen Anschauungen zer- 
legen zu können, in die gleichartigen Anfänge des sittlichen 
Lebens, in die durch den Einfluß religiöser Vorstellungen und 
sozialer Bedingungen sich vollziehende Trennung der sitt- 
lichen Begriffe und in die unter veränderten religiösen An- 
schauungen und philosophischen Einflüssen erwachsende 
Vereinheitlichung der moralischen Vorstellungen, indem eine 
humane, die nationalen Schranken überschreitende Tendenz 
begründet wird. Das Gewissen äußert sich nach Wundt 
in der Herrschaft imperativer Motive, zu deren Ausbildung 
äußerer und innererer Zwang, dauernde Befriedigung und die 
Vorstellung eines sittlichen Lebensideals beigetragen haben. 
Diese Idealvorstellung hilft erst die Stufe einer vollbewußten 
Sittlichkeit erreichen, weil hier alle einzelnen Tätigkeiten 
durch einen ethischen Grundgedanken beherrscht und be- 
stimmt werden. 
9. Die Entscheidung über die beiden einander entgegen- 
stehenden Eichtunged des Apriorismus und Empirismus wird 
durch die Ausführungen über den ähnlichen Gegensatz in 
der Erkenntnistheorie (vgl. § 15, 8. 9) erleichtert und vor- 
bereitet. Als eine historische Schilderung, eine bio- und 
psychogenetische Theorie der Entstehung sittlicher Be- 
urteilung und Willensrichtung verdient der Empirismus 
zweifellos hohe Anerkennung, zumal in der Form des Evo- 
lutionismus. Will der Apriorismus jede derartige Entwick- 
lung bestreiten, so muß er abgelehnt werden. Denn indem 
er die Frage nach der Entstehung der sittlichen Beur- 
teilung durch die Annahme eines angeborenen Ge- 
wissens beantwortet, wird er den tatsächlichen Unter- 
schieden dieser Beurteilung in der Geschichte, im Völker- 
leben und in dem Verhalten der Einzelnen nicht gerecht 
und unterläßt er zugleich jeden Versuch einer Zurück- 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 23 
353 
///, Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
führung der gegebenen sittlichen Anscliauungen auf deren 
Bedingungen. 
Andererseits jedocli kann der Begriff eines gültigen 
sittlichen Wertes durch den Empirismus nicht begrün- 
det werden. Er kann zwar zeigen, wie sich das Sittliche 
entwickelt hat, nachdem wir bereits wissen, was als sittlich 
zu gelten hat, aber er kann dies Wissen nicht aus genetischen 
Betrachtungen ableiten. Was kann uns z. B. der Bedeutungs- 
wandel von Ausdrücken, wie gut und böse, sittlich und un- 
sittlich über die Berechtigung der Geltung von ihnen 
entsprechenden Wertschätzungen lehren? Ebensowenig 
können wir der Entwicklung von Sitten und Gebräuchen, 
von rechtlichen Bestimmungen und religiösen Kulten, von 
Anpassungsstufen des menschlichen Handelns und von For- 
men der menschlichen Gesellschaft entnehmen, welche Ideale 
und Normen auf allgemeine Anerkennung Anspruch haben 
dürfen und nach welchen Gesetzen wir uns selbst zu richten 
haben. Mag daher auch in der Geschichte des sittlichen Be- 
wußtseins und der menschlichen Handlungen eine Verände- 
rung der wirksamen Zwecke und Motive und eine Wandlung 
in der Bewertung eigener und fremder Gesinnung und Be- 
tätigung hervortreten, eine Verbindlichkeit können wir der 
letzterreichten Stufe oder der in den verschiedenen Phasen 
erkennbaren Entwicklungslinie nicht schon deshalb zu- 
sprechen, weil sie sich als geschichtliche Tatsachen erweisen 
lassen. Ideale, die unser Wollen bestimmen und unserem 
Gewissen als Maßstäbe dienen, lassen sich niemals durch eine 
entwicklungsgeschichtliche Untersuchung begründen, die 
immer nur lehren kann, was geschehen ist oder gegolten hat, 
nicht was geschehen oder gelten soll. Das Gesetz der natür- 
lichen Entwicklung fällt mit der Norm, die wir für unser 
sittliches Wollen anerkennen, nicht zusammen. 
10. Aber auch die Deutung und Verwertung der im Dienst 
des Evolutionismus zusammengetragenen Tatbestände ist 
mit erheblichen Schwierigkeiten verknüpft, wenn sie ohne 
vorherige Orientierung über dasjenige betrieben wird, dessen 
Geschichte ^v^r kennen lernen wollen. Erst müssen wir durch 
eine phänomenologische Betrachtung (im Sinne Husserls, 
354 
§ 28. Die Ansichten über den Ursprung des Sittlichen. 
vgl. § 5, 12) klar darüber sein, was das Sittliche eigentlich 
ist, ehe wir zureichend untersuchen können, wie es geworden 
ist. Darum pflegt eine Voraussetzung über das sittliche Ideal 
auch die Gruppierung und Beurteilung des gesammelten 
Materials zu beeinflussen. Nietzsche erschien die christ- 
liche Moral nicht als ein Fortschritt, sondern als Rückschritt, 
während sie philosophischen und theologischen Ethikern 
vielfach der nicht zu überbietende Endpunkt der sittlichen 
Entwicklung gewesen ist. Außerdem durchkreuzen sich in 
jedem Stadium des geschichtlichen Verlaufs die mannig- 
fachsten Anschauungen und Verhaltungsweisen. Welches 
Kriterium soll nun angewandt werden, um die einen als ent- 
wicklungsgemäß, die anderen als indifferente Nebenerschei- 
nungen oder als Hemmungen und Abweichungen zu kenn- 
zeichnen? Tatsächlich haben darum auch die Ethiker ver- 
schiedenen Standpunktes sich gleichmäßig auf die Geschichte 
berufen und aus ihr abweichende Lehren über den Werde- 
gang der Moralität abgeleitet. Spencer hat ebenso seinen 
Eudämonismus, wie Andere einen Objektivismus durch 
evolutionistischc Betrachtungen zu begründen gesucht. Fort- 
schritte in der zeitlichen Folge, Vervollkommnung im Wer- 
den zu erkennen, sind wir nur imstande, wenn wir bereits 
einen leitenden Gesichtspunkt, einen Maßstab der Beurtei- 
lung mitbringen. Diesen können wir aber nicht einfach dem 
geschichtlichen Verlauf selbst abgewinnen, weil weder das 
Spätere mit dem Höheren noch das allgemeiner Anerkannte 
mit dem Wertvolleren zusammenzufallen braucht. Ein 
Apriorismus im Sinne einer Festsetzung darüber, was als 
sittlich zu gelten habe, ist daher selbst für eine Durchführung 
der genetischen Aufgabe kaum zu entbehren. Der Empiris- 
mus kann somit im Prinzip keine ausreichende ethische 
Theorie sein. Man wird vielmehr auch hier sagen dürfen, 
daß sich Empirismus und Apriorismus nicht ausschließen, 
sondern ergänzen, indem jeder von ihnen besondere, von dem 
anderen nicht zu erfüllende Aufgaben, die genetische und 
die normative, stellen und lösenl 
11. Endlich aber hat sich in neuester Zeit auf dem Boden 
der Husserlschen Phänomenologie (vgl. § 5, 12) ein Aprio- 
23* 
355 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
rismus entwickelt, der für die Einsicht in die Werte und ihre 
Rangordnuncr, ebenso eine ursprüngliche Evidenz in An- 
spruch nimmt, wie für die Erkenntnis der theoretischen 
Phänomene. Dieser Apriorismus führt zur Begründung 
einer Wertethik durch Erfassung der im (intentionalen, 
d. h. gegenständlich gerichteten) Fühlen und Vorziehen ge- 
gebenen sittlichen Werte. Damit wird die Idee einer abso- 
luten Ethik verwirklicht, die von dem geschichtlichen 
Wechsel der sittlichen Urteile und von der Entwicklung des 
sittlichen Verhaltens unabhängig ist. Sie findet, daß sittlich 
gut und böse nur Personen ursprünglich sein können, und 
daß deren moralische Beschaffenheiten als Tugenden und 
Laster gelten. Sie betrachtet die Eangordnung der Werte 
als etwas absolut Unveränderliches und redet von einer 
Täuschung des Vorziehens, wenn ein niederer Wert dem 
höheren vorgezogen wird. Die Höhe eines Wertes aber wird 
an seiner Dauerhaftigkeit, an der Tiefe der Befriedigung, die 
er auslöst, an seiner Ursprünglichkeit u. a. gemessen und be- 
steht in größerer oder geringerer Annäherung an den abso- 
luten Wert, d. h. an den, der für ein von dem Wesen der 
Sinnlichkeit und dem Wesen des Lebens in seiner Funktions- 
art und seinen Funktionsgsetzen unabhängiges Fühlen oder 
Vorziehen existiert. Wir lassen es dahingestellt, ob dieser, 
namentlich von M. Scheler und A. Messer entwickelte, 
aber schon von F. Brentano in den Grundzügen vertretene 
Apriorismus inhaltlich überall das Eichtige trifft. Die Haupt- 
sache ist für uns in diesem Zusammenhange, daß er dem 
Empirismus als eine selbständige und grundlegende Methode 
der Untersuchung in der Ethik gegenübertritt. Als solche 
geht er nicht sowohl darauf aus, Normen aufzustellen, als 
vielmehr das Wesen des Sittlichen und den Grund seiner 
Geltung zu erkennen, und so wird er auch rein theoretisch 
eine Ergänzung der empiristischen Forschung. 
LITERATUR : 
K. Birch-Reichenwald Aars: Gut und Böse. Zur Psychologie der 
Moralgefühle, Christiania 1907. 
F. Brentano: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis*, 1889. 
Th. Elsenhans: Wesen und Entstehung des Gewissens, 1894. 
356 
§ 29. Die forinale und tnateriale Bestimmung des Sittlichen. 
O. Flügel: Das Ich und die sittlichen Ideen im Leben der Völker, 
5. Aufl. 1912. 
L. T. Hobhouse: Morula in Evolution, 2 Bde. 1906. 
G. Störring: Moralphilosophische Streitfragen, I. Teil: Die Entstehung 
des sittlichen Bewußtseins, 1903. 
E. Westermarck: Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, 
2 Bde. Deutsch von L. Katscher, 1907—1910. I. 2. Aufl. 1913. 
C. M. Williams: A review on the Systems of Ethics founded an the Theory 
of Evolution, 1893. 
M. Scheler und A. Messer s. Literatur zu § 29. 
§ 29. DIE FOEMALB UND MATEKIALE BESTIMMUNG 
DES SITTLICHEN. 
1. Eine Frage, die streng logisch betrachtet, eigentlich an 
erster Stelle, also vor dem Problem des Ursprungs und der 
Geltung des Sittlichen zu behandeln ist, bezieht sich auf 
das Wesen des Sittlichen (vgl. § 28, 10). Wir behandeln sie 
hier, weil wir an der entwickeisten Gestalt des Sittlichen, 
dem ethischen Bewußtsein der Gegenwart, das Wesen, d. h. 
die allgemeinen, für jeden besonderen Fall gültigen Merk- 
male des Sittlichen untersuchen wollen. Nach dem Forma - 
lismus sind diese nur in der Weise angebbar, daß man von 
jeglicher inhaltlicher Bestimmung absieht, indem man z. B. 
erklärt, sittlich handle, wer in gleicher Lage das Gleiche 
wolle. Ob dieses Gleiche eine Wohltat oder ein Diebstahl, 
ein Treubruch oder eine Lebensrettung ist, kann dann gänz- 
lich außer Betracht bleiben. Im Gegensatz dazu stehen die 
Versuche, eine allgemeingültige materiale Bestimmung 
über das Wesen des Sittlichen zu treffen, wie z. B. die Auf- 
fassung, daß ein sittliches Wollen sich auf das Gesamtwohl 
richte oder Nächstenliebe zum Beweggrund habe. Wir 
werden uns hier damit begnügen, den prinzipiellen Gegensatz 
zu schildern und zum Austrag zu bringen, und müssen es 
anderen Untersuchungen überlassen, auf die einzelnen Arten 
der materialen Bestimmung einzugehen. Demnach ist das 
bezeichnete Problem näher so zu bestimmen: ist eine von 
aller inhaltlicher Charakteristik der Motive, Zwecke und 
Objekte des sittlichen Verhaltens absehende formale Angabe 
von Merkmalen desselben ausreichend, oder bedarf sie der 
357 
///. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
Ergänzung durch eine materiale Bestimmung? Darstellung 
und Prüfung des formalistischen Standpunktes ist somit der 
Hauptgegenstand unserer jetzigen Ausführungen. 
2. Der Begründer des Formalismus ist Kant. Er unter- 
scheidet hypothetische und kategorische Impera- 
tive. Jene stellen unter der Voraussetzung einer bestimmten 
Bedingung eine Forderung an uns, wie etwa die Vorschrift : 
man soll sparen, wenn man im Alter nicht darben will! 
Kategorische Imperative dagegen sind absolute, schlechthin 
und unbedingt geltende Normen. Ein Gebot, wie das be- 
kannte: Du sollst nicht lügen! fordert eine allgemeine Be- 
folgung, ohne durch Bedingungen und Rücksichten, Wir- 
kungen und Ziele eine Einschränkung zu erleiden. Impera- 
tive bestehen aber überhaupt nur für die subjektive Un Voll- 
kommenheit unseres menschlichen Willens, während ein 
heiliger Wille kein nötigendes Gesetz kennt, das ihm befehlen 
müßte, was er nicht schon von sich aus täte. Die katego- 
rischen Imperative allein sind Gebote der Sittlichkeit, die 
anderen kann man Vorschriften der Geschicklichkeit und 
Klugheit, aber nicht moralische Gesetze nennen. Suchen 
wir nun das gemeinsame Merkmal derartiger unbedingt 
geltender Normen anzugeben, so finden wir nichts anderes 
als die schlechthinige Allgemeinheit der Forderung selbst, 
die bloße Form eines an alle gerichteten und für 
alle geltenden Gebotes. Die Lüge wäre hiernach nur 
dann sittlich zu rechtfertigen, wenn sie zum Inhalt eines 
solchen Gebotes gemacht werden könnte. Das ist in der Tat 
unmöglich. Denn man kann zwar eine einzelne Lüge, nicht 
jedoch ein allgemeines Gesetz der Lüge wollen, da man z. B. 
nicht wollen kann, selbst belogen zu werden. Somit lautet das 
als kategorischer Imperativ auftretende Gebot mit seiner 
Begründung: Du sollst nicht lügen, weil du nicht wollen 
kannst, daß Lüge eine allgemeingültige Norm werde. Dem 
obersten, alle besonderen Formen umfassenden kategorischen 
Imperativ läßt sich auf diese Weise ein einfacher Ausdruck 
geben: Handle so, daß dein Wollen mit einem allgemeinen 
Gesetz übereinstimmt! Kant wählt dafür den Wortlaut: 
ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen 
358 
§ 29. Die formale und materiale Bestimmung des Sittlichen. 
könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz weiden; 
oder: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit 
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten 
könne! Da nun Gebote, die dieser Formel genügen, eine 
Pflicbt für uns begründen und unabhängig von Neigungen 
oder Abneigungen, von den zu erreichenden Gütern oder 
Übeln ihre Erfüllung verlangen, so ist das sittliche Wollen 
ein Wollen aus Pflicht. Darauf beruht der Rigorismus der 
Kant sehen Ethik. Wohltätigkeit aus bloßer Neigung, 
Anderen zu helfen und Freude zu bereiten, ist ganz schön, 
hat aber, wie Kant sagt, keinen wahren sittlichen Wert. 
Wer jedoch trotz eigener Leiden, welche die Teilnahme an 
Anderer Schicksal auslöschen, oder trotz einer in seinem 
Temperament liegenden Kälte und Gleichgültigkeit gegen 
die Leiden Anderer oder gar trotz einer natürlichen und 
uubezwinglichen Abneigung gegen die Objekte des Wohl- 
tuns solche Handlungen übt, indem er nur der ihn 
dazu treibenden Pflicht folgt, ist ein Charakter von sitt- 
lichem Wert. 
3. Von den bisher entwickelten Gnmdgedanken aus er- 
geben sich für Kant Pflichten des Handelnden gegen sich 
selbst und gegen Andere. Zu jenen gehören die Pflicht der 
Selbsterhaltung und die Pflicht der Entfaltung von 
Gaben; zu diesen werden die Pflicht der Ehrlichkeit und 
die Pflicht der Wohltätigkeit gerechnet. Davon sind 
die erste und dritte »vollkommene, unnachlaßliche«,die zweite 
und vierte »unvollkonamene, verdienstliche« Pflichten. Alle 
Pflichten aber stammen aus der Idee der Würde eines ver- 
nünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht, als dem, das 
es zugleich gibt, d. h. aus der Autonomie. Jedes Yernunft- 
wesen existiert als Zweck an sich selbst und hat als solches 
absoluten Wert. Darin kann der Grund des kategorischen 
Imperativs gefunden werden, dessen Formel sich auch so 
fassen läßt: Handle so, daß Du die Menschheit (d. h. das 
Mensch- oder Vernunftwesensein) in Dir und Anderen jeder- 
zeit als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. 
Der Mensch ist aber nicht nur Vernunft-, sondern auch 
Sinnenwesen, das die eigenen Gebote übertreten und seiner 
359 
///. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
höheren Bestimmuug untreu werden kann. Darum tritt ihm 
das Sittengesetz als befehlende Norm gegenüber, die Ach- 
tung erheischt. In diesem Gefühl der Achtung erblickt 
Kamt die einzig zulässige gefühlsmäßige Triebfeder des sitt- 
lichen Wollens. Sie ist ein gemischtes Gefühl, aus Lust an 
der eigenen höheren Bestimmung und aus Unlust an dem 
Zwange des Sittengebots zusammengesetzt. So hängen 
demnach die absolute Norm des kategorischen Imperativs, 
die sich der autonome Wille selbst gibt, der absolute Zweck 
eines Vernunftwesens und die Achtung vor einem allgemein- 
gültigen Gesetz auf das engste miteinander zusammen. Der- 
jenige Wille ist als schlechterdings gut zu beurteilen, dessen 
Beweggrund, sofern er in einer unbedingten Forderung aus- 
zudrücken ist, sich selbst niemals widerstreiten kann. 
4. Dieser Formalismus Kants hat in der späteren Ethik 
zumeist Widerspruch erfahren. Eine neue Begründung des- 
selben ist bei W. Lipps hervorgetreten^). Wie alle logische 
Beurteilung auf einem Kriterium der Wahrheit beruht, so 
stützt sich alle ethische Beurteilung auf ein Kriterium der 
Sittlichkeit, das in der Einheit, Konsequenz und Überein- 
stinamung unseres Wertens und Wollens besteht. Hiernach 
muß unter gleichen subjektiven und objektiven Bedingungen 
das Gleiche gewollt werden. Da nun für die Persönlichkeit 
des Wollenden ein Gesetz der Einheit und Konsequenz 
immer besteht, wenn sich die objektiven Bedingungen nicht 
ändern, so kann man daher auch einfach sagen, daß voll- 
kommene Übereinstimmung mit sich selbst neben 
Eeichtum und Lebendigkeit den Wert der sittlichen Persön- 
lichkeit ausmacht. Wir können uns auch nur als gegen uns 
selbst treu betrachten, wenn wir bei gleichen objektiven Be- 
dingungen das Gleiche wollen oder — was dasselbe ist — 
wenn wir gesetzmäßig wollen. Somit ergibt sich als eine sitt- 
liche Norm die Vorschrift: Verhalte Dich jederzeit innerlich 
so, daß Du hinsichtlich dieses Deines inneren Verhaltens 
Dir selbst treu bleiben kannst! Insofern nun alle objektiven 
1) Das Folgende z. T. nach A. G allinger: Zum Streit über das Grund- 
problem der Ehtik im der neueren philosophischen Literatur. Kant- 
Btudien, VI. Bd. S. 353 ff. 
360 
§ 29. Die formale und materiale Bestimmung des Sittlichen. 
Bedingungen für jeden Menschen dieselben sind, ist das 
sittliche Verhalten, das sich durch sie einheitlich bestimmt 
findet, ein allgemeingültiges Verhalten. Darum kann 
man den Beweggrund des sittlichen Wollens jederzeit zu 
einem für alle Menschen in gleicher Lage verbindlichen Ge- 
setz erheben und zugleich die Kegel aufstellen : Verhalte Dich 
in allgemeingültiger, d. h. in einer für das sittliche Bewußt- 
sein. Aller gültigen Weise! Zu diesem allgemeingültigen Ver- 
halten gehört auch, daß der Gegenstand des Wollens ein 
Gegenstand relativer Lust, von überwiegendem Werte ist. 
Lipps steht nicht auf dem rigoristischen Standpunkte 
Kants, welcher die Bestinmiung des Wollens durch Neigung 
für »pathologisch« hält und den sittlichen Charakter des 
Wollens durch ihre Mitwirkung gefährdet sieht. Vollkom- 
mene sittliche Gesinnung schließt vielmehr nach ihm Zwang 
und Strenge völlig aus; das Gute wird dann freudig gewollt, 
ist Gegenstand dauernder, den Charakter erfüllender Nei- 
gung. Das sittliche Wollen zielt darauf ab, daß das Gute oder 
die sittliche Persönlichkeit sich beglückt auslebe. Das 
höchste Glück und die letzte Grundlage alles Glückes ist 
der sittliche Wert. Für unsere jetzige Untersuchung aber 
können wir von der den Begriff des Sittlichen bereits voraus- 
setzenden eudämonistischen Ergänzung absehen^). 
5. Die Begründung des Formalismus ist bei Kant und 
Lipps eine verschiedene. Jener legt den Schwerpunkt in die 
Allgemeingültigkeit und Unbedingtheit und strebt von vorn- 
herein, ein allgemeines, für jedermann verbindliches Sitten- 
gesetz abzuleiten. Dieser geht von der widerspruchslosen 
Übereinstimmung des Wollenden mit sich selbst, von der 
Treue, die der Einzelne gegen sich selbst übt, also von einem 
individuell-gültigen Gesetz aus, und gelangt erst durch 
*) Wie Siramel gezeigt hat, läßt sich auch die sich aus Nietzsches 
Lelire von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ergebende ethische 
Forderung: Lebe so, daß du wünschen kannst, genau so noch einmal zu 
leben! in diesen formalistischen Gedankenkreis einordnen. Ähnlich ver- 
hält es sich auch mit C. E. Rasius' (Rechte und Pflichten der Kritik, 
1897) und Koppelmanns Fordervmg der Wahrhaftigkeit, die übrigens 
schon von Wollaston (f 1724) als die Grundlage aller Sittlichkeit be- 
stimmt worden ist. 
361 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
eine erweiternde Folgening zu der für Kant im Vorder- 
grunde stellenden Allgemeingültigkeit. Diese Folgerung trägt 
auch nicht den Charakter einer selbstverständlichen Er- 
gänzung. Denn da das Wollen nicht nur von objektiven, 
sondern auch von subjektiven Bedingungen abhängig ist, 
die nicht bei jedermann dieselben zu sein brauchen, so ist es 
sehr wohl möglich, daß verschiedene Personen unter den 
gleichen objektiven Bedingungen Verschiedenes wollen, ohne 
die Treue gegen sich selbst zu Verletzen. Der Mennonit, der 
den Krieg grundsätzlich verabscheut und sich dem Euf zum 
Kampfe für das Vaterland entzieht, handelt dann ebenso 
sittlich, wie derjenige, der kriegsbereit unter die Fahnen 
eilt, um dem Prinzip der Landesverteidigung zu entsprechen. 
Damit ist zugleich gesagt, daß inhaltlich Verschiedenes nach 
der Norm der Treue gegen sich selbst und nach der Norm 
der Gültigkeit für jedermann als sittlich angesehen werden 
kann, d. h. es kann etwas nach jener Eegel sittlich sein, was 
nach dieser unsittlich ist. Die Kantsche Formel ist die um- 
fassendere, insofern eine Handlungsweise, die nach ihr sittlich 
ist, auch nach der anderen sittlich sein muß. Denn für jeder- 
mann gelten heißt bei Kant: auch für mich jederzeit gelten. 
Wir werden uns daher im folgenden nur mit diesem Forma- 
lismus auseinandersetzen, der ja tatsächlich auch bei Lipps 
vorliegt. 
6. Gegen diesen Formalismus lassen sich mancherlei Ein- 
wände vorbringen. 
a) Zunächst kann man sagen, daß die Entscheidung über 
Eecht und Unrecht, gut und böse durch die Frage nach der 
möglichen Allgemeingültigkeit der Maxime in einzelnen 
Fällen von einer schwierigen Überlegung und Berech- 
nung abhängig gemacht wird. Das sittliche Wollen und 
Wandeln verliert dadurch den Charakter der Unmittelbarkeit. 
Nach Kant bedarf es dazu freilich keines weitausholenden 
Scharfsinns. Man braucht sich bloß die Frage vorzulegen, 
ob man dasjenige, was man Anderen anzutun im Begriff 
steht, auch selbst erleiden möchte oder ob das eigene Wollen 
bei dem Versuch einer Verallgemeinerung zu einem Wider- 
spruch mit sich selbst führen würde. Aber ein solcher Ver- 
362 
§ 2!J. Die formale und materiale Bestimmung des Sittlichen. 
jiieich und eine solche Verallgemeinerung sind insofern mit 
besonderen Schwierigkeiten behaftet, als die Umstände, 
unter denen etwas gewollt wird, die Vergleichbarkeit und die 
(rcneralisierbarkeit wesentlich beeinflussen. Jedenfalls würde 
manche materiale Bestimmung des zu erreichenden Zweckes 
wesentlich leichter ermitteln lassen, ob eine Handlung oder 
Entscheidung berechtigt ist oder nicht. 
b) Noch wichtiger ist ein anderer, gleich dem vorigen von 
Lotze^) erhobener Einwand. So lange es ganz gleichgültig 
ist, was dabei herauskommt, kann jeder Grundsatz, mag 
er sittlich oder unsittlich, vernünftig oder unvernünftig sein, 
allgemein durchgeführt werden. Prinzip einer allgemeinen 
Gesetzgebung können an sich, d. h. von jedem Erfolge ab- 
gesehen, Mitleidlosigkeit und Bosheit ebenso werden, wie 
Barmherzigkeit und Güte, Unehrlichkeit und Lüge ebenso, 
wie Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Freilich führen die 
zuerst genannten Verhaltungsweisen zu lauter Unordnung, 
Unglück, Zwietracht und Mißtrauen, während die zu zweit 
genannten wohltuende Wirkungen haben. Aber dieser 
Unterschied kann doch nur dann in Betracht kommen, wenn 
außer der formalen Allgemeinheit Güter und Werte an- 
erkannt werden, deren Verwirklichung gefordert wird. Ist 
also Kant der Meinung gewesen, daß die allgemeine Geltung 
einer Maxime zugleich auf einen vernünftigen Zustand, auf 
ein menschenwürdiges Dasein abziele, so ist die Eücksicht 
auf einen Zweck des sittlichen Verhaltens tatsächlich von 
ihm nicht ausgeschieden worden. 
7. c) Damit hängt es nun auch zusammen, daß die Allge- 
meingültigkeit einer Maxime eine viel zu abstrakte Be- 
stimmung ist, als daß die konkreten Anforderungen und 
Aufgaben des Lebens mit ihrer Hilfe erkannt und beurteilt 
werden könnten. Eine Pflicht der Selbsterhaltung z. B. ist 
gewiß nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, daß der 
Pessimismus das Nichtsein der Welt für wertvoller hält, als 
das Sein (vgl. § 24). So kann es geradezu von der Welt- und 
Lebensanschauung eines Menschen abhängen, ob er die All- 
gemeingültigkeit einer von ihm gefaßten Ansicht wünscht 
*) »Grundzüge der praktischen Philosophie«, 2. Aufl. 1884. 
363 
III. Kapitel. Die 'philosophischen Richtungen. 
oder nicht. Was unsere Pflicht ist, läßt sich aus der bloßen 
Forderung einer Treue gegen uns selbst oder einer Gültigkeit 
für jedermann allein schwerlich ableiten, d. h. es dürfte kaum 
möglich sein, etwas anzugeben, was von diesem Gesichts- 
punkte aus den Charakter der Pflicht nicht erhalten könnte, 
und was ihn bloß auf Grund einer möglichen Allgemein- 
gültigkeit erhalten müßte. Der bekannte Spruch: mundus 
vult decipi, ergo decipiatur (die Menschen wollen betrogen 
werden, demnach sollen sie betrogen werden) deutet darauf 
hin, daß das, was alle wollen, auch ganz unsittliche Ergeb- 
nisse haben könnte. Den feineren Abstufungen, der Beson- 
derheit persönlichen Wertes kann ein derartiges Kriterium 
überhaupt nicht gerecht werden. Einer Verleumdung z. B. 
wird der eine daduch begegnen, daß er sich wehrt, ein an- 
derer dadurch, daß er sie ignoriert, ein dritter wird sich viel- 
leicht tief getroffen fühlen und in eine verzweifelte Stim- 
mung geraten. Welches Verhalten ist sittlich geboten ? Auf 
diese Frage kann die formale Bestimmung, weil sie von den 
subjektiven Bedingungen absieht, gar keine Antwort geben. 
Ebenso kann jemand etwas als seine persönliche Pflicht 
fühlen, das er aber nicht zur Pflicht für alle machen möchte. 
Nur in gewissen, groben, in das allgemeine Eechtsbewußtsein 
übergegangenen Fällen wird es möglich sein, das formale 
Kriterium der Sittlichkeit mit einiger Sicherheit und zu- 
. treffend zur Anwendung zu bringen, wobei aber immer aus 
dem allgemeinen sittlichen Bewußtsein eine inhaltliche Er- 
gänzung stattfindet. So kann man nicht als allgemeines Ge- 
setz wollen, daß gelogen, betrogen, gestohlen und geraubt 
werde; man kann eben auf eine allgemeine Mißbilligung 
dieser Handlungsweisen — das ist aber eben eine »materialc« 
(negative) Wertschätzung — rechnen." Auf dem eigentlichen, 
engeren Gebiet der Sittlichkeit aber, in den so häufigen 
Fällen, wo nicht das allgemeine Schema der auszuführenden 
Handlung, sondern die Gesinnung und Individualität des 
handelnden Subjekts die entscheidende EoUe spielt, dürfte 
die Erwägung über eine mögliche Allgemeingültigkeit zu 
keiner klaren und zuverlässigen Bestimmung führen, 
d) Nun kann man ja freilich den Gedanken an allgemeine 
364 
§ 29. Die formale und materiale Bestimmung des Sittlichen. 
Gesetzmäßigkeit ausdehnen. Verallgemeinerungsfähig und 
-bedürftig, so ließe sich diese Meinung fassen, ist an einer 
Handlung und Absicht nicht nur das abstrakte und ein- 
f()rmige Schema, unter das man sie einordnen kann, wie 
Unterschlagung, Lüge, Wohltat, sondern auch alle die be- 
sonderen Umstände, die eine solche Handlung im Einzelfalle 
begleiten, und alle die individuellen Voraussetzungen, die sie 
in dem handelnden Subjekt ermöglichen. Es hat auf die 
sittliche Beurteilung tatsächlich einen großen Einfluß, ob 
jemand aus Not oder Neigung stiehlt, ob er es zum ersten 
Male oder gewohnheitsmäßig tut, ob er das gestohlene Gut 
in einem günstigen Moment sich einfach angeeignet hat oder 
durch Einbruch dazu gelangt ist, ob er allein oder im Auf- 
trage oder unter Mitwirkung Anderer gestohlen hat, ob er 
mutig oder feige ist, ob erbliche Belastung besteht u. dgl. 
mehr. Da nun aber die konkrete Mannigfaltigkeit der Um- 
stände und der individuellen Voraussetzungen sich kaum 
jemals wiederholen dürfte, so hat die Verallgemeinerung in 
dieser Ausdehnung auf die konkreten Umstände nur eine rein 
theoretische Bedeutung. Der kategorische Imperativ müßte 
dann streng genommen nur lauten : Handle so, daß Du wollen 
kannst in ähnlichen Fällen Ähnliches zu tun ! oder : Handle so, 
daß Du wollen kannst, jedermann solle in ähnlicher Lage 
sich ähnlich verhalten ! Dadurch wird aber offenbar in die 
Formel eine unberechenbare Unsicherheit eingeführt, die die 
Anwendbarkeit des Kriteriums in Frage stellt. Außerdem 
schließt diese Verallgemeinerung eine so genaue Kenntnis 
aller in Betracht kommenden Faktoren und des von ihnen 
abhängigen ethischen Wertes ein, daß sie zu einer praktisch 
kaum zu verwirklichenden idealen Forderung wird. Insbe- 
sondere dürfte der Nachweis der Erblichkeit verbrecherischer 
Anlagen die Folgerung aufdrängen, daß auch sittliche An- 
lagen in mannigfachsten Eichtungen und Abstufungen be- 
stehen. Wie soll unter solchen Umständen eine All- 
gemeinheit des Verhaltens erstrebt und erreicht werden 
können ! 
e) Auch bei einem Konflikt der Pflichten läßt der 
kategorische Imperativ im Stich. So ist z. B. nach Kant die 
365 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Selbsterhaltung eine Pflicht, aber ebensogut besteht auch 
eine Pflicht, Anderen zu helfen. Ist letztere nur unter Ge- 
fährdung des eigenen Lebens erfüllbar, wie z. B. bei der 
Bettung ertrinkender oder in einem brennenden Hause be- 
findlicher Personen, so bleibt ungewiß, welcher Pflicht man 
folgen soll. Nicht minder können Ehrlichkeit und Selbst- 
erhaltung in Wettstreit miteinander geraten, wie bei dem 
Mörder, der ein Geständnis seiner Schuld abzulegen aufge- 
fordert wird. Das Kriterium möglicher Allgemeingültigkeit 
läßt es hier, wie in zahlreichen anderen Fällen, unentschieden, 
welche von den beiden an der gleichen Aufgabe beteiligten 
Pflichten erfüllt bzw. vorgezogen werden soll. Es muß 
auch hier ein (materiales) Werturteil über den Rang der 
beiden Verhaltungsweisen dazu kommen. 
8. Überblicken wir alle hier entwickelten Einwände gegen 
den Formalismus, so ergibt sich alsbald, daß sie — von dem 
ersten abgesehen, der auch bei gewissen materialen Bestim- 
mungen eine Eolle spielen kann (vgl. § 32, 12) — eine gegen 
das formalistische Grundi^rinzip gerichtete Bedeutung haben. 
Dieses besteht aber darin, die Ethik zu einer Formalwissen- 
schaft zu machen, sie als eine Logik des Wollens, die sich 
a priori deduzieren läßt, als ein Seitenstück zu der Logik des 
Denkens zu behandeln. Das allgemeingültige und gesetz- 
mäßige Wollen ist die Parallele zu dem allgemeingültigen 
und gesetzmäßigen Denken. Das Kriterium der Überein- 
stimmung mit sich selbst, der Einheit und Konsequenz ent- 
spricht dem Kriterium der Wahrheit, der Widerspruchs- 
losigkeit aller Begriffe und Urteile. Aber so wichtig und wert- 
voll es sein mag, die Ethik in diesem Sinne auszubauen — 
was freilich mit der Aufstellung von ein paar allgemeinen 
Formeln noch nicht geleistet wird — es darf doch nicht über- 
sehen werden, daß die Wirklichkeit imd Sachgemäßheit 
mit dem Kriterium der Einheit und Konsequenz ebenso- 
wenig auf dem Gebiet des Wollens und Handelns, wie auf dem 
des wissenschaftlichen Erkennens zureichend und eindeutig 
erfaßt und bestimmt werden kann. Außer der Wahrheit, die 
das Verhältnis unserer Gedanken zueinander regelt, ist für die 
Realwissenschaften immer noch die Richtigkeit, d. h. ein 
36B 
§ 29. Die formale und materiale Bestimmung des Sittlichen. 
Verhältnis der Gedanken zu dem in ihnen dargestellten 
Gegenstande oder Sachverhalte als leitendes Kriterium maß- 
gebend ; aus bloßer Logik des Denkens lassen sich die realen 
Gesetze des Seins und Geschehens nicht ableiten. Und so 
sind auch aus bloßer Logik des Wollens die realen Aufgaben 
des Lebens nicht zu entnehmen. Nun könnte man dagegen 
geltend machen, daß eine derartige Kasuistik, die alle 
Einzelfälle des Wollens und Handelns umfassen würde, gar 
nicht beabsichtigt sei. Einen Willensakt sittlich beurteilen, 
heiße nur: ihn unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen 
Allgemeingültigkeit betrachten. Was er sonst noch sei, ob er 
diesen oder jenen Zweck erstrebe, auf diesen oder jenen 
Gegenstand sich richte, müsse für die Frage nach seiner sitt- 
lichen Qualität gleichgültig sein. Das wäre jedoch ungefähr 
so, als wenn jemand erklärte, den Wert eines Gedankens habe 
man wissenschaftlich nur nach seiner inneren Widerspruchs- 
losigkeit zu beurteilen; in welcher Beziehung er dagegen zu 
Objekten stehe, die in ihm ausgedrückt werden, sei ganz 
belanglos. In der Tat hat man in dem ontologischen Gottes- 
beweise (vgl. § 26, 3 — 5), in der dialektischen Methode (vgl. 
§ 3, 6) und in vielen einzelnen Fällen sich von der Vorstellung 
irreleiten lassen, als wäre mit der Wahrheit des Denkens auch 
seine Eichtigkeit entschieden. Aber die Geschichte der 
Wissenschaft spricht laut und deutlich gegen voreilige Folge- 
rungen dieser Art ; es kann etwas wahr und doch unrichtig, 
d. h. den Sachverhalten nicht entsprechend sein. Und so 
kann auch ein Wollen sich selbst getreu, als allgemeingültig 
denkbar und doch zweck- oder wertwidrig sein. 
10. Wir sind daher, sofern wir das Wesen des Sittlichen 
nicht bloß für ein gedachtes, sondern auch für das wirkliche 
Wollen und Handeln des Menschen bestimmen wollen, ge- 
nötigt, außer einem formalen Kriterium der allge- 
meinen^) Gültigkeit noch ein materiales Kriterium 
der Zweck- oder Wertgemäßheit anzunehmen. Das 
sittliche Wollen läßt sich demnach in allgemeinster Form 
^) Oder objektiven Gültigkeit; falls wir nämlich berücksichtigen, daß 
die als objektiv gültig auftretende sittliche Forderung von Individuen 
lediglich als sie selbst verpflichtend empfunden wird (vgl. § 29, 7 c). 
367 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
als ein folgerichtiges, mit sich selbst nicht in Widerspruch 
geratendes, und als ein sach- und wert gemäßes, der Ver- 
wirklichung von Werten angepaßtes, nach den sachlichen 
Aufgaben sich richtendes Wollen charakterisieren i). Man 
wird gegen dieses zweite Kriterium vielleicht einwenden, daß 
es ein wert- oder zweckwidriges Wollen überhaupt nicht gebe, 
daß vielmehr jedes Wollen zweckmäßig sei. Darauf ist zu 
erwidern, daß hier nicht die allgemeine vitale Zweckmäßig- 
keit, die jeder Lebensfunktion nach früheren Ausführungen 
(vgl. § 23, 5 ff.) zukommt, gemeint ist, sondern das Verhältnis 
zu gebilligten, anerkannten, für verbindlich gehaltenen Wer- 
ten. Ist das Wollen nicht auf sie gerichtet oder wenigstens 
nicht ausschließlich bzw. vorwiegend durch sie bestimmt, 
so darf es in diesem ethischen Sinne ein zweckwidriges oder 
ein Wollen von geringerer Wertgemäßheit genannt werden. 
Außerdem könnte man gegen dieses Kriterium auch noch 
geltend machen, daß es ebenfalls über eine formale und ab- 
strakte Bestimmung nicht hinauskomme. Denn so lange 
nicht die Werte, denen das Wollen zu entsprechen habe, 
genauer bezeichnet werden, sei das Kriterium der Wert- 
gemäßheit inhaltlich ebenso leer und nichtssagend, wie das 
der Folgerichtigkeit. Auf diesen Einwand kann erst nach 
Erledigung der besonderen Fragen nach den Motiven, Ob- 
jekten und Zwecken des sittlichen Wollens abschließend 
geantwortet werden. Vielleicht ergibt sich in der Tat, daß 
eine speziellere Fassung für die Wesensbestimmung des Sitt- 
lichen unmöglich ist. Aber die materiale Natur unseres 
zweiten Kriteriums würde davon unberührt bleiben. Denn 
es behauptet ja, wenngleich ganz allgemein, daß der Wille 
als sittliche Funktion auch durch das Gewollte, also durch 
seinen Inhalt, durch Werte oder Zwecke, die verwirklicht 
') Über diese zweite Forderung scheint aucli der Objektivismus von 
Heymans nicht hinauszukommen, nach dem »jede Person, jedes Ding, 
jedes Verhältnis nach ihrem eigenen Werte« behandelt werden sollen. 
Sein kategorischer Imperativ lautet: Betrachte alle Dinge aus dem 
weitesten für dich erreichbaren Gesichtspunkte! oder: Wolle objektiv! 
Daß aber dann der Egoismus als unbedingt verwerflich bezeichnet wird, 
ist im Hinblick auf den Selbstwert der wollenden Persönliclikeit nicht 
ohne weiteres einleuchtend. Vgl. § 32, 14. 
368 
§ 29. Die formale und materiale Bestimmung des Sittlichen. 
werden sollen, bestimmt ist, und unterscheidet sich durch 
diese Beziehung auf die Materie des Wollens von dem auf 
die bloße Form des Gesetzes gerichteten formalen Kriterium. 
11. Suchen wir zusammenzufassen, was sich als Wesen des 
Sittlichen nach den bisherigen Erwägungen angeben läßt! 
Schon früher (vgl. § 9, 10) haben wir als den Gegenstand aller 
sittlichen Beurteilung den Willen bezeichnet. Nicht die 
Handlung, der tatsächliche Erfolg, sondern Absicht und Ge- 
sinnung werden als moralisch oder unmoralisch gewerteti). 
Daraus geht hervor, daß nur das vom Willen Abhängige, 
in ihm und durch ihn Gesetzte und in seinem Bereich Lie- 
uende zum Sittlichen gehört. Äußere Güter, wie Gesundheit, 
Wohlstand, soziales Ansehen der Eltern, ebenso besondere 
Gaben und Talente, eine gute Erziehung und Bildung u. dgl., 
deren Existenz nicht einfach von einem Willen herbeigeführt 
oder erhalten werden kann, zählen darum auch nicht schlecht- 
hin zu den sittlichen Werten. Zu diesen kann nur dasjenige 
gerechnet werden, dessen Erreichung durch ein Wollen jeder- 
zeit als möglich anzusehen ist. Eerner ist dieses durch die 
ganze Persönlichkeit des Wollenden bestimmt. Nicht 
eine zufällige Reaktion, ein blinder Eeflex, eine automatische 
oder triebhafte Bewegung, sondern eine durch den Charakter, 
die Individualität des psychophysisjßhen Subjekts bedingte 
Tätigkeit liegt in der Willenshandlung vor. Ich bereue 
nicht, was ich im Schlafe getan, sondern nur, was ich als 
ganzer Mensch mit vollem Bewußtsein begangen habe (vgl. 
§ 25, 6 ff.). Zur sittlichen Verantwortlichkeit gehört eine 
Einsicht in die sittlichen Aufgaben, die nicht bei Tieren, 
aber auch nicht bei jedem Menschen vorauszusetzen ist. 
Damit hängt es zusammen, wenn das als sittlich zu beur- 
teilende Wollen ein wohl motiviertes sein muß und nicht 
von plötzlichen Einfällen, von augenblicklichen Trieb- 
regungen und äußeren Eindrücken beherrscht werden darf. 
Die oben (§ 29, 6) verlangte Unmittelbarkeit des sittlichen 
1) Eine eigentliche Erfolgsethik, welche die Sittlichkeit einer Handlung 
nur nach ihren Wirkungen bewertete, kann es daher nicht geben. Was 
man gewöhnlich so bezeichnet, ist eine Ethik, die bestimmte Zwecke des 
Wollens als sittlich wertvoll betrachtet. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. • 24 
369 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Handelns geht dadurch nicht verloren. Denn sie ist eine er- 
worbene, aus gewohnheitsmäßiger Verhaltungsweisc hervor- 
gegangene Eigenschaft. Sie hat sich durch Erfahrung und 
Wiederholung entwickelt und befestigt, ist also eine wohl- 
motivierte, von der ganzen sittlichen Persönlichkeit und ihrer 
tugendhaften Gesinnung getragene, auch wenn die einzelnen 
Beweggründe selbst nicht ausdrücklich bewußt werden, in 
besonderer Eeflexion sich geltend machen. Ferner gehört 
zu den Merkmalen des sittlichen WoUens, daß es ein folge- 
richtiges, mit sich selbst übereinstimmendes und insofern 
zugleich gesetzmäßiges Wollen ist. Treue gegen sich selbst 
hat als ein Gesichtspunkt für die ethische Beurteilung 
zweifellose Geltung. Sie besagt im Grunde nichts anderes 
als die Einheit der wollenden Persönlichkeit, wird 
also ^'in sekundäres Kriterium, sobald man sich vergegen- 
wärtigt, daß das Wollen Betätigung der ganzen, ungeteilten 
Person ist. Diese Person aber ist nun endlich ein System 
nach der Eegel der Zwecke, d. h. alles sittliche Wollen ist 
ein Werte setzendes und verwirklichendes Wollen. Bei 
dem verschiedenen Bang der Werte entsteht hier eine Ord- 
nung und Stufenfolge von Gütern und Zwecken. Niedere 
werden höheren, nähere ferneren als Mittel untergeordnet. 
Dadurch erwächst die Präge nach dem höchsten Gut {sum- 
mum honuin), nach dem letzten Zweck, nach dem obersten 
Wert des sittlichen Wollens. Dieses selbst erscheint als ein 
wertgemäßes oder wertwidriges, je nachdem es solchen Wer- 
ten angepaßt, auf sie eingestellt ist oder nicht. Das Einzige, 
was sich hieraus vielleicht noch für die Gesinnung des sitt- 
lich Wollenden ergibt, ist eine sachliche oder selbst- 
lose Hingabe an die anerkannten Werte, d. h. ein aus- 
schließliches Gerichtetsein auf sie und ihre Verwirklichung 
und ein ausschließliches Bestimmtsein durch sie und die aus 
ihnen folgenden besonderen Aufgaben. 
Das ist alles, was sich vom Standpunkte einer formalen 
und materialen Bestimmung zunächst über das Wesen des 
Sittlichen sagen läßt. Ob sich weitere Merkmale allgemein- 
gültiger Art hinzufügen lassen, muß die folgende Unter- 
suchung lehren. 
370 
§ 30. Rejlexionsmoral und Gefühlsmoral. 
LITERATUR : 
V. Cathrein, S. J. : Die Einheit des sittlichen Bewußtseins der Mensch- 
heit, 3 Bde. 1914. 
H. Cohen: Kants Begründung der Ethik, 2. Aufl. 1910. 
VV. Koppelmann: Die Ethik Kants. Entwurf zu einem Neubau, 1907. 
A. Messer : Kants Ethik. Eine Einführung in ihre Hauptprobleme und 
Beiträge zu deren Lösung, 1904. Ethik*, 1918. 
L. Nelson: Kritik d. prakt. Vernunft*, 1917. 
M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wert- 
ethik. 1917. Dazu J. Cohn: Recht u. Grenzen des Formalismus in 
der Ethik. Logos VII S. 89—112 u. A. Messer: Neue Jahrb. f. 
Pädagogik, 1918. 
VV. Stern: Die menschl. Persönlichkeit, 1918. 
O. Störring: Ethische Grundfragen, I. Teil: Darstellung und kri- 
tische Würdigung der moralphilosophischen Systeme der Gegenwart. 
Eigenes Moralprinzip; II. Teil: Berechtigung der Forderung sitt- 
lichen I^bens, 1906. 
§ 30. KEFLEXIONSMOEAL imD GEFÜHLSMOEAL. 
1. Die Frage nacli der Beschaffenheit der Motive^) einer 
sittlichen Handlung kann eine doppelte, eine psycholo- 
gische nnd eine ethische Bedeutung haben. Eichtet sie 
sich auf die Ermittlung der psychischen Vorgänge, die über- 
haupt als Motive, d. h. als Triebfedern, Beweggründe 
oder auslösende Bedingungen für irgendein Wollen gelten 
können, so haben wir es mit einem rein psychologischen 
Problem zu tun, dessen Entscheidung jedoch, da es sich um 
^) Beachtenswert ist die Unterscheidung, die Heymans zwischen 
Neigung und Motiv durchführt. Unter jener versteht er die dispositio- 
nellen Bedingungen, die den Wunsch nach Verwirklichung eines Zweckes 
entstehen lassen, unter diesem die einzelne Zielvorstellung, die wir als 
auslösende Bedingung bezeichnen können. In dem Wollen gelangt »die 
Gesamtreaktion aller Neigungen auf die gegebenen Motiworstellungen 
zum Ausdruck«. Der Charakter ist hiernach die Gesamtheit der Nei- 
gungen eines Individuums in ihren gegenseitigen Stärke Verhältnissen. 
Hierbei werden allerdings die Namen Neigung und Wunsch in einer all- 
gemeineren als der üblichen Bedeutung genommen, welch letztere es 
erlaubt zu sagen, daß etwas gewollt werde, ohne daß es gewünscht wird 
oder eine Neigung dazu besteht und daß es einen Kampf zwischen 
Pflicht und Neigung gibt. Da die »Neigungen« im Sinne von Heymans 
einer exklusiven Gefühlsmoral keine Stütze bieten, können wir uns hier 
auf die Motive beschränken. 
24* 
371 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
jedes Wollen, also auch ein sittliches oder unsittliches, han- 
delt, für die Ethik von Wichtigkeit sein muß. Wird dagegen 
nach den Motiven gefragt, die ethisch berechtigt oder unbe- 
rechtigt sind, so liegt ein moralphilosophisches Problem vor. 
Als Beweggründe des sittlichen WoUens bezeichnet die 
Gefühlsmoral bestimmte emotionale Vorgänge, wie z. B. 
das Mitleid oder die Liebe, während die Eeflexionsmoral 
bestimmte intellektuelle Vorgänge, wie den Gedanken an das 
größtmögliche Wohl der Gesamtheit oder die Überlegung 
der persönlichen Vorteile, die eine beabsichtigte Handlung 
haben kann, als ethische Triebfedern anerkennt. Man nennt 
darum auch jene Eichtung die emotionale Ethik und stellt 
ihr den ethischen Intellektualismus gegenüber. Die 
Gefühlsmoral ist zumeist von der psychologischen Theorie 
beherrscht, daß überhaupt nur Gefühle (dies Wort im wei- 
teren Sinne genommen, nicht bloß auf einfache Zustände 
der Lust und Unlust eingeschränkt) den Willen bewegen, eine 
Wahl, einen Entschluß herbeiführen können. Der ethische In- 
tellektualismus dagegen bestreitet nicht, daß auch Gefühle 
diesen Einfluß auf den Willen haben können, fordert aber von 
dem sittlichen Willen, daß er sich nur durch Eeflexionen, 
durch vernünftige Einsicht und Überlegung bestimmen solle. 
2. Im ganzen Altertum herrscht der Standpunkt eines 
ethischen Intellektualismus. Will man in seinem Beruf 
tüchtig sein, so muß man nach Sokrates von der Sache 
etwas verstehen, und somit ist Wissen Voraussetzung aller 
Tugend. Dieselbe allgemeine Überzeugung finden wir bei 
Piaton und Aristoteles. Nur aus dem höchsten Seelen- 
vermögen, aus der Vernunft kann eine sittliche Bestimmung 
eine Herrschaft über die niederen Triebe hervorgehen. Darum 
ist die oberste aller Tugenden die Weisheit oder die Be- 
sonnenheit oder die Einsicht, kurz, eine gewisse Beschaffen- 
heit des Intellekts. Der gleichen Auffassung begegnen wir bei 
den Stoikern und bei den Epikureern. Die Leidenschaf- 
ten erscheinen jenen als Ursachen aller Übel, und die nega- 
tive Vorbedingung für das Sittliche oder Gute ist deshalb 
eine leidenschaftslose Verfassung, die Apathie. Selbst in der 
scholastischen Ethik wirkt dieser Gesichtspunkt trotz 
372 
§ 30. Reflexionsmoral und Gefühlsmoral. 
der entgegengesetzten Auffassung des Christentums noch 
nach. Die vernünftige Einsicht bestimmt nach Thomas 
V. Aquino den Willen, den besten unter den möglichen 
Zwecken zu wählen. Auch in der neueren Philosophie hat 
<lie Eeflexionsmoral zahlreiche Vertreter gefunden. So be- 
steht nach Hobbes das natürliche Sittengesetz in dem Gebot 
der richtigen Überlegung der für das Leben nützlichen oder 
schädlichen Folgen einer Handlung und beruht demnach 
das Unsittliche auf einem intellektuellen Irrtum, auf fal- 
schem Schließen. Ebenso ist für Cudworth die richtige 
l^jinsicht die Quelle alles Sittlichen, und auch bei Clarke 
(t 1729) äußert sich dieser Standpunkt, indem er fordert, 
daß die sittlichen Willenshandluugen konstant und regel- 
mäßig durch die Vernunft bestimmt werden. 
3. Als Eeflexionsmoralisten treten uns ferner die materia- 
listischen Ethiker entgegen, die diese Auffassung der Motive 
des Sittlichen deshalb bevorzugen, weil der Empirismus sie 
nahe legt. Denn sicherlich kann unser Wissen, unser Ur- 
teilen und Eeflektieren von der Erfahnang abhängig gemacht 
werden, während die Beschaffenheit der Gefühle durch die 
Anlage und Organisation unseres Wesens offenkundig bedingt 
ist. In der metaphysischen Ethik des 17. und 18. Jahrhunderts 
lierrscht gleichfalls die Eeflexionsmoral vor. Descartes 
zeigt freilich noch nicht eine einseitige Neigung zu diesem 
Standpunkt. Aber in seiner Auffassung der Sittlichkeit als 
der Absicht, das, was man als richtig erkannt habe, zu tun, 
und in seiner Meinung, daß durch die Affekte das klare Er- 
kennen und damit zugleich das gute Wollen getrübt und ver- 
schlechtert werde, ist ein Intellektualismus unschwer zu fin- 
den. Nach Leibniz müssen Erfahrung und Vernunft unsere 
natürlichen Begierden regeln und mäßigen, damit die Glück- 
seligkeit erreichbar werde. Dazu gehören die klaren Vor- 
stellungen, während das unsittliche Handeln auf verworrene 
zurückgeführt wird. Da nun die Gefühle der Lust und Un- 
lust gleichfalls zu den verworrenen Vorstellungen gerechnet 
werden, so können sie nicht als ausreichende Bestimmungs- 
gründe des Guten angesehen werden. Durch Wolff ver- 
breitete sich diese ethische Auffassung über die deutsche 
373 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Philosophie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auch 
Kant muß zu den Keflexionsmoralisten gerechnet werden. 
Denn das einzige Motiv des Sittlichen ist ja nach ihm ein 
Gesetz der praktischen Vernunft, eine Eegel a priori-, Ge- 
fühle sind pathologische Bestimmungsgründe unseres Wol- 
lens (vgl. § 29, 2). J. G. Fichte ist in seiner ersten Periode 
darin der treueste Nachfolger Kants. Nur wer um der Pflicht 
willen handelt, hat die höchste Stufe des sittlichen Charak- 
ters erreicht. Auch Hegel ist Eeflexionsmoralist, da das 
Denken nach ihm darüber zu bestimmen hat, welcher Zweck 
von dem wählenden Willen gesetzt werden soll. 
4. Die erste deutliche Ausprägung einer Gefühlsmoral 
finden wir im Christentum, insofern hier die Liebe als das 
Gmndmotiv sittlichen Handelns bezeichnet wird. Die 
philosophische Ethik hat sich erst verhältnismäßig spät 
dieses Gesichtspunktes bemächtigt. Spinoza hat ihn mit 
vollem Bewußtsein zur Anwendung gebracht. Affekte und 
Triebe bestimmen nach ihm ausschließlich das menschliche 
Wollen. Sofern sie auf einzelne Ziele gerichtet sind, auf den 
besonderen Nutzen oder Schaden für das handelnde Subjekt, 
begründen sie die menschliche Knechtschaft, unterwerfen 
sie den Willen denjenigen Motiven, die eine vergängliche 
Bedeutung haben, hindern und beeinträchtigen sie die Er- 
füllung bleibender Aufgaben, die Erreichung ewiger Ziele. 
Aber durch bloße Erkenntnis können Affekte niemals über- 
wunden werden, nur ein stärkerer und entgegengesetzt ge- 
richteter Affekt ist dazu imstande, den Menschen frei zu 
machen. Dieser Affekt ist die »intellektuelle Liebe zu Gott«, 
die Liebe zur adäquaten, vollkommenen, philosophischen 
Erkenntnis, die alles suh specie aeternitatis (unter dem Ge- 
sichtspunkt des Ewigen) auffaßt und begreift. So ist zwar 
auch für Spinoza der Weise, der Wissende und Erkennende, 
der wahrhaft Gute; aber ein emotionaler Zustand treibt ihn 
zu dieser höchsten Form des Lebens. Sodann hat Shaf tes- 
bury eine Gefühlsmoral vertreten. Affekte sind die An- 
triebe zu unseren Handlungen, und die Harmonie selb- 
stischer und sozialer Affekte begründet ein sittliches Ver- 
halten (vgl. § 9, 9). Nach Hutcheson ist die rein« un- 
374 
§ HO. Reflexionsynoral und Gefühlsmoral. 
interessierte Liebe, die selbstlose Neigung, der einzige Quell 
des sittlichen Handelns; die Vernunft dagegen hat nur eine 
sekundäre Bedeutung, insofern sie bei der Bestimmung der 
Objekte dieses Handelns als Hilfsmittel mitwirkt. Ähnlich 
ist für Smith die Sympathie das alleinige Motiv des Sitt- 
lichen. In der nachkantischen Philosophie ist zunächst 
Schopenhauer der Bekenner einer emotionalen Ethik. 
Das Mitleid ist für ihn, allerdings auf Grund einer intuitiven 
Einsicht, die einzige sittliche Triebfeder schlechthin (vgl. 
§ 9, 8). Ebenso ist L. Feuerbach Gefühlsmoralist, indem 
er den Glückseligkeitstrieb als die Grundkraft unseres Han- 
delns, auch des sittlichen, auffaßt. Endlich ist Comte der 
Meinung, daß die Liebe das treibende Motiv aller sozialen 
Leistungen sei. 
5. üsTeben diesen einseitigen Eichtungen hat es auch ver- 
schiedene Ethiker gegeben, die einen vermittelnden Stand- 
punkt eingenommen haben, d. h. intellektuelle und emo- 
tionale Faktoren nebeneinander als mögliche Motive aner- 
kennen. In der englischen Ethik hat Cumberland (f 1719) 
die Gefühle des Wohlwollens und des Vertrauens neben der 
vernünftigen Einsicht als Bestimmungsgründe des Wollen« 
gewürdigt und Locke die Selbstliebe als ein einflußreiches 
Motiv neben der verständigen Reflexion aufgeführt. Ebenso 
hat Hume beide Faktoren auf das Handeln Einfluß gewinnen 
lassen, Sympathie und Selbstliebe einerseits, Verstand und 
Überlegung andererseits. Auch Herbart kann man in 
diesem Zusammenhang erwähnen, denn seine praktischen 
Ideen, die den Maßstab aller sittlichen Beurteilung enthal- 
ten, weisen zum Teil auf ein emotionales, zum Teil auf ein 
intellektuelles Motiv hin. In der Idee des Wohlwollens kann 
man jenes, in der der Vollkommenheit vielleicht dieses 
finden. Ebenso sind die modernen Haupt Vertreter des 
Utilitarismus (vgl. § 32, 11), Bentham und J. St. Mill, für 
eine solche vermittelnde Ansicht über die Natur der Motive 
sittlichen WoUens eingetreten. Von Gefühlen der Lust und 
Unlust wird all unser Begehren und Wünschen, Tun und 
Lassen geleitet und getrieben. Aber um höheren Werten 
niedere unterzuordnen, um ein umfassendes Glück dem Wohl- 
375 
///. Kapitel. Die philosophischeii Richtungen. 
ergehen Einzelner vorziehen zu können, bedarf es einer 
Eeflexion, intellektueller Operationen, die derartige Be- 
ziehungen allein ermitteln und feststellen können. Auch in 
der Gegenwart ist diese Ansicht als die vorherrschende zu 
betrachten. 
6. Eine Entscheidung zwischen den geschilderten Eich- 
lungen kann nur dann getroffen werden, wenn wir zunächst 
untersuchen, wie die Psychologie die Beweggründe des 
Wollens bestimmt. Lehrt sie, daß nur Gefühle als Trieb- 
federn anzusehen sind, so ist der Eeflexionsmoral ebenso wie 
einer vermittelnden Eichtung von vornherein der Boden 
entzogen. Dabei ergibt sich nun, daß die Psychologie der 
Gefühlsmoral keinen Vorschub leistet. Denn neben Hand- 
lungen, bei denen gefühlsbetonte Vorstellungen oder Urteile 
den Antrieb bilden, und Wahlakten, für deren Eichtung die 
Annehmlichkeit oder Unerfreulichkeit der zu erreichenden 
Ziele maßgebend ist, finden wir zweifellos auch solche Willens- 
handlungen, die wir auf intellektuelle Motive ausschließlich 
zurückzuführen haben. In der Behauptung, daß stets Ge- 
fühle bei unseren Entschließungen mitwirken oder gar allein 
den Ausschlag geben, kann man wohl nur eine einseitige An- 
sicht erblicken, die nicht eine objektive und vollständige 
Beschreibung der Tatsachen, sondern eine durch diese nicht 
gebotene Vereinfachung oder Konstruktion des wirklichen 
Geschehens bildet. Bei der Wichtigkeit dieser Frage — die 
Gefühlsmoral hängt mit dem später zu besprechenden ethi- 
schen Subjektivismus eng zusammen — wollen wir die hier 
in Betracht konmienden Fälle der Willensmotivierung noch 
etwas genauer darlegen. 
7. Eine unbefangene psychologische Betrachtung zeigt, 
1. daß die Willenshandlungen mehrfach unabhängig von 
Gefühlen erfolgen. Zunächst in den zahlreichen Fällen, wo 
eine Lust oder Unlust nicht unmittelbar erlebt, sondern nur 
vorgestellt bzw. gedacht wird. Man weiß dann, daß 
bei der Verwirklichung gewisser Ereignisse ein angenehmes 
Gefühl eintreten oder ein unangenehmes ausbleiben wird. 
Man kennt also theoretisch den Zusammenhang zwischen 
den Gefühlen und ihren Bedingungen, ohne aktuelle Gefühle 
376 
§ 30. Reflexionsmoral und Gefühlsmoral. 
zu erleben. Wer wollte leugnen, daß auf Grund eines der- 
artigen Wissens eine Wahl stattfinden, ein EntscLluß gefaßt 
werden kann? Gewiß ist es möglich, daß sich mit einem 
dadurch gesetzten Affekte der Erwartung oder der Furcht 
zugleich Vorgefühle einstellen, die diese Vorstellungen oder 
Gedanken begleiten. Aber weder ist dies notwendig, noch, 
soweit unsere Erfahrung reicht, regelmäßig der Fall. Ein 
solches Wissen braucht auch nicht die vorgestellten Gefühle 
zu Zielen des WoUens zu machen. Es ist vielmehr mit Eecht 
wiederholt darauf hingewiesen worden, daß in der Kegel nicht 
die an bestimmte Handlungen geknüpften Gefühle dem 
Willen seine Eichtung geben, sondern die Aufgaben, Zwecke 
und Werte, deren Verwirklichung Gefühle nach sich zu 
ziehen pflegt. 
Das Bewußtsein vom Werte einer Handlung kann zwar in 
Form von Gefühlen, aber auch in der von Urteilen auftreten. 
Zu den von Gefühlen unabhängigen Willenshandlungen 
haben wir die gewohnheitsmäßigen zu rechnen, deren 
sicherer und geregelter Ablauf sich zwar dem Begriff einer 
Wahlhandlung, nicht aber dem einer Willenshandlung über- 
haupt entzieht (vgl. § 29, 11). Auch sie bedürfen eines Be- 
weggrundes, den vorgestellte oder gedachte Erfolge oder 
Verläufe zu bilden pflegen. Endlich erscheinen uns die 
Pflichthandlungen als solche, deren Motive nicht in Ge- 
fühlen gesucht werden dürfen. Überall, wo Grundsätze, 
theoretische Überlegungen u. dgl. die Entscheidung bedingen, 
hat die Gleichsetzung des Wollens mit einem Wollen aus 
Lust und Liebe gar keinen Sinn. Auch die ausdrückliche 
Anerkennung oder Billigung der unser Wollen verpflichten- 
den Normen oder das Bewußtsein des SoUens und der Ver- 
bindlichkeit fällt nicht unter den Begriff eines Gefühls. 
8. Kaum minder häufig ereignet es sich, 2. daß gefühls- 
betonte Vorstellungen oder Erwägungen bei einer 
Wahl den Ausschlag geben. Wenn wir aus Wohlwollen oder 
Mitleid, aus Furcht oder Hoffnung, aus Begeistemng oder 
Verzweiflung Handlungen begehen, so ist neben mehr oder 
weniger intensiven Gefühlen zugleich ein intellektuelles Mo- 
ment wirksam. Nicht schlechthin üben hier die Gefühle einen 
377 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Einfluß auf unser Handeln, sondern nur in Verbindung mit 
bestimmten Vorstellungen oder Überlegungen. Es mag hier 
im einzelnen Falle oft sebr schwierig sein, den Anteil des 
intellektuellen und des emotionalen Faktors genauer zu be- 
stimmen. Aber es geht nicht an, jenen überhaupt nur als die 
bedeutungslose Vergegenwärtigung einer Möglichkeit zu be- 
trachten, die allein durch die Gefühlsreaktion, die sie aus- 
löst, den Willen bestimmt. Wo Pflicht und Neigung z. B. 
in ihrer Eichtung zusammenfallen, würde man den Tat- 
sachen sicherlich nicht gerecht werden, wenn man die Nei- 
gung schlechthin als das Willensmotiv ansähe. Man kann 
jedoch in vielen solchen Fällen 3. die Gefühle als die 
eigentlichen Motive auffassen, insofern ihre Mitwirkung 
bei der Vorstellung eines Erfolges oder Zieles die Entschei- 
dung für oder gegen die zugehörige Handlung herbeiführt. 
Besonders deutlich wird der emotionale Charakter einer 
solchen Wahl bei der Ablehnung oder Unterlassung einer 
vorgestellten Möglichkeit. 
Das Ergebnis dieser psychologischen Erörterung ist also 
die Zurückweisung einer einseitigen psychologischen Ansicht 
über die Natur der Motive. Machen wir die Handhmg von 
einer Wahl abhängig, so führen wir sie auf das Vorziehen einer 
Möglichkeit vor anderen zurück. Dieses Vorziehen aber 
braucht nicht durch Gefühle bestimmt zu werden, sondern 
kann auch ohne und gegen sie erfolgen. Übrigens haben die 
geschichtlichen Formen der Gefühlsmoral in der Kegel 
keinen schroffen Standpunkt in dieser Hinsicht eingenommen. 
Denn wer in der Liebe oder in der Sympathie oder im Wohl- 
wollen das sittliche Motiv erblickt, hat ja Fälle im Auge, 
die wir bei unserer psychologischen Betrachtung an zweiter 
Stelle aufgeführt haben, wo also gefühlsbetonte Vorstellungen 
die Handlung bestimmen. 
9. Wie steht es nun aber mit der ethischen Frage ? Welcher 
von den möglichen Fällen einer Motivierung von Hand- 
lungen verdient eine sittliche Billigung'? Nach dem 
Intellektualismus offenbar nur der erste und nach der Ge- 
fühlsmoral nur der zweite. Nach jenem wäre jede Bei- 
mischung von Gefühlen, sofern sie auf unsere Wahl eine Bin- 
378 
§ 30. Reflexionsmoral und Gefühlsmoral. 
Wirkung gewinnen, eine Beeinträchtigung der sittlichen 
Qualität unseres Wollen«. Nach der emotionalen Ethik da- 
gegen muß die kalte Eeflexion des Verstandes, die strenge 
Formel der Pflicht durch die Wärme und Milde des Gefühls 
ermäßigt oder gar ersetzt werden. Wer ließe sich z. E. mit 
Abscheu eine Wohltat erweisend Erinnern wir uns an die 
Ergebnisse des § 29! Wir haben dort das sittliche Wollen 
als ein solches gekennzeichnet, das auf erreichbare Werte 
gerichtet, wohlbegründet und aus der ganzen Persönlichkeit 
des Wollenden hervorgegangen ist. Hiernach sind offenbar 
Eeflexionen, intellektuelle Faktoren, ebenso wie Ge- 
fühle, emotionale Faktoren, an dem sittlichen Wollen 
beteiligt zu denken. Nur in der Harmonie beider, in der 
positiven Gefühlsstellung zu den erwählten wohlbegründeten 
Aufgaben des Lebens, in der Unterordnung der mit Gefühlen 
ergriffenen Absichten unter anerkannte Werte, kann sich 
die Einheit des wollenden Subjekts bekunden. Alle Wert- 
bestimmung beruht im letzten Grunde auf subjektiven Zu- 
ständen (vgl, § 24, 1), auf einem vielfach mit Gefühlen ver- 
bundenen Anerkennen und Zurückweisen, Vorziehen und 
Nachsetzen. Andererseits kann eine wirkliche Wertskala, 
eine Bestimmung von höchsten und letzten Gütern gar nicht 
ohne Hilfe des Intellekts gewonnen werden. Das Tier, das 
sich von seinen Trieben und Bedürfnissen fast ausschließlich 
beeinflussen läßt und kein Lebensideal kennt, würde der 
Gefühlsmoral in ihrer exklusiven Form näher kommen, als 
der eine objektive Wertabstufung vornehmende, in wohl- 
begründeter Lebenseinrichtung sich bewegende Mensch. So 
wenig gleichgültige Naturgesetzlichkeit dem Gesichtspunkt 
eines sittlichen Verhaltens entspricht, so wenig kann ein 
impulsives, auf zufällige Ausbrüche des Gefühls erfolgendes 
Wollen und Handeln unserem sittlichen Urteil genügen. 
Damit ist nicht gesagt, daß in jedem einzelnen Akte unseres 
Wollens beide Faktoren gleichmäßig hervortreten müßten. 
Das Gefühl stumpft sich durch Wiederholung ab ; Eeflexionen 
verlieren allmählich den Charakter ausgeführter intellek- 
tueller Operationen und lassen sich in bloßen Andeutungen 
ihres Inhalts erleben. Diese das Bewußtsein entlastenden 
379 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Prozesse entwerten jedoch das sittliclie Handeln nicht, sofern 
nach wie vor ein wirkliches Wollen und nicht etwa bloße Ee- 
flexe, an denen die Persönlichkeit keinen Anteil hat, den be- 
treffenden Handlungen zugrunde liegen. 
Auf die Frage nach der Art der als zulässig zu betrachten- 
den intellektuellen und emotionalen Beweggründe sittlichen 
Handelns können wir erst später (§ 32, 16) eingehen. 
LITERATUR: 
N. Ach: Der Wille und das Temperament, 1910. 
M. Wundt: Der Intellektualismus in der griechischen Ethik, 1907. 
§ 31. INDIVIDUALISMUS UND UNIVEESALISMUS. 
1. Durch die im Titel genannten Eichtungen wird die 
Frage zu beantworten gesucht, auf wen sich ein Handeln zu 
richten habe, wenn es ein sittliches sein soll. Da dieses im 
letzten Grunde nach vorherrschender Ansicht nur in Per- 
sonen sein Ziel erreicht, so kann diese Frage genauer dahin 
formuliert werden: geht das sittliche Handeln auf einzelne 
Personen oder auf eine Gemeinschaft von solchen? Nach 
dem Individualismus sind es immer nur einzelne Indivi- 
duen, bestimmte Personen, die als Objekte ethischen WoUens 
zu gelten haben, nach dem Universalismus dagegen ist 
nur eine Gemeinschaft, die Familie oder ein Stand oder eine 
Berufsklasse oder die Nation usf., dals ein solches Objekt 
anzuerkennen. Der Individualismus zerfällt in den Egois- 
mus^) und den Altruismus, je nachdem das handelnde 
Subjekt sich selbst als Zielpunkt seines WoUens betrachtet 
oder in anderen Personen die Objekte der sittlichen Betäti- 
1) Das Wort Egoismus ist hier in einem weiteren Sinne gebraucht, d. h. 
ohne die damit in der Regel verbundene Bedeutung einer gleichzeitigen 
Vernachlässigung des Nebenmenschen. K. Thieme (Die sittliche Trieb- 
kraft des Glaubens, 1895) hat zur Bezeichnung der nicht zu tadelnden, 
berechtigten oder gebotenen Richtung des Handelns auf das eigene Ich 
den Ausdruck Ipsismus eingeführt und dem Namen Egoismus die ein- 
gebürgerte engere Bedeutung zugewiesen. Unser Begriff des Egoismu.s 
bildet daher die nächstliöhere Gattung für diese von Thieme zweck- 
mäßig unterschiedenen Richtungen. — Über die Fülle der Begriffe, die 
an den Namen Individualismus geknüpft sind, vgl. G. E. Burckhardl: 
Was ist Individualismus ? 1913. 
380 
§ 31. Individualismus und Universalismus. 
gung sucht. Beim Universalismus können wir so viele Arten 
unterscheiden, als Gemeinschaftsformen existieren. So kann 
man von einem sozialen, einem politischen, einem na- 
tionalen und einem humanen Universalismus reden. In 
der Eegel jedoch pflegt die Gesamtheit schlechthin oder die 
Menschheit als höchstes oder letztes Ziel des sittlichen Han- 
delns bestimmt zu werden, und die anderen Gemeinschafts- 
formen werden dann nur als vorbereitende Stadien oder als 
nächste Ziele oder als notwendige Mittel zur Erfüllung der 
höchsten Aufgabe gewürdigt. Zwischen diesen Gegensätzen 
gibt es noch verschiedene Übergangsformen. So lassen 
sich die Standpunkte des Egoismus und des Altruismus ver- 
einigen, so kann man ferner, wie wir schon angedeutet haben, 
die verschiedenen Formen des Universalismus zu einer ein- 
heitlichen Gesamtanschauung verknüpfen. Aber selbst die 
Gegensätze des Individualismus und Universalismus können 
in einer ethischen Theorie gleichzeitig anerkannt werden, 
wenn man sowohl ein Handeln, das sich auf einzelne Per- 
sonen richtet, als auch ein solches, das irgendeine Gemein- 
schaft zum Ziele hat, berechtigt oder gefordert findet. 
2. Beide Eichtungen treten uns schon im Altertum ent- 
gegen. Sokrates, die Stoiker und die Epikureer sind 
Individualisten gewesen. Pia ton neigt zum Universalismus 
in dessen politischer Form; Aristoteles dagegen nimmt 
einen vermittelnden Standpunkt ein. Einen reinen Altruis- 
mus haben die Ethiker des Altertums überhaupt nicht aus- 
gebildet. Ihr Individualismus umfaßt in der Eegel beide 
Möglichkeiten. Doch finden wir einen ausgeprägten Egois- 
mus bei den Kyrenaikern, die auch Hedoniker genannt 
werden (vgl. § 32, 3), und später bei den Epikureern. Den 
Stifter des Christentums könnte man einen humanen Uni- 
versalisten nennen, vorausgesetzt, daß er der ganzen Mensch- 
heit das Heil zu bringen sich berufen fühlte. Aber in seinen 
ethischen Vorschriften begegnet uns durchweg eine indivi- 
dualistische Anschauung, die jedoch keinen Unterschied der 
Person anerkennt und dadurch die Vorbedingung für einen 
humanen Universalismus schafft. Ipsismus und Altruismus 
erhalten nebeneinander ihre Geltung, und nur gelegentlich 
381 
///. Kapitel. Die philosophischen Eichtungen. 
überwiegt der altruistische Gesichtspunkt. In der theolo- 
gischen Ethik pflegt es sich nicht anders zu verhalten. Die 
Pflichten des Handelnden gegen sich selbst werden denen 
gegen Andere nebengeordnet. Wenn hier außerdem die Ge- 
meinschaft des Staates oder der Kirche noch als besondere 
Objekte des sittlichen Willens gewürdigt werden, so ist das 
nicht sowohl eine Wiedergabe der in der urchristlichen Moral 
herrschenden Vorstellungen als vielmehr eine zweckmäßige 
Ergänzung und Erweiterung derselben. 
3. In der Ethik der neueren Philosophie findet sich eine bunte 
Abwechslung individualistischer und universalistischer Ten- 
denzen. Da sind Spinoza und Hobbes Egoisten, denen die 
Erhaltung, Förderung, Beglückung des handelnden Subjekts 
das natürliche Ziel alles Strebens ist. Nur als ein notwendiges 
Mittel zur Erreichung dieses Zweckes wird von Hobbes ein 
wohlwollendes Verhalten gegen Andere gefordert. Descartes 
und Leibniz dagegen sind Individualisten, die Egoismus 
und Altruismus zu verbinden suchen. F. Bacon scheint 
reiner Universalist zu sein, und zwar im sozialen und huma- 
nen Sinne. Einer Verbindung von Individualismus und 
Universalismus begegnen wir bei Cumberland und Locke 
und einem entschiedenen Altruismus bei Hutcheson, Hume 
und Smith. Individualisten ohne besondere Färbung sind 
Shaftesbury, ebenso Kant und Fichte, der jedoch in 
der späteren Periode seines Denkens zum humanen Uni- 
versalismus neigt, sowie Herbart. Schopenhauer, 
Comte und Lotze sind Vertreter des Altruismus, 
Hegel und Wundt humane Universalisten, Schleier- 
macher, Krause, Spencer, v. Hartmann endlich suchen 
den Individualismus und den Universalismus miteinander 
zu verknüpfen. 
4. In dieser Mannigfaltigkeit der ethischen Standpunkte 
spiegelt sich die tatsächliche Verschiedenheit der sittlichen 
Urteile und zugleich der Einfluß kulturgeschichtlicher Fak- 
toren wieder. Der kosmopolitischen Gesinnung des 18. Jahr- 
hunderts lag ein nationaler oder politischer Universalismus, 
wie er heute in allen Staaten auf nationaler Grundlage ver- 
treten wird, völlig fern. In Zeiten, wo sich der Einzelne mit 
382 
§ 31. Individualismus und Universalismus. 
seinen Bedürfnissen im Gegensatz fühlt zu den Ordnungen 
und Bestrebungen der Gesamtheit, der er nach Geburt und 
Recht angehört, entwickelt sich naturgemäß ein Individua- 
lismus oder ein revolutionär gesinnter Universalismus. Kein 
theoretisch dürfte jedoch, wenn Avir von der Beschaffenheit 
der zu verwirklichenden Zwecke an Individuen oder Gemein- 
schaften absehen, die Entscheidung über diese Kichtungen 
nicht allzu schwierig sein. Es liegt in der Natur der Sache, 
daß einzelne Personen bei ihrer Verschiedenheit, Veränder- 
lichkeit und Vergänglichkeit immer nur wechselnde, keine 
beständigen Objekte des sittlichen WoUens sein können. 
Zum allgemeinen Wesen des Sittlichen kann nur gehören, 
was allen besonderen Formen desselben gemeinsam ist, und 
so ist ein ethischer Individualismus allgemeingültig nur denk- 
bar, sofern die einzelnen Personen nicht in ihrer Verschieden- 
heit, sondern in ihrer Gleichartigkeit zu Objekten des Wollens 
werden, d. h. sofern sie Glieder oder Exemplare derselben 
Gattung sind. Damit soll keiner Uniformierungstendenz das 
Wort geredet werden. Jeder kann dabei in der ihm eigen- 
tümlichen Form individualistische Zwecke verfolgen, und 
diese können eine konkrete Verschiedenartigkeit bei ihrer 
Anpassung an die besondere Individualität ihres Trägers 
annehmen. Aber es gibt eine Einheit der sittlichen Eichtung, 
die bei solchen Unterschieden gewahrt werden muß und 
kann und die durch die Aufgabe bestimmt wird, die an den 
Individuen zur Erfüllung gelangt. Das gilt auch in dem 
Fall, daß Jeder an sich selbst arbeitet und sittlicher Vollen- 
dung zustrebt. Andererseits kann eine Gemeinschaft niemals 
unmittelbarer Gegenstand des Wollens sein, weil sie nur 
idealiter besteht. -Das tatsächliche, konkrete Wollen und 
Handeln ist auf ein tatsächliches, konkretes Objekt ange- 
wiesen. Zunächst und unmittelbar können darum nur ein- 
zelne Individuen den Angriffspunkt für die sittliche Wirk- 
samkeit abgeben. Sie sind beide berechtigt. Einen Einzelnen 
zu helfen kann ebensogut Pflicht sein, wie für eine Ge- 
meinschaft zu arbeiten und Opfer zu bringen. So gelangen 
wir zu einer Vereinigung individualistischer und 
universalistischer Tendenzen. Die letzteren kommen 
383 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
zu ihrem Keclit, wenn die Einzelpersonen Gegenstände sitt- 
lichen Wollens sind, sofern sie als Bestandteile einer sie um- 
fassenden Gemeinschaft zu gelten haben, die ersteren, wenn 
nächsten und unmittelbaren Gegenstand sittlichen Wollens 
einzelne Personen bilden. Man kann dies Verhältnis auch so 
ausdrücken, daß man sagt: die Gemeinschaft ist letztes, 
aber nur ideales, das Individuum nächstes und reales Objekt 
des sittlichen Wollens. Jedoch können Gemeinschaften auch 
insofern Gegenstand des sittlichen Willens sein, als etwa ihr 
Schutz oder die Verbesserung ihres Zustandes (z. B. seine 
Eeform auf politischem, rechtlichem, wirtschaftlichem Ge- 
biet) gewollt wird. 
Im allgemeinen darf die umfassendere Gemeinschaft als 
das höherwertige Objekt des Handelns angesehen werden. 
Familie, Stand, Beruf, Staat, Nation, Menschheit bilden die 
Stufen und Glieder in diesem Eeich universeller Objekte. 
Auch dem Staate und der Nation dient man im ethischen 
Sinne nur dann, wenn man sie mit dem höheren und allge- 
meineren Gesichtspunkt erfüllt, daß sie möglichst vollkom- 
mene menschliche Gemeinschaften sein sollen. Das Ideal 
der Humanität ist somit in der Tat das höchste und letzte 
unter den Zielen des sittlichen Wollens. Auflehnung gegen 
den Staat kann dann allerdings eine ethisch-positive Be- 
deutung haben, sofern er den umfassenderen Interessen der 
Menschheit zuwider eigennützige oder kulturfeindliche Be- 
strebungen verfolgt. 
5. So erweist sich der humane Universalismus als der 
höchste und letzte Standpunkt in bezug auf die Gegenstände 
des sittlichen Wollens, als ein Standpunkt, auf den weniger 
umfassende Formen vorbereiten und hinführen. Damit ist 
die Mannigfaltigkeit individueller und sozialer Gestaltungen 
und die Besonderheit eines auf derartige Objekte gerichteten 
Handelns nicht ausgeschlossen. Sie hat nur ihre Eegelung 
und Einschränkung erfahren. Aber erst die Beantwortung 
der Frage, wie an den Objekten sittlich gehandelt werden 
soll, kann die Untersuchung über den Individualismus und 
Universalismus zum Abschluß bringen. So lange wir nicht 
wissen, worin die Werte bestehen, die in der Menscheit und 
384 
§ 31. I iidividualismus und Universalismus. 
an ihren einzelnen Gliedern zu verwirklichen sind, läßt sich 
über eine leere Kelativität der Bestimmung nicht hinaus- 
kommen. Als einzige Grundlage für die Aufhebung des 
Gegensatzes zwischen individualistischen und universa- 
listischen Tendenzen hat uns die Widerspruchslosigkeit ihrer 
Ansprüche gedient. Aber diese genügt doch nur dann zur 
Entscheidung^ wenn eine einheitliche, gleichartige Voraus- 
setzung über die Aufgaben und Zwecke des WoUens zugrunde 
gelegt wird. Geschieht das nicht, so stürzt auch der von uns 
aufgerichtete Stufenbau zusammen. Sind die wohlverstan- 
denen Interessen der Gesamtheit von denen der Einzelnen 
verschieden, so kann sich der Gegensatz sofort wieder ein- 
stellen. Außerdem kann das höchste Ideal in dieser Stufen- 
reihe, das der Humanität, mit verschiedenem Inhalt erfüllt 
werden. Sind geistige oder materielle Güter, sind Glück oder 
Vollkommenheit, Nutzen oder Fortschritt das summum 
honum (höchste Gut) der Menschheit '? Vielleicht gibt es ob- 
jektive Werte, die über Persönliches ebenso wie über Mensch- 
liches hinausgehen und die daher, als Ziele des sittlichen 
Handelns gedacht, den Gegensatz von Individualismus und 
Universalismus überhaupt gegenstandslos machen. Glück 
oder Wohl, Vervollkommnung oder Fortschritt von Personen 
wären dann nur Nebenerfolge, die sich bei der Verwirklichung 
jener Ziele einstellten, oder menschliche Mittel, um sie er- 
reichbar zu machen. Somit strebt die Untersuchung auch 
hier einer Bestimmung letzter und höchster Zwecke des sitt- 
lichen Wollens zu. 
LITERATUR: 
Warner Fite: Individualism, 1911 (vertritt den Standpunkt, daß alle 
Werte letzten Endes aus dem bewußten Individuum entspringen, 
und daß die persönlichen Zwecke und Ideale den höchsten Maßstab 
der Verpflichtimg bilden). 
D. Gusti: Egoismus und Altruismus (mit besonderer Würdigung des 
Standpunktes von Comte und Spencer), Viertel jahrsschr. f. wissen- 
schaftl. Philos. u. Soziologie, 28. Bd., 1904. 
R. M. McConnell: The Duty of Altruism, 1910 (meint, daß es eine alt- 
ruistische Pflicht nicht geben könne, weil alle moralischen Unterschei- 
dungen absolut subjektiv seien. ) 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 26 
385 
III. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
§ 32. SUBJEKTIVISMUS UND OBJEKTIVISMUS. 
1. Innerhalb der Wertlehre wird zwischen Selbstwerten 
und abgeleiteten Werten unterschieden. Jene sind Werte, 
die um ihrer selbst willen begehrt und geschätzt werden, die 
keine bloßen Mittel zu einem außer ihnen liegenden Zweck, 
sondern Selbstzwecke sind. Abgeleitete Werte dagegen, die 
man auch konsekutive Werte genannt hat, empfangen 
ihren Wert nur durch die Beziehung zu einem Ziel, das sie 
erreichen helfen, zu Gütern, die sie vermitteln. Für den 
Geizhals ist das Geld, das er eifrig zusammenscharrt und 
gierig durch seine Finger laufen läßt, ein Selbstwert, für 
Käufer von Waren, für den normalen Menschen ein Wir- 
kungswert, dessen Grad nach den Gütern bemessen wird, 
die ihm verdankt werden. Gesundheit kann für den Hypo- 
chonder, der ängstlich darauf bedacht ist, sie zu erhalten, 
ein Selbstwert sein, für den Jüngling in der Blüte seiner 
Kraft aber ist sie ein konsekutiver Wert, ein bloßes Mittel 
zur Erreichung anderer Zwecke. Dem Kunstliebhaber ist 
das Gemälde, in das er sich genießend versenkt, ein Selbst- 
wert ; der Händler, der es zu hohem Preise loszuschlagen sucht, 
würdigt es als einen Wirkungswert. So kann dasselbe Objekt 
für das eine Individuum Mittel und für das andere Zweck und 
für die nämliche Person bald das eine bald das andere sein. 
In einem System von Werten und Zwecken muß, sofern 
es für ein bestimmtes Wertgebiet besteht, ein höchster 
Zweck, ein absoluter Wert existieren, um deswillen 
alle anderen, niederen und relativen Werte gesucht und be- 
gehrt, geschätzt und gewürdigt werden. Ein derartiger Wert 
kann dann, in ein anderes Gebiet und System eingeführt, 
abermals zu einem bloß relativen herabsinken. Sind Natur- 
und Kunstgenuß in dem ästhetischen Wertgebiete Selbst- 
wert, so werden sie, in den Dienst ethischer Aufgaben ge- 
stellt, alsbald zu konsekutiven Werten. So erhob sich die 
Frage nach einem schlechthin höchsten Wert, der überhaupt 
nicht als Wirkungswert denkbar ist, und Ethiker aller Zeiten 
sind darin einig gewesen, daß dieser absolute Wert in vollstem 
Sinne des Wortes nur auf dem ethischen Wertgebiet ange- 
386 
§ 32. Subjektivismus und Objektivismus. 
troffen werden kann. Die Einheit der ganzen Persönlichkeit 
eines Menschen, ja die Einheit der ganzen, in einem Gesamt- 
willen zusammengefaßten Menschheit, steht unter einem 
solchen höchsten Ziel, einem obersten Maßstab, einem ab- 
soluten Wert. In ihm geht alle Eelativität unter, in ihm hat 
sie ihre Stütze und von ihm empfängt sie ihre Ordnung. Er 
ist der Selbstwert, der niemals bloß abgeleiteter Wert sein 
kann, und mit Kücksicht auf den alle anderen nur als relativ 
zu gelten haben. Müssen wir uns nun mit der bloßen Idee 
eines solchen absoluten Wertes begnügen oder können wir 
sein Wesen genauer bestimmen? 
2. Man kann diesen höchsten Zweck alles sittlichen Ver- 
haltens immanent und transzendent zu bestimmen ver- 
suchen. Eine immanente Zwecksetzung liegt vor, wenn das 
höchste Gut im menschlichen Leben oder durch menschliche 
Voraussicht erreichbar, auf menschliches Dasein bezogen 
und an unsere Erfahrung gebunden erscheint. Es ist dabei 
nicht notwendig, daß Menschen oder menschliche Zustände 
selbst ein solches Gut bilden. Transzendent nennen wir die 
Bestimmung des letzten Zieles und dieses selbst, sofern es 
außerhalb der Grenzen unseres Wissens gesucht wird. Die 
christliche Idee eines Reiches Gottes ist ein transzendenter, 
Glück oder Nutzen der größten Zahl von Menschen, die 
Förderung von irdischen Kulturgütern ein immanenter 
Zweck. Eine wissenschaftlich begründete Angabe des abso- 
luten Zweckes im transzendenten Sinne ist, wie wir schon 
wiederholt hervorgehoben haben (vgl. § 18, 5; 23, 12; 24, 9), 
ausgeschlossen. Es bleibt somit für die Ethik nur eine im- 
manente Bestimmung des höchsten Gutes übrig. Dieses 
kann in einem subjektiven oder objektiven Zustand der 
Menschen oder auch in einem anderen objektiven Werte ge- 
funden werden. Da unter allen subjektiven Zuständen das 
Gefühl der Lust leicht als letztes und ursprünglichstes Ziel 
alles Verhaltens gefaßt wird, so erblickt der Subjektivis- 
mus das höchste Gut in der Lust^). Nun werden aber nicht 
1 ) Wir sehen von demS ubj ektivismus derWillkür undLaune, der kein anderea 
Kriterium der Berechtigung des Wollens kennt, als daß es eben geschieht 
oder einfällt, ganz ab, da er überhaupt kein Ziel als sittlich auszeichnet. 
25* 
387 
///. Kavitel. Die philosophischen Richtungen. 
alle Gefühle als gleichwertig angesehen. Man pflegt zum 
mindesten nach ihrer Stärke und Dauer eine Wertunterschei- 
dung an ihnen vorzunehmen; außerdem hat die Psychologie 
denGegensatz sinnlicher, niederer, und intellektueller, höherer, 
Gefühle eingeführt, indem sie die Abhängigkeit von sinn- 
lichen Keizen der Erzeugung durch Vorstellungs- und Ge- 
dankentätigkeit gegenüberstellte. In der Ethik haben sich 
mit Eücksicht darauf namentlich zwei verschiedene Eich- 
tungen des Subjektivismus ausgebildet, der Hedonismus 
und der Eudämonismus. Während jener die sinnliche 
Lust als die lebhafteste bevorzugt, wird von diesem auf die 
größere Nachhaltigkeit intellektueller Gefühlszustände hin- 
gewiesen und die dauernde Befriedigung, die Glückselig- 
keit, als Zweck des sittlichen Strebens betrachtet. Für beide 
Richtungen besteht eine einfache Beziehung zu dem prädika- 
tiven Gegensatz innerhalb der sittlichen Urteile, zum Guten 
und Bösen. Ein Handeln, das Lust zu erwecken geeignet ist, 
wird gut, ein Handeln, das dagegen auf Unlust gerichtet 
ist, schlecht genannt. 
3. Der Hedonismus ist in der Geschichte der Ethik nur 
ganz vereinzelt aufgetreten. Die Kyrenaische Schule hat 
diesen Standpunkt im Altertum eingenommen, und darnach 
haben einige Ethiker des Materialismus ähnliche Anschau- 
ungen entwickelt. Diese Einschränkung seiner geschicht- 
lichen Bedeutung ist begreiflich genug. Denn zu den Be'- 
dingungen, denen ein höchster sittlicher Wert genügen muß 
(vgl. § 29, 11), gehört, daß er alle anderen einschließt, und 
daß er nur von dem Willen des Menschen abhängig, also 
insofern jederzeit erreichbar gedacht werden kann. Diese 
Bedingungen werden offenbar von dem Prinzip des Hedonis- 
mus nicht erfüllt. Es gibt zahlreiche Betätigungen, die nicht 
mit sinnlicher Lust verbunden zu sein und nicht zu ihr zu 
führen brauchen, wie wissenschaftliche, ästhetische, tech- 
nische, soziale Leistungen, und die doch als wertvoll gelten. 
Und sinnliche Lust ist keineswegs durch bloßen Willen 
jederzeit erreichbar, sondern von Umständen abhängig, über 
die der Wollende nicht frei verfügen kann. Auch trägt sie 
bekanntlich den Keim des Todes in sich, d. h. ihre Folgen 
388 
§ 32. Subjektivismus und Objektivismus. 
verwandeln sie vielfach in ihr Gegenteil oder heben sie 
wenigstens auf. Daher erscheint sie als letzter und selbstän- 
diger Zweck unseres Wollens undenkbar, und eine Theorie, 
die darauf hinausläuft, ihr diese Bedeutung zuzusprechen, 
steht mit der Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens in 
offenkundigem Widerspruch. Weit mehr wird der Eudä- 
monismus, der noch heute als eine subjektivistische Auf- 
fassung ethischer Zwecke vertreten wird, den Tatsachen 
gerecht. Nach ihm ist die Freude, die durch eifrige Pflicht- 
erfüllung oder durch ein gutes Gewissen, durch erfolgreiche 
geistige Arbeit oder durch künstlerische Leistungen, durch 
anregende Geselligkeit oder durch Vertrauen und Freund- 
schaft erregt wird, ungleich wertvoller und daher ein wür- 
digeres Ziel, als der kurze und eingeschränkte sinnliche Ge- 
nuß. So wird dem System der Zwecke ein System der 
Lustgefühle gegenübergestellt. Dabei die innere, auf 
Harmonie des Menschen mit sich selbst gegründete Be- 
friedigung aller äußeren, von zufälligen Verhältnissen und 
Umständen mehr oder weniger abhängigen vorgezogen; 
ebenso die dauernde Lust der vorübergehenden, die see- 
lische der körperlichen, die den ganzen Menschen ergrei- 
fende Lust der nur auf eine seiner Seiten oder Eichtungen 
sich erstreckenden, die für eine größere Zahl von Menschen 
geltende Lust der für eine geringere Zahl allein bestehenden, 
die stärkere der schwächeren. Die Frage nach dem höchsten 
Gut fällt dann mit der Frage nach der höchsten Lust zu- 
sammen. 
4. In der antiken Ethik hat schon Demokrit sich auf den 
eudämonistischen Standpunkt gestellt. Die Seele als der 
edelste Teil des Menschen ist nach ihm der Sitz der Eudä- 
monie, der evO^vfila, einer durch keine Leidenschaft erschüt- 
terten zufriedenen Stimmung. Danach wird dieser Stand- 
punkt von Sokrates eingenommen. In dem wahren Vor- 
teil und Nutzen der Menschen, über den nur vernünftige Ein- 
sicht entscheiden kann, besteht die Eudämonie bei diesem 
Begründer einer wissenschaftlichen Ethik. Aristoteles ist 
sogar der Meinung gewesen, daß überhaupt kein Streit 
darüber herrschen könne, ob die Glückseligkeit letztes Ziel 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
unseres Handelns sei. Sie ist nach ihm an eine, die richtige 
Mitte haltende Eichtung der Seele auf vollkommene Tüchtig- 
keit gebunden. Eine transzendente Glückseligkeit, der schon 
Piaton das Wort geredet, verheißt die Sittenlehre des 
Christentums, indem sie zugleich den Verzicht auf 
irdische Genüsse mit großer Bestimmtheit fordert. Es bleibt 
jedoch fraglich, ob hier ein reiner Eudämonismus vorliegt, 
da man den Hinweis auf die Herrlichkeit des jenseitigen 
Lebens auch als die Angabe eines durch sittlich-religiöses 
Verhalten auf Erden bedingten Folgezustandes auffassen 
kann, ohne darin einen die Handlung determinierenden 
Zweck erblicken zu müssen. In der Ethik der neueren Philo- 
sophie hat Shaftesbury einen Eudämonismus vertreten, 
indem er als den Zweck des sittlichen Strebens die innere 
Befriedigung bestimmt. Ferner ist der TJtilitarismus, über 
den wir weiter unten zu handeln haben, vielfach in eudä- 
monistischem Gewände erschienen, insofern er das größt- 
mögliche Glück Aller oder der größten Zahl von Individuen 
zum Ziel des moralischen Willens erhob. Auch Lotze darf 
man als einen Eudämonisten bezeichnen, weil er den letzten 
und eigentlichen Wert überhaupt nur im Gefühl verwirklicht 
findet. Ein Handeln, das gar keine Beziehung zur Lust oder 
Unlust hätte, würde deshalb nach seiner Meinung auch nicht 
gebilligt oder verworfen werden können, ja überhaupt kein 
Handeln sein. Endlich begegnet der Eudämonismus uns 
noch in Verbindung mit anderen ethischen Anschauungen, 
wie z.B. mit dem Perfektionismus (s.u.), und so durchzieht 
er die ganze ethische Literatur bis auf die Gegenwart. 
5. Sofern der Eudämonismus behauptet, den absoluten 
Zweck angegeben zu haben, um deswillen sich ein sittliches 
Streben und Handeln verlohnte, muß auch ihm die Berech- 
tigung bestritten werden. Denn in der Tat kennen wir auch 
Zwecke, welche ganz unabhängig von den sie begleitenden 
Gefühlen als selbständige Werte gelten. Dazu gehören zu- 
nächst alle objektiven Kulturgüter. Wer sein Leben der 
wissenschaftlichen Forschung oder der Erhaltung eines 
Rechtszustandes oder der Verbesserung wirtschaftlicher Ver- 
hältnisse weiht, tut dies sicherlich nicht zu dem alleinigen 
390 
§ 32. Subjektivismus und Objektivismus. 
Zwecke, sich oder Andere glücklich zu machen. Aber auch 
in der unmittelbaren Beziehung auf menschliche Zustände 
braucht sich das sittliche Verhalten nicht die Herstellung 
von Lustgefühlen in letzter Absicht angelegen sein zu lassen. 
Wer eine Gemeinschaft, den Staat oder gar die Menschheit 
zum idealen Gegenstande seines Wollens macht, ist meist 
nicht in der Lage, die Gefühle ihrer Glieder besonders zu 
berücksichtigen. Man kann wohl Menschen beglücken, aber 
nicht die Menschheit oder den Staat unter diesem Gesichts- 
punkt fördern wollen, sofern er nicht objektivistisch umge- 
deutet wird. Darum läßt sich der Eudämonismus unmittel- 
bar nur mit dem Individualismus, nicht aber mit 
universalistischen Ideen verbinden. Da nun der ethische 
Wert der letzteren außer Frage steht (vgl. § 31, 4 — 6), so 
muß der Eudämonismus als eine nur für gewisse Fälle gel- 
tende und darum unvollständige Theorie beurteilt werden. 
Aber selbst einzelnen Individuen gegenüber ist die Herstel- 
lung eines Glücksgefühls keineswegs das einzige oder auch 
nur regelmäßige Ziel unserer sittlichen Absicht. Wer bei 
der Erziehung die Tüchtigkeit seines Zöglings ins Auge faß.t, 
wer ferner verkommene, arbeitsscheue Individuen sittlich 
zu heben sucht, oder wer einen Verbrecher durch Veran- 
lassung zu einem offenen Geständnis innerlich läutern möchte, 
handelt gewiß nicht zu dem Zweck, angenehme Gefühle in 
den bezeichneten Personen oder in sich selbst hervorzurufen. 
Man mag es daher für wünschenswert erachten, daß die Er- 
reichung sittlicher Zwecke immer zugleich eine dauernde 
Befriedigung nach sich ziehe. Aber diese würde sich nur 
dann als höchstes Gut erstreben lassen, wenn sie die not- 
wendige Folge sittlicher Bemühungen bildete, wenn also 
eine selbstverständliche Abhängigkeitsbeziehung zwischen 
allen ethischen Tendenzen und der Glückseligkeit bestände. 
Sie ist jedoch erfahrungsgemäß nur zu oft mit der Erfüllung 
sittlicher Aufgaben nicht verbunden und findet sich im 
stillen Kreis selbstgenügsamer oder auf Selbstgenuß gerich- 
teter Naturen leichter und häufiger verAvirklicht, als in der 
auf große Ziele eingestellten, Opfer und Kämpfe einschließen- 
den Tätigkeit bedeutender Menschen. Diese Ausführungen 
391 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
gelten nicht nur gegen einen altruistischen, sondern auch 
gegen einen egoistischen Eudämonismus. 
6. Die Bedenken, die bisher zur Sprache gekommen sind, 
werden noch verstärkt, wenn man sich vergegenwärtigt, 
daß die Gefühle nur vorübergehende Bewußtseinszeugnisse 
für ein angemessenes Verhalten sind. Sie unterliegen Ein- 
flüssen, die den sittlichen Wert eines Zweckes nicht bestim- 
men können. Gewohnheit stumpft sie ab, der Keiz der Neu- 
heit und Eigenart verstärkt sie. Auch ist ihre Entstehung 
an individuell variierende Bedingungen gebunden und darum 
nicht allgemeingültig anzugeben. So können sie nur die Be- 
deutung von unzuverlässigen Anzeichen für das Vorhanden- 
sein eines sittlichen Gutes haben, das schlechthin als ein 
letzter Zweck soll gelten dürfen. So wenig man die Wahrheit 
und Eichtigkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis aus- 
schließlich nach einem Gefühl beurteilen wird, das sich bei 
ihrer Vergegenwärtigung einstellt, so wenig der Wert eines 
Kunstwerks an das beliebige Gefallen oder Mißfallen belie- 
biger Personen geknüpft sein kann, so wenig läßt sich der 
ethische Wert einer Handlung nach den Lust- oder Leid- 
gefühlen bemessen, die sie auslöst. 
Endlich hat sich der Eudämonismus, wie der Subjektivis- 
mus überhaupt, mit der Schwierigkeit abzufinden, welche 
darin liegt, daß eine Lust vor anderen als die höchste, als 
der sittliche Zweck gelten soll. In einer Beziehung zu Ge- 
fühlen stehen ja auch die ästhetischen Werte, und so wird 
man nicht jede »dauernde Befriedigung« als das Ziel einer 
sittlichen Absicht betrachten dürfen. Die Psychologie hat 
bisher noch keine endgültige Entscheidung in der Streit- 
frage getroffen, ob es verschiedene Arten, also nicht bloß 
Grade, der Lust und Unlust gibt. Nehmen wir an, daß 
qualitative Unterschiede unter den Gefühlen, abgesehen von 
dem Gegensatz der Lust und Unlust, nicht vorkommen — 
eine Ansicht, die sich zum mindesten vertreten läßt — , so 
würde nicht in ihnen, sondern in den sie erregenden Vor- 
gängen das spezifische Merkmal des Sittlichen gesucht 
werden müssen. Daraus ginge hervor, daß man niemals 
Lust schlechthin, also auch nicht eine gewisse Dauer oder 
§ 32. Subjektivismus und Objektivismus. 
Stärke derselben als sittlichen Zweck exakterweise bezeich- 
nen dürfte, sondern sie stets durch die besondere Beschaffen- 
heit ihrer Ursachen näher bestimmen müßte. Merkwürdiger- 
weise hat man spezifisch sittliche Gefühle bisher, soviel wir 
wissen, nicht für die Zwecke in Anspruch genommen, sondern 
nur für die Tatsachen der sittlichen Beurteilung und Moti- 
vierung (Gefühl der Billigung oder Mißbilligung, der Achtung 
vor dem Sittengesetz) vorausgesetzt. Und doch hängt die 
Möglichkeit eines reinen ethischen Subjektivismus geradezu 
an dieser Annahme. 
7. Unter allen Formen des Eudämonismus verdient die- 
jenige, welche unter der Glückseligkeit eine innere Befrie- 
digung des Wollenden und Handelnden versteht, die meiste 
Beachtung. Diese Lust trägt die Bürgschaft eines dauern-' 
den Besitzes in sich. Sie kann jederzeit erreichbar, nur von 
dem Willen abhängig gedacht werden. Auch den Leidenden, 
Kämpfenden, Verfolgten, Geächteten, Ausgestoßenen ist sie 
nicht versagt, weil sie überhaupt nicht an äußere Bedingungen 
und Lebensumstände geknüpft ist, sondern nur aus der Ein- 
heit und Übereinstimmung des Wollenden mit sich selbst 
entspringt. Sie tritt als die natürliche Begleiterscheinung 
eines folgerichtigen und wertgemäßen Wollens, in dem wir 
das Wesen des Sittlichen erkannt haben (vgl. § 29, 10 f.), auf. 
Eine harmonische Persönlichkeit ist Trägerin dieser Lust. 
Aber sie ist auch ein wirklich umfassendes Gut. Denn jede 
Art von Betätigung kann sich mit ihr verbinden und zu ihr 
führen. Mit den sog. Glücksgütern, mit Eeichtum, Gesund- 
heit, angenehmen Lebensumständen hat sie ebensowenig 
zu tun, wie mit den egoistischen Zuständen der Selbstliebe 
und Eitelkeit. Sie begleitet das gute Gewissen und beruht 
auf der wahren sittlichen Freiheit, auf der Unabhängigkeit 
von der Welt, von Zufall und Geschick. So scheint sie durch 
alle Merkmale eines höchsten Wertes ausgezeichnet zu sein, 
und man könnte auf sie die allgemeingültige Norm gründen : 
Handle so, daß du in allen Lebenslagen innerlich befriedigt 
sein kannst! 
Aber auch diese annehmbarste Form des Eudämonismus 
ist wegen der dem bloßen Gefühl anhaftenden Unbestimmt- 
393 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
lieit nicht geeignet, den letzten Zweck des sittlichen Wollens 
- anzugeben. Innere Befriedigung ist erfahrungsgemäß ein 
unzuverlässiges Kennzeichen sittlichen Wertes. Auch 
derjenige, den wir für unsittlich halten, ist eines solchen Ge- 
fühls fähig, weil es nur von der Erfüllung der gestellten 
Aufgaben, nicht aber von der Beschaffenheit der letzteren 
abhängt. Sodann läßt sie sich als Zweck des Wollens nur in 
egoistischer, nicht in altruistischer oder universalistischer 
Form gesetzt denken. Denn da sie an ein Verhalten des 
Wollenden selbst gebunden ist, kann sie niemals als ein Zu- 
stand bei anderen ernstlich gewollt werden. Ich kann zwar 
das Glück Anderer, das durch eine Wohltat, durch freund- 
schaftlichen Trost und Eat u. dgl. erreichbar ist, bezwecken, 
nicht aber deren innere Befriedigung, die niemals von mir, 
sondern nur von dem Anderen, dem ich sie wünsche, 
herstellbar ist. So treibt der Subjektivismus über sich 
selbst hinaus zu einer objektiven Bestimmung des höchsten 
Gutes. 
8. Der Objektivismus hält die Gefühlszustände für 
etwas zu Unbestimmtes und Unzuverlässiges, als daß sich 
darauf das sittliche Handeln einrichten könnte, und stellt 
daher gewisse objektive Maßstäbe und Zwecke auf, die zum 
mindesten die subjektiven ergänzen sollen. Je nach der 
Art dieser objektiven Werte erhalten wir verschiedene For- 
men des Objektivismus. Der Perfektionismus behauptet 
die Vollkommenheit oder die Vervollkommnung als den 
Zweck des sittlichen Wollens. Durch Leibniz ist diese Ziel- 
bestimmung in der philosophischen Ethik mit einer Welt- 
anschauung verbunden worden. Nach seiner Metaphysik 
ist die Welt ein Stufenreich von Monaden. Die höchste, voll- 
kommenste unter ihnen ist die göttliche, und sie ist es des- 
halb, weil sie allein in voller Klarheit und Deutlichkeit das 
Universum vorstellt. Je mehr verworrene Vorstellungen in 
einer Monade sich antreffen lassen, um so unvollkommener 
ist sie. Die Vervollkommnung bedeutet daher ein Wachstum 
an klaren und deutlichen Vorstellungen. Nach Chr. Wolff 
macht »die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen« die 
Vollkommenheit aus und ist das, was sie bewirkt, gut. Selbst 
394 
§ 32. Subjektivismus und OhjeMivismus. 
noch bei Kant wirkt diese Lehre nach, wenn er eine Pflicht 
des Handelnden gegen sich selbst in der Vervollkommnung 
findet. Auch später ist dieser Standpunkt wenigstens als 
relativ berechtiges Glied eines ethischen Systems anerkannt 
worden, und in der Gegenwart hat Th. Lipps sich wieder zu 
einer der Kantischen ähnlichen Auffassung bekannt. Voll- 
kommenheit bedeutet bei ihm die ungehemmte Entfaltung 
und Ausbildung aller Kräfte (vgl. § 29, 3). »Das Gute ist das 
menschlich oder persönlich Wertvolle; was irgendwie zur 
Vollkommenheit der Persönlichkeit hinzugehört oder dazu 
einen positiven Beitrag liefert «i). 
Wie die verschiedenen Ansichten über die Vollkommenheit 
zeigen, ist der Perfektionismus eine gar zu unbestimmte 
Lehre, die über das Formalprinzip nur dann hinausführt, 
wenn man wie Kant und Lipps eine ungehemmte Ent- 
wicklung der Persönlichkeit damit meint. Aber in diesem 
Falle ist zu zweifeln, ob darin wirklich das höchste Gut liegt. 
Kant sah in solcher Selbstvervollkommnung eine verdienst- 
liche Pflicht gegen sich selbst, neben der noch andere Pflich- 
ten, auf sie nicht zurückführbar, beständen. Was sich sonst 
alles unter dem Schlagwort »Persönlichkeitskultur« oder 
»Pflege des persönlichen Lebens« empfiehlt und gestaltet, 
ist so verschieden und von ethischen Gesichtspunkten selbst 
bei weitherziger Auffassung derselben z. T. so wenig beein- 
flußt, daß man schon eine genauere Bestimmung verlangen 
muß, um die »Personwertmoral« als eine objektivistische 
Bichtung beurteilen zu können. Dabei zeigt sich alsbald, 
daß die Ausbildung der sittlichen Persönlichkeit allein in 
Betracht kommen kann. Vervollkommnung schlechthin mag 
ein ästhetischer oder Kulturwert sein, eine sittliche Be- 
deutung erlangt sie nur durch die besondere Beziehung auf 
die sittlichen Qualitäten. Sodann ist Vervollkommnung ein 
Prozeß ohne absehbares Ende, ohne angebbares Ziel. Die 
menschliche Vollkommenheit wollen heißt das Unerreichbare 
wollen. Im Grunde also verzichtet der Perfektionismus auf 
*) Einer Verbindung von Eudäraonismus und Perfektionismus, wie sie 
bei Lipps vorliegt, redet auch das Wort die umfassende »Psychologie des 
emotionalen Denkens« von H. Maier, 1908. 
395 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen 
die Festsetzung eines letzten, absoluten Zweckes und Wertes 
ethischer Art. 
9. Nahe verwandt mit dieser Form des Objektivismus ist 
eine andere, der Evolutionismus, unter dem wir hier die 
Bestimmung verstehen, daß als Zweck des sittlichen Strebens 
die Entwicklung oder der Fortschritt zu gelten habe. Wäh- 
rend Hegel diesen Gesichtspunkt durch die logische Form, 
in die er alle Entwicklung kleidete (vgl. § 3, 6), einigermaßen 
verdunkelte und den selbständigen, in seiner Weise abschlie- 
ßenden Wert des Sittlichen dadurch beeinträchtigte, daß 
er in ihm nur eine und zwar nicht die höchste Stufe des dia- 
lektischen Prozesses erblickte, hat Wundt ein Stufenreich 
der Zwecke aufgebaut, das in einem idealen, in der Wirklich- 
keit nie erreichbaren Ziele seine Spitze findet. Als indivi- 
duelle Zwecke erscheinen ihm die Selbstbeglückung und die 
Selbstvervollkommnung, die jedoch nur als nächste Ziele, 
als Durchgangsstufen der sittlichen Betätigung zu gelten 
haben. Von größerer Bedeutung sind die sozialen Zwecke, 
die öffentliche Wohlfahrt und der allgemeine Fortschritt. 
Am höchsten stehen die humanen Zwecke, die sich vornehm- 
lich auf die Hervorbringung geistiger Güter richten und 
eine rastlos fortschreitende Vervollkommnung der Mensch- 
heit als nächste Aufgabe enthalten. Nur die Eeligion ist nach 
Wundt imstande, ein konkretes Ziel der sittlichen Arbeit 
für größere Perioden der Menschheit auszugestalten. In der 
Ethik kann nur die Tendenz, die Eichtung auf ein in der 
Unendlichkeit liegendes Ideal bestimmt und somit nur die 
Entwicklung oder der Fortschritt selbst als letzte Aufgabe 
hingestellt werden. 
Auch diese Form des Objektivismus verzichtet trotz uni- 
versalistischer Fassung auf die Bestimmung eines ab- 
soluten Wertes, der durch das sittliche Wollen und Han- 
deln zu verwirklichen wäre. Denn Fortschritt und Entwick- 
lung (ebenso wie die Vervollkommnung) können nur eine 
relative und provisorische Bedeutung haben, wenn sie nicht 
auf unbedingte Maßstäbe der Beurteilung von allgemein- 
gültiger Beschaffenheit bezogen werden. Sie hängen also 
von primären Wertbestimmimgen ab und enthalten an sich 
32. Subjektivismus und Objektivismus. 
selbst keine eindeutigen Hinweise auf diese. Aber auch aus 
einem anderen Grunde ist in der Entwicklung als solcher ein 
höchstes Gut zweifellos nicht zu erblicken. Sie kann immer 
nur im Hinblick auf Vollkommeneres gefordert werden, das 
durch sie erreichbar gedacht wird, und ist danim nur als ein 
Wirkungswert, nicht als Selbstwert, zu betrachten. In dem 
Moment, wo das Ideal erreicht wäre, würde die Forderung 
eines Fortschritts ihren Sinn ganz verlieren. So kann der 
Bvolutionismus niemals eine abschließende Bestimmung des 
höchsten Gutes gewähren, sondern muß stets mit gewissen 
Selbstwerten in Verbindung gebracht werden, die angeben, 
wohin Fortschritt und Entwicklung führen und worauf sie 
sich letzten Endes richten. 
Erklärt man nun etwa, daß man den sittlichen Fortschritt 
meine, so dreht man sich offenbar im Kreise, indem man 
das zu Definierende in die Definition wieder aufnimmt. 
Sagt man dagegen, »daß die Entwicklung aller menschlichen 
Geisteskräfte, ihrer individuellen, sozialen und humanen 
Betätigungen über jedes erreichte Ziel hinaus ins Unbe- 
grenzte fortgesetzt werden soll«, so erhebt sich die Frage: 
cui bono'^. (Wem zum Nutzen?) Glaubt man endlich durch 
die Bestimmung individueller, sozialer und humaner Zwecke 
im einzelnen die Tendenz des Fortschritts bezeichnet zu 
haben, so bleibt man bei relativen, provisorischen Zwecken 
und Werten stehen und gibt zu, daß sieb ein absoluter Wert 
überhaupt nicht in immanenter und wissenschaftlicher Form 
ausdrücken läßt. Perfektionismus und Evolutionismus 
kommen darum beide, der eine in individualistischer, der 
andere in universalistischer Form, darauf hinaus, daß sich ein 
schlechthin höchstes Gut material nicht bestimmen lasse. 
Sie stehen damit nicht allein unter den möglichen Gestalten 
eines Objektivismus da. Denn auch wer die Tüchtigkeit 
oder die Veredlung oder rastlose Tätigkeit als letzte Auf- 
gabe bezeichnet, verzichtet im Grunde auf eine kon- 
krete Schilderung des Wertes, den er empfiehlt. Paulsen 
hat dafür den Namen des Energismus eingeführt, der 
bei ihm jedoch eine Unterordnung unter den Eudämo- 
nismus einschließt. 
397 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
10. Eine dritte Form des Objektivismus ist der Natura- 
lismus. Zweck alles sittlichen Handelns ist nach ihm ein 
naturgemäßes Leben. Im Gegensatz also zu der Meinung, 
daß es sich beim Sittlichen um Gebote, um Pflichten, ja um 
einen Kampf mit dem natürlichen Menschen handle, wird 
hier behauptet, daß eine einfache Befolgung der natürlichen 
Neigungen, Gewohnheiten und Triebe erstrebt werden solle. 
Die Zwecke der Einzelnen können daher sehr verschieden 
sein, und es gibt für den Naturalismus keine eigentliche Be- 
schränkung nach dieser Eichtung. Bedarf man der sinn- 
lichen Genüsse, so soll man sie sich verschaffen, und verlangt 
man nach Arbeit oder einer höheren Befriedigung, so soll auch 
dieser Wunsch erfüllt werden. Es ist hiernach verständlich, 
daß die Forderungen einer naturgemäßen Lebensführung zu 
verschiedenen Zeiten tatsächlich einen verschiedenen Sinn 
gehabt haben. Die Stoiker haben im Anschluß an die 
Kyniker und deren Ideal der Bedürfnislosigkeit das Natur- 
gemäße mit dem Vernunft- und Pflichtgemäßen identifiziert 
(vgl. § 9, 4). Eousseau dagegen sah in dem natürlichen 
Dasein ein Ideal im Gegensatz zu der Ziererei und Künstlich- 
keit der zu seiner Zeit herrschenden Kultur. Und in der 
Gegenwart hat Nietzsche (»Zur Genealogie der Moral«, 
1887) das Bild eines Übermenschen konstruiert, der in 
strotzender Kraftfülle, frei von schwächlicher Eücksicht- 
nahme auf die »Herde« der Durchschnittsmenschen seinen 
natürlichen, als allgemeines Lebensgesetz geltenden »Willen 
zur Macht« entfalten dürfe. 
Der Naturalismus begibt sich nur scheinbar einer Forde- 
rung, einer Norm, eines Sollens. Denn das naturgemäße 
Verhalten als höchstes Gut einschätzen und empfehlen heißt 
nicht: es als vorhanden konstatieren, sondern als ein in der 
Wirklichkeit unerfülltes Ideal verkünden und dem Wollen- 
den als zu erstrebendes Ziel aufrichten. Tatsächlich ver- 
langen nun die Kyniker eine sittliche Freiheit im Sinne der 
Unabhängigkeit von äußeren Gütern, die Stoiker mit 
ihrer Forderung naturgemäß zu leben {ofioXoyoviikvooq rfj 
g)voei ^ijv), wie die näheren Erläuterungen zeigen, die allge- 
meine Übereinstimmung der Wollenden mit sich selbst und 
§ 32. Subjektivismus und Objektivismus. 
untereinander: Eousseau ein ungetrübtes, das naive Gemüt 
auszeichnendes Glück und Nietzsche die selbstherrliche 
Autonomie der Werte schaffenden, vornehmen Naturen. So 
führt die Analyse des Naturalismus zu bekannten Werten, 
teils rein formaler, teils eudämonistischer Art, und er hört 
damit auf, uns als eine besondere objektivistische Richtung 
mit eigentümlicher Zweckbestimmung zu gelten. Die Sehn- 
sucht nach Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit, schlichter 
Kraft und Unabhängigkeit des Verhaltens ist die verständ- 
liche Quelle dieser ethischen Eichtung, und als eine Kritik 
entgegengesetzter Lebensformen beansprucht sie daher nicht 
mit Unrecht eine gewisse Bedeutung. 
11. In der englischen Ethik ist eine vierte Form des Ob- 
jektivismus zur Herrschaft gelangt, der Utilitarismus. 
Schon F. Bacon bezeichnete das Gemeinwohl als das Ziel 
des sittlichen Strebens und hat damit die Tonart dieser 
Richtung angegeben, die seitdem bald mehr individualistisch, 
bald mehr universalistisch variiert worden ist. So haben 
Hobbes, Cumberland, Locke diesen Standpunkt ver- 
treten, dann ist er durch Bentham^) erneuert und durch 
John Stuart Mill {Utilitarianism, 1863) lebhaft und ein- 
gehend verteidigt worden. In Frankreich hat er in Comte 
einen Anhänger gefunden, und in der neuesten Zeit haben 
auch deutsche Ethiker, namentlich von Gizycki, sich zu 
ihm bekannt. Daneben hat es nicht an ernergischem Wider- 
stand gegen diese Richtung gefehlt; besonders in der deut- 
schen ethischen Literatur besteht noch immer zumeist eine 
ablehnende Haltung ihr gegenüber, die namentlich v, Hart- 
mann, Wundt, Paulsen näher begründet haben. Ihr 
eigentümlicher Grundgedanke ist in der Bestimmung zu 
suchen, daß Nutzen oder Wohlfahrt Einzelner oder Aller 
der Zweck des sittlichen Handelns sei. Da nun aber der Be- 
griff des Nützlichen ein Relationsbegriff ist und daher stets 
die Frage offen läßt, wozu es diene, so ist der Utilitarismus 
in der Regel in den Eudämonismus umgeschlagen, indem er 
dasjeniffe, was eine Wohlfahrt sei, durch eine ursächliche 
*) Deontologxj or the Science of Morality, ed. by Bowring, 2 vol. 1834. 
Schon 1781 gebraucht Bentham das Wort »Utilitarier«. 
399 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
Beziehung zur Lust näher zu bestimmen versucht hat. 
Danach wird das Nützliche entweder als das Lust Gewährende 
bzw. Unlust Vermeidende aufgefaßt oder mit dem Glück 
geradezu gleich gesetzt. So geht die Formel : Strebe nach dem 
größtmöglichen Wohl der größten Zahl! über in die eudä- 
monistische Forderung: Strebe nach dem größtmöglichen 
Glück der größten Zahl!^), oder, wie es Sidgwick besser 
ausdrückte, nach dem größten Glück aller (empfindenden 
Wesen), deren Glückseligkeit von dem Handeln berührt 
wird! Dadurch allein wird auch einer übermäßigen Aus- 
dehnung ethischer Begriffe gesteuert, die bei der bloßen Auf- 
stellung des Nützlichkeitsprinzips unvermeidlich erscheint. 
Denn sicherlich gibt es sehr nützliche Dinge, die an sich selbst 
glücklich machen, wie z. B. eine Anzahl technischer Erfin- 
dungen, Erleichterungen des Verkehrs, gewisse Formen der 
Arbeitsteilung u. dgl. m.^). 
12. Soweit sich der Utilitarismus mit dem Eudämonismus 
identifiziert, können wir auf die Bemerkungen verweisen, 
die wir oben gegen eine einseitige Theorie dieses Namens ge- 
richtet haben. Insbesondere sei hier noch betont, daß eine 
sittliche Verpflichtung, Glück um jeden Preis zu 
schaffen, nach dem unmittelbaren Zeugnis unseres Ge- 
wissens nicht besteht. Zwar mit dem unverschuldeten Leide 
empfinden wir normalerweise werktätiges Mitleid, aber dem, 
der die Schmerzen, die ihn treffen, durch eigene Schwäche 
und Lasterhaftigkeit hat über sich hereinbrechen lassen, 
würden wir einen schlechten Dienst erweisen, wenn wir seine 
Eeue zum Schweigen brächten, nur um ihn glücklich zu 
wissen. Es kann also nicht Lust schlechthin, sondern nur eine 
unter bestimmten Bedingungen mögliche Lust Ziel eines 
ethischen Handelns sein. Nicht anders verhält es sich mit 
dem Nutzen oder der Wohlfahrt. Auch ihnen müssen unent- 
^)DieseFormel scheint Hu tcheson(1725)zuerst ausgesprochen zu haben. 
*) E. Dürr stellt in seinen der hier vertretenen Auffassung über die 
ethisclien Richtungen nahestehenden »Grundzügen der Ethik« ( 1909) den 
Eudämonismus und Utilitarismus als Idealismus und Realismus einander 
gegenüber, wobei jener die Gesamtheit der Selbstwerte, des Glücks, 
dieser die Gesamtheit der Wirkungswerte oder der Glücksbedingungen 
als das höchste Gut betrachtet. 
400 
§ 32. Subjektivismus und Objektivismus. 
behrliche Beschränkungen hinzugefügt weiden, wenn sie al» 
moralische Zwecke sollen gelten dürfen. Außerdem erscheint 
der Utilitarismus nicht weit genug, um alle Fälle sitt- 
lichen Handelns unter sich befassen zu können. Man hat 
darauf hingewiesen, daß ein Soldat, der auf verlorenem Posten 
ausharre, weder Anderen noch der Sache, der er diene, nütze, 
und daß der eine öffentliche Stelle bekleidende Familien- 
vater, der ein ertrinkendes Kind mit eigener Lebensgefahr 
rette, höchstwahrscheinlich die allgemeine Wohlfahrt 
mehr gefährde als fördere. Schließt man auch solche Fälle 
in den Begriff des Allgemeinwohls mit ein, so wird dieser 
aller Bestimmtheit bar und bedarf er einer Analyse, wie 
wir sie bei dem Naturalismus angestellt haben. Dann zeigt 
sich, daß er, als Nutzen verstanden, bei einem relativen Wert 
stellen bleibt, als Glück oder umfassende, möglichst dauer- 
hafte und intensive Lust definiert, in den Subjektivismus 
übergeht, und in weitestem Umfang genommen, mit dem 
Allgemeinbegriff des Sittlichen selbst zusammenfällt, ohne 
ihm einen konkreteren Inhalt zu verleihen i). 
13. Nun kann von Menschen und menschlichen Zuständen 
auch ganz abgesehen werden. Dann erhalten wir einen Ob- 
jektivismus, der an objektive Werte .oder Güter als 
letzte Zwecke sittlichen Wollens denkt und deren 
Herstellung oder Förderung, die Arbeit für sie und an ihnen 
als die sittliche Aufgabe kennzeichnet. Zu diesen objektiven 
Werten würde zu rechnen sein, was unter den Begriff der 
Kultur fällt, sofern diese als ein Inbegriff von Gütern 
charakterisiert wird, die sich in relativ selbständiger Ent- 
wicklung innerhalb des geschichtlichen Lebens ausdehnen 
und vertiefen. Wir reden in diesem Sinne z. B. von einer 
wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, ästhetischen Kultur. 
Zweifellos liegt in dieser Form des Objektivismus eine sehr 
^) Übrigens kann auch gegen den Utilitarismvis der Einwand geltend 
gemacht werden, den wir oben (§ 29, 6a) gegen den Formalismus vor- 
gebracht haben. Ob eine Handlung geeignet ist oder nicht das größt- 
mögliche Wohl oder Glück der größtmöglichen Zahl zu fördern, erfordert 
mindestens ebenso schwierige Überlegungen, wie die Frage nach der 
möglichen Allgemeinheit der Maxime. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 26 
401 
///. Kapitel. Die philo,sophischen Richtungen. 
beachtenswerte Ausprägung ethischer Eichtungen vor, wie 
sie in der Gegenwart vielleicht am bestimmtesten von Wundt 
vertreten wird und z. T. auch in die pädagogische Ziel- 
bestimmung mit ihrer Forderung größtmöglicher Leistungs- 
fähigkeit und Tüchtigkeit der Zöglinge Eingang gefunden 
hat. Sie verlangt Aktivität, Arbeit und Fleiß; sie verlangt 
Selbstlosigkeit und Hingabe an große, menschliches Dasein 
überdauernde, menschliches Wohl und Wehe überragende 
Zwecke; sie erlaubt keine ethische Eangordnung, die sich 
auf Neigung, Interesse und Begabungsrichtung der Einzelnen 
stützen wüi"de; sie stellt uns in ein System geschichtlichen 
Fortschritts als dienende Glieder ein. Aber auch sie enthält 
Schwierigkeiten, die sie als allgemeingültige ethische Theorie 
unmöglich machen. Erstlich läßt sie nur kulturfördernde 
Individuen gelten: alte, kranke, für Kulturarbeit unbegabte 
Personen müssen hiernach als unsittlich beurteilt werden. 
Sollte dieser Folgerung dadurch ausgewichen werden, daß 
die bloße Eichtung des Willens auf dies Ziel als ausreichend 
betrachtet wird, um die gleiche sittliche Bewertung zu ver- 
dienen, wie eine diesem Wollen entsprechende Leistung, so 
wüi^de der Gewinn dieser ethischen Eichtung illusorisch 
werden. Zweitens .kann es fraglich genannt werden, ob solche 
Kulturgüter den Charakter von letzten Werten beanspruchen 
können, auch wenn von Wesen gänzlich abgesehen wird, 
für die sie Werte wären. Hält man aber die Wertnatur eines 
Gegenstandes an wertende Subjekte gebunden, so wird ver- 
mutlich stets nur eine Minderheit von Menschen einzelne 
Kulturgüter als Träger höchsten Wertes anerkennen. Von 
einer allgemeinen Verbindlichkeit sittlicher Aufgaben könnte 
dann gar nicht mehr geredet werden. Drittens kann inner- 
halb der Kulturarbeit wertvolle und wertlose, bleibende und 
vergängliche, fördernde und hemmende Leistung vollbracht 
werden. Erst die Zukunft pflegt darüber aufzuklären, ob 
das Eine oder das Andere geschehen ist. Die genialen Na- 
turen, die instinktiv das Eichtige und positiv Wirksame er- 
greifen und schaffen, müßten dann zugleich die ethisch 
höchststehenden sein. Endlich sind es zum größten Teil ganz 
andere menschliche Kräfte und Begabungen, die der Förde- 
402 
§ 32. Subjektivismus und OhjektiviswMs. 
rung der Kultur dienen, als sittlich wertvolle Eigenschaften, 
und sind die Leistungen für die Kultur an glückliche Zufälle 
gebunden, die mit der Gesinnung des Subjekts nichts zu 
tun haben. Auch hier wird über den bloßen Willen und 
damit über eine der Bedingungen hinausgegangen, die wir 
oben (§ 29, 11) für die ethische Beurteilung angeführt haben. 
14. Zu einer dem Formalismus nahestehenden objekti- 
vistischen Auffassung gelangt man, wenn man nur überhaupt 
ein objektives Verhalten und Gerichtetsein, Sachlichkeit, 
Selbstlosigkeit, Selbstentäußerung, Impersonalismus als 
das Wesen der Sittlichkeit hinstellt. Die Ausführung dieses 
Gedankens hat freilich stets zu näheren Bestimmungen der 
Werte geführt, auf die das objektive Verhalten oder die 
sachliche Einstellung abzielen soll ; indem etwa der Subjekt- 
wert der Persönlichkeit, eine perfektionistische Spielart, oder 
die Kulturgüter oder das Gemeinwohl allein als ethisch be- 
rechtigte Zwecke zugelassen werden oder wenigstens eine 
Richtung, der Egoismus, als unsittlich abgelehnt wird (vgl. 
S. 368 Anm.). Damit ist aber bereits das Unzureichende 
jenes allgemeinen Objektivismus, wie wir diese Richtung 
kurz nennen können, gekennzeichnet. Denn wenn die Zwecke 
unbestimmt bleiben, denen die selbstlose Hingabe gelten 
soll und darf, so kann der ethischen Bedeutung dieses Ver- 
haltens kaum eine Grenze gezogen werden. Es kann nun aber 
auch in den Dienst wertloser und unsittlicher Ziele treten. 
Man denke an den Sammeleifer, der auch vor nichtigen 
Dingen nicht Halt macht, oder an Diebstahl und Mord, die 
ja von impersonalistischen Voraussetzungen aus begangen 
werden können. Von der Selbstlosigkeit allein führt sonach 
keine logisch notwendige Brücke zu der Bestimmung der 
sittlich zulässigen Aufgaben. Die herkömmliche Auffassung 
versteht darunter eine altruistische Gesinnung. Aber auch 
auf das Eigenwohl kann man, so sonderbar es klingt, sachlich 
eingestellt sein. So wird durch diesen allgemeinen Objek- 
tivismus nichts gewonnen und der Mangel eines forma- 
listischen Standpunktes wiederholt. Man kann zwar die 
Selbstlosigkeit als die subjektive Bedingung eines auf allge- 
mein anerkannte Werte gerichteten sittli-chen Verhaltens be- 
26* 
403 
III. Kavitel. Die ijhilosopkischen Richtungen. 
trachten (vgl. § 29, 11), darf jedoch nicht in ihr bereits den 
Schlüssel zur Erkenntnis solcher Werte gefunden zu haben 
hoffen. 
15. Wir kommen somit zu dem Ergebnis, daß es weder 
dem Subjektivismus noch dem Objektivismus in den be- 
sprochenen Formen gelungen ist, das höchste Gut {summum 
honum) einwandfrei und allgemeingültig festzustellen. Gemß 
ist a priori nicht zu bestreiten, daß es anderen, neuen Formen 
dieser Eichtungen vorbehalten sei, zu leisten, was bisher 
nicht geleistet worden . ist. Aber da die Bemühungen der 
Ethiker um eine Angabe des höcl.sten Gutes trotz zwei- 
tausendjähriger Arbeit in diesem Punkte nicht eigentlich 
weitergeführt haben, so ist es nicht gerade wahrscheinlich, 
daß künftige Bestrebungen erfolgreicher sein werden. Man 
könnte freilich daran denken, subjektivistische und objek- 
tivistische Tendenzen miteinander zu verbinden und da- 
durch über die Mängel jeder einzelnen von ihnen hinauszu- 
kommen. So wäre z. B. der Eudämonismus mit dem Utili- 
tarismus oder mit dem Evolutionismus zu vereinigen. Aber 
auch damit ließe sich eine allgemeingültige materiale 
Bestimmung des höchsten Gutes, die keine bloße Forde- 
rung eines Ethikers wäre, nicht erreichen. Denn wenn man 
auch die oben hervorgehobenen Mängel des Subjektivismus 
durch eine Ergänzung desselben mit Hilfe objektivistischer 
Angaben im Prinzip zu beseitigen vermöchte, so wird doch 
die Kritik des Objektivismus durch subjektivistische Zu- 
sätze nicht gegenstandslos. Wo man bisher genauer darauf 
ausgegangen ist, den wirklichen ethischen Werturteilen nach- 
zuspüren, hat sich ebenfalls eine der vereinheitlichenden 
Arbeit des Ethikers spottende Mannigfaltigkeit ihrer Ob- 
jekte und Motive ergeben^). Die tatsächlichen Unterschiede 
in den sittlichen Anschauungen der Völker, der Berufe, 
Stände und Individuen haben uns deshalb schon früher 
(§ 9, 11) veranlaßt, als die nächste Aufgabe der Ethik eine 
*) Vgl. J. C. Sharp: A study of the influence of custom on the moral- 
jvdgement. Bulletin of the University of Wisconsin, 1908. A. Schle- 
singer: Der Begriff des Ideals. Archiv f. d. gesamte Psychologie Bd. 15, 
17 u. 29. 
404 
§ 32. Subjektivismus und Objektivismus. 
Sammlung und Ordnung, eine einzelwissenschaftlicbe Be- 
arbeitung der wirklichen sittlichen Wertungen zu bezeichnen. 
Was die einzelnen Ethiker als höchstes Gut proklamieren, 
ist ja selbst individuell gefärbt und liefert gar keine Ge- 
währ dafür, daß ihre Aufstellung eine allgemeinere Be- 
deutung hat. 
Zu dem gleichen Eesultat führt eine prinzipielle Be- 
trachtung. Die Menschheit müßte als Ganzes eine Einheit 
sein, wenn der gleiche immanente Zweck für alle ihre Glieder 
bestehen und gelten sollte. Der Vergleich der menschlichen 
Gesellschaft mit einem Organismus, den die moderne So- 
ziologie so gern durchführt, bezeichnet aber nicht sowohl 
eine vorhandene, als vielmehr eine erstrebte Gleichartigkeit, 
ist nicht sowohl eine Feststellung tatsächlicher Überein- 
stimmung, als vielmehr die Aufrichtung eines Ideals, hinter 
dem die Wirklichkeit bedauerlich weit zurückbleibt. Die 
Menschheit ist ferner nur ein kleiner Teil eines umfassen- 
deren Ganzen. Selbst wenn es also einen immanenten 
absoluten Wert für sie gäbe, wäre dieser im Hinblick auf 
das Universum, den idealen Endzweck desselben nur von 
relativer Bedeutung. Solange wir diesen Endzweck nicht 
kennen, muß daher prinzipiell jede Zielbestimmung auf 
ethischem Gebiet eine vorläufige, relative, nächste bleiben. 
Damit ist zugleich gesagt, daß eine immanente Angabe 
des höchsten Gutes immer nur diesen Charakter tragen kann 
und wird, und daß nur eine transzendente, der wissenschaft- 
lichen Ethik unzugängliche Zwecksetzung der Idee eines 
schlechthin letzten, obersten, absoluten Wertes zu ent- 
sprechen imstande ist. In dem Perfektionismus und noch 
mehr in dem Evolutionismus und Energismus liegt auch, 
vn% wir sahen, die Anerkennung dieses Sachverhalts, insofern 
sie auf eine Angabe des Ziels verzichten, dem die Vervoll- 
kommnung, der universelle Fortschritt, die rastlose Be- 
tätigung schließlich zustreben. Auch in der letztbesprochenen 
besonderen Form des Objektivismus ist sie ausgedrückt, 
denn die sittliche Einstellung auf die Kulturgüter setzt eine 
übermenschliche Bedeutung derselben voraus, die eine tran- 
szendente Beziehung einschließt. 
405 
///. Kapitel. Die philosophischen Richtungen. 
16. Auf die Frage, die wir am Schlüsse des § 29 aufge- 
worfen haben, läßt sich daher nur antworten: da ein abso- 
luter Wert nicht angegeben werden kann, ist eine allgemein- 
gültige materiale Bestimmung über die dort bezeich- 
nete abstrakte Formulierung hinaus unmöglich. Ferner 
ist über die Natur der emotionalen und intellektuellen Mo- 
tive, die zu einer sittlichen Willenshandlung führen, keine 
nähere Festsetzung zu treffen, die eine allgemeingültige Be- 
deutung hätte (vgl. §30, 9). Auch dem humanen Universa- 
lismus können wir von diesem Ergebnis aus nur eine pro- 
visorische Bedeutung beimessen. Mag die Menschheit das 
für uns letzte bestimmbare Objekt des sittlichen Wollens 
sein, so ist sie doch kein Selbstzweck, kein absoluter Eigen- 
wert, sondern ihrerseits verflochten in einen umfassen- 
deren Zusammenhang, dessen unbekannten Aufgaben und 
Absichten sie dient. Und was an und in ihr letzten Endes 
verwirklicht werden soll, ist natürlich dann ebensowenig 
in einer für jedermann verbindlichen und gültigen Form auf 
immanentem Wege festzustellen. So endet die Ethik in einer 
den einzelwissenschaftlichen Ausbau keineswegs gefährden- 
den oder beeinträchtigenden Unbestimmtheit. Wie die 
Nationalökonomie zwar eine Fülle von wirtschaftlichen 
Gütern kennt und schildert, aber kein schlechthin höchstes 
findet oder normiert, so wird sich auch die Ethik damit be- 
gnügen müssen und dürfen, die tatsächlichen Werte, ihre 
Grundlagen und Gesetze zu ermitteln und ihr Verhältnis 
zueinander zu untersuchen. Sie ist nicht berufen, neue Werte 
zu entdecken, die noch in keinem wertenden Subjekt eine 
Rolle gespielt haben, oder ein absolut höchstes Gut zu suchen, 
das der wissenschaftlichen Erkenntnis stets bloß eine ab- 
strakte Idee bleiben, nicht ein konkretes Ideal werden kann. 
Das letztere finden wir in der Religion, die es unternimmt für 
die abstrakte Idee ein freilich mit der Zeit selbst wechselndes 
konkretes Ideal einzusetzen (vgl. § 32, 9). 
LITERATUR: 
E. Adickes: Ethische Prinzipienfragen. Zeitschrift für Philosophie und 
philosophische Kritik, Bd. 116. 117. (Dazu A. Messer, Zur Beiu-tei- 
lung des Eudämomsmus. Ebenda Bd. 119.) 
406 
§ 32. S^ihjektivisrnns und Objektivismus. 
E. Becher: Die Grundfrage der Etliik. Versuch einer Begründung des 
Prinzips der gi-ößten allgemeinen GlückseJigkeitsförderung, 1908. 
G. Claß: Ideale und Güter*, 1886. 
J. Cohn: Der Sinn der gegenwärtigen Kultur. 1914. 
R. Eucken: Sinn und Wert des Lebens, 5. Aufl. 1917. 
H. Gomperz: Ivritik des Hedoni-smus, 1898. 
E. V. Hartmann: Ethische Studien, 1898. 
D. H. Kerl er: Jenseits von Optimismus und Pessimismus. Versuch 
einer Deutung des Lebens aus den Tatsachen einer impersonal istischen 
Ethik, 1914. 
E. Pfleiderer: Eudämonismus und Egoismus, 1880 (enthält namentlich 
eine Auseinandersetzung mit Kant). 
W. Rathenau: Von kommenden Dingen*, 1917 u. ö. 
Chr. S ig wart: Vorfragen der Ethik, 1886, 2. Aufl. 1907. 
Leslie Stephen: The English Utilitarians, 3 Bde., 1900 (behandelt 
Bcntham und die beiden Mill). 
J. Watson: Hedonistic Theories from Aristippus to Spencer, 1895 (faßt 
den Begriff des Hedonismus weiter, als wir ihn bestimmt haben, und 
berücksichtigt a\is der Neuzeit nur englische Vertreter dieser Rich- 
tung). 
R. Wilbrandt: Ökonom. Ideen zu einer Philosophie und Soziologie 
der Wirtschaft 1920 (behandelt auch die Beziehungen der National- 
ökonomie zur Ethik). 
Vgl. ZU dem ganzen Abschnitt über die ethischen Eich- 
tungen die in § 9, 13 angeführte Literatur und H. Driesch, 
Wirklichkeitslehre, 1917. 
407 
IV. KAPITEL. 
AUFGABE UND SYSTEM DER PHILOSOPHIE. 
§ 33. DIE AUFGABE DER PHILOSOPHIE. 
1. Schon in dem ersten und zweiten Kapitel haben wir 
auf die Notwendigkeit hingewiesen, eine neue Bestimmung 
der Aufgabe der Philosophie vorzusehlagen, weil alle Ver- 
suche einer allgemeingültigen Definition des Begriffs der 
Philosophie scheitern, sobald man in ihr dem geschichtlich 
gegebenen Tatbestande dieser Wissenschaft genügen 
will. Der Hauptfehler, den eine Definition haben kann, ist 
der, daß sie zu eng oder zu weit ist. Beides gilt füi- die vor- 
liegenden mannigfaltigen Angaben über das Wesen der 
Philosophie. Wer sie als eine Wissenschaft von der inneren 
Erfahmng bezeichnet, kann weder der Metaphysik noch der 
Erkenntnistheorie und Logik, noch der Naturphilosophie und 
der Philosophie der Geschichte als philosophischen Diszi- 
plinen gerecht werden, und da die Psychologie, die ja die 
eigentliche Wissenschaft von der inneren Erfahrung ist, 
selbst im Begriff steht, sich als eine Einzelwissenschaft von 
der Philosophie abzulösen, so ist eine derartige Bestimmung 
vollends außerstande, die eigentümlichen Obliegenheiten 
philosophischer Arbeit zum Ausdruck zu bringen. Ebenso 
sind die Auffassungen der Philosophie als einer Güterlehre 
oder als einer Wissenschaft von den Prinzipien im Hinblick 
auf ihre Entwicklung und ihren Bestand zu enge Defini- 
tionen. Wer dagegen den Inbegriff wissenschaftlicher Er- 
kenntnis, das System der Wissenschaften, Philosophie nennt, 
vermag deshalb das Verständnis für ihren Entwicklungsgang 
und ihre bleibende Bedeutung nicht zu erschließen, weil er 
einen zu weiten Begriff von der Philosophie aufstellt. So 
kann man bei allen den mannigfaltigen Versuchen, die Philo- 
sophie einheitlich zu definieren, die gleichen Fehler nach- 
weisen. Eine allgemeinere Erwägung zeigt alsbald, daß und 
408 
§ 33. Die Aufgabe der Phüosophip. 
warum überhaupt eine einfache Definition nach dem üb- 
lichen logischen Schema sich dem Tatbestande der Philo- 
sophie nicht anpassen läßt. 
2. Der nächsthöhere Begriff (das genus proximum), den 
man bei Definitionen der Philosophie anzugeben pflegt, ist 
der Begriff der Wissenschaft. Es handelt sich also 
darum, die philosophische Wissenschaft von anderen der 
gleichen Gattung angehörenden geistigen Schöpfungen zu 
unterscheiden. Aber ohne Zwang und Einseitigkeit läßt sich 
ein unterscheidendes Merkmal (eine differentia specifica) nicht 
bestimmen. Denn die Gegenstände, mit denen sich die 
Philosophie beschäftigt, sind keineswegs durchaus spezifisch 
verschieden von denen, die in den Einzelwissenschaften zur 
Behandlung gelangen, und die Form oder die Methode des 
wissenschaftlichen Betriebes ist ebensowenig schlechthin 
von derjenigen verschieden, die wir in den übrigen Wissen- 
schaften in Übung finden. Außerdem zeigt sich ein bestän- 
diges Schwanken in dem Umfang der philosophischen 
Disziplinen. Die von uns in dem II. Kapitel behandelten 
Teile der Philosophie entsprechen ungefähr der Auffassung, 
wie sie in der Gegenwart vertreten wird, ohne jedoch den 
geschichtlichen Prozeß irgendwie zu erschöpfen. Endlich 
kann man — und dies geschieht häufig — in einer einzel- 
wissenschaftlichen Darstellung selbst zwischen dem, was 
an ihr philosophisch ist, und dem, was dem besonderen 
Gegenstand ihrer Untersuchung angehört, unterscheiden. 
Wie soll da eine scharfe Grenze zwischen der philosophischen 
Wissenschaft und den übrigen Gliedern dieser Gattung auf- 
gerichtet werden? Es bleibt danach nichts übrig, als auf 
eine einheitliche Definition überhaupt zu verzichten und das, 
was an der Philosophie wesentlich war, ist und voraussicht- 
lich sein wird, in einer anderen Form, nämlich durch eine 
divisive (einteilende) Bestimmung auszudrücken. 
3. Nach der Darstellung, die wir im II. Kapitel von den 
philosophischen Disziplinen gegeben haben, ist es nicht son- 
derlich schwer, die Aufgaben, die zu allen Zeiten mit dem 
Namen der Philosophie verknüpft gewesen sind, näher zu 
bezeichnen. Die erste besteht in der Ausbildung einer 
409 
IV. Kapitel. Aufgabe und System der Philosophie. 
wissenschaftlich begründeten Weltansicht, die als 
Abschluß und Zusammenfassung der wissenschaftlichen Er- 
kenntnis zugleich dem praktischen Bedürfnis nach einer 
Orientierung über die Stellung des Menschen in der Welt 
genügt. So lange dies Bedürfnis besteht und ein Fortschritt 
wissenschaftlicher Forschung möglich ist, wird die Philo- 
sophie dieser Aufgabe nachzukommen haben, die der Natur 
der Sache nach nicht innerhalb einer oder aller Einzelwissen- 
schaften ihre Erledigung finden kann. Wir haben es also 
hier mit einem der Philosophie eigentümlichen Gebiet zu 
tun, das ihr in alle Zukunft, soweit wir absehen können, eine 
Sonderstellung im Eeiche der Wissenschaften anweist. Der 
alte Name für diesen Teil der Philosophie ist Metaphysik. 
Da sie sich zu den Einzel Wissenschaften wie deren Fort- 
setzung verhält, so begreift es sich leicht, daß sie von der 
Verschiebung der Grenzen, die diese erfahren, mitbetroffen 
wird und an Inhalt und Umfang Veränderungen mannig- 
faltiger und nicht unerheblicher Art ausgesetzt ist. Der 
Wechsel dessen, was den Bestand der Philosophie zu ver- 
schiedenen Zeiten ausgemacht hat, wird bereits hieraus ver- 
ständlich, und das ursprüngliche Zusammenfallen von Wissen- 
schaft und Philosophie ergibt sich gleichfalls als eine einfache 
Folgerung aus dieser Bestimmung. Der wissenschaftliche 
Charakter der Metaphysik aber geht vor allem aus der Tat- 
sache hervor, daß vieles von dem, was sie früher besaß, An- 
sichten über Natur und Gesetzmäßigkeit der Außenwelt und 
des Seelenlebens, später als Hypothese, Voraussetzung oder 
Theorie in einzelne Wissenschaften übergegangen ist. Vgl. § 4. 
4. Eine zweite Aufgabe wächst der Philosophie in der 
Untersuchung der Voraussetzungen aller Wissen- 
schaft. Wissenschaft ist ein Erzeugnis des erkennenden 
menschlichen Geistes. Zu ihren Voraussetzungen gehören 
zunächst die gesetzmäßigen Formen, in denen sich die 
wissenschaftliche Forschung und Darstellung bewegen, so- 
fern sie eine allgemeine Bestimmung finden können. Zu den 
Voraussetzungen der einzelnen Wissenschaften sind aber 
auch eine Anzahl inhaltlich bestimmter Begriffe und Urteile 
zu rechnen, die in jeder von ihnen angewandt werden, ohne 
410 
§ 33. Die Aufgabe der Philosophie. 
durch sie selbst eine zureichende Beü;iündung oder auch nur 
Darlegung erhalten zu können. Auch hier handelt es sich 
ura eine für die Philosophie charakteristische Aufgabe. Denn 
es ist nicht abzusehen, wie sich die Einzel Wissenschaften 
selbst jemals derart vereinheitlichen sollten, daß sie alle die 
unselbständigen Glieder eines großen Ganzen der Erkenntnis 
würden. So lange sie aber getrennte Bahnen wandeln, und 
ihre besonderen Gebiete mit einseitiger Energie bebauen, 
wird die Untersuchung ihrer Voraussetzungen eine eigen- 
tümliche Aufgabe bilden, die der Philosophie vorbehalten 
bleiben muß. Die Wissenschaften werden durch diesen Teil 
der Philosophie, den wir als Wissenschaft sichre bezeich- 
nen, nach einer anderen Seite hin, als es durch die Meta- 
physik geschieht, vervollständigt und abgeschlossen. Wäh- 
rend diese die Einzelfäden, welche die Wissenschaften ge- 
sponnen haben, bis in ihre letzten wahrscheinlichen Endi- 
gungen verfolgt und zu einem einheitlichen Gewebe vereinigt, 
ist die Wissenschaftslehre bemüht, ihre Ausgangspunkte zu 
ermitteln, zu verknüpfen und festzulegen und den allge- 
meinen Vorgang ihres Werdens zu ergründen. Beide Teile 
der Philosophie haben somit den gemeinsamen Beruf, Ein- 
heit, Ordnung und Zusammenhang in die Vielheit der be- 
sonderen Wissenschaften zu bringen, aber sie erfüllen diesen 
Beruf in durchaus verschiedener Weise und lassen sich daher 
auch nicht a priori aus dem leeren Begriff einer wissenschaft- 
lichen Ergänzung oder eines Abschlusses der wissenschaft- 
lichen Erkenntnis als die notwendigen Mittel zu diesem Zweck 
ableiten. Die Wissenschaftslehre ist ihrer Natur nach ge- 
ringeren Wandkingen unterworfen, als die Metaphysik, sie 
bildet etwas verhältnismäßig Bleibendes in der rastlosen 
Entwicklung der Wissenschaften, insbesondere der Philo- 
sophie. Vgl. § 5 und 6. 
5. Als dritte, ihrem Inhalt nach am meisten Schwan- 
kungen ausgesetzte Aufgabe der Philosophie bezeichnen wir 
die Vorbereitung neuer Einzelwissenschaften und 
einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse. Nur durch 
die dritte Aufgabe wird der Wechsel in dem Umfange der 
philosophischen Disziplinen völlig verständlich. Im Verein 
411 
/ V. Kapitel. Aufgabe und System der Philosophie. 
mit den hervorgehobenen Änderungen, denen die Meta- 
physik unterliegen muß, ermöglicht sie es, einen Zusammen- 
hang in dem Entwicklungsgange dessen, was die Philosophie 
in den verschiedenen Zeiten gewollt hat und gewesen ist, 
herzustellen. Sicherlich leisten zur Erfüllung dieser Aufgabe 
Metaphysik und Wissenschaftslehre wesentliche Beiträge, 
denn durch jene werden wir auf das aufmerksam, was am 
Wissen noch fehlt und doch als ein mögliches Ergebnis fort- 
schreitender Forschung betrachtet werden kann, und die 
kritische Befugnis der Wissenschaftslehre wird sich gleich- 
falls darin wirksam erweisen, daß sie zur besseren Sicherung 
wissenschaftlicher Vermutungen auffordert oder die allge- 
meine Bichtung angibt, in der sich die einzelwissenschaft- 
liche Arbeit mit Aussicht auf Erfolg zu entwickeln habe. 
Trotzdem ist die Erfüllung dieser Aufgabe wiederum eine 
wesentlich andere Tätigkeit als die in der Wissenschaftslehre 
und in der Metaphysik geübte. Sie ist so sehr der rein einzel- 
wissenschaftlichen Untersuchung verwandt, daß es mißlich 
erscheinen könnte, zwischen beiden überhaupt noch eine 
Unterscheidung zu treffen. Und in der Tat läßt sich ein 
inneres, notwendiges Kennzeichen nicht angeben, das ent- 
schiede, wann eine von Philosophen vorbereitete Einzel- 
wissenschaft zu einer selbständigen Bedeutung gediehen sei. 
Vielmehr pflegt dies von dem rein äußerlichen Gesichts- 
inmkte des angewachseneu Stoffes oder Umfanges abzu- 
hängen, der es nicht mehr tunlich erscheinen läßt, diese 
Einzel Wissenschaft als einen Teil der Philosophie zu betreiben. 
Immerhin ist es kein Zufall, daß sich gerade die Philosophie 
in dieser Richtung so schöpferisch zeigt. Denn wer an spe- 
ziellen Problemen, an bestimmten Ausschnitten der Erfah- 
rung allein seine Kräfte betätigt, verliert nur zur leicht den 
umfassenden Überblick über die möglichen Aufgaben im 
großen und ganzen. Einen Namen können wir dieser dritten 
Aufgabe der Philosophie nicht geben. Sie wird vielnehr am 
passendsten durch die Namen der einzelnen Disziplinen be- 
zeichnet, die der Erfüllung dieser Aufgabe entspringen. 
6. Es ist nicht notwendig, daß diese verschiedenen 
Aufgaben der Philosophie voneinander gesondert zur 
412 
§ 34. Das System der Philosophie. 
Anwendung gelangen. Es gibt vielmehr eine Anzahl eigentlich 
philosophischer Disziplinen, bei denen wir alle drei oder 
wenigstens die ersten beiden tätig finden. Wer eine Natur- 
philosophie bearbeitet, wird zunächst den Gesichtspunkt 
der Wissenschaftslehre für das besondere Gebiet der Natur- 
wissenschaft fruchtbar zu machen suchen. Er wird dem- 
nach die Voraussetzungen, welche der Naturwissenschaft im 
besonderen zugrunde liegen, einer Darstellung und Prüfung 
unterziehen. Sodann aber wird er sich bemühen, den meta- 
physischen Ertrag der Naturwissenschaft in der Natur- 
philosophie zusammenzufassen, und damit eine Weltansicht, 
so, wie sie von dem Standpunkte der Naturwissenschaft aus 
angebahnt werden kann, vorbereiten. Endlich aber kann der 
Naturphilosoph auch der dritten Aufgabe nachkommen, 
indem er auf neue Probleme hinweist oder auf Grund der 
bisher bekannten Tatsachen neue Theorien entwickelt. Das 
nämliche gilt von einer philosophischen Ethik. Es bildet diese 
zugleich eine Eechtfertigung unserer Unterscheidung ver- 
schiedenartiger philosophischer Aufgaben. Denn nur auf 
diese Weise begreift es sich, daß wesentlich verschiedene 
Tendenzen durch die Einheit des Gegenstandes, an dem sie 
zur Verwirklichung gelangen, zu einer Disziplin sich zu- 
sammenschließen lassen. Ebenso verstehen wir jetzt auch, 
inwiefern innerhalb einer einzel wissenschaftlichen Darstel- 
lung philosophische Fragen oder Gesichtspunkte zur Gel- 
tung gebracht werden können. Nicht in friedlicher Schei- 
dung von den anderen Wissenschaften und nicht in der 
scheinbar so stolzen, tatsächlich so leeren Allgemeinheit 
eines Inbegriffs wissenschaftlicher Erkenntnis hat die Philo- 
sophie ihren Beruf zu erblicken, sondern nur in der stetigen 
Wechselwirkung mit den Einzelwissenschaften, indem sie 
von ihnen nimmt, was sie ihr geben können, und ihnen 
spendet, was sie vermissen lassen. 
§ 34. DAS SYSTEM DER PHILOSOPHIE. 
1. Zum System einer Wissenschaft gehört einerseits eine 
vollständige Klassifikation der von ihr gebrauchten Be- 
griffe, andererseits eine vollständige logische Ableitung der 
413 
IV. Kapitel. Aufgabe und System der Philosophie. 
von ihr vertretenen Behauptungen. Diesem Ideal eines 
wissenschaftliehen Systems kommt kaum eine Disziplin auch 
nur annähernd nach. Logik und Mathematik sind die ein- 
zigen Wissenschaften, welche einigermaßen diesen Anforde- 
rungen entsprechen. Die Voraussetzung für ein einheitliches 
System ist aber die Definition der in diese Form zu bringen- 
den Wissenschaft; denn nur sie leistet Gewähr für einen 
inneren und notwendigen Zusammenhang der durch die 
Klassifikation unterschiedenen Prinzipien oder Begriffe. Es 
ist hiernach klar, daß die Philosophie als Ganzes, wie wir sie 
im vor auf geh enden Paragraphen geschildert haben, eines 
solchen Systems nicht fähig ist, weil die Verschiedenartigkeit 
der einzelnen x3hilosophischen Aufgaben eine Ableitung aus 
der obersten Bestimmung unmöglich macht, und weil zu- 
gleich die in der ersten und dritten Aufgabe der Philosophie 
gesetzte Wandelbarkeit ihres Bestandes eine zufällige zeit- 
liche Bedingung einführt, die mit der logischen Allgemein- 
gültigkeit eines systematischen Aufbaus unvereinbar ist. 
Muß so auf ein System der Philosophie im allge- 
meinen verzichtet werden, so braucht darum doch 
nicht eine Systematisierung einzelner dazu geeigneter Teile 
der Philosophie zu fehlen. Wir wollen daher im folgenden 
versuchen, die Hauptgesichtspunkte einer systematischen 
Gliederung für die besonderen Aufgaben der Philosophie zu 
entwickeln. Zugleich lassen sich dabei einige Bemerkungen 
über das zweckmäßige Verfahren, das bei der Darstellung 
und Untersuchung in diesen verschiedenen Teilen einzu- 
schlagen ist, anfügen. 
2. Die Metaphysik als wissenschaftlich-praktisch begrün- 
dete Weltanschauung zerfällt in einen allgemeinen und 
einen speziellen Teil. Während jener die höchsten oder 
letzten Gedanken einer Weltansicht entwickelt, hat dieser 
die Vorbedingungen für eine solche Untersuchung dadurch 
zu schaffen, daß ea' die Ergebnisse der für die Metaphysik 
in Betracht kommenden Wissenschaften ihren Bedürfnissen 
anpaßt. Bei der üblichen Teilung in Natur- und Geistes- 
wissenschaften läßt sich die spezielle Metaphysik in die bei- 
den Hauptformen einer Metaphysik der Natur und einer 
414 
§34. Das System der Philosophie. 
Metaphysik des Geistes nacli einer bereits üblichen 
Aiisdrucksweise gliedern. Was die Naturwissenschaften zu 
(iiner Weltanschauung beitragen, hat die Metaphysik der 
Xatur in geordneter Darstellung vorzuführen. Sie wird sich 
dabei vornehmlich auf Astronomie, Physik, Chemie und Geo- 
logie einerseits, auf die biologischen Disziplinen andererseits 
zu stützen haben. Den metaphysischen Ertrag der Geistes- 
wissenschaften hat sodann die Metaphysik des Geistes zu- 
sammenzustellen. Hierbei werden ihr die wichtigsten Hilfs- 
mittel von der Psychologie, der Ethik, der Religionsphilo- 
sophie und der Philosophie der Geschichte geliefert. Da eine 
Metaphysik ohne Transzendenz über das Erfahrbare hinaus 
keinen Abschluß hätte und diese selbstverständlich in der 
allgemeinen Metaphysik ungleich freier und kühner geübt 
werden muß, als in der speziellen, so ist, wie wir glauben, das 
zweckmäßigste Verfahren in diesem Teile der Philosophie 
eine induktive Methode (vgl. § 4, 7). Die spezielle Meta- 
physik bildet in diesem Sinne die unumgängliche Voraus- 
setzung der allgemeinen. Darum kann doch in der logischen 
Gesetzen folgenden Darstellung der Metaphysik die onto- 
logie (Seinslehre), das ist eben die allgemeine Metaphysik, 
der Kosmologie und der Psychologie, (das heißt : der Meta- 
physik der Natur und des Geistes), vorangestellt werden. 
3. Die Wissenschaftslehre, welche die Voraussetzungen 
aller Wissenschaften zu untersuchen hat, gewinnt eine ein- 
fache Einteilung durch die Unterscheidung materialer und 
formaler Voraussetzungen. Was unter beiden zu verstehen 
ist, bedarf nach den früheren Erörterungen (vgl. § 5 und 6) 
und der kurzen Gegenüberstellung in § 33, 4 keiner Erläute- 
rung. Die dadurch bedingten Hauptteile der Wissenschafts- 
lehre sind die Erkenntnistheorie und die Logik (wozu 
die Gegenstandstheorie, Semasiologie [Zeichenlehre] 
und Objektstheorie, sowie die allgemeine Lehre von den 
idealen, wirklichen und realen Objekten treten; (vgl. 
§ 6, 6 und 9). Mit dem Inhalt der allgemeinsten oder obersten 
Begriffe und Urteile, sowie mit den Forschungsmethoden 
aller Wissenschaften beschäftigt sich die Erkenntnistheorie 
(nebst Gegenstands- und Objektstheorie), mit der Form und 
415 
IV. Kapitel. Aufgabe und System der Philosophie. 
Gesetzmäßigkeit der in allen Wissenschaften geübten Dar- 
stellung hat es die Logik (und die Semasiologie) zu tun. 
Außer dieser Haupteinteilung gewinnen wir noch eine be- 
sondere Gliederung dadurch, daß wir zwischen einer reinen 
oder allgemeinen und einer angewandten oder speziel- 
len Erkenntnistheorie und Logik unterscheiden. Jene be- 
schränken sich auf das allen Wissenschaften nach Inhalt und 
Form Gemeinsame, diese dagegen unterziehen die materialen 
und formalen Voraussetzungen bestimmter Wissenschaften 
oder bestimmter Grappen von ihnen einer Analyse und Prü- 
fung. Darum gibt es eine Erkenntnistheorie und eine 
Logik der Naturwissenschaft, eine solche der Mathematik, 
eine solche der Geisteswissenschaften u. dgl. m. Das Ver- 
fahren, das in der Wissenschaftslehre der Natur der Sache 
nach zunächst empfohlen werden muß, besteht in einer mög- 
lichst vollständigen Zasammenstellung und Zergliederung 
des durch die Wissenschaften selbst gelieferten Materials. 
Ihre Methoden und Formen, ihre Kategorien und Grund- 
sätze sollen erkannt, geordnet und einwandfrei entwickelt 
werden. So trägt auch hier die Untersuchung einen in- 
duktiven bzw. phänomenologischen (vgl. § 5, 12) Charakter. 
Dagegen kann auch hier die systematische Darstellung der 
Ergebnisse solcher Untersuchung in logisch ableitender 
Form erfolgen, indem der reine oder allgemeine Teil die 
logische Voraussetzung des angewandten oder besonderen 
bildet. Dem Ideal einer vollständigen Klassifikation und 
Ableitung können sich Erkenntnistheorie und Logik am 
meisten annähern. Auch in dieser Hinsicht dürfen sie als 
die philosophischen Grundwissenschaften gelten. 
4. Als dritte philosophische Hauptdisziplin neben Meta- 
physik und Wissenschaftslehre wird eine allgemeine Wert- 
lehre anzuerkennen sein, deren sachliche Berechtigung sich 
in der neuesten Zeit sowohl von ethischen wie von ästhe- 
tischen Untersuchungen her (vgl. § 9, 11 f., § 10, 10) heraus- 
gestellt hat. Sie hätte unter Verwendung des Stoffes, den die 
empirische Untersuchung der einzelnen Kulturgebiete — alle 
Kultur ruht ja auf Wertschätzungen — herbeibringt, die 
Fragen nach dem Wesen und den Arten des Wertes auf- 
416 
§ 34. Das System der Philosophie. 
zuwerfen, ferner etwaige Gesetzmäßigkeiten der Werte, ihres 
Kanges, ihrer Beziehungen festzustellen. Die Probleme der 
Werterkenntnis können natürlich innerhalb der Wissen- 
schaftslehre (bzw. Erkenntnistheorie) behandelt werden. 
Und für die Metaphysik wird die Tatsache, daß auch die 
Wertschätzungen zu dem Bestand der Wirklichkeit gehören 
und die Ansicht, zu der man hinsichtlich der Geltung und 
Bedeutung dieser Wertschätzungen gelangt, von erheblicher 
Wichtigkeit sein. 
Eine philosophische Ethik und Ästhetik würden als z. Z. 
bedeutsamste Einzel disziplinen auf der Grundlage der all- 
gemeinen Wertlehre aufzubauen sein. 
5. Welche Einzelwissenschaften durch die Philo- 
sophie vorbereitet werden sollen, oder in welchen sie eine 
anregende Tätigkeit kundgeben soll, läßt sich begreiflicher- 
weise nicht a priori ausmachen. Eine systematische Zusam- 
menstellung derselben ist daher gänzlich unausführbar. Wir 
müssen uns vielmehr darauf beschränken, den Stand der 
Sache in der Gegenwart zu bezeichnen, d. h. zu sagen, welche 
Einzelwissenschaften zurzeit innerhalb der Philosophie für 
einen selbständigen Betrieb heranreifen. Nach dem, was wir 
im II. Kapitel bei Gelegenheit der einzelnen philosophischen 
Disziplinen darüber bemerkt haben, lassen sich die Psycho- 
logie, die (empirische) Ethik und Ästhetik und die Soziologie 
dazu rechnen. 
Aber ein solcher Übergang in den einzelwissenschaftlichen 
Betrieb ist niemals eine einfache Ablösung des ganzen 
Gebiets von der Philosophie, sondern immer nur eine Diffe- 
renzierung in einen philosophischen und einen einzelwissen- 
schaftlichen Teil gewesen, und so wird voraussichtlich auch 
bei allen diesen Disziplinen eine entsprechende Scheidung 
sich vollziehen. Am meisten vorbereitet ist diese Teilung 
bei der Psychologie, demnächst vielleicht bei der Soziologie; 
und hier ließen sich auch unschwer die Momente angeben, 
die für eine philosophische Aufgabe auf Grund des selb- 
ständig gewordenen einzelwissenschaftlichen Gebiets anzu- 
erkennen wären. Die Art, wie in diesen Fällen Philosophie 
getrieben wird, läßt sich an der bereits verselbständigten 
Külpe, Philosopliie. 10. Aufl. 27 
417 
IV. Kapitel. Aufgabe und System der Philosophie. 
Naturphilosophie am besten ersehen. Metaphysik, Erkennt- 
nistheorie, Logik und etwa noch der Hinweis auf neue wissen- 
schaftliche Aufgaben oder eine Kritik der in den entsprechen- 
den Einzel wissen Schäften ausgebildeten Theorien, also alle 
besonderen Aufgaben der Philosophie vereinigen sich in 
solchem Falle, um einem bestimmten Gegenstande gegenüber 
behandelt zu werden (vgl. § 33, 6). Wir haben deshalb auch 
im II. Kapitel bei der Bestimmung der einzelnen Aufgaben 
einer Naturphilosophie, einer Moral- und Eechtsphilosophie, 
einer Ästhetik, einer Keligionsphilosophie im philosophischen 
Sinne dieser Begriffe regelmäßig auf eine solche Mannigfaltig- 
keit ihres Inhalts hinzuweisen Veranlassung genommen. 
Der bleibende Kern der Philosophie aber ruht 
hiernach in der Metaphysik, der Wissenschafts- 
lehre und der Wertlehre. 
6. Aus einer monarchischen Verfassung der Wissenschaf ten 
ist mit der Zeit eine demokratische geworden. In unbestritte- 
ner Alleinherrschaft gebot früher die königliche Philosophie 
den einzelnen Disziplinen, schlichtete ihre Streitigkeiten, 
erteilte ihnen weise Ratschläge und öffnete freigebig ihren 
Schatz von Ideen und Methoden für die Bedüi'ftigen. Und 
sie kamen in hellen Scharen und beeiferten sich die An- 
weisungen der Herrscherin zu befolgen und von ihrem Vor- 
bild und Reichtum für ihre eigene Haltung und Ausstattung 
Nutzen zu ziehen. Aber dann erwachten sie wie aus bösem 
Traume: der Weg, den man ihnen gezeigt, war ein Irrweg 
gewesen, die Güter, die sie empfangen, ein wertloser Flitter 
und die stolze, ebenmäßige Gestalt der Königin selbst, der 
zu gleichen sie begehrt hatten, eine erlogene Vollkommenheit. 
Da wurde sie vom Throne gestoßen, und eine hastige und 
erfolgreiche Entwicklung aus eigener Kraft ließ die Be- 
trogenen bald in anmaßende Selbstgerechtigkeit versinken. 
Von dem organisch gegliederten Reiche war nichts mehr zu 
spüren, in ein anarchisches Nebeneinander hatte sich der 
»Gliedbau« des wissenschaftlichen Betriebes aufgelöst. In- 
zwischen war die Verstoßene und Verachtete in sich ge- 
gangen, sie hatte den hohlen Flüchten dialektischer Kunst 
entsagen, im kleinen tüchtig und zuverlässig sein und sich 
418' 
§ 35. Die Bedeutung der Philosophie für die Pädagogik. 
der Macht der Tatsachen beugen lernen. Ais nun die kurz- 
sichtige Geschäftigkeit der früheren Untertanen in unge- 
stümem Anlauf nach dem verlasseneu Zepter griff und die 
seelenlose Puppe des Materialismus zur Herrscherin erküren 
wollte, da trat sie in der festen Eüstung der Erkenntnis- 
theorie wieder auf den Plan, wehrte den Sturm ab und wies 
mit klaren, klugen Worten die Unbesonnenen in ihre Grenzen 
zurück. vSeitdem ist ihr Ansehen beträchtlich gewachsen, 
zumal da man merkte, daß keine Herrschaftsgelüste sie mehr 
beseelten. Ein friedliches Wechselverhältnis hat sich in der 
Gegenwart angebahnt. Durch die Einzelwissenschaf- 
ten, mit ihnen und für sie arbeitet die Philosophie in 
der Metaphysik, der Wissenschaftslehre, der Wertlehre und 
den vorbereitenden Bemühungen. Ebenso sind jene geneigt, 
durch die Philosophie sich fördern zu lassen, mit ihr der Er- 
kenntnis zu dienen und für sie Beiträge zu sammeln. Daß 
die Philosoi)hie in dieser demokratischen Verfassung nichts 
von ihrem wahren und eigentlichen Beruf eingebüßt hat, 
sondern ganz im Geiste ihrer ruhmreichen Überlieferung 
wirkt und strebt, das hofft diese Einleitung in die Philosophie 
gezeigt zu haben. 
§ 35. DIE BEDEUTUNG DEE PHILOSOPHIE FÜR 
DIE PÄDAGOGIK. 
1. Schon früh treten die Beziehungen zwischen Philosophie 
und Pädagogik hervor. Sokrates hat gerade als ein päd- 
agogisches Genie ersten Ranges so tiefgehenden und viel- 
seitigen Einfluß auf die griechische Philosophie geübt. 
Sein Schüler Plato hat in seinen Werken über den »Staat« 
und über die »Gesetze« die Erziehung im Eahmen seiner 
ganzen Philosophie behandelt. Er stellt ihr die doppelte 
Aufgabe, sowohl die Vollbürger mit dem Geist (Ethos) 
des idealen Gemeinwesens zu erfüllen, als auch die Philo- 
sophen-Herrscher zu bilden, welche das Gemeinwesen in 
seiner vollkommnen Gestaltung erhalten sollen. Ebenso 
staatsphilosophischer Art ist die Pädagogik des Aristo- 
teles. Die Erziehung bestimmt sich nach der Verfassung. 
Diese entstammt dem Ethos der Staatsbürger. Sie wird 
27* 
419 
IV. Kapitel. Aufgabe und System der Philosophie. 
erhalten durch die Erhaltung dieses Ethos, und gefördert 
durch seine Vervollkommnung. Beides hat die Erziehung 
zu leisten. 
Nach dem Zusammenbruch der antiken Freistaaten 
verliert die philosophische Eeflexion den Zusammenhang 
mit der Staatsphilosophie; sie gewinnt mehr individualisti- 
schen Charakter. Dies zeigt sich in Quintilians (1. Jahrh. 
n. Chr.) Schrift über die Erziehung zum Eedner {institutio 
oratoria). 
In der pädagogischen Literatur der alt christlichen Zeit 
und des Mittelalters überwiegt die praktische erziehe- 
rische Tendenz. Dasselbe gilt für die pädagogischen Schriften 
der Humanisten, die stark von Quintilian abhängig sind. 
Über ihren Individualismus erhebt sich, getragen von 
religiös-philosophischem Geist Amos Comenius (1592 bis 
1670). In seiner »Großen Unterrichtslehre« {didactica magna 
1628) schwebt ihm das Ideal vor, das Menschengeschlecht 
durch Erziehung zu dauernder Glückseligkeit nach dem 
Willen Gottes zu führen. Die Didaktik ist ihm »die uni- 
verselle Kunst, alles umfassende Schulen zu errichten«. 
■ Bei ihm zeigt sich bereits die Neigung, die Pädagogik auf 
der Grundlage der Erfahrung aufzubauen. Unter dem 
Einfluß der aufkommenden Naturwissenschaft meint er die 
Normen der Erziehung durch Studium der Natur und 
ihrer Gesetze entdecken und begründen zu können. Dabei 
spielt aber, wie später in Eousseaus Erziehungsroman 
Emile (1762), der Doppelsinn des Wortes »Natur« (das 
Seiende und das Seinsollende) eine verhängnisvolle Eolle; 
und er verhindert eine grundsätzliche Klärung der Frage, was 
die Pädagogik der Erfahrungswissenschaft von der Natur (ein- 
schließlich der Psychologie) verdanken kann und was nicht. 
Noch entschiedener und bewußter hat sich die empiristi- 
sche Eichtung in der Pädagogik im 19. Jahrhundert 
geltend gemacht; bei Fr. E. Beneke (Erziehungs- und 
Unterrichtslehre, 2 Bde., 1835 f., 4. Aufl., 1876) u. a. 
Man gründet dabei die Pädagogik teils auf eine als Er- 
fahrungswissenschaft gefaßte Ethik, so A. Döring u. a. 
oder auf empirisch aufweisbare natürliche Tendenzen im 
420 
§ 35. Die Bedeutung der Philosophie für die Pädagogik. 
jugendlichen Menschen. So Dilthey auf die Tendenz zur 
formalen Vollkommenheit des Seelenlebens und des zweck- 
mäßigen Zusammenhangs seiner Betätigungen; so Stadler 
auf das Bedürfnis nach Auswirkung überhaupt und damit 
verknüpfte Befriedigung; so Kretzschmar auf tatsächlich 
vorhandene Bildungsbedürfnisse. Oder man wählt zur 
empirischen Grundlage der Pädagogik die Biologie und die 
Entwicklungslehre, wie dies Spencer in seiner individualisti- 
schen, Guy au und Bergemanu in ihrer sozial gerichteten 
Pädagogik tun. — 
Im scharfen Gegensatz zu dieser empiristischen Richtung, 
die die Erziehungswissenschaft auf Tatsachen aufbauen will, 
steht die idealistische, die von allgemeinen Wertideen oder 
von konkreter ausgestalteten Idealen her die pädagogischen 
Forderungen ableitet. Kant selbst zwar hat seine pädago- 
gischen Vorlesungen noch nicht aus seinem idealistischen 
System heraus gestaltet, aber in Schillers und Pesta- 
lozzis (1746 — 1823) pädagogischen Schriften lebt dieser 
idealistische Geist; am schroffsten tritt er hervor in Fich- 
tes »Reden an die deutsche Nation«; er wirkt in zahlreichen 
Srziehungslehren, die aus Schellings, Hegels und 
Krauses Schule hervorgegangen sind. Das bedeutendste 
pädagogische System im Sinne des neukantischen Idealis- 
mus ist Paul Natorps »Sozialpädagogik«. 
Eine dritte Richtung schlagen solche Denker ein, die 
zwar die Erziehungsideale nicht Erfahrungstatsachen zu 
entnehmen suchen, sondern sie wie die Idealisten letzten 
Wertüberzeugungen entlehnen, die aber andererseits stärker 
berücksichtigen, daß alle Erziehung sich doch an wirkliche 
Menschen wendet, also deren psychophysische l^atur wie 
deren geschichtliche Bedingtheit kennen und in Rechnung 
stellen muß. Da sich uns aber Natur wie Geschichte nur 
in der Erfahrung erschließen, so kommen in dieser Richtung 
neben den leitenden Ideen auch die Erfahrungstatsachen 
zur Anerkennung. Hier sind Herbarts Werke (»Die all- 
gemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung ab- 
geleitet«, 1806, und »Umriß pädagogischer Vorlesungen« 
1835) und Schleiermachers nachgelassene »Erziehungs- 
421 
IV. Kapitel. Aufgabe und System der Philosophie. 
lehre« zu nennen. Unter den Neueren gehören hierher: 
Münsterberg, Eein, Barth, Cohn u. a. 
2. Versuchen wir zu diesen verschiedenen Grundrichtungen 
in der wissenschaftlichen Pädagogik Stellung zu nehmen! 
Wie alle Kulturtätigkeit, so ist auch die Erziehung zu- 
nächst instinktiv geübt worden. Der Keim einer Erzie- 
hungswissenschaft (Pädagogik) liegt darin, daß man über 
die Erziehung (ihre Ziele, Wege, Einrichtungen, Mittel) 
zu reflektieren beginnt. Die Pädagogik gehört bei ihren 
Begründern Plato und Aristoteles noch der Philosophie 
an; längst aber hat sie sich zu einer selbständigen Wissen- 
schaft entwickelt. Da sie aber, wie unser historischer Über- 
blick zeigt, bis heute unter dem Einfluß philosophischer 
Strömungen stand, so drängt sich die Frage auf, wie das 
Verhältnis der Pädagogik zur Philosophie zu fassen ist. 
Die Antwort wird sich verschieden gestalten, je nachdem 
man die beiden Hauptaufgaben der Pädagogik ins Auge 
faßt: 1. Wissenschaft von den Tatsachen der Erziehung, 
2. Lehre von deren Normen zu sein. (Wir fassen dabei 
»Erziehung« im weitesten Sinne des Wortes, so daß wir 
darunter nicht nur die Willensbildung, sondern die Bildung 
des ganzen Menschen verstehen, und daß wir nicht nur 
an die Jugendbildung, sondern auch an die der Erwachse- 
nen einschließlich aller Selbsterziehung denken; daß wir 
endlich auch die individuelle wie die soziale Seite der Er- 
ziehung und alle durch sie und für sie geschaffenen Ein- 
richtungen usw. mit berücksichtigen.) 
Die Erziehung in ihrem tatsächlichen einmaligen Ent- 
wicklungsgang stellt sich dar als ein bedeutsamer Teil der 
Kulturgeschichte. Die historische Pädagogik (als Geschichte 
der Bildung und der pädagogischen Theorie) gehört so 
zur Geschichtswissenschaft und mündet mit dieser in die 
Geschichtsphilosophie aus. 
Nach ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit werden die 
Tatsachen der Erziehung als einer Äußerung des Gemein- 
schaftslebens von der Soziologie zu untersuchen sein, die 
ja zurzeit erst im Begriff ist sich zu einer selbständigen 
Disziplin aus der Philosophie heraus zu entwickeln. 
422 
§ 85. Die Bedeutung der Philosophie für die Pädagogik. 
Somit würde die empiristische Richtung hinsichtlich 
der Pädagogik, sofern sie Tatsachenwissenschaft ist, 
im wesentlichen recht behalten. Aber auch hinsichtlich 
der normativen Pädagogik kommt ihr ein gewisser Wahr- 
heitsgehalt zu. Denn die Erziehung soll ja auf die Men- 
schen wie sie tatsächlich sind, wirken. Auch die idealste 
Gestaltung der Erziehung kommt so von der Eücksicht 
auf die wirklichen Menschen und menschlichen Zustände 
in all ihrer unidealen Beschaffenheit nicht los. Im Gegen- 
teil, die Erziehung wird um so voUkonmiener sein können, 
je tiefer und umfassender man die tatsächliche Beschaffen- 
heit der Menschen, die Gesetzmäßigkeiten ihres Einzel- 
und ihres Gemeinschaftslebens und die geschichtliche Ent- 
wicklung und Bedingtheit des jeweils gegebenen Zustands 
der menschlichen Kultur kennt. So erscheinen Biologie, 
Anthropologie, Psychologie, Jugendkunde, andererseits Kul- 
turgeschichte, lauter empirische Disziplinen, als unentbehr- 
liche Hilfswissenschaften auch der normativen Pädagogik. 
Die empiristische Richtung stößt aber sofort an eine 
unübersteigbare Schranke, wenn die Frage auftaucht, auf 
welche Ziele denn die Erziehung gerichtet werden soll, 
und wie insbesondere die mannigfachen Bildungsideale, 
von denen uns die Geschichte berichtet, zu bewerten sind. 
Hierüber können wir nur in der allgemeinen Werttheorie 
Aufschluß suchen. Diese aber kann nicht empirisch sein, 
weil sie nicht Tatsachenfragen, sondern Geltungsfragen 
zu behandeln hat. Die Erfahrung von dem, was tatsächlich 
war und ist, kann nicht letztlich entscheiden über das, 
was wert ist zu sein, was insofern Geltung hat. 
Es ist aber nicht nur eine Wertdisziplin, die Ethik, die 
so zur Grundlage der (normativen) Pädagogik wird. Frei- 
lich kommt es in erster Linie darauf an, daß sittliche 
Menschen gebildet werden; aber die Menschen sollen auch 
zu den Aufgaben des Wirtschafts-, Staats- und Rechts- 
lebens, sie sollen zur Anteilnahme an Wissenschaft, Kunst 
und Religion erzogen werden. Somit hat sich die Pädagogik 
auf die gesamte Werttheorie in ihrer Ausgestaltung als 
Kulturphilosophie zu stützen. 
423 
1 V. Kapitel. Aufgabe und System der Philosophie. 
Wenn wir neben der Werttheorie die Wissenscliafts- 
lehre (Erkenntnistheorie und Logik) und Wirklichkeits- 
lehre (Metaphysik) als Hauptteile der Philosophie be- 
zeichnet haben, so darf aus dem eben Gesagten nicht ent- 
nommen werden, daß diese beiden Hauptteile für die Be- 
gründung der Pädagogik keine Bedeutung hätten. Sie 
können nämlich selbst in die Werttheorie eingeordnet 
werden — nämlich von der Erwägung aus, daß der Wert 
»Erkenntnis« zu seiner Verwirklichung zweierlei fordert, 
1. daß wir auch die Erkenntnis selbst erfassen — eben in der 
Erkenntnistheorie und Logik; 2. daß wir der Wirklich- 
keitserkenntnis einen krönenden Abschluß verleihen in 
der Metaphysik. So gehören auch diese beiden Hauptteile 
der Philosophie zu den Grundlagen der Pädagogik. 
So ist es also die gesamte Philosophie, aus der die 
normative Pädagogik hinsichtlich der Gestaltung der Er- 
ziehungsziele und Ideale, vielfach aber auch zur Abschätzung 
von Erziehungsmitteln und -methoden Klärung und Be- 
lehrung gewinnen muß. Auch ob gewisse Gestaltungen 
der Erziehungsideale mit wissenschaftlicher Sicherheit als 
gültig dargetan werden können, oder ob hier alles schließ- 
lich auf persönliche Stellungnahme ankommt — selbst 
diese Erage, muß in der Werttheorie zur Beantwortung 
kommen. 
Wenn sich auch die Pädagogik von der Philosophie als 
selbständige Wissenschaft und Kunstlehre abgelöst hat, 
so wird sie nur gedeihen können, wenn sie sich bewußt 
bleibt, daß ihr normativer Teil wesentlich angewandte Philo- 
sophie ist. 
Aus der neueren Literatur sei genannt: 
P. Barth: Die Elemente der Erziehungs- und Unterrichtslehre, 1906. 
4. Aufl. 1912. 
P. Bergemann: Soziale Pädagogik auf erfahrungswissenschaftlicher 
Grundlage, 1900. 
J. Cohn: Geist der Erziehung. Pädagogik auf philosophischer Grund- 
lage*, 1919. 
W. Dilthey: Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen 
Wissenschaft. Sitzungsberichte der Preuß. Akademie d. Wissenschaf- 
ten, 1888. 
424 
§ 35. Die Bedeutung der Philosophie für die Pädagogik. 
A. Döring: System der Pädagogik im Umriß, 1894. 
M. Frischeisen-Köhler: Philosophie und Pädagogik*. Kant- Studien . 
Bd. 22 (1918) S. 27—80. 
M. Guyau: Erziehung und Vererbung. Deutsch, 1913. 
K. Hönigswald: Über die Grundlagen der Pädagogik, 1918. 
■J . Kretzschmar: Entwicklungspsychologie und Erziehungswissen- 
schaft, 1912. 
A. Messer, Weltanschauung und Erziehung. 1921. 
H. Münsterberg: Psychotechnik, 1914. 
P. Natorp: Sozialpädagogik, 1899, 4. Aufl. 1920. 
Fr. Paulsen: Pädagogik, 1911. 
W. Rein: Pädagogik in systematischer Darstellung, 2 Bde, 1911. 
H. Schmidkunz: Logik und Pädagogik, 1920. 
A. Stadler: Philosophische Pädagogik, 1911. 
O. Willmann: Didaktik als Bildungslehre 1882, 4. Aufl. 1909. 
425 
1. NAMENREGISTER. 
Aars 356. 
Ach 380. 
Adamson 64. 
Adickes 406. 
Aenesidemus 166. 
Agnostiker 195. 
Agrippa 166. 
d'Alembert 16, 170, 177. 
Alengry 133. 
Allen, Grant 116. 
Anaxagoras 120, 206, 
233, 315. 
Anaximenes 206. 
Angell 88. 
Anselm v. Canterbury 
120, 310. 
Aristipp 154, 407. 
Aristoteles 8, 14f., 22ff., 
37, 51ff.,54, 67, 76ff., 
89f., 94, 100, 104, 109, 
118f., 152, 163, 182, 
233, 264,268f., 309f., 
315, 372, 381, 389, 
419, 422. 
Aristoxenos 109. 
Arkesilaus 166. 
V. Aster 49. 
Atomiker 66, 206. 
Atwater 239. 
Augustin 119, 126, 284, 
293, 309. 
Avenarius 49, 83, 88, 
172, 188, 200. 
Bacon, F. 9, 15f., 19, 
37, 53, 55, 70, 76, 154, 
171, 382, 399. 
Bacon, R. 67. 
Baeumker 327. 
Baguier 118. 
Bahnsen 287, 313. 
Baldwin 63. 
Barth 117, 133f., 424. 
Batteux 110. 
Batz 287. 
Bauch 139, 199f. 
Baumgarten 89, 108, 
111, 153. 
Bauer 103. 
Baxu- 124. 
Bavink 74. 
Bayle 167. 
Becher 74,243,277,407. 
Bendixen 75, 88, 124. 
Beneke 11, 82, 331,421. 
Benett 290. 
Bentham 375, 399, 407, 
Berg 75. 
Bergbohm 107. 
Bergemann 421, 424. 
Bergmann 118. 
Bergson 188, 199, 297. 
Berkeley 38, 154, 171, 
185, 227, 329. 
Bernheim 129. 
Berolzheimer 107. 
Bierling 107. 
Birch-Reichenwald 356. 
Bodin 127. 
Boex-Borel 208. 
Boileau 110. 
Bois-Reymond, P. du 
75, 219, 283. 
Bolzano 57. 
Bon 49. 
Bonnct 81 f. 
Boole 60. 
Börner 103. 
Bosanquet 63, 119, 148. j 
Bossuet 127. ] 
Boutroux 124, 136, 176. 
Boveri 277. 
Bowring 399. 
Boyce-Gibson 63. 
Bradley 63, 182, 199. 
Brahn 211. 
Bräunig 277. 
Bray 118. 
Brentano 56, 83, 96. 
356. 
Briegleb 3, 63. 
Brill 75. 
Broad 199. 
Bruno 70, 223, 321. 
Bninschvicg 136. 
Buchenau 23, 160. 
Büchner 212 ff. 
Buckle 319. 
Bühler 88. 
Bvu-ckhardt 380. 
Busse 241, 243. 
Butler 95, 349. 
Bütschli 277 f. 
Caird 124. 
Calkins 149. 
Cartesius s. Descartes. 
Carus 171. 
Gasmann 76. 
Cassirer 51, 108, 199. 
Cathrein 103, 371. 
Cellarier 36. 
Charron 94, 167. 
Chrysippos 52. 
Öicero 8, 90, 104. 
Clarke 373. 
Claß 407. 
426 
/. Namenregister. 
Cohen 40, 42, 50, 64, 
103, 114, 118, 132, 
159, 172, 187, 371. 
Cohn 49, 114, 118, 130, 
132,371,407,422,424. 
Comenius 420. 
Comte 27, 86, 115, 130, 
170f., 176, 382, 399. 
Condillac 155. 
Condorcet 130. 
Cornelius 2, 188, 199. 
Coßmann 266, 277. 
Cotlarciuc 344. 
Couailhac 306. 
Couturat 136. 
Ci-oce 118. 
Crousaz 281. 
Crusius 310. 
Cudworth 95, 349, 373. 
Cumberland 375, 382, 
399. 
Cusanus 67. 
Daniels 327. 
Darwin 267f., 278, 351. 
Delvaille 134. 
Demokrit 67, 90, 152, 
182, 210, 263, 389. 
üennert 74. 
Descartes 9 f., 15, 19, 
23, 53, 55, 70, 76f., 
152, 175, 202, 206, 
229, 232, 235, 274, 
309ff., 312, 329, 339, 
373, 382. 
Dessoir 89, 118. 
Deußen 35, 113. 
Dewey 103, 168. 
Dieterich 35. 
Dilles 199. 
Dilthey 35, 110, 139, 
421, 424. 
Dingler 74. 
Dittrieh 136. 
Döring 12f., 102, 291, 
420, 425. 
Dorner 2, 124. 
Dougall 131. 
Drews 262, 327, 344. 
Dreyer 50. 
Driesch 36, 50, 64, 75, 
173, 243, 260, 267, 
274, 277, 306, 407. 
Drobisch 55, 306. 
Dubos 110. 
Dühring23,76,172,203. 
Dürr, E. 50, 103, 176, 
243, 257, 400. 
Dürr, M. 88. 
Dumesnil 149, 232. 
Duns Scotus 293, 340. 
Dyroff 63, 88. 
Ebbinghaiis 89, 139, 345. 
Eckhart 121. 
V. Ehrenfels 75, 102. 
Eibl 134. 
Einstein 75. 
Eisler 6, 133, 149, 177, 
262, 277. 
Eleaten 32, 152, 182, 
202, 283, 321. 
Ellisen 222. 
Elsenhans 79, 89, 345, 
356. 
Empedokles 206. 
Enriques 75. 
Epikur 9, 67. 
Epikureer 8, 14, 92, 154, 
157, 162, 182, 186, 
210, 292, 372, 381. 
Erdmann 64, 195, 262. 
Erhardt 1. 
Ersch 13. 
Eucken 111, 124, 139, 
149, 407. 
Fechner 29, 80 f., 87, 
lOlff., 105, 114ff., 
116, 154, 173. 181, 
205, 246f., 252, 275, 
323f. 
Federn 118. 
Fester 134. 
Feuerbach 122, 325 f.. 
375. 
Fichte, J. G. 10, 26, 3(5. 
41, 168, 173, 187,204. 
247, 318, 349, 374. 
382, 421. 
Fichte, I. H. 309. 
Fick 42. 
Fite 385. 
Flint 21, 134, 174, 176. 
Flügel 125, 149, 344. 
357. 
Fonsegrive 306. 
Förster 107. 
Fouille 133, 148, 170. 
344. 
Fowler 63. 
Fräser 37f., 327. 
Frey tag 199. 
Fries 75. 
Frischeisen-Köhler 109, 
139, 199, 425. 
Fröbes 89. 
Fulci 103. 
Fullerton 6. 
Galenus 80. 
Galilei 67 ff., 84. 
Gallinger 360. 
Galloway 124. 
Gehrich 124. 
Geulincx 234. 
Geyer 107. 
Geyser 50, 63, 74. 89. 
327, 343. 
Gibson 64. 
Giddings 133. 
V. Gizycki 399. 
Gnostiker 284. 
Goclenius 76. 
Goedeckenmeyer 176. 
Göring 161, 158f. 
Görland 64, 132, 182. 
Göschel 243. 
427 
/. Namenregister. 
Goethe 109. 
Goldfriedrich 134. 
Goldstein 208. 
Gomperz, H. 137, 307, 
407. 
Gomperz, Th. 55. 
Gorgias 165. 
Green 38. 
Grelling 75. 
Griesebach 36. 
(^roos 116, 118, 139. 
Grose 38. 
Große 117. 
Grotenfelt 134. 
Grotiiis 105. 
Gniber 13, 176. 
Grunwald 327. 
Gumplowicz 108, 133. 
Giosti 385. 
Gutberiet 74, 307, 344. 
Guyau 118, 421, 425. 
Habrich 89. 
Haeckel 213, 321. 
Haering 102. 
Hagemann 63, 88. 
Hamann 313. 
Hamilton 55. 
Hammacher 132. 
Hanne 124. 
Hartley 81 f. 
V. Hartmann 24, 29, 35, 
50, 75, 103, 114, 118, 
128, 196, 199, 277, 
287, 289f., 321. 382, 
399, 407. 
Hartmann, N. 277. 
Hastings 125. 
Haym 13. 
Hegel 10, 18f., 23f., 26, 
32, 33f.,41, 55f., 71, 
114, 122, 127, 173, 
176, 187, 200, 204f., 
243, 247f., 285, 288, 
311, 321, 351, 374, 
382, 396, 421. 
428 
Hegesias 283. 
Heiler 123, 125, 327. 
Heim 48, 124. 
Heinze 13. 
Helmholtz 42. 
Helvetius 97, 350. 
Heraklit 90, 206. 
Herbart If., 11, 13, 19, 
24, 26, 41, 55, 82, 89, 
96, 102f., 115, 146, 
148, 173, 200, 208, 
224f., 267, 309f., 315, 
330, 332, 339, 349. 
375, 382, 421. 
Herbert v. Cherbury 
121, 202, 318. 
Herbertz 46, 50f., 176. 
Herder 127, 131, 285. 
Herodot 7. 
V. Hertling 107, 327. 
Hertwig 277. 
Heyde 102. 
Heydenreich 3. 
Heymans, 36, 42, 50, 
103, 243f., 249, 255, 
262, 305, 371. 
Hildenbrand 108. 
Hinneberg 74, 139. 
Hirn 117. 
Hirsehberg 16. 
Hirth 116. 
Hocking 327. 
Hobbes 9, 15, 19, 53, 
62f., 70, 105, 154, 
210, 263, 294, 346f., 
373, 382, 399. 
Hobhouse 50, 277, 357. 
Hodgson 35. 
Hofmami 35. 
Hoff ding 88, 124. 
Höfler 57. 
Hönigswald 50, 176, 425. 
V. Holbach 70. 97, 211. 
263, 292. 
Holt 199. 
V. Holtzendorff 107. 
Home llOf. 
Hontheim 60. 
Hooke 211. 
Hörn 236. 
Horneffer 36. 
de Huarte 15. 
Hume 11, 27, 38f., 42. 
57, 83, 98, 121, 154, 
164, 168, 171, 173, 
186, 228, 236, 242. 
294, 310, 330f., 375. 
382. 
Husserl 48ff., 57, 96, 
116, 354f. 
Hutcheson 97. HO, 374. 
382, 400. 
Huxley 27. 
Ibn Ivhaldun 127. 
V. Ihering 107. 
Imelmann 64. 
Indische Philosophie 
283, 285. 
Jakob 122. 
Jakobi 125. 
Jacoby 199. 
James 88 f., 124, 168, 
176, 208, 345. 
Jaspers 31, 35, 149. 
Jensen 277. 
Jerusalem 6, 176. 
Jevons 60, 63. 
Jodl 89, 104, 199. 345. 
Joel 307, 327. 
Jonische Naturphilo- 
sophen 22, 65. 
Kafka 344. 
Kant 3. 10, 17ff., 24ff.. 
32, 34, 36, 39ff., 42f.. 
45, 54f., 61, 70, 74, 
86, 89, 95, 98, 100, 
105, 112ff., 121, 124, 
136, 148, ISlff., 154f., 
/. Namenregister. 
161, 166, 173, 192ff., 
196, 213, 225, 236, 
265f., 268, 282, 291f., 
295, 302, 307 ff., 
314ff., 327, 330f., 
340, 349f., 3o8ff., 
360ff., 363, 365, 374, 
382, 395f., 407, 421. 
Kameade.s 166. 
Kästner 327. 
Katscher 357. 
Kauf f mann 172, 187. 
Kepler 67f. 
Kerler 407. 
Keyserling 32, 75. 
V. Kirchmann 346. 
Kirchner-Michaelis 149. 
Klein 243. 
Kleinpeter 63, 75. 
Klemm 89. 
Kleuker 345. 
Klimke 262. 
Knight 119. 
König 277. 
Koestlin 115, 118. 
Kohler 107. 
Kopemikus 67, 179. 
Koppelmann 64, 103, 
361. 
Kowalewski 291. 
Kraft 199. 
Krause 323, 382, 421. 
Ivreibig 102. 
Kremer 291. 
Ivretzschmar 421. 425. 
V. Kries 50, 64. 
Kroman 75. 
Kronenberg 200. 
Kroner 277. 
Kuhlenbeck 321. 
Kulke 118. 
Külpe 87, 169, 173, 178, 
198f., 213. 
Kuntze 199. 
Kyniker 398. 
Kyrenaiker 154, 283, 
381, 388. 
Laas 172, 176. 
Ladd 42, 50, 88f., 124, 
174, 199, 345. 
La Mettrie 211 f. 
Lang 277. 
Lange, F. A. 28, 149, 
209, 221, 260f. 
Lange, K. 118. 
Lask 139. 
Lasson 127. 
Laßwitz 76, 157, 172, 
249. 
Laue 75. 
Legahn 221. 
Leibniz 23, 33, 39, 70, 
78ff., 120, 124, 146, 
149f., 152, 202. 206, 
222ff., 229, 261, 264, 
268, 281 ff., 294, 
309ff., 315, 329, 349, 
382, 394. 
Lempp 291. 
Lessing 15, 127, 285. 
Leukippos 210, 263. 
Lewes 171. 
Liard 64, 176. 
Liebert 133, 176. 
Liebmann 149, 157, 174 
316. 
Lindau 291. 
Lindemann 75. 
Lindner 133. 
Lindsay 327. 
Linke 50. 
Lipps, G. F. 50, 307. 
Lipps, Th. 11, 38, 42, 
82, 85, 103, 116, 118, 
139, 334, 361ff., 395f. 
Lipsius 75, 199. 
Littre 171. 
Locke 37ff., 42, 49, 70, 
78f., 81, 83, 85f., 96,' 
110, 154, 164, 171, 
173, 319, 329. 350f . 
375, 399. 
Longin HO. 
Lorentz 75. 
Losskij 6, 345. 
Lotze 34f., 50, 64, 81. 
119, 133, 145f., 148,' 
225, 242, 248, 265, 
267f., 295, 309ff.. 
330, 382. 
Lucrez 210. 
Luther 94. 
Mach 42. 50, 76,83, 188, 
195. 
Mack 307. 
Mackenzie 103. 
Maier 64, 395. 
Maine de Biran 224,232. 
Mainländer 287. 
> Malebranche 175, 235. 
. Marietan 21. 
- Marshall, H. R. 118. 
Marshall, X. H. 125. 
Marty 137. 
Marvin 199. 
Marx 128, 133. 
Mauge 160. 
Mauthner 137. 
Mc Connel 385. 
Mc Dougall 131, 243. 
Medicus 118. 
Mehlis 133. 
Meinong 64, 102. 160. 
Melanchthon 52, 76, 94. 
Melissos 203. 
Mendelssohn 112. 
Mercier 89. 
Merkel 107. 
Messer 50f., 88, 96, 103, 
124, 138f., 161, 199f.' 
291, 307, 357, 371, 
406, 425. 
Mevunann 116, 119, 345. 
Meyerson 75. 
Michaelis 149. 
429 
/. Namenregister. 
Mill 42, 55, 155, 171, 
181,195,375,399,407. 
Minkowski 76. 
Mirabaud 70. 
Misch 64. 
Moleschott 212, 215f. 
Montague 199. 
Montaigne 167. 
Montesquieu 127. 
Moos 116, 118. 
Müffelmann 307. 
Müller 60. 
Müller-Freienfels 116, 
119. 
Müller-Lyer 133. 
Münch 139, 176. 
Münsterberg 87, 102, 
345, 422, 425. 
Muirhead 103. 
Myers 88. 
Natorp 40, 75, 88, 172, 
187, 421, 425. 
Nelson 50, 104, 107. 
Neukantianer 26 f., 40, 
172, 187. 
Neumeister 274f., 277. 
Neuplatoniker 9, 182, 
202, 222, 283. 
Newton 32, 68, 269, 
316. 
Nietzsche 289 f., 355, 
361, 398. 
Occam 62. 
Oelzelt-Newin 291. 
Oesterreich 123 f., 345. 
Offner 307. 
Oken 71. 
Orestano 102. 
Ostwald 42, 74, 139, 
217. 
Otto 123, 327. 
Parmenides 152, 203. 
Parodi 103. 
430 
Paulsen 2, 11, 103, 139, 
205, 331ff., 335, 340f., 
397, 309, 425. 
Pauly 268, 274, 277. 
Peano 60. 
Pearson 75. 
Peirce 63. 
Perry 50, 199. 
Pesch 74, 107. 
Pestalozzi 42. 
Petersen 307. 
Petzoldt 88, 199. 
Pfänder 88. 
Pfister 307. 
Pfleiderer, E. 407. 
Pfleiderer, O. 124f. 
V. d. Pfordten 75. 
Pierce 60. 
Pitkin 199. 
Platner 80. 
Piaton 8, 13 f., 16, 22, 
37, 44, 51, 67, 76, 91, 
lOB, 109, 120, 135, 
152, 163, 182, 202, 
205, 222f., 233, 264, 
283, 309f., 314f., 
372, 381, 390, 419, 
422. 
Plotin 109f., 202. 
Plümacher 291. 
Poincare 75. 
Pollack 54. 
Port-Royal 53. 
Prantl 64. 
Pratt 176. 
Priestley 81, 294. 
Prinn 118. 
Protagoras 153, 165, 
177. 
Ptolemäus 249. 
Pünjer 124f. 
Pyrrhon 165. 
Pythagoras 135. 
Pythagoreer 90. 
Ouintilian 109, 420. 
Radbruch 107. 
Ramus 52. 
Rasius 361. 
Rathenau 407. 
Rauwenhoff 124. 
Ravaisson 232. 
Raymund v. Sabundo 
119. 
Read 74. 
Rehmke 10, 43, 50, 64, 
88, 188, 345. 
V. Reichlin-Meldegg 3. 
Reid 95. 
Reimarus 319. 
Rein 422, 425. 
Reinach 107. 
Reinhold, C. L. 3, 167. 
Reinhold, E. 36. 
Reininger 51, 85, 88. 
Reinke 74. 
Renouvier 21, 174. 
Richter 124, 163, 176, 
186. 
Rickert 13, 42, 44, 134f., 
139, 199. 
Riehl 13, 42, 50, 139, 
158, 172. 
Ritter 124. 
Rocholl 127. 
Rogers 104. 
V. Rohland 307. 
Rousseau 105, 398, 421. 
Royce 174, 200, 328. 
Royer-Collard 206, 233. 
Roux 277. 
Rimze 328. 
Russell 60. 
Sabatier 124. 
Salomon 108. 
Saint-Simon 130f., 170. 
Schasler 119. 
Scheler 96, 104, 291, 
357. 
Schelling 1, 26, 32, 33, 
41, 70f., 113, 157, 
7. Namenregister. 
173, 187, 204, 247f., 
266, 295, 351, 421. 
Schiller, F. 89, 113, 157, 
291f., 421. 
Schiller,F. CS. 168,177. 
Schinz, A. 177. 
Schinz, M. 124, 177. 
Schleiermacher 22, 122, 
349, 382, 421. 
Schlesinger 404. 
Schlick 50, 75, 177, 197, 
200, 262. 
Schmidkiinz 425. 
Schmidt, F. 200. 
Schmidt, H. 200. 
Schmidt, J., 76. 
Schmitt 179. 
Schmitz-Dumont 74. 
Schnehen 29. 
Schneider 277. 
Schneider, Sascha 161. 
Scholastik 21f., 32, 34, 
46f., 52, 120f., 260, 
293f., 372. 
Scholz 124, 133, 145. 
Schopenhauer 23f., 26, 
35, 41, 96, 113f., 157, 
173, 200, 206, 226, 
281, 285, 289, 295, 
321, 340, 343, 349, 
375, 382. 
Schottische Schule 95, 
349. 
Schroeder, E, 60, 
V. Schröder, L. 125. 
V. Schubert - Soldern 
186. 
Schultz 277. 
Schultze 74. 
Schulze 167. 
Schuppe 42, 50, 64, 
172, 187. 
Schwartzkopf 27. 
Schwarz 104, 200, 222, 
328. 
Selbie 125. 
Seliger 133. 
Seneca 64, 89. 
Sextus Empiricus 166. 
Seydel, M. 210. 
Seydel, R., 125. 
Shaftesbury 97, 110, 
374, 382, 390. 
Sharp 404. 
Shearman 60. 
Sidgwick 104, 400. 
Sieiaeck 89, 125. 
Siegel 76, 136. 
Sigwart 64, 129, 266, 
278, 407. 
Simmel 36, 104, 130, 
133, 361. 
Smith 98, 375, 382. 
Sokrates 8, 90, 152, 164, 
345, 372, 381, 419. 
Sombart 133. 
Sommer 89. 
Sophisten 8, 90, 154, 
165. 
Sorley 64. 
Spaulding 199. 
Spencer 27, 97, 104, 130, 
148, 171, 195, 247, 
352, 355, 382, 407, 
421. 
Spengler 133. 
Spinoza 23, 70, 97, 99, 
124, 145f., 148, 152, 
163, 202, 206, 223, 
235, 246f., 249, 251f., 
261, 263, 293, 321, 
339, 349, 374f., 382. 
Spiritualistische Schule 
231. 
Squillace 133. 
Stadler 278, 425. 
Stahl 108. 
Stählin 123. 
Stammler 108. 
Stange 103. 
Steffens 71. 
V. Stein, H. 119. 
Stein, L. 133. 
Stephen 406. 
Stern 36, 88, 200, 278, 
371. 
Sternberg 133. 
Stöhr 278. 
Stölzle 344. 
Störring 200, 357, 371. 
Stoiker 8f., 14, 52, 92, 
154, 182, 210, 283, 
372, 398f. 
Stout 88f. 
Strecker 278. 
Strich 88. 
Streng 255, 262. 
Strümpell 3. 
Struve 4. 
Stumpf 21, 260, 343, 
345. 
Suabedissen 1. 
Sulzer 112. 
Taine 115, 117. 
Telesius 67. 
Tetens 82, 112, 294. 
Thaies 206. 
Thiele 125f., 215. 
Thieme 380. 
Thilly 103. 
Thomas v. Aquino 77, 
89,2a3,309f.,340,373. 
Thukydides 7. 
Tiele 124f., 215. 
Timon 166. 
Tindal 121, 317. 
Titchener 88. 
Tönnies 133, 339. 
Toland 121, 210, 319. 
Traeger 307. 
Traub 328. 
Trendelenburg 55, 313. 
Tröltsch 42, 139. 
Tufts 103. 
Turgot 130, 170, 177. 
431 
/. Namenregister. 
Uebele 82. 
Ueberweg 11, 13, 64, 
214. 
ülrici 309. 
ünger 133. 
ünold 103, 133, 262. 
ürban 102. 
ITtitz 119. 
Vacherot 232. 
Vaihinger 200. 
Välyi 176. ' 
Varisco 149. 
Varro 119. 
Venn 60. 
Verweyen 307. 
Vetter 130. 
Vico 127. 
Vidari 103. 
Villa 89. 
Vischer 114. 
Vitruv 109. 
Vogt 212f., 215. 
Volkelt 50, 116, 119, 
200, 291. 
Volkmaim, P. 75. 
Volkmann, W. 89, 345. 
Voltaire 125, 127, 319. 
Voß 136. 
de Vries 278. 
Walch 2. 
Wallaschek 108. 
Walter 119. 
Ward, J. 174, 177, 328. 
Ward, L. F. 133. 
Wartenberg 262. 
Wasmann 278. 
Watson 407. 
Weber 75, 87, 127. 
Weber, E. H. 86. 
Weiße 309. 
Weißmann 278. 
Wendland 104. 
Wentscher 104. 
Werner 307. 
Westermarck 357. 
Weygoldt 291. 
Weyl 75. 
Whitehead 60. 
V. Wieser 108. 
Wilbrandt 407. 
Willare th 291. 
Williams 357. 
Willmann 177, 200, 425. 
Windelband 4, 12f., 42, 
139, 149, 157, 307. 
Witasek 88, 119. 
Witte 345. 
Wobbermin 124, 328. 
Wolff, Chr. 10, 16f., 19, 
23, 31, 33, 53f., 65, 
76, 89f., 111, 120, 
152, 243, 373, 394. 
Wolff, G. 274, 278. 
Wolff, N. C. 104. 
WoUaston 361. 
Woodworth 89. 
Wundt, M. 104, 380. 
Wundt,W. 4, 11, 19, 21. 
29, 34f., 42, 50, 64, 
75, 81, 87f., 97, 104, 
108, 125, 129, 133, 
136, 139, 200, 226, 
246, 331, 333, 338, 
340, 343, 845, 352f., 
382, 396f. 
Xenophanes 203, 205. 
X6nopol 134. 
Zenon (Eleate) 203. 
Zenon (Stoiker) 52. 
Ziegler 104. 
Ziehen 51. 
Ziertmann 97. 
Zimmermann 115, 118. 
432 
II. SACHREGISTER. 
(Die wichtigeren Stellen sind durch Kursivschrift bervorcehoben.) 
Abhängigkeit 37, 84f., 191, 197f., 
215, 219f. 
Absolut 10, 18, 27, 122, 171, 187, 
191, 200, 247f., 386f., 390, 396. 
Achtung 360, 393. 
Actus 233. 
Adiaphora {äSidcpoQa) 92. 
Agnostizismus 27, 171, 174, 176, 
195, 247. 
Aktualitätstheorie 144, 52S— 338. 
Allgemeingültig 10, 12, 38, 40f., 
91, 95, 99, 112, 136, 142, 150f., 
157, 159f., 161, 166, 171, 189f., 
319, 338, 350, 359—366. 
Altruismus 148, 352, 380 ff., 394. 
Analytik 51f. 
Analytisch 43, 82, 87, 153, 201, 
204. 
Angeboren 39f., 96, 147, 154, 159, 
348 ff., 353. 
Animismus 170, 244 f. 
Anschauungsformen 154 f. 
Anthropologie 16, 76, 122. 
Apathie 92, 372. 
A posteriori 10, 17, 46. 120, 155, 
161. 
Apperzeption 223, 298, 335. 
A priori, Apriorismxis 10, 17, 26, 
39f., 63, 70. 94f., 120, 147, lölf., 
155f., 168, 194, 289, 348ff., 356, 
372, 415ff. 
Äquativ 209, 214. 
Äquivalenzprinzip 240. 
Assoziation 80. 
Assoziativer Faktor 115. 
Ästhetik 2, 11 f., 19f., 55, 99, 103, 
107ff., Uli., 245, 392, 417. 
Ataraxie (arapalm) 92, 166. 
Külpe, Philosophie. 10. Aufl. 
Atheismus 144, 308, 324 f. 
Atomismus 66, 73, 152, 206, 210, 
263. 
Attribut 29, 215, 246. 
Aui3enwelt 24, 142, 179—182, 228, 
234, 326, 410. 
Äußere Erfahrung, Wahrnehmung 
38, 78, 84, 151, 154, 193, 253, 
255, 276. 
Automatentheorie 260. 
Autonomie 147, 257, 347ff., 361, 
398f. 
Axiologie 101. 
Axiom 3f., 15, 37f., 43f., 82, 95, 
204, 349. 
Begehrungsvermögenie, 112, 340ff. 
Begriff 7, 14, 41ff., 51ff., 58ff., 
61f., 90f., 153f., 188f., 310ff., 
314. 
Begriffstheorie 63. 
Beweise für das Dasein Gottes 25, 
120f., 309ff., 326, 368. 
Bewußtsein 9, 36, 43 ff., 60, 78 ff., 
86, 104, 141, 155, 177ff., 215f., 
228ff., 254f., 267, 273f., 299, 
323ff., 329f., 333, 336ff. 
Causa finalis 205. 
Causa sui 315. 
Christentum 93f., 120ff., 284f., 
293f., 374f., 390. 
Dedulvtion, deduktiv 16, 51f., 56, 
72, 163, 204. 
Definition 7, 51, 394, 409ff., 414f. 
Deismus 144, 202, 307 ff., 318 ff. 
Denken 44ff., 54ff., 58, 61 f., 77 f., 
28 
433 
//. Sachregister. 
100. 145, 150f., 153, 159, 163, 
165, 189jf., 197, 203, 206, 235, 
246, 305, 310f., 312f., 329f., 
332. 340, 367f. 
Deskriptiv 83, 86. 
Deszendenzlehro 73, 267. , v 
Determinismus 144, 291—307. 
Dialektik 14, 23, 38, 52. 
Dialektisch 18, 23, 55, 122, 204, 
247, 367, 396. 
Ding an sich 24 ff., 32, 179, 189 f.. 
193f., 213, 226, 228, 295f., 340f. 
Direkter Faktor 115. 
Disposition 159. 
Dogmatisch, Dogmatismus 26, 38, 
69, 92, 141, 144, 162ff., 194f£., 
213f. 
Dualismus 77, 80, 142, 205, 208f., 
213, 217, 230, 233—243, 249, 
262, 277, 309, 328, 333. 
Dynamisch 71, 227, 230, 335. 
Egoismus 147, 353, 380 ff., 391 ff. 
Einfühlung 97, 117, 245. 
Einlieitsbedürfnis 207, 235, 241. 
Einteilung 13, 51. 
Einzelwissenschaft lOff., 15ff., 22. 
28, 32f., 73, 89, 169, 177f., 204, 
231f., 242, 341, 408—442. 
Elementarlehre 54 f., 58. 
Emanation 222. 
Empiriokritismus 172, 188. 
Empirisch, Empirismus 10, 17, 40, 
66, 70, 78f., 94 ff., 114f., 123, 
125f., 142, 150, 152—155, 164, 
188, 191f., 194, 228, 279, 281, 
284, 288, 314, 348ff., 373. 
Energie 47f., 73f., 192, 206, 216ff., 
238ff., 254, 271, 305. 
Energismus 397, 405. 
Entelechie 77, 233, 268. 
Entwicklung 71, 127f., 147, 266, 
272, 314, 341, 345f., 394ff. 
Erfahrung 10 f., 26 ff., 32 ff., 39, 
43f., 46f., 62, 67, 69f., 78f., 
84ff., 94ff., Uli., 149ff., 159. 
161f., 177, 193, 220, 225, 242. 
248, 255f., 321, 331ff., 341ff., 
348ff., 373. 
Erhaben 109, 113. 
Erkenntnislehre 19, 36, 50. 
Erkenntnistheorie 8, 11, 14, 16. 
20, 24, 28, 36—51, 58, 65, 72ff.. 
89, 102, 119, 121, 129, 131f. 
137, 142f., 149—198, 214, 221, 
228, 241, 247, 262, 265f., 330. 
348f., 353, 408, 415f. 
Erkenntnisvermögen 15, 26f., 36, 
43, 69, 111, 154, 162f., 171f.. 
339. 
Erlebnis 35, 43, 85, 190f., 220. 224. 
335. 
Erscheinung 14, 24, 28ff., 40, 49. 
62, 79, 116, 143, 156, 177 ff., 
194 ff., 226, 228, 254f., 276, 295. 
336. 
Erste Philosophie 8, 15f., 22f., 37. 
Erziehung 138, 420 ff. 
Esoterisch 92. 
Essenz (essentia) 193. 
Ethik 14f., 19f., 89—103, 119ff.. 
132, 138, 142, 146ff., 152, 162, 
173, 293 ü., 345—407. 
Ethisch 89ff., 146ff., 294f., 308. 
345ff. 
Eudämonismus 148, 388ff., 397ff. 
Euklidische Geometrie 72. 
Evidenz 167, 255, 356. 
Evolutionismus 98f., 147, 285, 
348ff., 354, 394f. 
Exoterisch 92. 
Fatalismus 292f.. 299. 306. 
Fetischismus 308. 
Finalität 143, 263ff. 
Form 36, 40, 54, 57, 68, 96, 112 ff., 
120, 155. 233, 270, 295, 409. 
Formal, Formalismus 36, 51f., 
54ff., 63, 73, 106, 113ff., 135. 
140, 147, 155, 192. 262. 357ff., 
404. 
434 
//. Sachregister. 
Formalwissenschaft 135, 155, 159, 
312, 366. 
Formästhotik 113ff. 
Freiheit 26, 48, 68, 94, 96, 106, 
127, 129, 144, 263, 291—306, 
346, 393, 398. 
Gefühlsmoral 147, 371—378. 
Gefühlsvermögen 110, 339. 
Gegenstand 62ff., 189, 197, 337. 
Gegenstandsbestimratheiten 197. 
Gegenstandstheorie 47, 62, 415. 
Gehaltsästhetik 114, 117. 
Geist 18 f., 65, 69, 76 f., 82, 120, 
132, 150, 153, 205, 209, 228f., 
243f., 321. 
Geisteswissenschaften 24, 31, 42, 
177, 187, 198, 414f. 
Geometrien 72. 
Geschichtswissenschaft 15, 42, 125 
—133. 
Geschichtsphilosophie 20, " 125ff. 
Gewissen 100, 345ff., 393ff., 399. 
Gewißheit 37, 46, 152f., 163, 166, 
169, 172, 185, 188ff. 
Glauben und Wissen 9f. 
Glückseligkeit 11, 92 f., 97, 148, 
283, 373, 387 ff. 
Gott 15, 25f., 93ff., 119ff., 144, 
154, 201f., 208, 212, 222f., 
234f., 246ff., 281, 287f., 291, 
293, 307ff., 346, 387f. 
Gottesbeweise 308—316. 
Grund 14, 23, 152. 
Gültig 100, 117, 142, 161, 280, 290, 
348, 354. 
Güterlehre 12, 401ff., 408. 
Gut (Adj.) 92f., 99 f., 120, 144, 
278ff., 299ff., 345ff., 396. 
Gut (Subst.) 29, 92ff., 100, 147, 
209, 279ff., 317, 369, 379, 395ff. 
Gut (höchstes) 99, 385, 404f. 
Hedonismus 148, 388ff. 
Heterogonie (d. Zwecke) 352. 
Heteronomie 147, 345ff. 
Humanismus 94. 
Hylozoismus 244. 
Hypothetischer Imperativ 358. 
Ich 85, 154, 177ff., 187, 228, 247, 
330, 343f. 
Ideal 44, 62, 90, 99, 191, 354. 
Idealismus 113, 151, 185 ff., 200, 
205, 222, 227, 232, 251, 255. 
Idealwissenschaft 135, 155, 177 f., 
186, 205. 
Idee 13, 17, 40f., 55, 67, 91, 94f., 
106, 109, 116f., 120, 126, 135, 
150f., 159, 187, 222, 233, 264, 
349, 375, 387. 
Identitätsleloi-e 2, 41, 187, 204, 244, 
247. 
Immanent 34, 40, 46, 111, 171, 
187f., 308, 385f., 405. 
Immanente Philosophie 171, 187 f. 
Immateriell 229. 
Iramaterialismus 227. 
Impersonalismus 403ff. 
Indeterminismus 94, 14^^,291—306. 
Individvialismus 129, 140, 147, 353, 
380—385, 391, 395 f. 
Induktion, induktiv 16, 28, 52ff., 
56, 59, 72, 114, 173/., 415f. 
Inhaltslogik 61. 
Innere Erfalirung, Wahrnehmung 
11, 38, 78, 84, 86, 154f., 194, 
228, 256f., 276, 298, 338, 408. 
Intellektualismus : 
psycholog. 144f., 321, 328 ff. 
ethisch. 339—344, 372. 
Intellektuelle Anschauung 155,194, 
266. 
Intuitionismus, Intuition, intuitiv 
87, 95, 143f., 161f., 297, 348f. 
Ipsismus 380 f. 
Irrationalismus 161. 
Kategorie 17, 40, 43f., 51, 155f., 
197, 296, 415. 
Kategorischer Imperativ 95, 295, 
358ff., 365. 
28* 
435 
//. Sachregister. 
Kavisalität 23, 27, 36f., 46f., 93, 
105, 126, 129, 143, 153ff., 186, 
194, 197, 201/., 216f., 235ff., 
239, 263 ff., 291ff., 314 ff., 333. 
Konstanzprinzip 240. 
Konszientialismus 176f., 185ff., 
198, 228, 325, 329ff. 
Kopernikanische Wendung 197. 
Körper 70, 78, 85f., 179, 185, 208ff., 
228, 233f., 237f., 257ff. 
Kosmologie 16, 24, 66, 77, 307, 
314f., 415f. 
löaft 37, 70, 170, 186, 206, 212, 
220, 230, 236, 245. 
Kritik 17, 49, 59, 74, 163, 172ff., 
412. 
Kritizismiis 64, 142, 155—160, 164, 
169, 172—176. 
Kulturphilosophie 416, 423. 
Kunst 8, 14, 45, 108ff., 137. 
Kunstlehi-e 59, 108, 118. 
Leben 29, 47, 72, 76, 95, 216, 219 f., 
266ff., 316, 326, 352. 
Lebensgeister 80. 
Logik, logisch lOff., 17ff., 23, 30, 
36, 40ff., 44f., 51ff., 73, 102, 
106, 125, 128f., 135f., 138ff., 
158, 162, 177, 203, 303, 309ff., 
320, 360, 366, 408, 415f., 424. 
Material, stofflich 37f., 43, 47,72f., 
106, 135, 147, 357 ff., 400, 404f., 
416. 
Materialismus 41, 70, 81, 128, 140, 
143, 164, 206, 208—222, 235, 
244ff., 252, 308, 324f., 333, 350, 
373, 388, 419. 
Materie 23f., 41, 67, 69f., 90, 143, 
151, 187, 190f., 208, 220ff., 229, 
231, 254, 329. 
Mathematik 14, 17, 19, 40, 55, 
57ff., 68, 82, 119, 134 ff., 150ff., 
155ff., 160, 169, 177, 204, 312, 
414. 
Mechanisch, Mechanismus 67, 69, 
77, 142, 144, 211, 219. 237, 244, 
263ff., 292f., 326. 
Metaphysik, metaphysisch 8 ff., 
13ff., 16ff., 19, 22—36, 47f., 
54f., 64, 73f., 77, 79, 81f., 86ff., 
94, 99ff., 114, 132, 143 ff., 170ff., 
185, 190, 198ff., 276, 296f., 327, 
410f., 414ff. 
Methode 4, 16, 35, 53ff., 73, 86. 
106, 116f., 126f., 137, 157, 168ff., 
204, 409, 415. 
Methodenlehre 54, 58, 170. 
Modus 38, 246f., 339. 
MögUchkeit 67, 194, 303f., 310f. 
Monade 23, 223f., 261, 284, 329, 
339, 394. 
Monismvis 81, 143ff., 187, 206, 
213ff., 227, 243—262, 308, 320, 
332. 
Monotheismus 308. 
Moralphilosophie 89. 
Motiv 89, 99, 147, 293, 298ff., 342, 
352f., 371, 377ff. 
Mystik 5, 121. 
Nationalökonomie 407. 
Nativismus 348 f. 
Naturalismus 148, 320, 398f. 
Naturphilosophie 12, 14, 18ff., 24, 
31, 47, 64ff., 88, 131, 138f., 
413f. 
Naturrecht 104f., 106. 
Naturwissenschaft 11, 14, 24, 30, 
36, 42, 44, 53, 65ff., 78, 84, 88, 
101, 132, 156, 164, 177, 185, 
192, 196, 221f., 226ff., 231, 235, 
242, 249, 251, 255, 413ff. 
Nominalismus 51. 
Norm 12, 57, 95, 102, 118, 346f., 
354ff., 398f. 
Normativ 54, 59, 102 f., 118, 346f.. 
354. 
Notwendig 40f., 64, 129, 135. 
150ff., 156, 160f., 186, 194, 
295ff., 303f., 312. 
Noumenon 194. 
436 
//. Sachregister. 
Objekt, objektiv, Objektivierung 
37, 44, 61ff., 68, 70f., 85f., 100, 
111, 117, 147, 157, 177, 186f., 
220, 226, 242, 248ff., 278ff., 
310, 360, 379fl., 383f., 394ff. 
Objektivismus 148f., 355, 368, 
394 ff., 403f. 
Objektstheorie 64, 415. 
Okkasionalismus 234. 
Ökonomik 15f., 90, 407. 

ontologie 17, 24, 47, 120, 202, 
310—312, 367, 415. 
Optimismiis 144f., 205, 278—291, 
322 f. 
Organisch, Organismus 72, 130, 
232, 237f., 263—277, 300, 304. 
326, 342, 351, 405. 
Organen 51/. 
Pädagogik 138, 4 19 ff. 
Panentheismus 144, 202, 307f., 
323f. 
Panlogismus 311, 321. 
Pantheismus 144f., 199, 202, 307f., 
320—324. 
Panthelismus 321. 
Paränetisch 92. 
Parallelismus, psychophysischer 43, 
81f., 220, 227, 249f., 256. 
Perfektionismvis 148, 394 ff., 403. 
Perseverationstendenz 338. 
Persönlichkeitskultur 395. 
Perzeption 224. 
Pessimismus 144, 278—291, 322. 
Pflicht 89, 91, 121, 147, 345ff., 
357ff., 389. 
Phänomenal, Phänomenalismus 
18, 24, 34, 62, 117, 143, 167, 
177f., 183, 193—198, 241, 252f., 
325, 330f. 
Phänomenologie, Phänomenolo- 
gisch 18, 48f., 56, 63, 83, 97, 
416. 
Philosophie : 
Aufgabe 73ff., 408—419. 
Begriff 7ff., 408—419. 
Philosophie: 
Disziplinen 20, 22ff., 408ff. 
Einteilung 13ff., 140f., 408ff. 
Geschichte 137. 
Methode 4 f., 409. 
Richtungen 141 ff. 
System 413ff. 
Philosophie des Geistes 18f., 24, 31. 
Philosophie der Geschichte 20, 117, 
126 ff., 408, 415 f. 
Physik 8, 13ff., 19. 65—76, 119, 
162, 170. 207, 269, 415. 
Physiologie 65, 77, 81ff., 237, 267. 
Physisch 70, 79f., 84, 196, 207 ff. 
233ff., 251, 254. 
Pluralismus 143, 201—208. 
Pneumatologie 77. 
Poesie 15, 30, 108. 
Poetische Philosophie 14 f., 108. 
Politik 15, 17, 90. 
Polytheismus 308. 
Positivismus 27, 33 ff., 141, 169 f. 
Postulat der praktischen Vernunft 
26, 173. 
Prästabilierte Harmonie 223, 261, 
285. 
Pragmatismus 65, 125f., 168f. 
Praktische Philosophie 2, 14ff., 96, 
105. 
Primäre, sekundäre Qualitäten 
68f., 84. 
Principium individuationis 47. 
Prinzip 10, 23, 36, 40f., 51, 57, 
67, 71ff., 91, 143, 204, 209, 359, 
362. 
Prinzipienlehre 19. 
Psychisch 29, 42, 75ff., 95, 116, 
155, 206ff., 222ff., 274ff., 328ff. 
Psychismus 227. 
Psychologie, psychologisch 11 ff., 
16, 20, 58f., 76—89, 101, 105. 
116f., 120ff.. 136f., 158, 186. 
224ff., 227 ff., 242, 250ff., 296ff., 
328—344, 376f., 415. 
Psychologie, objektivierende, sub- 
437 
II. Sachregister. 
jektivierende 87, andere Arten 
87f. 
Pßychologismus 39/., 43ff., 58f. 
Psychophysik 79, 235ff., 246. 
Quantifikation des Prädikats 55. 
Rational, Rationalismus 10, 17, 
25ff., 76, 119f., 142, 145, 149ff., 
159, 163, 349f. 
Real, Realität 23f., 34, 43ff., 50, 
62, 68, 85, 91, 136, 141, 151, 
155f., 160f., 178ff., 191, 225, 
227f., 242, 254ff., 276, 303, 
320ff., 333ff., 367. 
Reale 188, 223 ff., 328, 332. 
Realismus 52 (logisch), 142, 144, 
178—184, 228, 247, 255, 311, 
329, 333ff. 
Realwissenschaft 28, 154, 177 f., 
191, 193f., 204, 311, 367. 
Rechtsphilosophie 19f., 89, 104— 
108, 132. 
Rechtswissenschaft 28, 34, 106f., 
304. 
Reflexion 38, 78, 379 f. 
Reflexionsmoral 147f., 371—380. 
Reformation 94. 
Regulatives Prinzip 41, 129, 209, 
265, 315. 
Rein 40, 63. 
Relation 38. 
Relativ 38, 110, 141, 164, 387. 
Relativismus 141, 164, 166. 
Relativitätsprinzip 71 f., 75. 
Religion 29, 68, 93, IWff., 136, 
167, 208, 307, 316ff., 315, 396. 
Religionsphilosophie 20, 119—123, 
315, 415. 
Richtigkeit 54, 56, 168, 313, 346. 
Rigorismus 358, 361, 377. 
Schlecht 91, 301f., 345ff. 
Schluß 51 ff. 
Schönheit 108ff., 117, 282, 284. 
438 
Schuld 93, 284, 292, 301ff. 
Schwelle 143. 
Seele 25., 47, 76ff., 142ff., 150, _ 
170, 186, 210ff., 233f., 266ff.. ^ 
328—337. 
Seelenlehre 76. 
Seeionvermögen 9, 15, 110, 267, 
339, 372. 
Selbstbeobachtung 86, 255, 336. 
Semasiologie 57, 136, 415. 
Sensation 38, 78. 
Sensualismus 155. 
Setzen 177. 
Singularismus 142, 201—208, 244, 
315. 
Sinnesqualität 38, 68 f., 78, 84. 
182f., 220. 
Siimlichkeit 94, 111, 152, 155. 
Sittlich, Sittlichkeit 14, 26, 29, 
68, 89ff., 108, 147f., 187, 209, 
265, 274, 292, 302f., 306, 308f., 
317f., 345ff. 
Skeptizismus, skeptisch 70, 142, 
164ff., 194. 
Solipsismus 186. 
Somatologie 76. 
Sophist 8, 51. 
Soziologie 20, 98, 101, 105, 124. 
130/., 170, 407, 417. 
Spekulativ 16, 114, 125, 284. 
Spiritismus 230. 
Spiritualismus 86, 138, 198f., 222 
—233, 254 f., 308, 320f., 331 f. 
Sprachphilosophie 134ff. 
Sprachwissenschaft 58, 66, 134ff. 
Spur 80. 
Stoff 31, 72f., 90, 150, 155, 194. 
203, 210, 212, 233ff., 245, 270, 
335. 
Subjekt, subjektiv, Subjektivie- 
rung, Subjektivität 36, 44, 59f., 
66, 68f., 84f., HO, 123, 165, 
181f., 185, 194, 196, 228, 242, 
249ff., 279ff., 362ff., 379, 386, 
403f. 
//. Sachregister. 
Subjektivismus : 
erkenntnistheoretisch. 142, 164, 
185. 
ethisch. 148, 3H7ff. 
Substantialitätstheorie 144, 328 - 
337. 
Substanz 23, 27, 37 f., 85, 144, 
186, 190, 194, 202, 208f., 220f., 
225, 233, 246, 328ff. 
Supranaturalismus 160, 211. 
Synthetisch 152. 
System 413ff. 
Teleologie 17, 67, 72, 121, 144, 
157f., 192, 206f., 263ff., 315ff., 
320, 325f. 
Theismus 144, 205, 307 ff., 326. 
Theodicee 284. 
Theologie 9, 16, 25f., 34, 94, 96, 
119f., 144, 170, 307—327. 
Theoretische Plülosophie 14ff., 27, 
119, 307f., 382. 
Timologie 101. 
Topik 51. 
Transzendent 26/., 32, 46, 155, 
163, 186f., 190f., 196f., 256f., 
265, 295, 387f., 405. 
Transzendental 43, 45, 54, 119, 
154f., 196ff., 295. 
Transzendentalismus 142, 157, 
159. 
Tugend 89ff., 108, 282, 372. 
Übel 277ff., 322, 372. 
Umfangslogik 60. 
Unbewußt 24, 39, 79 ff., 224, 257 f., 
274, 287, 321, 331. 
Universalismus 148, 550—385. 
Ursache 14, 23, 142, 151, 154, 170, 
173, 185f., 194, 201f., 205, 
235f., 263ff., 292ff., 308ff., 
314ff. 
Ursprung 157. 
Urteil 44f., 47, 51ff., 152. 
Utilitarismus 148, 399f., 401. 
VerantwortHchkeit 304 f. 
Verdienst 99, 292, 301 f. 
Verifikation 169. 
Verites de fait (de raison) 151. 
Vernunft 9f., 15f., 25ff., 34f., 40. 
54, 77, 90ff., 104, 112, 120ff., 
147, 150ff., 160, 207, 233, 285f., 
300, 360, 372f. 
Verstand 37ff., 45, 54, 71. Ulf.. 
147, 155f., 160, 194. 
Vitalismus 219, 237, 267ff. 
Völkerpsychologie 47, 128, 136. 
Vollkommenheit 97, 111, 114. 282, 
310, 375, 384, 394f. 
Voluntarismus 144f.. 226f., 328, 
339—344. 
Wahrheit 30, 36, 54, 56, 57, 77, 
121, 153f., 162, 165ff., 169, 
312f., 326, 366f. 
Wahrscheinlichkeit 30, 38, 46, 52, 
163. 
Weltanschauung 24 f., 30 ff.. 68, 
101, 114, 125, 132, 143, 285f., 
289f., 410, 414. 
Weltseele 326 f. 
Weltweisheit 9. 
Wert 12, 44, lOlf., 129, 144, 278— 
291, 359, 370, 377, 385, 394, 396, 
401ff. 
Werttheorie (Wertlehre) 101 f., 117, 
280ff., 416f., 423f. 
Werturteil 69, 99 ff., 118, 227, 
278ff., 354, 379. 
Wesen 14, 24, 46, 90, 196, 359. 
Wesensanschauung 49. 
Widerspruch 152f., 287. 
Wille 23f., 38, 49, 84, 90f., 94f.. 
99, 106, 144, 146, 168, 187, 225f., 
230, 234, 239, 273ff., 281, 291 ff.. 
315, .340ff., 346f. 
Willensfreiheit 94, 144. 
Wirklichkeit 34f., 46, 62, 142, 
178ff., 226, 310, 328. 
Wirklichkeitstandpunkt U2,178f., 
185f., 188, 198, 334f. 
439 
//. Sachregister. 
^Virkung 23, 144, 155, 186, 197, 
233f., 263f., 291ff. 
Wissenscliaft 8 ff., 24 ff., 42, 44 ff., 
54, 56f., 60, 63, 83, 90f., 127, 
151, 155, 164f., 167f., 171f., 
188 ff., 203 f., 409ff. 
Wissenschaftslehre 10, 36, 42, 59, 
66, 74, 87, 101, 117, 124, 132, 
138, 187, 204, 411—419. 
Zeichen 54, 61f., 112, 191. 
Zeichenlehre 57, 62, 136. 
Zirbeldrüse 80f. 
Zurechnung 106f., 292f., 304. 
Zweck 54f., 59, 71, 90f., 99ff., 144, 
147f., 152, 190ff., 205, 263ff., 
315f., 325f., 354f., 367f.. 386ff. 
Zweckursache 204, 264. 
Zweiseitentheorie 227, 244, 249ff. 
Zweite Philosophie 8, 15. 
NACHTRiG. 
S. 63 Z. 18 V. u. ist zu lesen Noetik (statt Poetik). 
S. 321 Z. 8 V. o. ist zu lesen Panthelismus (statt Pantheismus). 
440 
VERLA6 VON S. HIRZEL IN LEIPZIG 
OSWALD KÜLPE, Grundlagen der Ästhetik. 
Aus dem Nachlaß herausgegeben von Siegfried Behn. (VII und 190 S.). 
Or.-S». 1921. 
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InniP Herausgegeben von Prof. Karl Bühler. (VIU u. 340 S. m. Reg.). 
OSWALD KÜLPE, Erkenntnistheorie und Na- 
, ■ k ^* Vortrag, gehalten am 19. September 1910 
tUrWISSCnSCnäTI. auf der 82. Versammlung deutscher Natur- 
forscher und Ärzte in Königsberg. (47 S.). 8". 1910. 
KunoFischeru. sein Kant ^::TT^;1'^'Z. 
Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens. 
Eine religionspsychologische Untersuchung auf experimenteller Grund- 
lage von Prof. D.Dr. Karl Girgensohn. (XU u. 712 S. m. Reg.). Gr.-8«. 1921. 
Lebensglaube eines Arztes. l'l^V^ 1™ 
n P KiiiKit Hpr Gr pphpn ^«"A"^"»'«' vonsahs. Mites Ab- 
üie IVUnbl Uei Ulietneil. i^ü^ en (Xu.SOSS.m Reg) 
Gr.-B''. 2. Aufl. 1922. 
Die Technik des Dramas. ::::;tT^\I\S2l 
Preise sind in jeder liuchhandlung oder beim Verlag zu erfragen. 
VERLAG VON S. HIRZEL IN LEIPZIG 
Psychologische Grundgesetze in der Völker- 
, '11 Von Gustav Le Bon. Aus dem Französischen über- 
entWICKlUng. setzt von ArthmSeiffhart. (VIu.l42S.). Gr. -8". 1922. 
Grundzüge der Psychologie. fe^ngL ZJZ^ 
Lotze. (95 S.). Gr.-S». 7. Auflage. 1912. 
Grund"'"""' J-« X«*L^*:I, O^l^-tate aus den Vorlesungen 
Exp 
psych- 
(VI u 
Phi 
Maria 
Gru 
Leb 
lieg). 
Got 
BD 53 .K78 1921 SMC 
Kulpe, Oswald, 
Einleitung in die 
Philosophie 10. verb. Aufl. 
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