Full text of "Kapital und Kapitalzins"
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33) E. VON BÖHM - BAWERK KAPITAL UND KAPITALZINS I GESCHICHTE UND KRITIK DER KAPITALZINS -THEORIEN VIERTE AUFLAGE (S ]ena, Oustav Fischer Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien Kapital und Kapitalzins von Eugen von Böhm-Bawerk Professor an der Universität Wien, k. k. Minister a. D. Erste Abteilung Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien Vierte, unveränderte Auflage Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Friedrich Wieser, Wien Jena Verlag von Gustav Fischer 1921 Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien von Eugen von Böhm-Bawerk Professor an der Universität Wien, k. k. Minister a. D. Vierte, unveränderte Auflage Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Friedrich Wieser, Wien Jena Verlag von Gustav Fischer 1921 G. Pätz'sche Buchdrnckerel Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Manuldruck ^oii F. Ullmann (i. in. b. H., Zwickau Sa. 331 Geleitwort zur vierten Auflage. 0. -4 Die 4, Auflage der „Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien", (p die hiemit der Öffentlichkeit übergeben wird, ist ein unveränderter Abdruck der 3. Auflage, der "letzten, die noch vom Autor selbst besorgt wurde. Schon in der 3. Auflage hat E. Böhm-Bawerk die Zusätze, zu denen er sich entschloß, auf das knappste gehalten, und wenn man die Gründe überlegt, weshalb er dies tat — er hat sich hierüber im Vorwort zur 3. Auf- lage ausgesprochen, dessen entscheidende Sätze der Leser weiter unten abgedruckt findet — so wird man wohl zu dem Schlüsse kommen müssen, daß es in seinem Sinne geschieht, wenn in einer nach seinem Tode er- scheinenden neuen Auflage weitere Zusätze überhaupt unterlassen werden. Dies gilt ohne Zweifel für Zusätze über die neue Kapitalliteratur. Für E. Böhm-Bawerk war die Hauptsache in seinem Buche, wie er in dem erwähnten Vorwort sagt, die in großen Zügen zusammenfassende Geschichte und nicht die sich in Einzelheiten verlierende Chronik über die Tageserscheinungen. Welcher Herausgeber dürfte es aber verantworten, irgend etwas an der Fassung zu ändern, welche der Autor selbst der in großen Zügen zusammenfassenden Geschichte der Zinstheorien gegeben hat? E. Böhm-Ba WERKS „Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien" ist ein abgeschlossenes Meisterwerk, das dazu bestimmt ist, als eines der klassischen Werke der ökonomischen Wissenschaft erhalten zu bleiben. Die ökonomische Wissenschaft besitzt keine zweite dogmengeschichtliche Darstellung, die an ihre Höhe heranreicht, und es dürfte sich kaum in irgend einer Wissenschaft eine dogmengeschichtliche Darstellung finden, die sie überträfe. E. Böhm-Bawerk besaß die seltene Gabe fruchtbarer Kritik. Er ging nicht darauf aus, den Irrtum um des Irrtums willen auf- zudecken, sondern ihm war es darum zu tun, Irrtum und Wahrheit zu ^ dem Zwecke zu sondern, um die tragfähigen Unterlagen abschließender Erkenntnis zu finden. Sein Scharfblick erkannte, daß die Erklärungen, die man für die Zinserscheinung gefunden haben wollte, an entscheidenden Punkten auf der Oberfläche geblieben waren, und daß man durch die täuschenden Hüllen der gangbaren Wortvorstellungen bis auf den festen Grund der theoretisch so schwer zugänglichen Tatsachen vordringen VI Geleitwort zur yierten Auflage. mußte, um das Zinsproblem so zu stellen, daß man erwarten durfte, es ohne Best lösen zu können. Da auch ich zu den Autoren gehöre, deren Zinserklärung durch E. Böhm-Bawerk als unzulänglich abgelehnt wird, so möchte es vielleicht scheinen, die rückhaltlose Anerkennung, die ich seinem Werke ausspreche, schließe das Zugeständnis in sich, daß ich mich seinem urteil füge und meine Zinserklärung zurücknehme. Das ist aber doch nicht der Fall. Meine Zinserklärung geht in gewissen Punkten auf Tatsachen zurück, die meines Erachtens von E. Böhm-Bav^erk nicht recht gewürdigt wurden, die aber so abseits liegen, daß der Aufbau seines kritischen Systems im übrigen in keiner Weise berührt ist, auch wenn er mit seiner Kritik hierin nicht im Rechte sein sollte. In andern wesentlichen Punkten aber habe ich mich ihm und seiner Problemstellung durchaus angeschlossen und ich darf wohl sagen, daß ich es nur seiner Führung verdanke, wenn ich von schweren Irrtümern bewahrt geblieben bin, die vor ihm alle die besten Denker unserer Wissenschaft getäuscht haben. Wien, Juli 1921. F. Wieser. Aus dem Vorwort zur ersten Auflage. Daß ich es unteraommen habe, über „Kapital und Kapitalzins" zu schreiben, bedarf bei dem heutigen Zustande der nationalökonomischen Wissenschaft über diese Materie kaum einer besonderen Rechtfertigung, Es zweifelt niemand, daß diese Materie zu den wichtigsten gehört, deren Erforschung unserer Wissenschaft obliegt; es zweifelt niemand, daß sie auch zu den schwierigsten zählt; und leider dürfte auch niemand zweifeln, daß sie zu denjenigen Objekten unserer Wissenschaft zählt, die bis jetzt am wenigsten zufriedenstellend bearbeitet sind. Ich wüßte kaum einen wichtigen Begriff — von dem des Kapitales selbst angefangen — und kaum einen wichtigen Lehrsatz der Kapitaldoktrin zu nennen, der der Kontroverse endgültig entrückt wäre, und über die wichtigsten Punkte sind die Ansichten in einer Weise zerspalten, daß die erstaunliche Zahl der Lehrmeinungen nur überboten wird durch die noch erstaunlichere Weite des Gegensatzes, der zwischen ihnen klafft. Hier nach Kräften der einigenden Wahrheit entgegenzustreben, schien mir zugleich Lust und Pflicht. Zweckmäßigkeitsgründe bestimmten mich, meine Arbeit in zwei selbständige Abteilungen zu trennen. Die erste, welche in den Händen des Lesers sich befindet, enthält die „Geschichte und Kritik der Kapital- zinstheorien"; die zweite, welche ich in kurzem zu vollenden hoffe, wird die „positive Theorie des Kapitales" bringen. Ich entschloß mich zu jener Zweiteilung nicht leicht und nicht gerne. Dogmengeschichten zählen an sich zu den sprödesten Stoffen der wissen- schaftlichen Forschung. Sie unterliegen diesem Übelstande in dem Grade mehr, als ihr Umfang bedeutender wird, als die Zahl der Einzeltheorien zunimmt, die sie zu entwickeln hat, und deren jede an den Leser die mühsam zu erfüllende Anforderung stellt, sich in die Denkweise ihres Autors einzuleben — eine Denkweise, die man im nächsten Augenblicke wieder verlassen und gegen die Gedankenwelt eines neuen Autors ver- tauschen soll; endlich, je treuer und sorgfältiger der Dogmenhistoriker eben diese individuellen Gedankenwelten darzustellen für nötig erachtet. In keinem dieser Stücke bringt die Dogmengeschichte des Kapitalzinses ihrem Autor eine Erleichterung, in jedem nur noch weitere Erschwerung, yUI Aus dem Vorwort zur ersten Auflage. Dennoch glaubte ich die Aufgabe auf mich nehmen zu sollen, eine zusammenhängende kritische Dogmengeschichte des Kapitalzinses zu schreiben. Vielleicht hätte hierfür schon der äußere Umstand maßgebend werden können, daß auffallender Weise unsere Literatur, die sonst so reich mit dogmengeschichtlichen Arbeiten ausgestattet ist, eine solche für das Gebiet des Kapitalzinses noch völlig entbehrt. Für mich gaben indes andere, innere Gründe den Ausschlag. Unter den Einzelfragen, die in die Lehre vom Kapitale einschlagen, ist keine wichtiger, aber auch keine verworrener als die Frage des Kapital- zinses. Wer sich die Mühe nimmt, wird leicht ein Dutzend, vielleicht wohl auch zwei Dutzend verschiedener Zinstheorien auszählen können. Sollte ich nun einfach auf die vorhandenen vierundzwanzig Theorien eine fünfundzwanzigste setzen? Das hätte wahrscheinlich den Meinungs- wirrwarr nicht zu verkleinern, sondern zu vergrößern geholfen. Was mir vielmehr der augenblickliche Stand der Dinge am dringendsten zu er- fordern schien, war eine eindringende und umfassende kritische Sichtung des vorhandenen enormen Materiales. Eine solche Sichtung hat bis jetzt in ganz unzureichendem Maße stattgefunden. Nicht daß es an kritischen Arbeiten ganz gefehlt hätte; aber sie dienten mehr dazu den Streit zu erbittern, als zu entscheiden. Warum das so kam, will ich hier nicht aus- führlich erörtern; nur so viel sei gesagt, daß mir unter den vielen Gründen, welche einer fruchtbaren Erledigung der Kontroverse bisher hindernd in den Weg traten, zwei obenan zu stehen scheinen: einerseits die Über- wucherung des rein theoretischen durch das leidenschaftlich erregte sozial- politische Interesse, das man an der Frage nahm; und andererseits die vorwiegend historische Richtung der neueren Nationalökonomie, die in erster Linie das Interesse, dann aber auch die Befähigung derselben für die Bewältigung streng theoretischer Probleme herabsetzte. Hatte ich mich einmal aus guten Gründen entschlossen, der Kritik der Kapitalzinstheorien eine besondere Sorgfalt zuzuwenden, so stand auch alsbald fest, daß dies nur in einem selbständigen Buche geschehen konnte. Denn der enorme Umfang der hier zu berücksichtigenden Literatur mußte, wenn die Kritik nur einigermaßen eingehend und vollständig sein sollte — und mit einer lückenhaften und an der Oberfläche bleibenden Beurteilung wäre der Sache nicht gedient gewesen — den Umfang der kritischen Erörterungen viel zu sehr schwellen, als daß ich sie mit guter Art in die dogmatische Darstellung des Gegenstandes hätte einschalten können. Ebenso ergab es sich von selbst, daß die umfassende Kritik zu einer ,, Geschichte und Kritik" der Kapitalzinstheorien zu erweitern war: der geringe Mehraufwand an Mühe mußte sich ja reichlich durch die Unterstützung lohnen, welche aus dem hinzutretenden historischen Verständnis auch für die kritische Einsicht zu gewinnen war. Über die Art, in der ich meine Aufgabe auffaßte, habe ich wenig Aus dem Vorwort zur ersten Auflage. IX hinzuzusetzen. Nach dem Gesagten ist es selbstverständlich, daß der kritische Teil der Aufgabe mir die Hauptsache war. Ich hoffe indes auf das Urteü, daß ich auch den historischen Teil nicht vernachlässigt habe. Zwar darf ich nicht erwarten, das ^historische Material lückenlos vorge- führt zu haben. Schon deshalb nicht, weil ich die Stütze, die mir Vor- arbeiten Früherer hätten gewähren können, fast gänzlich entbehren mußte. Relativ die erheblichsten Dienste leisteten mir noch die trefflichen Arbeiten Endemanns über die kanonistische Zinsdoktrin, die sich freilich nur auf ein sehr kleines Feld erstrecken, und Pierstorffs Lehre vom Unternehmergewinn, deren dogmengeschichtliches Material sich indes auch nur zum geringen Teile mit dem Stoffe meiner Untersuchungen deckt. So mußte ich denn rücksichtlich des weitaus größten Teiles meines Gegen- standes als Erster von vorne beginnen. Trotzdem hoffe ich, daß die vor- handenen Lücken nur das Detail, nicht das Gesamtbild der Entwicklung betreffen: man wird manchen einzelnen Autor, aber schwerlich eine theoretische Richtung, oder auch nur einen wirklich charakteristischen Repräsentanten einer solchen übergangen finden. Mit reiflicher Überlegung bin ich sowohl in der historischen Dar- stellung als in der kritischen Erörterung oft und mit Genauigkeit auf theoretisches Detail eingegangen. Ich weiß genau, daß ich dadurch die ohnedies bedeutenden Schwierigkeiten, die aus der Sprödigkeit des Stoffes für die Darstellung erwachsen, nicht unwesentlich vermehrte. Dennoch brauche ich mein Verfahren vor Kennern kaum zu rechtfertigen. Diese wissen, daß in der Physiognomie von Theorien gar oft kleine Züge die charakteristischen sind; daß ein Kritiker niemals hoffen darf, einen Gegner zu überzeugen, wenn er ihm nicht schon durch die Art der Kritik die Gewißheit bietet, daß er die angegriffene Lehre auch bis zum Grunde gekannt, verstanden und gewürdigt hat; und daß es kein schlimmeres Laster eines Kritikers gibt, als über ungenau vorgetragene Lehren in seichter Allgemeinheit abzuurteilen. Innsbruck, im Mai 1884. Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. Die zweite Auflage der „Geschichte und Kritik der Kapitalzins- theorien" weist gegenüber der ersten mehrfache Änderungen und Zu- sätze auf. Die Änderungen sind nicht erheblich. Sie beschränken sich auf einige wenige Verbesserungen in der Fassung und auf einige gleichfalls nicht zahlreiche Berichtigungen unterlaufener Versehen. Dagegen hatte ich reichlichen Anlaß zu neuen Zusätzen, die denn auch den Umfang des Buches um mehr als ein Dritteil geschwellt haben. Einerseits galt es nämlich, vereinzelte Lücken auszufüllen, welche die erste Auflage in der Darstellung der älteren Literatur gelassen hatte. Der erheblichste Zusatz dieser Art betrifft den Canadier John Rae. Ich hoffe, daß die eingehende Vorführung der Ideen dieses äußerst origi- nellen, aber durch ein seltsames Geschick bis jetzt fast ganz unbekannt gebliebenen Denkers von den Freunden der Theorie als eine willkommene Bereicherung des dargebotenen Stoffes angesehen werden wird. Anderer- seits hatte ich die in der ersten Auflage mit dem Jahre 1884 abgeschlossene „Geschichte und Kritik" bis auf die neueste Zeit fortzuführen. Von dieser Seite hätte sich ein schier überreicher neuer Stoff dargeboten, da gerade in den letzten fünfzehn Jahren die Kapitalforschung ungemein emsig betrieben wurde. Selbst wenn ich mich daher hier im allgemeinen mit einer orientierenden Übersicht begnügen, und eine kritische Auseinander- setzung nur mit ganz wenigen, besonders markanten Lehrmeinungen der Gegenwart pflegen wollte, konnte ich Zusätze von erheblicher Ausdehnung nicht vermeiden. Was die formelle Behandlung dieses neu zugewachsenen Stoffes betrifft, so hatte ich zu wählen, ob ich die Darstellung der neuesten Lehr- meinungen je nach ihrer Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Theoriengruppe sofort den betreffenden, jene Theoriengruppen behandeln- den Kapiteln meines Buches angliedern, oder aber, ob ich dem möglichst unveränderten alten Bestände meines Buches eine zusammenhängende Übersicht über den neuesten Stand der Forschung in der Form eines selbständigen Anhanges folgen lassen wollte. Ich entschloß mich nach reiflicher Überlegung für den letzteren Vorgang. Wie immer man über Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. XI den Wert meines Werkes urteilen mag, so mußte doch schon die bloße Existenz eines Werkes, welches in umfassenderer Weise als irgendeine ältere Arbeit die sämtlichen Kapitalsprobleme in historischer, kritischer und dogmatischer Weise erörterte, einen gewissen, zum mindesten zur Reaktion anregenden Einfluß auf die nachfolgenden Erörterungen desselben Gegenstandes ausüben, zumal mein Werk das Glück hatte, fast unmittelbar nach seinem Erscheinen eine unerwartet rasche und weite Verbreitung zu erlangen. Wo nun tatsächlich innere Beziehungen zwischen der von mir schon in der ersten Auflage geübten Kapitalkritik und gewissen neuesten Fassungen oder Formulierungen der Kapitaltheorie bestanden, würde eine Art verwirrender Anachronismus darin gelegen sein, wenn ich auch diese neuesten Formulierungen unter dasjenige historische Material ge- mischt hätte, welches mir seinerzeit bei der Bildung meines kritischen ürteiles vor Augen gestanden war. Ich glaube vielmehr diejenigen, die sich für den historischen Werdegang der Ideen über die Kapitalprobleme interessieren, sowohl die Orientierung als auch die unbefangene Würdigung der einzelnen Lehrmeinungen dadurch nicht unwesentlich zu erleichtern, daß ich das der ersten umfassenden Kapitalkritik vorausgegangene von dem nachfolgenden Materiale schon in der äußeren Anordnung deutlich auseinander halte. Von diesem Grundsatz sah ich mich nur eine Ausnahme zu machen gezwungen: sie betrifft die Ausbeutungstheorie, bezüglich welcher eine ganz feigenartige chronologische Abnormität dadurch ge- schaffen wurde, daß die beim Erscheinen der ersten Auflage meines Buches im Manuskript schon vorhandenen Fortsetzungsbände des MxRxschen „Kapital" erst viele Jahre später zur Veröffentlichung gelangten. Noch weniger als an den Einzelheiten meiner kritisch-historischen Arbeit fand ich an der grundsätzlichen Auffassung zu ändern, mit der ich an diese Arbeit herangetreten war. Es könnte dies vielleicht selbstver- ständlich erscheinen, da ich aus der überwiegend so freundlichen Auf nähme, die meinem Buche zuteil geworden ist, ja doch sicherlich eine gewisse Beruhigung darüber schöpfen durfte, daß ich mich mit meiner Auffassung von der Aufgabe eines kritischen Dogmenhistorikers nicht allzuweit und zum mindesten nicht in der Hauptsache verfehlt haben konnte. Dennoch habe ich das Bedürfnis mich hierüber auch ausdrücklich auszusprechen. Unter denjenigen Stimmen, welche sich in dissentierendem Sinne erhoben haben, finde ich nämlich die Vota einiger Gelehrter, die ich überhaupt zu hoch schätze, als daß ich an ihren Einwürfen achtlos oder gleichgültig vorübergehen möchte; und sie haben zudem ihren Tadel in einer Richtung hoben, in der ich es am allerwenigsten erwartet oder gewünscht hätte. Es werfen mir nämlich Fr. Walker in recht harten, Prof. Alfred Marshall in weit milderen, aber immerhin genug ernsten Worten vor, daß ich, kurz gesagt, meine Vorgänger in der Kapitaltheorie zu wenig XII Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. generös kritisiert hätte. Statt mit Toleranz und Wohlwollen — meint Walker — dem nachzuspüren, was die einzelnen Autoren in Wahrheit gemeint und auszudrücken versucht hatten, wäre ich vielmehr darauf ausgegangen, ihnen bloße Unvollkommenheiten in der Darstellung und Versehen in der Ausdrucksweise („Wunders of expression") zu ihrem Nachteil auszulegen i); und Prof. Marshall gibt zu verstehen, daß ich nicht selten mit Unrecht das Dasein differierender und zwar einseitiger Meinungen angenommen hätte, während tatsächlich nicht viel mehr als eine bloße Ungleichmäßigkeit in der Darstellung, eine durch besondere Absichten des Schriftstellers oder durch einen Mangel an Systematik hervorgerufene unverhältnismäßige Hervorhebung einzelner und Zurück- stellung anderer — im Geiste des Autors gleichfalls vorhandener — Elemente der Erklärung vorgelegen sei. Prof. Marshall hält sich sohin zu der Meinung berechtigt, daß die Darstellung, die ich „von den naiven Produktivitätstheorien, den Nutzungstheorien usw." gegeben habe, „von den älteren Schriftstellern selbst kaum als wohl ausgeglichene und voll- ständige Vorführung ihrer betreffenden Lehrmeinungen akzeptiert worden wäre" 2). Würde es sich bei diesen Einwürfen wirklich nur, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen möchte, um eine strittige Auslegung der wahren Meinung dritter Autoren, also um Fragen handeln, die für den kritischen Dogmenhistoriker technische Detailfragen sind, so wäre es wenig passend und wohl auch kaum der Mühe wert, sie an dieser einleitenden Stelle zu erörtern. Ich könnte und würde vielmehr mit Beruhigung den Inhalt der folgenden Blätter für sich selbst sprechen lassen. Ich baue ja meine kritischen Urteile überall vor den Augen des Lesers auf, und zwar auf Grund einer überwiegend w^örtlichen Wiedergabe der seitens der betreffenden Autoren zum Gegenstande vorliegenden Äußerungen, einer Wiedergabe, von welcher, wie ich glaube, auch keiner meiner Gegner in Abrede zu stellen geneigt sein wird, daß sie sorgfältig und treu ist. Es handelt sich aber in Wahrheit um etwas ganz anderes. In den Meinungsdifferenzen über den Inhalt und Wert der Äußerungen anderer Autoren spiegelt sich nur die grundverschiedene eigene Auffassung von den vorliegenden Kapitalproblemen und von den Bedingungen einer wirklichen Lösung derselben. Nur zum Scheine steht zwischen mir und meinen Opponenten die Frage, ob ich meine Vorgänger generös oder nicht generös kritisiere: in Wahrheit dreht sich die Frage darum, ob Mr. Walker und Prof. Marshall, oder ob ich die zutreffendere Vorstellung davon habe, worin der Kern des Zinsproblems liegt und was eine wirkliche Lösung desselben erfordert. Diese Frage aber läßt sich sowohl leicht als schicklich ') „Dr. Boehm-Bawerks theory of interest" im Quarterly Journal of Eco- nomics, Juli 1892, S. 339ff., besonders 401—405. *) Principles of Economics, 3. Aufl. S. 142 u. 664. Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. XIII schon am jetzigen Platze erledigen. Meine Opponenten haben nämlieh ihr Tadelsvotum mit einigen Bemerkungen begleitet, welche die Gründe enthüllen, aus welchen sie zu einer von mir abweichenden dogmengeschicht- lichen Auffassung gelangt sind; und ich hoffe, daß ein kurzer Blick auf diese Gründe genügen wird, um schon zu allem Anfang deutlich zu machen, daß es meinerseits nicht wohlgetan gewesen wäre, wenn ich mir die Auf- fassung meiner Opponenten hätte zu eigen machen wollen. Von handgreiflicher Klarheit ist dies wohl im Falle Walkers. Walker ist ein ebenso überzeugter als theoretisch genügsamer Anhänger der Pro- duktivitätstheorie. Er ist von der Einfachheit des Zinsproblems und von dem völMgen Genügen des Gedankenschatzes der Produktivitätstheorie zur Erklärung desselben so gänzlich durchdrungen, daß er den Gedanken nicht fassen kann, daß irgendein bedeutenderer Geist auf einem anderen Wege die Erklärung des Zinsproblems gesucht haben sollte. Er spricht daher alles Ernstes die Meinung aus, daß z. B. die Nutzungstheorie und die Abstinenztheorie als von den Produktivitätstheorien verschiedene Theorien gar nie existiert hätten und von mir nur irrtümlich und un- gerechtfertigt als solche angesehen und ausgegeben worden seien. „Kein Ökonomist von Rang, der dem Kapitalzinse ein mehr als vorübergehendes Nachdenken widmete", habe die von mir statuierte Nutzungstheorie jemals in einem anderen Sinne behaupten wollen, „als daß der Gebrauch des Kapitales produktiv in dem Sinne sei, in welchem die Produktivitäts- theoretiker diesen Ausdruck anwenden"^). Und den schlechterdings denn doch heterogenen Gedankeninhalt der Abstinenztheorie will Walker auf dem Wege aus dem Spiele bringen, daß er meint, daß die betreffende Gedankenreihe im Sinne ihrer Urheber nur als eine sozialpolitische Recht- fertigung des Zinses gemeint gewesen sei, ,, welche wahrscheinKch keiner von ihnen jemals fälschlich für eine wissenschaftliche Feststellung der Ursache des Zinses" — also für eine theoretische Erklärung — „ange- sehen hat" 2). Im Sinne Walkers wären es also bloße „Versehen im Ausdruck" gewesen, welche z. B. in den Lehren Hermanns und G. Mengers den Anschein erwecken konnten, als ob diese Autoren eine eigenartige, von den Produktivitätstheorien verschiedene Theorie hätten vortragen wollen; und wiederum habe nur durch eine zweckwidrige, irreführende Ausdrucks- weise Seniors der Eindruck entstehen können, als ob dieser eminente Theoretiker durch seinen Hinweis auf die Abstinenz als auf einen preis- bestimmenden Kostenbestandteil auch zur theoretischen Erklärung des 1) A. a. 0. S. 405. ^) A. a. 0. S. 404ff.: „They thüs reached a social justification of interest, which no one of them probably ever mistook for a scientific ascertainement of the cause of interest." XIV Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. Zinses habe beitragen wollen; meinerseits aber war es eine ungeneröse Ausnützung solcher „Fehler im Ausdruck", wenn ich diesen und anderen Gelehrten überhaupt eigenartige, tiefgedachte Theorien zuschrieb! — Ich glaube, ich brauche wohl kaum ein Wort darüber zu verlieren, daß es umgekehrt eine sehr ungeneröse, ja für einen treuen Historiker geradezu unmögliche Darstellung des wirklichen Sachverhaltes gewesen wäre, wenn ich die Nutzungs- und Abstinenztheorien aus der Entwicklungsgeschichte der Zinstheorie hätte einfach hinwegwischen und statt dessen aus den verschiedensten Erklärungsgängen ein ewiges Einerlei von Produktivitäts- theorien hätte herauslesen, oder richtiger, gewaltsam in sie hätte hinein- deuten wollen!^) Aber auch der Fall Prof. Marshalls scheint mir zwar recht sehr dem Grade nach, aber eigentlich nicht der Art nach sich von dem Walkerb zu unterscheiden. Auch Prof. Marshall hat eine Vorliebe für eine bestimmte theoretische Kombination, und auch er wünscht, vermöge eines äußerst ehrenwerten Zuges von Generosität in der Auslegung, den Besitz dieser bestimmten, vermeintlich besten theoretischen Kombination auch schon möglichst zahlreichen der älteren Autoren zuzuschreiben. Aber er befindet sich dabei nicht minder bezüglich zweier Punkte in einer Täuschung, über die sich auch Walker — dieser allerdings viel gröber — getäuscht hat; nämlich erstens über den Erklärungswert der favorisierten theoretischen Kombination und zweitens über das tatsächliche Verhältnis, in welchem die verschiedenen Theoriengruppen zu dieser ihnen imputierten Meinungskombination sich befinden. Prof. Mars HALL stützt nämlich seine eigene Erklärung des Kapital- zinses auf zwei zusammenwirkende Faktoren auf: auf die Produktivität des Kapitales, welche die Nachfrage nach dem Kapitale bestimme, und auf seine „prospectiveness", die zeitliche Entlegenheit seiner Genuß- früchte, welche das Angebot daran beeinflusse und beschränke. Diese beiden Gedanken — meint nun Prof. Marshall — seien schon längst im Sinne der Leute gelegen. Die verschiedenen Schriftsteller hätten nur bald auf die Nachfrage- und bald auf die Angebotseite das größere Gewicht gelegt. Aber es sei auch jenen, die auf die Produktivität des Kapitales den Nachdruck legten, die geringere Geneigtheit der Leute zu sparen und die Gegenwart der Zukunft zu opfern, ganz gut bekannt gewesen; und umgekehrt hätten jene, die ihr Nachdenken vorzugsweise dieser letzteren Seite zugewendet hatten, auch die produktiven Vorteile eines Kapitalvorrates als eine ganz selbstverständliche Sache angesehen. Und offenbar daran Anstoß nehmend, daß ich vermeintlich den betreffenden älteren Autoren nicht jedesmal beide Gedankenhälften zugleich zuge- >) Siehe auch meine Entgegnung gegen Walker im Quarterly Journal of Eco- nomics, April 1895, S. 236ff. Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. XV schrieben hätte, tadelt er meine Darstellung der naiven Produktivitäts- theorie, der Nutzungstheorie und anderer Theoriengruppen — ich weiß nicht, wie viele und welche Theoriengruppen sonst noch Prof. Marshall in das diese Aufzählung fortsetzende „etc." einschließen wollte — als einseitig und unzutreffend, Nun, damit daß schon längst die Verbindung des Kapitalzinses mit beiden Erscheinungsreihen eine einleuchtende, und als solche fast jedem Beobachter sich aufdrängende Sache war, hat Prof. Marshall sicherlich ganz recht. Er hätte eine diesen seinen Ausspruch bestätigende, oder eigentlich vorausnehmende Äußerung auch in meinem eigenen Buche finden können. „Kein Unbefangener" — sagte und sage ich in dem die „Eklektiker" behandelnden Kapitel — „konnte sich dem Eindruck ent- ziehen, daß die Existenz des Zinses mit der größeren Ergiebigkeit der kapitalistischen Produktion, oder, wie man sagte, mit der Produktivität des Kapitales, doch irgend etwas zu tun haben müsse." Aber ebensowenig ließ sich „leugnen, daß die Entbehrung, die das Sparen gewöhnlich kostet, nichts ganz Gleichgültiges für die Entstehung und Höhe des Zinses sein kann". Aber diese allerdings schon längst in den Köpfen der Leute sich vorfindende doppelte Erkenntnis reicht zur theoretischen Erklärung des Kapitalzinses noch lange nicht aus. Geradeso wenig — ich habe mich dieses Gleichnisses schon einmal bei einer verwandten Gelegenheit gegen- über Walker bedient^) — als es eine ausreichende wissenschaftliche Erklärung der Erscheinung des Kegenbogens ist, wenn man weiß und aus- sagt, daß die letzten Ursachen für die Entstehung des Regenbogens der Sonnenschein und eine regnende Wolke sind, auf die jener in einem be- stimmten Winkel auffällt. Was der Wissenschaft zu schaffen macht, ist nicht die Feststellung daß die interessante Erscheinung des siebenfarbigen Regenbogens mit dem Auffallen der Sonnenstrahlen auf eine regnende Wolke zu tun hat, sondern die spezielle Darlegung der Art, wie und durch welche Zwischenvorgänge hindurch jene auf der Hand liegenden empirischen Ursachen gerade zu dieser Art der Wirkung führen; eine Darlegung, die z. B. im Sinne der älteren Emissionstheorie des Lichtes ganz anders aus- fällt, als im Sinne der modernen Undulationstheorie, wiewohl beide Theorien über die Tatsache der Verknüpfung des Regenbogens mit Sonnen- schein und regnender Wolke sicherlich völlig einmütig waren. Ganz ebenso stellt in unserem Falle die allgemeine, ich möchte sagen, rahmenhafte Erkenntnis, daß der Kapitalzins seine Entstehung der Er- giebigkeit der kapitalistischen Produktion und der zeitlichen Entlegenheit ihrer Früchte verdankt, überhaupt noch keine wirkliche Erklärung des Kapitalzinses, keine Besiegung oder auch nur ernstliche Anfassung der ') Siehe meinen oben zitierten Aufsatz im Quarterly Journal of Economics, April 1896, S, 260. XVI Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. hier so reichlich vorliegenden Erklärungsschwierigkeiten dar. Vielmehr ergibt sich auch hier innerhalb der einmütigen Anerkenntnis, daß jene beiden Umstände an der Verursachung des Kapitalzinses einen Anteil haben, einerseits die Notwendigkeit, auch noch den Zwischenweg erklärend darzulegen, auf welchem jene Ursachen dieses Wirkungsbild hervorrufen sollen; und hierbei ergibt sich andererseits wieder ein Spielraum nicht etwa für eine einzige, sondern für eine ganze Reihe von Erklärungsweisen oder Theorien, welche wahrhaftig nicht bloße Variationen eines und des- selben Gedankens in verschiedenen Ausdrucksweisen, sondern von wesent- lich verschiedenem Gedankeninhalt sind, indem sie eine ganz andere Art der Verkettung zwischen jenen letzten Ursachen und der Erscheinung des Kapitalzinses, den Eintritt und die Wirksamkeit wesentlich ver- schiedener Zwischenursachen behaupten. Es fällt mir schwer, anzunehmen, daß Prof. Marshall dies nicht wenigstens bezüglich einzelner der hier in Betracht kommenden Theorien- gruppen erkannt haben und nicht z. B. zuzugestehen geneigt sein sollte, daß die Nutzungstheorie Mengers, die Abstinenztheorie Seniors und die verschiedenen ,, Arbeitstheorien" französischer und deutscher Schrift- steller Theorien von essentiell verschiedenem Inhalt sind, obwohl sie alle sowohl das Moment der ,,prospectiveness", als auch jenes der größeren Ergiebigkeit der kapitalistischen Produktion in irgendeiner Form in ihren Gedankengang aufgenommen haben — geradeso, wie auch meine eigene Zinstheorie beide Momente aufnimmt und verwertet. Soweit jedoch Prof. Marshall dieses Verhältnis anders beurteilt — und er gibt ja deutlich zu erkennen, daß er es in ziemUch weitem Umfang abweichend beurteilen will — hat er sich augenscheinlich durch eine Überschätzung des Er- klärungswertes jenes gemeinsamen Rahmens täuschen lassen: die irrige Meinung, daß die gemeinsamen Voraussetzungen schon das Wesentliche der Erklärung in sich schließen, mußte ihn natürlich zu dem weiteren Irrtum verleiten, daß das nicht Gemeinsame, das Differenzierende, nur einem nebensächlichen Bereiche angehören könne, dem Bereich der bloßen Form, des Ausdrucks oder der Darstellungsweise. Prof. Marshalls Tadel spitzt sich jedoch in einer bestimmten Richtung noch besonders zu. Er tadelt insbesondere, daß ich jenen Theorien, welche die ,, Angebotseite" oder „prospectiveness" besonders hervor- gehoben haben, nicht auch einen entsprechenden Bedacht auf die ,, Pro- duktivität" des Kapitales, und jenen, welche eben diese Produktivität besonders hervorgehoben haben, keinerlei Bedacht auf die ,, prospectiveness" zugeschrieben habe. Ganz konkret bezeichnet: Mars hall will in meiner Darstellung der Nutzungs-, Abstinenz- und Arbeitstheorie, von denen er die erste ausdrücklich nennt und die beiden letzteren offenbar durch das beigefügte ,,etc." in den Tadel einbeziehen wollte, den gebührenden Bezug auf die Produktivität des Kapitales, und in meiner Darstellung der — Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. XVII ausdrücklich genannten — naiven Produktivitätstheorie den Bezug auf die „prospectiveness" vermissen. ]5ieser Tadel beruht in seiner ersten Hälfte auf einem Mißverständnisse, in seiner zweiten ist er sachlich unbegründet. Ein Mißverständnis ist es, wenn Marshall meint, daß ich jenen erstgenannten, die „Angebotseite" besonders charakteristisch entwickeln- den Theoriengruppen keinen Bedacht auf die Produktivität des Kapitales zugeschrieben habe. Ich habe im Gegenteile nie daran gezweifelt, daß alle jene Theorien eine technische oder physische Produktivität des Kapitales — ähnlich wie sie Prof. Marshall selbst vor Augen hat — gleichfalls in ihren Gedankengängen vorausgesetzt haben und sogar voraus- setzen mußten. Es ist mir dies z. B. speziell hinsichtlich der Nutzungs- theorie, die Prof. Marshall ausdrücklich als Beispiel einer einseitigen Darstellung meinerseits herausgreift, so deutlich vor Augen gestanden, daß ich in einer Reihe ausdrücklicher Äußerungen — die Prof. Marshall vielleicht entgangen sind — die Nutzungstheorie geradezu als einen bloßen Zweig der Produktivitätstheorien hinstellte, der erst allmählich sich zu einer gewissen Selbständigkeit entwickelt hat^). In meiner Darstellung der einzelnen Formulierungen der Nutzungstheorie habe ich dann dieser Seite der Sache in demselben Verhältnis Raum gegönnt, als dies die be- treffenden Autoren taten. Bei der Darstellung der Lehren Says und Hermanns z. B. habe ich recht viel von der Produktivität des Kapitales gesprochen, bei den Lehren Schäffles und Mengers recht wenig Bei der Darlegung des charakteristischen Kernes der Nutzungstheorie natürlich wiederum recht wenig, weil die technische Ergiebigkeit des Kapitales zwar zum selbstverständlichen theoretischen Milieu der Nutzungstheorie gehört, die charakteristisphe Pointe der letzteren aber nach einer anderen Seite hinaus geht. Ich glaube, wenn ich alles, was Prof. Marshall in seiner äußerst sorgfältigen, bis ins Detail ausgearbeiteten Weise über die tech- nische Ergiebigkeit des Kapitales und ihren Einfluß auf die „Nachfrage- seite" sagt, z. B. Menger hätte in den Mund legen wollen — ich durfte dies natürlich nicht tun, da Menger selbst diese Dinge nicht gesagt hatte — so wäre zwar meine Darstellung wortreicher, mehr mit Detail beladen, aber es wäre der theoretische Charakter der dargestellten Lehre dadurch nicht im mindesten geändert worden: ein zusammenfassendes Resume derselben hätte nicht mehr und nicht andere Worte enthalten müssen, als ich sie in der Schilderung jener Theorie tatsächlich gebraucht habel Dasselbe Verhältnis wiederholt sich in analoger Weise gegenüber der Abstinenztheorie. Es wird sich dies später noch in drastischer Weise illustrieren, und zwar gerade an der eigenen Theorie Marshalls selbst. Ich werde nämlich im Verlaufe dieses Buches die mit allen Detailaus- ') Siehe z. B. S. 89ff., 226, 227 Abs. 2, 227 am Ende, 228ff. der ersten Auflage. Böhra-Bawerk, Kapitalzins. 4 Aufl. H X^YJII Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. führungen über die Rolle der Produktivität ausgestattete Theorie Mar- shalls dennoch genau demselben theoretischen Typus beizählen und ihr auch in meiner Kritik nicht weniger entgegenhalten müssen, als ich dies gegenüber der — vermeintlich unvollständig und einseitig geschilderten — Abstinenztheorie der Älteren seinerzeit zu tun bemüßigt war! Marshall irrt also, wenn er meint, daß ich den die Angebotseite charakteristisch entwickelnden Zinstheorien eine Gedankenlücke in Bezug auf die Nachfrageseite zugeschrieben und sie dadurch gegenüber der Kritik in Nachteil gesetzt hätte. Wenn aber Prof. Marshall mir weiter daraus einen Vorwurf machen will, daß ich umgekehrt gewissen, die Produktivität des Kapitales exklusiv betonenden Theorien nicht auch eine Berücksichtigung der „Angebot- seite" zugeschrieben habe, und als Objekt dieses Vorwurfes ausdrücklich die „naiven Produktivitätstheorien" nennt, so habe ich folgendes zu be- merken. Die meisten und bedeutendsten der von mir unter dieser Stich- marke erwähnten Schriftsteller (wie z. B. Say, Röscher, Rossi, Leroy- Beaulieü, Cauwes und Andere) haben tatsächlich auch die „Angebot- seite" ausdrücklich berührt, was von mir aber auch nicht weniger aus- drücklich, und hie und da, z. B. gegenüber der wichtigen Theorie von J. B. Say, sogar auch recht ausführlich festgestellt wurde. Selbst wo sich bei einem Produktivitätstheoretiker auch nur die leiseste Hindeutung auf ein konkurrierendes Opfermotiv u. dgl. vorfand, war ich darauf bedacht, diese Hindeutung jedesmal getreulich zu verzeichnen (wie z. B. bei Mal- THus). Je deutlicher freilich jene Beziehungen auf ein konkurrierendes Opfer an Kapitalnutzungen, an „Abstinenz", an Ersparungsarbeit u. dgl. waren, destoweniger fügten sie sich inhaltlich mit dem gewöhnlich sehr dezidierten Hinweise auf eine ,, selbständige", keineswegs von der kapital- erzeugenden Arbeit bloß abgeleitete, „wertschaffende" Produktivkraft des Kapitales zu einem harmonischen, oder auch nur vereinbaren Ganzen zusammen, und deshalb war ich veranlaßt, die meisten jener Schriftsteller, unter ausdrücklicher Berücksichtigung ihrer zur Angebotseite vorge- brachten Äußerungen, unter die Eklektiker zu stellen. Andere der „naiven" Produktivitätstheoretiker aber haben ihre emphatische Betonung der selbständigen Produktivkraft des Kapitales auch nicht mit der leisesten Hindeutung auf den Einfluß der „prospec- tiveness" oder irgendeines Opfermotivs verbrämt. Hätte ich da einen bewußten theoretischen Bedacht auf diese Motive in ihre Lehre hinein- deuten sollen oder dürfen? Wohlgemerkt, nicht etwa bloß die selbstver- ständliche Kenntnis von der ja schon Adam Smith geläufigen Tatsache, daß die kapitalistische Produktion ihre Früchte erst in der Zukunft bringt, oder daß das Kapital nur durch Ersparung gebildet und vermehrt werden kann, sondern den bewußtt Gedanken, daß für die Entstehung des Kapitalzinses erst dieses Moment — neben und trotz der Produktivität Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. XIX des Kapitalos — den Ausschlag gibt? Und bejahenden Falles, hätte ich ihnen jenen Gedanken nur in der nebelhaften Allgemeinheit, daß über- haupt die „prospectiveness" etwas mit der Entstehung des Kapitalzinses zu tun haben müsse, oder aber schon als ausgestalteten Bedacht auf einen bestimmten, in dieser „prospectiveness" steckenden Opferkern, auf ein Opfer an separaten Nutzungen, an Abstinenz, an Ersparungsarbeit usw., zuschreiben sollen? und, in letzterem Falle, als Bedacht auf welchen dieser doch recht verschiedenartigen Kerne? Ich glaube, was immer ich anderes getan hätte als ich tatsächlich getan habe, so hätte ich historisch untreu und zugleich gegen die be- treffenden Schriftsteller ungerecht werden müssen. Historisch untreu: denn ich glaube, daß eine gewisse, einst ziemlich populäre, heute freilich gründlich aus der Mode gekommene Ideenrichtung wirklich mit dem Hinweis auf die Existenz einer selbständigen wertschaffenden Kraft des Kapitales das Zinsproblem für theoretisch erledigt hielt; eine Ideenrichtung, die innerlich verwandt und zeitlich in der Mitte stehend ist zwischen der alten Physiokratenmeinung von der privilegierten wertschaffenden Kraft des Bodens und dem neueren, aber wie ich glaube, allemeuestens auch schon im Niedergange begriffenen Sozialistenvorurteil von der privi- legierten wertbildenden Kraft der Arbeit. Aber auch ungerecht gegen die Schriftsteller selbst hätte ich mit jenem Hineindeuten unausgesprochener Motive werden müssen. Denn ich hätte sie dann tadeln müssen für Dinge, die sie gar nicht gesagt und höchstwahrscheinlich auch gar nicht gedacht haben. Hätte ich ihnen nämlich nur jenen allgemeinsten, rahmenhaften Bedacht auf die „pro- spectiveness" zugeschrieben, so hätte ich ihnen ja sofort entgegenhalten müssen, daß damit noch nicht einmal der Versuch einer wirklichen Er- klärung gemacht sei. Statt einer zwar verfehlten, aber immerhin charakte- ristischen, im Geiste ihrer Zeit gelegenen wirklichen Theorie hätte ich ihnen eine verschwommene, die Schwierigkeiten und den springenden Punkt des Problems gar nicht erkennende, gewissermaßen eine theorielose Meinung zuschreiben müssen — und ich weiß nicht, ob dies in den Augen des Kritikers als ein höher stehender Grad der Erkenntnis anzusehen gewesen wäre. Daß ich aber jenen schweigsamen Autoren innerhalb jenes Rahmens eine zu Ende gedachte wirkliche Theorie, also etwa eine kom- plette Nutzungs-, oder Abstinenz-, oder Arbeitstheorie u. dgl. hätte zu- schreiben sollen, wäre offenbar ein völlig unzulässiges Ansinnen. Denn das hätte nicht etwa nur geheißen, ein von den Autoren weiß gelassenes Blatt aus eigener Phantasie vollzuschreiben, sondern es hätte geheißen, ein Gebüde eigener Phantasie an einer SteUe einzuschalten, an der die Autoren selbst höchstwahrscheinlicherweise nicht einmal ein weißes Blatt hatten lassen wollen. Und für jene aus freier Phantasie angedichtete Nutzungs-, oder Arbeits-, oder Abstinenztheorie — und wäre sie selbst II* XX Aus dem Vorwort zur zweiten Auflage. eine vollständige und genaue Kopie der so wohlbedächtig zusammen- gefügten MARsHALLschen Theorie gewesen — hätte ich überdies jene Autoren erst recht zur kritischen Verantwortung ziehen müssen, da ich ja keine jener Erklärungen für zutreffend zu halten in der Lage bin. Es liegt aber auf der Hand, daß ich durch einen solchen Vorgang gerade jene Vorwürfe, die mir jetzt Mr. Walker und Prof. Marshall mit Un- recht gegen mich zu erheben scheinen, mit vollstem Recht und in vollster Schwere auf mich geladen hätte: denn wenn es irgend etwas gibt, was den Namen einer weder getreuen noch wohlwollenden Dogmengeschichte ver- dient, wäre es doch die Manier, einen Schriftsteller eines Irrtumes zu zeihen, für dessen tatsächliches Vorhandensein sich in seinen Schriften auch nicht die leiseste Andeutung findet. Alles in allem glaube ich, daß Prof. Mars hall keines dieser Ansinnen an mich gestellt hätte, wenn ihn nicht die außerordentliche Klarheit und Schärfe, die ihn sonst im Entwurf und in der Durchführung seiner theo- retischen Ideen auszuzeichnen pflegt, leider gerade in demjenigen Teile seines bewunderungswürdigen Werkes im Stiche gelassen hätte, welcher dem Probleme des Kapitales gewidmet ist. Wie ich schon früher andeutete: der Quellpunkt seiner abweichenden und, wie ich glaube, unzutreffenden dogmenhistorischen Urteile ist seine eigene nicht genug klare und tiefe Erfassung des Problemes. Er unterschätzt seine Schwierigkeit, er gewahrt allerlei sachliche und logische Klippen nicht, die semer befriedigenden Lösung im Wege stehen — es wird sich dies alles auch noch an der eigenen, positiven Zinstheorie Marshalls erproben, über die ja der Leser im Laufe dieses Werkes gleichfalls Gelegenheit erhalten wird zu urteilen — und- er ist darum geneigt, Bestrebungen, die auf die Auf Weisung und Über- windung jener Klippen gerichtet sind, als überflüssige Subtilitäten gering zu schätzen, oder sogar — zumal dem kritisierenden Dogmenhistoriker — geradezu übel zu nehmen. Einen so großen Wert ich daher sonst darauf lege, mich mit dem hochgeschätzten Verfasser der „Principles of Eco- nomics" in Übereinstimmung zu wissen, so glaube ich doch, daß ich be- züglich der hier in Diskussion stehenden Probleme nur dann eine Chance habe, dieselben zutreffend zu beurteilen, wenn ich sie anders beurteile als dies Mr. Walker und Prof. Marshall getan haben. Wien, im August 1900. Vorwort zur dritten Auflage. Auch für die vorliegende dritte Auflage habe ich den Text meiner „Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien" wieder einer durch- greifenden und sorgfältigen Überprüfung unterzogen und, wo es nötig schien, bessernd und ergänzend Hand angelegt. Doch war ich diesmal im Ausmaß der neuen Zusätze möglichst zurückhaltend, um den schon in der zweiten Auflage so sehr angewachsenen Umfang meines Buches nicht ins Übermaß schwellen zu lassen. So suchte ich insbesondere dem Vielen, was die überaus rege Entwicklung der Kapitalliteratur mir neuer- dings während der Jahre seit 1900 an Stoff zubrachte, zumeist nur durch knappe, wo möglich in die Noten verlegte Erwähnungen gerecht zu werden, während ich mich zu umfangreicheren Einschaltungen in den Text selbst nur in ganz vereinzelten Fällen, wie z. B. gegenüber der Zinstheorie OswALTs entschloß. Denn ich möchte den Historiker in diesem Werke nicht durch den Chronisten ersticken lassen. Das Schwergewicht meines Buches scheint mir auch heute noch in seinen eigentlich historischen Partien zu liegen, mit denen ich vor nunmehr 30 Jahren an die Öffentlich- keit trat. Die Fortführung einer Chronik über die Tageserscheinungen ist eine Sache anderer Art. Sie war vielleicht in einem Ausnahmsfall, in welchem 30 Jahre nach dem Erscheinen des ursprünglichen Werkes nicht bloß der Autor, sondern auch sein Buch noch am Leben war, nicht ganz zu vermeiden; aber die Hauptsache in diesem Buche soll doch die in großen Zügen zusammenfassende Geschichte bleiben, und nicht eine sich in Einzelheiten verlierende Chronik. Wien, im Juni 1914. E. Böhm-Bawerk. Inhaltsyerzeiebnis. Seit« I. Das Problem des Kapitalzinses. Inhalt des theoretischen Zinsproblemes. Seine Unterscheidung vom Bozialpolitischen Zinsproblem. Gefahren der Vermischung beider — Vor- läufige Erklärung einiger Grundbegriffe 1 — 8 II. Die antik-philosopfaisehe und kanonistisehe Gegnerschaft des Lelh- alnses. Der Darlehenszins das erste, und sehr lange das einzige Objekt der Zins- theorie. Die Zinsfeindlichkeit der niederen Kulturstufen. Gesetzliche Zins- verbote der alten Welt. Die antiken Philosophen. Aristoteles. Die christ- liche Kirche erneuert das Zinsverbot. Theoretische Grundlagen der kano- nistischen Lehre 9—19 III. Die Verteidiger des Leihzinses Tcm IC bis Ins 18. Jahrhundert. Der Niedergang der kanonistischen Lehre. Widerstand der Praxis gegen das kanonistisehe Zinsverbot. Dieses durch zahlreiche Ausnahmen durchbrochen. Beginn einer prinzipiellen Opposition. Calvin. Molinaeus. Ihre ersten Nachfolger. Besold. Baoon. Durchbruch der zinsfreundlichen Lehre in den Niederlanden. Hugo Grotius und Salmasids. Die Lehre des Letzteren. — Allmählidies Durchgreifen der zinsfreundlichen Richtung auch in den übrigen Ländern. Charakter der Entwicklung in Deutschland. Justi, Sonnenpels. In England. Locke, Steuabt, Hume, Benthax. Zurückbleiben der roma- nischen Länder. Italien. Galiani, Beccakia. Frankreich. Hartnäckiges Festhalten seiner Gesetzgebung und Literatur an der kanonistischen Lehre. PoTHiEK, MiRABEAU. Endlicher Sieg Türoots. — Rückblick 20—52 IV. Turgots Fruktilikationstheorie. Die Zeit vor Türgot der Erforschung des ursprünglichen Kapitalzinses angünstig. Gründe davon. Auch die älteren Physiokraten untersuchen ihn noch nicht. Turgot stellt die erste allgemeine Zinstheorie auf. Ihr Charakter. Ihre Fehler. Sie erklärt im Zirkel 53—60 V. Das Zinsproblem bei Adam Smith. ÜberbUek über die fernere Ent- wicklang. Mangel einer deutlich ausgeprägten Theorie bei Smith. Widersprechende Bemerkungen. Sie enthalten die Keime der wichtigsten späteren Theorien. Smith theoretisch und sozialpolitisch neutral. — Wachsende praktische Bedeutung des Zinsproblemes. Sie gibt den Anstoß zu einer regeren theo- retischen Bearbeitung desselben. Zerfahrenheit der Nach-Smithschen Literatur. Ihre fünf Hauptrichtungen 61 — 69 VI. Farblose Theorien. Die „Farblosen" in der älteren deutschen Literatur besonders zahlreich. SoDEif, LoTZ, Jakob, Fulda, Eiselen, Rau u. a. Englische Literatur. Ricardo, Torrens, McCullogh, McLeod u. a. Vergleichsweise seltenes Auftreten „farbloser" Lehren in der französischen Literatur. Ursache davon. G. Garnier, Gakard, Dsoz 70 — 95 XXVI Inhaltsverzeichnis. Seite zu erbringen. Untersuchung jenes Satzes. Hinfälligkeit des Autoritäten- beweises, der auf Smith und Ricardo gestützt zu werden pflegt. Unter- suchung und Widerlegung der Gründe, die Marx zu seinen Gunsten vor- bringt. Untersuchung des Erfahrungsmateriales. Dieses widerspricht gleichfalls dem Arbeitswertgesetze. Gänzliche Unhaltbarkeit des letzteren. — Die nachgelassenen Bände des MARXschen Systemes. Die Lehre von den „Produktionspreisen" und der „Durchschnitteprofitrate". Ihr Selbst- widerspruch mit den Grundlagen der MARXschen Theorie 367 — 391 C. Die MARXSche Lehre im Munde seiner Nachfolger. Um- deutungsversuche von Sombart und C. Schmidt. Kritik derselben. Bern- stein. — Schlußergebnisse 398—41« XIII. Die Eklektiker. Allgemeiner Charakter und Beurteilung des Eklektizismus. Einzelne Gruppen des letzteren. Mischungen der Produktivitäts- und Abstinenz- theorie. Rossi, MoLiNARi, Lepoy-Beaülieu, Röscher u. a. Cossa, Jevons. — Kombinationen mit der Arbeitstheorie. Read, Gerstner, Cauwes, J. Garnier. — Mischungen zinsfreundlicher mit zinsfeindlichen Theorien. Hoffmann, J. St. Mill, Schäffle 414 — 421 XIV. Zwei neuere Versuche. Einleitung 430 a) Georges jüngere Fruktifikationstheorie. Darstellung der- selben. Sie leitet den Zins aus der schaffenden Ej-aft der Natur ab. Ein- wendungen. Sie wiederholt den physiokratischen Irrtum. Sie läßt auch den Zins der natürlich fruchtbaren Güter, um so mehr den der sonstigen Kapitalgüter unerklärt 430 — 43* b) Schellwiens modifizierte Abstinenztheorie. Darstellung derselben. Kritik. Doppelspiel mit dem Begriffe ,, Konsumtion des Kapi- tales". Verhältnis Schellwiens zur Arbeitswerttheorie. Die Gefahren falscher Idealisierung der natürlichen Grundlagen der Wirtschaft .... 436 — 44 XV. Schlußbetrachtungen. Die drei Grundauffassungen des Zinsproblemes. Das letztere weder ein reines Produktions-, noch ein reines Verteilungs-, sondern ein Wertproblem. Die Rangstufen der Entwicklung. Die niedrigste Stufe. Das Vorurteil von den wertechaffenden Kräften und seine Geschichte. Höhere Stufen. Die Richtlinie der Entwicklung. Der Ausgangspunkt für die endliche Lösung des Problemes 444 — 4ö( Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart (1884 — 1914). I. Überblick 451— 4a II. Die Agiotheorie und einige andere neue Erklärungsversuche . . . 453 — 46! III. Nutzungsiheorien. Insbesondere die Theorie Oswalts 464 — 48( IV. Die Abstinenztheorie. Fortbildung derselben insbesondere durch Macvane und Marshall. Ein Umdeutungsversuch Carvers . . 480 — 50i V. Arbeitstheorien. Die Theorie Stolzmanns 603 — 61- VI. Motivierte Produktivitätstheorien. Insbesondere jene Wiesers . . 514 — 63( VII. Die Ausbeutungstheorie und ein „vulgär-ökonomischer Ableger" derselben. Dietzel, Lexis, Oppenheimer, Tugan-Baranowsky 530 — 531 VIII. Eklektische Theorien. Eine grundsätzliche Verteidigung des Eklekti- zismus durch Dietzel 535 — 53( IX. Heutiger Stand der Meinungen 539 — 54< Autorenregister 643 — 54( I. Das Problem des Eapitalzinses. Wer ein Kapital besitzt, ist in der Regel imstande, sieh aus dem- selben ein dauerndes reines Einkommen zu verschaffen, welches in der Wissenschaft den Namen Kapitalrente oder Kapitalzins im weiteren Sinne des Wortes führt. Dieses Einkonunen zeichnet sich durch einige merkwürdige Eägen- schaften aus. Es entsteht unabhängig von irgendeiner persönlichen Tätigkeit des Kapitalisten; es fließt ihm zu, auch wenn er keine Hand zu seiner Ent- stehung gerührt hat, und scheint daher in ausgezeichnetem Sinne dem Kapitale zu entspringen, oder — nach einem uralten Vergleiche — von diesem gezeugt zu werden. Es kann aus jedem Kapital erlangt werden, gleichviel aus welchen Gütersorten dieses besteht: aus natürlich frucht- baren Gütern so gut wie aus unfruchtbaren, aus verbrauchlichen so gut wie aus dauerbaren, aus vertretbaren so gut wie aus nicht vertretbaren, aus Geld so gut wie aus Waren. Es fließt endlich, ohne das Kapital, aus dem es hervorgeht, jemals zu erschöpfen, und ohne daher in seiner Dauer an irgendeine Grenze gebunden zu sein: es ist, soweit man sich in irdischen ' Dingen überhaupt dieses Ausdruckes bedienen darf, einer ewigen Dauer fähig. So bietet die Zinserscheinung im ganzen das merkwürdige Bild einer immerwährenden und unerschöpflichen Güterzeugung des leblosen Kapi- tales. Und diese merkwürdige Erscheinung tritt im Wirtschaftsleben ndt so großer Regelmäßigkeit auf, daß man nicht selten sogar den Begriff des Kapitales auf sie begründet hat. So definiert Hermann in seinen „Staats wirtschaftlichen Untersuchungen" das Kapital als ein „Vermögen, das seine Nutzung, wie ein immer neues Gut, fortdauernd dem Bedürfnis darbietet, ohne an seinem Tauschwert abzunehmen"^). Woher und warum empfängt der Kapitalist jenen end- und mühelosen Güterzufluß? Diese Worte enthalten das theoretische Problem des Kapitalzinses. Es wird gelöst sein, wenn die geschilderte Tatsache des Zinsenbezuges mit allen ihren wesentlichen Merkmalen voll- ständig erklärt sein wird. Vollständig dem Umfange wie der Tiefe nach; ») 2. Aufl. S. 111. Böbm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 2 I. Das Problem des Kapitalzinses. vollständig dem Umfange nach, indem alle Formen und Varietäten des Zinsenempfanges ihre Erklärung finden; vollständig der Tiefe nach, indem diese Erklärung lückenlos geführt wird bis an die Grenze nationalökono- mischer Untersuchung; mit anderen Worten, indem die Erklärung zurück- geführt wird bis auf jene letzten, einfachen und anerkannten Tatsachen, an denen die nationalökonomische Erklärung überhaupt endet, auf welche die Nationalökonomie sich stützt, ohne sie weiter zu beweisen, und deren fernere Erklärung, wenn sie gefordert wird, angrenzenden Wissenschaften, zumal der Psychologie und den Naturwissenschaften zur Last fällt. Vom theoretischen ist das sozialpolitische Zinsproblem genau zu unterscheiden. Während das theoretische Problem fragt, warum der Kapitalzins da ist, fragt das sozialpolitische Zinsproblem, ob der Kapital- zins da sein soll; ob er gerecht, billig, nützlich, gut, und ob er darum bei- zubehalten, umzugestalten oder aufzuheben ist. Während das theoretische Problem sich ausschließlich für die Ursachen des Kapitalzinses interessiert, interessiert sich das sozialpolitische hauptsächlich für seine Wirkungen. Während das theoretische Problem sich nur um die Wahrheit kümmert, achtet das sozialpolitische Problem vor allem auf die Zweckmäßigkeit. So verschieden die Natur beider Probleme, so verschieden ist auch der Charakter der Argumente, die bei jedem derselben Anwendung finden, und die Strenge in der Beweisführung. Wahrheitsgründe allein sind dort, Opportunitätsgründe sind vorwiegend hier die entscheidenden; Während in der Frage nach dem Warum? des Zinses nur eine Wahrheit gefunden werden kann, deren Anerkennung sich bei korrekter Anwendung der Denkgesetze bei jedermann erzwingen läßt, bleibt die Entscheidung, ob der Zins gerecht, billig und nützlich sei, notwendig in erheblichem Grade Ansichtssache; auch die triftigste Argumentation wird hier zwar viele Andersdenkende überzeugen, nie aber alle Andersdenkenden überführen können. Wer z. B. durch die triftigsten Gründe wahrscheinlich zu machen weiß, daß eine Aufhebung des Kapitalzinses unabwendbar einen Rück- gang des materiellen Wohlstandes der Völker nach sich ziehen müßte, hat noch gar keinen Vorteil über jenen errungen, der nach seinem sub- jektiven Ermessen den materiellen Wohlstand überhaupt für keine große Sache hält; etwa deshalb, weil das irdische Leben nur ein kurzer Moment im Vergleich zur Ewigkeit sei, und weil der materielle Reichtum, der durch den Kapitalzins genährt wird, die Erreichung der ewigen Bestimmung eher hindere als fördere. Es ist ein dringendes Gebot der Vorsicht, daß die beiden so grund- verschiedenen Probleme auch in der wissenschaftlichen Untersuchung scharf auseinander gehalten werden. Zwar stehen sie unleugbar in naher Beziehung zueinander. Insbesondere scheint mir ein richtiges Urteil darüber, ob dar Zins gut ist, durch nichts besser befördert werden zu können als durch eine richtige Einsicht in die Ursachen, aus denen er Die beiden Zweige des Problems. 3 da ist. Allein dieser Zusammenhang berechtigt doch nur dazu, die Re- sultate in Beziehung zu bringen, nicht auch dazu, die Untersuchungen zu vermischen. Der letztere Vorgang wird im Gegenteil die richtige Lösung beider Probleme in Gefahr bringen. Aus mehreren Gründen. Einerseits kommen bei der sozialpolitischen Frage naturgemäß allerlei Wünsche, Neigungen und Leidenschaften ins Spiel, die, wenn beide Probleme in einem Atem untersucht werden, nur ajlzu leicht auch in den theoretischen Teil der Untersuchung Eingang finden und hier durch ihr Gewicht parteiisch eine der Wagschaleu zum Sinken bringen; vielleicht diejenige, welche, wenn nur Gründe abgewogen worden wären, die leichtere geblieben wäre. Was man gerne glaubt, sagt ja ein altes, wahres Sprichwort, das glaubt man leicht. Ist aber das Urteil über das theoretische Zinsproblem ein schiefes, so wird hierdurch rückwirkend natürlich auch die Richtigkeit des praktisch-politischen Urteils beeinträchtigt. Sodann birgt derselbe Vorgang eine stetige Gefahr, daß auch von an sich berechtigten Argumenten ein unberechtigter Gebrauch gemacht werde. Wer beide Probleme vermischt oder wohl gar verwechselt, und über sie nach Einem Verfahren Ein Urteil fäUt, wird leicht auch die beiden Gruppen von Argumenten vermischen, und jedem von ihnen einen Ein- fluß auf das ganze Urteil einräumen. Das heißt, er wird sein Urteil über die Ursachen der Zinserscheinung zum Teil von Zweckmäßigkeitsgründen leiten lassen, was unbedingt vom Übel ist, und er wird sein Urteil über die Güte der Institution des Kapitalzinses zum Teü unmittelbar durch rein theoretische Erwägungen leiten lassen, was wenigstens vom Übel sein kann. Es kann z. B. bei einer Vermischung beider Probleme leicht vorkommen, daß jemand deshalb, weü die Existenz des Kapitalzinses von nützlichen Folgen für den Ertrag der nationalen Produktion begleitet ist, geneigter wird einer Theorie zuzustimmen, welche die Ursache des Zinses in einer produktiven Kraft des Kapitales erblickt; oder es kann vorkommen, daß jemand, weil er die theoretische Einsicht gewonnen hat, daß der Kapitalzins einem durch die Konkurrenzverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit verursachten Abzüge am Arbeitsertrage seine Entstehung verdanke, deshalb ohne weiteres die Existenz des Zinsinstitutes verdammt und das letztere aufgehoben wissen wül. Eines ist so ungehörig wie das andere. Ob die Existenz des Zinses nützliche oder schädliche Folgen für die volkswirtschaftliche Produktion hat, hat absolut nichts mit der Frage zu tun, warum der Zins da ist; und die Erkenntnis der Quelle, aus der der Kapitalzins stammt, darf wieder absolut nicht allein über die Frage entscheiden, ob der Kapitalzins beibehalten oder aufgehoben werden solL Mag die Quelle des Zinses was immer für eine, mag sie sogar eine recht trübe sein: so wird man sich für die Aufhebung des Kapitalzinses doch nur dann und nur deshalb entscheiden dürfen, wenn und weil die berech- 1* 4 I. Das Problem des Kapitalzinses. tigten Wohlfahrtsinteressen des Volkes durch die Aufhebung des Zinses besser fahren würden. Die Vorsieht, die beiden verschiedenen Probleme in der wissenschaft- lichen Behandlung zu trennen, ist von vielen Schriftstellern außer acht gelassen worden. Obwohl dieser Umstand die Quelle vieler Irrungen, Mißverständnisse und Vorurteile geworden ist, besitzen wir kaum ein Recht, ihn zu beklagen: denn das praktische Zinsproblem hat das Schlepp- tau geboten, an dem das theoretische in die wissenschaftliche Behandlung eingeführt wurde. Durch die Verquickung beider Probleme — es ist wahr — mußte das theoretische Problem unter Umständen bearbeitet werden, die der Elrforschung der Wahrheit nicht günstig waren; aber ohne jene Verquickung wäre es von sehr vielen tüchtigen Schriftstellern gar nicht bearbeitet worden. Desto wichtiger ist es, aus solchen Erfahrungen der Vergangenheit für die Zukunft Nutzen zu ziehen. Ich habe in absichtlicher Selbstbeschränkung mir die Aufgabe gestellt, in den folgenden Blättern die kritische Geschichte des theoretischen Zinsproblemes zu i shreiben. Ich werde versuchen, die wissenschaftlichen Bestrebungen, welche der Erforschung des Wesens und Ursprungs des Kapitalzinses galten, in ihrer historischen Entwicklung darzustellen und die Richtigkeit der verschiedenen Ansichten, die hierüber zutage getreten sind, einer kritischen Prüfung zu unterwerfen. Dagegen werde ich Urteile darüber, ob der Zins gerecht, nützlich und billigenswert sei, nur insoweit in den Kreis meiner Darstellung ziehen, als es unerläßlich ist, um den in ihnen enthaltenen, theoretischen Kern auslösen zu können. Trotz jener Selbstbeschränkung brauche ich um Stoff für meine kritische Geschichte nicht verlegen zu sein: weder für die Geschichte, noch für die Kritik. Denn es hat sich über das Thema des Kapitalzinses eine Literatur angesammelt, die an Umfang von wenigen, an Vielseitigkeit der in ihr zutage getretenen Meinungen von gar keinem anderen Einzel- zweige der nationalökonomischen Literatur erreicht wird. Nicht eine, nicht zwei oder drei, sondern ein reichliches Dutzend von Zinstheorien geben Zeugnis von dem Eifer, mit dem sich die Nationalökonomen der Erforschung des merkwürdigen Problems zugewandt haben. Ob diese Bemühungen ebenso glücklich als eifrig waren, mag mit einigem Grunde bezweifelt werden: Tatsache ist, daß von den zahlreichen Ansichten, die über das Wesen und den Ursprung des Kapitalzinses auf- gestellt wurden, keine einzige ungeteilten Beifall zu erlangen imstande war. Wenn auch jede von ihnen, wie natürlich, innerhalb eines gewissen, bald größeren, bald kleineren Anhängerkieises den Glauben voller Über- zeugung fand, so ließ doch auch jede von ihnen Bedenken genug übrig, um ein vollkommen siegreiches Durchgreifen zu hindern. Dabei erwiesen sich auch jene Theorien, welche nur schwache Minoritäten auf sich zu vereinigen vermochten, zähe genug, um sich nicht ganz verdrängen zu Grundbegriffe. 5 lassen. Und so weist der heutige Stand*) der Tlieorie des Kapitalzinses eine bunte Musterkarte der verschiedenartigsten Meinungen auf, von denen keine zu siegen imstande, und keine sich für besiegt zu geben willens ist, deren Vielzahl allein aber dem Unparteiischen anzeigt, welche Masse Irrtums notwendig in ihnen walten muß. Vielleicht ist es mir vergönnt, durch die nachfolgenden Blätter die Sache der Einigung, die heute noch in weitem Felde scheint, um einige Schritte näher zu bringen. Ehe ich mich memer eigentlichen Aufgehe zuwenden kann, muß ich mich mit meinen Lesern kurz über einige Begriffe und Unterscheidungen verständigen, deren wir uns in der Folge vielfach zu bedienen haben werden. Unter den vielen Bedeutungen, welche dem Namen „Kapital" in der leider so stark dissentierenden Terminologie unserer Wissenschaft beigelegt werden, werde ich mich für den Bereich dieser kritischen Unter- suchung an diejenige halten, in welcher Kapital bedeutet einen Komplex produzierter Erwerbsmittel, d. i. einen Komplex von Gütern, die durch eine vorausgegangene Produktion entstanden, und nicht zu un- mittelbarer Genußkonsumtion, sondern zur Erwerbung weiterer Güter zu dienen bestimmt sind. Außerhalb des Kapitalbegriffes stehen daher für uns Gegenstände des unmittelbaren Genußgebrauches einerseits, und der gesamte (nicht produzierte) Grund und Boden andererseits. Daß ich gerade dieser Bedeutung den Vorzug gegeben habe, will ich einstweilen nur durch ein paar Zweckmäßigkeitsgründe rechtfertigen. Erstlich bleibe ich so mit dem Sprachgebrauche wenigstens der relativen Majorität der Schriftsteller, deren Ansichten ich darzustellen haben werde, in Harmonie; und zweitens entspricht diese Abgrenzung des Kapitalbegriffs auch am besten den Grenzen des Problems, mit dem wir uns beschäftigen wollen. Wir beabsichtigen ja nicht die Theorie der Grundrente, sondern nur die theoretische Erklärung jenes Gütererwerbes zu verfolgen, der sich aus anderweitigen Güterkomplexen, mit Ausschluß des Grundes und Bodens, ableitet. — Eine eingehendere Entwicklung des Kapitalbegriffes behalte ich mir für den zweiten, dogmatischen Hauptteil dieses Werkes vor. Innerhalb des allgemeinen Kapitalbegriffes sind femer bekanntlich zwei Nuancen zu unterscheiden: der volks-(sozial-)wirtschaftliche Kapital- begriff, der die Mittel zu volkswirtschaftlichem Erwerbe und nur diese umfaßt; und der individualwirtschaftliche Kapitalbegriff, der die Mittel individualwirtschaftlichen Erwerbs, d. i. die Güter umschließt, durch die ein Individuum Güter für sich erwirbt, gleichviel ob die ersteren im Sinne der ganzen Volkswirtschaft Erwerbs- oder Genußmittel, Produktiv- oder ') Geschrieben im Jahre 1884. g I. Das Problem des Kapitalzinses. Konsumtivgüter sind. So werden z. B. die Bücher einer Leihbibliothek zwar unter den individualwirtschaftlichen, nicht aber unter den volks- wirtschaftlichen Kapitalbegriff fallen. Der Umfang des letzteren wird sich — wenn man von den wenigen ins Ausland entgeltlich verliehenen Gegen- ständen unmittelbaren Genußgebrauches absieht — mit den produ- zierten Produktionsmitteln eines Landes decken. Die Zinstheorie hat mit beiden Nuancen des Kapitalbegriffes zu tun. Eigentlich sollte sie, da der Zins eine Form des individualwirtschaftlichen Gütererwerbes darstellt, auch hauptsächlich an den individualwirtschaftlichen Kapital- begriff anknüpfen. Besondere Umstände haben es jedoch mit sich ge- bracht, daß in den meisten Erörterungen des Zinsproblems gleichwohl der volkswirtschaftliche Kapitalbegriff im Vordergrund des Interesses steht. Wir werden daher gewöhnlich den letzteren im Sinne haben, wenn wir das Wort Kapital ohne weiteren Zusatz gebrauchen. Das aus dem Kapitale fließende Einkommen werde ich Kapitalrente oder, gewöhnlich, Kapitalzins nennen, das letztere Wort in seiner weiteren Bedeutung verwendend. Der Kapitalzins tritt wieder in mehrfacher Elrschelnungsform aut Zunächst ist zu unterscheiden zwischen rohem Kapitalzinse (Brutto- zins) und reinem Kapitalzins (Nettozins). Der erste stellt ein Gemenge heterogener Einnahmen dar, die nur äußerlich ein Ganzes bilden. Er umfaßt den Bruttoertrag der Kapitalverwendung, in dem sich neben dem wahren Kapitalzinse gewöhnlich ein Teilersatz für aufgewendete Kapitalsubstanz, dann für allerlei laufende Kosten, Reparaturauslagen, Risikoprämien u. dgl. findet. So ist der Mietzins, den der Hauseigentümer für vermietete Wohnungen einnimmt, ein Bruttozins, von welchem eine gewisse Quote für die laufenden Erhaltungskosten und für den einstigen Wiederaufbau des im Laufe der Zeit verfallenden Hauses abgezogen werden muß, um das darin enthaltene wahre Kapitalseinkommen zu ermitteln. — Der reine Zins ist dagegen eben dieses wahre Kapitalseinkommen, wie es sich nach Ausscheidung jener heterogenen Elemente aus dem rohen Zinse darstellt. Die Zinstheorie hat es natürlich mit der Elrklärung des reinen Kapitalziuses zu tun. Ferner ist zu unterscheiden der ursprüngliche vom ausbedun- genen Kapitalzins oder Leihzins. In den Händen desjenigen, der ein Kapital zur Produktion verwendet, äußert sich nämlich der Nutzen des Kapitales darin, daß die Gesamtheit der mit Hilfe des Kapitales hergestellten Produkte regelmäßig einen höheren Wert besitzt, als die Gesamtheit der in der Produktion aufge- wendeten Kosteugüter. Der Wertüberschuß bildet den Kapitalgewinn oder den ursprünglichen Kapitalzins, wie wir ihn nennen wollen. Der Eigentümer von Kapitalien verzichtet jedoch häufig darauf den ursprünglichen Kapitalzins selbst zu gewinnen, und zieht es vor, die Grundbegrifie. 7 temporäre Benützung des Kapitales einem anderen gegen ein bestimmtes Entgelt zu überlassen. Dieses Entgelt führt im vulgären Sprachgebrauch verschiedene Namen. Es heißt Miet- oder Pachtzins, wenn das überlassene Kapital aus dauerbaren Gütern bestand. Es heißt Zinsen oder Interessen, wenn das Kapital aus verbrauchlichen oder vertretbaren Gütern bestand. Alle diese Varietäten lassen sich indes passend unter dem einheitUchen Namen des ausbedungenen Kapitalzinses oder Leihzinses zu- sammenfassen. Während der Begriff des Leihzinses überaus einfach ist, bedarf der Begriff des ursprünglichen Kapitalzinses noch einer näheren Bestimmung. Es kann nämlich mit Recht fraglich erscheinen, ob der gesamte Gewinn, den der Unternehmer einer Produljtion aus letzterer zieht, auf Rechnung seines Kapitales zu setzen ist. Zweifellos ist dies nicht der Fall, wenn der Unternehmer zugleich den Platz eines Arbeiters in seiner eigenen Unter- nehmung ausgefüllt hat; dann ist ohne Zweifel ein Teil des „Gewinnes" einfacher Arbeitslohn des Unternehmers. Aber auch wenn er am VoUzug des Produktionswerkes sich nicht persönlich beteiligt, so steuert er doch an geistiger Oberleitung, am Entwurf der Pläne für das Geschäft, oder doch wenigstens am Willensakt, durch den er über seine Produktionsmittel zugunsten einer bestimmten Unternehmung disponiert, ein gewisses Maß persönlicher Bemühung bei. Es fragt sich nun, ob nicht dem entsprechend im Gesamtgewinn, der aus der Unternehmung fließt, zwei Quoten zu unterscheiden seien, eine Quote, die als Erfolg des beigesteuerten Kapitales, als Kapitalgewinn, aufzufassen wäre, und eine zweite, die als Erfolg der Unternehmertätigkeit zu betrachten kommt ? Die Meinungen über diesen Punkt sind geteilt. Die Mehrzahl der Nationalökonomen zieht einen solchen Unterschied. Sie sondert aus dem Gesamtgewinn des Produktionsuntemehmens einen Teil als Kapital- gewinn, einen anderen als Unternehöiergewinn aus. Natürlich läßt sich nicht mit mathematischer Genauigkeit feststellen, wieviel in jedem einzelnen Fall der sachliche Faktor, das Kapital, und wieviel der persönliche Faktor, die Unternehmertätigkeit, zur Bildung des Gesamtgewinns beigetragen hat. Um dennoch beide Anteile ziffermäßig scheiden zu können, entlehnt man einen Maßstab von anderen Umständen. Man sieht nämlich darauf, was sonst ein Kapital von bestimmter Größe gewöhnlich trägt. Dies stellt sich am einfachsten in dem Zinsfuß dar, den man bei vollkommen sicherer Verleihung von Darlehenskapitalien landesüblich erzielt. Man schreibt daher von dem Gesamtgewinn der Unternehmung jenen Betrag, der der landesüblichen Verzinsung des in der Unternehmung investierten Kapitales gleichkommt, auf Rechnung des letzteren, während man den Rest als „Untemehmergewinn" auf Rechnung der Tätigkeit des Unternehmers setzt. Erzielt z. B. eine Unternehmung, in der ein Kapital von 100000 fL investiert ist, einen Jahresgewinn von 9000 fl., und beträgt der landes- ^ I. Das Problem des Kapitalzinses. Übliche Zinsfuß 5%, so werden 5000 fl. als Kapitalgewinn, und die rest- lichen 4000 fl. als Unternehmergewinn angesehen. Eine Anzahl anderer Nationalökonomen ist dagegen der Ansicht, daß eine solche Scheidung unstatthaft, und daß der sogenannte Unter- nehmergewinn mit dem Kapitalgewinn homogen ist^). Die Entscheidung darüber, welche dieser Meinungen die richtige ist, bildet den Gegenstand eines selbständigen Problems von nicht geringer Schwierigkeit, des Problems des Unternehmergewinnes. Die Schwierigkeiten, welche unser spezielles Objekt, das Zinsproblem, umgeben, sind so bedeutend, daß mir nicht daran gelegen sein kann, sie durch die Komplikation mit einem zweiten schwierigen Problem zu ver- mehren. Ich werde daher. auf eine Untersuchung und Entscheidung des Problems des Untemehmergewinnes absichtlich nicht eingehen; ich werde nur dasjenige als Kapitalzins behandeln, über dessen Zinsnatur alle Par- teien einig sind; nämlich den ausbedungenen Kapitalzins ganz 2), und vom „ursprünglichen" Gewinn der Unternehmungen so viel, als der landes- üblichen Verzinsung des Untemehmungskapitales entspricht. Die Frage dagegen, ob der sogenannte Untemehmergewinn ein Kapitalgewinn ist oder nicht, werde ich absichtlich offen lassen. Glücklicherweise liegen die Verhältnisse so, daß ich ohne Schaden für unsere Untersuchung so vorgehen darf: denn diejenigen Erscheinungen, deren Zinsnatur feststeht, machen im schlimmsten Falle so sehr die Hauptmasse und den charakte- ristischen Kern des Zinsphänomens aus, daß man an ihnen das Wesen und den Ursprung desselben mit Sicherheit erforschen kann, auch ohne daß jene Grenzstreitigkeit zuvor entschieden zu werden braucht. Ich brauche wohl kaum ausdrücklich hervorzuheben, daß ich nicht der Meinung bin, mit den vorstehenden knappen Bemerkungen eine er- schöpfende, oder auch nur eine vollkommen korrekte Darstellung der Grundbegriffe der Kapitaltheorie gegeben zu haben: mir war nur darum zu tun, mit möglichst wenig Aufenthalt eine brauchbare und sichere Ter- minologie festzustellen, auf Grund deren wir uns in dem kritisch-histo- rischen Teile dieser Arbeit verständigen können. ') Siehe über die ganze Frage u. a. Pierstorff, Die Lehre vom Untemehmer- gewinn, Berlin 1875. In neuester Zeit hat wohl die Entwicklung der „Zurechnungs- theorie" einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der alten Streitfrage geliefert. ') natürlich, soweit er überhaupt ein reiner Zins ist. n. Die antik-philosophische nnd kanonistische Gegner- schaft des Leihzinses. Es ist eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß nicht allein unser "Wissen von den fragwürdigen Dingen, sondern auch unser Fragen nach ihnen sich erst allmählich entwickeln muß. Nur in den seltensten Fällen wird eine Erscheinung bei derjenigen Gelegenheit, bei der sie zum ersten Male unsere Aufmerksamkeit rege macht, auch schon in ihrem ganzen Umfange, in der ganzen Vollzahl ihrer innerlich zusammengehörigen Einzelfälle überblickt und zum Gegenstande Einer umfassenden Frage gemacht. Viel häufiger ist es anfangs nur ein besonders greller Einzelfall, der das Nachdenken der llenschen auf sich zieht, und erst allmählich gelangt man dazu, auch die minder auffälligen Glieder derselben Er- scheinungsgruppe als gleichartig zu erkennen und in das wachsende Problem einzubeziehen. So ist es auch mit der Erscheinung des Kapital- zinses gegangen. Er ist den Menschen zuerst nur unter der einen Gestalt des Leihzinses zum Gegenstand der Frage geworden, und man hatte schon volle 2000 Jahre über das Wesen des Leihzinses theoretisiert, ehe man die Frage nach dem Warum? und Woher? auch rücksichtlich des ursprünglichen Kapitalzinses zu stellen für nötig erachtete, und damit dem Problem des Kapitalzinses endlich seinen vollen natürlichen Um- fang gab. Daß dies so kam, ist durchaus begreiflich. Was am Kapitalzinse überhaupt zum Nachdenken herausfordert, ist sein arbeitsloses Hervor- quellen aus einem gleichsam zeugenden Muttergut. Diese charakte- ristischen Merkmale stechen am Leihzinse in so greller, und speziell am lieihzinse aus natürlich unfruchtbaren Geldsummen überdies in so pikanter Weise hervor, daß sie auch ohne geregeltes Nachdenken auffallen und zur Frage reizen mußten. Der ursprüngliche Kapitalzins wird dagegen zwar freilich nicht durch die Arbeit, aber doch unter Mitwirkung von Arbeit des Untemehmerkapitalisten erworben, was bei oberflächKcher Be- trachtung leicht verwechselt oder doch nicht scharf genug auseinander- gehalten werden konnte, um das befremdliche Moment des arbeitslosen Erwerbs auch im ursprünglichen Kapitalzinse wieder zu erkennen. Damit 10 II* l^ic antik-philosoph. u. kanonistische Gegnerschaft des Leihzinses. es dazu und zur sachgemäßen Erweiterung des Zinsproblems kommen konnte, mußte erst das Kapital selbst und seine Anwendung im volks- wirtschaftlichen Leben sich viel weiter entwickelt, und mußte namentlich eine systematisch forschende Untersuchung über die Quellen des Ein- kommens begonnen haben, die sich nicht damit begnügt zu finden, was in greller Auffälligkeit am Wege liegt, sondern auch die schlichteren Erscheinungsformen ans Licht zu ziehen weiß. Diese Bedingungen waren aber erst einige Jahrtausende nach dem ersten Befremden über den „vom unfruchtbaren Gelde gezeugten" Leihzins erfüllt. Die Geschichte des Zinsproblemes beginnt daher mit einer sehr langen Epoche, in der erst der Leihzins allein, oder noch euger begrenzt, in der der Darlehenszins allein Gegenstand der Untersuchung ist. Diese Epoche beginnt tief im Altertum und reicht bis in das 18. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Sie wird von zwei einander bekämpfenden Lehr- meinungen ausgefüllt: die erste, ältere, ist dem Leihzins abhold, die zweite, jüngere, verteidigt ihn. Der Verlauf dieses Streites ist kulturhistorisch in hohem Grade interessant, und hat auch auf die praktische Entwicklung des Wirtschafts- und Rechtslebens einen höchst bedeutenden Einfluß genommen, dessen Spuren sich noch heutzutage vielfach zeigen. Für die Entwicklung des theoretischen Zinsproblems ist aber die ganze Epoche trotz ihrer laugen Dauer und trotz der Unzahl der Schriftsteller, die in ihr tätig waren, wenig fruchtbar gewesen. Man stritt eben nicht um den Kern, sondern, wie wir sehen werden, um einen theoretisch ziemlich untergeordneten Vorposten des Zinsproblems. Auch stand die Theorie viel zu knechtisch im Dienste der Praxis. Es handelte sich den meisten Beteiligten nicht so sehr darum, das Wesen des Leihzinses um seiner selbst willen zu ergründen, als zu einer aus religiösen, moralischen oder wirt- schaftspolitischen Gründen festgewurzelten Meinung über Güte oder Verwerflichkeit des Zinses eine passende theoretische Handhabe zu finden. Da überdies die Blütezeit dieses Streites mit der Blütezeit der Scholastik zusammenfiel, so läßt sich denken, daß mit der Zahl der Gründe und Gegengründe nicht auch die Erkenntnis des AVesens des Gegenstandes, um den man stritt, parallel ging. Ich werde mich daher in der Darstellung dieser frühesten Ent- wicklungsphase unseres Problems sehr kurz fassen. Ich darf dies um so eher, als über dieselbe Periode bereits mehrere und zum Teil treffliche Bearbeitungen vorliegen, in denen der Leser weit mehr an Detail finden kann, als für unseren Zweck vorzuführen nötig, oder auch nur zweckmäßig ist^). — Ich wende mich zunächst zur Darstellung jener Richtung, welche dem Leihzinse feindlich war. ') Aus der reichen Literatur, die das Zins- und Wucherwesen der älteren Zeit behandelt, hebe ich hervor: Böhmer, Jus ecclesiasticum Protestantium, Halle 1736, Die ahtiken Philosophen. H Wie Röscher treffend bemerkt hat, stellt sich auf niedrigen Stufen wirtschaftlicher Kultur regelmäßig eine lebhafte Abneigung gegen das Zinsnehmen ein. Der Produktivkredit ist alsdann wenig entwickelt, fast alle Darlehen sind Konsumtiv-, zumal Notdarlehen. Der Gläubiger ist gewöhnlich reich, der Schuldner arm, und jener erscheint im gehässigen Lichte eines Mannes, der von dem wenigen des Armen im Zins noch einen Teil abpreßt, um ihn seinem überflüssigen Reichtum beizulegen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß sowohl die antike Welt, die trotz einigen volkswirtschaftlichen Aufschwungs doch das Kreditwesen nie sehr ent- wickelt hatte, als vollends das christliche Mittelalter, das sich nach dem Untergang der römischen Kultur im Wirtsehaf ts wesen wie in so vielen anderen Dingen auf den Zustand primitiver Anfänge zurückgeworfen sah, dem Darlehenszins äußerst mißgünstig war. Diese Mißgunst hat in beiden Zeitaltern urkundliche Denkmäler zurückgelassen. Die zinsfeindlichen Äußerungen der antiken Welt sind nicht gerade arm an Zahl, aber von geringer Bedeutung für die dogmengeschichtliche Entwicklung. Sie bestehen zum Teüe aus einer Anzahl legislativer Akte, welche das Zinsnehmen verboten, und von denen einige in eine sehr frühe Zeit hinaufreichen^); zum anderen Teüe aus mehr oder weniger gelegent- lichen Äußerungen philosophischer oder philosophierender Schriftsteller. Die gesetzlichen Zinsverbote können zwar als Ausdruck einer starken und verbreiteten Überzeugung von der praktischen Verwerflichkeit des Zinsnehmens gelten, haben aber schwerlich eine ausgeprägte Theorie zur Unterlage gehabt, und jedenfalls eine solche nicht überliefert. Die philo- sophierenden Denker hinwieder, wie Plato, Aristoteles, die beiden Cato, Cicero, Seneca, Plaütüs und andere, streifen das Thema des V. Band, Titel 19; Rizy, Über Zinstaxen und Wuchergesetze, Wien 1869; Wiskemann, Darstellung der in Deutschland zur Zeit der Reformation herrschenden nationalöko- nomischen Ansichten (Preisschriften der f ürstl. jABLONOwsKischen Gesellschaft, X. Band Leipzig 1861); Laspeyees, Geschichte der volkswirtschaftlichen Ansichten der Nieder- länder (Bd. XI der eben genannten Preisschriften, Leipzig 1863); Neumann, Geschichte des Wuchers in Deutschland, Halle 1865; Funk, Zins und Wucher, Tübingen 1868; EInies, Der Credit, I. Hälfte, Berlin 1876 S. 328ff.; und vor allem die ausgezeichneten Arbeiten Endemanns über die kanonistische Wirtschaftslehre: Die nationalökonomischen Grundsätze der kanonistischen Lehre, Jena 1863, und Studien in der romanisch-kano- nistischen Wirtschafts- und Rechtslehre, I. Band, Berlin 1874, IL Band 1883. *) z. B. das Zinsverbot der mosaischen Gesetzgebung, die indes nur das Zins- nehmen zwischen Juden untereinander, nicht auch gegenüber Fremden untersagte: Exodus 22, 25; Leviticus 25, 35—37; Deuteronomium 23, 19—20. — In Rom wurde, nachdem die XII Tafeln ein unciarium foenus erlaubt hatten, durch die lex Genucia (322 V. Chr.) das Zinsnehmen zwischen römischen Bürgern gänzlich verboten, und dieses Verbot später durch die Lex Sempronia und die Lex Gabinia auch auiE die socii und auf die Geschäfte mit Provinzialen ausgedehnt. Vgl. Knies a. a. 0. S. 328ff. und die da- selbst zitierten Schriftsteller. 12 11. Die antik-philosoph. u. kanonistische Gegnerschaft des Leihzinses. Zinsnehmens gewöhnlich so kurz, daß sie auf eine theoretische Begründ'ing ihres zinsfeindlichen Urteils gar nicht eingehen, und überdies oft in einem solchen Zusammenhange, deiß es zweifelhaft wird, ob sie dem Zinsnehmen wegen eines ihm anhaftenden besonderen Makels, oder nur wegen seines allgemeinen Erfolges, den verachteten Keichtum zu nähren, abhold sind^). Eine einzige Stelle aus der antiken Literatur hat meines Erachtens einen direkten dogmengeschichtlichen Wert, indem sie eine bestimmte Ansicht ihres Verfassers über das wirtschaftliche Wesen des Kapitalzinses abzuleiten gestattet: das ist die vielzitierte Stelle im 1. Buche von Aristoteles' Politik. Aristoteles sagt da (III, 23): „Da dieselbe (die Tätigkeit des Vermögenserwerbes), wie gesagt, eine doppelte ist, die eine zum Handel, die andere zum Hauswesen gehörig, und diese für notwendig und für löblich gehalten, die auf den Umsatz bezügliche aber von Rechts wegen getadelt wird (denn sie ist nicht naturgemäß, sondern auf gegen- seitige Übervorteilung gegründet), so ist mit vollstem Recht das Wucher- handwerk verhaßt, weü von dem Gelde selbst der Erwerb gezogen und es nicht dazu gebraucht wird, wozu es erfunden worden ist. Denn es ward des Warenumsatzes wegen erfunden, der Zins aber vergrößert es, woher denn auch dieser den Namen (rdxog) erhalten hat; denn die Ge- borenen sind jhren Erzeugern ähnlich. Der Zins aber ist Geld vom Gelde, so daß von allen Erwerbszweigen dieser der naturwidrigste ist." Der dogmatische Kern dieses Urteils läßt sich kurz in die Worte fassen: das Geld ist seiner Natur nach nicht fähig Früchte zu tragen. Der Gewinn, den der Gläubiger aus seiner Verleihung zieht, kann daher nicht ') Ich will einige der meist berufenen Äußerungen zusammenstellen. Plato, de legibus V, 742: „Geld bei jemandem zu hinterlegen, dem man nicht traut, oder auf Zinse anzuleihen, soll auch nicht angehen." Aristoteles, Nikom. Ethik, IV, 1: „ die- j ugen, welche eines freien und gebildeten Mannes unwürdige Geschäfte betreiben: Hurenwirte und dergleichen, Geldwucherer, die kleine Summen für großen Zins ausleihen; denn alle diese nehmen aus Quellen, woher sie nicht sollten und mehr als sie sollten." (Eine andere Stelle des Arist. siehe unten.) Cato der Ältere bei Cicero, de officiis, IL am Ende: „Ex quo genere comparationis illud est Catonis senis: a quo cum quaereretur, quid maxime in re familiari expediret, respondit, Bene pascere. Quid secundum? Satis bene pascere. Quidtertium? Male pascere. Quidquartum? Arare. Et cum ille, qui quaesierat, dixisset, Quid foenerari? Tum Cato, Quidhominem, inquit, occidere?" Cato der Jüngere, de re rustica, prooem.: „Majores nostri sie habuerunt et ita in legibus posuerunt, furem dupli condemnare, foeneratorem quadrupli. Quanto pejorem civem existimarunt foeneratorem quam furem, hinc licet existimari." Plautus, Mostellaria, III. Act, 1. Scene: „Videturne obsecro hercle idoneus, Danista qui sit? genus quod improbissimum est . . . Nullum edepol hodie genus est hominum tetrius, nee minus bono cum jure quam Danisticum." Seneca, de beneficiis VII, 10: ,,. . . quid enim ista sunt, quid fenus et calendarium et usura, nisi humanae cupiditatis extra naturam quaesita nomina? . . . quid sunt istae tabellae, quid computationes et venale tempus et sanguinolentae centesimae ? voluntaria mala ex constitutione nostra pendentia, in quibus nihil est, quod subici oculis, quod teneri manu possit, inanis avaritiae somnia." Die antiken Philosophen. ]^3 aus der eigenen wirtschaftlichen Kraft des Geldes, sondern nur aus einer Übervorteilung des Schuldners kommen („sTt' W.iqXiov iarlv"), und der Zins ist also ein mißbräuchlicher und unrechtmäßiger Übervorteilungs- gewinn. Daß die SchriftsteUer des heidnischen Altertums sich nicht tiefer auf die Frage des Leihzinses einließen, erklärt sich am ungezwungensten daraus, daß diese Frage zu ihrer Zeit nicht mehr praktisch war. Die staatliche Autorität hatte sich im Laufe der Zeit mit dem Zinsnehmen wieder versöhnt. In Attika war dasselbe längst freigegeben gewesen. Das römische Weltreich hatte, ohne daß jene strengen Gesetze, durch welche das Zinsnehmen gänzlich verboten worden war, förmlich aufgehoben worden zu sein scheinen, dasselbe erst geduldet, dann durch gesetzliche Zinstaxen förmlich sanktioniert i). In der Tat waren die Wirtschafts- verhältnisse zu kompliziert geworden, um mit bloß unentgeltlichem Kredit- verkehr, welcher der Natur der Sache nach immer ein sehr beschränkter bleiben muß, das Auslangen finden zu lassen. Die Geschäftsleute und Praktiker standen sicher ausnahmslos auf der zinsfreundlichen Seite. Für den Zins zu schreiben, war unter solchen Verhältnissen überflüssig; gegen ihn zu schreiben, aussichtlos, und es entspricht dieser Sachlage sehr gut, daß fast die einzigen Stätten, auf die sich der resignierte Tadel des Zinsnehmens zurückgezogen hat, die Werke philosophischer Schrift- steller sind. Ungleich mehr Anlaß zu gründlicher Beschäftigung mit dem Thema des Leihzinses erwuchs den Schriftstellern des christlichen Zeitalters. Die schlimmen Zeiten, welche dem Zusammenbruche des römischen Weltreiches vorangingen und folgten, hatten auch einen Rückschlag in den wirtschaftlichen Dingen gebracht, der seinerseits wieder eine Steigerung der zinsfeindlichen Tendenz des Zeitalters zur naturgemäßen Folge hatte. In derselben Richtung wirkte der eigentümliche Geist des Christentums: die Ausbeutung armer Schuldner durch reiche Gläubiger mußte demjenigen in besonders gehässigem Lichte erscheinen, den seine Religion einerseits lehrte, Milde und Barmherzigkeit unter die wichtigsten Tugenden zu zählen, und andererseits die Güter dieser Erde überhaupt mit Gering- schätzung zu betrachten. Was aber das Wichtigste war, es hatten sich in den heiligen Schriften des Neuen Bundes gewisse Stellen gefunden, die in der Auslegung, die man ihnen allgemein gab, ein direktes göttliches Verbot des Zinsennehmens zu enthalten schienen. Namentlich gilt dies von der berühmt gewordenen Stelle im Evangelium des Lucas: „mutuum date nihil inde sperantes"^). Die mächtige Stütze, welche der zinsfeind- liche Zeitgeist so an Aussprüchen der göttlichen Autorität fand, gab ihm ») Vgl. Knies a. a. 0. 330f. *) Ev. Luc. VI, 32 f. Siehe über den wahren Sinn dieser Stelle indes Knies a. a. 0. S. 333ff. X4 n. Die antik-philosoph. u. kanonistische Gegnerschaft des Leihzinses. die Kraft, noch einmal die Gesetzgebung in seinem Sinne zu lenken. Die christliche Blirche lieh ihren Arm dazu. Schritt für Schritt wußte sie das Zinsenverbot in die Gesetzgebung einzuführen. Erst wurde das Zinsen- nehmen bloß kirchlicherseits und bloß den Klerikern verboten; dann auch allen Laien, aber noch immer nur von seite der Kirche; endlich gab auch die weltliche Gesetzgebung dem Einfluß der Kirche nach, und stimmte unter Zurückdrängung des römischen Rechtes in ihre strenge Satzung ein^). Diese Wendung gab der zinsfeindlichen Literatur für anderthalb Jahrtausende reichliche Nahrung. Die alten heidnischen Philosophen hatten ihr Verdammungsurteil ohne viel Begründung in die Welt schleudern können, weil sie ihm keine weitere praktische Folge zu geben geneigt oder imstande waren: als „platonischer" Ausspruch von Idealisten wog es in der Welt der Praxis viel zu leicht, um im Emstkampf angegriffen und einer ebenso ernsten Verteidigung bedürftig zu werden. Jetzt war die Sache aber wieder praktisch geworden. Erst handelte es sich darum, dem Worte Gottes auch auf Erden zum Siege zu verhelfen, und als dies gelungen war, mußte die Gerechtigkeit der neuen Gesetze gegen die An- feindungen, die sich alsbald einstellten, verteidigt werden. Diese Aufgabe fiel naturgemäß der theologischen und juristischen Literatur der Kirche zu; und so entstand eine literarische Bewegung über das Thema des Leih- zinses, welche das kanonistische Zinsverbot von seinen frühesten Keimen bis zu seinen letzten Ausläufern, tief ins 18. Jahrhundert hinein, begleitete. In dem Charakter dieser Literatur bildet etwa das 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung einen bemerkenswerten Wendepunkt. Vor diesem Jahrhundert liegt die Sache vornehmlich in der Hand der Theologen, und auch die Art, in der sie geführt wird, ist wesentlich theologisch: zum Beweis der Ungerechtigkeit des Leihzinses beruft man sich auf Gott und seine Offenbarung, auf Stellen der heiligen Schrift, auf das Gebot der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit u. dgl. ; nur selten, und dann in den allge- meinsten Ausdrücken, auf juristische und wirtschaftliche Erwägungen. Am eingehendsten, aber eben auch nicht sehr eingehend, sprechen sich noch die Kirchenväter über die Sache aus 2). Seit dem 12. Jahrhundert dagegen wird die Erörterung auf immer breiterer wissenschaftlicher Basis geführt; zu dem Autoritätenbeweise aus der Offenbarung gesellen sich Berufungen auf die Autorität angesehener Kirchenväter, Kanonisten und Philosophen — auch heidnischer — , alter und neuer Gesetze, sowie Deduktionen aus dem „jus divinum", „jus ') Über die Ausbreitung des Zinsverbotes siehe Endemann, Nationalökonomische Grundsätze S. 8ff., Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechts- lehre, S. lOff. ''') Siehe unten. Die kanonistische Lehre. 15 humanuni" und — für uns besonders wichtig, weil auch die wirtschaftliche Seite der Sache berührend — aus dem „jus naturale". Dementsprechend greifen niBben den Theologen immer mehr die Juristen, erst die Kanonisten, dann auch die Legisten, in die Bewegung ein. Diese so viel sorgfältigere und umfassendere literarische Pflege des Zinsthemas hat ihren Hauptgrund wohl darin, daß das Zinsverbot je später desto härter drückte, und gegen den Gegendruck des bedrängten Verkehres einer kräftigeren Verteidigung bedurfte. Anfänglich einer Volkswirtschaft aufgelegt, die noch tief genug stand, um das Zinsverbot leicht ertragen zu können, hatte dieses überdies während der ersten Jahrhunderte seines Bestandes noch über so wenig äußeren Nachdruck verfügt, daß die Praxis, wo sie sich durch dasselbe beengt fühlte, ohne viel Gefahr sich einfach darüber hinaussetzen konnte. Später aber erstarkte nicht allein die Volks- wirtschaft, deren zunehmendes Kreditbedürfnis sich durch das Zinsverbot zunehmend gehemmt fühlen mußte, sondern es erstarkte auch dieses letztere selbst, indem es an Ausbreitung und Wucht der Übertretungs- folgen gewann. So mußten seine Konflikte mit der Volkswirtschaft doppelt zahlreich und doppelt schwer werden; seine natürlichste Stütze, die öffent- liche Meinung, die ihm ursprünglich im vollsten Maß zur Seite gestanden war, begann von ihm zu weichen, und es bedurfte um so dringender der Unterstützung der Theorie, die es denn auch von der heranwachsenden Wissenschaft bereitwillig erhielt^). Von den beiden Phasen der kanonistischen Zinsliteratur ist die erste fast ohne allen dogmengeschichtlichen Wert: ihre theologisierenden und moralisierenden Ausführungen gehen über den einfachen Ausdruck des Abscheus vor dem Zinsennehmen und über Autoritätenbeweise wenig hinaus ^V •) Vgl. Endemann, Studien S. 11—13, löf. •) Um den Lesern eine beiläufige Vorstellung von dem Tone zu geben, in dem die Kirchenväter die Sache behandelten, will ich eine Auslese der meist zitierten Aussprüche derselben vorführen: Lactantius lib. 6. Divin. Inst. c. 18 sagt von einem gerechten Manne: ,,Pecuniae, si quam crediderit, non accipiet usuram: ut et beneficium sit in- colume quod succurrat necessitati, et abstineat se prorsus alieno; in hoc enim genere officii debet suo esse contentus, quem oporteat alias ne proprio quidem parcere, ut bonum faciat: plus autem accipere, quam dederit, injustum est. Quod qui facit, insidiatur quodam modo, ut ex alterius necessitate praedetur." Ambrosius, de bono mortis c. 12: „Si quis usuram acceperit, rapinam facit, vita non vivit." Derselbe, de Tobia c. 3: „Talia sunt vestra, divitesl beneficia. Minus datis, et plus exigitis. Talis humanitas, ut spolietis etiam dum subvenitis. Foecundus vobis etiam pauper est ad quaestum. Usurarius est egenus, cogentibus nobis, habet quod reddat: quod impendat, ncn habet"; und ebenda c. 14: „. . . . Ideo audiant quid lex dicat: Neque usuram, inquit, escarum accipies, neque omnium rerum." Chryso- stomus in cap. Matthaei 17. Homil. 56: ,,Noli mihi dicere, quaeso, quia gaudet et gratiam habet, quod sibi foenore pecuniam colloces: id enim crudelitate tua coactus fecit . . ." Augustinus in Psalmum 128: „Audent etiam foeneratores dicere, non habeo X6 II. Die antik-philosoph. u. kanonistische Gegnerschaft des Leihzinses. Von größerem Belang ist die zweite Phase, wenn auch weder im Verhältnisse zu der Zahl der in ihr tätigen Schriftsteller, noch zu der sehr stattlichen Zahl der gegen den Zins vorgebrachten Argumente i). Denn nachdem einige Schriftsteller originell vorangegangen waren, beteten die anderen bald sklavisch nach, und der von den früheren gesammelte Argu- mentenschatz ging bald wie ein unantastbares Erbgut durch die Werke aller späteren. Aus den Argumenten selbst ist aber die größere Zahl Autoritätenberufung, oder moralisierenden Charakters, oder ganz nichtig; und nur eine verhältnismäßig kleine Zahl derselbeii — zumeist Deduktionen aus dem „jus naturale" — kann auf dogmatisches Interesse Anspruch erheben. Wenn auch von diesen wieder manche einem heutigen Leser sehr wenig überzeugend scheinen werden, so darf man nicht vergessen, daß ihnen schon damals nicht das Amt zufiel, eine Überzeugung erst hervorzurufen. Was man zu glauben hatte, stand schon von vornherein fest. Der eigentlich wirkende Überzeugungsgrund war das Wort Gottes, das, wie man annahm, den Zins verdammt hatte. Die Vernunftgründe, die man in derselben Richtung ausfindig zu machen wußte, waren nicht viel mehr als eine wünschenswerte Verbrämung jenes Hauptgrundes, die, weil sie nicht die Hauptlast der Überzeugung zu tragen hatte, auch leichteren Schlages sein durfte 2). Ich will jene Vernunftgründe, die für uns, Interesse haben können, in folgendem in gedrängter Kürze hervorheben, und mit ein paar Zitaten aus solchen Schriftstellern belegen, die ihnen einen deutlichen und wirk- samen Ausdruck gegeben haben. Vor allem begegnen wir wieder dem Aristotelischen Beweisgrund von der Unfruchtbarkeit des Geldes; nur daß bei den Kanonisten die dogmatisch wichtige* Pointe, daß der Zins ein Schmarotzen vom Erträgnis fremden Fleißes sei, schärfer herausgekehrt wird. So Gonzalez Tellez ):„... So- dann deshalb, weil das Geld kein Geld gebiert; darum ist es wider die Natur, etwas über die Darlehenssumme hinaus zu nehmen; und man könnte richtiger sagen, daß es vom Fleiße genommen werde als vom Gelde, das ja nicht zeugt, wie schon Aristoteles berichtet . . ." Und mit einer noch deutlicheren Wendung Covasrüvias*): „Der vierte aliud unde vivam. Hoc mihi et latro diceret, deprehensus in fauce: hoc et effractor diceret ... et leno ... et maleficus." Derselbe (zitiert im Decret. Grat. c. 1 Causa XIV qu. III): „. . . si plus quam dedisti exspectas accipere foenerator es, et "in hoc improbandus, non laudandus." ') MoLiNAEUS erwähnt in einem im Jahre 1546 erschienenen Werke einen Schrift- steller, der unlängst nicht weniger als 25 ( !) Argumente gegen den Zins aufgehäuft habe (Tract. contract. Nr. 528). ') Vgl. Endemann, Grundsätze S. 12, 18. *) Commentaria perpetua in singulos textus quinque librorum Decretalium Gregorii IX. Tom. V. cap. 3 de usuris V. 19 Nr. 7. *) Variarum resolutionum liber III. Cap. I. Nr. 5. Die kanonistische Lehre. 17 Grund ... ist der, daß das Geld aus sich keine Früchte bringt, noch gebiert: deshalb ist es unerlaubt und unbülig, etwas über die dargeliehene Sache hinaus für den Gebrauch derselben zu nehmen, da dies nicht so sehr vom Gelde genommen würde, das ja keine Früchte bringt, als viel- mehr vom fremden Fleiße." Einen zweiten „naturrechtlichen" Beweisgrund gab die Consump- tibilität des Geldes und anderweitiger Darlehensgüter ab. Dieser Beweis- grund wird schon von Thomas von Aqdin mit großer Gründlichkeit durchgeführt. Er führt aus, daß es gewisse Dinge gibt, deren Gebrauch im Verbrauch der Sachen selbst besteht, wie z. B. Getreide und Wein. An solchen Dingen kann man deshalb den Gebrauch von der Sache selbst nicht trennen, und wenn man jemandem ihren Gebrauch übertragen will, muß man ihm notwendigerweise die Sache selbst übertragen. Eben darum wird auch bei Verleihung solcher Sachen jedesmal das Eigentum an den- selben übertragen. Es wäre nun offenbar ungerecht, wenn jemand den Wein verkaufen wollte, und abgesondert davon auch noch den Gebrauch des Weines: er würde damit entweder dieselbe Sache zweimal verkaufen, oder er würde etwas verkaufen, was gar nicht existiert. Ganz ebenso ungerecht ist es, wenn man derlei Dinge verzinslich verleiht. Auch hier begehrt man für eine Sache zwei Preise: die Rückerstattung einer gleichen Sache, und den Gebrauchspreis, den man Zins (usura) nennt. Da nun auch der Gebrauch des Geldes in seinem Verbrauche oder in seiner Ver- ausgabung liegt, so ist es aus denselben Gründen an sich unerlaubt, für den Gebrauch des Geldes einen Preis zu heischen^). — Im Sinne dieser Argumentation erscheint also der Zins als ein Preis, erschlichen oder erpreßt für eine in Wahrheit gar nicht existierende Sache, den selbständigen „Gebrauch" verbrauchlicher Güter. Zu einem ähnlichen Resultat kommt ein dritter stereotyp wieder- kehrender Beweisgang. Da das Darlehensgut in das Eigentum des Schuldners übergeht, so ist der Gebrauch desselben, für den der Gläubiger sich den Zins bezahlen läßt, der Gebrauch einer fremden Sache, aus dem er nicht ohne Ungerechtigkeit Gewinn ziehen kann. So Gonzalez Tellez 1. c: „Denn der Gläubiger, der einen Gewinn aus der fremden Sache zieht, bereichert sich mit dem Schaden eines Andern." Und noch schärfer Vaconius a Vacuna^): „Wer daher aus jenem Gelde eine Frucht nimmt, ') Summa totius theologiae, II, 2. quaest. 78 art. 1. Ganz ähnlich Covarruvias 1. c: „. . . . accipere lucrum aliquod pro usu ipsius rei, et demum rem ipsam, iniquum est et prava commutatio, cum id quod non est pretio vendatur . . . aut enim cre- ditor capit lucrum istud pro sorte, ergo bis capit ejus aestimationem, vel capit injustum sortis valorem. Si pro usu rei, is non potest seorsum a sorte aestimari, et sie bis sors ipsa venditur." •) Lib. I. nov. declar., jus civ. 14; zitiert in Böhmers Jus eccles. Prot. Halae 1736 S. 340. Böhm Bawerk, Eapitalzins. 4. Anfl. 2 18 II. Die antik-philosoph. u. kanonistische Gegnerschaft des Leihzinses. seien es Geldstücke oder etwas anderes, nimmt von einer Sache, die nicht ihm gehört, und es ist daher gerade so, als ob er sie stehlen würde." Ein recht seltsames Argument endlich, das, wie ich glaube, Thomas VON Aquin zuerst dem kanonistischen Argumentenschatz einverleibt hat, sieht den Zins als den gleißn'erisch erschlichenen Kaufpreis für ein Gemein- gut aller, für die Zeit an. Die Zinswucherer, die um den Betrag des Zinses mehr empfangen als sie hingegeben haben, suchen nach einem Vorwand, um das abgeschlossene Geschäft dennoch als ein billiges erscheinen zu lassen. Diesen Vorwand bietet ihnen die Zeit. Sie wollen nämlich die Zeit als die Gegengabe angesehen wissen, für welche sie die im Zinse liegende Mehreinnahme empfangen. Diese ihre Absicht geht daraus hervor, daß sie ja die Zinsforderung erhöhen oder verringern, je nachdem die Zeit, für welche ein Darlehen gegeben wird, verlängert oder verkürzt wird. Die Zeit ist aber ein Gemeingut, das keinem besonders zugehört, sondern von Gott allen gleichmäßig gegeben wird. Indem daher der Zinswucherer die Zeit als Preis für ein empfangenes Gut bezahlen will, übt er einen Betrug am Nächsten, dem die verkaufte Zeit ebensogut gehört als ihm selbst, und an Gott, für dessen freies Geschenk er einen Preis fordert^). Resumiren wir: den Kanonisten gilt der Darlehenszins durchaus als ein Einkommen, das der Zinsgläubiger betrüglich oder erpresserisch aus den Hilfsquellen des Schuldners zieht. Er läßt sich im Zinse Früchte ') Thomas von Aquin, im Schriftchen „De usuris" I. pars. cap. 4; die Echtheit dieses Schriftchens wird indes neuerdings angezweifelt. — Ich. entnehme einer sehr inter- essanten dogmengeschichtlichen Notiz, die der Wiener Theologe Prälat Dr. Franz M. Schindler in einem Aufsatz ,,Über das Kapitalzinsproblem" in der Zeitschrift „Die Kultur", Jahrgang 1903 8. Heft S. 594ff. veröffentlicht hat, daß dieses Argument des h. Thomas schon innerhalb der juristisch-theologischen Literatur des 16. und 17. Jahr- hunderts selbst viel diskutiert und auch mehrfach bekämpft wurde, und daß im Munde der Gegner (unter anderen des hervorragenden Erzbischofs Caramuel f 1682) schon damals die Formel auftauchte, daß gegenwärtiges Geld wertvoller sei als zukünftiges. Als Gründe für diese Behauptung wurden nach Schindler a. a. 0. S. 604 von ihren Verteidigern geltend gemacht, „daß man mit Gegenwartsgeld im laufenden und folgenden Jahre, mit nächstjährigem Zukunftsgeld aber nur in diesem nächsten Jahre Gewinn machen könne und daß das Schuldgeld größere Gefahr habe als Bargeld." Diese bei- gegebene Begründung scheint mir allerdings den zinstheoretischen Wert jener Formel sehr wesentlich herabzusetzen. Denn das Risiko kann wohl eine Risikoprämie, aber keinen echten Kapitalzins begründen, und der Hinweis auf den größeren Zwischen- gewinn, den man mit einer früher verfügbaren Geldsumme machen kann, setzt die Möglichkeit eines solchen Zwischengewinnes, also eines ursprünglichen Kapitalzinses, als Tatsache schon voraus, ohne ihn irgendwie zu erklären. Mir scheint daher diese Episode im kanonistischen Zinsstreit weit mehr innere Verwandtschaft mit den im folgenden Abschnitt zu besprechenden Anschauungen von Salmasius und seinen Ge* nossen, als mit der modernen „Agiotheorie" zu besitzen, mit der sie Schindler in Ver- bindung bringt. Die kanonistische Lehre. 19 bezahlen, die das unfruchtbare Geld nicht bringen kann; er verkauft einen „Gebrauch", der nicht existiert; oder einen Gebrauch, der dem Schuldner ohnehin schon gehört; er verkauft endlich die Zeit, die dem Schuldner so gut wie dem Gläubiger und allen Menschen gehört. Kurz, wie man die Sache auch wendet, immer erscheint der Zins als ein Schma- rotzergewinn, abgepreßt oder abgelistet dem übervorteilten Schuldner. Den aus der Verleihung dauerbarer Güter, z. B. von Häusern, Möbeln usw., fließenden Kapitalzins traf dieses Urteil nicht mit. Ebenso- wenig den durch Eigenbewirtschaftung erzielten ursprünglichen Kapital- gewinn. Daß der letztere ein vom Arbeitsverdienst des Unternehmers verschiedenes Einkommen sei, fiel, zumal zu Anfang der Periode, noch wenig auf, und auch insofern es auffiel, machte man sich darüber wenig Gedanken. Jedenfalls wurde diese Gattung des Kapitalgewinnes nicht prinzipiell verworfen. So bedauert z. B. der Kanonist Zabarella^) die Existenz des Leihzinses unter anderen auch deshalb, weil die Landwirte, den „sicheren Gewinn" aufsuchend, verleitet würden, ihr Geld lieber auf Zinsen, als auf die Produktion auszulegen, wodurch die Ernährung des Volkes leiden würde: ein Gedankengang, der offenbar nichts Anstößiges daran findet, Kapital im Landbau zu investieren und daraus einen Gewinn zu ziehen. Ja man forderte nicht einmal, daß der Eigentümer des Kapitales dieses persönlich bewirtschafte, wenn er nur das Eigentum daran nicht aus der Hand gegeben hatte. So wurde der Kapitalgewinn aus einer nur in Geld bestehenden Sozietätseinlage wenigstens nicht verboten 2); und der Fall, in welchem jemand einem Andern eine Geldsumme anvertraut, aber das Eigentum daran zurückbehält, wird vom strengen Thomas von Aqüin dahin entschieden, daß jener den aus der Geldsumme fließenden Gewinn unbedenklich sich zueignen könne. Es fehle ihm nicht an einem gerechten Titel dazu, „weil er gleichsam die Frucht der eigenen Sache empfange"; freilich nicht, wie der hl. Thomas vorsichtig hinzusetzt, eine unmittelbar aus den Münzen stammende Frucht, wohl aber eine Frucht, die aus jenen Sachen stammt, die man in gerechtem Tausche für die Münzen erworben hat"). Wo, wie es nicht selten vorkommt, trotzdem auf selbst erwirtschafteten Kapitalgewinn ein Tadel fällt, gilt dieser nicht so sehr dem Kapital- gewinn als solchem, als der anstößigen konkreten Weise seiner Elrwirt- schaftung, z. B. durch allzu gewinnsüchtig oder gar betrügerisch betriebenen Handel, oder durch verpönten Geldhandel u. dgl. ') „Secundo (nsura est prohibita) ex fame, nam laborantes rustici praedia colentes libentius ponerent pecuniam ad usuras, quam in laboratione, cum sit tutius lucrum, et sie non curarent homines seminare seu metere." Siehe Endemann, National-öko- nomische Grundsätze S. 20. ») Endemann, Studien I. S. 361. ') De usuris II. pars cap. IV. qu. 1. m. Die Yerteidiger des Leihzinses vom 16. bis ins 18. Jahrh. Der Niedergang der kanonistischen Lehre. Die kanonistische Zinsdoktrin hatte den Höhepunkt äußeren An- sehens etwa seit dem 13. Jahrhundert erreicht. Ihre Prinzipien beherrschten jetzt unbestritten die Gesetzgebung; nicht allein die geistliche, sondern auch die weltliche. Ein Papst Clemens V. konnte im Anfange des 14. Jahr- hunderts so weit gehen, daß er auf dem Konzil zu Vienne (1311) weltliche Obrigkeiten, welche zinsfreundliche Gesetze erlassen oder die erlassenen nicht binnen drei Monaten wieder aufheben, mit der Exkommunikation bedrohte^). Die von der kanonistischen Lehre inspirierten Gesetze be- gnügten sich ferner nicht, dem Zins in seiner nackten, unverhüllten Gestalt entgegenzutreten, sondern hatten unter reichem Aufwand an scharfsinniger Kasuistik auch Anstalt getroffen, ihn auf vielen, freilich nicht auf allen den Schleichwegen zu verfolgen, die man zur Umgehung des Zinsverbotes einschlagen konnte'^). Nicht minder als die Gesetzgebung beherrschte jene Lehre endlich auch die Literatur, in der sich jahrhundertelang keine Spur einer prinzipiellen Opposition zu regen wagte. • Nur einen Gegner hatte sie nie ganz unterzubeugen vermocht: die volkswirtschaftliche Praxis. Trotz aller himmlischen und irdischen Strafen, die darauf gesetzt waren, dauerte in der Praxis das Zinsnehmen fort, teils unverhüllt, teils in mannigfachen Verkleidungen, die der erfinderische Geist der Geschäftsleute ersonnen hatte, um in ihnen, aller Kasuistik der zinsfeindlichen Gesetze zum Trotz, durch die Maschen der letzteren hin- durch zu schlüpfen. Und je blühender der Zustand der Wirtschaft in einem Lande war, desto stärker reagierte die Praxis gegen die noch allein herrschende Theorie. Der Sieg in diesem Kampfe blieb dem zäheren Teile, und das war hier die um ihre Lebensinteressen ringende Praxis. Einen ersten Erfolg, der äußerlich wenig pompös, sachlich aber von großer Bedeutung war, wußte sie bereits zu einer Zeit zu erzielen, in der *) Clem. c. un. de usuris, 5, 5. •) Vgl. Endemann, Grundsätze S. 9ff., 21ff. Die Praxis. 21 die kanonistische Doktrin noch auf dem Gipfel äußeren Ansehens stand. Zu schwach, um schon einen offenen Kampf gegen das Prinzip der Zins- losigkeit zu wagen, wußte sie wenigstens zu verhindern, daß es von der Gesetzgebung in alle seine praktischen Konsequenzen verfolgt würde, und setzte eine Reihe teils direkter, teils indirekter Ausnahmen vom Zins- verbote durch. Als direkte Ausnahmen können wir unter anderem die Privilegien der Montes pietatis, die Duldung der Geschäftsführung sonstiger Banken, und die sehr ausgedehnte Nachsicht betrachten, die man gegenüber der Wucherpraxis der Juden übte; eine Nachsicht, die hier und da, von der weltlichen Gesetzgebung wenigstens, bis zu einer förmlichen Gestattung des Zinsennehmens ausgedehnt wurde ^). Indirekte Ausnahmen eröffneten sich durch die Benützung des In- stituts des Rentenkaufs, der Satzung, der Wechselgeschäfte, der Sozietäts- verhältnisse, namentlich aber durch die Möglichkeit, sich das „Interesse" an der verspäteten Zahlung, das damnum emergens und lucrum cessans, vom Schuldner vergüten zu lassen. An sich hätte der Gläubiger einen Anspruch auf Vergütung des Interesse freilich nur für den Fall eines ver- schuldeten Saumsais in der Erfüllung der Vertragsverbindlichkeiten, einer mora des Schuldners gehabt; und das Vorhandensein und die Größe eines Interesse hätte von Fall zu Fall erst nachgewiesen werden müssen. Aber hier ließ sich, freilich unter dem Protest der rigoroseren Kanonisten, durch ein paar Vertragsklauseln nachhelfen. Mittelst einer Klausel stimmte der Schuldner im voraus zu, daß der Nachweis seiner mora dem Gläulfiger erlassen sein soUe; und mittelst einer anderen Klausel einigte man sich im voraus über eine bestimmte Höhe, in der das Interesse dem Gläubiger vergütet werden sollte. Praktisch lief dann die Sache darauf hinaus, daß der Gläubiger dem Schuldner das Darlehen zwar nominell unverzinslich gab, unter dem Titel des „Interesse" aber für die ganze Darlehensdauer, für die der Schuldner künstlich in mora versetzt worden war, regelmäßige perzentuelle Zinsen erhielt 2). Solchen praktischen Erfolgen kamen endlich auch prinzipielle nach. Aufmerksame Beobachter der Menschen und Dinge mußten auf die Länge der Zeit doch zweifelhaft werden, ob der stetige und immer an- wachsende Widerstand der Praxis wirklich nur, wie die Kanonisten meinten, in der Bosheit und Herzenshärte der Menschen ihren Grund hatte. Wer sich die Mühe nahm, tiefer in die Technik des Geschäftslebens einzudringen, mußte zur Einsicht kommen, daß die Praxis sich den Zins nicht bloß nicht nehmen lassen wollte, sondern auch nicht nehmen lassen ') Die viel verbreitete Meinung, daß die Juden überhaupt von dem kirchlichen Wucherverbote eximiert gewesen seien, ist nach der neuesten ausführlichen Darstellung Ekdemanns (Studien II. S. 383 ff.) irrig. ») Vgl. Endemann, Studien II. S. 243ff., S. 366ff. 22 ni. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. konnte; daß der Zins die Seele des Kredites ist; daß, wo dieser in einiger- maßen beträchtlichem Umfang bestehen soll, jener nicht verwehrt werden darf; daß den Zins unterdrücken auch wenigstens neun Zehntel der Kredit- geschäfte unterdrücken heißt; daß mit einem Worte der Zins in jeder halbwegs entwickelten Volkswirtschaft eine organische Notwendigkeit ist. Es konnte nicht fehlen, daß solche Erkenntnisse, die bei den Praktikern längst zu Hause waren, endlich auch in jene Kreise eindrangen, welche die Feder führten. Die Wirkung, welche sie hier ausübten, war eine verschiedene. Ein Teil ließ sich in seiner theoretischen Überzeugung, daß der Leih- zins ein Schmarotzergewinn und vor einem strengen Richter nicht zu verteidigen sei, nicht erschüttern, verstand sich abe!r zu einem praktischen Kompromiß mit der UnvoUkommenheit der Menschen, der man die Schuld an der Unausrottbarkeit des Zinses gab. Vor dem Standpunkt einer idealen Weltordnung könne der Zins freilich nicht bestehen; allein, da die Menschen einmal so unvollkommen sind, lasse er sich füglich nicht ausrotten, und so sei es besser, ihn innerhalb gewisser Schranken zu dulden. Das ist der Standpunkt, auf den sich unter anderen einige der großen Reformatoren stellen: so Zwingli^), so Luther in seinen späteren Lebensjahren, während er früher ein schonungsloser Gegner des Zinswuchers gewesen war^); und, mit noch größerer Zurückhaltung, Melanchthon^). Daß so einflußreiche Männer sich für die Toleranz in der Zinsfrage erklärten, übte natürlich auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung, und damit indirekt auch auf die spätere Rechtsentwicklung einen wichtigen Einfluß aus. Da sie sich aber in ihrem Auftreten nicht durch prinzipielle, sondern ausschließlich durch opportunistische Motive leiten ließen, kommt ihrer Richtung keine tiefere dogmengeschichtliche Bedeutung zu, und ich gehe nicht weiter auf sie ein. Ein anderer Teil denkender und beobachtender Männer ging aber weiter. Durch die Erfahrung von der Notwendigkeit des Leihzinses über- wiesen, begannen sie auch die theoretischen Grundlagen des Zinsverbotes zu revidieren, fanden sie nicht stichhaltig, und eröffneten eine prinzipielle literarische Opposition gegen die kanonistische Lehre. Diese Opposition beginnt gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts, schwillt im Laufe des 17. rasch und mächtig an, und erlangt bis zum Schlüsse desselben so entschieden das Übergewicht, daß sie im Laufe des 18. nur mehr mit vereinzelten Nachzüglern der kanonistischen Doktrin zu kämpfen hat; wer diese aber noch nach dem Ende des 18. Jahrhunderts 1) WiSKEMANN, Darstellung der in Deutschland zur Zeit der Reformation herr- schenden national-ökonomischen Ansichten, Preisschriften der JABLONOwsKischen Gesellschaft, Bd. X S. 71. ') WiSKEMANN a. a. 0. S. 54—56; Neumann, Geschichte des Wuchers S. 480ff. ') WiSKEBiANN a. a. 0. S. 65. Die Reformatoren. Calvin. 23 mit ihren spezifischen Argumenten hätte verfechten wollen, wäre im Lichte eines nicht ernst zu nehmenden Sonderlings erschienen. Die ersten Vorkämpfer der neuen Richtung waren der Reformator Calvin und der französische Jurist Dümoülin (Carolüs Molinaeüs). Calvin hat zu unserer Frage in einem Briefe an seinen Freund Öko- lampadius^) Stellung genommen. Er behandelt sie nicht umfangreich, aber entschieden. Er verwirft zunächst die übliche autoritative Begrün- dung des Zinsverbotes, indem er nachzuweisen sucht, daß die Schrift- stellen, auf die man sich für jenes zu berufen pflegte, teils in anderem Sinn zu deuten sind, teils wegen der völlig geänderten Verhältnisse ihre Geltung verloren haben 2). Nachdem er so den Autoritätenbeweis abgetan, wendet er sich gegen die übliche rationale Begründung des Zinsverbotes. Ihr wichtigstes Argu- ment, das von der natürlichen Unfruchtbarkeit des Geldes hergeholt ist (Pecunia non parit pecuniam), findet er „leichten Gewichtes". Es steht mit dem Gelde nicht anders als mit einem Haus oder einem Acker. Auch Dach und Wände eines Hauses sind nicht imstande eigentlich Geld zu erzeugen; aber indem man den Nutzen der Wohnung gegen Geld ver- tauscht, kann man einen legitimen Gelderwerb aus dem Hause ziehen. Ebenso kann das Geld fruchtbar gemacht werden. Indem man um Geld ein Grundstück kauft, ist es recht eigentlich das Geld, welches in den Einkünften des ersteren andere Geldsummen jährlich erzeugt. Müßiges Geld ist freilich unfruchtbar; aber müßig läßt es der Schuldner nicht liegen. Der Schuldner ist darum nicht übervorteilt, wenn er Zins zahlen soU, sondern er zahlt sie „ex proventu", aus dem Erwerb, den er mit dem Gelde macht. Daß die Zinsenforderung des Gläubigers im Geiste der Billigkeit, aus dem Calvin überhaupt die ganze Frage beurteilt wissen will, wohl begründet sein kann, führt er dann an einem Beispiele eingehend aus. Ein Reicher, der mit Grundbesitz und Einkünften wohl ausgestattet ist, aber wenig Bargeld hat, geht einen anderen, der weit weniger ver- möglich ist, aber über einen größeren Barvorrat verfügt, um ein Geld- darlehen an: der Gläubiger könnte mit dem Gelde sich selbst ein Grund- stück kaufen; oder er könnte begehren, daß das mit seinem Gelde erkaufte Grundstück ihm als Hypothek überlassen werde, bis die Schuld getilgt ist. Wenn er sich statt dessen mit dem Zinse, der Frucht des Geldes be- gnügt, wie soll dies verdammenswert sein, da doch jene weit härterer 1) ep. 383 in der Sammlung seiner epistolae et responsa, Hannover 1597. *) „Ac primum nuUo testimonio Scripturae mihi constat usuras omnino damnatas esse. lUa enim Christi sententia, quae maxime obvia et aperta haberi solet: Mutuum date nihil inde sperantes, male huc detorta est . . . Lex vero Mosis politica cum sit, non tenemur illa ultra quam aequitas ferat atque humanitas. Nostra conjunctio hodie per omnia non respondet . . ." 24 jn. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. Kontraktfonnen gebilligt würden? Das hieße, wie Calvin sich kräftig ausdrückt, ein kindisches Spiel mit Gott treiben wollen: „et quid aliud est quam puerorum instar ludere cum Deo, cum de rebus ex verbis nudia, ac non ex eo quod inest in re ipsa judicatur?" So kommt er denn zum Schlüsse, daß das Zinsnehmen keineswegs ini allgemeinen zu verdammen ist. Freilich aber auch nicht allgemein zu gestatten. Sondern soweit zu gestatten, als es nicht der Billigkeit und Barmherzigkeit widerstreitet. Die Ausführung dieses Grundsatzes fordert die Aufstellung einer Keihe von Ausnahmen, in denen die Zins- nahme nicht zu gestatten ist. Die bemerkenswertesten sind, daß man Menschen, die in dringender Not sind, keine Zinsen abfordere; daß man auf die „pauperes fratres" gebührende Rücksicht nehmen; daß man auf den „Nutzen des Staates" sehen, und daß man nie jenes Maß der Zinsen überschreiten solle, welches die Staatsgesetze festgestellt haben. Wie Calvin der erste Theologe, so ist Molinaeüs der erste Jurist, der sich aus inneren Gründen gegen das kanonistische Zinsenverbot auf- lehnt. Beide begegnen sich in den Gründen, unterscheiden sich aber in der Manier sie vorzubringen, so weit als ihre Berufe. Calvin geht kurz und geradezu auf dasjenige los, was er als den Kern der Sache ansieht, ohne sich um nebensächliche Einwendungen der Gegner und ihre Wider- legung zu kümmern. Er schöpft dabei seine Überzeugung mehr aus Ein- drücken, als aus dialektischen Beweisgängen. Molinaeüs dagegen ist unerschöpflich in Distinktionen und Kasuistik, und folgt ebenso unermüd- lich den Gegnern in alle ihre scholastischen Wendungen und Windungen nach, um ihre punktweise formelle Widerlegung sorgfältig bemüht. Übrigens ist auch Molinaeüs, wenngleich im Ausdruck vorsichtiger als der rücksichtslose Calvin, voll Freimut und kerniger Geradheit. Molinaeüs' einschlägige Hauptschrift ist der 1546 erschienene Tractatus contractuum et usurarum, redituumque pecunia constitutorum^). Der Anfang seiner Ausführungen hat — vielleicht zufällig — große Ähnlich- keit mit dem Gedankengange Calvins. Nach einigen einleitenden Begriffs- auf Stellungen Vendet auch er sich zur Untersuchung des jus divinum und findet, daß die einschlägigen Stellen der heiligen Schrift mißdeutet werden. Sie wollen nicht das Zinsnehmen überhaupt, sondern nur ein solches Zinsnehmen verbieten, durch das die Barmherzigkeit und Nächstenliebe verletzt wird. Und nun bringt er wieder das schon von Calvin benützte wirksame Beispiel von dem Reichen, der mit geborgtem Geld einen Ackör kauft 2). Weiterhin wird aber die Beweisführung viel reichhaltiger als bei *) Vorangegangen war schon (in demselben Jahre) Extricatio labyrinthi de eo quod interest, worin die Frage des interesse schon freisinnig behandelt, aber in der Zinsfrage noch nicht offen Partei ergriffen war. Vgl. Endemann, Studien I. S. 63. 8) Traktatus Nr. 10. Molinaeus. 25 Calvin. Er weist (Nr. 75) eingehend nach, daß fast bei jedem Darlehen ein „interesse" des Gläubigers ins Spiel komme, ein verursachter Schaden oder ein versäumter Nutzen, dessen Vergütung gerecht und wirtschaftlich notwendig sei; diese Vergütung sei eben der „Zins", die „usura" im rechten und eigentlichen Sinn des Wortes. Daß die Justinianeischen Gesetze den Zins billigen und nur sein Maß begrenzen, ist daher nicht allein nicht ungerecht, sondern sogar im eigenen Interesse der Schuldner, die jetzt für mäßige Zinsen die Gelegenheit zu einem größeren Gewinne sich ver- schaffen können (Nr. 76). Später (Nr. 528 ff.) läßt Molinaeus die Hauptgründe der Kanonisten gegen das Zinsnehmen Revue passieren und begleitet sie mit eingehenden Widerlegungen, Gegen den alten Einwand des Thomas von Aquin, daß der Gläubiger, der Zins nimmt, entweder dasselbe zweimal, oder etwas verkauft, das gar nicht existiert (siehe oben S. 17), führt Molinaeus aus, daß der Gebrauch des Geldes einen selbständigen Nutzen gebe neben dem Geldkapitale, und daher auch selbständig verkauft werden dürfe. Man dürfe eben nicht bloß die erste augenblickliche Verausgabung des Geldes als dessen Gebrauch ansehen; sondern dieser bestehe auch in dem darauffolgenden Gebrauch jener Güter, die man vermittelst des geliehenen Geldes erworben oder in seinem Vermögen erhalten hat (Nr. 510 und 530). Wenn ferner behauptet wurde, daß mit dem Gelde selbst auch der Gebrauch desselben in das juristische Eigentum des Schuldners übergegangen sei, und diesem daher für den Zins seine eigene Sache verkauft werde, so wirft Molinaeus (Nr. 530) ein, daß man auch eine fremde Sache gerechterweise dann ver- kaufen könne, wenn sie dem Verkäufer geschuldet werde; das sei aber eben der Fall mit dem Gebrauch der geschuldeten Geldsumme: „usus pecuniae mihi pure a te debitae est mihi pure a te debitus, ergo vel tibi vendere possum." Auf den Beweisgrund der natürlichen Unfruchtbarkeit des Geldes endlich erwidert Molinaeus (Nr. 530), die tägliche Erfahrung des Geschäftslebens zeige, daß der Gebrauch einer beträchtlichen Geld- summe einen nicht geringen Nutzen abwerfe, der in der Rechtssprache auch als „Frucht" des Geldes bezeichnet werde. Daß das Geld für sich allein keine Früchte hervorbringen könne, das habe nichts zu sagen: denn auch ein Acker bringt nichts hervor durch sich allein, ohne Aufwand, Anstrengung und Fleiß des Menschen. Ganz ebenso aber bringt das Geld, unterstützt von der Bemühung der Menschen, ansehnliche Frucht. — Der Rest der Polemik gegen die Kanonisten hat wenig dogmatisches Interesse. Auf solche allseitige Betrachtung des Gegenstandes gestützt, pro- klamiert endlich Molinaeus (Nr. 535) formell seine These: „Erstlich sei es notwendig und nützlich, daß ein gewisser Gebrauch des Zinsnehmens beibehalten und geduldet werde . . ." Die 26 III- Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. entgegengesetzte Meinung, daß der Zins an sich unbedingt verwerflich sei, ist töricht, verderblich und abergläubisch (stulta illa et non minus perniciosa quam superstitiosa opinio de usura de se absolute mala, Nr. 534). Durch solche Worte hatte sich Molinaeüs in den schroffsten Gegen- satz zur kirchlichen Lehre gesetzt. Um denselben einigermaßen zu mildem, was für einen Katholiken schon aus äußeren Kücksichten dringend geboten sein mochte, ließ er sich, ohne indes im Prinzip etwas nachzugeben, zu einigen praktischen Konzessionen herbei. Deren wichtigste liegt darin, daß er aus Opportunitätsgründen, um der eingerissenen Mißbräuche willen, das kirchliche Verbot des nackten Zinsnehmens bei kündbaren Darlehen für sein Zeitalter billigt, und nur die mildere und humanere Form des Rentenkaufs aufrechterhalten wünscht, die er aber mit Recht als eine „wahre Art des Zinsgeschäftes" ansieht i). Das Auftreten Calvins und Molinaeüs' blieb eine Zeitlang noch recht vereinzelt. Begreiflich genug. Um etwas für gerecht zu erklären, was Kirche, Gesetzgebung und Gelehrtenwelt aus Einem Munde und mit einem aus allen Arsenalen zusammengetragenen Argumentenschatz als verwerflich verdammten, dazu gehörte nicht allein eine seltene Unab- hängigkeit des Verstandes, sondern auch eine ebenso seltene Stärke des Charakters, die auch Verdächtigungen und Verfolgungen nicht scheute. Daß diese nicht ausblieben, zeigte das Schicksal der Vorkämpfer deutlich genug. Von Calvin ganz zu schweigen, der ja der katholischen Welt noch ganz anderes Ärgernis gegeben, hatte Molinaeüs und sein Werk, so maßvoll und vorsichtig es auch geschrieben war, genug zu erdulden gehabt. Er kam ins Exil, sein Buch auf den Index. Trotzdem machte das letztere seinen Weg, wurde gelesen, zitiert, wieder und wieder aufgelegt, und streute so einen Samen aus, der endlich fruchtbar aufgehen sollte 2). Aus der spärlichen Zahl der Männer, die noch im 16. Jahrhundert für die Statthaftigkeit des Zinses aus wissenschaftlichen Gründen auf- zutreten wagten, sind — abgesehen von den unmittelbaren Schülern Calvins, die natürlich der Anschauung ihres Meisters beipflichteten — >) „Ea taxatio (die mit einer prinzipiellen Gestattung des Zinses verbundene Festsetzung eines Zinsmaximums im Justinianeischen Recht) nunquam in se fuit iniqua. Sed ut tempore suo summa et absoluta, ita processu temporis propter abusum hominum nimis in quibusdam dissoluta et vaga inventa est, et omnino super foenore negociativo forma juris civilis incommoda et perniciosa debitoribus apparuit. Unde merito abro- gata fuit, et alia tutior et commodior forma inventa, videlicet per abalienationem sortis, servata debitori libera facultate luendi. Et haec forma nova, ut mitior et civilior, ita minus habet de ratione foenoris propter alienationem sortis, quam forma juris civilis. Est tarnen foenus large sumptum, et vera species negociationis foenora- toriae . . ." (Nr. 536). *) Vgl. Endemann, Studien I. S. 64f. Endemann unterschätzt übrigens den Einfluß, den Molinaeüs auf die spätere Entwicklung genommen. Siehe unten. Besold. Bacon. 27 besonders hervorzuheben der Humanist CamerariusI), Bornitz^), und vor allen Besold, der in seiner 1598 erschienenen Dissertation „Quaestionea aliquot de usuris", mit der er seine überaus fruchtbare Schriftstellerlauf- bahn eröffnete, ausführlich und geschickt gegen die kanonistische Wucher- lehre polemisiert 3). Besold erblickt den Ursprung des Zinses im Institut des Handels- und Geschäftsbetriebes (negociationis et mercaturae). Denn in Rücksicht auf diesen ist das Geld nicht mehr unfruchtbar. Deshalb, und weil es gestattet sein muß, seinem eigenen Vorteil nachzugehen, soweit es ohne Unrecht gegen den anderen möglich ist, steht die natürliche Billigkeit dem Zinsnehmen nicht entgegen. Wie vor ihm schon Molinaeus, den er oft zustimmend zitiert, hebt er zugunsten des Zinses die Analogie hervor, die zwischen dem verzinslichen Darlehen und der entgeltlichen Miete besteht. Das verzinsliche Darlehen steht zu dem unverzinslichen in keinem anderen Verhältnis, als die — vollkommen erlaubte — entgeltliche Miete zur unentgeltlichen Leihe (commodatum). Sehr hübsch sieht er ein, wie die Höhe des Leihzinses jederzeit mit der Höhe des ursprünglichen Kapital- zinses korrespondieren muß, der ja der Grund und die Quelle des Leih- zinses ist: er sagt, daß man an jenen Orten, an denen man mittels des Geldgebrauches einen größeren Gewinn zu machen pflegt, auch ein höheres Ausmaß des Leihzinses gestatten solle (S. 32 f.). Endlich läßt er sich durch die als Zinsverbote gedeuteten Stellen der heiligen Schrift ebensowenig imponieren (S. 38ff.), als durch die Argumente der „Philosophen", die vielmehr, wenn man die Sache nur vom richtigen Standpunkt beti achtet, als hinfällig erscheinen (S. 32). Man wird aus diesem kurzen Auszug erkennen, daß Besold ein frei- mütiger und geschickter Anhänger des Molinaeus ist, aus dem er, wie seine zahlreichen Zitate beweisen, offenbar den besten Teil seiner Lehre geschöpft hat*). Einen Fortschritt über Molinaeus hinaus wird man dagegen in seinen Ausführungen kaum finden können s). ') in seinen Noten zu Aristoteles' Politik; siehe Rosoher, Geschichteter National- ökonomik in Deutschland, S. 54. ») Röscher, a, a. 0. S. 18ö. ') Besold hat seine Dissertation später, in vermehrter und verbesserter Gestalt, wie er sagt, in ein anderes Werk ,,Vitae et mortis Consideratio politica" (1623) aufge- nommen, in dem sie das V. Kapitel des I. Buches ausfüllt. Mir stand nur dieses letztere Werk zu Gebote, auf das sich auch die folgenden Zitate im Texte beziehen. *) Ein ausführliches Zitat findet sich schon im I. Kap. des I. Buches (S. 6); im V. Kap. sind die Zitate häufig. *) Ich glaube, daß Röscher (Geschichte der Nat.-Ök. S. 201 A. 2) Besold zu viel Ehre antut, wenn er in einer Parallele mit Salmasius und Hugo Grotius ihm den ehrenvollen Posten eines Vorgängers zuweist, gegen den Salmasius kaum mehr einen Fortschritt gemacht, Grotius sogar zurückgeblieben sei. Röscher hätte hier statt Besolds, der selbst aus zweiter Hand geschöpft hat, Molinaeus nennen müssen. 28 III. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. Noch weniger gilt dies von dem großen englischen Philosophen Bacon, der sich fast gleichzeitig mit Besold über das Thema des Zinses geäußert hat^). Er hat genug Geistesfreiheit und Verständnis für die Bedürfnisse des Wirtschaftslebens, um unbeirrt durch die alten Bedenken über die „Unnatur" des Zinsnehmens dessen Vor- und Nachteile unparteiisch gegeneinander abzuwägen und den Zins für eine wirtschaftliche Not- wendigkeit zu erklären; aber es ist doch nur eine opportunistische Duldung, die er ihm entgegenbringt: „Da einmal die Menschen notwendigerweise Geld zu Darlehen geben und nehmen müssen; und da sie so harten Herzens sind (sintque tam duro corde), daß sie es nicht umsonst ausleihen wollen: so erübrigt nichts, als daß man Zinsen gestattet." Eine ungleich ergiebigere Förderung erfuhr die neue Lehre im Laufe des 17. Jahrhunderts, und zwar zunächst auf niederländischem Boden. Hier waren die Bedingungen für einen Fortschritt der Theorie besonders günstig. In den politischen und religiösen Wirren, unter denen der junge Freistaat geboren wurde, hatte man sattsam gelernt sich von den Fesseln sklavischer Autoritätenfolge zu emanzipieren. Dazu kam, daß die alternde Theorie der Kirchenväter und Scholastiker mit den Bedürfnissen der Wirklichkeit nirgends greller kontrastierte als hier, wo die hochentwickelte Volkswirtschaft sich ein ausgebildetes Kredit- und Bankwesen geschaffen hatte, wo infolgedessen der Zinsenverkehr in allgemeiner, regelmäßiger Übung stand, und überdies die weltliche Gesetzgebung, dem Druck der Praxis nachgebend, die Zinsnahme längst zugestanden hatte''). Unter solchen Verhältnissen war der Fortbestand einer Theorie, die den Zins gleichwohl für eine gottlose Übertölpelung des Schuldners erklärte, eine Unnatur, der unfehlbar ein baldiges Ende drohte. Als Vorbote des Umschwungs kann Hugo Grotiüs gelten. Er nimmt zu unserer Frage eine eigentümliche Zwitterstellung ein. Auf der einen Seite erkennt er bereits klar, daß die dogmatische „naturrechtliche" Be- gründung des Zinsenverbotes, wie sie von den Kanonisten gehandhabt wurde, unhaltbar ist. Er läßt den Grund von der natürlichen Unfrucht- barkeit des Geldes nicht gelten; denn „auch Häuser und andere von Natur unfruchtbare Dinge hat die Kunst der Menschen fruchtbringend gemacht"; auch auf das Argument, daß der Gebrauch des Geldes, da er in dessen Verbrauch bestehe, sich vom Gelde selbst nicht scheiden lasse und daher auch nicht selbständig zu vergüten sei, findet er eine geschickte Ent- gegnung und überhaupt scheinen ihm die Gründe, die den Zins als wider das Naturrecht gehend darstellen sollen, nicht derart zu sein, daß sie „die Zustimmung erzwingen könnten" („non talia ut assensum extorqueant"). Besold ist nicht origineller, und sicherlich viel weniger gewandt und geistvoll als Salmasius. 1) Sermones fideles Cap. XXXIX (1597). *) Vgl. Grotius de iure pacis ac belli Lib. II. Cap. XII, 22. Die Niederländer. Hugo Grotius. 29 Allein auf der anderen Seite hält er die den Zins verbietenden Stellen der heiligen Schrift doch zweifellos für verbindlich, so daß er im Resultate auf der Seite der Kanonisten stehen bleibt; wenigstens prinzipiell: praktisch freilich gab er vom Prinzip des Zinsenverbotes viel mit der auch sonst beliebten Auskunft nach, daß er allerlei „zinsähnliche" Vergütungen für Schaden, Gewinnentgang, Bemühung und Risiko des Gläubigers duldet und gutheißt 1). So steht Grotiüs zwischen alter und neuer Lehre in schwankender Mittel). Sein unentschiedener Standpunkt wurde rasch überüolt. Schon nach wenigen Jahren warf man nicht allein, wie er es getan hatte, die rationa- listische Begründung des Zinsenverbotes, sondern auch das Zinsenverbot selbst offen über Bord- Die entscheidende Wendung geschah kurz vor dem Jahre 1640. Als ob die Schranken einer lang geübten Zurückhaltung mit Einem Male fortgerissen wären, brach um diese Zeit eine Flut von Schriften los, in denen das Zinsnehmen mit der größten Entschiedenheit verteidigt wurde; und diese Flut verminderte sich nicht eher, als bis das Prinzip der Zinsnahm e — wenigstens in den Niederlanden — zum Siege gelangt war. Unter der Vielzahl dieser Schriften nehmen der Zeit wie dem Range nach den ersten Platz die berühmten Schriften von Claudius Salmasiüs ein. Die wichtigsten derselben, die von 1638 an einander in kurzen Intervallen folgten, sind: De usuris (1638), de modo usurarum (1639), defoenoretrapezitico (1640); woran sich noch eine unter dem Pseudonym Alexius a Massalia erschienene kürzere Streitschrift reiht: diatriba de mutuo, mutuum non esse alienationem (1640) 3). Sie haben Richtung und Inhalt der Zinstheorie für mehr als hundert Jahre fast aus- schließlich bestimmt, und selbst in der heutigen Doktrin sind, wie wir sehen werden, noch manche Nachwirkungen der Sabnasianischen Lehre erkennbar. Diese verdient deshalb eine eingehende Würdigung. Salmasius' Ansichten über den Zins sind am prägnantesten zu- ') De jure pacis ac belli, Lib. II Cap. XII, 20—21. ') Nach dem Gesagten geht es wohl nicht an, Gbotius als einen Bahnbrecher der zinsireundlichen Theorie zu betrachten. Letztere u. a. von Neümann, Geschichte des Wuchers in Deutschland S. 499 und Laspetbes a. a. 0. S. 10 und 257 geteilte Meinung mit gutem Grund berichtigt von Endemann, Studien I S. 66f. ■) Die Zahl der Schriften, in denen sich unser überaus fruchtbarer Schriftsteller über das Thema des Zinses ergeht, ist durch die im Text genannten Arbeiten keineswegs erschöpft. So existiert z. B. aus dem Jahre 1645 eine „disquisitio de mutuo qua pro- batur non esse alienationem", deren Autor sich nur mit den Initialen S. D. B. bezeichnet, die indes ebenso wie die ganze Schreibweise deutlich auf Salmasiüs (Dijonicus Bur- gundus) hinweisen. Ferner findet sich aus demselben Jahre eine anonyme, aber ohne Zweifel gleichfalls auf S. zurückzuführende „Confutatio diatribae de mutuo tribus disputationibus ventilatae Auetore et praeside Jo. Jacobo Yissembachio" et«. Die im Texte genannten Schriften waren indes die bahnbrechenden. 30 III. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. sammengefaßt im VIII. Kapitel seines Buches de usuris. Er beginnt damit, daß er seine eigene Zinstheorie entwickelt. Der Zins ist ein Lohn für den Gebrauch geliehener Geldsummen. Das Darlehen gehört zu jener Klasse von Rechtsgeschäften, in denen vom Eigentümer einer Sache der Gebrauch derselben einem andern überlassen wird. Geschieht dies an einer nicht verbrauchlichen Sache und ist die Gebrauchsüberlassung unentgeltlich, so ist das Rechtsgeschäft ein commodatum; ist sie entgeltlich, so ist das Geschäft eine locatio conductio. Geschieht es an einer verbrauchlichen oder vertretbaren Sache, so entsteht bei Unentgeltlichkeit das unverzins- liche Darlehen, mutuum, bei Entgeltlichkeit das verzinsliche Darlehen, foenus. Das verzinsliche Darlehen steht daher zum unverzinslichen in genau demselben Verhältnis, wie die Miete zum Leihvertrag, und ist ebenso berechtigt wie jene^). Der einzige denkbare Grund, über die Zulässigkeit eines Entgelts bei dem commodatum anders zu urteilen als bei dem mutuum, könnte in der verschiedenen Natur liegen, die der Gebrauch bei den Gegenständen des mutuum einerseits und des commodatum andererseits hat. Bei den Gegenständen des Darlehens besteht nämlich der Gebrauch in einem gänzlichen Verbrauch, und man könnte einwenden, daß darum hier der Gebrauch von der Sache selbst nicht separiert werden könne. Allein diesem Einwand begegnet Salmasiüs mit zwei Gegengründen: erstlich würde jene Argumentation auch zur Verdammung und Vernichtung des unverzinslichen Darlehens führen, indem man dann verbrauchliche Sachen überhaupt nicht, also auch nicht unentgeltlich, einem anderen zum „Gebrauche", dessen Existenz ja angezweifelt wird, überlassen könnte. Und ferner liege in der Verbrauchlichkeit der Darlehensgüter im Gegenteil ein Grund mehr für die Entgeltlichkeit des Darlehens. Denn in der Miete kenn der Eigentümer seine Sache in jedem Augenblick zurückziehen, weil er eben Eigentümer geblieben ist; im Darlehen kann er es nicht, weil sie durch den Verbrauch untergegangen ist. Der Geldverleiher leidet daher Verzögerungen, Besorgnisse und Schäden, um deren willen die Entgeltlichkeit des Darlehens in noch höherem Grade der Billigkeit ent- spricht als die des commodatum. Nach dieser Exposition der eigenen Meinung wendet sich Salmasiüs zu den Argumenten der Gegner, um sie Punkt für Punkt zu widerlegen. Wenn man diese Widerlegungen liest, so begreift man, daß Salmasiüs so glänzend gelang, was hundert Jahre früher Molinaeüs nicht gelungen ') „Que res facit ex commodato locatum, eadem praestat ut pro mutuo sit foenus, nempe merces. Qui eam in commodato probant, cur in mutiio improbent. nescio, nee ullam hujus diversitatis rationem video. Locatio aedium, vestis, animalis, servi, agri, operae, operis, licita erit: non erit foeneratio quae proprie locatio est pecuniae, tritioi, hordei, vini, et aliarum hujusmodi specierum, frugumqne tarn arentium quam humi darum ?" Salmasius. 31 war: die Überzeugung der Zeitgenossen. Die bezüglichen Ausführungen sind äußerst wirksam geschrieben, wahre Kabinettstücke glänzender Polemik. Der Stoff zu dieser war freilich zum guten Teile schon von den Vorgängern, namentlich von Molinaeüs, geliefert worden i); aber Sal- masius verarbeitet diesen Stoff in so glücklichem Gewände und bereichert ihn durch so viele packende Einfälle, daß seine Polemik alles Voran- gegangene bei weitem hinter sich läßt. Vielleicht wird es einigen meiner Leser nicht unwillkommen sein, ein paar ausführliche Proben daraus kennen zu lernen; teils um eine genauere Vorstellung von dem Geiste zu erhalten, in dem man während des 17. und tief bis ins 18. Jahrhundert unser Problem zu behandeln pflegte, teils um die intimere Bekanntschaft eines Schriftstellers zu machen, den man heutzutage sehr häufig zu zitieren, aber äußerst selten zu lesen pflegt. Ich will daher ein paar Bruchstücke seiner Polemik im Wortlaute in die Anmerkung setzen 2). >) Zur Feststellung des Verhältnisses, in dem Salmasius zu Molinaeüs steht, dürfte es nach Endemanns ausdrücklicher Bemerkung, daß Salm, den Mol. nicht zitiere (Studien I S* 65), nicht überflüssig sein zu konstatieren, daß solche Zitate -aller- dings in ziemlich großer Zahl existieren. Das den Werken des Salm, beigegebene Autoren- register weist für das Buch „de usuris" drei, für „de modo usurarum" zwölf, und für „de foenore trapezitico" ein Zitat des Molinaeüs auf. Diese Zitate beziehen sich überwiegend auf das einschlägige Hauptwerk des letzteren, den „tractatus contractuum et usurarum"; eines derselben (de usuris, S. 221) geradezu auf eine Stelle, die im Zentrum der entscheidenden Ausführungen steht (tractatus Nr. 629: die Nr. 528ff. enthalten die Darstellung und Widerlegung der antik-philosophischen und kanonistischen Argu- mente gegen den Zins). Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, daß Salm, die Schriften des Mol. genau gekannt hat, und fast ebenso zweifellos ist es — wie ja auch seine sachliche Übereinstimmung vermuten läßt — daß er aus ihnen geschöpft hat. Wenn in der oben (S. 29) zitierten Confutatio diatribae einmal erwähnt wird (S. 290), daß Salmasius zur Zeit, als er unter dem Pseudonym Alexius a Massalia die diatriba de mutuo verfaßte, die übereinstimmenden Ausführungen des Mol. in seinem tractatus de usuris noch nicht gekannt habe, so bezieht sich diese Äußerung entweder nur auf die Unkenntnis jener ganz speziellen Stellen des Mol., in denen dieser die Natur des Darlehens als einer Veräußerung negiert, oder sie ist nach dem Dargestellten einfach unrichtig. 2) Salmasius beginnt mit dem Argument von der ungehörigen Doppelforderung für eine Ware. Die Gegner hatten eingeworfen, daß wer etwas über den geliehenen Hauptstamm hinaus nehme, dies nur nehmen könne entweder für den Gebrauch einer Sache, die schon verbraucht sei, also für gar nichts ; oder für den Hauptstamm selbst, dann verkaufe er dieselbe Sache zweimal. Darauf entgegnet Salmasius: ,,Quae ridicula sunt, et nullo negotio difflari possunt. Non enim pro sorte usura exigitur, sed pro usu sortis. Usus autem ille non est nihilum nee pro nihilo datur. Quod haberet rationem, si alicui pecuniam mutuam darem, ea lege ut statim in flumen eam projiceret aut alio modo perderet sibi non profuturam. Sed qui pecuniam ab alio mutuam desiderat, ad necessarios sibi usus iUam expetit. Aut enim aedes inde comparat, quas ipse habitet,. ne in conducto diutius maneat, vel quas alii cum fructu et compendio locet: aut funduni ex ea pecunia emit salubri pretio, unde fructus et reditus magnos percipiat: aut servum, ex cujus operis locatis multum quaestus faciat: aut ut denique alias merces praestinet. 32 in. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. Von geringerem Interesse für den dogmengeschichtlichen Entwick- lungsgang ist, was weiter folgt. Zunächst ein langatmiger, und trotz aller Spitzfindigkeit doch recht lahmer Beweis dafür, daß im Darlehen keine Veräußerung (alienatio) des Geliehenen liege — ein Thema, dem auch die quas vili emptas pluris vendat" (S. 195) Und nachdem er ausgeführt hat, daß der Gläubiger auf eine Untersuchung, ob das Geld vom Schuldner wirklich nützlich ange- wendet wird, ebensowenig einzugehen braucht, als der Vermieter eines Hauses, fährt er weiter fort: ,,Hoc non est sortem bis vendere, nee pro nihilo aliquid percipere. An pro nihilo computandum, quod tu dum meis nummis uteris, sive ad ea quae tuae postu- lant necessitates, sive ad tua compendia, ego interim his careo cum meo intcrdum damno et jactura ? Et cum mutuum non in sola sit pecunia numerata, sed etiam in aliis rebus quae pondere et mensura continentur, ut in frugibus humidis vel aridis, an, qui indigenti mutuum vinum aut triticum dederit, quod usurae nomine pro usu eorum consequetur, pro nihilo id capere existimabitur ? Qui fruges meas in egestate sua consumpserit, quas care emere ad victum coactus esset, aut qui eas aliis care vendiderit, praeter ipsam mensuram quam accepit, si aliquid vice mercedis propter usum admensus fuerit, an id injustam habebitur? Atqui poteram, si eas servassem, carius fortasse in foro vendere, et plus lucri ex illis venditis efficere, quam quantum possim percipere ex usuris quas mihi reddent" (S. 196f.). — Besonders drastisch ist seine Erwiderung auf das Argument von der Unfruchtbarkeit des Geldes: ,,Facilis responsio. Nihil non sterile est, quod tibi sterile esse volueris. Ut contra nihil non fructuosum, quod cultura exercere, ut fructum ferat, institueris. Nee de agrorum f er tili täte regeram, qui non essent feraces nisi humana industria redderet tales. . . . Magis mirum de aere, et hunc quaestuosum imperio factum. Qui dis^tx6v imposuerunt vectigal singulis domibus Constantinopolitani imperatores, aerem sterilem esse pati non potuerunt. Sed haec minus cum foenore conveniunt. Nee mare hie sollicitandum, quod piscatoribus, urinatoribus ac nautis ad quaestum patet, ceteris sterilitate occlusum est. Quid sterilius aegroto ? Nee ferre se, nee movere interdum potest. Hunc tamen in reditu habet medicus. Una res est aegroto sterilior, nempe mortuus . . . Hie tamen sterilis non est pollinctoribus, neque sardapilonibus, neque vespillonibus, neque fossariis. Immo nee praeficis olim, nee nunc sacerdotibus, qui eum ad sepulcrum cantando deducunt. Quae corpus alit corpore, etiamsi liberos non pariat, non tamen sibi infecunda est. Nee artem hie cogites; natura potius victum quaerit. Meretricem me dicere nemo non sentit ... De pecunia quod ajunt, nihil ex se producere natura, cur non idem de ceteris rebus, et frugibus omne genus, quae mutuo dantur, asserunt? Sed triticum duplici modo frugiferum est, et cum in terram jacitur, et cum in foenus locatur. Utrobique foenus est. Nam et terra id reddit cum foenore. Cur natura aedium, quas mercede pacta locavero, magis potest videri foecunda, quam nummorum quos foenore dedero? Si gratis eas commodavero, aeque ac si hos gratis mutuo dedero, tum steriles tam hi quam illae mihi evadent. Vis seire igitur, quae pecunia proprie sterilis sit dicenda, immo et dicta sit? illa certe, quae foenore non erit occupata, quaeque nihil mihi pariet usurarum, quas et propterea Graeci i6xov nomine appellarunt" (S. 198f.). — Auch das dritte Hauptargument der Gegner — daß das Darlehen nicht verzinslich sein solle, weil die dargeliehenen Sachen ein Eigentum des Schuldners werden — findet Salmasius „lächerlich": „At injustum est, ajunt, me tibi vendere quod tuum est, videlicet usum aeris tui. Potens sane argumentum. Atqui non fit tuum, nisi hac lege, ut pro eo, quod accepisti utendum, certam mihi praestes mercedem, usurae nomine, absque qua frustra tuum id esse cuperes. Non igitur tibi, quod tuum est, vendo, sed, quod meum est, ea conditione ad te transfero, ut pro usu ejus, quamdiu te uti patiar, mihi, quod pactum inter nos est, persolvas.'' Salmasius' Nachfolger. Die Niederlande. 33 ganze diatriba de mutuo gewidmet ist; weiter die Bekämpfung einiger Billigkeits- und Opportunitätsgründe der Kanonisten: daß es unbillig sei, dem Schuldner, auf den sofort die Gefahr der empfangenen Geldsumme übergehe, auch noch durch den Zins zu beschweren, und die Frucht des Geldes einem anderen zu überlassen, der die Gefahr nicht trage; und daß der Zinswucher zum Schaden des Gemeinwesens eine Vernachlässigung des Ackerbaues, des Handels und der anderen „bonae artes" bewirken würde. Die Bekämpfung des letzteren Argumentes gibt Salmasius u. A. Gelegenheit, den Nutzen der Konkurrenz anzupreisen: je mehr foeneratores es gebe, desto besser; sie werden durch ihren Wetteifer den Zinsfuß herab- drücken. Weiter folgt — vom IX. Kapitel ab — mit außerordentlichem Aufwand von G«ist und Wissen, mit vielen Wendungen voll schlagender Beredsamkeit, aber auch mit endloser Weitschweifigkeit die Widerlegung des Arguments, daß der Zins „unnatürlich" sei. Ganz zum Schluß wird endlich (Cap. XX. De usuris) untersucht, ob der vor dem jus naturale gerechtfertigte Zins auch dem jus divinum entspricht, was natürlich bejaht wird. Dies sind die wesentlichen Grundzüge von Salmasius' Lehre. Sie bezeichnet nicht allein einen Fortschritt, sondern für lange Zeit auch einen Höhepunkt des Fortschritts. Für mehr als hundert Jahre bestand die weitere Entwicklung fast in nichts anderem, als daß man Salmasius' Lehre immer allgemeiner annahm, mit mehr oder minder geschickten Variationen vortrug, und seinen Argumenten den jeweils zeitgemäßen Zuschnitt gab. Über ihn hinausgekommen ist man aber im Grunde nicht bis auf die Zeit von Smith und Turgot. In demselben Maß, als die von Salmasius vertretene Lehre Anhang gewann, bröckelte die Zahl derer ab, die noch an der kanonistischen Lehre festhielten. Dieser Niedergang erfolgte aus leicht begreiflichen Gründen rascher in den Reformationsländern und den Ländern germanischer Zunge, langsamer in den Ländern des reinen Katholizismus und romanischer Zunge. In den Niederlanden wurden, wie schon oben erwähnt, Salmasius' Werke fast unmittelbar von einer ganzen Reihe geistesverwandter Schriften gefolgt. Noch in das Jahr 1640 fallen die Werke von Kloppenburg, BoxHORN, Maresius, GraswinckelI). Etwas später (seit 1644) gab der „Tafelhalterstreit" 2) Anlaß zu einer hitzigen literarischen Fehde beider Parteien, die 1658 praktisch mit dem Sieg der Zinsfreunde endigte. Aus der nächstfolgenden Zeit ragt unter den immer zahlreicheren Anhängern ') Laspeykes a. a. 0. S. 257. *) Ausführlich geschildert von Laspeyres a. a. 0, S. 268ff. Böhm-ßawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 34 III. Verteidiger des Leihainses bis ins 18. Jahrhundert usw. der letzteren Richtung besonders der berühmte und einflußreiche Jurist Gerhard Noodt hervor, der in seinen libri tres de foenore et usuris die ganze Zinsfrage sehr eingehend mit großer Sach- und Literaturkenntnis erörtert^). Noch später scheinen die zinsfeindlichen Emanationen zumal aus dem Kreise der Fachgelehrten immer seltener zu werden; doch kommen solche vereinzelt noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor 2). In Deutschland, dessen Nationalökonomik während des 17. und selbst während des 18. Jahrhunderts nicht viel zu bedeuten hatte, vollzog sich die Rezeption der Salmasianischen Lehre langsam, ohne interessante Zwischenfälle und ohne jeglichen Gewinn für die Entwicklung der rezi- pierten Lehre. Auf deutschem Boden zeigte sich recht deutlich, daß die Praxis diejenige Macht war, deren Andrängen man den Umschwung zu danken hatte, während die Theorie den Reformen der öffentlichen Meinung und der Gesetzgebung schwerfällig nachhinkte. Ein halbes Jahrhundert, ehe in Besolds Person der erste deutsche Jurist sein Gutachten zugunsten des Zinses abgegeben hatte, war in manchem deutschen Partikularrecht die Zinsnahme, oder doch wenigstens die Forderung eines festen voraus bedungenen „Interesse", was praktisch auf das gleiche hinauskam, ge- stattet worden 3); und als 1654 die deutsche Reichsgesetzgebung sich diesem Vorgehen anschloß*), waren noch immer erst wenige Männer der Theorie auf die Seite von Besold und Salmasiüs getreten; ein Adam CoNTZEN konnte noch 1629 fordern, daß Zinsgläubiger wie Diebe peinlich gestraft und alle Juden als „venenatae bestiae" aus dem Lande gejagt werden sollen s). Erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts scheint die Überzeugung von der prinzipiellen Statthaftigkeit des Zinses in der Theorie allgemeiner zu werden. Daß so hervorragende Männer wie Pofendorf«) und Leibnitz') der neuen Lehre beitraten, beschleunigte ihren Sieg, und ') Noodt wird in der gelehrten Literatur des 18. Jahrhunderts besonders gerne als Autorität zitiert; z. B. von Boehmer, Protest. Kirchenrecht V, 19 passim. Bar- BEYRAC, der Herausgeber mehrerer Auflagen des Hugo Grotius, sagt, es gebe über die Materie des Zinses ein „opus absolutissimum et plenissimura" eines ,,summi juris- consulti et non minus judicio, quam eruditione, insignis, Clariss. Noodtii." (De jure Belli ac Pacis von Grotius, Ausgabe von Amsterdam 1720, S. 384.) *) Laspeyres a. a. 0. S. 269. ^) Neumann, Geschichte des Wuchers in Deutschland, S. 646, erwähnt partikular- rechtliche Gestattungen von Konventionalzinsen von den zwanziger Jahren des 16. Jahr- hunderts an. Endemann (Studien II, 316f., 366f.) will diese Gestattungen allerdings nur auf das stipulierte „interesse", das wenigstens prinzipiell von den eigentlichen Zinsen, usurae, verschieden war, gedeutet wissen. Jedenfalls hatte dadurch praktisch das Zinsnehmen die Duldung des Staates erlangt. ♦) Im jüngsten Reichsabschied. Über die gleichfalls streitige Auslegung der ein- schlägigen Stelle siehe Neumann a. a. 0. S. 659ff. ») Eoscher a. a. 0. S. 205. «) Röscher a. a. 0. S. 312f. ') Röscher S. 338f. Deutschland. Justi, Sonnenfels. 35 im Laufe des 18. Jahrhunderts wird sie endlich allmählich der Kontro- verse entrückt. In diesem Zustande finden wir sie bei den zwei großen Kameralisten, die am Ende unserer Periode stehen, Jüsti und Sonnenfels. Justis Staatswirtschaft 1) enthält nicht eine Zeile mehr über die große Frage, über die man früher so viele dicke Bände geschrieben hatte; freilich auch nicht eine Zeile, die sich überhaupt als Zinstheorie deuten ließe. Er findet es stillschweigend für selbstverständlich, daß man für Darlehen Zinsen zahlt, und wenn er in ein paar kurzen Bemerkungen (I, § 268) sich gegen den Wucher wendet, versteht er hierunter, wieder stillschweigend, nur ein Übermaß der Zinsforderung. Sonnenfels ist über die Materie des Zinses nicht so schweigsam als Justi. Aber auch er berührt in den früheren Auflagen seiner Handlungs- wissenschaft 2) die Kontroverse über die prinzipielle Statthaftigkeit des Zinses mit keiner Silbe. In einer späteren Auflage (der fünften, vom Jahre 1787) gedenkt er ihrer zwar, aber in einer Form und in einem Tone, in welchem man gänzlich abgetane Sachen zu behandeln pflegt. In einer bloßen Anmerkung nämlich (S. 496) verwirft er in einigen entschiedenen Worten die Zinsverbote der Kanonisten, verspottet ihre absurden Schrift- beweise, und findet es ungereimt, 6% Zinsen für Geld zu verbieten, während man bei dem Umsatz des Geldes in Ware 100% verdienen kann. Daß Sonnenfels so wegwerfend über die Kanonistendoktrin urteilt, ist um so höher anzurechnen, als er sonst auf den Zins keineswegs gut zu sprechen ist. Von Forbonnais beeinflußt, sieht er den Ursprung des Zinses in einer Hemmung des Geldumlaufes durch die geldanhäufenden Kapitalisten, aus deren Händen sich das Geld nur durch einen im Zinse dargebotenen Tribut wieder hervorlocken läßt»). Er sagt dem Zinse allerlei schädliche Folgen nach; daß er die Ware verteuere, den Gewinst der Emsigkeit vermindere und den Besitzer von Geld an demselben teil- nehmen lasse*). Ja er bezeichnet einmal die Kapitalisten als die Klasse derjenigen, „die nichts arbeiten und sich von dem Schweiße der arbeitenden Klassen nähren"«). Neben solchen Äußerungen schlägt aber doch wieder die rezipierte Salmasianische Lehre durch. Einmal nennt Sonnenfels, ganz im Geiste von Salmasiüs, als Gründe der Zinsforderung der Kapitalisten die Ab- wesenheit ihres Geldes, die Gefahr, und den Nutzen, den sie sich mit Ankauf fruchtbringender Sachen verschaffen konnten«); ein anderes Mal ') 2. Auflage, 1758. *) so in der zweiten, Wien 1771. ») 2. Auflage, S. 419, 425f. *) Ebenda S. 427. ») a. a. O. S. 430. •) a. a. 0. S. 426f. ' 3* 36 m. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. erkennt er, daß eine Herabsetzung des gesetzlich gestatteten Zinsfußes nicht das geeignete Mittel ist, dem Übel hoher Zinsen zu steuern i); wieder ein anderes Mal findet er, da die oben genannten Bestimmgründe des Zinses variabel sind, eine feste gesetzliche Zinstaxe überhaupt unpassend; sie sei entweder überflüssig oder schädlich^). Das tiefe Schweigen, in das sich Jüsti hüllt, in Verbindung mit der widerspruchsvollen Beredsamkeit, die Sonnenfels über denselben Punkt entwickelt, scheint mir ein charakteristischer Beleg für die doppelte Tat- sache zu sein: daß erstlich zur Zeit dieser Männer die Salmasianische Lehre in Deutschland schon so festen Fuß gefaßt hatte, daß selbst jene Schrift- steller, die dem Zins am unfreundlichsten gesinnt waren, nicht mehr daran denken konnten, auf den strengen kanonistischen Standpunkt zurück- zugreifen; dann aber auch, daß bis hierher die Rezeption mit keinerlei weiterer Entwicklung der Theorie verbunden gewesen war. England scheint dasjenige Land gewesen zu sein, in welchem die Abstreifung der kanonistischen Lehre mit der geringsten literarischen Aufregung verbunden war. Durch den Aufschwung seines Handels und seiner Gewerbe war es frühzeitig für die Zinswirtschaft reif geworden, und seine Gesetzgebung hatte den Bedürfnissen des Wirtschaftslebens frühzeitig nachgegeben. Heinrich VIIL hatte schon 1545 das Verbot des Zinsnehmens aufgehoben und durch eine bloße Zinstaxe ersetzt. Vor- übergehend wurde es allerdings unter Eduard VL wieder hergestellt, allein schon 1571 wurde es durch Königin Elisabeth abermals auf- gehoben, und blieb es für diesmal für immer 3). So war die Prinzipienfrage, ob der Leihzins gerechtfertigt sei, in England praktisch erledigt, ehe es dort eine theoretische volkswirtschaftliche Literatur gab, und als eine solche sich endlich entwickelte, hatte die abgetane Sache für sie wenig Interesse mehr. In desto höherem Grade wurde dieses durch eine neue Streitfrage gefesselt, zu der die Änderung der Gesetzgebung Anlaß gegeben hatte; durch die Frage nämlich, ob und in welcher Höhe Zinstaxen am Platze seien. Diese Verhältnisse haben der englischen Zinsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt. Man diskutiert mit großem Eifer und in zahlreichen Schriften über die Höhe der Zinsen, über ihre Vor- und Nachteile, und über das Passende oder Unpassende einer gesetz- lichen Beschränkung derselben, aber man berührt nur noch selten, und dann gewöhnlich nur ganz flüchtig die Frage ihrer Gerechtigkeit. Ich will ein paar Proben dieser Entwicklung kurz herausheben. Bacons, der dem Zeitalter der Zinsverbote noch ganz nahe stand, ') a. a. 0. S. 432ff. ') 5. Auflage, S. 497. ») Vgl. Schanz, Englische Handelspolitik, Leipzig 1881, l. Band S. 652ff. England. Bacon, Culpeper, Child, North, Petty, Vau^an. 37 und sich aus recht kühlen praktischen Gründen zugunsten des Zinses erklärt hatte, haben wir schon oben gedacht^). Etwa zwanzig Jahre später wagt selbst ein heftiger Gegner der Zinsen, Thomas Colpeper, nicht mehr, die kanonistischen Gründe gegen den Zins in eigenem Namen anzuführen, sondern geht, recht charakteristisch, über die Sache mit der Wendung hinaus, daß er es den Theologen überlasse, die Ungerechtigkeit des Zinses zu be- weisen, während er selbst sich darauf beschränken wolle zu zeigen, wieviel Übel der Zins stiftet 2). Im weiteren Verlauf richtet er aber seine Angriffe nicht so sehr gegen den Zins überhaupt, als nur gegen hohe Zinsen 3). Ein anderer dem Zins recht unfreundlich gesmnter Schriftsteller, JosiAH Child, will sich auf die Frage nach der Gerechtigkeit des Zinses gleichfalls nicht mehr einlassen, sondern verweist den Leser, der nähöres erfahren will, lediglich auf eine ältere, wie es scheint, anonyme Schrift, die unter aem Titel „the English usurer" 1634 erschienen war«). Er nennt ferner den Zins, was gerade keine tiefe Einsicht in sein Wesen verrät, häufig „Preis des Geldes", spricht gelegentlich die Meinung aus, daß durch ihn der Gläubiger sich auf Kosten des Schuldners bereichere 5), begnügt sich aber dennoch für die Ermäßigung der gesetzlichen Zinstaxe, und nicht für die gänzliche Abschaffung des Zinses zu plaidieren. Sein zins- freundlicher Gegner North wieder faßt, ganz nach Art des Salmasius, den Zins auf als „rent for stock", parallel mit der Rente von Grund und Boden; weiß aber zur Erklärung beider nichts weiter anzuführen, als daß eben die Eigentümer von ihrem überflüssigen Boden und Kapital an solche vermieten, welche dessen bedürftig sind"). Einen interessanten Gedanken haben Petty und Vaughan in die Diskussion geworfen, indem sie, wenn auch nur in flüchtigen, nicht genauer aufgeführten Bemerkungen, eine Parallele zwischen dem mit Rücksicht auf eine Differenz in der Zeit zu bezahlenden Zinse und dem mit Rück- sicht auf eine Differenz im Orte zu bezahlenden Aufgeld im Wechselverkehr zogen. Wir werden denselben Gedanken ein Jahrhundert später in breiterer 1) Siehe oben S. 28. *) Tract against the high rate of usury 1621. Ich hatte nur eine französische Über- setzung dieses Traktats, Amsterdam und Berlin 1754, zur Verfügung. Die im Text aitierte Stelle findet sich auf S. 441 dieser Übersetzung. ») z. B. S. 447, wo nur jener Zins als ungerecht getadelt wird, ,,qui ronge et qui d^truit"; also der allzu hohe Zins. *) Diese Schrift konnte ich leider nicht ausfindig machen. Die obige Bemerkung Childs findet sich in der Einleitung zu seinen Abhandlungen über den Handel, S. 9 einer französischen Übersetzung aus dem Jahre 1754. *) New discourse of trade, 1690. Mir lag davon nur dieselbe französische Über- setzung von 1754 vor, die auch Röscher in seinem Aufsatz „Zur Geschichte der eng- lischen Volkswirtschaf tslehre" (Abhandlungen der königl. sächs. Ges. der Wissenschaf ten III. Bd. 1857) benützte. Siehe Röscher S. 59ff. •) Röscher a. a. 0. S. 89f. 38 ni. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jalirhundert usw. Ausführung bei Galiani und Turgot wieder auftauchen sehen, und wir dürfen in ihm vielleicht überhaupt die allererste Anmeldung einer Idee erblicken, aus der sich abermals um ein Jahrhundert später eine zu breitem systematischen Ausbau gelangte moderne Zinstheorie, die sogenannte „Agiotheorie", entwickelte^). Eine etwas ausführlichere E^rwähnung verdient in diesem Zusammen- hange der Philosoph John Locke. Locke hat uns eine sehr merkwüiliige Ausführung über den Ursprung des Leihzinses hinterlassen. Er beginnt mit einigen Sätzen, die sehr an den Standpunkt der Kanonisten erinnern. „Geld", sagt er 2), „ist ein unfruchtbares Ding (barren thing) und bringt nichts hervor; es überträgt nur durch Vertrag den Gewinn, der die Arbeit Eines Mannes belohnt, in die Tasche eines Andern." Dennoch findet Locke den Leihzins für gerecht- fertigt. Als Beweisgrund und Brücke dient ihm die vollständige Analogie, die zwischen dem Leihzins einerseits und dem Pachtzins für ein Grund- stück andererseits stattfindet. Die nächste Ursache beider ist die ungleiche Verteilung. Weil der Eine mehr und der Andere weniger Geld hat als er braucht, findet derErstere einen ,Mieter" für sein Geld'), geradeso, wie der Grundherr deshalb, weil er zu viel und ein Anderer zu M^enig Grund- stücke besitzt, einen Pächter für seinen Boden findet. Warum aber willigt der Borger ein, für das geliehene Geld einen Zins zu bezahlen ? — Wieder aus demselben Grunde, aus dem der Pächter für den Gebrauch des Grund- stückes eine Rente zu bezahlen einwilligt. Denn das Geld ist, allerdings nur durch die Tätigkeit des Borgers, wie Locke ausdrücklich hinzusetzt, im Stande, im Handel dem Borger mehr als 6% ,, hervorzubringen", gerade so wie der Boden „durch die Arbeit des Pächters" im Stande ist mehr Früchte hervorzubringen, als seine Pachtrente beträgt. Wenn demnach auch der Leihzins, den der Kapitalist bezieht, als die Frucht der Arbeit eines Andern anzusehen ist, so trifft dies bei ihm in keinem höheren Grade zu als bei der Bodenrente. Ja im Gegenteile, in geringerem Grade. Denn die Boden- rente läßt dem Pächter gewöhnlich von der Frucht seines Fleißes viel weniger übrig, als der Borger einer Geldsumme aus dem mit ihr gemachten Gewinn nach Bezahlung des Leihzinses erübrigen kann. Und so kommt ') Über PfiTTY und Vaughan, sowie überhaupt über die englische Zinsliteratur dieser Periode siehe jetzt die reichhaltigen und interessanten Literaturnachweise bei Cassel, Nature and necessity of interest, 1903, S. 9 — 16, besonders S. 14f. In der Wertung der Leistungen dieser Periode für die Entwicklung der Zinstheorie kann ich Cassel allerdings nicht völlig beipflichten. *) Considerations of the consequences of the lowering of interest and raising the value of money, 1691, S. 24. Ich zitiere nach der Gesamtausgabe von Lookes Werken, London 1777, II. Band. ») Auch an anderen Stellen (z. B. a. a. O. S. 4) nennt Locke den Zins einen Preis für die ,, Miete des Geldes" (hire of money). Locke. 39 denn Locke zu dem Schlüsse: „Geld gegen Zinsen zu borgen ist nicht allein durch die Anforderungen des Geschäftslebens für manche Leute unvermeidlich; sondern der Empfang eines Gewinnes aus dem Verleihen von Geld ist auch so billig und gesetzmäßig, als der Empfang von Boden- rente, und dabei für den Schuldner leichter zu ertragen ..." Daß diese Theorie besonders gelungen ist, wird man kaum behaupten können. Ausgangspunkt und Schlußergebnis stehen in zu greller Dis- harmonie: wenn es wahr ist, daß der Leihzins den wohlverdienten Lohn der Arbeit Eines Mannes in die Tasche eines Andern leitet, der selbst nichts arbeitet und dessen Geld überdies unfruchtbar ist, dann ist damit absolut nicht zusammenzureimen, daß der Leihzins dennoch „billig und gesetzmäßig" sein soll. Daß eine unzweifelhafte Analogie mit dem Gewinn aus Pachtrenten besteht, hätte konsequent bei dieser Sachlage höchstens zu dem Ergebnis leiten dürfen, die Grundrente in das Verwerfungsurteil mit einzubeziehen. Für eine solche Ausdehnung des letzteren hätte die Theorie Lockes auch Anhaltspunkte genug geboten, da er ja ausdrücklich auch die Grundrente für eine Frucht des Fleißes eines Andern erklärt. Ihre Gerechtigkeit scheint indes für Locke über jeden Zweifel erhaben gewesen zu sein. So wenig befriedigend die Zinstheorie Lockes aber auch sein mag, so verleiht ihr ein Umstand ein bedeutendes dogmengeschichtliches Interesse: in ihrem Hintergrunde steht nämlich der Satz, daß die mensch- liche Arbeit es ist, welche alle Güter hervorbringt. Hier hat Locke diesen Satz nicht so sehr ausgesprochen als angewendet, und zwar nicht eben glücklich angewendet. An einem andern Orte hat er ihm aber einen deutlichen Ausdruck gegeben, wenn er sagt: „Denn es ist die Arbeit in der Tat, welche jeder Sache ihren verschiedenen Wert gibt"^). Wir werden sehen, welch große Tragweite dieser Satz in einem viel späteren Zeitalter für die Entwicklung des Zinsproblems noch erlangen sollte 2). Eine gewisse Verwandtschaft mit Lockes Auffassung vom Leihzinse zeigt etwas später James Steüart. „Das Interesse", schreibt er, „das sie für das geborgte Geld bezahlen, ist unbeträchtlich, wenn man es mit dem Wert vergleicht, den sie durch die Anwendung ihrer Zeit und Gaben (gleichsam erst) erschaffen." „Sagt man, dieses sei ein unbestimmter Satz, der durch keinen Beweis unterstützt werde; so antworte ich, daß der Wert der Arbeit eines Mannes durch die Proportion zwischen der Manufaktur, wenn sie auf den Markt gebracht wird, und zwischen dem Grundstoff ge- schätzt werden könne" 3). Die durch den Druck hervorgehobenen Worte ') Of civil government, Buch II, Kap. V, § 40. Vgl. Röscher a. a. 0. S. 95f. *) Siehe unten Abschnitt XII. ») Untersuchung der Grundsätze von der Staatswirtschaft. Übersetztim Cottaschen Verlag, Tübingen 1769—1772 IV, S. 50. 40 ni. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. bezeugen, daß Steüart so wie Locke den ganzen durch die Produktion erzielten Wertzuwachs als Produkt der Arbeit des Schuldners, und dem- nach auch den Leihzins als eine Frucht dieser Arbeit ansieht. Wenn indes auch Locke und Steüart über die Natur dessen, was wir heute den ursprünglichen Kapitalgewinn des Schuldners nennen, noch ganz im Unklaren waren, so waren sie doch weit davon entfernt die Tat- sache zu verkennen, daß der Leihzins in diesem Gewinn seinen Ursprung und seine Begründung findet. So schreibt Steüart an einer andern Stelle ausdrücklich: „Je nachdem die Vorteile beschaffen sind, die man von dem geborgten Gelde einernten kann, desto mehr oder weniger werden die Borger für die Benutzung desselben anbieten" i). Überhaupt hat sich die englische Zinsliteratur mit der Erörterung des Zusammenhanges zwischen Leihzins und Kapitalgewinn viel Mühe gegeben, wobei sie die Salmasianische Lehre zwar nicht an prinzipieller Klarheit überbot, aber durch Erweiterung der Detailkenntnisse bereicherte. Besonders beliebt war die Untersuchung, ob ein hoher Leihzins Ursache oder Wirkung eines hohen Gewinnes sei. Hüme entscheidet die Kontro- verse dahin, daß eine Wechselwirkung beider stattfinde. „Es ist über- nüssig", sagt er 2), „zu untersuchen, welcher dieser beiden Umstände, flämlich niedrige Interessen oder niedriger Gewinn, die Ursache, und welcher die Wirkung ist. Sie entstehen beide aus einem ausgebreiteten Handel und fördern einander wechselseitig. Niemand wird sich mit einem niedrigen Gewinn begnügen, wo er hohe Interessen bekommen kann; und niemand wird sich mit niedrigen Interessen begnügen, wo er einen hohen Gewinn erlangen könnte." Wertvoller als dieses nicht eben tiefgehende Urteil ist eine andere Erkenntnis, die sich an Hümes Namen knüpft. Er schied nämlich zuerst in völlig klarer Weise die Begriffe Geld und Kapital, und zeigte, daß die Höhe des Zinsfußes in einem Lande nicht von der Masse der Münzen, die es besitzt, sondern von der Größe seiner Gütervorräte (riches, Stocks) abhänge 3). Für die Ergründung des Ursprungs des Kapitalzinses wurde diese wichtige Entdeckung freilich erst in einem späteren Zeitalter aus- gebeutet. Wie fremd inzwischen den geschäftsgewohnten Engländern des 18. Jahr- ') a. a. 0. S. 24. •) Of Interest; Essays and treatises on several subjects, Basil. 1793, II. Bd. S. 60. ») a. a. 0. passim. Für die eine Hälfte dieser Einsicht hat Hume schon in Nicholas Barbon einen bemerkenswerten Vorläufer gehabt, welcher den Zins als ,,rent of stock" erklärt, und die Bemerkung beifügt, daß der Zins gewöhnlich als für Geld geleistet angesehen werde; dies sei jedoch ein Irrtum, der Zins werde vielmehr eigentlich für das Kapital (stock) gezahlt, da das geliehene Geld zum Ankauf von Waren ausgelegt werde. (A Discourse of trade, 1690 S. 31f.; siehe Stephan Bauers Aufsatz über Barbon in Conrads Jahrbüchern N. F. Bd. XXI [1890] S. 561ff., besonders 573.) Steuart. Hume. Bentham. 41 hunderts die einst so verbreitete kanonistische Lehre geworden -war, mag zum Schlüsse noch die Art und Weise dartun, in der Bentham in seiner — freilich erst 1787 erschienenen — „defence of usury" das Thema des Zinsnehmens behandeln konnte. Von einer ernsten Verteidigung des letzteren ist keine Rede mehr. Die Gründe der Alten und der Kanonisten werden nur erwähnt, um einen dankbaren Stoff für witzige Bemerkungen zu bieten; und Aristoteles wird als Erfinder des Grundes von der Sterilität des Geldes mit den Worten persifliert, daß er „niemals im Stande gewesen sei, an einem Geldstücke irgend welche Organe zu entdecken, die zur Erzeugung anderer solcher Stücke hätten dienen können" usw. (Letter. X)^). Italien stand unmittelbar unter den Augen der römischen Kirche. Italien war aber auch dasjenige Land in Europa, das am frühesten zu einer reichen Blüte des Handels und Geschäftslebens gelangt war, und das darum auch am frühesten den Druck des kanonistischen Zinsverbotes als unerträglich empfinden mußte. Die Art, in der man sich zu diesem stellte, wußte beiden Umständen Rechnung zu tragen* nirgends in Europa ist das Zins verbot der Tat nach unwirksamer geblieben, aber nirgends in Europa wagten es die Theoretiker später, der kirchlichen Satzung offen entgegenzutreten. Was sich hinter dem Rücken des formell gültigen Zinsverbotes gegen dasselbe tun ließ, geschah; und es scheint, daß beinahe alles, was die Praxis brauchte, sich so tun ließ. Die bequemsten Umgehungsformen bot der Wechselverkehr, der ja in Italien seine Heimat hatte, und die Stipu- lation von ,,Entschädigungs"-Interessen. Die weltliche Gesetzgebung leistete solcher Umgehung bereitwillig Vorschub, indem sie schon früh- zeitig die vertragsmäßige Vorausbestimmung des ,, Interesse" mit einem festen Perzentsatze des Darlehenskapitales gestattete, und nur ein Maxi- mum der Interessen festsetzte, das von den Parteien nicht überschritten werden durfte 2). Dagegen scheint kein italienischer Schriftsteller vor dem 18. Jahr- hundert einen offenen prinzipiellen Angriff gegen die kanonostische Lehre unternommen zu haben. Galiani zitiert im Jahre 1750 den Salmasiüs als den Ersten, der eine vollkommene Darstellung der Zinslehre in zins- freundlichem Sinne geschrieben habe, und gedenkt aus der seitherigen italienischen Literatur nur der Fehde, die unlängst zwischen dem Marchese Maffei und dem Predigermönch Fra Daniello Concina über das Zins- thema entbrannt war 3). Auch andere hervorragende Schriftsteller der- selben Zeit pflegen als bemerkenswerte Vorgänger hauptsächlich Sal- ') Von Bentham, der als Schriftsteller schon einer späteren als der hier behandelten Epoche angehört, wird auch noch an anderer Stelle die Rede sein. *) Vgl. die historischen Ausführungen von Vasco, L'usura libera (Scrittori Classici Italiani, Parte moderna Bd. 34) S. 182ff., besonders 195, 198ff., 210ff. ») Galianj, DeUa moneta (Scritt. Class. Ital., Parte mod. Bd. 4, S. 240f.). 42 m. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. MASiüs und einige andere Ausländer, wie Locke, Hüme, Montesquieu und Forbonnais, von Einheimischen dagegen keinen Früheren als den Marchese Maffei^) zu zitieren. So hat denn wohl auch für die zinsfreund- liche Literatur der Italiener kein anderer als Salmasius die Grundlage gebildet. Die späte Rezeption, die seine Lehre hier fand, scheint mit keiner sonderlichen Bereicherung verbunden gewesen zu sein. Nur ein Schrift- steller ist von diesem Urteil auszunehmen, Galiani. Dieser legt sich die Frage nach dem Wesen und der Gerechtigkeit des Leihzinses in durchaus eigenartiger Weise zurecht. Wäre der Zins wirklich das, führt er aus 2;, wofür man ihn gewöhnlich hält, nämlich ein Gewinn oder Vorteil, den der Darleihende mit seinem Gelde macht, so wäre er in der Tat verwerflich: denn „jeder Gewinn, ob groß oder klein, den das seiner Natur nach unfruchtbare Geld abwirft, ist tadelnswert; auch kann man solchen Gewinn nicht eine Frucht von Bemühungen nennen, denn die Bemühung leistet jener, der das Darlehen nimmt, nicht jener, der es gibt" (S. 244). Aber der Zins ist gar kein wahrer Gewinn, sondern nur eine Ergänzung dessen, was zur Gleichstellung zwischen Leistung und Gegenleistung fehlt. Gerechter Weise sollen beide gleichwertig sein. Da der Wert das Verhältnis ist, in dem die Sachen zu unseren Bedürfnissen stehen, so wäre es ganz irrig, die Äquivalenz in einer Gleichheit des Gewichtes, der Stückzahl oder der äußeren Gestalt zu suchen; es kommt vielmehr einzig darauf an, daß eine Gleichheit des Nutzens bestehe. In dieser Rücksicht sind nun gegenwärtige und künftige Geldsummen von gleicher Größe nicht gleichwertig, gerade so wie im Wechselverkehr gleich große Geldsummen an verschiedenen Orten nicht gleichwertig sind. Und geradeso wie der Wechselgewinn (cambio) trotz seiner scheinbaren Gestalt eines Aufgeldes (soprapiü) in Wahrheit eine Ausgleichung ist, die, bald dem örtlich gegenwärtigen, bald dem entfernten Gelde beigefügt, die Gleichheit des inneren Wertes beider herstellt, ebenso ist der Darlehenszins nichts anderes als die Ausgleichung des verschiedenen Wertes gegenwärtiger und zeitlich entfernter Geldsummen (S. 243 ff.). Mit diesem interessanten Gedanken — der in flüchtigerer Erwähnung allerdings auch schon vor ihm berührt worden war 3) — hat Galiani einen neuen Weg der Rechtfertigung des Leihzinses eingeschlagen, der ihn unter Anderem einer gewissen mißlichen Beweisführung überhebt, der 1) Impiego del danaro 1744. Ich hatte das Buch nicht selbst zur Hand. Wie mir jedoch der verstorbene Prof. LuiGi Cossa mitzuteilen die Güte hatte, ist der Inhalt des Buches zum größten Teile aus einem im Jahre zuvor erschienenen Werke des zins- ireundlichen holländischen Theologen Broedersen (De usuris licitis et illicitis, 1743) geschöpft. *) a. a. 0. V. Buch, I. Kap. ^) Von Petty und Vaughan; siehe oben S. 37. Galiani. Beccaria. 43 sich seine Vorgänger hatten unterziehen müssen. Salmasiüs und seine Nachfolger hatten nämlich, um dem Vorwurf der Verletzung der Gleich- heit zwischen Leistung und Gegenleistung zu entgehen, sich auf den Beweis einlassen müssen, daß es auch an verbrauchlichen, und möglicher- weise schon zu Beginn der Darlehensfrist wirklich verbrauchten Sachen einen fortdauernden Gebrauch gebe, für dessen separate Überlassung ein separates Entgelt, der Zins, mit Recht gefordert werde. Diese immer etwas fatale Beweisführung wurde durch Galianis Wendung überflüssig. Leider ist aber der Abschluß, den der Gedanke bei Galiani findet, sehr wenig befriedigend. Er erblickt nämlich den Grund dafür, daß gegen- wärtige Geldsummen regelmäßig mehr wert sind als künftige, ausschließ- lich in dem verschiedenen Grad ihrer Sicherheit. Eine Forderung auf künftige Zahlung einer Geldsumme ist allerlei Gefahren ausgesetzt, um deren Willen man sie geringer schätzt, als eine gleich große präsente Summe. Indem der Zins zur Ausgleichung dieser Gefahren bezahlt wird, erscheint er im Lichte einer Assekuranzprämie. Galiani gibt dieser Auffassung drastischen Ausdruck, wenn er einmal die „sogenannte Frucht des Geldes" für einen Preis des „Herzklopfens" (prezzo del batticuore) erklärt (S. 247), und ein andermal geradezu sagt, daß jenes Ding, das man Frucht des Geldes nennt, passender Versicherungspreis (prezzo dell' assicurazione) ieißen könnte (S. 252). Damit war freilich das Wesen des Darlehenszinses gründlich verkannt. Die Art, in der die späteren italienischen Autoren des 18. Jahrhunderts das Zinsproblem behandelten, ist in geringerem Maß erwähnenswert. Auch die hervorragenderen unter ihnen — wie Genovesi^) und Bec- caria 2) — sowie jene, die die Materie des Zinses monographisch bearbeiteten, wieVAsco3), bewegen sich überwiegend in den Geleisen der seit Salmasiüs traditionell gewordenen Lehre. Am bemerkenswertesten sind noch die Ausführungen Beccarias. Er unterscheidet scharf zwischen Interesse und Zins (usura): das erstere ist der unmittelbare Nutzen einer Sache, der Zins dagegen „der Nutzen des Nutzens" (1' utilitä dell' utilitä). Einen unmittelbaren Nutzen (Inter- esse) geben alle Güter. Speziell das Interesse des Geldes besteht, da das Geld allgemeines Wertmaß und Repräsentant des Wertes aller anderen Güter ist, aus dem Nutzen, den die repräsentierten Güter geben können. Da insbesondere jede Geldsumme ein bestimmtes Stück Land repräsentiert oder repräsentieren kann, so wird auch das Interesse der Geldsumme >) Lezioni di Economia Civile 1769 (Scritt. Cl. Ital. part. mod. Bd. 9) II. Teil, Kap. XIII. «) Elementi di Economia Pubblica; verfaJBt 1769—1771, zuerst abgedruckt 1804 n der Sammlung der Scritt. Cl. It. part. mod. Bd. 11 u. 12; insbesondere IV. Teil, Kap. 6 und 7. *) Usura libera; Bd. 34 der obigen Sammlung (parte mod.). 44 III. Verteidiger des Leibzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. durch den jährlichen Ertrag dieses Landes repräsentiert. Es ändert sich daher auch mit der Größe dieses Ertrages, und der mittlere Satz des Geld- interesse wird dem mittleren Ertrag des Grundes und Bodens gleichkommen (S. 116ff.). Da in dieser Auseinandersetzung das Wort „Interesse" offenbar dasselbe bedeutet, was wir den ursprünglichen Kapitalgewinn nennen würden, so können wir in der obigen Stelle einen freilich äußerst primitiven Versuch erblicken, die Existenz und Größe des ursprünglichen Kapital- zinses aus der Möglichkeit von Bodenkäufen zu erklären. Wie wir indes später sehen werden, hatte derselbe Gedanke schon einige Jahre zuvor durch einen anderen Schriftsteller eine viel vollkommenere Ausführung erlangt. Einmal berührt Beccaria auch das von Galiani angeschlagene Motiv vom Einfluß der Zeit, und von der Analogie des Wechselzinses, der ein Interesse des Ortes sei (S. 122); aber er geht darüber viel flüchtiger hinweg. Das katholische Frankreich war unterdessen in Theorie und Praxis zurückgeblieben. Seine staatliche Zinsengesetzgebung genoß durch Jahr- hunderte den Ruf, die strengste in Europa zu sein. Zu einer Zeit, in der man anderwärts übereinstimmend dazu gekommen war, das Zinsnehmen entweder ganz offen, oder doch in der sehr durchsichtigen Maske der voraus stipulierten Interessen zu gestatten, fand es Ludwig XIV. für passend, das bestehende Zinsenverbot in solcher Ausdehnung zu erneuern, daß auch die Handelszinsen untersagt wurden: der einzige Markt von Lyon wurde von diesem Verbote ausgenommen i). Hundert Jahre später, als man anderwärts die längst überwundenen Zinsenverbote bereits im Tone eines Sonnenfels und Bentham zu bespötteln anfing, standen sie vor den Gerichtshöfen Frankreichs noch immer in unheilvoller Geltung; und erst dem Jahre 1789 war es beschieden, wie mit so vielen anderen, so auch mit dieser Institution des mittelalterlichen Geistes aufzuräumen: durch ein Gesetz vom 12. Oktober 1789 wurde das Zinsenverbot förmlich aufgehoben und durch eine Zinstaxe von 5% ersetzt. Wie die Gesetzgebung, so hielt auch die Theorie Frankreichs am strengen kanonistischen Standpunkte am zähesten fest. Wie wenig um die Mitte des 16. Jahrhunderts Molinaeus durchzugreifen vermochte, haben wir bereits gesehen. Am Ende des 16. Jahrhunderts findet ein sonst so erleuchteter Schriftsteller, wie Johannes Bodinus, die Zinsenverbote völlig gerechtfertigt, lobt die Gesetzgeber, die sie erlassen, wegen ihrer Weisheit, und hält es für das Sicherste, den Zins mit Stumpf und Stiel auszurotten (,,usurarum non modo radices sed etiam fibras omnes am- putare")^). Im 17. Jahrhundert schrieb allerdings der Franzose Salmasiu» 1) Vasco a. a. 0. S. 205?. «) De Republica II. Aufl. 1591 V. II, S. 799ff. Frankreich. Bodin, Law, Melon, Montesquieu, Pothier. 45 glänzend für den Zins, aber er tat es außerhalb Frankreichs. Im 18. Jahr- hundert mehrt sich endlich die Zahl der zinsenfreundlichen Schriftsteller. Ein Law kämpft bereits für die gänzliche Befreiung des Zins Verkehres, auch von den Zinstaxen i); ein Melon erklärt den Zins für eine unabweis- bare gesellschaftliche Notwendigkeit, und überläßt es den Theologen, ihre moralischen Skrupel mit dieser Notwendigkeit auseinanderzusetzen 2). Ein Montesquieu erklärt, daß es zwar eine sehr gute Handlung sei, einem anderen sein Geld ohne Zinsen zu leihen; allein dies könne doch nur Gegen- stand eines religiösen Rates, und nicht eines bürgerlichen Gesetzes sein 3). Aber immer noch fanden sich auch Schriftsteller, die ihnen zugunsten der alten strengen Lehre Widerpart hielten. Unter diesen späten Verfechtern der kanonistischen Doktrin ragen besonders zwei hervor; der hoch angesehene Jurist Pothier und der Physiokrat Mikabeau. Pothier verstand es, aus dem Wust der kanonistischen Argumente die haltbarsten herauszulesen und mit großem Geschick und Scharfsinn zu einer Lehre zu verarbeiten, in der sie in der Tat zu sehr wirksamer Geltung gebracht wurden. Ich lasse die charakteristische Kemstelle, die schon die Aufmerksamkeit mehrerer Bearbeiter der Zinslehre auf sich gezogen hat, in der Anmerkung folgen*). *) z, B. IL Memoire sur les banques; Economistes financiers du XVIII. Sidde, Ed. Daire, Paris 1861 S. 571. •) Essai politique sur le commerce, ebenda S. 742. ») Esprit des lois XXIL *) Die Stelle findet sich bereits bei Rizy, über Zinstaxen und Wuchergesetze, von dem der nachstehende Auszug herrührt, und bei Knies, Kredit, I S. 347. Sie lautet: „Es ist eine Forderung der Billigkeit, daß die Leistungen, welche bei entgeltlichen Verträgen von der einen und anderen Seite gemacht werden, von gleichem Werte seien, und daß kein Teil mehr gebe als er empfangen, oder mehr empfange als er gegeben hat. Alles also, was der Darleiher von dem Schuldner über das ihm zugezählte Kapital ver- langen möchte, ist ungebührlich verlangt; denn schon mit der Zurückzahlung des Kapitals allein empfängt er genau dasjenige, was er gegeben hat. Bei unvertretbaren Sachen zwar, welche man gebraucht, ohne sie zu zerstören, mag allerdings ein Mietzins unbedenklich bewilligt werden, weil hier der Gebrauch jederzeit (in Gedanken wenigstens) von der Sache selbst ganz wohl getrennt werden kann, folglich auch einer Schätzung unterliegt und einen Preis hat, der von dem Preise der Sache unterscheidbar und unter- schieden ist. Wenn ich daher jemandem eine solche Sache zum bloßen Gebrauche über- geben habe, so steht nichts entgegen, daß ich mir nebst der ZurücksteUung des in meinem Eigentum verbliebenen Gegenstandes auch einen Mietzins bedinge, welcher den Preis für den an der Sache gestatteten Gebrauch darstellt. Ganz anders ist es jedoch mit denjenigen Gegenständen, welche die Rechtsgelehrten als vertretbare Sachen zu bezeichnen pflegen. Denn da diese durch den Gebrauch notwendig zerstört werden, so ist es uimiöglich, sich rücksichtlich derselben einen Gebrauch vorzustellen, der von der Sache selbst verschieden wäre und einen andern, als den durch die Sache repräsen- tierten Wert besäße. Hieraus folgt aber mit Notwendigkeit, daß man die Benutzung einer vertretbaren Sache einem andern gar nicht überlassen kann, ohne ihm zugleich die Sache selbst eigentümlich zu überlassen. Wenn ich Dir eine Summe Gelds untere 46 ni. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. Ihm sekundierte, freilich mit mehr Eifer als Glück, der Verfasser der Philosophie rurale^), Mirabeau. Seine Ausführungen über den Zins gehören zu dem Konfusesten, was je über diese Materie geschrieben worden ist. Er ist ein fanatischer Gegner des Leihzinses und an Gründen, die gegen diesen sprechen sollen, unerschöpflich. Er führt unter anderm aus, daß es an jedem rechtmäßigen Titel dafür fehle, das Geld entgeltlich zu vermieten. Erstlich habe das Geld gar keinen natürlichen Gebrauch, sondern repräsentiere nur. „Aus seinem repräsentativen Charakter Gewinn ziehen, heißt aber in einem Spiegel die Figur suchen, die er dar- stellt". Sodann komme den Geldbesitzern auch der Grund nicht zu statten, daß sie vom Ertrage ihres Geldes leben müssen: denn dem ließe sich so abheKen, daß sie das Geld in andere Güter verwandeln und dann vom Ertrag ihrer Vermietung leben könnten! Endlich finde beim Gelde nicht ebenso wie bei Häusern, Möbeln u. dgl. eine Abnützung statt; es dürfe darum gerechter Weise dafür auch keine Abnützungsgebühr erhoben werden 2). Man wird wahrscheinlich schon diese Gründe herzlich schwach finden. Aber Mirabeau steigt in seinem blinden Eifer noch tiefer. Er kann sich der Einsicht nicht entziehen, daß der Schuldner aus der Verwendung des Geldes, dem „emploi", die Mittel ziehen kann, um für die geborgten Kapi- talien einen Zins zu bezahlen. Aber auch diese Einsicht wendet er gegen den Zins! Erführt aus, daß die Borger immer den Schaden haben müssen, weil es unmöglich sei, ein Gleichgewicht zwischen Zins und emploi her- zustellen. Man weiß nicht, wieviel die Landwirtschaft dem borgenden Landwirt eintragen wird, es kommen unvorhergesehene Unfälle, und darum (!) wird der Borger immer (!) zu kurz kommen 3). Ja, noch mehr! Einmal leitet Mirabeau aus der sehr natürlichen Tatsache, daß jeder Private lieber Zinsen bekommt als zahlt, alles Ernstes ein Argument dafür ab, daß das Zinsenzahlen dem Schuldner schädlich sein muß!*) Auf solche Gründe gestützt, läßt er an Schärfe des Verdammungs- urteils gegen den Geldzins nichts fehlen. „AUes in allem", sagt er'), „der der Verbindlichkeit übergebe, mir nach Ablauf einer bestimmten Zeit eine gleiche Summe zurückzustellen, so erhältst Du von mir einzig jene Summe Geldes und nichts darüber. Der Gebrauch, den Du vom Gelde machst, ist in der Ausübung des Eigentumsrechtes eingeschlossen, das ich Dir über die dargeliehenen Geldstücke übertragen habe. Es ist nichts Besonderes, nichts, was Du noch außer der übergebenen Summe empfangen hättest. Ich habe Dir nur diese Summe und nichts als diese Summe gegeben; ich kann also auch rechtlicherweise nichts als den dargeliehenen Betrag von Dir zurückverlangen; denn das Recht befiehlt, daß nur das erstattet werde, was gegeben worden ist." ^) Amsterdam 1764. ") a. a. 0. S. 269ff. ») S. 257—262. *) S. 267. ») S. 284. Mirabeau. 47 Geldzins ruiniert die Gesellschaft, indem er die Einkünfte in die Hände von Leuten bringt, die weder Grundeigentümer, noch Produzenten, noch Industrielle sind, und die . . . nur als Hornisse angesehen werden können, die von der Plünderung des Bienenstockes der Gesellschaft leben." Und dennoch ist selbst Mirabeau nicht im Stande, die Berechtigung des Zinsnehmens in gewissen Fällen zu leugnen. Er muß daher, sehr gegen seine Neigung, das Prinzip des Zinsverbotes durch einige Ausnahmen durchbrechen, deren Auswahl sich auf ganz willkürliche und haltlose Distinktionen gründet^). Es kann selten eine dankbarere Aufgabe gegeben haben, als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Widerlegung einer Lehre war, die längst überlebt, längst innerlich zerfallen, von den einen verabscheut, von den andern verspottet, wie eine morsche Ruine in diö Gegenwart hereinragte, und die jetzt zu allem "Ül)erflusse zu so kläglichen wissen- schaftlichen Stützen ihre Zuflucht zu nehmen gezwungen war. Diese überaus dankbare Aufgabe wurde von Türgot ergriffen, und mit ebenso außerordentlichem Geschick als glänzendem Erfolge gelöst. Sein Memoire sur les prets d'argent^) ist ein ebenbürtiges Seitenstück zu Salmasiüs* Wucherschriften. Zwar wird der heutige Forscher in seinen Räsonnements neben einigen guten gar nicht wenige schlechte Gründe finden. Aber gute und schlechte Gründe werden mit so viel Geist und Scharfsinn, mit so großer rhetorischer und dialektischer Kunst und mit so schlagenden Wendungen vorgetragen, daß die Wirkung auf ihr Zeitalter keine andere als eine siegreiche sein konnte. Da der Reiz der Arbeit nicht so sehr in den vorgetragenen Gedanken selbst, die sich vielmehr zum größten Teil mit den althergebrachten Argu- menten der Vorgänger decken, als in der packenden Einkleidung derselbe^ liegt, so wäre ein genaues Eingehen auf den Inhalt des Memoire nur dann lohnend, wenn ich bedeutende Bruchstücke desselben im vollen Wortlaute reproduzieren würde, worauf ich aus Raumrücksichten verzichten muß. Ich begnüge mich daher, einige markantere Züge aus den Ausführungen TüRGOTS hervorzuheben. Als wichtigsten Rechtfertigungsgrund des Zinses sieht er das Eigen- tumsrecht an, das der Gläubiger an seinem Gelde hat. Kraft desselben hat er ein „unverletzliches" Recht, über dasselbe zu disponieren wie er will, und auf seine Veräußerung und Vermietung Bedingungen zu legen, wie er sie für gut findet, z. B. die Entrichtung eines Zinses (§ 23 f.). Offen- bar ein schiefes Argument, mit dem man ebensogut wie die Rechtmäßigkeit eines Zinses überhaupt, auch die Rechtmäßigkeit eines Wucherzinses von 100% beweisen könnte I ') Siehe besonders S. 276, 290, 292f., 298f. *) Verfaßt im Jahre 1769, veröffentlicht zwanzig Jahre später, 1789. Ich zitiere nach der Gesamtausgabe der Werke Turgots durch Daire, Paris 1844, 1. Bd. S. 106 — 162. 48 ni. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. Den Einwand von der Unfruchtbarkeit des Geldes tut Turgot mit denselben Gründen ab wie seine Vorgänger (§ 25). Besondere Mühe nimmt sich Türgot mit dem oben reproduzierten Räsonnement Pothiers. Die These Pothiers, daß Leistung und Gegen- leistung billiger Weise einander gleich sein sollen, was im verzinslichen Darlehen nicht zutreffe, weist er durch die Ausführung zurück, daß Gegen- stände, die man freiwillig, ohne Betrug oder Zwang, gegen einander aus- tauscht, in gewissem Sinn immer gleichen Wert haben. Auf das fatale Gegenargument, daß an verbrauchlichen Sachen sich nicht auch noch «in von der Sache selbst gesonderter Gebrauch denken lasse, erwidert er mit dem Vorwurf juristischer Spitzfindigkeit und unzulässiger meta- physischer Abstraktion, und führt die altbeliebte Analogie zwischen der Vermietung des Geldes und der Vermietung einer ausdauernden Sache, etwa eines Diamanten, durch: „Was! man soll von mir für den winzigen Nutzen, den ich aus einem Möbelstück oder einem Geschmeide ziehe, eine Bezahlung verlangen können; und es soll ein Verbrechen sein, mich für den ungeheueren Vorteil etwas zahlen zu lassen, den ich vom Gebrauch einer Summe Geldes während derselben Zeit ziehe? und das, weil der subtile Verstand eines Rechtsgelehrten in dem einen Fall den Gebrauch einer Sache von dieser selbst sondern kann, und im anderen Fall dies nicht kann? Das ist in Wahrheit zu lächerlich" (S. 128). Unmittelbar darauf scheut freilich auch Türgot selbst nicht meta- physische Abstraktion und juristische Spitzfindigkeit. Um nämlich den Grund abzuwehren, daß der Schuldner Eigentümer des geborgten Geldes wird und daher auch dessen Gebrauch ihm gehöre, konstruiert er ein Eigentum am Wert des Geldes und unterscheidet es vom Eigentum am Stück Metall: dieses gehe allerdings auf den Schuldner über, aber jenes bleibe bei dem Gläubiger zurück. Sehr bemerkenswert sind endlich einige Ausführungen, in denen Türgot, dem Vorbild Galianis folgend, den Einfluß der Zeit auf die Wertschätzung der Güter hervorhebt. Einmal zieht er die uns schon bekannte Parallele zwischen dem Wechselgeschäft und dem Darlehen. Geradeso wie man im Wechselgeschäft weniger Geld an einem Orte gibt, um eine größere Summe an einem anderen Orte zu bekommen, gibt man im Darlehen weniger Geld in einem Zeitpunkt, um mehr Geld in einem anderen Zeitpunkt zu bekommen. Der Grund beider Erscheinungen liegt darin, daß „die Differenz der Zeit, wie die des Ortes, eine reelle Differenz im Werte des Geldes hervorbringt" (§ 23). Ein andermal weist er auf die notorische Differenz hin, die zwischen dem Werte einer gegenwärtigen und einer erst in einem entfernten Zeitpunkte zu erlangenden Summe besteht (§ 27), und etwas später ruft er aus: „Wenn diese Herren voraus- setzen, daß eine Summe von 1000 Francs und ein Versprechen von 1000 Francs genau denselben Wert besitzen, so stellen sie eine noch ab- Rückblick. 49 surdere Voraussetzung auf; denn wenn diese beiden Dinge von gleichem Wert wären, warum würde man denn überhaupt borgen?" Leider hat auch Turgot diesen fruchtbaren Gedanken nicht weiter verfolgt: er ist in seine anderen Ausführungen, ich möchte sagen, un- organisch eingestreut, und steht mit denselben eigentlich im Widerspruche. Denn wenn erst Zins und Kapitalrückerstattung zusammen das Äquivalent des geliehenen Kapitales bilden, der Zins also ein Teiläquivalent der Hauptsumme selbst ist, wie kann er dann ein Entgelt für einen separaten Gebrauch der Hauptsumme sein, um dessen Nachweis sich Turgot früher soviel Mühe genommen hat? Die Kontroverse Turgots gegen Pothier können wir als den Schluß- akt des dreihundertjährigen Kampfes ansehen, den die Jurisprudenz und Nationalökonomie gegen die alte kanonistische Zinsdoktrin geführt hatte. Seit Turgot ist diese für den Bereich der Nationalökonomie abgetan. Innerhalb der Theologie fristete sie noch ein paar Dezennien länger ein Scheinleben fort, bis endlich im 19. Jahrhundert auch diesem ein Ende gemacht wurde. Indem die römische Pönitentiarie den Zinsenbezug auch ohne besonderen Zinstitel für erlaubt erklärte, hatte die Kirche selbst die Niederlage ihrer einstigen Doktrin ratifiziert^). Halten wir einen Augenblick still, um einen prüfenden Rückblick auf die durchmessene Periode zu werfen. Welche Ergebnisse hat sie ge- bracht, und wieviel ist in ihr von der Wissenschaft für die Erklärung des Zinsproblemes gewonnen worden? Die Alten und die Kanonisten hatten gesagt: der Leihzins ist eine ungerechte Übervorteilung des Schuldners durch den Gläubiger; denn das Geld ist unfruchtbar, und überdies existiert gar kein besonderer „Gebrauch" des Geldes, den der Gläubiger gerechterweise gegen ein separates Entgelt verkaufen dürfte. Dem gegenüber lautet die neue Lehre: der Leihzins ist gerecht; denn erstlich ist das Geld nicht unfruchtbar, indem man bei passender Anlegung mit demselben einen Gewinn machen kann, auf dessen Erzielung der Gläubiger zu Gunsten des Schuldners ver- zichtet; und zweitens gibt es einen vom Kapital selbst zu trennenden und separat verkäuflichen Gebrauch desselben. Sehen wir vom letzteren, mehr formellen Punkte voiläufig ab — er wird uns später in einem anderen Zusammenhange nochmals begegnen — so liegt der Schwerpunkt der neuen Erklärung in dem Hinweis, daß das Kapital dem, der es verwendet, Früchte bringt. Es ist damit in der neuen *) Funk, Zins und Wucher, Tübingen 1868 S. 116. Über die Aufnahme, die diese liberale Entscheidung Roms (vom 18. August 1830) bei einem Teil der französischen Geistlichkeit fand, siehe Molinari, Cours d'Economie Politique, 2. Aufl. I S. 333. Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 4 ÖO III. Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. Lehre unter einem enormen Aufwand von Scharfsinn, Dialektik Polemik und Worten im Grunde genommen derselbe Gedanke zum Durchbruch gekommen, den etwas später Smith in seiner wunderbar einfachen Weise in die wenigen Worte faßte, mit denen er die ganze Frage nach der Be- rechtigung des Leihzinses für erledigt hielt: „as something can every- where be made by the use of money, something ought everywhere to be paid for the use of it"^). In unsere moderne Terminologie übersetzt, würde derselbe Gedanke lauten: Es gibt einen Leihzins, weil es einen ursprünglichen Kapitalzins gibt. So läuft die Theorie des Salmasius und seiner Nachfolger im Grunde darauf hinaus, daß sie den ausbedungenen oder den Leihzins erklären aus der Tatsache der Existenz eines ursprünglichen Kapital- zinses. Wieviel ist damit für die Erklärung des Zinsproblems gewonnen? — Gewiß nicht ganz wenig. Dafür spricht schon der Umstand, daß eine Geistesarbeit von Jahrhunderten nötig war, um der neuen Lehre gegen widerstrebende Eindrücke und Vorurteile Glauben zu verschaffen. Aber ebenso gewiß ist, daß mit jener Erklärung noch lange nicht alles getan war. Das Problem des Leihzinses war nicht gelöst, sondern nur zurück- geschoben. Auf die Frage: warum erhält der Gläubiger ein immerwährendes müheloses Einkommen aus seinem Leihkapital? war die Antwort gegeben: weil er es auch bei eigener Verwendung desselben hätte erhalten können. — Aber warum hätte er dies? — Diese Frage, die offenbar erst auf den wahren Ursprung des Zinses zielt, wird in unserer Epoche nicht allein nicht gelöst, sondern nicht einmal gestellt. Alle Erklärungsanläufe gelangen bis zur Tatsache, daß der, welcher ein Kapital in der Hand hat, damit einen Gewinn machen kann. Aber hier erlahmen sie. Sie nehmen dies als eine Tatsache hin, ohne im mindesten den Versuch zu machen, sie selbst weiter zu erklären. So Molinaeüs mit dem Satz, daß das Geld unterstützt von der Bemühung der Menschen Frucht bringt, und mit seiner Berufung auf die tägliche Erfahrung. So Salmasius selbst mit seinem köstlichen Plaidoyer für die Fruchtbarkeit des Geldes, in dem er aber wieder die Tatsache nur anruft, ohne sie zu erklären. So aber auch noch die letzten und vorgeschrittensten National- ökonomen der ganzen Periode; ein Locke, ein Law, ein Hume, ein James Steuart, ein Justi, ein Sonnenfels. Sie bieten bisweilen überaus klare und eingehende Darlegungen, wie aus der Möglichkeit, einen Kapitalgewinn zu machen, mit Notwendigkeit der Leihzins hervorgehen, und in der Größe jenes auch das Maß der eigenen Größe finden müsse 2) — aber zur Frage nach dem Warum jenes Kapitalgewinnes kommt keiner von ihnen*). ') Wealth of nations, II. Buch, IV. Kap. ») z. B. Sonnenfels Handlung 5. A. S. 488, 497. Steuart 4. Buch I. Teil S. 24; HüME a. a. 0. S. 60. Vgl. oben S. 35 und 40. •) Einige Dogmenhistoriker, die zugleich Anhänger der später zu besprechenden Rückblick. 5) Das Verhältnis dessen, was Salmasius und seine Zeit für das Zins- problem geleistet, kann nicht besser illustriert werden als durch eine Parallele mit dem Grundrentenproblem. Salmasius hat — allerdings unter sehr erschwerenden Nebenumständen — für das Zinsproblem das geleistet, was für das Grundrentenproblem als allzu selbstverständlich gar nie geleistet zu werden brauchte: nämlich den Nachweis, daß der Pächter die ausbedungene Pachtrente zahlt, weü das Pachtgut sie trägt. Salmasius hat dagegen für das Zinsproblem nicht geleistet, ja gar nicht zu leisten versucht, was auf dem Gebiet der Grundrente allein eine wissen- schaftliche Tätigkeit erheischte: nämlich die Erklärung, warum das Pacht- gut in den Händen des Besitzers eine Eente trägt. So bestand alles, was in der oben betrachteten Periode geleistet worden war, gleichsam in der Zurückdrängung eines vorgeschobenen Postens auf die Hauptposition. Das Leihzinsproblem wird so weit verfolgt, bis es mit dem allgemeinen Kapitalzinsproblem zusammentrifft: diese Haupt- position wird aber weder genommen, noch auch nur angegriffen, und der Kern des Zinsproblems ist am Ende unserer Epoche noch so gut wie unberührt. Dennoch verging die Epoche auch für die Lösung des Hauptproblems nicht ganz unfruchtbar: sie bereitete seine künftige Bearbeitung wenigstens vor, indem sie sein Objekt, den ursprünglichen Kapitalzins, aus ver- schwommenen Vorstellungen heraushob und allmählich zu klarer An- schauung brachte. Die Tatsache, daß jemand, der mit einem Kapital arbeitet, einen Gewinn macht, war längst bekannt gewesen. Aber sehr lange unterschied man die Natur dieses Gewinnes nicht klar und war geneigt, den ganzen Gewinn auf Rechnung der Tätigkeit des Unternehmers zu setzen. So selbst noch Locke, wenn er die Interessen, die der Schuldner Produktivitätstheorie sind, wie Röscher, Funk und Endemann, lieben es, den Schrift- stellern der in Rede stehenden Epoche „Ahnungen", oder wohl auch eine „Einsicht" in die „Produktivität des Kapitales" zuzuschreiben, und sie damit als Vorläufer für die Produktivitätstheorie in Anspruch zu nehmen. Ich halte dies für ein Mißverständnis. Jene Schriftsteller sprechen freilich von der ,, Fruchtbarkeit" des Geldes und allerlei anderer Dinge ; allein dieser Ausdruck dient in ihrem Munde vielmehr dazu, die Tatsache, daß gewisse Dinge einen Gewinn bringen, zu benennen, als zu erklären. Sie nennen einfach alle Dinge, die einen Gewinn oder eine ,, Frucht" abwerfen, eben deshalb „frucht- bar", ohne daß es ihnen in den Sinn käme, damit eine förmliche theoretische Erklärung des Ursprungs jener Gewinne geben zu wollen. Das geht recht deutlich aus den bezüg- lichen Ausführungen von Salmasius hervor. Wenn Salmasius die Luft, die Krankheit, den Tod und die Prostitution „fruchtbar" nennt (siehe oben S. 32 in der Note), so ist das offenbar nur eine drastische Aussagefonn für die Tatsache, daß der Staat, der die Luft besteuert, daß die Ärzte, Totengräber und Prostituierten aus den genannten Dingen einen Gewinn ziehen. Aber ebenso offenbar dachte Salmasius nicht im mindesten daran, den Totengräbersold ernstlich aus einer produktiven Kraft abzuleiten, die dem Tode innewohnt. Und viel ernster ist auch die Fruchtbarkeit des Geldes nicht zu nehmen, die Salmasius eben durch die Parallele mit jenen Beispielen erläutern wollte. 4* 0, OF lU- LIB, Ö2 III' Verteidiger des Leihzinses bis ins 18. Jahrhundert usw. dem Gläubiger zahlt, als die „Frucht von eines anderen Mannes Arbeit" ansieht, und die zugestandene Möglichkeit, daß das geborgte Geld, in Geschäften angelegt, Früchte bringen kann, ausdrücklich auf die Be- mühung des Schuldners zurückführt. Indem man nun behufs der Recht- fertigung des Leihzinses veranlaßt war, den Einfluß, den das Kapital auf die Entstehung solcher Gewinne nimmt, stärker hervorzuheben, mußte es endlich zur klaren Einsicht kommen, daß ein Teil der Unternehmer- gewinne ein vom Ertrag der Arbeit wohl zu unterscheidender Einkommens- zweig sui generis, ein eigentlicher Gewinn vom Kapitale sei. Diese Ein- sicht, deren deutliche Keime sich schon bei Molin aeus und Salmasius finden, steht am Ende der Periode in den Schriften eines Hume und anderer in voller Schärfe da. War aber einmal für das Phänomen des ursprünglichen Kapitalzinses die Aufmerksamkeit erregt, dann konnte es nicht fehlen, daß man früher oder später auch nach den Ursachen dieses Phänomens zu fragen anfing. Hiermit tritt aber die Geschichte des Kapitalzins- problems in eine neue Epoche. IV. Turgot's Fruktiflkationstheorie. Soweit meine Kenntnis der volkswirtschaftlichen Literatur reicht, muß ich TuRGOT für den ersten halten, der auch für den ursprünglichen Kapitalzins eine wissenschaftliche Erklärung gesucht, und damit das Problem des Kapitalzinses in seinem vollen äußeren Umfange gestellt hat. Die Zeit vor Türgot war einer wissenschaftlichen Untersuchung des ursprünglichen Kapitalzinses vollkommen ungünstig gewesen. Einerseits war man erst kürzlich zu klarem Bewußtsein darüber gekommen, daß man es hier mit einem selbständigen eigenartigen Einkommenszweig zu tun habe. Sodann aber — und das fiel noch mehr ins Gewicht — fehlte es an einem äußeren Anlaß, seine Natur in Diskussion zu ziehen. Das Problem des Leihzinses war so frühzeitig bearbeitet worden, weil der Leihzins aus dem Leben heraus angegriffen worden war; und er wurde so frühzeitig angegriffen, weil zwischen den am Leihzins Verhältnisse beteiligten Parteien, Gläubiger und Schuldner, eine feindliche Spannung der Interessen von jeher bestanden hatte. AU das stand anders bei dem ursprünglichen Kapitalzins. Man hatte ihn kaum vom persönlichen Arbeitsverdienst des Unternehmers sicher scheiden gelernt, und sah ihn jedenfalls noch indifferent an. Die Kapitalmacht war noch gering; zwischen ihr und der Arbeit, den beiden am ursprünglichen Kapit^ins beteiligten Parteien, war ein Gegensatz kaum entwickelt, jedenfalls zu keinem Klassen- gegensatz zugeschärft. Es feindete daher einstweilen niemand diese Form des Kapitalgewinnes an, und es hatte in weiterer Folge auch niemand äußeren Anlaß, ihn zu verteidigen, oder überhaupt seine Natur eingehender zu erforschen. Wenn unter solchen Verhältnissen überhaupt jemand auf den Gedanken kommen sollte, dies zu tun, so mußte es ein Systematiker sein, dem das theoretische Bedürfnis den äußeren Anlaß ersetzte: echte Systematiker der National-Ökonomie gab es aber bis dahin noch nicht. Erst diö Physiokraten brachten ein wahres System. Aber auch sie gingen eine Zeit lang noch achtlos an unserm Problem vorüber. Qüesnay, der Stifter der Schule, hat das Wesen des ursprünglichen Kapitalzinses noch so wenig erfaßt, daß er in ihm mehr einen Kostenersatz, eine Art Verlustreserve, aus der die Abgänge am abgenützten Kapital und die 54 IV. TuTgots Fruktilikationstheorie. unvorhergesehenen Schäden zu bestreiten sind, als ein reines Einkommen des Kapitalisten erblickt^). Richtiger erkannte Mercier de la RivjiRE*), daß das Kapital einen reinen Gewinn bringt; aber er beweist nur, daß ein solcher dem im Landbau verwendeten Kapitale nicht fehlen dürfe, damit der Landbau nicht zugunsten anderer Gewerbe verlassen werde; auf eine Untersuchung, warum das Kapital überhaupt Zins einbringt, geht er nicht ein. Ebensowenig tut dies Mirabeau, der über das Thema des Kapitalzinses zwar sehr viel, aber, wie wir wissen, auch sehr schlecht geschrieben hat*). So ist denn Turgot, der größte der Physiokraten, auch der erste unter ihnen gewesen, der für die Tatsache des ursprünglichen Kapital- zinses eine weitere Erklärung suchte. Auch seine Art, das Problem zu behandeln, ist noch bescheiden und naiv genug: man sieht deutlich, daß ihm nicht der Feuereifer für ein großes soziales Problem, sondern nur das Bedürfnis eines reinlichen Zusammenschlusses der Ideen die Feder in die Hand gedrückt hatte — ein Bedürfnis, das sich nötigenfalls, wenn nur eine plausible Form gefunden wurde, schon durch eine Erklärung von mäßiger Tiefe zufriedenstellen ließ. Während Turgot in dem uns schon bekannten Memoire sur les prets d'argent lediglich die Frage des Darlehenszinses behandelt, ist seine um- fassendere Zinstheorie in seinem Hauptwerk R^flexions sur la formation et la distribution des richesses*) entwickelt, oder, richtiger gesagt, nicht so sehr entwickelt, als nur enthalten. Denn Turgot wirft die Frage nach dem Ursprung des Kapitalzinses formell gar nicht auf; ebensowenig widmet er ihr sonst eine zusammenhängende Betrachtung, sondern er streut nur in einer Anzahl getrennter Paragraphen (§§ 57, 58, 59, 61, 63, 68 und 71) eine Reihe von Bemerkungen ein, aus denen wir uns seine Theorie über den Ursprung des Kapitalzinses erst zusammensetzen müssen ß). Ich ^) ,,Les int6rgts des avances de rötablissement des cultivateurs doivent donc etre compris dans leurs reprises annuelles. Ils servent ä faire face ä ces grands accidents et k l'entretien journalier des richesses d'exploitation, qui demandent ä etre r6par6es sans cesse." (Analyse du Tableau ficonomique. Ed. Daire S. 62.) Vgl. auch die ausführlichere, dem Zitat unmittelbar vorhergehende Darlegung. *) L'Ordre Naturel. Ed. Daire S. 459. *) Über seine Stellung zum Leihzins siehe oben S. 46f. Was den ursprünglichen Kapitalzins angeht, so billigt er den Zinsenbezug von den im Landbau investierten Kapitalien (Philosophie rurale S. 83f., dann 295), ohne ihn tiefer zu erklären; den im Handel und Gewerbe errungenen sieht er aber in schwankenden Ausdrücken mehr wie eine Frucht der Tätigkeit, ,,de la profession", als des Kapitals an (S. 278). *) 1766 verfaßt, 1769 (in den „Ephömörides du Citoyen") veröffentlicht. Ich zitiere nach der Daireschen Gesamtausgabe von Turgots Werken, Paris 1844 I. Bd. •) Die äußere Formlosigkeit der TuRGOTSchen Zinserklärung hat einen sonst genauen Erforscher seiner Werke zu der Behauptung verleitet, daß Turgot den Zins überhaupt nicht erkläre (Sivers, Turgots Stellung usw., Hildebrands Jahrbücher Turgots Ideengang. 55 schlage für diese Theorie als kurze Bezeichnung den Namen Frukti- fikationstheorie vor, weil sie den gesamten Kapitalzins auf die dem Eigentümer offenstehende Möglichkeit gründet, für sein Kapital eine ander- weitige Fruktifikation durch Ankauf rentetragenden Grundes und Bodens zu finden. Der Gedankengang ist der folgende: Der Besitz von Grundstücken gewährt in der Grundrente ein dauern- des, ohne eigene Arbeit zu gewinnendes Einkommen. Da die beweglichen Güter auch unabhängig von den Grundstücken eine Benützung zulassen und ihnen daher ein selbständiger Wert zukommt, so kann man den Wert beider Gütergattungen vergleichen, Grundstücke in beweglichen Gütern schätzen und gegen sie vertauschen. Der Tauschpreis hängt dabei, wie der aller Güter, vom Verhältnis von Angebot und Nachfrage ab (§ 57), Derselbe bildet jederzeit ein Multiplum der aus dem Grundstück zu ziehenden Jahreseinkünfte, und pflegt auch häufig durch diese Beziehung bezeichnet zu werden. Ein Grundstück, sagt man, verkauft sich um den denier vingt, denier trente, denier quarante, wenn der Kaufpreis das zwanzigfache, dreißigfache oder das vierzigfache der jährlichen Guts- rente beträgt. Die Höhe des Multiplums hängt wieder vom Verhältnis des Angebotes und der Nachfrage, d. i. davon ab, ob mehr oder weniger Leute Landgüter kaufen und verkaufen wollen (§ 58). Vermöge dieser Verhältnisse ist jede Geldsumme und überhaupt jedes Kapital als Äquivalent eines Grundstücks, welches ein einem gewissen Prozentsatz des Kapitals gleichkommendes Einkommen einbringt (§ 59). Da auf diese Weise der Eigentümer eines Kapitales in der Lage ist, sich aus demselben durch den Ankauf von Grundstücken eine fortlaufende jährliche Einnahme zu verschaffen, so wird er nicht geneigt sein, sein Kapital in einer gewerblichen (§ 61), landwirtschaftlichen (§ 63) oder kommerziellen Unternehmung (§68) anzulegen, falls er nicht auch hier, abgesehen von der Erstattung aller sonstigen Kosten und Mühen, noch ebenso großen Kapitalgewinn erwarten kann, als er sich durch den Ankauf von Grundstücken verschaffen könnte. Es muß darum das Kapital n allen den genannten Unternehmungszweigen einen Gewinn abwerfen. Auf diese Weise erklärt sich zunächst die wirtschaftliche Notwendig- keit des ursprünglichen Kapitalzinses. Der Leihzins leitet sich dann von letzterem einfach in der Weise ab, daß der kapitallose Unternehmer sich gerne bereit findet, und wirtschaftlicherweise auch bereit finden kann, demjenigen, der ihm ein Kapital anvertraut, einen Teil des Gewinnes ab- zutreten, den das dargeliehene Kapital bringt (§ 71). — So werden schließ- ich alle Formen des Kapitalzinses als notwendige Folgen des Umstandes Bd. 22, S. 175, 183{.). Das ist ein Irrtum. Nur ist freilich, wie sich zeigen wird, seine Erklärung keine besonders tief gehende. 56 IV. Turgots Fruktifikationstheorie. erklärt, daß man mit Kapital ein rentetragendes Grundstück eintauschen kann. Wie man sieht, stützt sich Turgot in diesem Gedankengang auf einen Umstand, auf den sich die Verteidiger des Leihzinses schon seit einigen Jahrhunderten, von Calvin angefangen, gern berufen hatten. Aber Turgot macht von diesem Umstand einen wesentlich anderen, viel weitergehenden Gebrauch. Die Früheren bedienten sich seiner gelegentlich und beispiels- weise; Turgot macht ihn zum systematischen Angelpunkt. Jene erblickten darin nicht den einzigen Grund des Tieihzinses, sondern koordinierten ihm die Möglichkeit, im Handel, in den Gewerben usw. aus dem Kapitale Gewinn zu ziehen: Turgot setzt ihn allein an die Spitze. Jene hatten sich endlich nur zur Erklärung des Leihzinses seiner bedient: Turgot erklärt aus ihm die gesamte Kapitalzinserscheinung. So formte Turgot, wenngleich aus altem Stoff, eine neue Lehre, die erste allgemeine Theorie des Kapitalzinses ^). Für den wissenschaftlichen Wert dieser Theorie ist das Schicksal sehr bezeichnend, das sie gefunden hat: ich kann mich nicht erinnern, jemals eine förmliche Widerlegung gegen sie gelesen zu haben, aber man hat sie stillschweigend für ungenügend erklärt, indem man fortfuhr, nach anderen Erklärungen zu suchen. Zur Widerlegung schien sie zu plausibel, zur Beruhigung zu seicht; sie ließ die Empfindung übrig, daß durch sie noch nicht die letzte Wurzel des Kapitalzinses bloßgelegt sein könne, auch wenn man sich nicht genau Rechenschaft zu geben wußte, an welchem Punkt der Mangel gelegen war. ') Cassel, Nature and necessity of Interest, S. 24, glaubt Turgot in ungewöhnlich lebhaften Ausdrücken dagegen in Schutz nehmen zu sollen, daß er mit dem im Texte vorgeführten Gedankengang eine Erklärung des Kapitalzinses zu geben beabsichtigt hätte. Ich glaube, völlig mit Unrecht. Die Turgot zugeschriebene „Fruktifikations- theorie" ist nicht nur vollkommen deutlich bei ihm ausgeprägt, wie die oben zusammen- gestellten Textstellen mit ihrem unverkennbaren inneren Zusammenhange wohl schon für sich allein ausreichend erkennen lassen, sondern sie ist auch ganz im Geiste der physiokratischen Lehre gelegen. Die Bodenrente, das als „pur don" der Natur erklärte „arbeitslose Einkommen" — von Turgot in seinem § 14 selbst so charakterisiert — ist gewissermaßen ein feststehender archimedischer Punkt der physiokratischen Ver- teilungslehre. An diesen archimedischen Punkt sucht und findet nun Turgot den Anschluß über die §§31 und 69 hinüber, in deren ersterem er vom Kapitalzinse als von einer zweiten Sorte von arbeitslosem Einkommen spricht, dessen Ursprung zu erforschen und mit dem bisher skizzierten Verteilungssystem in Beziehung zu bringen sei, worauf dann § 59 den Ankauf rentetragender Grundstücke als „erste" Anwendung der Kapitalien (premier emploi des capitaux) voranstellt: alle einzelnen Arten, Kapital- zins zu erlangen, werden dann, wie ich schon im Texte schilderte, in vollkommen par- alleler und symmetrischer Weise durch dieses Zwischenglied hindurch mit der MögUch- keit, das primäre arbeitslose Einkommen der Bodenrente sich zu verschaffen, in logische Verbindung gebracht. Für diese Zusammenhänge scheint indes Cassel, dessen dogmen- geschiclttliche Urteile mir auch sonst durch starken Subjektivismus getrübt zu sein scheinen, kein Auge gehabt zu haben. Kritik. 57 Auf solche genaue Rechenschaft nachträglich einzugehen, scheint mir auch heute noch keineswegs überflüssig. Ich werde damit nicht bloß eine Fonnalität erfüllen, die das Versprechen, eine kritische Dogmengeschichte zu schreiben, mir abnötigt, sondern indem ich zeige, wo und wie Türgot fehlte, hoffe ich zugleich den Kern des Problems, in den jeder ernste Lösungsversuch eindringen muß, deutlicher herauszuheben und damit unserer ferneren Aufgabe fruchtbar vorzuarbeiten. Auch zeigt das Beispiel eines sehr geistvollen Schriftstellers unserer Tage, daß uns Turggts Gedankengang auch heute noch gar nicht so ferne steht, als man vielleicht meinen möchte^). TüRGOTs Erklärung des Kapitalzinses ist ungenügend, weil sie im Zirkel erklärt. Der Zirkel wird nur dadurch verhüllt, daß Turgot seine Erklärung an demjenigen Punkte abbricht, dessen — unerläßliche — weitere Erklärung wieder zum Ausgangspunkte zurückkehren würde. Die Sache steht so. Turgot sagt: Ein bestinmites Kapital muß einen bestimmten Zins tragen, weil man damit auch ein Grundstück von be- stimmter Rente erkaufen könnte. Um uns eines konkreten Beispieles zu bedienen: ein Kapital von 100000 Fr. muß 5000 Fr. Zins tragen, weil man dafür ein Grundstück mit 5000 Fr. 2) Rente kaufen könnte. Diese Kauf möglichkeit ist indes selbst noch keine letzte, unmittelbar einleuchtende Tatsache; deshalb müssen wir weiter fragen: warum kann man mit einem Kapital von 100000 Fr. ein rententragendes Grundstück überhaupt, und ein Grundstück mit 5000 Fr. Rente insbesondere kaufen? — Auch Turgot fühlt, daß diese Frage gestellt werden kann und muß, denn er versucht eine Antwort darauf zu geben. Er beruft sich auf das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, das jedesmal ein bestimmtes Preisverhältnis zwischen Kapital und Boden begründe'). Ist damit aber unsere Fragelust und Fragepflicht erschöpft? Gewiß nicht. Denn wßr auf die Frage nach der Ursache einer Preiisgestaltung ') Siehe unten (Abschnitt XIV) die „jüngere Fruktifikationstheorie" Henry Georges. •) Gewöhnlich ist die Rente des Grundstückes etwas niedriger als der Zins des Kaufpreises. Dieser auch von Tubgot Reflex. § 84ff. ausführlich erklärte Umstand hat aber auf das Prinzip gar keinen Einfluß und kann hier einfach vernachlässigt werden. *) „Si quatre boisseaux de blö, produit net d'un arpent de terre, valaient six moutons, l'arpent lui-meme qui les produisait aurait pu etre donn6 pour une certaiae valeur, plus grande k la v6rit4, mais toujours facile k däterminer de la mSme maniöre que le prix de toutes les autres marchandises, c'est-&-dire, d'abord par le dSbat entre les deux contractants, et ensuite d'aprds le prix courant itabli par le concours de ceux qui veulent dchanger des terres contre des bestiaux, et de ceux qui veulent donner des bestiaux pour avoir des terres" (§ 57). „II est encore övident que ce prix ou ce denier doit varier suivant qu'il y a plus ou moins de gens qui veulent vendre ou acheter des terres, ainsi que le prix de toutes les autres marchandises varie k raison de la diffövente proportion entre Toffre et la demande" (§ 58). 58 IV. Turgots Fniktifikationslehre. „Angebot und Nachfrage" nennt, bietet Schalen statt eines Kernes. Das mag in hundert Fällen statthaft sein, in denen man voraussetzen kann, daß der Fragende den Kern sattsam kennt und aus Eigenem ergänzen kann. Das genügt aber nicht, wenn es sich um die noch nicht gelungene Erklärung einer problematischen Erscheinung handelt. Sonst könnte man sich ja schließlich mit dem ganzen Zinsproblem, das sich durchwegs auf Preiserscheinungen bezieht — z. B. auf die Tatsache, daß der Borger einen Preis für die „Kapitalnutzung" zahlt, oder auf die Tatsache, daß der Preis des fertigen Produktes höher ist als der Preis der Kostengüter, wo- durch eben dem Unternehmer ein Kapitalgewinn erübrigt — einfach durch die Formel abfinden, Angebot und Nachfrage reguliere eben die Preise aller Güter so, daß für den Kapitalisten immer ein Gewinn übrig bleibt. Hierin würde aber gewiß niemand eine genügende Erklärung erblicken. Wir müssen daher weiter fragen: Welche tieferen Ursachen stehen hinter „Angebot und Nachfrage" und lenken deren Bewegungen so, daß man regelmäßig für ein Kapital von 100000 Fr. ein rentetragendes Grund- stück überhaupt, und ein Grundstück mit 5000 Fr. Rente insbesondere eintauschen kann? — Auf diese Frage gibt Turgot keine Antwort mehr, wenn man nicht etwa die vagen Eingangsworte des § 57 als solche ansehen will, die dann aber auch keinesfalls befriedigen könnte: „Jene, die viele bewegliche Güter hatten, konnten sie nicht allein im Anbau von Grund- stücken, sondern auch in den verschiedenen Tätigkeiten der Industrie verwenden. Die Leichtigkeit, solche Gütermassen anzuhäufen und aus ihnen auch unabhängig vom Grund und Boden einen Gebrauch zu ziehen, bewirkte, daß man die Grundstücke selbst abschätzen und ihren Wert mit jenem des beweglichen Vermögens vergleichen konnte." Setzen wir aber an Turgots Stelle die vorzeitig abgebrochene Er- klärung nur ein kleines Stück weiter fort, so werden wir die Entdeckung machen, daß derselbe Kapitalzins, der als Wirkung des Austauschverhält- nisses zwischen Boden und Kapital erklärt werden sollte, in Wahrheit die Ursache dieses Austauschverhältnisses ist. Ob man nämlich für ein Grundstück das zwanzig-, dreißig- oder vierzigfache seiner Jahresrente begehrt oder anbietet, hängt vornehmlich davon ab, wieviel Prozente das Kaufkapital sonst eintragen würde. Dasselbe Grundstück, das 5000 Fr. Rente trägt, wird 100000 Fr. wert sein, wenn und weil der Kapitalzins 5% beträgt, 50000, wenn und weil er 10% beträgt, und 200000 Fr., wenn und weil das Kapital nur 2^% Zinsen trägt. Statt daß daher die Existenz und Höhe des Kapitalzinses durch das Tauschverhältnis zwischen Boden und Kapital erklärt werden könnte, muß umgekehrt dieses Tauschverhältnis selbst durch die Existenz und Höhe des Kapital- zinses erklärt werden. Für die Erklärung des letzteren ist also, da der ganze Beweisgang sich im Zirkel herumdreht, nichts geleistet. Ich würde meine kritischen Bemerkungen über Turgots Lehre getrost Kritik. 59 an dieser Stelle schließen, wenn ich mich nicht überall dort, wo es sich um den Charakter kausaler Wechselbeziehungen zwischen volkswirtschaft- lichen Erscheinungen handelt, zu einer ganz besonderen Sorgfalt ver- pflichtet hielte. Denn ich weiß, daß es bei der Verschlungenheit der wirt- schaftlichen Erscheinungen überaus schwierig ist, den Anfangspunkt einer kausalen Kette von Wirkungen und Gegenwirkungen mit Sicherheit zu bestimmen, und daß solche Entscheidungen der Fährlichkeit dialek- tischer Täuschungen in besonders hohem Grade ausgesetzt sind. Ich möchte daher das Urteil, daß Turgot in diesem Stücke geirrt, dem Leser nicht aufnötigen, ohne durch eine nochmalige Probe jeden Skrupel be- seitigt zu haben, zumal da diese Probe eine erwünschte Gelegenheit bieten wird, den Charakter unseres Problemes in helleres Licht zu setzen. Die Grundstücke bringen, von Zufälligkeiten abgesehen, ihre Rente immerfort, durch eine praktisch unendliche Reihe von Jahren. Ihr Besitz sichert dem Eigentümer und seinen Erben den Betrag der Jahresnutzung nicht bloß zwanzig oder vierzig, sondern viele hundert, ja fast unendlich viele Male. Wenn wir nun sehen, daß diese unendliche Nutzungsreihe, die addiert eine kolossale Einnahmssumme repräsentiert, regelmäßig um einen kleinen Bruchteil der letzteren, um das zwanzig- bis vierzigfache der Jahresnutzung veräußert wird, so ist das eine Tatsache, die erklärt werden will. Dazu kann es nicht genügen, schlankweg auf den Stand von Angebot und Nachfrage hinzuweisen. Denn wenn Angebot und Nachfrage allezeit so stehen, daß jenes auffällige Resultat zutage tritt, so muß diese regel- mäßige Wiederkehr auf tieferen Gründen ruhen, die zu erforschen sind. — Nur ganz im Vorbeigehen will ich der Hypothese begegnen, die jemandem beifallen könnte, als ob der niedrige Kaufpreis darin seinen Grund haben könnte, daß der Eigentümer nur jene Nutzungen in Anschlag bringt, die er selbst zu ziehen hoffen kann, und was darüber hinausliegt, vernach- lässigt. Wäre diese Hypothese richtig, so müßte, da das durchschnittliche Lebensalter der Menschen und also auch der Grundbesitzer in historischer Zeit sich nicht sehr geändert hat, auch die Proportion des Grundwertes zur Grundrente ziemlich gleich geblieben sein. Das ist aber keineswegs der Fall: vielmehr sehen wir jene Proportion — in bekanntem Zusammen- hange mit dem jeweiligen Kapitalzinsfuße — zwischen dem Zehn- und Fünfzigfachen variieren. Jene auffällige Erscheinung muß daher einen anderen Grund haben. Ich glaube allgemeiner Zustimmung zu begegnen, wenn ich als wahren Grund den Umstand bezeichne, daß wir bei der Schätzung eines Grund- stückes eine eskomptierende Tätigkeit vornehmen. Wir schätzen die vielhundertjährigen Nutzungen eines Grundstückes deshalb bei einem 5% Zinsfuß nur gleich dem Zwanzigfachen, und bei einem 4% Zinsfuß nur gleich dem Fünfundzwanzigfachen der Jahresnutzung, weil wir den 60 IV. Turgots Fruktifikationstheorie. Wert der künftigen Nutzungen nur eskomptierend, das ist mit einem pro rata temporis et usurarum geringeren Betrag in die heutige Wert- schätzung einstellen; genau nach demselben Prinzip, nach welchem wir den heutigen Kapitalswert einer Rentenforderung von bestimmter oder ewiger Dauer anschlagen. Ist das aber so — und ich glaube nicht, daß irgend jemand es be- zweifeln wird — so ist die von Türgot zur Erklärung des Zinsphänomens berufene Kapitalschätzung der Grundstücke selbst nichts anderes als eine der vielen Formen, in denen jenes Phänomen uns im Wirtschaftsleben begegnet. Dasselbe ist eben vielgestaltig. Es begegnet uns bald als aus- drückliche Zahlung eines Darlehenszinses, bald als Zahlung eines Miet- zinses, der nach Abzug der Abnützungsquote dem Eigentümer noch eine „reine Nutzung" übrig läßt; bald als Preisdifferenz zwischen Produkt und Kosten, die dem Unternehmer als Kapitalgewinn zufällt; bald als Vorausabzug des Gläubigers an der dem Schuldner bewilligten Darlehens- summe; bald als Erhöhung des Kaufpreises bei hinausgeschobener Zahlung; bald als Restringierung des Kaufpreises für noch nicht fällige Forderungen, Gerechtsame, Vorteile, bald endlich — dem nahe verwandt, ja im Wesen mit ihm zusammenfallend — als Erniedrigung des Kaufpreises für die im Grundstück verkörperten Nutzungen einer späteren Zeit. Den Kapitalgewinn in Handel und Gewerben auf die Möglichkeit zurückzuführen, für begrenzte Kapitalsummen Boden zu erwerben, heißt also nichts, als von einer Erscheinungsform des Kapitalzinses auf eine andere verweisen, welche nicht minder erklärungsbedürftig ist als die erste. Warum erhalten wir Kapitalzins? und warum eskomptieren wir den Wert künftiger Zahlungs- und Nutzungsraten? — das sind offenbar nur zwei verschiedene Fragformen, die auf dasselbe Rätsel zielen. Und für seine Lösung kann durch einen Erklärungsgang nichts gewonnen sein, der bei der ersten Frage anhebt, um vor der zweiten stehen zu bleiben. Das Zinsproblem bei Adam Smith. Überblick über die fernere Entwicklung. Es ist wohl keinem Gründer eines wissenschaftlichen Systems gegönnt gewesen, auch nur alle wichtigeren Gedanken, die jenes zusammensetzen, bis zu Ende zu denken. Dazu reicht keines einzelnen Menschen Kraft und Leben. Genug, wenn einige wenige Ideen, die als Hauptpfeiler den Gedankenbau zu stützen berufen sind, bis zum sicheren Grunde verfolgt und in ihren mannigfachen Verzweigungen und Verschlingungen bloß- gelegt werden; viel, wenn darüber hinaus noch einigen anderen bevorzugten Gliedern des Systems gleiche Sorgfalt zuteil wird: immer aber wird auch der ausgedehnteste Geist sich bescheiden müssen, gar viel ins Unsichere zu bauen und Gedanken nach flüchtiger Probe in sein System einzufügen, die zu erschöpfen ihm nicht vergönnt war. Dies muß man sich gegenwärtig halten, wenn man die Haltung richtig würdigen will, die Adam Smith unserem Problem gegenüber eingenom- men hat. Smith hat das Problem des Kapitalzinses nicht übersehen, aber er hat es auch nicht bearbeitet. Er behandelt es, wie überhaupt ein großer Denker einen wichtigen Stoff behandeln mag, dem er öfters begegnet, den er aber tiefer zu erforschen nicht Zeit oder Anlaß hat. Er hat sich eine gewisse naheliegende, aber auch vage Erklärung zurecht gelegt. Je un- bestimmter diese ist, desto weniger bindet sie ihn an strenge Konsequenz und da er als vielseitiger Geist sich in zerstreuten Gelegenheiten keine der verschiedenen Anschauungsweisen entgehen läßt, deren das Problem überhaupt fähig ist, zugleich aber die Selbstkontrolle einer ausgeprägten Theorie entbehrt, so entschlüpfen ihm mancherlei schwankende und wider- sprechende Äußerungen. So tritt die eigentümliche Erscheinung ein, daß Smith eine bestimmte Theorie des Kapitalzinses gar nicht aufgestellt hat, daß man aber in seinen zerstreuten Bemerkungen mehr oder minder deutlich die Keime fast aller späteren sich widersprechenden Kapitalzins- theorien auffinden kann — eine Erscheinung, die sich bei Smith auch in manchen anderen Fragen analog wiederholt. Derjenige Gedankengang, den Smith hauptsächlich als Erklärung 62 V. Das Zinsproblem bei Adam Smith. Überblick usw. des ursprünglichen Kapitalzinses angesehen zu haben scheint, wiederholt sich in sehr ähnlicher Redewendung zweimal, im VI. und im VIII. Kapitel des I. Buches der „Untersuchungen". Er läuft darauf hinaus, daß ein Kapitalgewinn existieren muß, weil sonst der Kapitalist kein Interesse daran hätte, sein Kapital in der produktiven Beschäftigung von Arbeitern zu verwenden^). In solcher Allgemeinheit hingestellt, ohne jede tiefere Begründung, wie man sich die wirksamen Mittelglieder zwischen dem psychologischen Interessenmotiv des Kapitalisten und der schließlichen Feststellung der Marktpreise vorzustellen habe, die eine Differenz zwischen Kosten und Erlös und damit den Kapitalgewinn offen lassen, können diese Äußerungen wohl keinen Anspruch erheben, als fertige Theorie zu gelten 2), Wohl aber kann man in ihnen im Vereine mit einer späteren Stelle 3), in der Smith den „künftigen Gewinn", der den Entschluß der Kapitalisierung lohnt, dem „gegenwärtigen Genuß" der unmittelbaren Güterverzehrung scharf gegenüberstellt, die ersten Keime jener Theorie erblicken, die später Senior unter dem Namen der Abstinenztheorie ausgebildet hat. Gleichwie Smith die behauptete Notwendigkeit des Kapitalzinses ohne tiefere Begründung läßt, so geht er auch gegenüber der wichtigen Frage, aus welcher Quelle der Kapitalgewinn des Unternehmers stammt, in keine systematische Untersuchung ein, sondern begnügt sich dieselbe in gelegentlichen, nicht weiter begründeten Bemerkungen zu streifen. Und zwar gibt er hiervon an verschiedenen Stellen zwei einander wider- sprechende Versionen. Nach einer Version fließt der Kapitalgewinn daraus, daß um der Gewinnansprüche des Kapitalisten willen die Käufer sich dazu verstehen müssen, die Ware über demjenigen Wert zu bezahlen, der ihr mit Rücksicht auf die hineinverwendete Arbeit zukäme. Hiernach wäre die Quelle des Kapitalzinses ein — nicht weiter erklärter — Wert- zuwachs des Produktes über den durch Arbeit geschaffenen Wert. Nach ') „In exchanging the complete manufacture either for money, for labour, or for other goods.over and above what may be sufficient to pay the price og the matcrials and the wages of the workmen, something must be given for the profits of the undertaker of the work, who hazards his stock in this adventure. . . . He could have nointerestto employ them, unless he expected from the sale of their work something more than what was sufficient to replace his stock to him; and he could have no interest to employ a great stock rather than a small one, unless his profits were to bear some proportion to the extent of his stock" (Mc Cullochs Ausgabe von 1863 S. 22). Die zweite Stelle (S. 30) lautet: „. . . and who would have no interest to employhim, unless he was to share in the produce of his labour, or unless his stock was to be replaced to him with a profit." ») Vgl. auch PiERSTORFF, Lehre vom Unternehmergewinn, Berlin 1875 S. 6, und Platter, Der Kapitalgewinn bei Adam Smith (HiLDESRANDSche Jahrbücher Bd. 25 S. 317f ). *) Buch II Kap. 1 (S. 123 in McCullochs Ausgabe). Mangel einer eigenen Theorie. 63 der zweiten Version fließt der Zins dagegen aus einem Abzug, den der Kapitalist zu seinen Gunsten am Ertrage der Arbeit macht, so daß die Arbeiter nicht den voUen durch sie geschaffenen Wert erhalten, sondern diesen mit dem Kapitalisten teilen müssen. Nach dieser Version wäre die Quelle des Kapitalgewinnes ein rückbehaltener Teü des durch die Arbeit geschaffenen Wertes. Beide Versionen finden sich in einer großen Anzahl von Stellen, die seltsamerweise bisweilen ganz knapp aneinander stehen. So namentlich im VI. Kapitel des I. Buches. Smith hat hier zuerst von einem — freilich mythischen — Zeitalter gesprochen, in dem der Boden noch nicht appropriiert, und eine Kapital- bildung noch nicht eingetreten gewesen sei, und dazu bemerkt, daß damals die zur Erzeugung der Güter erforderte Arbeitsmenge der einzige Bestimmungsgrund ihres Preises gewesen sei. Hierauf fährt er fort: „So- bald sich nun in den Händen einzelner ein gewisses Kapital angesammelt hat, werden einige derselben es natürlich gebrauchen, um betriebsame Leute zur Arbeit anzustellen, die sie mit dem nötigen versehen, um aus dem Verkauf ihrer Erzeugnisse oder des erhöhten Wertes, den ihre Arbeit dem Stoffe gibt, einen Gewinn zu erzielen. Beim Austausch der fertigen Ware, sei es gegen Geld, gegen Arbeit oder gegen andere Waren, muß über dasjenige hinaus, was zur Bezahlung des Preises der Rohstoffe und des Arbeitslohnes erfordert wird, noch etwas gegeben werden, um dem Unternehmer einen Gewinn für das in das Unter- nehmen gesteckte Kapital zu gewähren." Dieser Satz drückt, zumal zusammengehalten mit der gegensätzlichen Bemerkung des vorigen Absatzes, daß im Urzustand Arbeit der einzige Bestimmungsgrund des Preises gewesen, deutlich die Meinung aus, daß der Zinsanspruch des Kapitalisten eine Steigerung des Preises der Pro- dukte bewirkt, und aus ihr befriedigt wird. Aber Smith fährt in unmittel- barem Anschlüsse fort: „In solchem Falle löst sich demnach der Wert, welchen der Arbeiter dem Stoffe hinzufügt, in zwei Teile auf, deren einer seinen Lohn, der andere den Gewinn des Arbeitgebers auf die von ihm vorgeschossenen Stoffe und Löhne büdet." Hier wird wieder der Preis des Produktes als ausschließlich durch die aufgewendete Arbeits- menge bestimmt angesehen, und der Zinsanspruch mit seiner Befriedigung auf eine Quote des von den Werkleuten erarbeiteten Ertrages gewiesen. Noch greller kehrt derselbe Gegensatz eine Seite später wieder. „Unter solchen Verhältnissen", sagt hier Smith, „gehört nicht immer der ganze Ejrtrag der Arbeit dem Arbeiter, sondern er muß ihn gewöhnlich mit dem Eigentümer des Kapitals, der ihm Arbeit gibt, teilen." — Eine deutliche Paraphrase der zweiten Version; aber unmittelbar daran schließen sich die folgenden Worte: „Ebensowenig ist die zur Erwerbung oder Erzeugung einer Ware 64 ^* ^&s Zinsproblem bei Adam Smith. Überblick usw. aufgewendete Arbeitsmenge das einzige Element zur Bestimmung der Menge, wogegen man kaufen oder eintauschen kann: vielmehr muß offenbar noch etwas mehr gegeben werden, zur Gewährung des Gewinnes für das Kapital, welches den Arbeitslohn vorschoß und den Rohstoff lieferte." Deutlicher hätte Smith eine preissteigernde Wirkung des Zinsanspruches, die eine Verkürzung des Arbeitslohnes über- flüssig macht, nicht zum Ausdruck bringen können! Später heißt es abwechselnd: „Da es in einem zivilisierten Lande nur wenige Waren gibt, deren Tauschwört nur aus Arbeit entsteht, indem Bodenrente und Kapitalgewinn bei den meisten in großem Maße mitwirken, so reicht auch der jährliche Ertrag der Arbeit immer hin" usw.^). (Erste Version.) „Einem solchen Gewinnabzuge unterliegt der Ertrag fast einer jeden anderen Arbeit. In fast allen Handwerken und Fabrikunternehmungen bedürfen die meisten Arbeiter eines Brotherrn, der ihnen die Materialien zu ihrer Arbeit gibt und ihnen bis zu deren Vollendung Lohn und Unter- halt vorschießt. Er nimmt einen Teil des Ertrages ihrer Arbeit oder des Wertes, welchen diese zu den von ihm gelieferten Materialien hinzutat, und in diesem Anteil liegt sein Gewinn" 2). (Zweite Version.) „Hohe oder niedrige Löhne und Gewinne sind die Ursachen hoher oder niedriger Preise; hohe oder niedrige Rente ist deren Wirkung" 3). (Erste Version.) Solche Widersprüche eines so ausgezeichneten Denkers lassen wohl nur die einzige Deutung zu, daß Smith das Zinsproblem überhaupt nicht tiefer durchdacht hatte, es eben deshalb, wie man ja in unvollkommen beherrschten Gebieten zu tun pflegt, mit der Wahl des Ausdruckes wenig genau nahm, und sich unbefangen den wechselnden Eindrücken hingab, die die Sache ihm machen konnte und mußte. Smith selbst hat also keine ausgebildete Theorie vom Kapitalzinse *). Allein seine hingeworfenen Bemerkungen sollten sämtlich auf einen frucht- baren Boden fallen. Gleichwie seine flüchtige Bemerkung über die Not- wendigkeit des Zinses zur späteren Abstinenztheorie ausgebildet wurde, so wurden auch beide Versionen, die er über die Quelle des Kapitalzinses 1) I. Buch VI. Kap. gegen Ende. ') I. Buch VIII. Kap. ») I. Blich XI. Kap. *) Wenn Platter in dem oben (S. 62 Anm. 2) erwähnten Aufsatze zu dem Resultate kommt, daß nach dem „streng SMiXHSchen System der Kapitalgewinn als ungerecht- fertigt erscheint", so war dasselbe nur dadurch zu erreichen, daß Platter bloß auf die eine Hälfte der SMiTHschen Äußerungen Gewicht legt, die andere aber, als mit seinen sonstigen Grundsätzen in Widerspruch stehend, außer Betracht ließ. Ähnlich wie Platter urteilt auch Cannan in seiner verdienstvollen ,,History of the theories of production and disti-ibution" (London 1894, S. 202), ohne mich von der Richtigkeit seiner subjektiven Auffassung überzeugen zu können. Smiths neutrale Stellung. Q5 gibt, von Nachfolgern aufgenommen, konsequent weitergebildet, und zu Grundlagen selbständiger Zinstheorien erhoben. An die Version, daß der Zins aus einem Wertzusatz gezahlt wird, den die Kapitalsverwendung hervorruft, knüpfen die späteren Produktivitätstheorien, an die Version, daß der Zins aus dem Arbeitsertrag gezahlt wird, die sozialistischen Theorien vom Kapitalzinse an. So können die wichtigsten der späteren Theorien ihren Stammbaum auf Adam Smith zurückführen. Die Stellung, welche Adam Smith gegenüber der Frage des Kapital- zinses eingenommen hatte,'läßt sich als die einer vollkommenen Neutralität bezeichnen. Er war neutral in seiner theoretischen Erklärung; denn er bringt die Keime der verschiedenen Theorien nebeneinander, ohne einer vor der anderen entschiedenen Vorzug zu geben. Und er war neutral in seiner praktischen Beurteilung; denn er beobachtet die gleiche Zurück- haltung, oder vielmehr das gleiche widerspruchsvolle Schwanken auch in Absicht auf Lob und Tadel des Kapitalzinses, indem er die Kapitalisten bald als Wohltäter des Menschengeschlechtes und als Stifter fortdauernden Segens preist^), bald wieder als eine Klasse hinstellt, die von Abzügen am Ertrag der Arbeit anderer lebt, und sie in deutliche Parallele mit Leuten stellt, „die zu ernten lieben, wo sie nie gesäet haben" 2). Zu Smiths Zeiten hatten die Verhältnisse der Theorie und des Lebens solche Neutralität noch gestattet. Seine Nachfolger konnten sie bald nicht mehr üben. Geänderte Umstände legten — gewiß nicht zum Nachteil der Wissenschaft — den Zwang auf, auch in der Zinsfrage offen Farbe zu bekennen. Schon die eigenen Bedürfnisse der Theorie konnten es sich an un- entschiedenen Auskünften nicht mehr genügen lassen. Smith hatte sein Leben verbraucht, um die Fundamente seines Systemes zu legen. Seine Nachfolger, die die Fundamente schon vorfanden, hatten Atem übrig, um auch bisher übergangene Fragen zu verfolgen. In diese Verfolgung das Zinsproblem einzubeziehen, war durch die Entwicklung, welche die verwandten Probleme der Grundrente und des Arbeitslohnes genommen hatten, ungemein nahegelegt: man hatte eine reichhaltige Theorie der Grundrente; man hatte eine kaum minder reichhaltige Theorie des Arbeits- lohnes: nichts war natürlicher, als daß die Systematiker endlich auch rücksichtlich des dritten großen Einkommenszweiges, des Einkammens aus Kapitalbesitz, ernsthaft nach dem Woher? und Warum? zu fragen begannen. ') Buch II Kap, III. *) Buch I Kap. VI S. 23. Der Satz wird zwar zunächst nur von den Grundeigen- tümern ausgesprochen, allein im ganzen Kapitel wird Kapitalzins und Grundrente gegenüber dem Arbeitslohn parallel behandelt. Böbm-Bawerk. Eapitalzins. <. Anfl. ^ 6Q V. Das Zinsproblem bei Adam Smith. Überblick usw. Diese Frage begann aber endlich auch das Leben zu stellen. Das Kapital war allmählich eine Macht geworden. Die Maschinen hatten ihren Einzug gehalten und ihre großen Siege erfochten; sie halfen überall den Betrieb ins Große dehnen und verliehen der Produktion immer mehr kapitalistischen Zuschnitt. Aber gerade die Einführung der Maschinen hatte auch einen Gegensatz bloßzulegen begonnen, der mit der Entwick- lung des Kapitals ins wirtschaftliche Leben eingedrungen war und täglich an Bedeutung wuchs: den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. In den Handwerken hatten Unternehmer und Lohnarbeiter, Meister und Geselle, nicht sowohl verschiedenen sozialen Klassen, als nur ver- schiedenen Generationen angehört. Was der eine war, konnte und sollte der andere werden. Mochten ihre Interessen auch temporär divergieren, so überwog im Ganzen doch das Gefühl, eines Standes zu sein. Anders jetzt im kapitalistischen Großbetrieb. Der Unternehmer, der das Kapital beisteuert, war selten oder nie Arbeiter gewesen, und der Arbeiter, der Arm und Hand beisteuert, wird selten oder nie Unternehmer werden. Sie wirken an einem Werke, wie Meister und Geselle, aber sie sind nicht bloß zweierlei Ranges, wie diese, sondern sie sind zweierlei Art. Sie gehören zwei verschiedenen Ständen an, deren Interessen sowenig ineinander fließen als ihre Personen. Das Beispiel der Maschinen hatte im Gegenteil gezeigt, wie grell die Interessen von Kapital und Arbeit kollidieren können: dieselben Maschinen, die den Unternehmer-Kapitalisten goldene Früchte getragen, hatten bei ihrer Einführung tausende von Arbeitern aus dem Brote getrieben. Aber auch nachdem solche erste Wehen überwunden, blieb des Gegensatzes genug. Kapitalist und Arbeiter teilen sich in das Erträgnis der Unternehmung: aber so, daß der Arbeiter gewöhnlich wenig, ja sehr wenig, der Unternehmer viel erhält. Das Mißbehagen über den kleinen Anteil wird nicht, wie einst beim Handwerksgehilfen, durch die Aussicht gemildert, dereinst selbst sich des Löwenanteils zu erfreuen, denn solche Aussicht hat der Arbeiter des Großbetriebes nicht; dagegen verschärft durch den Anblick, daß ihm für kargen Lohn die härtere Arbeit, dem Unternehmer für seinen reichen Anteil nur die leichtere Mühe, oft gar keine persönliche Bemühung zufällt. Kam zu allen diesen Kontrasten des Schicksals und der Interessen noch der Gedanke, daß im Grunde die Arbeiter die Produkte zur Entstehung gebracht hätten, aus denen der Unternehmer seinen Gewinn zieht — und diesen Gedanken hatte Smith in seinem rasch verbreiteten System an vielen Stellen ungemein nahe gelegt — so konnte es nicht ausbleiben, daß ein Anwalt des „vierten Standes" dieselbe Frage rücksichtlich des ursprünglichen Kapitalzinses zu stellen begann, die man viele hundert Jahre früher zu Gunsten der Schuldner über den Leihzins gestellt hatte: ist der Kapitalzins gerecht? Ist es gerecht, daß der Unternehmer- Kapitalist, auch wenn er keine Hand rührt, unter dem Titel Kapitalgewinn einen ansehnlichen Teil dessen Zunchmeüde Macht des Kapitale«. 07 erhält, was die Arbeiter durch ihre Bemühung hervorgebracht haben, oder sollte nicht vielmehr den letzteren das ganze Produkt zufallen? Diese Frage wurde seit der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert erst leise, dann immer lauter gestellt: und dem Umstände, daß sie gestellt wurde, hat die Theorie des Kapitalzinses eine ungemeine und nachhaltige Belebung zu verdanken. Das Zinsproblem, das immerhin schlummern mochte, solange es nur Theoretiker und nur zu theoretischen Zwecken interessiert hatte, war jetzt zum Range eines großen sozialen Problems emporgehoben, an dem die Wissenschaft weder vorübergehen konnte noch woUte. Und so spärlich und dürftig bis Adam Smith die Betrachtungen über die Natur des ursprünglichen Kapitalzinses gewesen waren, so zahl- reich und angelegentlich wurden sie nach ihm. Freilich auch nicht weniger zerfahren als zahlreich. Bis Adam Smith war die wissenschaftliche Meinung des Zeitalters durch eine einzige Theorie repräsentiert gewesen. Seit ihm fielen die Meinungen in eine Reihe wider- streitender Theorien auseinander, um mit seltener Beharrlichkeit wider- streitend zu bleiben bis auf den heutigen Tag. Sonst pflegen sich neue Theorien an die Stelle der alten zu setzen, die ihnen allmählich den Platz überlassen. In unserer Frage gelang es aber jeder neuen Theorie nur, sich neben die alten zu setzen, die ihren eigenen Platz mit Zähi^eit festzuhalten wußten. Unter solchen Umständen bietet die äußere Ent- wicklung seit Smith nicht so sehr das Bild einer reformatorischen Wand- lung, als einer schismatischen Häufung der Theorien. Unsere fernere Aufgabe ist uns durch die Natur der Sache klar vor- gezeichnet. Sie wird darin bestehen, daß wir die sämtlichen divergierenden Lehrmeinungen in ihrer Entstehung und Ausbildung bis auf die Gegen- wart verfolgen, und über Wert oder Unwert jeder einzelnen von ihnen uns ein kritisches Urteil zu bUden suchen. Da die Entwicklung der Theorie von hier an gleichzeitig in verschiedenen Geleisen erfolgt, so halte ich es für zweckmäßig, die bisher beobachtete chronologische Ordnung der Darstellung zu verlassen und den Stoff nach Theorien zu gruppieren. Zu diesem Ende will ich versuchen, zunächst einen ordnenden Über- blick über die ganze Literaturmasse, die uns beschäftigen wird, zu erlangen. Dies wird am raschesten gelingen, indem wir die charakteristische Kern- frage des Problems in den Mittelpunkt stellen. Wir werden alsbald sehen, wie sich an ihr die Theorie, gleichwie das Licht am Prisma, zu bunter Mannigfaltigkeit gebrochen hat. Gegenstand der Erklärung ist die Tatsache, daß bei produktiver Verwendung von Kapital in den Händen des Unternehmers regelmäßig ein der Größe des verwendeten Kapitales proportionaler Überschuß zurück- bleibt, der dadurch vermittelt wird, daß der Wert der mit Hilfe von Kapital erzeugten Güter regelmäßig größer ist als der Wert der in ihrer 68 V. Das Zinsproblem bei Adam Smith. Überblick usw. Erzeugung verzehrten Kostengüter. Die Frage ist nun: Warum existiert ein solcher ständiger Wertüberschuß oder Mehrwert? Auf diese Frage hatte Türgot geantwortet: Der Überschuß muß sein, weil die Kapitalisten sonst ihr Kapital zu Grundkäufen verwenden würden. Smith hatte geantwortet: Der Mehrwert muß sein, weil der Kapitalist sonst kein Interesse hätte, sein Kapital produktiv zu verwenden. Wir haben beide Antworten schon als nicht ausreichend gewürdigt. — Was antworten nun die Späteren? Ihre Antworten erscheinen mir zunächst nach fünf Hauptrichtungen auseinander zu gehen. Ein Teil begnügt sich mit den von Türgot und Smith gegebenen Antworten, und bleibt bei ihnen stehen. Ich will diese im Anfang des 19. Jahrhunderts noch sehr beliebte, seither aber mehr und mehr ver- lassene Richtung zusammenfassen unter dem Namen der farblosen Theorien. Ein zweiter Teil sagt: das Kapital produziert den Überschuß. Diese in der Literatur reich vertretene Richtung kann passend mit dem Gesamtnamen „Produktivitätstheorien" bezeichnet werden. — Schon an dieser Stelle wiU ich bemerken, daß wir die Produktivitätstheorien in ihrer weiteren Entwicklung sich wieder in mehrere Varianten werden spalten sehen: in Produktivitätstheorien im engeren Sinne, die eine direkte Uberschußproduktion des Kapitals annehmen, und in „Nutzungstheorien", die die Entstehung des Mehrwertes auf dem Umwege deduzieren, daß die produktive Kapitalnutzung ein besonderes, gleichwie jeder andere Kostenbestandteil Vergütung heischendes Kostenelement bilde. Ein dritter Teil antwortet: Der Mehrwert ist das Äquivalent eines in den Preis eingehenden Kostenbestandteiles „Ent- haltsamkeit". Denn indem der Kapitalist sein Kapital zur Produktion widmet, muß er auf den gegenwärtigen Genuß desselben verzichten. Dieser Genußaufschub, diese „Abstinenz", ist em Opfer, und als solches ein Vergütung heischender Bestandteil der Produktionskosten. — Ich werde diese Richtung Enthaltsamkeits- oder Abstinenztheorie nennen. Ein vierter Teil erblickt im Mehrwert den Lohn für eine vom Kapitalisten beigesteuerte Arbeit. Für diese, im Einzelnen wieder reich gegliederte Lehre werde ich den Namen Arbeitstheorie gebrauchen. Ein fünfter Teil endlich — vorwiegend der sozialistischen Partei angehöri^ — antwortet: Der Mehrwert entspricht gar keinem natür- lichen Überschuß, sondern entsteht nur durch Abknappung am gerechten Lohn der Arbeiter. Ich werde diese Theorie als Aus- beutungstheorie bezeichnen. Dies die Hauptrichtungen. Schon sie sind zahlreich genug. Dennoch drücken sie noch lange nicht die ganze Mannigfaltigkeit aus, zu der sich Spaltung der Theorie. 69 die Zinstheorie entwickelt hat. Wir werden vielmehr sehen, daß manche der Hauptrichtungen sich wieder in eine Mehrheit wesentlich verschiedener Typen verzweigt; daß manchmal Elemente mehrerer Theorien zu einer neuen eigentümlichen Kombination verbunden wurden; und daß endlich innerhalb eines und desselben theoretischen Typus die Verschiedenheiten in der Formulierung des gemeinsamen Grundgedankens oft so stark und so charakteristisch sind, daß eine Anerkennung der einzelnen Nuancen als eigenartiger Theorien nicht ungerechtfertigt wäre. Daß die hervor- ragenden Denker unserer Wissenschaft auf so vielen verschiedenen Wegen um die Entdeckung der Wahrheit sich mühten, legt ein beredtes Zeugnis dafür ab, daß ihre Entdeckung nicht weniger wichtig als schwierig ist. Beginnen wir mit einem Überblick über die farblosen Theorien. VI. Farblose Theorien. Der am Schluß des vorigen Abschnitts beschriebene Umschwung, der aus der lang gering geschätzten Frage des Kapitalzinses ein soziales Problem ersten Ranges herausbilden sollte, vollzog sich nicht so plötzlich, als daß nicht auch nach Adam Smith noch eine Reihe von Schriftstellern Zeit gefunden hätte, sich mit der etwas patriarchalischen Behandlung zufrieden zu stellen, die der Stoff bei Turgot und Smith erfahren hatte. Man würde sehr irren, wenn man unter diesen Nachzüglern bloß unselb- ständige Geister, Größen zweiten und dritten Ranges anzutreffen meinte. Allerdings gehört ihnen jener Kreis wenig selbständiger Autoren, die nach dem Auftreten eines bahnbrechenden Genies stets zahlreich zu erscheinen und in der bloßen Popularisierung der neuen Lehre ihre Mission zu finden pflegen, fast vollzählig an; daneben finden wir aber auch manchen aus- gezeichneten Denker, der nur aus ähnlichen Motiven wie Smith selbst an unserem Problem vorüberging. Begreiflicherweise haben die Meinungen, welche diese „farblosen" Schriftsteller, wie ich sie nennen will, über den Kapitalzins ausgesprochen haben, auf die Entwicklung der Theorie im Ganzen wenig Einfluß geübt. Dieser Umstand wird es rechtfertigen, wenn ich rücksichtlich der Mehrzahl derselben auf eine eingehende Darstellung verzichte, und eine solche nur jener Minderheit zuteil werden lasse, die entweder durch ihre Person, oder durch die Eigenart ihrer Lehre unser Interesse stärker zu fesseln vermag. Wer mit dem Charakter der deutschen Nationalökonomik zu Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts vertraut ist, wird sich nicht wundem, in ihr einer besonders großen Zahl von „farblosen" Schrift- stellern zu begegnen. Ihr Indifferentismus ist nicht ohne eine gewisse Mannigfaltigkeit. Einige, die sich überhaupt treu an Smith anzulehnen gewohnt sind, kopieren auch seine vagen Andeutungen über den Zins in fast wörtlicher Wiederholung; insbesondere seine Bemerkung, daß, wenn der Zins nicht existieren würde, der Kapitalist kein Interesse hätte, sein Kapital pro- Deutschland. Sartorius, Lueder, Kraus usw. 71 duktiv zu verwenden. So Sartorius i), Lueder*) und Kraus»). Andere variieren dasselbe Motiv in freierer Bewegung, wie Hufeland*) und Seutter*). Noch andere setzen den Zins als selbstverständlich voraus, ohne auch nur ein Wort zu seiner Erklärung zu verlieren, wie z. B. Pölitz«) und etwas später Mürhard'). Wieder andere liefern zwar eigenartige Begründungen, die aber so flach und bedeutungslos sind, daß sie auf den Ehrennamen von Theorien kaum.Anspruoh erheben können. So Schmalz, der das Dasein des ursprünglichen Ks^italzinses mittelst eines groben Zirkels aus der Möglichkeit erklärt, das Kapital anderen auf Zinsen aus- zuleihen 8). .^ Außerordentlich naiv ist die Erklärung, die Graf Cancrin von der Sache gibt. Ich will die kurze Stelle der Kuriosität halber im Wortlaute anführen. „Jedermann weiß," sagt er»), „daß das Geld Zinsen trägt, aber warum? Wenn zwei Besitzer von Sachenkapital ihre Pro- dukte vertauschen wollen, ist jeder gestimmt für die Mühe der Aufbewahrung und als Gewinn so viel über den eigentlichen Wert seines Produktes zu fordern, als ihm der andere zu- gestehen will; der Bedarf läßt jedoch beide in der Mitte zusammenkommen. Nun aber stellt das Geld das Sachenkapital vor; es kann mit ihm ein Gewinn gemacht werden, und daher die Zinsen." Die durch den Druck hervorgehobenen Worte sollen hier das Dasein des ursprunglichen Zinses, der Rest das Dasein des Leihzinses erklären; und der Autor hält diese Erklärung für so ausreichend, daß er an einem späteren Ort mit Befriedigung auf sie zurückweist: „Warum ein Kapital Zinsen ') Handbuch der Staatswirtschaft, Berlin 1796; besonders § 8 und 23. Auch seine späteren „Abhandlungen die Elemente des Nationalreichtums und die Staatswirtschaft betreffend" (Göttingen 1806) sind in unserer Frage nicht selbständiger. *) Über Nationalindustrie und Staatswirtschaft, 1800 — 1804; siehe besonders S. 82, 142 usw. ') Staatswirtschaft, herausgegeben von Auerswald 1807 — 1811; siehe besonders I S. 24, 150f., und die sehr naiven Ausführungen III, 126f. *) Neue Grundlegung, Wien, 1815 S. 221. *) Die Nationalökonomie, Ubn 1823, S. 145. Vgl. auch S. 164, wo mit "Verdrehung <les Kausalzusammenhanges der ursprüngliche Kapitalzins aus dem Leihzins abge- leitet wird. *) Staatswissenschaften im. Lichte unserer Zeit, II. Teil (Leipzig 1823) S. 90. PöLirz bemüht sich hier nur zu beweisen, daß der als existierend schon voraus- gesetzte Kapitalgewinn dem Eigentümer des Kapitales zufallen müsse. ') Tlieorie des Handels, Göttingen 1831. *) Handbuch der Staatswirtschaft, Berlin 1808, § 110 und 120. Vgl. auch § 129, wo die ausbedungenen ,, Renten" selbst gar nicht mehr erklärt, sondern einfach als Tatsachen besprochen werden. Auch Schjcalz' andere Schriften sind nicht inhalts- reicher. •) Die Ökonomie der menschlichen Gesellschaften und das Finanzwesen, Stutt- gart 1845, S.. 19. 72 VI. Farblose Theorien. trage, bei Geldwerten in bestimmten Prozenten, bei dem Sachenkapitale in den Preisen der Dinge, ist schon erörtert!" (S. 103). Bemerkenswerter sind einige Autoren, die jenem Teil der SMiXHSchen Äußerungen, wonach der Kapitalgewinn ein dem Kapitalisten zuge- wendeter Anteil am Produkte der Arbeit sein soll, eine lebh^tere Be- tonung gaben. Unter ihnen setzt Graf Soden i) das Kapital als bloßen Stoff, an dem die „produktive Kraft" sich betätigt, der letzteren scharf entgegen. Den Kapitalgewinn führt er darauf zurück, daß der Besitzer von „Kapital- stoff" im Stande ist, „fremde Kraft für sich in Bewegung zu setzen, also den Gewinn an dieser Kraft mit dem isolierten Produzenten, dem Lohn- arbeiter zu teilen" (I S. 65). Daß eine solche Teilung stattfindet, sieht Soden für eine selbstverständliche Folge der Konkurrenzverhältnisse an. Ohne sich die Mühe einer formellen Erklärung zu nehmen, läßt er wiederholt die Ansicht durchblicken, daß die geringere Zahl der Kapitalisten im Vergleich mit der großen Zahl der Lohnarbeiter es den Ersteren immer ermöglichen muß, die Lohnarbeit um einen Preis zu kaufen, der ihnen eine Rente übrig läßt (S. 61, 138). Er billigt dies auch durchaus (z. B. S. 65 ff.) und rät davon ab, eine Erhöhung des Lohnes durch Lohntaxen anzustreben: „denn findet der Stoff besitzer in dem Regulator keinen Gewinn an fremder Kraft mehr, so läßt er allen Stoff, den er nicht selbst bearbeiten kann, tot" (S. 140). Nur wünscht Soden, daß der „Preis" des Lohnes auf den Grad seines „wahren Wertes" gebracht werde. Welche Lohnhöhe diesem „wahren Wert" entspricht, bleibt aber trotz der ein- gehenden Erörterung, die der Verfasser der Frage nach dem Wert der Produktivkraft widmet (S. 132 ff.), ziemlich im Dunkeln: gewiß ist nur, daß nach seiner Meinung auch dann, wenn die produktive Kraft nach ihrem vollen Werte vergütet wird, für den Kapitalisten noch eine Rente übrig bleiben muß 2). Man wird aus diesen Ausführungen wohl den Eindruck empfangen, daß der erste Teil derselben, in dem der Zins für einen Gewinn an fremder Kraft erklärt wird, ein,en ganz anderen Ausgang erwarten läßt, als der zweite Teil ihn bringt; sowie daß die Motivierung dieser Frontveränderung viel zu vag ist, um befriedigen zu können. Zu ähnlichen Bemerkungen gibt Lotz Anlaß. Dieser scharfsinnige Schriftsteller spricht sich in seinem Handbuch des Staatswirtschaftslehre (Mangen 1821) eingehend über das Thema des Kapitalzinses aus. Er polemisiert mit Entschiedenheit gegen die inzwischen von Say aufgestellte Lehre, daß die Kapitale eine selbständige produktivfe Kraft besitzen: „An sich sind alle Kapitale tot", und „mit ') Die Nationalökonomie (Leipzig 1805 — 1808, ein Nachdruck davon Wien 1815; ich zitiere nach letzterem). *) Folgerung aus S. 140 al. 3 und 5. Lotz. 73 ihrer selbständigen Arbeit ist es zuverlässig nichts"; sie sind vielmehr immer nur Werkzeuge der menschlichen Arbeit (I S. 65f.). Dieser Gesichts- punkt wird später in einer sehr bemerkenswerten Stelle für die Beurteilung der Kapitalrente verwendet. Wenn nämlich die Kapitalien nur Förderungsmittel der Arbeit sind und keine Arbeit selbst leisten, so findet Lotz, daß der Kapitalist „vom Ertrag der Arbeit und den durch sie gewonnenen oder hervorgebrachten Gütermassen nichts weiter zu fordern hat, als nur den Betrag des Güter- aufwandes, den ihm diese Darreichung veranlaßt hat, oder deutlicher: den Betrag der Unterhaltungskosten des Arbeiters, den Betrag der diesem abgegebenen rohen Stoffe, und den Betrag der von dem Arbeiter bei seiner Arbeit verbrauchten Werkzeuge im eigentlichen Sinne; . . . dieses wäre eigentlich streng genommen die angemessene Kapital- rente, welche der Kapitalist von dem Arbeiter, der für ihn arbeitet, fordern kann; und weiter ist dieses eigentlich die angemessene Quote, welche dem ersteren von der durch den Arbeiter hervorgebrachten oder der Natur abgewonnenen Gütermasse gebühren mag. Von einem Kapital- gewinn im eigentlichen Sinne, d. h. von einem solchen Lohne des Kapitalisten für jene Darreichung, der einen Überschuß über den dabei gehabten Güteraufwand gewährt, kann also hiernach nicht die Rede sein. Erträgt die Arbeit mehr, als dieser Aufwand betragen mag, so gehört dieser Ertrag und alles daraus hervorgehende Einkommen eigentlich nur dem Arbeiter, als Lohn seiner Arbeit; denn wirklich ist es nicht der Kapitalist, der die Erzeugnisse des Arbeiters schafft, sondern alles, was der Arbeiter mit Hülfe der Darreichungen des Kapitalisten hervorgebracht, oder der Natur abgewonnen haben mag, gehört diesem; oder wenn man die Kraft, welche im Arbeiter bei seiner Arbeit sich tätig zeigt, als einen der ganzen verkehrenden Menschenmasse angehörenden Naturfonds ansieht, der gesamten Menschheit" (S. 487 f.). Mit dieser ebenso scharfen als merkwürdigen Äußerung ist Lotz der späteren Ausbeutungstheorie der Sozialisten ganz nahe gekommen. Plötz- lich bricht er aber diesem Gedankengange die Spitze ab und schwenkt in die alte farblose Erklärungsweise Smiths zurück, indem er fortfährt: „Indes würde der Kapitalist bloß nur auf einen solchen Wiederersatz dessen beschränkt, was er dem Arbeiter bei dessen Arbeit, zum Behuf derselben, von seiner aufgestapelten Gütermasse dargereicht haben mag, — würde man den Kapitalisten so strenge behandeln, — so würde er sich wohl schwerlich je entschließen, von seinem Gütervorrate dem Arbeiter zum Behuf seiner Arbeit etwas darzureichen. Er würde sich vielleicht ganz und gar nie entschließen, Kapitale zu sammeln; denn wirklich würden gar manche Kapitale gar nicht gesammelt werden, hätte der Sammler nicht in den zu hoffenden Zinsen einigen Lohn für die Mühe dieses Sammeins 74 VI. Farblose Theorien. vor dem Auge. Will also der Arbeiter, dem es an jenen zu seiner Kraft- übung nötigen Erfordernissen und Vorbedingungen fehlt, hoffen und erwarten, daJß der Kapitalbesitzer sich zu solchen Darreichungen verstehe, und ihm, dem Arbeiter, die Übung der ihm innewohnenden produktiven Kraft möglich mache oder erleichtere, so muß der letztere sich notwendig dazu bequemen, dem Kapitalisten von dem Ertrage seiner Arbeit etwas abzulassen." Im folgenden erweitert Lotz diese vage Erklärungsformel noch etwas, indem er als Billigkeitsgrund für die Forderung des Kapitalisten den Umstand anführt, daß der Arbeiter ohne die Unterstützung des Kapitals die Arbeit, welche den zu verteilenden Ertrag gewährt, entweder gar nicht, oder doch nicht so gut zu Stande gebracht haben würde. Dieser Rücksicht entnimmt er auch einen Maßstab für den „wahren angemessenen Stand" der Kapitalrente: diese soll nämlich nach dem Verhältnisse der Unter- stützung berechnet werden, die der Arbeiter durch den Gebrauch des Kapitals bei der Arbeit genossen hat. Indem Lotz diese Berechnungs- weise durch einige Beispiele erläutert, zeigt er, wie nahe sich die Extreme berühren können: während er nämlich einige Seiten vorher erklärt hat, daß der ganze „Ertrag der Arbeit und alles daraus hervorgehende Ein- kommen eigentlich nur dem Arbeiter, als Lohn seiner Arbeit gehört", führt er jetzt aus, wie unter Umständen der Eigentümer einer arbeit- sparenden Maschine gerechter Weise sogar neun Zehnteile des Arbeits- ertrages für sich in Anspruch nehmen könne! Wie man sieht, ist der Kontrast zwischen Ausgangs- und Endpunkt hier noch greller als bei Soden, und das Mittelstück, das die Schwenkung zu erklären berufen ist, kaum inhaltsvoller. Es wird darin im Grunde nichts anderes gesagt, als daß die Kapitalisten gern einen Zins bekommen wollen, und daß die Arbeiter sich den Abzug desselben gefallen lassen können: wie weit diese ,, Erklärung" aber von einer wirklichen Theorie des Kapitalzinses entfernt ist, illustriert sich drastisch durch einen Ver- gleich mit dem Grundrentenproblem. Sie leistet für das Zinsproblem genau dasselbe, was auf dem Gebiete der Grundrente geleistet würde, wenn man sagt, daß die Grundeigentümer eine Grundrente beziehen müssen, weil sie sonst ihren Boden lieber brach liegen lassen würden, und daß die Feldarbeiter sich billiger Weise den Abzug einer Grundrente gefallen lassen können, weil sie ohne Mitwirkung des Bodens den zu verteilenden Ertrag gar nicht oder doch nicht so gut zu Stande gebracht hätten! — Daß mit einem solchen Erklärungsgang das Wesentliche des Problems noch gar nicht berührt wird, wurde von Lotz augenscheinlich nicht geahnt i). ') Schon in Lotz' älterem Hauptwerk, der Revision der Grundbegriffe (1811 bis 1814), finden sich einige nicht uninteressahte, aber gleichfalls widerspruchsvolle Bemerkungen über unser lliema; unter anderem eine scharfe Zurückweisung der Pro- duktivitätstheorien (III S. 190f.); eine Erklärung des Zinses als eines „willkürlichen Jakob, Fulda, Eiselen. 75 Eine letzte Gruppe farbloser Schriftsteller ist endlich zwischen der SMiTHschen Anschauungsweise einerseits, und der mittlerweise von Say aufgestellten Produktivitätstheorie andererseits in schwankender Mitte stehen geblieben, hat von jeder der beiden Anschauungen einige Züge aufgenommen, aber keine zu einer eingehenden Theorie durchgebildet. Von Say nehmen diese Autoren gewöhnlich die Anerkennung des Kapitales als eines selbständigen Produktionsfaktors, und allenfalls die eine oder die andere auf die „produktive Kraft" des Kapitales anspielende Redensart, von Smith die Berufung auf das Interessenmotiv des Kapitalisten an, gehen aber insgesamt einer präzisen Formulierung des Zinsproblems aus dem Wege. In ihrer Reihe begegnen wir unter anderen Jakob i), der bald als letzte Quelle aller nützlichen Dinge nur die Natur und den Gewerbefleiß anerkennt (§ 49), und den Kapitalgewinn auf ein Mehrerträgnis zurück- führt, das die Arbeit hervorbringt (§ 275, 280); bald aber wieder als Kapital- gewinn dasjenige bezeichnet, „was durch ein Kapital über seinen Wert hervorgebracht wird" (§ 277), das Kapital in der SAvschen Ausdrucksweise ein „produktives Instrument" nennt (§ 770), und oftmals die Kapitalbesitzer als unmittelbare Produzenten ansieht, die wegen des direkten Anteils, den sie an der Gütererzeugung durch Beisteuerung des Kapitales genommen haben, an der ursprünglichen Verteilung des Er- trages teilzunehmen berufen sind^). Wir treffen ferner Fulda 3), der das Kapital als eine besondere, freilich abgeleitete Güterquelle ansieht, und im übrigen mit einer Maschine vergleicht, „durch deren zweckmäßige Verwendung sie nicht nur in ihrem Gange erhalten, sondern noch etwas mit ihr gewonnen werden kann", ohne hierfür weiter nach einer Erklärung zu suchen (§ 135); ferner Eiselen*), dessen Unklarheit schon dadurch illustriert wird, daß er erst nur zwei letzte Quellen der Güter, Natur und Arbeit anerkennt (S. 11), später aber Arbeit, Natur und Kapital als Zusatzes zu dem notwendigen Schaf fungskostenbe trage" und als einer „Abgabe, welche der Eigennutz des Kapitalisten dem Konsumenten abzwingt" (S. 338); diese Abgabe wird zwar nicht notwendig, aber „sehr billig" gefunden (S. 339); und ein anderes Mal gieht LoTz es geradezu als eine ,,Vervorteilung" des Kapialisten durch den Arbeiter an, wenn der erstere nicht so viel an Kapitalzins erhält, „als er fordern zu können berechtigt sein mag nach dem Einflüsse jener vom Arbeiter benutzten Werkzeuge auf dessen Be- triebsamkeit und deren rohen Ertrag" (S. 323). — Auffallend ist, daß Lorz in der vor- letzten der-zitierten Stellen den Kapitalzins auf Rechnung des Konsumenten, in der letzten aber auf Rechnung des Arbeiters gehen läßt; er kopiert damit genau die Schwankungen, die sich bei Adam Smith über denselben Punkt finden. ') Grundsätze der Nationalökonomie, Halle 1805, 3. Auflage, Halle 1825. Ich zitiere nach der letzteren Auflage. -) § 211, 711, 765, und besonders markant in § 769. ^) Grundsätze der ökonomisch-politischen oder Kameralwissenschaften, 2. Auf- lage, Tübingen 1820. *) Die Lehre von der Volkswirtschaft, Halle 1843. 76 ^I- Farblose Theorien. „Grundkräfte der Produktion" ansieht, aus deren Zusammenwirken der Wert aller Produkte hervorgeht (§ 372); der im übrigen das Amt des Kapitales darin sieht, den Ertrag der Arbeit und der Naturkräfte zu er- höhen (§ 497 und öfters), zur Erklärung des Kapitalzinses schließlich aber nichts anderes zu sagen weiß, als daß der Zins notwendig ist, damit ein Antrieb zur Kapitalsbildung geschaffen werde (§ 491; ähnlich § 517, 555 und öfters). Weiter treffen wir in dieser Gruppe aber auch den wackeren Altmeister Rau. Es ist eigentümlich, wie Raü bis zum Ende seiner langen wissenschaft- lichen Laufbahn, und ungeachtet er inzwischen eine stattliche Reihe aus- geprägter Kapitalzinstheorien hatte entstehen sehen, an jener schlichten Erklärungsweise festhielt, die zur Zeit seiner Jugend üblich gewesen war. Noch in der achten und letzten Auflage seiner Volkswirtschaftslehre, die im Jahre 1868 erschien, begnügte er sich, das Zinsproblem mit einigen flüchtigen Bemerkungen zu streifen, die im Wesentlichen das alte, von Adam Smith eingeführte Interessenmotiv enthalten. „Soll er (der Kapi- talist) sich entschließen Güter überzusparen, zu sammeln und zu Kapital zu machen, so muß ihm ein Vorteil anderer Art, nämlich ein jährliches Einkommen zufließen, welches so lange fortdauert als sein Kapital. Auf diese Weise wird das Eigentum eines Kapitales für den Einzelnen ... die Quelle eines Einkommens, welches Kapital-, Stamm- oder Zinsrente heißt ^)." Die reiche Entwicklung, welche die Zinsliteratur bis 1868 genommen hatte, hat in Raus Werken fast gar keine Spuren zurückgelassen. Von der SAYSchen Produktivitätstheorie hat er nur so viel angenommen, daß er das Kapital, gleich Say, als eine selbständige Güterquelle anerkennt: aber er schwächt dieses Zugeständnis sofort ab, indem er den von Say für die Mitwirkung dieser Güterquelle gebrauchten Ausdruck „Produktivdienst" als unpassend verwirft, und die Kapitale, im Gegensatz zu den güter- erzeugenden Kräften, unter die „toten Hilfsmittel" stellt (I § 84). Und einmal zitiert er in einer Anmerkung die SENioRsche Enthaltsamkeits- th^orie, aber ohne daran weder ein Wort der Zustimmung, noch des Tadels za knüpfen (I § 228). Wenden wir uns von Deutschland nach England, so wird unsere Aufmerksamkeit vor allem durch Ricardo in Anspruch genommen. Bei diesem ausgezeichneten Denker wiederholt sich die schon bei Smith beobachtete Erscheinung, daß er, ohne selbst eine Zinstheorie aufzustellen, einen tiefgehenden Einfluß auf die Entwicklung der Zins- theorie genommen hat. Ihn selbst muß ich unter die farblosen Schrift- steller zählen; denn wenn er sich auch in ziemlichem Umfange mit dem Thema des Kapitalzinses beschäftigt, so behandelt er diesen doch nur wie ') Volkswirtschaltslehre 1 § 222. Ähnlich, nur noch allgemeiner I § 138. England. Ricardo. 77 eine selbstverständliche oder nahezu selbstverständliche Erscheinung, über deren Ursprung er mit einigen flüchtigen Bemerkungen hinweg geht, um sieh desto ausführlicher mit allerlei konkreten Detailfragen zu befassen; und auch diese behandelt er, wiewohl höchst gründlich und geistvoll, doch so, daß aus ihrer Untersuchung auf die theoretische Hauptfrage kein Licht zurückfällt. Aber geradeso wie bei Smith finden sich auch in seiner Lehre Sätze, auf die sich, wenn man sie nur in aUe ihre Konsequenzen entwickelte, ausgeprägte Theorien bauen ließer; diese wurden später in der Tat aus- gebaut, und fanden keine ihrer geringsten Stützen in der Autorität Ricardos, auf den man sich wie auf ihren geistigen Urheber zu berufen liebte. Die Ausführungen, in denen Ricardo des Kapitalzinses gedenkt, sind sehr zahlreich. Sie finden sich, abgesehen von zerstreuten Bemerkungen, hauptsächlich in den Kapiteln I, VI, VII und XXI seiner Grundsätze der politischen Ökonomie und Besteuerung i). Ihr Inhalt läßt sich, soweit es für unsem Zweck nötig ist, am besten überblicken, wenn man drei Gruppen unterscheidet. In die erste Gruppe will ich die direkten Bemer- kungen Ricardos über den Ursprung des Kapitalzinses, in die zweite seine Ansichten über die Ursachen seiner Höhe, in die dritte die Ansichten über den Zusammenhang des Kapitalzinses mit dem Güterwert stellen. Vorauszuschicken ist noch, daß Ricardo, wie die meisten Engländer, zwischen Kapitaizins und Unternehmergewinn nicht unterscheidet, son- dern beide zusammen unter dem Namen „profif begreift. Die erste Gruppe ist sehr spärlich vertreten. Sie umfaßt einige wenige gelegentliche Bemerkungen des Inhalts, daß der Kapitalzins existieren müsse, weil sonst die Kapitalisten kein Motiv zur Bildung von Kapitalien hätten 2). Diese Bemerkungen schließen sich sichtlich an die bekannten analogen Äußerungen von Adam Smith an, und sind ebenso zu beurteilen wie diese. Man mag in ihnen mit einiger Berechtigung die ersten Keime erblicken, aus denen sich später die Abstinenztheorie entwickelt hat; sie selbst stellen aber noch keine Theorie vor. ^) London 1817, 3. Auflage 1821. Ich zitiere nach dem in der Gesamtausgabe von Ricardos Werken, London 1871, enthaltenen Abdruck der 3. Auflage. •) Die ausführlichste dieser Bemerkungen lautet: „. . . Denn nicht ein einziger Mensch sammelt sich anders als in der Aussicht Kapitalien, um sie hervorbringend zu machen, und bloß bei dieser Verwendung wirken sie auf den Gewinst. Ohne diesen Beweggrund kann es keine Kapitalansammlung geben und folglich nie ein solcher Stand der Preise (der dem Kapitalisten gar keinen Gewinn übrig ließe) stattfinden. Der Pachter und Gewerksmann kann ebensowenig ohne Ge- winn, als der Arbeiter ohne Lohn leben. Ihre Lust zur Kapitalansammlung wird mit jeder Verringerung des Gewinnes abnehmen und wird vollends verschwinden, wenn ihre Gewinste so klein sind, daß sie ihnen nicht einmal eine genügsame Vergütung für ihre Mühe und ihr Wagnis einbringen, auf welche sie bei der hervorbringenden An- wendung ihres Kapitales notwendig eingehen müssen,". (Chapt. VI S. 68, ähnlich in demselben Kapitel S. 67, Chapt. XXI S. 175, und öfter.«.) 78 VI. Farblose Theorien. Ähnliches gilt von einer anderen Bemerkung Ricardos, die hier zu erwähnen ist. Ricardo erklärt einmal, daß der Wert von Gütern, deren Produktion eine länger dauernde Verwendung von Kapital erfordert, größer sein müsse als der Wert von Gütern, die genau ebensoviel Arbeit, aber eine kürzer dauernde Kapitalverwendung erfordert haben, und schließt: „Die Wertdifferenz ... ist nur eine gerechte Vergütung für die Zeit, durch welche der Gewinn vorenthalten wurde"^). — Wenn man will, kann man in diesen Worten einen noch direkteren An- klang an die Abstinenztheorie erblicken: eine fertige Theorie enthalten aber auch sie nicht. Sehr anziehend sind durch Originalität und Geschlossenheit die Ansichten, die Ricardo über die Höhe des Kapitalgewiimes entwickelt (hauptsächlich in den Kapiteln VI u. XXI). Sie wachsen aus seiner Grund- rententheorie heraus, der die Darstellung ein Stück weit folgen muß. Nach Ricardo werden im Anfange von den Menschen die frucht- barsten Grundstücke in Kultur genommen. So lange an Boden „erster Qualität" Überfluß besteht, wird dem Grundeigentümer keine Grundrente gezahlt, und der ganze Ertrag fällt den Bebauern als Arbeitslohn und Kapitalgewinn zu. Späterhin zwingt bei zunehmender Bevölkerung der gesteigerte Bedarf nach Bodenprodukten die Kultur auszudehnen; dies geschieht, indem teils die bisher verschmähten Grundstücke minderer Qualität neu in Anbau genommen, teils die schon bisher bebauten Grundstücke erster Qualität intensiver bebaut, mit einem stärkeren Autwand von Kapital und Arbeit bewirtschaftet werden. In beiden Fällen kann — bei unver- ändertem Stand der landwirtschaftlichen Technik — der Zuwachs an Bodenprodukten nur mit erhöhten Kosten gewonnen werden, und die neu hinzugetretenen Kapital- und Arbeitsverwendungen sind daher weniger ergiebig; in dem Maße weniger, als die günstigeren Anbaugelegenheiten sukzessive sich erschöpfen, und ungünstigere aufgesucht werden müssen. Das ungleiche Erträgnis, das alsdann die verschieden günstig pla- cierten Kapitalien erzielen heKen, kann auf die Dauer nicht am Kapitale als solchem haften bleiben; sondern die Konkurrenz der Kapitalisten wird alsbald den Gewinnsatz aller in der Landwirtschaft beschäftigten Kapitalien auf das gleiche Niveau stellen; und zwar wird das Richtmaß durch den in der mindest ergiebigen Kapitalverwendung zu erzielenden Gewinn angegeben, während aller Mehrertrag, den die günstiger placierten Kapi- talien vermöge der besseren Qualität der kooperierenden Bodenkräfte liefern, den Eigentümern der letzteren als Grundrente in den Schoß fällt. Das Ausmaß von Kapitalgewinn und Arbeitslohn zusammengenommen wird daher stets durch den Ertrag der mindest ergiebigen Kapitalver- ') Chapt. I Sect. V S. 25. Ricardo. 79 Wendung bestimmt; denn dieser Ertrag zahlt keine Grundrente und wird zur Gänze als Kapitalgewinn und Arbeitslohn verteilt. Von diesen beiden Faktoren folgt nun der Arbeitslohn einem festen Gesetze. Er stellt sich nämlich auf die Dauer notwendig gleich dem Be- trage der notwendigen Subsistenzkosten des Arbeiters. Er ist hoch, wenn der Wert der Subsistenzmittel ein hoher ist ; er ist niedrig, wenn der Wert der Subsistenzmittel ein geringer ist. Indem dann der Kapitalist erhält, was übrig bleibt, so findet der Kapitalgewinn den ausschlaggebenden Bestimmungsgrund seiner eigenen Höhe in der jeweiligen Höhe des Arbeitslohnes. In diesem Zusammenhange zwischen Zins und Lohn findet Ricardo das wahre Gesetz des Kapitalzinses, das er an zahlreichen Stellen emphatisch hervorhebt, und der älteren, zumal von Smith ver- tretenen Ansicht gegenüberstellt, daß der Kapitalgewinn durch die Menge und Konkurrenz der Kapitalien in seinem Ausmaß bestimmt werde. Kraft dieses Gesetzes, folgert Ricardo nun weiter, muß der Kapital- gewinn die Tendenz haben, mit zunehmender wirtschaftlicher Kultur immer mehr zu sinken. Denn um für die zunehmende Bevölkerung Nahrungsmittel zu erlangen, muß man zu immer ungünstigeren Anbau- gelegenheiten übergehen, und das verminderte Produkt läßt nach Abzug des Arbeitslohnes immer weniger für den Kapitalgewinn über. Zwar der Wert des in seiner Masse abnehmenden Produktes sinkt nicht. Denn der Wert der Produkte richtet sich nach Ricardos bekanntem Wertgesetz jederzeit nach der Menge der auf ihre Erzeugung verwendeten Arbeit. Bringt daher in einem späteren Zeitpunkt die Arbeit von zehn Männern nur 150 Quarter Weizen hervor, während sie früher 180 Quarter hervor- gebracht hat, so werden jetzt 150 Quarter genau denselben Wert haben, als früher 180 hatten, weil in beiden die gleiche Quantität von Arbeit, nämlich die Jahresarbeit von zehn Männern enthalten ist. Natürlich wird dabei aber jetzt der Wert des einzelnen Quarters Weizen steigen. Damit steigt notwendig der Wertbetrag, den der Arbeiter zur Deckung seiner Subsistenz benötigt, und in weiterer Folge muß auch sein Arbeitslohn steigen. Muß aber von dem gleichen Wertbetrag, den die verminderte Produktenmasse repräsentiert, ein höherer Arbeitslohn gezahlt werden, so erübrigt natürlich ein geringerer Betrag für den Kapitalgewinn. Würde man endlich den Anbau auf so unfruchtbare Grundstücke ausdehnen, daß das abnehmende Produkt ganz für die Subsistenz der Arbeiter in Anspruch genommen wird, so würde der Kapitalgewinn auf Null sinken. Das ist indes nicht möglich, weil die Aussicht auf Gewinn das einzige Motiv der Kapitalsbildung ist, und dieses Motiv sich mit zu- nehmender Erniedrigung des Profits abschwächt, so daß schon vor Er- reichung des Nullpunktes die fernere Kapitalbildung, damit aber auch der Fortschritt des Reichtums und der Bevölkerung zum Stillstand kommt. Die Konkurrenz der Kapitalien, auf die Smith so großes Gewicht 80 VI. Farblose Theorien. legt, kann nach Ricardo nur vorübergehend den Kapitalgewinn ernie- drigen, indem zwar^) durch die gesteigerte Menge der Kapitalien anfänglich der Arbeitslohn erhöht wird, aber gar bald die Arbeiterbevölkerung sich im Verhältnis zur gesteigerten Arbeitsnachfrage vermehrt, wodurch der Lohn auf das frühere Niveau zu sinken, der Kapitalgewinn zu steigen tendiert. Nur dadurch, daß man für die gesteigerte Volkszahl nunmehr nur durch Anbau unergiebigerer Ländereien mit gesteigerten Kosten die nötigen Unterhaltsmittel erlangen kann, wobei das verminderte Produkt einen geringeren Überschuß über den notwendigen Arbeitslohn läßt, wird endgültig der Kapitalgewinn sinken: nicht infolge der Konkurrenz, sondern infolge der Nötigung zu einer unergiebigeren Produktion zu schreiten. Nur von Zeit zu Zeit erfährt die Tendenz des Kapitalgewinnes, mit fort- schreitender wirtschaftlicher Entwicklung zu sinken, eine Hemmung durch Fortschritte in der landwirtschaftlichen Technik, die es gestatten, gleiche Produktenmengen mit weniger Arbeit zu erlangen als bisher. Heben wir aus dieser Theorie den Kern heraus, so erklärt Ricardo die Höhe des Kapitalgewinnes aus der Höhe des Arbeitslohnes: diese ist die Ursache, die Gewinnhöhe ist die Wirkung 2). Die Kritik kann sich dieser Theorie von verschiedenen Seiten nähern. Sie hat natürlich gar keinen Bestand für denjenigen, der schon Ricardos Grundrententheorie prinzipiell für falsch hält 3). Jenes Stück des Beweis- ganges ferner, das sich auf die Lohnfondtheorie stützt, wird allen Ein- wendungen ausgesetzt sein, die sich gegen die letztere Theorie erheben. Ich lasse indes alle Einwendungen bei Seite, welche die äußeren Voraus- setzungen der Zinstheorie angehen, und lege die Kritik lediglich an diese selbst. Ich frage demnach: Wird durch Ricardos Theorie, die Richtigkeit der Grundrenten- und Lohnfondtheorie vorausgesetzt, die Höhe des Kapitalgewinnes, oder wohl gar auch sein Dasein selbst wirklich erklärt? Die Antwort wird lauten: Nein! und zwar deshalb nicht, weil Ricardo bloße Begleitumstände der zu erklärenden Erscheinung irrtümlich für ihre Ursache gehalten hat. — Die Sache steht so: Es ist gan^ richtig, das Lohn, Gewinn und Produktionsertrag — nach Abzug der etwaigen Grundrente — in einer eisernen Verbindung stehen. Es ist ganz richtig, daß der Kapitalgewinn nie mehr und nie ') Nach der bekannten „Lohnfondtheorie". '} Dasselbe ursächliche Verhältnis drückt Ricardo an einer anderen Stelle drastisch aus, wenn er im Eingange der Sect. IV des I. Kap. die Höhe des „Wertes der Arbeit" als eine zweite Ursache des Güterwertes neben der Menge der zur Produktion aufge- wendeten Arbeit nennt, und dabei den Einfluß im Sinn hat, den die Gewinnanspräche der Kapitalisten auf den Güterwert ausüben. Die Höhe des Gewinnes gilt ihm eben nur als eine unselbständige Zwischenursache, statt deren er lieber die Endursache des ganzen Verhältnisses einsetzt, die er in der wechselnden Höhe des Arbeitslohnes erblickt. ') wie z. B. PiERSTORPP, Lehre vom Unternehmergewinn, S. 12 ff. Ricardo. 81 weniger ausmachen kann als die Differenz Ertrag minus Lohn. Aber es ist falsch, diese Verbindung so auszulegen, als ob Ertragshöhe und Lohn- höhe das bestimmende, und die Gewinnhöhe lediglich das bestimmte wäre.' Ebensogut als Ricardo die Gewinnhöhe für eine Folge der Lohn- höhe erklärt hat, hätte er umgekehrt auch die Lohnhöhe für eine Folge der Gewinnhöhe erklären können. Er hat das nicht getan, weil er mit Recht erkannte, daß die Höhe des Arbeitslohnes auf selbständigen, dem Faktor Arbeit eigentümlichen Bestimmgründen ruht. Was Ricardo aber für den Arbeitslohn erkannte, das hat er bei dem Kapitalgewinn übersehen. Auch der Kapitalgewinn hat Bestimmgründe seiner Höhe, die aus seinen eigenen Verhältnissen hervorgehen. Er nimmt nicht einfach, was übrig bleibt, sondern er weiß sich einen angemessenen Anteil zu erzwingen. Eine wirkliche Erklärung des Eapitalgewinnes hätte nun eben jene Momente hervorheben müssen, die auf Seite des Faktors „Kapital" vor- handen sind und sich der Absorption des Kapitalgewinnes durch den Arbeitslohn ebenso wirksam entgegenstellen, als z. B. die Rücksicht auf den nötigen Unterhalt der Absorption des Arbeitslohnes durch den Kapital- zins widersteht. Diese Hervorhebung der spezifischen Bestimmgründe der Kapitalzinshöhe läßt aber Ricardo vollständig venmssen. Bei einer einzigen Gelegenheit nimmt er von der Existenz solcher Gründe Notiz: wenn er nämlich bemerkt, daß der Kapitalgewinn nie auf NuU sinken könne, weil dann das Motiv der Kapitalbüdung, und damit diese selbst zum Stillstand käme^). Aber er gibt diesem Gedanken, der konsequent ausgebildet den Stoff zu einer urwüchsigen Zinstheorie hätte abgeben können, keine weitere Folge, sondern fährt fort, die Bestimmgründe für die Höhe des Kapitalgewinnes ausschließlich im Lager der konkur- rierenden Faktoren zu suchen, indem er unablässig bald auf die Höhe des Arbeitslohnes, bald auf den Grad der Produktivität der unergiebigsten Arbeit, bald sogar, etwas physiokratisch angehaucht, aber in Überein- stimmung mit der ganzen eben entwickelten Lehre, auf die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens als die entscheidenden Ursachen der Gewinn- höhe hinweist*). Die kritische Ausstellung, die ich hier gegen Ricardo richte, scheint allerdings selbst einem naheliegenden Einwand ausgesetzt zu sein. Wenn nämlich, wie wir im ganzen Gedankengange im Sinne Ricardos ange- nommen haben, der Arbeitslohn ein absolut bestimmtes Maß — den Betrag der Unterhaltskosten — für sich in Anspruch nimmt, so scheint es, als ob damit der Betrag, der für den Kapitalgewinn erübrigt, schon so fest bestimmt sei, daß für eine Wirksamkeit selbständiger Motive auf Seite des Kapitalgewinnes gar kein Spielraum übrig bleibt. Nehmen wir z. B. an, der zur Verteilung gelangende Produktionsertrag sei 100 Quarter. ') Chapt. VI S. 67 und öfters. «) Chapt. VI gegen Ende (S, 70). Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aofl. 6 82 VI. Farblose Theorien. Brauchen die an seiner HeFvorbringung beteiligten Arbeiter 80 Quarter, so sei der Betrag von 20 Quarter als Anteil des Kapitales schon bestimmt, und könne durch keine auf seiner Seite tätigen Motive verändert werden. Dieser denkbare Gegeneinwurf hält indes nicht Stich. Denn — um ganz in der Denkweise Ricardos zu bleiben — der Ertrag, den die mindest ergiebige Arbeit abwirft, ist nichts fest bestimmtes, sondern elastisch und einer Beeinflussung durch die unabweislichen Ansprüche des Kapitals und der Arbeit fähig. Gerade so gut als die Ansprüche der Arbeiter ver- hindern können und faktisch verhindern, daß der Anbau bis auf einen Punkt ausgedehnt wird, an dem die Arbeit nicht einmal ihre eigenen Subsistenzkosten deckt, geradeso können sich auch die Ansprüche des Kapitales einer übermäßigen Ausdehnung der Anbaugrenze entgegen- stellen, und stellen sich wirklich entgegen. Erfordern z. B. jene Motive, denen der Zins überhaupt seinen Ursprung verdankt und die Ricardo leider so wenig aufklärt, für ein Kapital von bestimmter Größe einen Gewinnanteil von 30 Quarter, und benötigen die mit diesem Kapitale beschäftigten Arbeiter zu ihrer Subsistenz zusammen 80 Quarter, so wird eben der Anbau an jener Stelle Halt machen müssen, an der die Arbeit so vieler Leute, als mit 80 Quarter sich erhalten können, noch 110 Quarter abwirft. Würden die „motives of accumulation" nur einen Gewinn von 10 Quarter erfordern, so würde der Anbau so weit ausgedehnt werden können, daß die unergiebigste Arbeit noch 90 Quarter fördert. Der Anbau noch unergiebigerer Grundstücke wird aber jedesmal ökonomisch unmöglich und damit die Grenze für die weitere Ausbreitung der Be- völkerung einstweilen erreicht sein^). Daß die Ansprüche des Kapitales eine solche begrenzende Wirkung üben können, gibt Ricardo, wie wir gesehen haben, für jenen extremsten Fall, in dem der Kapitalgewinn gänzlich zu versiegen droht, selbst zu. Natürlich üben aber jene Verhältnisse, denen der Kapitalgewinn überhaupt seine Entstehung verdankt, ihre Spannkraft nicht bloß in den äußersten Fällen, sondern permanent aus; sie hindern nicht bloß das gänzliche Ver- schwinden des Gewinnes, sondern sie halten ihn in jedem Augenblick im Wettkampf mit den anderen Faktoren empor, und helfen die Höhe ent- scheiden, bis zu welcher er aufragt, so daß der Kapitalgewinn nicht minder auf selbständigen Bestimmgründen ruht, als man dies vom Arbeitslohn ') Der aufmerksame Leser wird sich leicht überzeugen, daß das Resultat das gleiche bleibt, wenn wir, die Form der Betrachtung variierend, statt der Masse des Produktes und Arbeitslohnes deren Wert in Betracht ziehen. Alsdann erscheint zwar der Ertragswert als stabile (vgl. oben S. 79), dagegen der Arbeitslohn als elastische Größe; und der im Text ausgedrückte Satz wird, nur in den Worten, nicht in der Sache verändert, lauten: der Anbau muß an demjenigen Punkt Halt machen, an welchem der durch die steigenden Kosten des Anbaues gesteigerte Arbeitslohn dem Kapitalisten vom Werte des Produktes nicht mehr genug übrig läßt, um seine Gewinnansprüche zu befriedigen. Ricardo. 83 sagen kann. Diese selbständigen Bestimmgründe völlig vernachlässigt zu haben, ist der entscheidende Fehler Ricardos. Die eigentümliche Natur dieses Fehlers erklärt auch auf das natür- lichste die sonst frappierende Erscheinung, daß die umfangreichen Unter- suchungen, die ein so ausgezeichneter Denker wie Ricardo der Frage nach der Höhe des Kapitalgewinnes widmet, so gänzlich unfruchtbar für die Hauptfrage nach den Ursachen des Gewinnes selbst geblieben sind. Eine dritte Gruppe von Bemerkungen, die den Kapitalgewinn be- treffen, ist endlich mit den Ansichten Ricardos über den Güterwert verflochten. Es ist dies ein Thema, das überhaupt den Schriftstellern Gelegenheit gibt, sich über die Provenienz des Kapitalgewinnes direkt oder indirekt zu äußern. Wird der Tauschwert der Güter um der Gewinn- forderung der Kapitalisten willen ein höherer als er sonst gewesen wäre, oder nicht? Im ersten Fall wird der Kapitalgewinn ohne Verkürzung der Inhaber der kooperierenden Produktivkräfte, insbesondere ohne Ver- kürzung der Lohnarbeiter, aus einem besonderen „Mehrwert" entrichtet, im letzten Fall fließt er auf Kosten der anderen Partizipanten. Auch Ricardo äußert sich bei dieser (Gelegenheit, und zwar spricht er sich zu Gunsten eines durch die Kapitalverwendimg verursachten Zu- schlages zum Güterwerte aus; jedoch in etwas rückhältiger Weise. Er unterscheidet nämlich zwei verschiedene Epochen der Gesellschaft. In der ersten, primitiven Epoche — so lange ea ganz wenig Kapital und noch kein privates Grundeigentum gibt — wird der Tauschwert der Güter ausschließlich durch die Menge der in sie hineinverwendeten Arbeit be- stimmt^). In der zweiten Epoche, der die moderne Volkswirtschaft an- gehört, tritt durch die Kapitalverwendung eine Modifikation ein. Die Unternehmer-Kapitalisten sprechen nämlich für ihr in der Produktion beschäftigtes Kapital den üblichen Gewinnsatz nach Maßgabe der Größe des Kapitals und der Dauer seiner Verwendung an. Größe, Verwendungs- dauer und damit der Gewinnanspruch sind aber in den verschiedenen Produktionszweigen verschieden, je nachdem der eine mehr zirkulierendes Kapital, das sich im Produktwert rasch wieder ersetzt, der andere mehr fixes Kapital erfordert, und dieses wieder in größerer oder geringerer Dauerbarkeit, zu welcher die Raschheit des Ersatzes im Produktwert im umgekehrten Verhältnis steht. Die verschieden großen Gewinnansprüche der Kapitalisten werden nun dadurch beglichen, daß für jene Güter, deren Erzeugung eine verhältnismäßig stärkere Beteiligung des Kapitales er- fordert hatte, eine relative Erhöhung ihres Tauschwertes eintritt 2). In dieser Ausführung neigt sich, wie man sieht, Ricardo entschieden der Ansicht zu, daß der Kapitalzins aus einem besonderen Mehrwert entspringt. Allein der Eindruck solcher Entschiedenheit wird durch etliche ') Chapt. I Sect. I. «) Chapt. I Sect IV und V. 6* g4 VI. Farblose Theorien. andere Stellen nicht wenig abgeschwächt: teils durch die zahlreichen Stellen, in denen Ricardo Gewinn und Arbeitslohn in Zusammenhang bringt und die Erhöhung des einen Faktors aus der Einbuße und Ver- kürzung des andern hervorgehen läßt; teils durch die vorangegangene Aufstellung des abweichenden reinen „Arbeitsprinzips" für die uranfäng- liche Wirtschaftsepoche; zumal er diesem letzteren Prinzip eine viel wärmere innere Begründung beigibt als seiner kapitalistischen Modifikation, was unwillkürlich den Eindruck erweckt, als halte er jenen ursprünglichen Zustand der Dinge für den naturgemäßen. In der Tat haben die späterer sozialistischen Schriftsteller das „Arbeitsprinzip" als die wahre Meinung BicAKixos, die Zulassung der kapitalistischen Modifikation desselben als eine bloße Inkonsequenz des Meisters hingestellt^). So sehen wir denn auch in der Frage nach der Provenienz des Kapital- gewinnes Ricardo in unentächiedener Haltung; nicht so greU schwankend, wie sein Meister Smith geschwankt hatte, aber unentschieden genug, um auch ihn nicht aus der Reihe der farblosen Theoretiker heraustreten zu lassen 2). Ricardos großer Zeitgenosse Malthüs hat sich um wenig bestimmter als Ricardo selbst über den Kapitalzins ausgesprochen. Immerhin finden sich in seinen Schriften einige Äußerungen, die ihn aus den völlig farblosen Schriftstellem auszuscheiden und unter die Produktivitätstheoretiker zu stellen gestatten. Desto mehr trifft das Merkmal der Farblosigkeit wieder bei Torrens ') zu. Dieser breitspurige und wenig weitblickende Schriftsteller bringt seine Meinung über den Kapitalzins der Hauptsache nach bei Gelegenheit einer Polemik vor, die er gegen die vor kurzem von Malthus aufgestellte Theorie richtet, daß der Kapitalgewinn einen Bestandteil der Produktionskosten und damit des natürlichen Preises der Güter bilde. Dagegen wendet Torrens mit vollem Recht, aber auch mit ungeheurer Weitschweifigkeit ein, daß der Gewinn einen Überschuß über die Kosten, nicht einen Teil der letzteren darstelle. Er selbst setzt jedoch nichts besseres an die Stelle. Er unterscheidet zwischen Marktpreis und natürlichem Preis. Markt- preis ist das, was wir geben müssen, um ein Gut im Austausch auf dem Markte zu erlangen; natürlicher Preis ist das, was wir geben müssen, ') Ähnlich auch Bernhardi, „Kritik der Gründe usw.", 1849, S, SlOff. Siehe dagegen Verrun Stuart, „Ricardo en Marx", 'sGravenhage 1890, und meine Be- sprechung dieser Schrift in Conrads Jahrbüchern III. Folge Bd. I (1891) S. 877ff. *) Höher scheint Ricardos Verdienste um das Zinsproblem Natoli anzuschlagen in seiner gründlichen und sorgfältigen Arbeit über „II principio del valore", Palermo 1906. Vielleicht liest Natoli aber auch hier etwas zu viel von den modernen Erkennt- nissen in den großen alten Klassiker hinein, ähnlich wie ihm auch dessen Arbeitswert- theorie fähig scheint, in geeigneter Redaktion die moderne Theorie des Grenznutzens in sich aufzunehmen. «) An essay on the production of wealth, London 1821. Torrens. g5 um ein Gut „aus dem großen Warenlager der Natur" zu erlangen, oder was dasselbe ist, er ist der Aufwand an Produktionskosten, unter welchem Ausdruck Torrens den Belauf des zu Prodüktionszwecken ausgegebenen Kapitals versteht^). Marktpreis und natürlicher Preis streben keineswegs, wie man gewöhnlich behauptet, sich durchschnittlich auf das gleiche Niveau zu stellen; da vielmehr der Gewinn kein Element der Produktions- kosten, also auch kein Element des natürlichen Preises bildet, der Markt- preis aber, wenn die Unternehmung nicht eingestellt werden soU, dem Unternehmer den üblichen Gewinnsatz bringen muß, so muß der Markt- preis prinzipieU und dauernd höher stehen als der natürliche Preis, und zwar höher um den Belauf des üblichen Gewinnsatzes 2). Torrens hat so den Kapitalgewinn aus den Bestimmgründen des natürlichen Preises eliminiert und dafür in die Bestimmgründe des Markt- preises eingeführt. Diese Veränderung ist, wie man leicht sieht, eine rein formeUe; sie beruht lediglich auf dem Gebrauch einer anderen Terminologie. Die angegriffenen Ökonomisten hatten gemeint, daß der Kapitalgewinn einen Bestimmgrund für die Höhe des durchschnittlichen Preises der Güter bilde, und hatten diesen Durchschnitts- oder Dauerpreis natürlichen Preis genannt. Torrens meint genau dasselbe, nur daß er die Dauerpreise Marktpreise nennt, und den Namen natürlicher Preis für etwas reserviert, was gar kein Preis ist, nämlich für den Produktionsaufwand an Kapital- substanz. Für die sachliche Hauptfrage: warum die faktischen Güterpreise, mag man sie nun natürliche oder Marktpreise nennen, einen Kapital- gewinn übrig lassen, tut Torrens so gut wie gar nichts. Er hält den Kapitalgewinn offenbar für etwas so selbstverständliches, daß eine detaillierte Erklärung ganz unnötig wäre, und begnügt sich mit einigen recht entfernt andeutenden Schlagworten, die überdies, da sie zu ganz verschiedenen Gedankengängen einladen, untereinander in Widerspruch stehen. Ein Schlagwort ist die öfter wiederkehrende Bemerkung, daß der Kapitalist einen Gewinn machen muß, weü er sonst keinen Antrieb hätte, Kapital zu bilden oder in einer produktiven Unternehmung anzulegen»); ein zweites Schlagwort, das in eine ganz andere Kichtung leitet, ist die Erklärung, daß der Kapitalgewinn eine durch die Kapitalverwendung erzeugte „neue Schöpfung" ist*). Darüber freilich, wie der Kapital- gewinn „geschaffen" wird, werden wir völlig im Unklaren gelassen: es bleibt beim Schlagwort, eine Theorie fehlt. >) S. 34: „the amount of capital or the quantity of accomiilated labonr expended in production." *) S. 60ff. ») S. 63 und 392. *) „a new creation brought into existence in consequence of this expense" (S. 61); „they create it . . . It is essentially a sorplns, a new creation" (S. 64). 86 VI. Farblose Theorien. Kein Glied der englischen Schule hat aber wohl den Kapitalzins so unbehilflich urd unglücklich behandelt alsMcCuLLocH^), Er nähert sich an eine Reihe divergierender Meinungen an. Er läßt sich auf jede tief genug ein, um mit sich selbst in flagranten Widerspruch zu geraten, entwickelt aber keine genug, um eine halbwegs zusammenhängende Theorie des Kapitalzinses zu bieten. Ein einziges Mal macht er eine Ausnahme: aber die Theorie, die er hier durchführt, ist die ungereimteste, auf die ein Denker nur verfallen konnte, und er gibt sie in den späteren Auflagen seiner Werke selbst wieder auf — nicht ohne auch von ihr Reste stehen zu lassen, die gleich sehr mit der Wirklichkeit wie mit der Umgebung, in der sie stehen, kontrastieren. So sind McCüllochs Äußerungen über den Kapitalzins eine Blumenlese der Halbheit, der Urteilslosigkeit und des Widerspruchs. Da McCüllochs Ansichten trotzdem eine bedeutende Verbreitung und ein gewisses Ansehen erlangt haben, kann ich mich der etwas uner- quicklichen Aufgabe, mein obiges Urteil genauer zu motivieren, nicht entziehen. McCüLLocH proklamiert vor allem den Satz, daß die Arbeit die einzige Quelle des Vermögens ist. Der Wert der Güter wird durch die Quantität der Arbeit bestimmt, die zu ihrer Erzeugung erfordert wird. Dies gilt nicht allein für den Urzustand, sondern auch für das moderne Wirtschaftsleben, in dem neben unmittelbarer Arbeit auch Kapital zur Produktion verwendet wird; denn das Kapital ist selbst nichts anderes als das Produkt früherer Arbeit. Man -hat nur nötig, die im Kapital steckende zu der unmittelbar aufgewendeten Arbeit hinzuzurechnen: diese Summe bestimmt auch heutzutage den Wert aller Produkte 2), und Arbeit allein macht demnach auch heutzutage die gesamten Produktionskosten aus 3). Aber wenige Zeilen, ehe McCülloch die Kosten für „identisch mit der Arbeitsmenge" erklärt, nimmt er neben der Arbeit auch den Kapital- gewinn unter die Kosten auf*); und fast unmittelbar nachdem er erklärt hat, daß die Menge der Arbeit allein den Wert bestimmt, geht er dazu über, zu erklären, wie auch ein Steigen des Lohnes der Arbeit verbunden ') Principles of Political Economy, 1. Auflage, Edinburgh 1825; 5. Auflage 1864- ») S. 61, 216, 289f. der 1., S. 6 und 276 der 5. Aufl. ^) The cost of producing commodities is, as will be afterwards shoon, identical with the quantity of labour required to produce them and bring them to market (1. Aufl. S. 260). Fast gleichlautend in der 6. Aufl., gleichfalls S. 260: The cost, or real value of commodities is, as already seen, determined by the quantity of labour etc. *) But is quite obvious, that if any commodity were brought to market and ex- cbanged for a greater amount either of other commodities or of money, than was required to defray the cost of its production, including, in that cost, the common and average rate of net profit at the time . . . etc. 1; Aufl. S. 249. In der Hauptsache gleichlautend in der 5. Aufl. S. 250. McCulloch. 87 mit einem Sinken des Kapitalgewinnes den Tauschwert der Güter ver- schiebt, den Wert jener Güter steigert, bei deren Produktion Kapital von unterdurchschnittlich großer Dauerhaftigkeit, und den Wert jener Güter senkt, bei deren Produktion Kapital von überdurchschnittlich großer Dauer in Verwendung gestanden ist^). Und wieder definiert McGulloch den Kapitalgewinn ohne Skrupel als einen „excess of produce", als „surplus", als „the po^tion of the produce of industry, accruing to the capitalist after all the produce expended by them in produetion is fully replaced": kurz als einen reinen Überschuß, obschon er ihn gar nicht lange vorher als einen Bestandteil der Kosten erklärt hat. Fast ebenso viel Widersprüche also, als Sätze! Trotzdem gibt sich McCülloch, wenigstens in der ersten Auflage seiner Principles, viel Mühe konsequent zu erscheinen. Als Mittel dazu dient ihm eine Theorie, durch die er den Kapitalgewinn auf Arbeit zurück- führt. Kapitalgewinn ist, wie er auf S. 291 der ersten Auflage mit gesperrten Lettern drucken läßt, nur ein anderer Name für „Lohn der aufgehäuften Arbeit". Diese Erklärung gibt ihm die Handhabe, auch jene Fälle, in denen der Kapitalgewinn einen Einfluß auf den Wert der Güter nimmt, unter sein Gesetz zu beugen, daß aller Güterwert durch Arbeit bestimmt wird. Aber wie sieht die Durchführung dieser Erklärung aus! „Gesetzt", sagt er^), „ein Faß neuen Weines, welches 50 Pfund kostet, wird in einen Keller gelegt und ist nach Ablauf von zwölf Monaten 55 Pfund wert, so entsteht die Frage: Soll der dem Wein gegebene Wertzuwachs von 5 Pfund als eine Vergütung für die Zeit angesehen werden, während welcher der Kapitalwert von 50 Pfund eingeschlossen gewesen war, oder soll er als der Wert einer additioneilen Arbeit betrachtet werden, die tatsächlich auf den Wein ausgelegt worden ist?" McCulloch entschließt sich zur letzteren Ansicht; deshalb, weil der Wertzuwachs nur bei einem unreifen Wein eintritt, in dem also noch eine Veränderung oder eine Wirkung hervorgebracht werden muß, und nicht auch bei einem Wein, der schon seine volle Reife erlangt hat. Das scheint ihm nämlich ein „un- widerleglicher" Beweis, „daß der Wertzuwachs des Weines nicht eine Vergütung für die Zeit, sondern für die Wirkung oder die Veränderung ist, die auf ihn hervorgebracht wurde". Denn „die Zeit kann aus sich selbst gar nichts hervorbringen, sie gibt nur den Spielraum ab, innerhalb dessen die wahrhaft wirksamen Ursachen tätig werden können, und es ist deshalb klar, daß sie nichts mit dem Wert zu tun haben kann". Mit diesen Worten schließt McCulloch in verblüffender Naivität seinen Beweis ab. Er scheint gar nicht zu ahnen, daß zwischen dem, was er beweisen sollte, und dem, was er bewiesen hat, ein gewaltiger Unter- schied besteht. Er wollte beweisen, daß der Wertzuwachs durch einen ') 1. Aufl. S. 298ff., 6. Aufl. 283ff. ») 1. Aufl. S. 313. 88 VI. Farblose Theorien. Zusatz von Arbeit, von menschlicher Tätigkeit, verursacht wurde; und er hat im besten Falle bewiesen, daß der Wertzuwachs nicht durch die Zeit bewirkt wurde, sondern durch irgendeine „Veränderung" am Weine. Daß diese Veränderung selbst aber durch einen Zusatz von Arbeit herbei- geführt wurde, ist nicht allein nicht bewiesen, -sondern durch die Voraus- setzung des Falles geradezu ausgeschlossen: der Wein lag ja während der ganzen Zwischenzeit unberührt im Keller. Ein wenig scheint er indes die Schwäche dieses ersten Beweises selbst zu fühlen; denn er häuft, „um diesen Satz noch besser zu illustrieren", noch eine Reihe weiterer Beispiele an, die freilich, je genauer sie die These beweisen wollen, nur desto schlimmere Ungeheuerlichkeiten enthalten. Im nächsten Beispiel^) setzt er ein Individuum voraus, das zwei Kapitalien hat, „eines bestehend aus neuem Wein im Wert von 1000 Pfund, und das andere bestehend aus Leder im Wert von 900 Pfund, und Greld im Wert von 100 Pfund. Nehmen wir nun an, daß der Wein in einen Keller gelegt wird, und daß die 100 Pfund einem Schuhmacher gezahl werden, der damit beschäftigt wird, das Leder in Schuhe zu verwandeln. Nach Ablauf eines Jahres wird der Kapitalist zwei gleich große Werte haben; vielleicht einen Wert von 1100 Pfund in Wein, und einen Wert von 1100 Pfund in Schuhen." Folglich, schließt McCülloch, sind beide Fälle parallel, und Schuhe und Wein sind das Resultat von gleichviel Arbeit. Ohne Zweifel! Aber ist damit bewiesen, was doch bewiesen werden wollte, daß der Wertzuwachs des Weines die Folge aufgewendeter mensch- licher Arbeit war? — Nicht im mindesten. Parallel sind beide Fälle; aber sie sind auch darin parallel, daß jeder einen von McCülloch nicht er- klärten Wertzuwachs von 100 Pfund in sich schließt. Das Leder war 900 Pfund wert. Die 100 Pfund Geld werden gegen Arbeit von gleichem Wert vertauscht, die — sollte man meinen — dem Rohstoff auch 100 Pfund an Wert hinzufügt; folglich sollte das Gesamtprodukt, die Schuhe, 1000 Pfund wert sein. Es ist aber 1100 Pfund wert. Woher der Mehrwert? Doch nicht aus der Arbeit des Schuhmachers ? Denn alsdann hätte dieser, mit 100 Pfund bezahlt, dem Leder einen Mehrwert von 200 Pfund zu- gefügt, und der Kapitalist in diesem Stück mit einem Gewinn von vollen 100% gearbeitet, was wider die Voraussetzung ist. Woher also der Mehr- wert ? — Das erklärt McCülloch im Beispiel vom Leder nicht, und das ist daher noch weniger für das Beispiel vom Wein erklärt, das ja erst durch die Analogie hätte erläutert werden sollen. Aber McCüllooh gibt sich noch mehr Mühe. „Der Fall mit Baum- stämmen (timber) gibt ein noch besseres Beispiel" „Gesetzt, daß ein Baum, dra- jetzt 25 oder 30 Pfund wert ist, vor ') 1. Aufl. S. 314. McCulloch. 89 hundert Jahren mit einer Auslage von einem Schilling gepflanzt wurde, so läßt sich leicht zeigen, daß der jetzige Wert des Baumes ganz der Menge von Arbeit zu verdanken ist, die auf ihn angelegt wurde. — Ein Baum ist zugleich ein Stück Zimmerholz (timber) und eine Maschine zur Erzeugung von Zimmerholz; und obwohl die ursprünglichen Kosten dieser Maschine nur klein sind, wird das in ihr angelegte Kapital doch, da sie dem Verderben nicht ausgesetzt ist, am Ende eines langen Zeitraumes einen beträchtlichen Erfolg hervorgebracht, oder, in anderen Worten, einen beträchtlichen Wert erzeugt haben. Wenn wir voraussetzen, daß eine Maschine, die nur einen Schilling kostet, vor hundert Jahren schon erfunden worden ist; daß diese Maschine unverwüstlich war und daher keine Reparatur er- forderte; und daß sie während der ganzen Zeit mit dem Weben einer von der Natur umsonst hervorgebrachten Quantität Garns beschäftigt war, das erst jetzt vollendet wurde, so mag dieses Tuch jetzt 25 oder 30 Pfund wert sein; aber, was für einen Wert immer es besitzen mag, es ist evident (!), daß es denselben zur Gänze von der fortgesetzten Tätigkeit der Maschine, oder in anderen Worten, von der auf ihre Erzeugung aufgewendeten Arbeitsmenge ableitet"^). Also: ein Baum kostet ein paar Stunden Arbeit, die einen einzigen Schilling wert ist. Jetzt ist derselbe Baum, ohne daß inzwischen andere menschliche Arbeit auf ihn gewendet worden wäre, nicht etwa 1 Schilling, sondern 25 bis 30 Pfund wert. Und das führt McGdlloch vor nicht als Bekämpfung, sondern als einen Beweis des Satzes, daß der Wert der Güter sich ohne Ausnahme nach der Menge der Arbeit richtet, die ihre Erzeugung gekostet hat. Ein weiterer Kommentar ist wohl überflüssig*)! In den späteren Auflagen seiner Principles*) hat denn auch McCulloch 1) 1. Aufl. S. 317. ') Eine gewisse Milderung unseres Urteils würde McCulloch zustatten kommen, wenn wir annehmen könnten, er habe in den obigen Beweisgängen das Wort „Arbeit" in jenem vagen rmd verschwommenen Sinne gebraucht, in dem er später (Note I zur SiOTE-Ausgabe, Edinburgh 1863, S. 436f.) unter Arbeit „jede Art von Tätigkeit" ver- steht, sowohl die von Menschen, als auch die von Tieren, Maschinen und Naturkräften ausgeübte. Freilich würde seine Werttheorie durch eine solche Yerwässerung ihres Chrundbegriffes jedes eigenartigen Gepräges entkleidet und zu einer nichtigen Spielerei mit Worten herabgedrückt; aber wenigstens könnte man ihm dann den Vorwurf logischen Unsinns ersparen. Indes ist nicht einmal diese bescheidene Milderung zulässig. Denn McCulloch spricht sich zu oft und zu entschieden dahin aus, daß der Zins auf die zur Kapitalerzeugung verwendete menschliche Arbeit zurückzuführen ist. So z. B. in der Note 1 auf S. 22 der oben erwähnten SiUTH-Ausgabe, wo McCulloch den Zins für „den Lohn jener Arbeit erklärt, die ursprünglich auf die Bildung des Kapitales verwendet worden ist", worunter offenbar die „Arbeit" der Maschine selbst unmöglich verstanden werden kann ; und namentlich, wenn er (5. Auflage der Principles, S. 292 — 294) rücksichtlich des Beispieles vom Wein ausdrücklich erklärt, daß der Mehrwert des letzteren nicht durch die unentgeltlich wirkenden Naturkräfte erzeugt werde. *) Mir lag nur die 5. Auflage vor; ich entnehme jedoch Cansans vortrefflichwr 90 VI. Farblose Theorien. seine ganze ungeheuerliche Detailausführung des Satzes, daß Eapital- gewinn Arbeitslohn ist, fallen gelassen. An der korrespondierenden Stelle des Buches (in der 5. Auflage S. 292—294) erwähnt er zwar gleichfalls das Beispiel vom Weine, das ihm offenbar eine gewisse Verlegenheit bereitet; aber er begnügt sich negativ zu erklären, daß der Mehrwert nicht durch die Tätigkeit der Naturkräfte erzeugt wird, die ja unentgeltlich wirken. Positiv sagt er nur, daß der Wertzuwachs eine Folge des Ge- winnes ist, der dem zur Durchführung des Prozesses erforderten Kapitale zuwächst — ohne die Natur dieses Gewinnes weiter zu erklären. Auf S. 277 ist freUich der Satz, daß der Kapitalgewinn nur ein anderer Name für „Lohn früherer Arbeit" (wages of prior labour) ist, unverändert stehen geblieben! * Um die theoretische Haltlosigkeit McCullochs vollends zu charak- terisieren, will ich endlich noch zweier Äußerungen desselben gedenken. Wie um das Durcheinander zusammenhangloser Meinungen noch vollständiger zu gestalten, nimmt er einmal auch das bekannte, von Adam Smith eingeführte Interessenmotiv auf^); und als ob es an der Konfusion, die in seiner Lehre vom Kapitalzinse herrscht, noch nicht genug wäre, und er auch noch die leidlich geklärte Theorie des Arbeits- lohnes in sie verwickeln wollte, erklärt er den Arbeiter selbst für ein Kapital,' für eine Maschine, und seinen Lohn als Kapitalgewinn nebst einem Zuschlag für Abnützung der „Maschine, genannt Mensch" 2), Eine Reihe anderer Schriftsteller übergehend, die wie Whately, Chalmers und Jones nichts Belangreiches über unseren Gegenstand bringen, gelange ich zu MacLeod3). Dieser exzentrische Gelehrte zeichnet sich durch die merkwürdige Naivität aus, mit der er noch in den fünfziger Jahren, ja sogar noch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts das inzwischen mächtig ange- wachsene Zinsproblem behandelt. Ein Problem existiert für ihn gar nicht; der „Gewinn" (profit) ist ihm einfach eine selbstverständliche und not- wendige Tatsache. Der Preis verkaufter Waren, die Mietrente verliehener Kapitalstücke, der Leihzins geborgter Geldsummen „muß" über Kosten, Amortisation und Risikoprämie hinaus den „notwendigen" Gewinn tragen*). Warum? wird nicht einmal auf das oberflächlichste untersucht. Wenn MacLeod einmal die Entstehung des Darlehenszinses schüdert. „History of the theories of production and distribution" (London 1894, S.212 Note 2), daß dieselbe Änderung schon in der zweiten, 1830 erschienenen Auflage durchgeführt wurde. ^) 1. Auflage S. 221 in der Note und ganz ähnlich 6. Auflage S. 240 am Ende. *) 1. Auflage S. 319, 5. Auflage 294 und 296. *) Elements of Political Economy, London 1858; Principles of Economical Philo- Bophy, 2. Auflage, London 1872. *) Vgl. Elements S. 76, 77, 81, 202, 226 und öfters. McLeod. 91 80 wählt er die näheren Umstände des vorgeführten Beispieles geflissentlich 80, daß er die Gewinnung eines Zuwachses (increase) uus dem dargeliehenen Kapitale als eine natürliche, selbstverständliche Saclie hinstellen kann: er läßt den Kapitalisten Saatkorn und Schafe verleihen i); für ebenso selbstverständlich sieht er aber das Eintreten eines „Zuwachses" auch sonst an, wenn es sich um ein Kapital handelt, das gerade nicht in natürlich fruchtbaren Gegenständen besteht. Daß man den Kapitalgewinn auch nicht für selbstverständlich halten, daß man wohl gar seine Berechtigung bezweifeln kann, davon scheint er trotz der weiten Verbreitung, die die sozialistischen Ideen zu seiner Zeit schon hatten, noch keine Ahnung zu haben; denn ihm ist es „vollkommen klar", daß ein Mann, der sein Kapital in seinem eigenen Geschäft verwendet, berechtigt ist, den ganzen aus dieser Verwendung fließenden Gewinn für sich zu behalten, mag der Gewinn nun 20%, oder 100%, oder auch 1000% betragen; und wenn jemand, der eine nützliche Maschine erfunden hat, sein Kapital auf die Erzeugung solcher Maschinen verwendet und daraus „ungeheuren Gewinn" zieht und ein „glänzendes Vermögen" anhäuft, so wird ihm dies niemand, „der im regelmäßigen Besitz seiner Sinne ist", mißgönnen^). Dabei spielt MacLeod gegenüber fremden Zinstheorien den strengen Kritiker: er verwirft die Lehre, daß der Gewinn ein Bestandteil der Pro- duktionskosten sei 3); er polemisiert gegen die Lehre Ricardos, daß die Höhe des Gewinnes durch den Stand des Arbeitslohnes bedingt sei*); er verurteilt in gleicher Weise McCüllochs sonderbare Arbeits- und Seniors scharfsinnige Abstinenztheorie *). Daß er sich nicht einmal durch solche kritische Ausfälle anregen ließ, an die Stelle der bekämpften Meinungen irgend eine eigene positive Ansicht zu setzen, scheint mir durch zwei Eigentümlichkeiten seiner Lehre verschuldet worden zu sein. Die erste derselben liegt in der außerordent- lichen Vagheit seines Kapitalbegriffes, der im ersten und ursprünglichen Sinne soviel als Zirkulationsmacht (circulating power) bedeuten, und nur in einem „sekundären und metaphorischen Sinn" auf Güter (commodities) angewendet werden, dann aber so verschiedenartige Dinge wie Werkzeuge und Waren, Geschicklichkeiten, Fähigkeiten, Erziehung, Grund und Boden und guten Charakter umfassen soll«): eine Vielseitigkeit, die es freilich schwer macht, das Einkommen, das aus so verschiedenartigen Dingen fließt, unter einen Hut zu bringen und durch eine ausgeprägte Theorie zu erklären. Die zweite jener Eigentümlichkeiten ist aber die >) Elements S. 62f. ») Elements S. 216. ') Economical Philosophy I, 638. *) Elements S. 145. ») Principles of Ec. Phil. 1 S. 634 und II S. 62. •) Elements S. 66, dann 69i 92 VI. Farblose Theorien. übertriebene Meinung, die er vom theoretischen Werte der Formel von Angebot und Nachfrage für die Erklärung der verschiedenen Preis- erscheinungen hegte. Wenn es ihm nur gelang, irgend eine Werterscheinung auf das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, oder wie er sich in seiner Sprache gerne ausdrückt, auf das Verhältnis zwischen der „Intensität des geleisteten Dienstes und der Macht des Käufers über den Verkäufer" zurückzuführen, da glaubte er schon genug getan zu haben. Und so mochte er es vielleicht auch schon rücksichtlich des Kapitalgewinnes für genügend halten, wenn er einmal erklärte: „Aller Wert geht ausschließlich aus der Nachfrage hervor; und aller Gewinn entsteht daraus, daß der Wert eines Gutes seine Produktionskosten übersteigt"*). Während in Deutschland und England verhältnismäßig viele hervor- ragende Schriftsteller und verhältnismäßig lange eine unentschiedene Haltung gegenüber dem Zinsprobleme bewahrten, haben wir in der Lite- ratur Frankreichs nur wenige farblose Schriftsteller zu verzeichnen. Der Grund dieser Verschiedenheit ist hauptsächlich in dem Umstände zu suchen, daß hier schon einer der ersten Vermittler der SMiTHSchen Lehre, J. ß. Say, eine ausgeprägte Zinstheorie schuf, die sich gleichzeitig mit der SMiTHschen Lehre popularisierte, während dort für die allgemeine literarische Entwicklung durch geraume Zeit Smith selbst und nächst ihm Ricard o leitend blieb, die beide das Zinsproblem in bekannter Weise vernachlässigten. Ich habe daher aus der französischen Literatur hier nur drei Schrift- steller hervorzuheben, von denen zwei dem Auftreten Says noch voran- gehen: Germain Garnier, Canard und Droz. Garnier^), er noch halb in der Lehre der Physiokraten befangen ist, erklärt, gleich diesen, die Erde für die einzige Quelle alles Reichtums, und die Arbeit für das Mittel, durch das die Menschen aus dieser Quelle schöpfen (S. 9f .). Das Kapital identifiziert er mit den Vorschüssen (avances), die der Unternehmer machen muß, und den Kapitalgewinn definiert er als die Entschädigung, die man für die Vorschüsse erhält (S. 35). Einmal bezeichnet er ihn dann noch etwas prägnanter als die „Entschädigung für eine Entbehrung und für ein Risiko" (indemnit^ d'une privation et d'un risque, S. 27); ein tieferes Eingehen auf die Sache wird indes überall ver- mieden. Um Canards^) Ableitung des Kapitalzinses darzustellen, muß ich mit ein paar Worten auf die allgemeinen Grundlagen seiner Lehre zurück- greifen. ') Principles of Ec. Phil. II S. 66. ^) Abr6ge 61ementaire des principes de rficonomie Politique, Paris 1796. *) Principes d'ficonomie Politique, Paris 1801. Garnier. Caoard. 93 Canabd erblickt in der Arbeit des Menschen das Mittel zu seiner Erhaltung und Entwicklung. Ein Teil der öienschlichen Arbeit muß bloß zur Erhaltung des Menschen aufgewendet werden; ihn nennt Canabd ., notwendige Arbeit". Glücklicherweise ist aber nicht die ganze Arbeit des Menschen hierzu nötig: der Rest, die „überflüssige Arbeit", kann zur Erzeugung von Gütern aufgewendet werden, die über das unmittelbar nötige hinausgehen, und die ihrem Erzeuger einen Anspruch verschaffen, im Tauschweg über ebensoviel Arbeit zu verfügen, als ihre eigene Erzeugung gekostet hat. Arbeit ist also die Quelle alles Tauschwertes; die tausch- werten Güter sind nichts anderes als angehäufte überflüssige Arbeit (accu- mulation de travail superflu). Der Möglichkeit überflüssige Arbeit anzuhäufen verdanken die Menschen alle wirtschaftlichen Fortschritte. Durch die Anhäufung überflüssiger Arbeit werden Ländereien urbar gemacht, Maschinen gebaut, und über- haupt alle die tausend Mittel erworben, welche dazu dienen, das Produkt der menschlichen Arbeit zu vermehren. Angehäufte überflüssige Arbeit ist nun auch die Quelle aller Renten. Sie kann solche in drei Verwendungsarten bringen. Erstlich durch Ur- barung und Meliorierung von Grund und Boden; der diesem entspringende Reinertrag ist die Grundrente (rente fonciere). Zweitens durch Erwerbung persönlicher Geschicklichkeiten, Erlernung einer Kunst oder eines Hand- werkes; die durch solchen Aufwand zustande kommende „gelernte Arbeit" (travail appris) muß dann außer dem Lohn der „natürlichen" Arbeit noch eine Rente des Fonds einbringen, den man zur Erwerbung der Kenntnisse aufopfern mußte. Endlich müssen alle aus den beiden ersten „Renten- quellen" hervorgegangenen Arbeitsprodukte entsprechend verteilt werden, um von den einzelnen Individuen zur Bedürfnisbefriedigung verwendet werden zu können. Das erfordert, daß eine dritte Klasse von Eigentümern „überflüssige Arbeit" in die Anstalten des Handels investiert. Auch diese angehäufte Arbeit muß eine Rente tragen, die „rente mobiliere", gewöhnlich Geldzins genannt. Warum aber die angehäufte Arbeit in diesen drei Formen eine Rente trägt, darüber erfahren wir von Ganard so gut wie gar nichts. Die Grund- rente nimmt er als eine natürliche, nicht weiter zu erklärende Tatsache hin^); ebenso die rente industrielle, rücksichtlich deren er sich einfaeh zu sagen begnügt, daß die „gelernte Arbeit" die Rente der Kapitalien, die man zur Erwerbung der Kenntnisse aufgeopfert hat, hervorbringen muß (S. 10). Und bei der rente mobiliere, unserem Kapitalzins, schmückt ') „Die Erde ist nur deshalb in Anbau genommen worden, weil ihr Produkt imstande war, nicht allein die jährliche Kulturarbeit zu vergüten, sondern auch noch für den Vorschuß an Arbeit zu entschädigen, den ihre erste Urbarung gekostet hat Dieser Überfluß (superflu) ist es, der die Grundrente bildet" (S. 6). 94 "VI. Farblose Theorien. er mit Partikeln, die eine Erklärang zu begleiten bestimmt sind, einen Satz aus, der gar keine Erklärang enthält. „Der Handel setzt demnacii, wie die beiden anderen Rentenquellen, eine Anhäufung überflüssiger Arbeit voraus, die folglich eine Rente tragen muß" („qui doit par cons6quent produire une rente" S. 12). „Par eons6quent?" — Es ist aber gar nichts zu einem „folglich" Berechtigendes vorangegangen, wenn Canard nicht etwa den Umstand allein, daß Arbeit angehäuft worden ist, als aus- reichenden Grand für einen Rentenbezug ansieht, was er aber bis jetzt auch nirgends ausdrücklich erklärt hat: er hat wohl gesagt, daß alle Renten auf angehäufte Arbeit zurückzuführen sind, nicht aber auch, daß jede aufgehäufte Arbeit eine Rente bringen müsse, was jedenfalls etwas ganz anderes ist, und nicht allein zu behaupten, sondern auch zu beweisen gewesen wäre. Wenn man noch eine später (S. 13ff.) folgende Auseinandersetzung, daß alle drei Rentengattungen im Gleichgewicht stehen müssen, in Berück- sichtigung zieht, so kann man allerdings eine gewisse Motivierung des Kapitalzinses konstraieren, die Canard übrigens auch nicht ausdrücklich ausgesprochen hat; eine Motivierang, die im wesentlichen mit Turgots Fraktifikationstheorie übereinkommt. Wenn es nämlich eine natürliche Tatsache ist, daß ein in Grand und Boden investiertes Kapital eine Rente trägt, so müssen auch alle anderweitig angelegten Kapitalien eine Rente bringen, weil man sonst die Investierung in Grand und Boden vorziehen würde. Das Ungenügende dieser einzigen Erklärang, die sich bei Ganard wenigstens zwischen den Zeilen lesen läßt, haben wir indes schon gegen- über TuRGOT nachgewiesen. Droz^), der einige Dezennien später schreibt, hat zwischen der englischen Anschauung, wonach die Arbeit die einzige Produktivkraft ist, und der Theorie Says zu wählen, wonach das Kapital eine selbständige Produktivkraft darstellt. Er findet indes an jeder der beiden Anschauungen etwas auszusetzen, nimmt keine an, sondern stellt eine dritte Meinung auf, kraft welcher er an Stelle des Kapitales die Sparsamkeit (l'^pargne) zur elementaren Produktivkraft erhebt. Er erkennt sonach drei Produktiv- kräfte an: die Arbeit der Natur, die Arbeit des Menschen und die Spar- samkeit, welche die Kapitalien bildet (S. 69 ff.). Wenn Droz diesen Gedanken, der zunächst der Lehre von der Pro- duktion der Güter angehört, auch auf das Gebiet der Verteilung verfolgt, und zur genaueren Untersuchung der Natur des Kapitaleinkommens verwertet hätte, so wäre er wohl zur AufsteUujig einer eigenartigen Zins- theorie gelangt. Dazu ist es aber nicht gekommen. Er widmet in seiner Verteilungslehre den besten Teil seiner Aufmerksamkeit dem ausbedungenen ') £conomie Politiqae, Paris 1829. Droi. 95 Darlehenszinse, an dem nicht viel zu erklären ist, und tut den ursprüng- lichen Kapitalzins, an dem alles zu erklären wäre, mit ein paar Worten ab, in denen er jeder tieferen Erforschung seiner Natur aus dem Wege geht: er behandelt ihn nämlich als Darlehensinteressen, die der Unter- nehmer sich selbst bezahlt (S. 267f.). So tritt Droz trotz des originellen Anlaufes, den er mit der Kreierung der Produktivkraft „Sparsamkeit" genommen, nicht aus der Reihe der farblosen Schriftsteller heraus. VII. Die Produktiyitätstheorien. 1. Unterabschnitt. Orientierende Yorbemerktingen. Einige der nächsten Nachfolger von Adam Smith begannen den Kapitalzins aus der Produktivität des Kapitales zu erklären. J. B. Say ging damit 1803 voran, Lord Lauderdale folgte, von Say unabhängig, im nächsten Jahre nach. Die neue EIrklämng fand Anklang. Sie wurde in immer weiteren Kreisen angenommen und zugleich sorgfältiger aus- geführt, wobei sie sich in mehrere ziemlich stark divergierende Äste teilte. Obgleich auch mehrfach, zumal von sozialistischer Seite angegriffen, wußte sich die „Produktivitätstheorie" doch andauernd zu behaupten, und heute ^) ist wohl die Mehrheit derjenigen Schriftsteller, die sich zum Kapitalzins nicht ganz gegnerisch verhalten, in irgendeiner Nuance ihr ergeben. Der Gedanke, daß das Kapital seinen Zins selbst produziere, scheint — ob wahr oder falsch — doch wenigstens klar und eiiäach zu sein. Man möchte daher erwarten, daß die Theorien, die auf jenem Grundgedanken aufgebaut sind, sich durch die besondere Bestimmtheit und Durchsichtig- keit ihrer Gedankenfolge auszeichnen werden. In dieser Erwartung wird man sich indes vollkommen getäuscht finden. Unglücklicherweise leiden nämlich die wichtigsten Begriffe, mit denen die Produktivitätstheorien zu operieren haben, in seltenem Grade an Unbestimmtheit und Mehr- deutigkeit, und dies ist zur überreichen Quelle von Dunkelheiten, Miß- verständnissen, Verwechslungen und trügerischen Schlüssen aller Art geworden. Die Produktivitätstheorien sind von ihnen so voll, daß ich es nicht darauf ankommen lassen darf, ihnen völlig unvorbereitet zu be- gegnen und die Orientierung erst jedesmal im Flusse der Einzeldarstellung suchen zu müssen. Ich bitte daher den Leser, es sich nicht verdrießen zu lassen, wenn ich zunächst daran gehe, den Gedankenschauplatz, auf dem sich die Darstellung und Kritik der Produktivitätstheorien bewegen muß, durch ein paar Vorbemerkungen abzugrenzen und zu erleuchten. *) geschrieben im Jahre 1884. Begriff der Produktivität. 97 Namentlich zwei Dinge scheinen mir der Klarstellung dringend zu bedürfen: die Bedeutung, oder richtiger die Vielzahl der Bedeutungen des Namens „Produktivität des Kapitals"; und sodann die Natur der theoretischen Aufgabe, welche in den Produktivitätstheorien der Pro- duktivität des Kapitales zugewiesen wird. Zunächst, was soll das heißen: „das Kapital ist produktiv?" In einem allgemeinsten und schwächsten Sinn kann dieser Ausdruck nur so viel besagen wollen, daß das Kapital überhaupt zur Gütererzeugung dient — im Gegensatz zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung. Es würde dann das Prädikat „produktiv" dem Kapitale nur in demselben Sinn beigelegt, in dem man in der allgemeinen Einteilung der Güter von „Pro- duktivgütem" im Gegensatz zu „Genußgütern" spricht; und schon der geringste Grad einer produktiven Wirkung, auch wenn das Produkt nicht einmal den eigenen Wert des aufgewendeten Kapitales erreicht, würde zur Erteilung dieses Prädikates berechtigen. — Es ist von vornherein klar, daß eine Produktivität in diesem Sinn unmöglich die zureichende Ursache der Entstehung des Kapitalzinses sein könnte. Die Anhänger der Produktivitätstheorien legen denn auch der Pro- duktivität des Kapitales eine kräftigere Meinung bei. Sie verstehen — ausdrücklich oder stillschweigend — dieses Wort in dem Sinne, daß man mit Hilfe des Kapitales mehr produziert, daß das Kapital die Ursache eines besonderen produktiven Mehrerfolges ist. Auch diese Deutung spaltet sich wieder. „Mehr produzieren", „pro- duktiver Mehrerfolg" kann zweierlei bedeuten: entweder mehr Güter produzieren, oder mehr Wert produzieren, was keineswegs identisch ist. Um die verschiedene Sache auch im Namen auseinanderzuhalten, will ich die Fähigkeit des Kapitals, mehr Güter hervorzubringen, als physische oder technische Produktivität, seine Fähigkeit, mehr Wert hervor- zubringen, als Wertproduktivität des Kapitales bezeichnen. — Es ist vielleicht nicht unnötig zu bemerken, daß ich an dieser Stelle die Frage, ob das Kapital solche Fähigkeiten wirklich besitzt oder nicht, noch, ganz offen lasse; ich registriere nur die verschiedenen Bedeutungen, die dem Satze „das Kapital ist produktiv" gegeben werden könnon und gegeben worden sind. Die physische Produktivität äußert sich in einem gesteigerten Quantum von Produkten, oder wohl auch in einer verbesserten Qualität derselben. Ich will sie durch das bekannte, von Röscher gebrachte Beispiel vom Fischfang illustrieren: „Denken wir uns ein Fischervolk ohne Privat- eigentum und Kapital, das nackt in Höhlen wohnt und sich von Seefischen nährt, welche, bei der Ebbe in Uferlachen zurückgeblieben, mit bloßer Hand gefangen werden. Alle Arbeiter mögen hier gleich sein, und jeder täglich 3 Fische sowohl fangen als verzehren. Nun beschränkt ein kluger Mann 100 Tage lang seinen Konsum auf 2 Fische täglich und benutzt den Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aofl. ■ 98 VII. Die Produktivitätstheorien. 1. Unterabschnitt. Vorbemerkungen. auf solche Art gesammelten Vorrat von 100 Fischen dazu, 50 Tage lang seine ganze Arbeitskraft auf Herstellung eines Bootes und Fischnetzes zu verwenden. Mit Hilfe dieses Kapitals fängt er fortan 30 Fische täglich" i). Die physische Produktivität des Kapitals äußert sich hier darin, daß der Fischer mit seiner Hilfe mehr Fische erlangt, als er sonst erlangt hätte, dreißig statt drei. Oder, richtiger, etwas weniger als dreißig statt drei. Denn die dreißig Fische, die jetzt an einem Tag gefangen werden, sind das Erträgnis von mehr als einem Arbeitstage. Um richtig zu rechnen, muß man der Fangarbeit noch eine Quote derjenigen Arbeit zurechnen, die auf die Verfertigung von Boot und Netz gerichtet gewesen war. Dauert Boot und Netz z. B. durch 100 Tage aus und haben sie zu ihrer Anfertigung 50 Tage Arbeit erfordert, so erscheinen die 3000 Fische, die in jenen 100 Tagen gefangen werden, als das Erträgnis von 150 Arbeitstagen. Das Mehr an Produkten, das man der Kapitalverwendung zu danken hat, stellt sich also für die ganze Periode heraus mit 3000—450 = 2550 Fischen, für jeden einzelnen Tag mit 20—3 = 17 Fischen. In diesem Mehr an Produkten äußert sich die physische Produktivität des Kapitales. Und wie würde sich das Produzieren von „mehr Wert*' äußern? — Dieser Ausdruck ist abermals mehrdeutig, weil das „mehr" an verschie- denen Vergleichungsobjekten gemessen werden kann. Es kann bedeuten, daß man mit Hilfe des Kapitals eine Wertmenge erzeugt, die größer ist als jene, die man ohne Hilfe von Kapital hätte erzeugen können; auf unser Beispiel angewendet, daß die mit Hilfe des Kapitals durch Tagesarbeit gefangenen zwanzig Fische mehr wert sind als die ohne Kapital- verwendung zu fangenden drei Fische. — Jener Ausdruck kann aber auch bedeuten, daß man mit Hilfe des Kapitals eine Wertmenge produziert, die größer ist als der Wert des Kapitales selbst; mit anderen Worten, daß das Kapital einen produktiven Ertrag gibt, der größer ist als sein eigener Wert, so daß ein Mehrwert über den in der Produktion aufge- zehrten Kapitalswert erübrigt. In unserem Beispiel würde sich das so darstellen, daß die 2700 Fische, die der mit Boot und Netz ausgerüstete Fischer in 100 Tagen mehr fängt, als er ohne Boot und Netz gefangen hätte, und die sich daher als (Brutto-)Ertrag der Kapitalverwendung herausstellen, mehr wert sind als Boot und Netz selbst, wodurch nach deren Untergang noch ein Wertüberschuß zurückbleibt. Von diesen beiden möglichen Deutungen ist es die letztere, welche die Schriftsteller, die dem Kapital Wertproduktivität beilegen, gewöhnlich vor Augen haben. Ich werde darum auch, wenn ich das Wort „Wert- produktivität" ohne weiteren Zusatz gebrauche, darunter stets die Fähig- keit des Kapitales verstehen, einen seinen eigenen Wert übersteigenden Mehrwert hervorzubringen. >) Röscher, Grundlagen der Nationalökonomie 10. Aufl. § 189. Begriff der Produktivität. 99 So haben wir für den scheinbar so einfachen Satz „das Kapital ist produktiv" nicht weniger als vier von einander deutlich verschiedene Bedeutungen gefunden, die ich der Übersicht halber noch einmal neben einander stellen will. Es kann jener Satz heißen — entweder: Das Kapital hat überhaupt die Fähigkeit zur Gütererzeugung zu dienen; oder das Kapital hat die Kraft, zur Erzeugung von mehr Gütern zu dienen, als man ohne dasselbe hätte erzeugen können; oder das Kapital hat die Kraft, zur Erzeugung von mehrWertzu dienen, als man ohne dasselbe hätte erzeugen können; oder endlich das Kapital hat die Kraft zur Erzeugung von mehr Wert als es selbst hat^). Es sollte sich wohl von selbst verstehen, daß man so verschiedene Gedanken, auch wenn sie zufällig durch denselben sprachlichen Ausdruck bezeichnet werden, deshalb nicht identifizieren, und noch weniger in Beweisgängen einander beliebig substituieren darf. Es sollte sich z. B. von selbst verstehen, daß, wenn man eine Fähigkeit des Kapitales zur Gütererzeugung überhaupt;, oder zur Erzeugung von mehr Gütern zu dienen, bewiesen hat, man deshalb noch nicht berechtigt ist, eine Kraft des Kapitales zur Erzeugung von mehr Wert, als man sonst hätte er- zeugen können, oder wohl gar von mehr Wert, als es selbst hat, für bewiesen zu halten. Die letzteren Begriffe im Beweisgang den ersteren ^) Es wäre mir ein Leichtes, die obige Liste noch zu verlängern. So lassen sich innerhalb der , .physischen Produktivität" wieder zwei Nuancen unterscheiden. Die erste, im Texte ausschließlich berücksichtigte, liegt dann vor, wenn der kapitalistische Produktionsprozeß im ganzen, d. i. die vorbereitende Erzeugung des Kapitales selbst und die weitere Erzeugung mit HiUe des Kapitales zur Erzeugung von mehr Gütern geführt hat. Es kann aber auch sein, daß die erste Phase des Gesamtprozesses, die Kapitalbildung, ein so starkes Defizit aufweist, daß der kapitalistische Gesamtprozeß passiv endigt, während allerdings die zweite Phase, die Erzeugung mit dem Kapitale, für sich allein betrachtet ein Mehr an Gütern ergäbe. Gesetzt z. B. Boot und Netz, die 100 Tage dauern, hätten zu ihrer Erzeugung 2000 Tage erfordert, so fängt man unter Benutzung von Boot und Netz in zusammen 2100 Arbeitstagen nur 100 x 30 = 3000 Fische, während man mit der bloßen Hand in der gleichen Zeit 2100 x 3 = 6300 gefangen hätte. Sieht man dagegen die zweite Phase isoliert an, so zeigt sich das einmal vorhandene Kapital allerdings ,, produktiv", man fängt mit seiner Hilfe in 100 Tagen 3000, ohne seine HiKe nur 300 Fische. Spricht man um dessentwillen auch hier von einem produktiven Mehrerfolg und von einer Produktivität des Kapitales — wie man es in der Tat zu tun pflegt — , so ist das nicht unberechtigt; nur legt man jetzt diesen Ausdrücken einen ganz anderen und viel schwächeren Sinn bei als früher. — Ferner verbindet man mit der Anerkennung der Produktivität des Kapitales oft die Neben- bedeutung, daß das Kapital eine selbständige Produktivkraft sei; nicht bloß die Zwischenursache einer produktiven Wirkung, die in letzter Linie auf die kapitalbildende Arbeit zurückzuführen ist, sondern ein durchaus selbständiges Element neben der Arbeit. — Ich bin auf diese Nuancen im Texte geflissentlich nicht eingegangen, weil ich den Leser nicht mit Unterscheidungen belasten wollte, von denen ich, vorläufig wenigstens, keinen Gebrauch zu machen gedenke. 7* 100 VII. Die Produktivitätstheorien. 1. Unterabschnitt. Vorbemerkungen. unterzuschieben, hätte offenbar den Charakter der Erschleichung eines nicht erbrachten Beweises. So selbstverständlich diese Erinnerung auch ist, so muß ich sie doch ausdrücklich hervorheben, weil, wie wir sehen werden, unter den Produktivitätstheoretikern nichts gewöhnlicher ist, als die willkürliche Verwechslung jener Begriffe. Ich wende mich nun zu dem zweiten Punkte, dessen Klarstellung mir an dieser einleitenden Stelle am Herzen liegt: zur Natur der theo- retischen Aufgabe, welche die „Produktivität des Kapitales" in den Pro- duktivitätstheorien zu leisten hat. Diese Aufgabe läßt sich sehr einfach mit den Worten bezeichnen: Die Produktivitätstheorien sollen und wollen den Kapital- zins aus der Produktivität des Kapitales erklären. In diesen einfachen Worten liegt aber allerlei eingeschlossen, das genauer hervor- gehoben zu werden verdient. Gegenstand der Erklärung ist der Kapitalzins. Da es feststeht, daß der ausbedungene Kapitalzins (Leihzins) sich der Hauptsache nach auf den ursprünglichen gründet, und, wenn erst dieser befriedigend erklärt ist, leicht durch eine sekundäre Zweigerklärung getroffen werden kann, so läßt sich das Objekt der Erklärung enger begrenzen auf den ursprüng- lichen Kapitalzins. Der Tatbestand, der diesem zugrunde liegt, ist, kurz beschrielDen, folgender: Wo immer Kapital in einer Produktion verwendet wird, so zeigt die Erfahrung, daß im regelmäßigen Verlaufe der Dinge der Ertrag oder Ertragsanteil, den das Kapital seinem Eigner verschafft, einen größeren Wert hat, als die zu seiner Erlangung aufgezehrten Kapitalteile. Diese Erscheinung tritt sowohl in jenen verhältnismäßig seltenen Fällen auf, in denen Kapital allein an der Bildung eines Ertrages beteiligt war, wie z. B. bei der Verwandlung jungen Weines durch Abliegen in besseren alten Wein; als auch in den viel häufigeren Fällen, in denen Kapital mit anderen Produktionsfaktoren — Boden und Arbeit — kooperiert. Die wirtschaftenden Menschen pflegen dann aus zwingenden Gründen, deren Erörterung nicht hieher gehört, das Gesamtprodukt, obwohl es aus ungetrennter Kooperation entstanden ist, doch nach getrennten Anteilen zuzurechnen. Ein Teil wird dem Kapital als spezifischer Kapital- ertrag, ein Teil der Natur als Bodenertrag, Bergwerksertrag usw., ein Teil endlich der kooperierenden Arbeit als Arbeitsertrag zugeschrieben^). Die ') Ob die im praktischen Wirtschaftsleben den einzelnen Produktionsfaktoren zugerechneten Anteile sich genau mit den Quoten decken, die jeder von ihnen am Gesamtprodukt hervorgebracht hat, ist eine sehr bestrittene Frage, der ich an dieser Stelle nicht präjudizieren darf. Ich habe darum die im Texte gebrauchte unverfängliche Ausdrucksweise gewählt. Übrigens ist zu bemerken, daß die Mehrwerterscheinung nicht nur zwischen einzelnen zugerechneten Ertragsteilen und ihren korrespondierenden Ertragsquellen, sondern auch zwischen den hervorgebrachten und hervorbringenden Natur der theoretischen Aufgabe. 101 Erfahrung zeigt nun, daß die auf den Anteü des Kapitales entfallende Quote des Gesamtproduktes, der Bruttoertrag des Kapitales, in aller Regel mehi wert ist, als der zu seiner Erlangung gemachte Kapitalaufwand. Hiedurch erübrigt ein Wertüberschuß, ein „Mehrwert", der in den Händen des Kapitaleigentümers zurückbleibt und seinen ursprünglichen Kapitalzins konstituiert. Wer daher den Kapitalzins erklären will, muß das Auftreten des „Mehrwertes" erklären. Das Problem wird also genauer bestimmt lauten: warum ist der Bruttoertrag des Kapitales regelmäßig mehr wert, als die in seiner Erlangung aufgezehrten Kapitalteile? oder mit noch anderen Worten: warum besteht eine ständige Wertdifferenz zwischen dem aufgewendeten Kapitale und seinem Ertrage?^) — Gehen wir weiter. Diese Wertdifferenz sollen und wollen die Produktivitätstheorien aus der Produktivität des Kapitales erklären. Erklären, das heißt ihre volle zureichende Ursache aufdecken, nicht etwa bloß eine Bedingung nennen neben anderen unaufgeklärten Bedin- gungen. Nachweisen, daß ohne Produktivität des Kapitales der Mehr- wert nicht existieren könnte, hieße so wenig ihn aus der Produktivität des Kapitales erklären, als es heißt die Grundrente erklären, wenn man nachweist, daß sie nicht ohne Fruchtbarkeit des Bodens existieren kann, oder als man behaupten könnte, den Regen erklärt zu haben, wenn man nachgewiesen hat, daß das Wasser ohne seine Schwerkraft nicht zur Erde fallen könnte. Soll der Mehrwert aus der Produktivität des Kapitales erklärt sein, so ist dazu nötig, daß eine derartige produktive Kraft des Kapitales be- wiesen oder einleuchtend gemacht wird, die entweder für sich allein oder in Verbindung mit anderen Faktoren, die dann aber gleichfalls in die Erklärung einzubeziehen sind, die volle zureichende Ursache der Entstehung des Mehrwertes abzugeben imstande ist. Dieses Verhältnis könnte denkbarerweise in dreierlei Gestalt er- füllt sein: 1. Wenn nachgewiesen oder einleuchtend gemacht wäre, daß das Kapital eine Kraft in sich besitzt, die geradezu auf die Kreierung von Wert gerichtet ist, eine Kraft, durch die das Kapital den Gütern, an deren physischer Herstellung es beteiligt ist, auch den Wert gleichsam Gütern im ganzen platzgreift. Die Gesamtheit der in ein Produkt verwendeten Pro- duktionsmittel, Arbeit, Kapitalien und Bodennutzungen, hat regelmäßig einen kleineren Tauschwert, als später das fertiggestellte Produkt — ein Umstand, der es schwer macht, die Erscheinung des ,, Mehrwertes" auf bloße Verhältnisse der Zurechnung innerhalb des Ertrages zurückzuführen. ') Über die Problemstellung vgl. auch meine „Rechte und Verhältnisse", Inns- bruck 1881, S. 107ff. 102 VII. Die Produktivitätstheorien. 1. Unterabschnitt. Vorbemerkungen. aJs wirtschaftliche Seele einzuhauchen imstande wäre. (Wertproduktivität im buchstäblichsten und denkbar ausgezeichnetsten Sinne.) 2. Wenn nachgewiesen oder einleuchtend gemacht wäre, daß das Kapital durch seine Dienste zur Erlangung von mehr oder brauchbareren Gütern verhilft, und es zugleich unmittelbar einleuchtend wäre, daß die mehreren und besseren Güter auch mehr wert sein müssen als das zu ihrer Erzeugung verbrauchte Kapital. (Physische Produktivität mit Mehrwertentstehung als selbstverständlicher Folge.) 3. Wenn nachgewiesen oder einleuchtend wäre, daß das Kapital durch seine Dienste zur Erlangung von mehr oder brauchbareren Gütern verhilft, und zugleich ausdrücklich nachgewiesen wird, daß und warum die mehreren und besseren Güter auch mehr wert sein müssen, als das zu ihrer Erzeugung verbrauchte Kapital. (Physische Produktivität mit ausdrücklich motivierter Mehrwertwirkung.) Dies sind meines Erachtens die einzigen Modalitäten, unter denen die Produktivität des Kapitales als zureichender Grund des Mehrwertes erscheinen kann. Eine Berufung auf die Kapitalsproduktivität, die außer- halb dieser Formen geschähe, würde von vornherein keine erklärende Kraft haben können. Wenn man sich z. B. auf die physische Produktivität des Kapitales beruft, es aber weder selbstverständlich noch ausdrücklich bewiesen wäre,, daß den vermehrten Gütern auch ein ,, Mehr wert" ent- spricht, so wäre eine solche Produktivität offenbar keine adäquate Ursache der zu erklärenden Wirkung. Die historische Entwicklung der wirklichen ist hinter dem abstrakten Schema der möglichen Produktivitätstheorien an Gestaltenreichtum nicht zurückgeblieben: jeder der möglichen Erklärungstypen unseres ' Schemas hat im historischen Verlaufe seine Vertretung gefunden. Die starke innere Verschiedenheit, die zwischen den einzelnen typischen Richtungen besteht, legt es nahe, auch zum Zweck der Darstellung und Kritik die Produk- tivitätstheorien nach Gruppen zu teilen. Die Gruppierung wird sich an unser Schema anlehnen, aber ihm nicht ganz genau folgen. Jene Pro- duktivitätstheorien, welche die beiden ersten Typen repräsentieren, haben nämlich in ihrer Erscheinung so viel gemeinsames, daß sie vom Dogmen- historiker zweckmäßig vereinigt zu behandeln sind; während sich inner- halb des dritten Typus so bedeutende Differenzen zeigen, daß hier eine weitere Abteilung angemessen erscheint. 1. Jene Produktivitätstheorien, welche eine direkte wertzeugende Kraft des Kapitales behaupten (1. Typus), sowie jene, welche zwar von der physischen Produktivität des Kapitales ihren Ausgang nehmen, aber mit dieser die Erscheinung des Mehrwertes selbstverständlich und not- wendig verbunden glauben (2. Typus), kommen darin überein, daß sie von der behaupteten Produktivität unmittelbar und ohne erklärendes Zwischenglied auf den „Mehrwert" schließen. Sie behaupten einfach, Zweige der Produktivitätstheorie. 103 daß das Kapital produktiv sei, fügen allenfalls eine Schilderung seiner produktiven Wirksamkeit hinzu, die indes in ganz äußerlicher Weise gehalten ist, und endigen sehr rasch damit, daß sie den Mehrwert auf die Rechnung der behaupteten Produktivität setzen. Ich werde diese Lehren unter dem Namen der „naiven Produktivitätstheorien" zusammen- fassen. Die Knappheit der Motivierung, zu der dieselben ihrer Natur nach hinneigen, wird nicht selten so groß, daß es nicht einmal klar wird, ob der Verfasser dem ersten oder dem zweiten Typus anhängt; ein Grund mehr, um beide ineinander fließenden Richtungen auch in der dogmengeschicht- lichen Betrachtung zu vereinigen, 2. Jene Theorien, welche ihren Ausgangspunkt bei der physischen Produktivität des Kapitales nehmen, aber es nicht für selbstverständlich ansehen, daß die Ergiebigkeit an Produkten auch mit einem „Mehrwert" verbunden sei, und demgemäß ihre Erklärung noch auf das Gebiet des Wertes hinüberzuspinnen für notwendig erachten, werde ich motivierte Produktivitätstheorien nennen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie der Behauptung und Schilderung der Produktivität des Kapitales einen mehr oder weniger gelungenen (ledankengang anfügen, der den Zweck hat darzutun, daß und warum die produktive Ejaft des Kapitales zur Eastenz eines dem Kapitalisten zufallenden Mehrwertes führen müsse. 3. Von den motivierten Produktivitätstheorien löst sich endlich eine Gruppe von Theorien ab, welche zwar, wie jene, an die physische Pro- duktivität des Kapitales anknüpfen, aber den Nachdruck der Erklärung auf die selbständige Existenz, Wirksamkeit und Aufopferung von Nutzungen des Kapitales legen. Ich werde diese Theorien Nutzungs- theorien nennen. Da sie in der Produktivität des Kapitales zwar eine Bedingung, aber nicht mehr die Hauptursache der Entstehung des Mehr- wertes erblicken, verdienen sie den Namen Produktivitätstheorien nicht mehr voll. Ich habe es daher vorgezogen, sie auch äußerlich von jenen zu trennen und ihnen einen selbständigen Abschnitt zu widmen. 2. Unterabschnitt. Die naiven Produktivitätstheorien. Ihr Begründer ist J. B. Say. Die Ansichten Says über den Ursprung des Kapitalzinses darzu- stellen, gehört zu den unerquicklichsten Aufgaben des Dogmenhistorikers. Denn während dieser Schriftsteller durch glatte, runde Worte, die er meisterlich zu setzen weiß, seiner Meinung in hohem Grade den äußeren Anschein von Klarheit zu geben versteht, läßt er es in Wahrheit an einem scharfen Ausdruck dessen, was er denkt, gänzlich fehlen, und die zahl- 104 VII. Produkfcivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. reichen Bemerkungen, in die er seine Zinstheorie zersplittert, zeigen leider nicht geringe Widersprüche. Es scheint mir nach sorgfältiger Prüfung überhaupt unmöglich, dieselben als Ausfluß einer dem Geist des Schrift- stellers vorschwebenden Theorie zu deuten; sondern Sa y schwankt zwischen zwei Theorien, von denen er keine in besonderer Klarheit ausführt, die aber jedenfalls von einander zu sondern sind. Eine derselben ist ihrem Wesen nach eine naive Produktivitätstheorie; die andere enthält den ersten Keim der Nutzungstheorien. So nimmt Say trotz der Unklarheit seiner Ansichten eine hervorragende Stellung in der Dogmengeschichte des Kapitalzinses ein. Er bildet eine Art Knotenpunkt, an dem zwei der wichtigsten theoretischen Richtungen ihren Anfang nehmen. Für die Darstellung von Says Ansichten muß von seinen beiden Hauptwerken, dem Trait6 d'Economie politique^) und dem Cours complet d'Economie politique pratique^) fast ausschließlich das erste als Quelle dienen. Denn der Cours complet weicht allen prägnanten Äußerungen fast vollständig aus. Nach Say entstehen alle Güter durch das Zusammenwirken dreier Faktoren: der Natur (agents naturels), des Kapitals und der menschlichen Arbeitskraft (facult§ industrielle). Diese Faktoren erscheinen als die „produktiven Fonds", aus denen alle Güter einer Nation stammen, und die das Grundvermögen (fortune) derselben ausmachen 3). Die Güter entstehen indes nicht unmittelbar aus den Fonds. Sondern jeder Fonds erzeugt zunächst ,, produktive Dienste" (services productifs), und erst aus diesen gehen dann die eigentlichen Produkte hervor. Die produktiven Dienste bestehen in einer Tätigkeit (action) oder Arbeit (travail) des Fonds. Der fonds industriel leistet seinen Dienst durch die Arbeit des produzierenden Menschen; die Natur durch die Tätigkeit der Naturkräfte, durch die Arbeit des Bodens, der Luft, des Wassers, der Sonne usw.*); wie endlich die produktiven Dienste des Kapitals vor- zustellen seien, darüber erhalten wir eine weniger scharf bezeichnende Auskunft, Say sagt in seinem Traitö einmal recht vage: „Sie (die Kapi- talien) müssen sozusagen mit der menschlichen Tätigkeit zusammenarbeiten, und diese Mittätigkeit nenne ich den produktiven Dienst der Kapitalien" (c'est ce concours que je nomme le service productif des capitaux^)). Er verheißt dabei allerdings für späterhin eine genauere Aufklärung über die produktive Wirksamkeit der Kapitalien, beschränkt sich aber bei der Erfüllung dieses Versprechens darauf, die Veränderungen (transformations) zu beschreiben, welche die Kapitalien in der Produktion erleiden. Auch ') Erschienen 1803; ich zitiere nach der 7. Auflage, Paris, Guillaumin & Cie., 1861. ') Paris 1828 und 1829. ") Cours I S. 234ff. *) Traite S. 68f. ») I. Buch III. Kap. S. 67 a. E. Say. 105 der Cours complet gibt keine vollkommene Anschauung von der Arbeit des Kapitales, Er sagt einfach, ein Kapital arbeitet, wenn man es in pro- duktiven Operationen verwendet (On fait travailler un capital. lorsqu'on l'emploie dans des Operations productives; I S. 239). Nur indirekt erfahren wir aus den häufig wiederkehrenden Parallelen, daß Say sich die Arbeit des Kapitals vollkommen gleichartig mit der Arbeit des Menschen und der Naturkräfte vorstellt. — Wir werden noch sehen, wie die Unbestimmt- heit, in der Say solcherart den vieldeutigen Ausdruck „service" rücksicht- lich der Mitwirkung des Kapitals zurückläßt, ihre üblen Früchte tragen sollte. — Ein Teil der ,,agents naturels" ist nicht ins Privateigentum genommen und leistet seine produktiven Dienste umsonst: das Meer, der Wind, die physischen und chemischen Wechselwirkungen der Stoffe usw. Die Dienste der anderen Faktoren, der menschlichen Arbeitskraft, des Kapitals und der appropriierten Naturkräfte (zumal des Grundes und Bodens) müssen aber ihren Eigentümern vergolten werden. Die Vergeltung geschieht aus dem Wert der durch jene Dienste hervorgebrachten Güter. Dieser Wert wird unter alle jene verteilt, die — durch Beisteuer von Services productifs ihrer Fonds — an seiner Erzeugung mitgewirkt haben. Nach welchem Verhältnis ? — darüber entscheidet schließlich das Verhältnis von Angebot und Nachfrage nach den einzelnen Arten von Diensten. Als Organ der Verteilung fungiert der Unternehmer, der die zur Produktion nötigen Dienste ankauft und nach der Marktlage bezahlt. Auf diese Weise erhalten die Services productifs einen Wert, der vom Wert des Fonds selbst, von dem sie ausgehen, wohl zu unterscheiden ist 2). Die „Dienste" bilden auch das wahre Einkommen (revenu) ihrer Eigentümer. Sie sind das, was ein Fonds seinem Eigentümer in Wahrheit trägt. Wenn er sie verkauft oder im Wege der Produktion Produkte dafür „eintauscht", so ist das nur eine Formveränderung, die das Einkommen erleidet. Alles Einkommen ist aber, der Dreiheit der produktiven Dienste entsprechend, dreierlei Art: es ist teils Arbeitseinkommen (profit de l'industrie), teils Grundrente (profit du fonds de terre), teils Kapital- gewinn (profit oder revenu du capital). Zwischen allen drei Zweigen herrscht eine eben so vollständige Analogie wie zwischen den verschiedenen Arten der Services productifs selbst'); alle stellen den Preis eines produktiven Dienstes dar, dessen sich der Unternehmer bedient hat, um ein Produkt zu schaffen. Hiemit hat Say eine äußerlich recht glatte Erklärung des Kapital- gewinnes gegeben. Das Kapital leistet produktive Dienste; diese müssen *) Kap. X des I. Buches. ») Traitö S. 72, 343f. •) Cours IV, 64. 106 VII. Produktivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. seinem Eigentümer honoriert werden: das Honorar ist der Kapitalgewinn. Das Plausible dieses Gedankenganges wird noch wesentlich erhöht durch die überall gesuchte Anlehnung an den ganz einleuchtenden Vorgang, der im Arbeitslohn liegt. Das Kapital arbeitet, geradeso wie der Mensch, seine Arbeit muß geradeso honoriert werden wie die des Menschen; der Kapitalzins ist ein getreues Abbild des Arbeitslohnes. Geht man jedoch tiefer ein, so beginnen die Schwierigkeiten und damit auch die Widersprüche Says. Wenn die Produktivdienste des Kapitales durch eine aus dem Produkt- werte zu entnehmende Wertmenge honoriert werden sollen, so muß vor allem eine zu diesem Zweck disponible Wertmenge überhaupt da sein. Es drängt sich nun die naheliegende Frage auf, auf welche die Zinstheorie jedenfalls Bescheid zu geben verpflichtet ist: warum ist denn jene Wertmenge jedesmal da? Konkreter gesprochen: warum besitzen jene Produkte, an deren Entstehung Kapital mitgewirkt hat, regelmäßig einen so hohen Wert, daß aus demselben, nachdem die anderen koope- rierenden Services productifs, Arbeit und Bodennutzung, nach dem üblichen Marktpreise honoriert sind, für die Entlohnung der Kapitaldienste noch etwas übrig bleibt ? und zwar genug übrig bleibt, um diese Dienste gerade im Verhältnis zur Größe und Dauer der Kapitalanwendung zu entlohnen ? Warum wird z. B. ein Gut, welches zu seiner Erzeugung Arbeit-und Boden- nutzungen im Werte von 1000 Fr. erfordert, und dessen Herstellung so lange dauert, daß der für den Ankauf jener Dienste gemachte Kapital- vorschuß von 1000 Fr. sich nach einem Jahre ersetzt, nicht 1000 Fr., sondern mehr als 1000 Fr., etwa 1050 Fr. wert sein? Und warum wird ein anderes Gut, das genau gleichviel Arbeit und Bodennutzungen gekostet hat, dessen Herstellung aber doppelt so lange dauert, nicht 1000 oder 1050 Fr., sondern 1100 Fr. wert sein, wodurch es möglich wird, die Services productifs des Kapitales von 1000 Fr. für zwei Jahre angemessen zu be- lohnen ?i) — Man wird leicht wahrnehmen, daß dies eine der SAYSchen Theorie angepaßte Formulierung der Frage nach dem ,, Mehrwert" ist, die den Kern des Zinsproblems ausmacht. Letzterer ist durch das, was wir bis jetzt von Say gehört, noch gar nicht berührt, wir schreiten erst jetzt an ihn heran. Say spricht sich über den Existenzgrund jenes Wertes nicht mit der wünschenswerten Unzweideutigkeit aus. Seine Äußerungen lassen sich in zwei Gruppen scheiden, zwischen denen ein ziemlich scharfer Kontrast besteht. In einer Gruppe legt Say dem Kapital eine direkt wertschaffende Kraft bei: der Wert ist da. weil das Kapital ihn geschaffen hat, und die produktiven Dienste des Kapitals werden honoriert, weil der dazu nötige ^) Ich führe im Beipsiele neben dem Aufwand an Arbeit und Bodennutzungen keinen separaten Aufwand an verbrauchter Kapitalsubstanz auf, weil sich der letztere nach Say gänzlich in den Aufwand an elementaren Produktivdiensten auflösen läßt. Say. 107 Mehrwert geschaffen ist. Hier ist also die Honoriening der Produktiv- dienste des Kapitals die Folge des Daseins von Mehrwert. In der zweiten Gruppe von Äußerungen kehrt dagegen Say das Kausal- verhältnis just um, indem er die Honorierung der Kapitaldienste als die Ursache, als den Existenzgrund des Mehrwertes hinstellt. Die Produkte haben überhaupt Wert deshalb, weil die Eigentümer der Services pro- duetifs, aus denen sie entstehen, eine Honorierung verlangen, und sie haben speziell einen genug hohen Wert, um einen Kapitalgewinn übrig zu lassen, weil die Mitwirkung des Kapitals nicht umsonst zu erlangen ist. In die erste Gruppe fällt abgesehen von den zahlreichen Äußerungen, in denen Say allgemein von einer ,,facult6 productive" und einem „pouvoir productif" des Kapitales spricht, namentlich eine polemische Anmerkung im rV. Kapitel des I. Buches seines „Trait§" (S. 71 Anm. 2). Say pole- misiert hier gegen Smith, der die produktive Macht der Kapitalien ver- kannt habe, indem er den vermittelst des Kapitals erzeugten Wert der Arbeit zuschreibe, durch die das Kapital selbst, z. B. eine Ölmühle einst hervorgebracht worden war. ,, Smith täuscht sich; das Produkt dieser vorausgegangenen Arbeit ist, wenn man will, der Wert der Mühle selbst; aber der Wert, der täglich durch die Mühle erzeugt wird, ist ein anderer ganz neuer Wert, gerade so wie der Pachtnutzen eines Grundstückes ein anderer Wert ist, als der des Grundstückes selbst, ein Wert, den man verzehren kann, ohne den des Grundstückes zu vermindern." Und nun fährt Say fort: „Wenn ein Kapital nicht in sich selbst eine Produktivkraft hätte, die unabhängig ist von der Arbeit, die es geschaffen (si un capital n'avait pas en lui-meme une facult§ productive ind^pendente de celle du travail qui l'a cr§6), wie könnte es geschehen, daß ein Kapital in alle Ewigkeit ein Einkommen einbringt, unabhängig vom Gewinn der industriellen Tätigkeit, die es beschäftigt?" Also, das Kapital schafft Wert und diese Fähigkeit ist die Ursache des Kapital- gewinnes. Und mit einer ähnlichen Wendung sagt Say ein andermal: „Le capital emploiö paie les Services rendus, et les Services rendus produisent la valeur qui remplace le capital employ6"^). In die zweite Gruppe reihe ich zunächst eine Äußerung, die zwar nicht den Kapitalgewinn direkt angeht, aber ganz analoge Anwendung auch auf ihn finden muß. „Jene natürlichen Kräfte", sagt Say einmal*), „welche der Appropriation unterliegen, werden zu wertschaffenden Fonds (deviennent des fonds productifs de valeur), weil sie ihre Mitwirkung nicht ohne Vergeltung bieten ..." Femer wird der Preis der Produkte wiederholt in Abhängigkeit gesetzt von der Höhe der Vergütung der Services productifs, die zu ihrer Entstehung mitgewirkt: „Ein Produkt ') Buch II Kap. VIII § 2, S. 396 Anm. 1. «) Buch I Kap. IV am Ende. 108 VII. Produktivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. wird also desto teurer sein, je nachdem seine Erzeugung nicht allein mehr produktive Dienste, sondern auch höher vergütete (plus fortement r^tribü^s) produktive Dienste erfordert," „Der Preis wird sich desto höher erheben, ein je lebhafteres Bedürfnis die Konsumenten nach dem Genüsse des Produktes fühlen, je mehr Zahlungsmittel sie besitzen, und eine je höhere Vergütung die Verkäufer der produktiven Dienste zu heischen in der Lage sind"^). Den Kapitalgewinn speziell geht aber endlich eine markante Stelle im Anfang des VIII. Kapitels des IL Buches an: „Die Unmöglichkeit, ein Produkt ohne die Mitwirkung eines Kapitals zu erlangen, zwingt die Konsumenten für jedes Produkt einen Preis zu bezahlen, der genügend ist, damit der Unternehmer, der die Erzeugung auf sich nimmt, den Dienst jenes notwendigen Instrumentes kaufen kann." Also der oben zitierten Stelle^) gerade entgegengesetzt: während dort die Entlohnung des Kapi- talisten aus dem Dasein des „geschaffenen" Mehrwertes erklärt wurde, wird hier das Dasein des Mehrwertes aus der unvermeidlichen Entlohnung des Kapitalisten erklärt. Dieser letzteren Auffassung entspricht es auch, daJä Say den Kapitalgewinn als einen Bestandteil der Produktionskosten auffaßt 3). Solche Widersprüche sind die ganz natürliche Folge der Unsicherheit, die Say in seiner ganzen Werttheorie "zeigt, in der er ebenso oft gegen die von Smith und Eicakdo vertretene Kostentheorie polemisiert, als er selbst in sie verfällt. Recht bezeichnend für diese Unsicherheit ist unter anderem auch, daß Say einerseits in den oben zitierten Stellen (Traite S. 315 und 316) den Wert der Produkte aus dem Wert ihrer Services pro- ductifs, ein andermal dagegen umgekehrt den Wert der fonds productifs wieder aus dem Wert der Produkte ableitet, die aus ihnen entstehen: „leur valeur (des fonds productifs) vient donc de la valeur du produit qui peut en sortir*)!" — Eine wichtige Stelle, auf die ich bei einer späteren Gelegenheit noch zurückkommen werde. Ich glaube nach dem Gesagten Say nicht Unrecht zu tun, wenn ich annehme, daß er sich über den letzten Grund des Kapitalzinses keine klare Meinung gebildet hatte, sondern unsicher zwischen zwei Meinungen schwankt: kraft der einen entsteht der Kapitalzins, weil das Kapital ihn produziert, kraft der anderen, weil der Kostenbestandteil „Services pro- ductifs des Kapitales" eine Vergütung heischt. Zwischen beiden Meinungen herrscht eine starke innere Verschieden- heit, eine stärkere, als man auf den ersten Blick vielleicht meinen möchte. Die erste behandelt die Zinserscheinung überwiegend als Produktions- ') Buch II Kap. I S. 316f. «) Trait6 S. 71 Anm. 2. ») Trait6 S. 396. •) Trait6 S. 338. . Say. 109 problem, die zweite als Verteilungsproblem. Die erste schließt ihren Erklärungsgang, indem sie sich einfach auf eine Produktionstatsache beruft: das Kapital produziert den Mehrwert, darum ist er da, jede weitere Frage ist überflüssig. Die zweite Theorie stützt sich nur nebenbei auf die Mitwirkung des Kapitales an der Produktion, die sie allerdings voraus- setzt; ihren Schwerpunkt findet sie jedoch in Gründen, die auf die Ver- hältnisse der gesellschaftlichen Wert- und Preisbildung Bezug nehmen. Mit der ersten Meinung steht Say in der Reihe der reinen Produktivitäts- Theoretiker, mit der zweiten eröffnet er die Reihe der hochinteressanten und theoretisch bedeutenden „Nutzungstheorien" ^). Dem angenommenen Darstellungsplane folgend, sehe ich von Says Nutzungstheorie einstweilen ab, um den Entwicklungsgang weiter zu ver- folgen, den die naive Produktionstheorie nach Say genommen hat. Genau genommen kann von einer Entwicklung hier nicht die Rede sein. Denn da das hervorstechendste Merkmal der naiven Produktivitäts- Theorien in der Schweigsamkeit liegt, mit der sie über die ursächliche Beziehung der Produktivität des Kapitals zu ihrer angeblichen Wirkung, dem „Mehrwert" der Produkte, hinweggehen, so fehlt es an einem Substrat, an dem sich eine Entwicklung hätte vollziehen können. Der historische Verlauf der naiven Produktivitätstheorien bietet daher nichts als eine etwas monotone Reihe von Variationen des einfachen Gedankens, daß das Kapital den Mehrwert produziert, während eine wahrhafte Ent- wicklung erst auf der nächstfolgenden Stufe, auf der der motivierten Produktivitätstheorien, zu erwarten ist. Die naive Produktivitäts-Theorie hat die stärkste Zahl ihrer Anhänger in Deutschland gefunden; nächstdem in Frankreich und Italien, während die Engländer, deren Geistesrichtung den Produktivitätstheorien überhaupt nicht günstig zu sein scheint, und die überdies schon seit Lord Lauderdale ') Cassel, dessen dogmenhistorische Urteile den meinigen fast immer diametral entgegengesetzt sind, erblickt auch bei Say in dem, was mir als Zwiespältigkeit und widerspruchsvolles Schwanken seiner Erklärungen erscheint, nur eine rühmenswerte Vollständigkeit derselben und ein geniales Erfassen der Idee der „wechselseitigen Ab- hängigkeit" der ökonomischen Erscheinungen (Nature and necessity of interest, S. 26f., dann 55ff., besonders 60). Über die letztere Frage habe ich mich schon vorlängst in meinem Aufsatz über „Wert, Kosten und Grenznutzen" in Conrads Jahrbüchern 3. Folge Bd. 3 (1892) S. 359f. und neuerdings im Exkurs VIII zur 3. Aufl. meiner „Posi- tiven Theorie" S. 235ff. ebenso deutlich als ausführlich ausgesprochen. Auch sonst scheinen mir zwei widersprechende Hälften kein Ganzes zu bilden. Cassel pflegt aber — was ja bis zu einem gewissen Grade ganz natürlich ist — seine dogmenhistorischen Urteile nach dem Verhältnis zu orientieren, in welchem die beurteilten Lehren zu seinen eigenen Ansichten stehen oder ihm zu stehen scheinen, und stößt sich darum nicht an Fehlem, die — nach meinem Urteile wenigstens — auch Fehler seiner eigenen Theorie sind; über diese letztere siehe meinen Exkurs XIII S. 438ff. 110 VII. Produktivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. eine motivierte Produktivitäts-Theorie besaßen, die Phase der naiven Theorie ganz übersprungen haben. In Deutschland kam das von Say ausgegebene Schlagwort von der „Produktivität des Kapitals" rasch in Aufnahme. Wenn man anfangs auch noch keine ausgebildete Zinstheorie darauf gründete, so wurde es doch bald gebräuchlich, das Kapital als dritten selbständigen Produktions- faktor neben Natur und Arbeit anzuerkennen, und die Dreiheit der Eia- kommenszweige Grundrente, Arbeitslohn und Kapitalrente mit der Drei- heit der Produktionsfaktoren in erklärende Verbindung zu bringen. Etliche Schriftsteller, die dies in noch unentschiedener Weise tun, und die auch noch Vorstellungen von einem anderweitigen Ursprung des Kapitalzinses darunter mischen, habe ich im vorigen Abschnitt unter den „farblosen" Theoretikern aufgeführt. Bald begann man aber den Gedanken Says entschiedener zur &- klärung des Kapitalzinses zu verwenden. Dies geschieht bereits durch Schön 1). Er macht die Erklärung noch sehr kurz. Er nimmt zunächst, in ziemlich gemäßigten Worten, für das Kapital die Eigenschaft einer „dritten eigentümlichen, wenn auch mittelbaren Güterquelle" in Anspruch (S. 47). Damit gilt es ihm aber auch schon für ausgemacht und evident, daß das Kapital eine Kente abwerfen muß. Denn „der Ertrag gehört ursprünglich denen, die zu seiner Hervorbringung zusammenwirkten" (S. 82), und „es ist klar, daß der Nationalerlös so viele eigentümliche Renten absetzen müsse, als es Kategorien produktiver Kräfte und Mittel gibt" (S. 87). Eine weitere Begründung wird — sehr charakteristisch — nicht für nötig gehalten. Sogar die Gelegenheit einer Polemik, die Schön gegen Smith führt, entlockt ihm keine umständliche Motivierung der eigenen Meinung. Er begnügt sich in allgemeinen Redewendungen Smith zu tadeln, daß er nur die unmittelbaren Arbeiter als Teilnehmer der Pro- duktion betrachtet, und den produktiven Charakter von Kapital und Grundstücken übersehen habe, wodurch er zu der irrigen Meinung ge- kommen sei, daß die Kapitalrente in einer Schmälerung des Arbeits- lohnes ihren Grund habe (S. 85 ff.). Ausführlicher und mit großer Entschiedenheit vertritt Riedel*) die neue Lehre. Er widmet ihrer Darstellung einen besonderen Paragraphen, dem er die Überschrift „Produktivität des Kapitales" gibt, und in dem er sich unter anderem folgendermaßen äußert: „Die Produktivität, welche das Kapital in der Kapitalsanwendung im allgemeinen besitzt, wird aus der Wahrnehmung erkannt, daß sachliche Werte, welche zwecks einer Produktion zur Unterstützung der Natur und der Arbeit verwendet worden, in der Regel nicht nur selbst hergestellt werden, sondern auch zu einem Überschusse sachlicher Werte, welcher ohne sie ') Neue Untersuchung der Nationalökonomie, Stuttgart und Tübingen 183B. ') Nationalökonomie oder Volkswirtschaft, Berlin 1838. Deutschland. Schön, Riedel, Röscher. Hl nicht entstanden sein würde., verhelfen. . . . Produkt des Kapital- aufwandes ist der jedesmalige Erfolg einer Kapitalanwendung für die Entstehung sachlicher Werte nach Abzug des Wertes der Beihilfe, welche die Natur und die Arbeit zur Anwendung des Kapitales geleistet. . . . Immer ist es unrichtig, das Produkt eines Kapitales mit auf Rechnung der wirkenden Kräfte zu schreiben, deren es, um in Anwendung zu kommen, bedarf, der Natur- oder der Arbeitskräfte. Das Kapital ist eine selb- ständige Größe, wie diese es sind, und bedarf ihrer in den meisten Fällen auch nicht mehr, wie sie seiner bedürfen" (I § 366). Höchst bezeichnend ist hier, daß Riedel die Produktivität des Kapitales an der Wahrnehmung des Wertüberschusses „erkennt". Mehr- wert und Produktivität scheinen ihm so unzertrennlich und selbstver- ständlich zusammen zu gehören, daß er aus der Tatsache des Mehrwertes auf die Produktivität des -Kapitales, gleich wie auf die einzig denkbare Ursache des ersteren, zurück schließt. Bei dieser Sachlage dürfen wir uns nicht wundem, daß auch Riedel mit der bloßen Nennung des Schlag- wortes „Produktivität des Kapitales" die Frage nach dem Existenzgrund des ursprünglichen Kapitalzinses für vollkommen erledigt hält und nirgends auf eine genauere Motivierung des letzteren mehr eingeht. Mehr als irgend ein anderer Schriftsteller hat aber wohl Wilhelm Röscher zur Popularisierung der Produktivitätstheorie in Deutschland beigetragen. Dieser ausgezeichnete Gelehrte, dessen wesentlichste Verdienste freilich nicht auf dem Gebiete scharfer dogmatischer Untersuchungen liegen, hat auf die theoretische Durchführung der Lehre vom Kapitalzins leider eine sehr geringe Sorgfalt verwendet. Dies zeigt sich schon äußerlich an allerlei auffälligen Mißgriffen und Inkongruenzen. So definiert er z. B. im § 179 seines Hauptwerkes^) den Kapitalzins als Preis der Kapital- nutzungen, wiewohl diese Definition offenbar nur auf die ausbedungene, nicht auch auf die „natürliche" Kapitalrente paßt, die Röscher doch im selben Paragraph als eine Art des Kapitalzinses nennt. So erklärt er im § 148, daß der ursprüngliche Betrag aller Einkommenszweige „offenbar" den ausbedungenen Betrag derselben, also auch der Betrag der natürlichen Kapitalrente den Betrag der ausbedungenen Kapitalrente, bestimme. Trotzdem löst er im § 183 die Frage nach der Höhe des Zinsfußes nicht an der maßgebenden ursprünglichen Kapitalrente, sondern an der nicht maßgebenden Leihzinsrente. Er läßt den Preis der Kapitalnutzungen abhängen von Angebot und Nachfrage „zunächst der umlaufenden Kapi- talien"; die Nachfrage wieder „von der Menge und Zahluijgsfähigkeit der Begehrenden, zumal der Nichtkapitalisten, also Grundbesitzer und Arbeiter"; so daß es in Roschers Darstellung den Anschein gewinnt. ') Grundlagen der Nationalökonomie, 10. Auflage, Stuttgart 1873. 112 VII. Produktivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. als ob die Höhe der Kapitalrente zunächst durch die Verhältnisse des Leihmarktes für den ausbedungenen Zins bestimmt und erst von da — vermöge des Gesetzes des Gleichgewichtes der Kente in allen Verwendungs- arten — auf den ursprünglichen Kapitalzins übertragen würde, während eingestandenermaßen gerade das umgekehrte Verhältnis sta,tt hat. Endlich behandelt Röscher die hochwichtige theoretische Grundfrage nach dem Ursprung des Kapitalzinses im theoretischen Teil seiner Untersuchungen gar nicht, sondern streift sie nur obenhin in dem praktischen Anhang über Zinspolitik, bei Gelegenheit der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Kapitalzinses. Nach dem Inhalt der hier niedergelegten Bemerkungen ist Röscher Eklektiker. Er bildet sich seine Meinung aus einem Gemisch von naiver Produktivitäts- und von SENioRscher Abstinenztheorie. Er spricht im Text des § 189 dem Kapitale „wirkliche Produktivität" zu, und lobt in der Note die Ausdrucksweise der Griechen, die den Kapitalzins TÖxog das Geborene, nennen, als „sehr passend". In einer späteren Note pole- misiert er angelegentlich gegen Marx und dessen ,, neuesten Rückfall in die alte Irrlehre von der Unproduktivität der Kapitalien", wobei er unter anderem die Wertzunahme von Zigarren, Wein, Käse, überhaupt von Gütern, „die auch ohne den mindesten neuen Arbeitszusatz durch bloßen Aufschub der Verzehrung einen beträchtlich höheren (Gebrauchs- und Tausch-)Wert erlangen können", als zwingenden Beleg für die Produk- tivität des Kapitales vorführt. Im Texte desselben Paragraphen wird diese durch das bekannte Beispiel des Fischers illustriert, der erst, bloß mit der Hilfe der Hand, täglich nur drei Fische, dann aber, nachdem er durch Sparsamkeit einen Vorrat von hundert Fischen aufgestapelt und während der Aufzehrung des letzteren ein Boot und Netz hergestellt hat, mit Hilfe dieses Kapitals täglich dreißig Fische fängt. Da RoscHERs Ansicht in allen diesen Beispielen offenbar dahin geht, daß das Kapital durch seine eigentümliche Produktivkraft den Mehrwert unmittelbar hervorbringt, und er sich gar keine Mühe nimmt, eine kom- pliziertere Erklärung für die Entstehung des letzteren zu suchen, so muß ich ihn der naiven Richtung der Produktivitäts-Theorien beizählen. Wie übrigens schon angedeutet, hat er diese Richtung nicht rein bewahrt, sondern formell und materiell koordiniert er ihr die Abstinenz- theorie. Er nennt als zweite „unzweifelhafte" Grundlage des Kapital- zinses das „wirkliche Opfer, das in der Enthaltung vom Selbstgenusse der Kapitalien liegt"; er hebt hervor, daß bei der Festsetzung des Preises für die Nutzung des Fischerbootes die Rücksicht auf die hundertfünfzig- tägige Entbehrung des Sparenden ein wichtiges Motiv sein werde, und daß man den Kapitalzins auf dieselbe Art eine Belohnung der Enthaltsam- keit nennen kann, wie den Arbeitslohn eine Belohnung des Fleißes. — Auch sonst fehlt es nicht an manchem nur schlecht verhülltem Wider- Röscher, Kleiow&chter. 113 Sprache. Unter anderem stimmt es zu der von Röscher angenommenen selbständigen Produktivität der Kapitalien sehr schlecht, wenn er (§ 183) den „Gebrauchswert der Kapitalien in den meisten Fällen für gleich- bedeutend mit der Geschicklichkeit der Arbeiter und Reichlichkeit der Naturkräfte" erklärt, welche damit verbunden werden. Offenbar ist die Autorität, welche der gefeierte Name Roschers unter den Volkswirten Deutschlands genießt, auch seiner Zinstheorie zustatten gekommen. Denn obschon diese nach dem gesagten auf die wichtigsten theoretischen Vorzüge der Einheitlichkeit, Konsequenz und Tiefe der Auffassung nur in sehr bescheidenem Maße Anspruch erheben darf, hat sie doch vielfache Zustimmung und Nachahmung gefunden. Ich darf die ziemlich beträchtliche Zahl von Schriftsteilem, die seit RoscHer die Lehre von der Produktivität des Kapitales einfach rezipiert haben, ohne sie zu bereichern, wohl übergehen ^) und hebe aus der deutschen Literatur nur noch einen Schriftsteller hervor, der jene Lehre zwar kaum mit größerem Glück, aber doch mit größerer Gründlichkeit und Sorgfalt bearbeitet hat, Friedrich Kleinwächter. Kleinwächter hat sich über die Sache bei verschiedenen Gelegen- heiten ausgesprochen; zuerst ausführlich in einem selbständigen Aufsatz „Beitrag zur Lehre vom Kapital''-^), später nur flüchtig im Handbuch der politischen Ökonomie von Schönberg. In der selbständigen Abhandlung beginnt Klein Wächter damit, daß er zunächst einige relevante Vorbegriffe feststellt, wobei er die Produktion als „Wertschaffung" und diese wieder — Wert mit Nützlichkeit iden- tifizierend — als die „Erzeugung von Mitteln zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse" definiert (S. 322). Die Fähigkeit zur Produktion oder die Produktivität ist „kein ausschließliches Prärogativ des Menschen, indem sowohl die Tiere als die Pflanzen sowie die leblose Natur Produkte hervorzubringen vermögen, welche die Fähigkeit besitzen, einem menschlichen Bedürfnisse zu dienen. So produziert z. B. das Pferd Kraft(!), die Kuh Milch, das Schaf Wolle usf." (S. 325). Demzufolge besitzt auch das Kapital Produktivität. Ja die produktive Fähigkeit scheint Kleinwächter ein so hervorstechender Zug im Charakter des Kapitals, daß er auf sie die ganze Begriffsbestimmung des letzteren baut: „Hält man daran fest, daß es unmöglich ist, neue Stoffe (d. i. neue Urstoffe im Sinne des Chemikers) hervorzubringen, daß unsere ganze Produktion nur ^ne Hervorbringung von Werten ist, daß aber die Fähigkeit, Werte zu produzieren, nicht bloß dem Menschen eigen ist, sondern daß die ganze Natur, und zwar die leblose wie das Tier und die Pflanze in gleicher Weise ') Unter ihnen befindet sich auch Schulze-D elitzsch. Dessen Lehre, die gleich jener Roschers ziemlich eklektisch und nicht widerspruchsfrei ist, siehe in dem ,, Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus", Leipzig 1863, S. 24ff. «) HiLDEBRANDsche Jahrbücher 9. Band (1867) S. 310—326 und 369—421. Böhm-Bawerk, Eapitalzins. 4. Aafl. S 114 VII. Produktivitätstheorien. 2. Ü.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. Wert produzieren kann wie der Mensch — so definiert sich von selbst das Kapital als dasjenige Vermögen, welches Werte produziert" (S. 372). In dieser Definition bedeutet, wie Kleinwächter in einer Anmerkung (S. 373 Anm. 2) „zur Vermeidung jedes Mißverständnisses" ausdrücklich hervorhebt, Wert noch immer nichts anderes als „die Eigenschaft eines Gegenstandes, einem menschlichen Bedürfnisse dienen zu können". Nach den bisherigen Erläuterungen hat daher -die Wertproduktivität eines Kapitalstücks, z. B. einer Maschine oder eines Rohstoffes nichts anderes zu besagen, als daß man mit seiner Hilfe brauchbare Gegenstände, z. B. Tuch oder Kleider hervorbringen könne. Einen Bezug darauf^, daß die erzeugten Gegenstände mehr wert sein müssen, als das Kapitalgut, das sie hervorgebracht, und daß sie insbesondere einen größeren Tausch- wert haben müssen, kurz einen Bezug darauf, daß das Produkt einen Tauschwertüberschuß liefern muß, hat die Wertproduktivität im bisherigen Sinn in keiner Weise. Es kommt daher sehr überraschend, daß Klein Wächter, ohne an seinen Begriffsaufstellungen etwas zu ändern, dennoch die Kapitalrente direkt aus der Wertproduktivität des Kapitales ableitet. „Unter Rente im allgemeinen", sagt er S. 382, „versteht man ein dauerndes Einkommen, welches aus einer ständigen Quelle fließt. Da nun hier das Kapital als ein Vermögen definiert wurde, welches Werte produziert, so ergibt sich von selbst, daß die Kapitalrente in den von dem Kapitale produzierten Werten besteht." Es liegt auf der Hand, dsiß Klein Wächter in den Schlußworten den „vom Kapitale produzierten Werten" einen Sinn beilegt, den diese Worte bis jetzt nie hatten. Würde er sie jetzt in demselben Sinne gebrauchen wie früher, so wären „die vom Kapitale produzierten Werte" gleich- bedeutend mit den d. i. mit allen aus dem Kapitale hervorgegangenen Gütern, nach ihrem Gebrauchswert (= Nützlichkeit) angeschlagen. Das wäre aber der Bruttoertrag des Kapitales und nifcht seine Rente. Um, wie es jetzt geschieht, die „vom Kapitale produzierten Werte" auf die Rente deuten zu können, muß man gegenüber dem früheren Gebrauch dieser Worte Umdeutungen vornehmen. Man muß erstlich Wert als Tauschwert deuten statt als „Gebrauchswert"; denn einen Gebrauchswert im KLEiNwÄCHTERschen Sinne haben ja auch freie Güter wie Luft, Wasser u. dgl., die doch gewiß keine Kapitalrente konstituieren können; und man muß zweitens das Wertproduzieren als „mehr Wert" produzieren, als Hervorbringen eines Wertüberschusses deuten; denn nicht das ganze Kapitalprodukt, sondern nur der Wertüberschuß desselben bildet die Rente. Schien sich Kleinwächters Theorie durch die einleitenden genaueren Ausführungen über die „Wertproduktivität" über das Niveau der „naiven" Kleinwächter. 115 Produktivitäts-Theorien zu erheben, so wird sie durch die Aufdeckung des obigen Mißverständnisses wieder auf dasselbe herabgedrückt. Denn diejenige „Wertproduktivität", die Kleinwächter bewiesen hat, reicht absolut nicht aus, um die Entstehung eines Mehrwertes zu erklären, und eine solche Wertproduktivität, die imstande wäre, die Entstehung eines Mehrwertes zu erklären, hat Kleinwächteb nicht bewiesen; es bleibt also nichts, als die nackte Behauptung, daß das Kapital seine Rente produziert. — Im ScHöNBERGschen Handbuch hat unser Autor den Gegenstand zu flüchtig berührt, um den späteren Stand seiner Ansichten mit voller Genauigkeit erkennen zu lassen. „Die Frage nach der Produktivität des Kapitales", sagt er ziemlich reserviert, „ist die Frage, ob das Kapital bei der Produktion von Sachgütem tätig mitwirkt. Die Frage ist insofern zu bejahen, als das Kapital Arbeitsinstrument (Produktionswerkzeug) ist. Als Produktionswerkzeug ist das Kapital produktiv, weil es bei der Pro- duktion von Sachgütern die Arbeit in doppelter Weise unterstützt. Es bewirkt: 1. daß der Mensch mit Hilfe des Produktionswerkzeuges bei gleichem Kraftaufwand mehr Güter produzieren kann, als er produzieren würde, wenn er das Werkzeug entbehren müßte (Produktivität des Kapi- tales in quantitativer Hinsicht), 2. daß der Mensch mit Hilfe des Werk- zeuges Produkte erzeugen kann, die er ohne Arbeitsinstrumente nicht herzustellen vermag (Produktivität des Kapitales in qualitativer Hinsicht)." In diesen Worten ist von einer Kraft des Kapitales, unmittelbar „Wert zu schaffen", nicht mehr die Rede. Immerhin führt Kleinwächter auch jetzt noch die Kapitalrente auf die Produktivität des Kapitales zurück. „Beide, Kapital und Arbeit, sind tatsächliche und berechtigte Einkommensquellen, weil nur durch das Zusammenwirken beider die Produkte entstehen, der Ertrag der Produktion somit unter diese Faktoren zu teilen ist"i). In Frankreich erwarb sich Says Produktivitäts-Theorie keine geringere Popularität als in Deutschland. Sie wurde hier förmlich Modetheorie, deren Verbreitung auch die heftigen Angriffe wenig Eintrag taten, die seit den vierziger Jahren von den Sozialisten, zumal von Proudhon, gegen sie gerichtet wurden. Eigentümlich ist es jedoch, daß die Pro- duktivitätstheorie von französischen Schrifsstellern selten in voller Rein- heit bewahrt wurde: fast alle, die sie annahmen, vermischten sie eklektisch mit Elementen einer oder auch mehrerer fremdartiger Theorien; so, um nur einige der einflußreichsten Schriftsteller zu nennen, Rossi, so Molinari, 1) Handbuch der politischen Ökonomie, herausgegeben von Schönberg, Tübingen 1882, 1. Bd. S. 179f . Noch etwas reservierter äußert sich Kleinwächter in den späteren Auflagen des ScHÖNSERGschen Handbuches und in dem seither erschienenen Werke über „das Einkommen und seine Verteilung", Leipzig 1896. 8* 116 VII. Produktivitätstheorien. 2. Ü.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. SO Joseph Garnier, und in der neuesten Zeit^) CaüwiSs und Leroy- Beaülieü. Da die Produktivitätstheorie unter den Händen dieser Gelehrten keine wesentliche Änderung erfuhr, brauche ich auf eine detaillierte Dar- stellung ihrer Lehren hier wohl nicht einzugehen; um so weniger, als wir den hervorragendsten derselben in einem späteren Abschnitt unter den Eklektikern noch einmal begegnen werden. Nur einer besonders drastischen Äußerung des zuletzt genannten Schriftstellers will ich gedenken zum Belege dafür, wie kräftig die Pro- duktivitätstheorie trotz aller sozialistischen Kritik auch heute noch in der französischen Wissenschaft fortlebt. In seinem „Essai sur la r^partition des richjesses", der angesehensten französischen Monographie über das Sujet der Güterverteilung, die binnen zwei Jahren zwei Auflagen erlebt hat, schreibt Leroy-Beaülieü: „Das Kapital erzeugt (engendre) Kapital, das ist unbestreitbar." Und ein wenig später verwahrt er sich gegen die Auffassung, daß das Kapital etwa nur im juristischen Sinne und durch die Willkür der Gesetze Interessen erzeuge (engendre un int^ret): „dies geschieht vielmehr natürlich und wirklich: die Gesetze haben hier nur die Natur kopiert" („c'est naturellement, mat^rielle- ment; les lois n'ont fait ici que copier la nature"^)). Aus der italienischen Literatur unserer Richtung will ich endlich statt vieler nur eines Schriftstellers gedenken, dessen Behandlungsweise mit ihrem Gemenge von Einfachheit in der Form und Dunkelheit in der Sache für die naive Produktivitätstheorie als typisch gelten kann, des vielgelesenen Scialojas). Dieser stellt sich vor, daß die Produktionsfaktoren, zu denen er auch das Kapital rechnet (S. 39), ihren „virtuellen" oder „Potenzialen" Wert, der auf ihrer Fähigkeit zur Produktion beruht, ihren Produkten mit- teilen oder auf sie übertragen; und daß ferner der Anteil, den jeder Produktivfaktor an der Werterzeugung genommen hat, ohne weiteres auch für die Verteilung des Produktes unter die mitwirkenden Faktoren maßgebend ist, so daß jeder Faktor bei der Verteilung so viel an Wert erhält, als er davon erzeugt hat; wenn sich auch freilich dieser Anteil nicht a priori ziffermäßig feststellen läßt (S. 100). Im Einklang mit dieser Vorstellung erklärt er dann speziell den ursprünglichen Kapitalzins als jene „Portion" des Gesamtgewinnes eines Unternehmers, „welche die produktive Wirksamkeit des Kapitales während der Dauer der Produktion repräsentiert" (S. 125). Wenden wir uns von der Darstellung zur Kritik. ^) 1884 geschrieben! *) Essai sur la r6partition des richesses, 2. Aufl. Paris 1883, S. 234 und 239. ') Principi della Economia sociale, Napoli 1840. Kritik. 117 Zu diesem Zwecke muß ich jene beiden Äste der naiven Produktivitäts- theorie, die ich in der historischen Darstellung vereinigt hatte, wieder scheiden. Alle vorgetragenen Lehren kommen nämlich zwar darin überein, daß sie den Mehrwert ohne weitere Zwischenmotivierung aus der pro- duktiven Kraft des Kapitales hervorgehen lassen. Allein der überein- stimmenden Redewendung können, wie ich oben in unseren orientierenden Vorbemerkungen ausgeführt habe, zwei wesentlich verschiedene Gedanken zugrunde liegen. Entweder man versteht die angerufene produktive Kraft des Kapitales im buchstäblichen Sinne als Wertproduktivität, als eine Fähigkeit des Kapitales, unmittelbar Wert zu schaffen, oder man versteht sie zunächst nur als physische Produktivität, als eine Fähigkeit des Kapi- tales, besonders viele oder besonders nützliche Güter hervorzubringen, unterläßt aber eine weitere Motivierung des Entstehens des Mehrwertes deshalb, weil man es> für ganz selbstverständlich hält, daß die besonders vielen oder nützlichen Güter auch einen Wertüberschuß enthalten müssen. Die meisten naiven Produktivitätstheoretiker sind in der Darstellung ihrer Lehre so wortkarg, daß es leichter ist festzustellen, was sie gedacht haben können, als was sie wirklich gedacht haben, und wir können oft bloß mutmaßen, welcher der beiden möglichen Vorstellungsweisen der eine und welcher der andere von ihnen angehangen hat: So läßt Says „produktive Kraft" gleichmäßig beide Auslegungen zu; ebenso Riedels „Produktivität"; Scialoja und Kleinwächter scheinen dagegen mehr der ersten, Röscher mit seinem Beispiel vom ergiebigen Fischfang mehr 'der zweiten Vorstellung zuzuneigen. An einer genauen Feststellung dieses Verhältnisses ist übrigens auch nichts gelegen; denn wenn wir jede der beiden denkbaren Meinungen unserer Kritik unterziehen, so wird auf jeden Fall allen ihr Recht. Ich glaube, daß die naive Produktivitätstheorie in beiden Varianten sehr weit davon entfernt ist, den Anforderungen zu genügen, die man an eine wissenschaftliche Erklärung des Kapitalzinses zu stellen be- rechtigt ist. Seit den scharfen kritischen Angriffen, die von Seite der sozialistischen und „sozialpolitischen" Schule gegen die Produktivitätstheorie gerichtet worden sind, ist die Einsicht in die Unzulänglichkeit der letzteren, wenig- stens in der deutschen Wissenschaft, so weit verbreitet, daß ich fast be- sorgen muß, offene Türen einzurennen, wenn ich mein obiges Urteil ein- gehend zu begründen unternehme. Dennoch darf ich darauf nicht ver- zichten. Teils, weil gerade in den jetzt behandelten Ideenkreisen so viel durch Ungründlichkeit und Voreiligkeit der Überzeugung gesündigt worden ist, daß ich als Kritiker mich am wenigsten desselben Fehlers schuldig machen darf; teils und hauptsächlich, weil ich die naive Produktivitäts- theorie mit Argumenten anzugreifen gedenke, die von den Argumenten 118 VII. Produktivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. der sozialistischen Kritik wesentlich verschieden sind und die mir den Kern der Sache näher zu berühren scheinen. Beginnen wir mit der ersten Variante. Wenn uns zugemutet wird zu glauben, daß der Kapitalzins seine Entstehung einer eigentümlichen auf die Kreierung von Wert gerichteten Kraft des Kapitales verdanke, so muß -sich uns vor allem die Frage auf- drängen, welche Belege denn dafür vorliegen, daß das Kapital eine solche Kraft wirklich besitzt? Eine unbewiesene Versicherung hierüber könnte ja doch kein ausreichendes Fundament einer ernsthaften wissenschaft- lichen Theorie bieten. Wenn wir die Schriften der naiven Produktivitätstheoretiker durch- blättern, so werden wir in ihnen wohl manche Belege für eine physische Produktivität, aber so gut wie gar nichts finden, das sich als Versuch eines Existenzbeweises für eine unmittelbar wertschaffende Kraft des Kapi- tales deuten ließe. Sie behaupten sie, aber sie kümmern sich nicht darum sie zu beweisen — mit Ausnahme eines einzigen Gedankenganges, in welchem die Tatsache, daß auf die produktive Verwendung von Kapital regelmäßig die Entstehung eines Wertüberschusses nachfolgt, als eine Art Erfahrungsbeweis für die Wertproduktivität des Kapitales ausgelegt wird. Auch dieser Gedanke ist übrigens nur ganz flüchtig angedeutet worden. Relativ am deutlichsten noch von Say, wenn er in der oben (S. 107) zitierten Stelle fragt, wie denn ein Kapital in alle Ewigkeit ein selbständiges Einkommen einbringen könnte, wenn es nicht eine selbständige Pro- duktivität besäße, und von Riedel, wenn er die Produktivität des Kapitales an der Entstehung von Wertüberschüssen „erkennt" i). Wie sieht es nun mit der Kraft dieses Erfahrungsbeweises aus? Ent- hält die Tatsache, daß auf die Anwendung von Kapital regelmäßig die Entstehung eines Wertüberschusses nachfolgt, wirklich einen voUgiltigen Beweis dafür, daß das Kapital eine wertschaffende Kraft besitzt? Ganz gewiß nicht. Genau ebensowenig, als die Tatsache, daß im Hochgebirge auf den Eintritt eines Schneefalles während der Sommer- monate regelmäßig ein Steigen des Barometers nachfolgt, ein voUgiltiger Beweis dafür ist, daß dem Sommerschnee eine magische Kraft innewohnt, die Quecksilbersäule in die Höhe zu drücken — eine naive Theorie, die man im Munde der Gebirgsbewohner nicht selten hören kann. Der wissen- schaftliche Fehler, der hier gemacht wird, liegt auf der Hand. Man ver- wechselt bloße Hypothesen mit bewiesenen Tatsachen. In beiden Fällen liegt zunächst ein gewisser erfahrungsmäßiger Zusammenhang zweier ^) Der Versuch Kleinwächters, die „Werterzeugung" des Kapitales eingehend zu demonstrieren, gehört nicht hierher, weil Kleinwächter vermöge seiner abweichen- den Terminologie unter jenem Ausdruck nur die Erzeugung von brauchbaren Gütern versteht. Kritik. 119 Tatsachen vor, dessen Ursache noch unbekannt ist und erst ge- sucht wird. An sich sind in beiden Fällen sehr viele Ursachen für die zu erklärende Wirkung denkbeir. In beiden Fällen konnte und kann man daher sehr viele Hypothesen über die wirkliche Ursache aufstellen; und es ist nur eine unter den vielen möglichen Hypothesen, wenn man die Ursache des Barometersteigens in eine spezifische Kraft des Sommer- schnees, die Ursache des Mehrwertes der Kapitalprodukte in eine spezifische wertschaffende Kraft des Kapitales setzt. Es ist dies um so mehr eine bloße Hypothese, als über die EIxistenz der angenifenen „Kräfte" sonst nichts bekannt ist und man sie erst zu dem konkreten Erklärungszwecke postu- lieren mußte. Unsere verglichenen Fälle ähneln aber nicht bloß darin, daß sie Bei- spiele bloßer Hypothesen darstellen, sondern auch darin, daß sie Beispiele schlechter Hypothesen bieten. Die Glaubhaftigkeit einer Hypothese hängt davon ab, ob sie auch außerhalb des Tatbestandes, der ihre Auf- stellung veranlaßt hat, Unterstützung findet, und zumal, ob Gründe innerer Wahrscheinlichkeit für sie sprechen. Daß dies rücksichtlich der naiven Hypothese der Gebirgsbewohner nicht der Fall ist, ist bekannt, und darum glaubt kein gebildeter Mensch an das Märchen, daß das Steigen der Quecksilbersäule durch eine mystische Kraft des Sommerschnees verursacht werde. Aber auch um die Hypothese von der wertschaffenden Kraft des Kapitales steht es nicht besser: sie wird einerseits durch keine einzige anderweitige Tatsache unterstützt — sie ist eine vollkommen unbeglaubigte Hypothese, und sie widerspricht andererseits der Natur der Dinge — sie ist eine unmögliche Hypothese. Dem Kapitale eine buchstäblich wertzeugende Kraft zuschreiben, heißt das Wesen des Wertes einerseits, und das der Produktion anderer- seits von Grund aus mißverstehen. Der Wert wird überhaupt nicht pro- duziert, kann nicht produziert werden. Was produziert wird, sind immer nur Formen, St off gestalten, Stoff kombinationen, also Sachen, Güter. Diese können allerdings Güter von Wert sein, aber sie bringen den Wert nicht fix und fertig, als etwas inhärentes aus der Produktion mit, sondern sie erlangen ihn immer erst von außen — aus den Bedürfnissen und Deckungsverhältnissen der Wirtschaftswelt. Der Wert stammt nicht aus der Vergangenheit der Güter, sondern aus ihrer Zukunft; er kommt nicht aus den Werkstätten, in denen die Güter entstanden sind, sondern von den Bedürfnissen, denen sie noch dienen werden. Der Wert kann nicht geschmiedet werden wie ein Hammer, oder gewoben werden wie ein Stück Leinwand; könnte er das, so blieben unseren Volkswirtschaften jene furcht- baren EjTschütterungen erspart, die wir Krisen nennen, und die aus keiner anderen Ursache stammen, als daß Produktenmassen, bei deren Erzeugung keine Regel der Kunst versäumt wurde, den gehofften Wert nicht finden können. Was die Produktion leisten kann, ist eben nie etwas anderes. 120 VII. Produktivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. als daß sie Güter schafft, von denen man hoffen kann, daß sie nach den voraussichtlichen Verhältnissen von Bedarf und Deckung Wert haben werden. Sie ahmt gewissermaßen den Bleicher nach. Wie dieser seine Linnen in den Sonnenschein legt., so wendet die Produktion ihre Tätigkeit an solche Dinge und Orte, wo sie für ihre Erfolge Wert erhoffen kann. Sie schafft aber den Wert so wenig, als der Bleicher den Sonnenschein geschaffen hat. Ich glaube nicht nötig zu haben, weitere positive Beweise für diesen Satz anzusammeln: er scheint mir zu selbstverständlich, um dessen zu bedürfen. Dagegen wird es vielleicht nicht überflüssig sein, ihn gegen einige Bedenken zu verteidigen, die bei flüchtiger Betrachtung, aber auch nur bei flüchtiger Betrachtung, seiner Wahrheit zu widerstreiten scheinen. So mag die bekannte Tatsache, daß der Wert der Güter in einem gewissen, freilich nicht ganz genauen Zusammenhang mit ihren Pro- duktionskosten steht, den Eindruck erwecken, als ob dennoch der Güter- wert aus den Produktionsverhältnissen hervorginge. Allein man darf nicht übersehen, daß dieser Zusammenhang nur unter gewissen Voraus- setzungen Platz greift, von denen man die eine bei Formulierung des Kostenwertgesetzes ausdrücklich auszusprechen, die andere stillschweigend anzunehmen pflegt, und die beide mit der Produktion gar nichts zu tun haben: die erste Voraussetzung ist, daß die produzierten Güter auch nützlich sind, und die zweite ist, daß sie im Vergleich mit dem Bedarf nach ihnen auch selten sind und bleiben. Daß nun gerade diese beiden Umstände, die so bescheiden im Hinter- grunde des Kostengesetzes stehen, und nicht die Kosten die wahrhaft regierenden Bestimmgründe des Wertes sind, zeigt sich sehr einfach aus der Gegenprobe: so lange man Kosten auf die Erzeugung von Dingen wendet, die entsprechend nützlich und selten sind, so lange also die Kosten selbst in Harmonie mit der Nützlichkeit und Seltenheit der Güter stehen, stehen sie auch in Harmonie mit dem Wert, und scheinen ihn zu regieren. Sowie man dagegen Kosten auf Dinge wendet, die nicht nützlich genug oder nicht selten genug sind, z. B. auf Herstellung von Uhren, die nicht gehen, oder von Holz in einer Gegend mit natürlichem Holzüberfluß, oder auf Herstellung eines Übermaßes von guten Uhren, deckt der Wert die Kosten nicht mehr, und es verschwindet auch der Schein, als ob die Dinge ihren Wert aus den Umständen ihrer Produktion mitbrächten. Ein zweites Bedenken. Wir produzieren, es mag sein, zunächst nur Güter. Da aber ohne die Erzeugung der Güter auch deren Wert nicht zur Entstehung gelangen würde, so setzen wir durch die Erzeugung von Gütern offenbar auch den Wert derselben in die Welt. Wenn jemand Güter im Wert von einer Million Gulden produziert, so hat er ganz offenbar die Entstehung eines Wertes von einer Million Gulden veranlaßt, der ohne die Produktion nie entstanden wäre; das scheint ein handgreiflicher Beweis Kritik. 121 für die Richtigkeit des Satzes zu sein, daß auch der Wert durch Produktion entsteht. Gewiß hat dieser Satz seine Richtigkeit, nur in einem ganz anderen Sinn als in dem, um den es sich in unserer Streitfrage handelt. Er ist richtig in dem Sinn, daß die Produktion eine Ursache der Wertentstehung ist; er ist aber nicht richtig in dem Sinn, daß die Produktion die Ursache der Wertentstehung ist, d. h. daß der volle zureichende Ursachenkomplex der Wertentstehung in den Produktionsverhältnissen liegt. Zwischen beiden Bedeutungen liegt ein gewaltiger Unterschied, den ich durch ein Beispiel noch besser illustrieren will. Wenn man mit einem Dampfpflug einen Komacker pflügt, so ist es unstreitig, daß der Dampf- pflug eine Ursache des hervorgebrachten Korns, und damit auch des Wertes des hervorgebrachten Kornes ist. Ganz ebenso unstreitig ist es aber auch, daß die Entstehung des Komwertes bei weitem nicht voll erklärt ist, wenn man in diesem Sinne sa^: der Dampfpflug hat ihn produziert. Eine Ursache für die Entstehung des Kornes und damit des Kornwertes war ja doch auch der Sonnenschein; wer aber woUte auf die Frage, warum der Metzen Korn einen Wert von 5 fl. hat, die Antwort als vollgiltig hinnehmen: der Sonnenschein hat den Wert produziert?! Oder wer wollte die bekannte Streitfrage, ob Talente angeboren sind oder erst erworben werden, zu Gunsten der ersten Meinung mit dem Argument entscheiden lassen, daß, wenn der Mensch nicht geboren würde, auch seine Talente nicht existieren würden, und daß folglich zweifellos die Geburt die Ursache der Talente sei! Und nun zur Nutzanwendung auf unsere Streitfrage. Unsere Pro- duktivitätstheoretiker haben Unrecht, weil sie allzusehr Recht haben wollen. Würden sie sich damit begnügen, von einer wertschaffenden Kraft des Kapitales in dem Sinne zu reden, daß das Kapital eine Ursache der Wert- entstehung abgibt, so wäre nichts dagegen einzuwenden. Freilich wäre damit auch für die Erklärung des Mehrwertes noch so gut wie gar nichts geschehen; man hätte nur ausdrücklich genannt, was nahezu selbstver- ständlich ist, und müßte natürlich fortfahren, die übrigen — weniger selbstverständlichen — Teüursachen der Mehrwertbildung aufzuklären. Statt dessen meinen jene Theoretiker die Ursache der Wertentstehung genannt zu haben. Sie prätendieren mit den Worten: „das Kapital hat kraft seiner Produktivität den Wert oder Mehrwert geschaffen" eine so abschließende Vollerklärung für das Dasein des letzteren gegeben zu haben, daß es gar keiner ergänzenden Erklärung mehr bedürfe: und damit haben sie sich gröblich ins Unrecht begeben. Das Gesagte läßt aber noch eine zweite wichtige Nutzanwendung zu, die ich sofort hier anknüpfen will, obschon sie ihre Spitze nicht gegen die Produktivitätstheorie kehrt. Was nämlich dem einen recht ist, muß dem andern billig sein, und wenn das Kapital keine wertschaffende Kraft 122 VII Produktivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. besitzen kann, weil der Wert überhaupt nicht „geschaffen" wird, so kann aus demselben Grund auch keinem andern Produktionselement ein solches Privilegium zustehen, weder dem Grund und Boden, noch der menschlichen Arbeit. Das hat jene weitverbreitete Richtung übersehen, welche ihre schärfsten kritischen Waffen gegen die Annahme einer wertschaffenden Kraft des Grundes und Bodens sowie des Kapitales richtet, um mit noch größerem Nachdruck eine eben solche Kraft für die Arbeit in Anspruch zu nehmen^). Ich glaube, diese Kritiker haben nur einen Götzen gestürzt, um einen anderen dafür aufzurichten. Sie haben nur ein umfassenderes Vorurteil bekämpft, um ein einseitigeres dafür anzunehmen. Die menschliche Arbeit hat so wenig ein Privilegium, Wert zu schaffen, wie irgend ein anderer Faktor. Auch was sie schafft, sind Güter und nur Güter, die ihren Wert erst aus der Gestalt der Wirtschaftsverhältnisse, denen sie dienen sollen, erwarten und erhalten. Daß sich ein leidlich — keineswegs vollkommen — gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen Arbeitsquantum und Wert der Produkte findet, hat seinen Grund in ganz anderen Dingen als in einer „wertzeugenden" Gabe der Arbeit, die es nicht gibt und nicht geben kann; in Dingen, die ich, höchst flüchtig allerdings, schon oben angedeutet habe, als ich vom beiläufigen Zusammenhang von Kosten und Wert sprach. Für die Entwicklung der Theorie sind alle diese Vorurteile ein be- klagenswertes Hindernis geworden. Sie verleiteten dazu, sich mit den schwierigsten Problemen der Wissenschaft viel zu billig abzufinden. Wenn Wertbildungen zu erklären waren, so verfolgte man die Reihe ihrer Ur- sachen ein Stück, oft ein sehr kleines Stück weit, um sich dann bei dem falschen und vorurteilsvollen Ausspruch zu beruhigen: das Kapital oder die Arbeit hat den Wert geschaffen. Darüber versäumte man aber, den wahren Ursachen weiter nachzugehen und das Problem in jene Tiefen zu verfolgen, in denen erst seine eigentlichen Schwierigkeiten liegen. Wenden wir uns nun zur zweiten Auslegung, deren die Lehre der naiven Produktivitäts-Theoretiker fähig ist. Ihr zufolge ist die produktive Kraft, die dem Kapitale beigelegt wird, zunächst nur als technische oder physische Produktivität zu verstehen, d. h. als eine Fähigkeit des Kapitales, zur Erzeugung von mehr oder besseren Gütern zu verhelfen, als man ohne seine Beihilfe, hätte erlangen können; es wird aber als selbstverständlich vorausgesetzt, daß das vermehrte Produkt außer dem Ersatz der auf- gewendeten Kapitalkosten noch einen Mehrwert in sich schließen muß. — Wie steht es mit der Überzeugungskraft dieser Variante? Ich gebe ohne weiteres zu, daß das Kapital die ihm zugeschriebene physische Produktivität wirklich besitzt, d. h. daß mit seiner Hilfe wirklich ') Auch außerhalb der Reihen der eigentlichen Sozialisten ist diese Anschauung weit verbreite*. Siehe z. B. Pierstorfp, Lehre vom Unternehmergewinn, S. 22f. Kritik. 123 mehr Güter erzeugt werden können, als ohne dieselbe i). Ich will auch zugeben — obschon hier der Zusammenhang nicht mehr ganz so zwingend ist — daß die mehreren mit der Kapitalhilfe hervorgebrachten Güter einen größeren Wert haben, als die wenigeren Güter, die ohne seine Hilfe hätten erzeugt werden können. Aber darauf, daß jene mehreren Güter auch mehr wert sein müssen als die in ihrer Erzeugung aufgebrauchte Kapital- substanz — und darin liegt die zu erklärende Elrscheinung des Mehr- wertes — : darauf deutet nicht ein einziger Zug in dem ganzen Verhältnisse. Um mit RoscHERs bekanntem Beispiele konkret zu sprechen. Ich gebe gerne zu und begreife, daß man mit Hilfe von Boot und Netz täglich 30 Fische fängt, während man ohne dieses Kapital nur drei gefangen hätte. Ich gebe gerne zu und begreife, daß die 30 Fische mehr wert sind, als ehedem die drei gewesen waren. Aber daß die 30 Fische mehr wert sein müssen als die zu ihrem Fange vernutzte Quote von Boot und Netz, das ist eine Annahme, die durch die Voraussetzungen des Falles nicht im mindesten vorbereitet oder nahe gelegt, geschweige denn einleuchtend gemacht ist. Wüßten wir nicht aus der Erfahrung, daß der Wert des Kapitalertrages regelmäßig größer ist, als der Wert der vernutzten Kapitalsubstanz selbst — die Theorie unserer naiven Produktivitäts- theoretiker würde uns nicht einen einzigen Anhaltspunkt bieten, der uns- dieses Verhältnis als notwendig anzusehen zwänge. Es könnte ganz gut auch anders sein. Warum sollen z. B. die Kapitalgüter, die einen großen Ertrag liefern, nicht mit Rücksicht auf denselben selbst hoch geschätzt werden, so hoch, daß ihr Kapitalwert dem Wert des daraus fließenden reichlichen Produktes gleich kommt ? Warum soll z. B. ein Boot und Netz, die während der Zeit ihres Bestandes einen Mehrertrag von 2700 Fischen vermitteln, nicht eben diesen 2700 Fischen, deren Erlangung sie vermitteln, im Werte gleichgehalten werden ? Alsdann wäre aber — bei aller physischen Produktivität — doch kein Mehrwert vorhanden. Merkwürdigerweise finden sich auch bei einigen der hervorragendsten Vertreter der naiven Produktivitätstheorie positive Aussprüche, die gerade dieses letztere Ergebnis, also das Fehlen eines Mehrwertes, als das natürliche erscheinen ließen. Mehrere unserer Autoren lehren nämlich geradezu, daß der Wert der Kapitalsubstanz die Tendenz hat, sich dem Werte des aus ihm hervorgehenden Produktes anzupassen. So schreibt ') Ich verzichte hier geflissentlich auf die Untersuchung, ob die eingeräumte physische Produktivität des Kapitales eine originäre Kraft desselben, ist, oder ob die durch das Kapital vermittelten produktiven Erfolge nicht vielmehr auf Rechnung derjenigen produktiven Kräfte zu setzen sind, durch welche das Kapital selbst entstanden ist; zumal auf Rechnung der kapitalbildenden Arbeit. Ich verzichte auf jene Unter- suchung gefUssentlich, um die Entscheidung der Streitfrage nicht von demjenigen Felde abzudrängen, auf dem allein meines Erachtens das Zinsproblem endgiltig gelöst werden kann: von dem Felde der Werttheorie. 124 VII. Produktivitätstheorien. 2. U.-A. Die naiven Produktivitätstheorien. Say (Trait6 S. 338), daß der Wert der fonds produetifs von dem Wert des Produktes herstammt, das daraus hervorgehen kann; Riedel ent- wickelt in § 91 seiner Nationalökonomie ausführlich den Satz, daß „der Wert der Produktionsmittel" — also auch der Kapitalstücke — der Haupt- sache nach „auf ihrem Produktionsvermögen oder auf einer ihnen in unwandelbaren Grundgesetzen der Produktion verbürgten Fähigkeit, zur Hervorbringung von sachlichen Werten eine größere oder geringere Bei- hilfe zu leisten" beruht; und Röscher sagt in § 149 der „Grundlagen": „Übrigens haben die Grundstücke mit anderen Produktionsmitteln das gemein, daß ihr Preis wesentlich von dem ihrer Produkte be- dingt wird." Wie nun, wenn diesen Anschauungen entsprechend der Wert der Kapitalstücke dem Werte der Produkte sich vollständig akkommodiert, sich ihm völlig gleichstellt? Und warum soll er es nicht? Wo aber bliebe dann dei Mehrwert^)? Mag also der Mehrwert auch tatsächlich mit der physischen Pro- duktivität des Kapitals verbunden sein, selbstverständlich ist er es gewiß nicht, und eine Theorie, die ihn ohne ein Wort der Erklärung wie eine selbstverständliche Folge hinnimmt, hat ihre Schuldigkeit nicht getan. Resümieren wir. Die naive Produktivitätstheorie versagt in jeder der beiden Aus- legungen, die man der zur Erklärung angerufenen Produktivität des Kapitales geben mag, den Dienst. Behauptet sie eine direkt wertschaffende Kraft des Kapitales, so behauptet sie unmögMches. Es gibt keine Macht was immer für eines Produktionselementes, seinen Produkten unmittelbar oder notwendig Wert einzuflößen. Ein Produktionsfaktor kann nie end- giltige Wertquelle sein. Sondern wo immer der Wert auftritt, hat er seine letzte Ursache in den Verhältnissen des menschlichen Bedarfes und seiner Deckung. Eine haltbare Erklärung des Kapitalzinses muß bis auf diese letzte Quelle zurückgehen. Die Hypothese der wertschaffenden Kraft sucht aber über dieses letzte und schwierigste Stück des Erklärungsganges durch eine ganz haltlose Präsumtion hinüberzutäuschen. Versteht aber die kritisierte Richtung die angerufene Produktivität nur als physische Produktivität, dann täuscht sie sich darin, daß sie den Mehrwert als eine selbstverständliche Begleiterscheinung derselben be- handelt. Indem sie dem vermeintlich Selbstverständlichen kein Wort der weiteren Begründung mehr mitgibt, bleibt sie wieder das wichtigste und schwierigste Stück der Erklärung schuldig. Trotz dieser Mängel ist der starke Anhang, den die naive Produkti- vitätstheorie gefunden hat, vollkommen begreiflich. Denn es läßt sich *) Vgl. hierzu meine Ausführungen in „Rechte und Verhältnisse vom Stand- punkte der volkswirtschaftlichen Güterlehre", Innsbruck 1881, S. 104ff., besonders S. 107—109. Kritik. 125 nicht leugnen, daß sie für den ersten Eindruck etwas ungemein Be- stechendes hat. Das Kapital hilft unstreitig produzieren, und hilft un- streitig „mehr" zu produzieren. Zugleich sieht man, daß am Ende jeder Produktion, an der Kapital beteiligt ist, dem Unternehmer ein Mehr, ein „surplus" übrig bleibt, und daß die Größe desselben eine regelmäßige Proportion zur Größe des angewendeten Kapitales und zur Dauer seiner Anwendung einhält. Unter solchen Umständen liegt in der Tat nichts näher, als die Existenz dieses „Mehr" mit jener im Kapitale liegenden produktiven Kraft in Verbindung zu bringen. Es wäre fast ein Wunder gewesen, wenn man die Produktivitätstheorie nicht aufgestellt hätte. Die Dauer ihrer Herrschaft hängt dann freilich an einem Umstand: wie früh oder wie spät man anfängt, über den Sinn des Wortes „produktiv" kritisch zu reflektieren. Solange man nicht reflektiert, scheint die Theorie das getreue Abbild der Wirklichkeit; die Theorie, möchte man mit den Worten Lergy-Beaülieus sagen, .,n'a fait ici que copier la nature". Reflektiert man aber — so erweist sich dieselbe Theorie als ein Gewebe dialektischer Erschleichungen, vermittelt durch den Mißbrauch des viel- deutigen Wortes vom „produktiven Mehrerfolg" des Kapitales. Darum ist die naive Produktivitätstheorie, ich möchte sagen, die prädestinierte Zinstheorie eines primitiven und halbreifen Zustandes der Wissenschaft. Sie ist aber auch prädestiniert zu verschwinden, sowie die Wissenschaft aufhört, „naiv" zu sein; und daß sie noch bis auf den heutigen Tagi) eine so weite Verbreitung besitzt, ist kein Umstand, auf den die moderne Nationalökonomie Ursache hat stolz zu sein. 3. Unterabschnitt. Die motivierten Produktivitätstheorien. Die motivierten Produktivitätstheorien kommen mit den naiven darin überein, daß auch sie den letzten Grund des Kapitalzinses in einer produktiven Kraft des Kapitales erblicken. In der Verarbeitung dieses Grundgedankens weisen sie aber einen doppelten Fortschritt auf. Erstlich halten sie sich vom Mystizismus der „wertschaffenden" Kräfte frei, und verstehen, auf dem Boden der Tatsachen bleibend, die Produktivität des Kapitales stets nur als physische Produktivität. Und zweitens sehen sie es nicht mehr für selbstverständlich an, daß die physische Ergiebigkeit von einem Überschuß an Wert begleitet sein muß. Sie fügen daher in ihre Ausführungen ein charakteristisches Mittelstück ein, dessen spezielle Auf- gabe es ist zu motivieren, warum die gesteigerte Menge der Produkte auch zu einem Überschuß an Wert führen muß. ^) Im Jahre 1884 geschrieben. 126 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. Natürlich hängt der wissenschaftliche Wert aller dieser Theorien davon ab, ob die vermittelnde Motivierung Stich hält oder nicht. Da in der Art der letzteren die Autoren unserer Gruppe ziemlich erheblich differieren, werde ich die Darstellung und Kritik der Einzellehren in diesem Abschnitte viel individueller gestalten müssen, als es gegenüber den fast uniformen „naiven" Theorien notwendig war. Ich bürde dadurch zwar mir und meinen Lesern kein geringes Stück Mühe auf; allein ich könnte es uns nicht anders ersparen, als wenn ich zugleich auf eine ehrliche und solide Kritik verzichten wollte. Wer etwas besonderes zu sagen hat, den muß der ehrliche Kritiker auch besonders zu Worte kommen lassen und ihm besonders antworten, nicht aber das Besondere mit einer allgemeinen Phrase abtun wollen. Die Reihe der motivierten Produktivitätstheorien nimmt ihrpn Anfang bei Lord Lauderdale^). Lauderdale ist für die Dogmengeschichte des Kapitalzinses eine ziemlich wichtige Persönlichkeit. Er erkennt die Tatsache, daß hier ein großes Problem zu lösen ist, so deutlich wie keiner seiner Vorgänger. Er stellt zuerst das Problem förmlich und mit ausdrücklichen Worten auf, indem er fragt: „Was ist die Natur des Kapitalgewinnes und auf welche Weise kommt er zur Entstehung?" Er übt an den wenigen Schriftstellern, die sich vor ihm über die Materie des ursprünglichen Kapitalzinses aus- gelassen haben, eine wohldurchdachte Kritik, und er ist endlich der erste, der auch der äußeren Darstellungsform nach statt zerstreuter Bemerkungen eine zusammenhängende und geschlossene Theorie bietet. Er leitet seine Zinstheorie damit ein, daß er, abweichend von Smith, das Kapital neben Boden und Arbeit für eine dritte ursprüngliche Quelle des Reichtums erklärt (S. 121). Später unterzieht er die Art und Weise, in der er als Güterquelle wirkt, einer sehr eingehenden Betrachtung (S. 154—206), und hier nimmt er gleich anfangs an einer bemerkenswerten Stelle Anlaß, in aller Form das Zinsproblem aufzuwerfen, dessen Wichtig- keit und Schwierigkeit er wohl erkennt 2). Die Meinungen, die seine Vorgänger aufgestellt, können ihn nicht befriedigen; und er verwirft ausdrücklich sowohl die Lehre von Locke und Smith, die dazu neigan, den Zins aus dem Wertzuwachs abzuleiten. *) An Inquiry into the nature and origin of public wealth. Edinburgh 1804. 2) „By what means Capital or Stock contributes towards wealth is not so apparent (als bei Land und Arbeit). What is the nature of the profit of stock? and how does it originate? are questions the answers to which de not immediately suggest themselves. They are, indeed, questions that have seldom been discussed by those who have treated on political economy; and important as they are, they seem nowhere to have received a satisfactory Solution" (S. 156). Ich will hier be- merken, daß Lauderdale, ebenso wie Smith und Kicardo, den eigentlichen Kapital- zins vom Unternehmergewinn nicht trennt, sondern beide unter dem Namea „profit" begreift. Lauderdale. 127 den der Arbeiter durch seine Tätigkeit an den KapitaJgütern hervorbringt, als auch die Lehre Turgots, der — viel zu oberflächlich — den Zins mit der Möglichkeit in Verbindung bringt, sich durch Grundkauf eine Kente zu verschaffen. Dem entgegen formuliert Lauderdale seine eigene Theorie dahin, „daß in jedem Falle, in dem ein Kapital gewinnbringend beschäftigt ist, der Gewinn übereinstimmend hervorgeht entweder daraus, daß das Kapital eine Quantität von Arbeit ersetzt (supplant), die sonst durch Menschen- hand hätte verrichtet werden müssen; oder daraus, daß dasselbe eine Quantität Arbeit verrichtet, deren Vollführung ganz außer dem Bereich der persönlichen Anstrengung von Menschen gelegen ist" (S. 161). Indem Lauderdale so die arbeitersetzende Kraft des Kapi- tales als Ursache des Kapitalgewinnes proklamiert, bezieht er sich unter etwas geändertem Namen auf eben dieselbe Tatsache, die wir als physische Produktivität des Kapitales zu bezeichnen übereingekommen sind. In der Tat nennt denn auch Lauderdale selbst mehrmals und mit Nach- druck das Kapital „produktiv" und „produzierend"^). Aber die Hauptfrage steht noch aus: in welcher Weise wird die Ent- stehung des KapitaJgewinnes aus der arbeitersetzenden Kraft des Kapitales vermittelt? — Nach den weiteren Auskünften, die Lauderdale hierüber gibt, geschieht dies dadurch, daß der Eigentümer des Kapitalstückes in die Lage kommt, sich die Löhne jener Arbeiter, die durch das erstere ersetzt werden, ganz oder wenigstens teilweise zu seinem Vorteil aufzurechnen. „Setzen wir z. B. den Fall," sagt Lauderdale in einem der vielen Beispiele, durch die er die Richtigkeit seiner Theorie zu erhärten sucht*), „daß ein Mann mit einem Wirkstuhl im stände ist, täglich drei Paar Strümpfe zu machen, und daß, um dasselbe Werk in derselben Zeit und mit gleicher Vollkommenheit zu vollbringen, 6 Handstricker nötig waren, so ist es offenbar, daß der Eigentümer des Wirkstuhles für die Anfertigung seiner 3 Paar Strümpfe den Lohn von 5 Strickern verlangen könnte und ihn auch erhalten würde, da der Konsument, wenn er ihm den Vorzug vor den Strickern gibt, bei dem Kauf der Strümpfe noch immer den Lohn von einem Stricker in Ersparung bringen würde" (S. 165). Ein naheliegendes Bedenken bemüht sich Lauderdale sofort selbst zu entkräften. „Der kleine Gewinn, welchen die Eigentümer von Maschinen 1) Inquiry S. 172, 177, 206. ') Lauderdale führt mit großer Greduld und Gründlichkeit seine Theorie für alle möglichen Verwendungsarten des Kapitales durch, deren er fünf unterscheidet: Bau und Anwendung von Maschinen, Kapitalverwendung im Inlandhandel, im auswärtigen Handel, in der Landwirtschaft und in der „Zirkulation" oder im Umlaufswesen des Landes. Das im Text zitierte Beispiel gehört der ersten der bezügUchen fünf Teilunter- suchungen an. Ich habe es ausgewählt, weil in ihm die Art und Weise am klarsten versinnhcht ist, in der sich Lauderdale den Zusammenhang des Kapitalgewinnes mit der arbeitersetzenden Kraft des Kapitales vorstellt. 128 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. gewöhnlich erlangen, im Vergleich mit den Löhnen der Arbeit, die die Maschine ersetzt, mag vielleicht einen Verdacht gegen die Kichtigkeit dieser Meinung erregen. Manche Pumpwerke z. B. ziehen täglich mehr Wasser aus einer Kohlengrube, als auf den Schultern von 300 Mann heraus- geschafft werden könnte; . . . dabei verrichtet ein Pumpwerk seine Arbeit unzweifelhaft für eine viel geringere Ausgabe, als der Lohn jener beträgt, deren Arbeit sie so ersetzt. Dies ist in Wahrheit bei allen Maschinen der Fall." Diese Erscheinung darf indes, wie Laüderdale erklärt, nicht irre machen. Sie kommt einfach daher, daß der Gewinn, der aus dem Gebrauch einer Maschine zu ziehen ist, eben auch dem universellen Preisregulator, dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage, unterworfen ist. „Der Fall eines Patentes oder eines ausschließlichen Privilegiums auf den Gebrauch einer Maschine . , . wird dies weiter ins Klare setzen." „Wenn ein solches Privileg für die Erfindung einer Maschine gegeben wird, die durch die Arbeit eines Mannes ein Werk vollbringt, das sonst die Arbeit von vier Männern in Anspruch zu nehmen pflegte, so wird — da der Besitz des ausschließlichen Privilegiums alle Konkurrenz in der Verrichtung des Werkes abhält mit Ausnahme jener, die aus der Hand- arbeit der vier Männer hervorgeht, — der Lohn der letzteren, solange das Patent dauert, offenbar die Richtschnur für die Forderung (charge) des Patentinhabers bilden; das heißt, um sich Beschäftigung zu sichern, braucht er nur um eine Kleinigkeit weniger zu fordern, als den Lohn jener Arbeit, die durch seine Maschine ersetzt wird. Aber wenn das Patent erlischt, treten andere Maschinen derselben Art in Konkurrenz; und nun muß seine Forderung sich nach demselben Prinzip richten wie alles andere, nämlich nach der Häufigkeit der Maschinen, oder (was dasselbe ist) nach der Leichtigkeit, sich Maschinen zu verschaffen, im Verhältnis zur Nach- frage nach ihnen." Hiermit glaubt Laüderdale endgiltig erwahrheitet zu haben, daß in der Tat die Ursache und Quelle des Kapitalgewinnes in einer Ersparung von Arbeit, beziehungsweise von Arbeitslöhnen, gelegen ist. Ist ihm diese Erwahrheitung wirklich gelungen? Hat Laüderdale durch seine vorstehenden Ausführungen die Entstehung des Kapitalzinses wirklich erklärt? — Eine aufmerksame Prüfung seiner Argumente wird uns diese Frage sehr bald verneinen lassen. Zwar der Ausgangspunkt, den er für seine Argumentation nimmt, ist untadelig. Es mag — um die Sache an dem von Laüderdale selbst gewählten Beispiel durchzuführen — ganz richtig sein, daß ein Mann mit einem Maschinenstuhl täglich ebensoviele Strümpfe anfertigen kann als sechs Handstricker. Es ist auch ganz richtig, daß der Besitzer des Ma- schinenstuhles, falls dieser Gegenstand eines Monopoles ist, für dessen Tagesarbeit leicht den Lohn von fünf Strickern, im Falle unbeschränkter Lauderdale. 229 Konkurrenz allerdings entsprechend weniger „aufrechnen" kann, wobei er nach Abzug des Lohnes für den Mann, der die Maschine bedient, täglich vier Arbeitslöhne — bei freier Konkurrenz abermals entsprechend weniger, aber jedenfalls etwas — auf seinen Anteil übrig behält. Es ist damit in der Tat ein Wertanteil des Kapitalisten erwiesen. Aber dieser wirklich erwiesene Kapitalistenanteil ist nicht der zu erklärende reine Kapitalzins oder „profit", sondern erst der Brutto- ertrag der Kapitälbenützung. Die fünf Löhne, die der Kapitalist auf- rechnet, beziehungsweise die vier, die er nach Bezahlung des Bedienungs- mannes übrig behält, sind die Gesamteinnahme, die er mit seiner Maschine macht. Um den darin ' enthaltenen Reingewinn zu erhalten, muß man offenbar vorher noch die Abnützung der Maschine selbst in Abzug bringen. Dies hat Lauderdale, der in seinem ganzen Gedankengang immerfort auf den „profit" abzielt, entweder übersehen — also Rohzins und Reinzins verwechselt — oder er hat es für ganz selbstverständlich gehalten, daß von dem Rohzins nach Abzug der Abnützungsquote etwas als Reinzins übrig bleibe. Im ersten Fall hat er geradezu geirrt, im zweiten gerade denjenigen Punkt beweislos präsumiert, der am schwierigsten, ja der allein schwierig zu erklären ist: daß und warum vom Bruttoertrage des Kapitales nach Abzug des Aufwandes an Kapitalsubstanz noch etwas als Mehrwert erübrigen müsse, das ist ja eben die große Frage des Zins- problems. Um den Punkt, um welchen sich alles dreht, durch eine ziffernmäßige Aufstellung in möglichst deutliches Licht zu stellen, wollen wir annehmen, der Taglohn eines Arbeiters betrage 1 fl, und die Maschine dauere bis zu ihrer gänzlichen Abnützung ein Jahr. Alsdann wird die einjährige Bruttonutzung der Maschine sich auf 4 x 365 d. i. 1460 fl. stellen; und um den allenfalls darin enthaltenen Reinzins zu ermitteln, muß man offenbar den ganzen Kapitalwert der im Gebrauchsjahr sich vollständig abnützenden Maschine in Abzug bringen. Wie hoch wird dieser Kapitals- wert nun sein ? — Offenbar liegt hier die Entscheidung. Ist der Kapitals- wert weniger als 1460 fl., so bleibt ein Reinzins übrig, ist er gleich oder höher als 1460 fl., so kann kein Gewinn bleiben. Über diesen entscheidenden Punkt hat nun Lauderdale weder einen Beweis, noch auch nur eine Annahme gegeben. Kein Zug seiner Theorie hindert uns anzunehmen, daß der Kapitaiswert der Maschine 1460 fl. voll erreicht. Im Gegenteile, wenn wir die Maschine mit Lauderdale als Gegenstand eines Monopoles denken, haben wir eine gewisse Berech- tigung, einen recht hohen Preis derselben zu erwarten. Die Erfahrung freilich belehrt uns, daß Maschinen und Kapitalstücke überhaupt, mag ihr Monopolpreis auch noch so hoch getrieben werden, doch nie ganz soviel kosten können, als sie tragen. Aber das sagt uns eben nur die Erfahrung und nicht Lauderdale, und, was das Entscheidende ist, jedenfalls sagt Böhm-Ba werk, Kapitalzins. 4. Anfi. 9 130 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. uns LauderdAle kein Wort zur Erklärung dieser Erfahrungstatsache; damit hat er aber auch den Kern des Zinsproblems unberührt gelassen. In jener Variante des Beispiels, in der Lauderdale die volle freie Konkurrenz eröffnet annimmt, könnten wir freilieh den Wert der Maschine wenigstens als relativ fixiert ansehen mit dem Betrage ihrer Erzeugungs- kosten. Allein dafür gerät jetzt wieder der andere maßgebende Faktor, der Betrag der Bruttonutzung, ins Schwanken. Ist z. B. der Kostensatz und damit der mutmaßliche Kapitalwert der Maschine 100 fl., so wird das Erübrigen eines Reinzinses davon abhängen, ob die tägliche Brutto- nutzung der Maschine ^""/ses ^1- übersteigt oder nicht. Wird sie diesen Satz übersteigen? Lauderdale sagt uns darüber nichts, als daß sich die Forderung des Kapitalisten „nach demselben Prinzip richten muß wie alles andere", nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Das heißt, er sagt uns gar nichts. Und doch wäre es sehr notwendig gewesen, etwas zu sagen und das Gesagte überdies auch zu erklären. Denn daß die Bruttonutzung höher ist als der durch freie Konkurrenz auf den Kostensatz herabgedrückte Kapitalswert der Maschine, ist wieder nicht im mindesten selbstverständ- lich. Gerade wenn im Gebrauche der Maschine volle freie Konkurrenz herrscht, drückt sie ja auch auf den Wert der Kapitalprodukte, in unserem Fall der Strümpfe, und drückt damit auch den Bruttoertrag der Maschine herunter. Solange nun die Maschine noch mehr trägt, als sie kostet, bleibt dem Unternehmer ein Gewinn, und das Dasein eines Gewinnes, sollte man meinen, werde solange als Anreiz zur weiteren Vermehrung der Maschinen wirken, bis durch die gesteigerte Konkurrenz endlich der Extra- gewinn völlig verschwindet. Warum soll die Konkurrenz früher Halt machen? Warum soll sie z. B. schon Halt machen, wenn die Brutto- nutzung einer Maschine, die 100 fl. kostet, auf 110 oder auf 105 fl. gesunken ist, und damit einen Reinzins von 10 oder 5 % gewähren ? Das verlangt seine vollwichtige Erklärung, zu der Lauderdale nicht ein Wort ge- liefert hat. Lauderdales Erklärung hat also neben das Ziel geschossen. Was sie wirklich erklärt, ist etwas, was der Erklärung gar nicht bedurft hätte: nämlich die Tatsache, daß das Kapital einen Rohzins, einen Rohertrag liefert. Was aber der Erklärung gar sehr bedurft hätte, nämlich das Er- übrigen eines Reinertrages im Rohertrage, bleibt so dunkel wie zuvor. An diesem Urteil wird wohl auch die Gegenprobe nichts ändern, durch welche Lauderdale die Richtigkeit seiner Theorie zu bekräftigen sucht, und auf die er großes Gewicht legt. Er demonstriert, daß überall da, wo eine Maschine keine Arbeit erspart, wo die Maschine z. B. 3 Tage für Anfertigung eines Paares Strümpfe braucht, während der Handarbeiter dasselbe Werk mit 2 Arbeitstagen herstellt, auch der „profit" fehlt. Daa Lauderdale, Malthus. 131 sei, meint Lauderdale, ein deutlicher Beleg, daß in der Tat der profit aus der arbeitersetzenden Kraft des Kapitales kommt (S. 164 f.). Die Gegenprobe ist schwach. Sie beweist allerdings, daß die arbeit- ersetzende Kraft der Maschine eine unentbehrliche Bedingung des profit ist — was übrigens ziemlich selbstverständlich ist, da ja ohne diese Eigen- schaft die Maschine gar keine Nützlichkeit hätte und nicht einmal ein Gut wäre. Aber sie beweist bei weitem nicht, daß der Zins in jener Kraft seine volle Erklärung finde. Mittelst einer ganz analogen Gegenprobe hätte Lauderdale auch die Wahrheit einer gerade entgegengesetzten Theorie beweisen können, daß der Kapitalgewinn aus der Tätigkeit des Arbeitsmannes hervorgeht, der die Maschine bedient. Denn bedient niemand die Maschine, so steht sie stül, und steht sie still, so gibt sie nie einen Profit. Folglich hat der Arbeiter den Kapitalgewinn erzeugt? Ich habe die Irrgänge, in die Lauderdales Erklärungsweg hinein- führt, geflissentlich mit größerer Genauigkeit beleuchtet; denn die Kritik galt nicht Lauderdale allein; sie gilt allen, die im Versuche, den Kapital- zins aus der Produktivität des Kapitales zu motivieren, auf denselben Irrweg geraten sind. Und wie wir sehen werden, ist die Zahl derer, die so ihre Kritik voraus empfangen haben, nicht klein und umschließt manchen berühmten Namen. Seinen ersten bedeutenden, aber keineswegs entschiedenen Nachfolger fand Lauderdale an Malthus^). In seiner bekannten Vorliebe für genaue Definitionen hat Malthus auch die Natur des Kapital gewinnes sorgsam festgestellt: „Der Kapital- gewinn besteht in der Differenz zwischen dem Werte des Vorschusses, der nötig ist, um ein Gut zu erzeugen, und dem Werte des fertigen Pro- duktes" (S. 293). „Die Gewinnrate", fährt er mehr genau als wohlklingend fort, „ist das Verhältnis, in welchem die Differenz zwischen dem Werte des Vorschusses (advances) und dem Wert des fertigen Produktes zum Werte des Vorschusses steht, und sie verändert sich mit den Veränderungen des Wertes des Vorschusses im Verhältnis zum Wert des Produktes" (S. 294). Nach solchen Worten wäre die Frage wohl naheliegend gewesen, warum denn überhaupt eine solche Wertdifferenz zwischen Vorschuß und Produktwert bestehen muß? Leider kommt Malthus nicht dazu, diese Frage ausdrücklich zu stellen. Indem er seine ganze Sorgfalt der Unter- suchung über die Höhe des Kapitalzinses widmet, hat er für die Frage nach seinem Ursprung nur einige ziemlich dürftige Andeutungen übrig. In der ausführlichsten derselben weist Malthus ganz ähnlich wie vor ihm Lauderdale auf die Produktivität des Kapitales hin. Durch ^) Principles of Political Economy, London 1820. 9* 132 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-Ä. Motivierte Produktivitätstheorien. Kapitalvorschüsse an Werkzeugen, Nahrungsmitteln und Werkstoffen wird der Arbeiter in den Stand gesetzt, acht oder zehnmal mehr zu er- zeugen, als er ohne solche Unterstützung gekonnt hätte. Das scheint auf den ersten Blick den Kapitalisten zu berechtigen, die ganze Differenz zwischen der Wirksamkeit der ununterstützten und der unterstützten Arbeit für sich in Anspruch zu nehmen. Aber die verstärkte Wirksamkeit der Arbeit zieht ein verstärktes Angebot an Produkten und dieses eine Senkung des Preises derselben nach sich. Infolge davon muß auch die Vergütung für das Kapital bald sinken, bis auf jenes Maß, „das bei dem bestehenden Zustande der Gesellschaft notwendig ist, um die Artikel, zu deren Produktion das Kapital angewendet wird, noch auf den Markt bringen zu können." Der Lohn der Arbeiter wird dabei ungefähr der gleiche bleiben, da weder ihre Anstrengung noch ihre Geschieküchkeit wesentlich größer wird, als wenn sie ohne Kapitalunterstützung gearbeitet^ hätten. „Es ist daher", führt Malthus seinen Standpunkt durch eine polemische Bemerkung präzisierend fort, „nicht ganz richtig, den Kapital- gewinn, wie Adam Smith es tut, als einen Abzug vom Produkt der Arbeit hinzustellen. Er ist nur eine billige Vergütung für den Teil, den der Kapi- talist zur Produktion beigetragen hat"^). Man wird in dieser Auseinandersetzung unschwer die Hauptgedanken der LAUDERDALEschen Produktivitätstheorie wiedererkennen, die nur in etwas modifizierter Form und mit etwas geringerer Präzision vorgetragen werden. Nur ein Zug deutet in eine andere Richtung: nämlich die wenn auch leise Hervorhebung, daß der Drang der Konkurrenz einen Anteil des Kapitalisten, „so viel als notwendig ist, um die Artikel, zu deren Produktion Kapital angewendet wird, auf den Markt bringen zu können", doch immer übrig lassen muß. Zwar hat sich Malthüs auf die Motivierung dieser Nuance noch mit keinem Worte eingelassen. Allein schon darin, daß er sie überhaupt angebracht hat, prägt sich die Empfindung aus, daß an der Bildung des Kapitalgewinnes neben der Produktivität des Kapitales noch ein anderes Etwas beteiligt sein muß. Kräftiger kommt derselbe Gedanke darin zum Ausdruck, daß Malthus den Kapitalgewinn direkt für einen Bestandteil der Produktions- kosten erklärt 2). Die förmliche Proklamierung dieses Satzes, zu dem schon Smith und Ricardo hinneigten, ohne ihn ausdrücklich auszusprechen »), ist ein lite- M Principles S. 80f. *) Principlea S. 84 und oft; Definitions in Political Economy, Nr. 40 und 41. ^) Eine gewisse Note, die sich am Ende der Sect. VI des I. Kap. von Ricabdos Principles findet (S. 30 der Ausgabe von 1871), hat bisweilen die Meinung veranlaßt, als ob schon Ricardo den obigen Satz ausdrücklich aufgestellt hätte. Das ist indes nicht der Fall. Er legt hier jene Meinung nur Malthus in den Mund, der sie in der Tat geäußert hatte. Vgl. Wollembobg, Intorno al costo relativo di produzione, Bologna 1882, S. 26f. Malthus. 133 Tarisches Ereignis von ziemlicher Wichtigkeit geworden. Sie gab nämlich den Anstoß zu einer sehr anregenden Kontroverse, die zunächst in der englischen, dann aber auch in anderen Literaturen durch einige Dezennien mit großer Lebhaftigkeit geführt wurde, und die der Entwicklung der Zinstheorie indirekt sehr zu statten kam. Denn indem man mit Eifer diskutierte, ob der Kapitalgewinn zu den Produktionskosten gehöre oder nicht, konnte es nicht fehlen, daß man überhaupt zu einer eingehenderen Untersuchung seiner Natur und seines Ursprunges veranlaßt wurde. Den Satz, daß der Kapitalzins ein Bestandteil der Produktionskosten sei, wird der Dogmatiker wesentlich anders beurteilen als der Dogmen- historiker. Der erstere wird ihn für einen groben Miß griff erklären, wie dies von Malthus' Zeitgenossen schon Torrens*), und neuestens wieder in harten, ich glaube, in allzuharten Worten Pierstorff^) getan hat: denn der Kapitalgewinn ist kein Opfer, das die Produktion erfordert, sondern ein Anteil an ihren Früchten. Ihn für ein Opfer zu erklären, war nur durch eine ziemlich grobe Verwechslung des volkswirtschaftlichen Standpunktes mit dem individualwirtschaftlichen des einzelnen Unter- nehmers möglich, der die Auszahlung der Zinsen für geborgte Geschäfts- kapitalien allerdings als ein Opfer empfindet. Aber in der verunglückten Form steckt doch ein bedeutungsvoller Gedanke, der über die unzureichende Produktivitätstheorie hinausweist, und den Malthus offenbar im Sinn gehabt hat: der Gedanke nämlich, daß die Opfer der Produktion sich nicht mit der Arbeit erschöpfen, die teils direkt, teils, in der Kapitalsubstanz verkörpert, indirekt auf die Produktion verwendet wird sondern daß außerdem noch ein besonderes Opfer von Seite des Kapitahsten erfordert wird, das gleichfalls seine Vergütung erheischt. Malthus war allerdings noch nicht imstande, die Natur dieses Opfers näher zu bezeichnen. Immerhin wird der Dogmen- historiker in der etwas seltsamen Bezeichnung des Kapitalgewinnes als Kostenbestandteil ein interessantes Mittelglied erkennen zwischen den ersten Andeutungen bei Adam Smith, daß der Kapitalist einen Gewinn haben müsse, weil er sonst kein Interesse zur Kapitalbildung hätte, und den präziseren Theorien eines Say, der die Services productifs, eines Hermann, der die Kapitalnutznng", und namentlich eines Senior, der die „Enthaltsamkeit" des Kapitalisten als Vergütung heischendes Opfer und Kostenbestandteil erklärt. Bei Malthus klingen freilich die Anfänge dieser Lehren noch zu leise an, um die gröbere Erklärung, die er nach Laüderdales Vorbild aus der Produktivität des Kapitales herleitet, zu übertönen. Daß übrigens weder die eine, noch die andere Erklärung bei Malthus 1) Siehe oben S. 84 f. «) Lehre vom Untemehmergewinn, S. 24. 134 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. recht in Fleisch und Blut übergegangen ist, beweisen seine Ausführungen über die Höhe des Kapitalgewinnes (S. 294ff.). Statt, wie es natürlich gewesen wäre, die jeweilige Höhe des Kapitalzinses aus dem Spiel der- selben Kräfte herzuleiten, die den Zins überhaupt zur Existenz bringen, erklärt er sie aus ganz heterogenen Einflüssen, nämlich aus der Höhe der Arbeitslöhne einerseits und aus dem Preis der Kapitalprodukte andererseits. Er kalkuliert nämlich folgendermaßen. Der Gewinn ist die Differenz zwischen dem Wert des Kostenvorschusses und dem Wert des Produktes. Die Gewinnrate wird daher desto größer sein, je kleiner der Kostenvorschuß und je größer der Produktwert ist. Da nun der größte und wichtigste Teil des Kostenvorschusses in den Arbeitslöhnen besteht, so erscheinen als die zwei maßgebenden Bestimmgründe der Gewinnrate die Höhe des Arbeitslohnes einerseits und der Preis der Produkte andererseits. So logisch diese Art der Erklärung auch zu sein scheint, so dringt sie doch, wie sich leicht zeigen läßt, in das Wesen der Sache gar nicht ein. Es sei mir gestattet, mich eines Vergleiches zu bedienen. Gesetzt, es handelt sich darum die Ursache zu nennen, welche über die Größe des Abstandes entscheidet, in dem die Gondel eines schwebenden Luftballons vom letzteren selbst sich befindet. Es ist auf den ersten Blick klar, daß diese Ursache in der Länge des Seiles zu suchen ist, welches die Gondel mit dem Ballon verbindet. Was würde man aber dazu sagen, wenn jemand die Untersuchung folgendermaßen führen würde: ,,Der Abstand ist gleich der Differenz der absoluten Höhe von Ballon und Gondel; er wird daher vergrößert durch alles, was die absolute Höhe des Ballons vergrößert und die absolute Höhe der Gondel verringert, und verringert durch alles, was die absolute Höhe des Ballons verringert, und die absolute Höhe der Gondel vergrößert." Und nun würde der Erklärer alle möglichen Momente, die auf die absolute Erhebung von Ballon und Gondel Einfluß haben können — Dichtigkeit der Atmosphäre, Gewicht von Ballonhülle und Gondel, Zahl der in letzterer befindlichen Personen, Dünne des zur Füllung verwendeten Gases usw. — zur Erklärung heranziehen, nur die Länge des Verbindungsseiles nicht! Und geradeso geht Malthus vor. Er forscht in seitenlangen Unter- suchungen, warum der Arbeitslohn hoch oder niedrig ist; er polemisiert mit unermüdlicher Ausdauer gegen Ricardo, daß die Schwierigkeit oder Leichtigkeit der Bodenproduktion nicht die einzige Ursache eines hohen oder niederen Arbeitslohnes ist, sondern daß auf diesen auch die jeweilige FüUe von Kapital, das zur Nachfrage nach Arbeit verwendet wird, einen Einfluß nimmt; er wird ebensowenig müde zu versichern, daß das Ver- hältnis von Angebot und Nachfrage nach Produkten, indem es den Preis der letzteren höher oder niedriger stellt, zur Ursache eines hohen oder niedrigen Kapitalgewinnes wird: aber er vergißt die einfachste Frage zu stellen, auf die alles ankommt: welche Kraft hält Arbeitslöhne und Malthus, Carey. 1^ Produktpreis auseinander, so daß sie, gleichviel in welchem abso- luten Niveau sie sich bewegen, einen Zwischenraum zwischen sich lassen, den der Kapitalgewinn ausfüllt? Nur ganz schwach, schwächer noch als bei ähnlicher Gelegenheit KicARDo, spielt auch Malthus auf die Existenz einer solchen Kraft an, wenn er die Bemerkung macht, daß die allmähliche Verringerung des Gewinnsatzes endlich „die Kraft und den Willen der Kapitalbildung" zum Stillstand bringen müsse i). Aber er weiß so wenig wie Ricardo dieses Element für die Erklärung der Gewinnhöhe auszubeuten. Vollends kraftlos wird Malthus' Erklärung endlich dadurch, daß er für die Höhe eines der beiden für maßgebend erklärten Faktoren, nämlich für die Höhe der Produktenpreise, keinen inhaltsvolleren Bestimmgrund anzugeben weiß, als das Verhältnis von Angebot und Nachfrage 2). Damit hat die Erklärung einen Ausgang gefunden, in dem sie freilich unanfechtbar ist, in dem sie aber auch gar nichts mehr sagt. Denn daß die Höhe des Zinses vom Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach gewissen Gütern beeinflußt wird, ist bei dem Umstand, als der Zins selbst ein Preis oder eine Preisdifferenz ist, allzu selbstverständlich 8). Nach Malthus wurde die Theorie von der Produktivität des Kapitales in England nur noch durch Read*) fortgepflanzt, der sie indes mit anderen- Theorien vermischt hat, weshalb wir ihn später unter den EUektikem wiederfinden werden. Dagegen finden wir sehr ähnliche Anschauungen etwas später in den Schriften einiger berühmter nordamerikanischer Schriftsteller, zumal Henry Careys und Peshine Smiths. Carey 6) gibt in unserer viel verworrenen Materie eines der aller- übelsten Beispiele von Verworrenheit. Was er über den Kapitalzins sagt, ist eine Kette von unglaublich plumpen und leichtfertigen Irrungen, von denen es kaum begreiflich ist, wie sie jemals in der wissenschaftlichen Welt Ansehen erringen konnten. Ich würde dieses Urteil nicht in so harte Worte kleiden, wenn Careys Zinstheorie nicht auch heute noch«) bei ') a. a. 0. S. 303; ähnlich Ö. 299 und öfters. *)„... the latter case . . . shews at once how mach profits depend upon thepricesofcommodities and upon the cause which detennines these prices namely the supply compared with the demand" (S. 334). ') Ich glaube die Details der langwierigen und unfruchtbaren Kontroverse, die Malthus gegen Ricardos Zinstheorie führt, übergehen zu können. Sie bietet viele schwache Punkte. Wer eine genaue Beurteilung lesen wiU, findet sie bei Pierstorff a. a. 0. S. 23ff. *) An inquiry into the natural grounds of right to vendible property or Wealth, Edinburgh 1829. ') Sein Hauptwerk sind die Principles of social science, 1858. Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung von Adler, ,, Grundlagen der Sozialwissenschaft", München 1863. *) 1884 geschrieben. 136 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. vielen eine Wertschätzung genösse, die ich für sehr übel angebracht halte. Es ist eine jener Theorien, die nach meiner Ansicht nicht bloß ihren Autor, sondern auch die Wissenschaft diskreditieren, die sich zur gläubigen Annahme verleiten läßt; nicht deshalb, weil sie irrt, sondern wegen der unverzeihlichen Art der Verstöße, durch die sie irrt. Ob ich zu hart urteile, davon mögen die Leser aus dem folgenden sich selbst überzeugen. Carey hat seinen Ansichten über den Ursprung des Kapitalzinses keine abstrakte Formulierung gegeben. Wie er es überhaupt liebt, die Erklärung wirtschaftlicher Phänomene aus der Vorführung elementarer Situationen des Kobinsonlebens zu ziehen, so begnügt er sich auch hier, die Entstehung des Kapitalzinses zu schildern, wobei er seine Meinung über die Ursachen des Vorganges nur durch die charakteristischen Züge zu erkennen gibt, mit denen er den Vorgang ausstattet. Aus solchen Schilderungen müssen wir Careys Theorie herauslesen. Carey behandelt unsere Materie ex professo im 41. Kapitel seiner „Grundlagen", betitelt „Lohn, Gewinn und Zins". Nach einigen ein- leitenden Worten findet sich in § 1 dieses Kapitels folgende Schilderung: „Freitag besaß kein Kanoe und hatte auch nicht das zur Produktion eines solchen Werkzeuges erforderliche geistige Kapital erworben. Hätte Crusoe ein Kanoe besessen und hätte Freitag dasselbe entlehnen wollen, so hätte ihm wohl der erstere geantwortet: „In einiger Entfernung von der Küste gibt es eine Menge von Fischen, in unserer unmittelbaren Nähe dagegen sind sie selten. Wenn Du ohne die Hufe meines Kanoes arbeitest, wirst Du kaum mit all Deiner Arbeit die zur Erhaltung des Lebens not- wendige Nahrung gewinnen; mit dem Kanoe dagegen kannst Du in der halben Zeit so viele Fische fangen, als wir beide brauchen. Gib mir drei Vierteile von allen, die Du fängst, und Du sollst den Kest für Deine Dienste haben. Dies wird Dir einen reichlichen Vorrat von Nahrung verschaffen und es wird Dir immer noch ein großer Teil Deiner Zeit frei bleiben, die Du dann anwenden kannst, um Dir eine bessere Wohnung und bessere Kleidung zu verschaffen." So hart diese Bedingungen auch scheinen mögen, hätte Freitag doch das Anerbieten angenommen und von Crusoes Kapital Gewinn gezogen, obwohl er die Nutzung desselben teuer bezahlen mußte"!). Bis hieher ist, wie man sehen kann, Careys Theorie eine ziemlich getreue Kopie von Laüderdale. Wie dieser geht auch Carey davon aus, daß das Kapital die Ursache eines produktiven Mehrerfolges wird. Dieser Umstand wird zur Veranlassung, daß der Kapitalist für den Gebrauch seiner Kapitalstücke einen Preis erhält, und dieser Preis wird — wie aus vielen Stellen hervorgeht — von Carey ganz so wie von Laüderdale ohne weiteres mit dem zu erklärenden Kapitalzins identifiziert, wiewohl 1) III, 128; ähnlich I, 193. Carey. 137 er ganz offenbar nur die Bruttonutzung des Kapitales repräsentiert. Daß Carey, -hierin von Laüdekdale abweichend, das Kapital nicht als selbständigen Produktionsfaktor, sondern nur als ein Werkzeug der Produktion ansieht^), tut nichts zur Sache: es bleibt doch der wesentliche Zug, daß der produktive Mehrerfolg, der sich an die Kapitalverwendung knüpft, als die Ursache des Kapitalzinses hingestellt wird. ' Während aber Lauderdale nur die eine Verwechslung von Roh- und Reinnutzung zur Last fallt, spielt Carey mit einer ganzen Reihe von Begriffen Fangball. Er wirft nicht allein rohe und reine Nutzung, sondern diese beiden Begriffe wieder mit den Kapitalstücken selbst durcheinander; und das nicht bloß gelegentlich, sondern prinzipiell, indem er mit vollem Bewußtsein die Ursachen eines hohen oder niederen Kapitalzinses mit den Ursachen eines hohen oder niederen Wertes der Kapitalstücke identifiziert, und die Höhe des Zinsfußes geradezu aus der Höhe des Wertes der Kapitalstücke ableitet! Diese kaum glaubliche Begriffsverwirrung zieht sich durch alle Stellen, an denen Carey vom Kapitalzinse handelt. Ich benütze zur Darlegung seines Gedankenganges vorzugsweise die Kapitel VI (über den Wert) und XLI (über Lohn, Gewinn und Zins), in denen er sich über unseren Stoff am zusammenhängendsten äußert. Nach Careys bekannter Werttheorie bemißt sich der Wert aUer Güter nach der Größe der Kosten, die ihre Reproduktion erfordert. Die zunehmende wirtschaftliche Entwicklung, die in nichts anderem besteht, als in einer zunehmenden Beherrschung der Natur durch den Menschen, setzt diesen in den Stand, die benötigten Güter mit immer geringeren Kosten herzustellen. Dies gilt unter anderm auch von jenen Werkzeugen, welche das Kapital des Menschen bilden; das Kapital hat daher die Tendenz, mit zunehmender Kultur immer mehr im Werte zu fallen. „Die Arbeits- quantität, die zur Reproduktion des vorhandenen Kapitals und zur weiteren Vermehrung der Quantität des Kapitals erforderlich ist, nimmt mit jedem Stadium des Fortschritts ab. Die früheren Ansammlungen sinken stets im Werte, und ebenso beständig steigt die Ai^beit im Vergleich zu denselben" 2). Als Begleiterscheinung und Folge der Abnahme am Werte des Kapi- tales tritt auch eine Abnahme an der Höhe des Preises ein, der für seinen Gebrauch gezahlt wird. Dieser Satz wird von Carey nicht eigentlich bewiesen — dazu hält er ihn offenbar für zu selbstverständlich, was er- richtig verstanden, in der Tat auch ist — sondern er nimmt ihn in einfach referierendem Tone in die Schilderungen der wirtschaftlichen Entwicklung Robinsons auf. Er erzählt, wie der Besitzer der ersten Axt für das Aus- leihen derselben mehr als die Hälfte des Holzes hätte verlangen können, ') III. 47, 78 und oft. *) III, S. 130. Ähnlich Bd. I Kap. VI passim. 138 VII. Produktivitätstheorien. 3. U. A. Motivierte Produktivitätstheorien. das man damit fällen konnte, während später, wenn man sich bessere Äxte um billigeren Preis verschaffen kann, auch für ihren Gebrauch nur mehr ein relativ geringerer Preis bezahlt wird^). Auf diese vorbereitenden Tatsachen baut Garey sodann sein großes Gesetz des Kapitalzinses auf. Es lautet, daß mit zunehmender wirtschaft- licher Kultur die Rate des Kapitalgewinnes, das ist der Zinsfuß, sinkt, während die absolute Quantität des Kapitalgewinnes steigt. Die Art, wie Garey zu diesem Gesetz gelangt, kann nur dann gebührend gewürdigt werden, wenn man seine bezüglichen Ausführungen im Wortlaut kennt. Der Leser möge daher das etwas längere wörtliche Zitat entschuldigen, das ich nun folgen lasse: „So wenig Arbeit auch mittelst der steinernen Axt verrichtet werden konnte, war ihr Dienst für den Besitzer gleichwohl sehr groß. Es war ihm deshalb klar, daß der Mann, dem er sie lieh, für die Nutzung derselben einen hohen Preis bezahlen müsse. Auch konnte dieser wohl diesen Preis zahlen, wie wir leicht begreifen. Da er mit der Axt in einem Tage mehr Holz fällte, als er ohne dieselbe in einem Monat fällen konnte, mußte er durch ihre Hilfe noch gewinnen, wenn ihm auch nur der zehnte Teil seines Arbeitsprodukts gelassen wurde. Sobald ihm aber erlaubt wird, den vierten Teil zu behalten, sieht er seinen Lohn bedeutend erhöht trotz der ansehnlichen Quote, die sein Nachbar Kapitalist als Gewinn in Anspruch nimmt." „Die Axt von rohem Erz, welche darnach erlangt wird, erweist sich weit nützlicher und ihr Besitzer muß nun, wenn die Nutzung derselben von ihm begehrt wird, den Umstand im Auge behalten, daß nicht nur die Produktivität der Arbeit beträchtlich zugenommen hat, sondern zugleich auch die Arbeitsquantität, die man auf die Produktion einer Axt verw-enden muß, sehr abgenommen hat, daß also die Macht des Kapitales über die Arbeit gesunken ist, während die Macht der Arbeit zum Behufe der Reproduktion des Kapitals gestiegen ist. Er verlangt deshalb nicht mehr als zwei Dritteile von dem Preise des wirksameren Werkzeuges. . . . Wird diese Übereinkunft abgeschlossen, so stellen sich die Wirkungen der früheren Verteilungen im Vergleich zu den späteren wie folgt: Gesamt- Anteil des Anteil des ertrag Arbeiters Kapitalisten 4 1 3 8 2,66 5,33" Erste Verteilung Zweite „ „Kommt nun die Axt von Eisen, so wird eine neue Verteilung not- wendig, da die Kosten der Reproduktion abermals abgenommen 1) I, 193. Ähnlich des öfteren. Carey. 139 haben, während die Proportionen der Arbeit im Vergleich zum Kapital zugenommen haben. Das neue Werkzeug spaltet doppelt so viel Holz, als man mit der Axt von Erz spalten konnte; und doch sieht sich der Besitzer desselben genötigt, sich mit der HäKte des Produkts zu begnügen. Die folgenden Ziffern geben eine vergleichende Übersicht über die ver- schiedenen Arten der Verteilung: Gesamtertrag Arbeiter Kapitalist Erste Verteilung 4 1 3 Zweite „ 8 2,66 5,33 Dritte „ 16 8 8" „Durch die Axt von Eisen und Stahl, die hierauf folgt, wird der Ertr^ abermals verdoppelt, unter weiterer Verminderung der Reproduktions- kosten; und jetzt muß sich der Kapitalist mit einer geringeren Quote be- gnügen, und die Verteilung wird folgende: Vierte Verteilung 32 19,20 12,80" „Der Anteil des Arbeiters hat zugenommen; und da auch der Ge- samtertrag bedeutend zugenommen hat, ist die Vermehrung seiner Quantität eine sehr bedeutende. Der Anteil des Kapitalisten hat zwar verhältnismäßig abgenommen; allein da der Ertrag so sehr zugenommen hat, ist diese Herabsetzung der Proportion von einer bedeutenden Ver- mehrung der Quantität begleitet. So ziehen beide großen Gewinn aus den Verbesserungen, welche bewerkstelligt wurden. Mit jeder weiteren Bewegung in derselben Richtung werden immer wieder dieselben Resultate gewonnen: die Quote des Arbeiters steigt mit jeder Zunahme der Pro- duktivität der Arbeit, die Quote des Kapitalisten nimmt ebenso regelmäßig ab, unter beständiger Zunahme der Quantität und ebenso beständiger Tendenz zur Gleichheit unter den verschiedenen Teilen, aus welchen die Gesellschaft besteht." „So lautet das große Gesetz, das die Verteilung der Arbeitsprodukte vorschreibt. Von allen im Buch der Wissenschaft verzeichneten Gesetzen ist es vielleicht das schönste, da es ein Gesetz ist, vermöge dessen eine vollkommene Harmonie der reellen und wahren Interessen der verschie- denen Klassen der Gesellschaft begründet wird"^). Ich bitte den Leser, an dieser Stelle des Zitats einen Augenblick inne zu halten und genau festzustellen, was von Carey bis jetzt behauptet, und zwar nicht strenge bewiesen, aber doch wenigstens anschaulich ge- macht worden ist. Der Gegenstand, den Carey verfolgte, war der Preis, der für die Überlassung des Gebrauches der Axt gezahlt wird, also ihr Mietzins. Die Größe dieses Mietzinses wurde in Vergleichung gezogen ») III, 131—133. 140 VII. Produktivit&tstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. mit der Größe des Gesamtertrages, den ein Arbeiter mit Hilfe der Axt hervorbringen kann. Das Ergebnis der fortgesetzten Ver- gleichung war, daß mit zunehmender Kultur der Mietzins, der für ein Kapitalstück gezahlt wird, eine immer kleinere Quote jenes Gesamt- ertrages bildet. Das und nichts anderes ist der Inhalt des Gesetzes, welches Carey bis jetzt entwickelt und bewiesen hat und das er in abge- kürzter Form mit den Worten auszudrücken liebt: „die Quote des Kapi- talisten sinkt." Hören wir Carey weiter. „Daß das Gesetz, welches in Bezug auf den Ertrag des in Äxten angelegten Kapitals aufgestellt wurde, ebenso richtig ist in Bezug auf alle anderen Arten von Kapital, wird dem Leser bei einigem Nachdenken begreiflich werden." Er demonstriert seine Wirksamkeit zuerst am Sinken des Mietzinses alter Häuser — worüber nichts besonderes zu bemerken ist — und fährt dann fort: „Ebenso verhält es sich mit dem Gelde. Brutus nahm beinahe fünfzig Prozent für die Nutzung desselben und zur Zeit Heinrichs VIII. war dem Geldverleiher eine Quote von nur zehn Prozent gestattet. Seit dieser Zeit ist sie beständig gefallen und vier Prozent ist in England so allgemein der feste Zinsfuß geworden, daß das Eigentum immer auf fünfundzwanzig Jahresrenten geschätzt wird; trotz- dem ist aber die Zunahme der Kräfte des Menschen so bedeutend gewesen, daß der gegenwärtige Empfänger von einem Fünfundzwanzigstel eine Summe von Annehmlichkeit und Komfort dafür erhalten kann, die doppelt so groß ist als die, welche seine Vorgänger für ein Zehntel erhalten konnten. In diesem Sinken der für die Nutzung des Kapitales erhobenen Quote finden wir den stärksten Beweis für den verbesserten Zustand des Menschen" (III, 135). In diesen Worten hat Carey plötzlich eine kühne Wendung voll- zogen. Er stellt sich auf einmal an, als ob der im vorausgegangenen geführte Be' is dem Zinsfuße gegolten hätte, und sieht es fortan und immer als bewiesene Sache an, daß die Herabminderung des Wertes des Kapitales eine Herabminderung des Zinsfußes bewirke!^) Diese Wendung der Sache beruht auf einer Erschleichung, wie sie gröber kaum gedacht werden kann. Im ganzen vorausgegangenen Beweis- gang war der Zinsfuß nicht mit einem Worte erwähnt, geschweige denn zum Gegenstand eines Beweises gemacht worden. Um diesen dennoch auf den Zinsfuß zu deuten, mußte Carey eine doppelte Sinnverdrehung begehen; die erste mit dem Begriff „Nutzung", die zweite mit dem Begriff „Quote". ^) z. B. III S. 141: „Die Quote des Kapitalisten (= Gewinn oder Zins, wie die folgenden Zeilen zeigen) sinkt . . , wegen der großen Arbeitsersparung"; S. 149 am Ende: „Verminderung der Kosten der Reproduktion und daraus entpringende Herabsetzung des Zinsfußes'' usw. Carey. 141 Im Laufe des Beweisgangs hatte er die Worte Gebrauch oder Nutzung des Kapitals stets im Sinne von „Bnittonutzung" gebraucht. Wer eine Axt vermietet, verkauft deren Bruttonutzung; der Preis, den er dafür erhält, ist ein Mietzins oder Rohzins. Jetzt gebraucht er aber das Wort Nutzung auf einmal im Sinn von reiner Nutzung, der der reine (Geld-) Zins entspricht. Während also allenfalls bewiesen war, daß der Rohzins die Tendenz zu einer relativen Abnahme hat, deutet Carey das Beweis- resultat so um, als ob diese Tendenz für den reinen Zins bewiesen wäre. Aber noch gröber ist die zweite Verdrehung. Im Laufe des Beweisgangs hatte das Wort „Quote" sich stets auf das Verhältnis des Zinsbetrages zum Gesamtertrage der mit Hilfe des Kapitales zu verrichtenden Arbeit bezogen. Jetzt, bei der Aus- nützung des Beweisresultats, deutet Carey das Wort Quote so um, daß es ein Verhältnis des Nutzungsbetrages zum Wert des Kapitalstocks, mit anderen Worten den Zinsfuß ausdrückt. Er spricht von einer „Quote von 10%", wobei er nicht mehr 10% des mit Hufe des geliehenen Kapitals zu erarbeitenden Ertrages, sondern 10% des Kapitalstocks meint; und er sieht in dem Herabgehen des Zinsfußes von 10 auf 4%, „in diesem Sinken der für die Nutzung des Kapitales erhobenen Quote", eine einfache Nutzanwendung des früher bewiesenen Gesetzes vom Sinken der „Quote", ohne zu ahnen, daß die „Quote" früher etwas ganz anderes bedeutet hatte als jetzt. Damit der Leser sich überzeuge, daß es sich in diesem Vorwurf nicht um ein Spiel mit Subtilitäten handelt, bitte ich ihn, das folgende konkrete Beispiel in Erwägung zu ziehen, das ich dem CAREvschen Gedankengange so genau als möglich anpasse. Gesetzt, mit einer stählernen Axt kann ein Arbeiter in einem Jahre 1000 Baumstämme gewinnen. Wenn eine einzige solche Axt vorhanden ist und keine gleich^tige beschafft werden kann, mag ihr Eigentümer für die Überlassung ihres Gebrauches einen starken Bruchteil des Gesamt- ertrages fordern und erhalten, z. B. die Hälfte. Der Kapitalwert, den die einzige Axt selbst unter solchen Umständen erlangt, wird vermöge des Monopoles gleichfalls ein hoher sein, z. B. dem Wert von so viel Stämmen, als man in zwei Jahren damit fällen kann, also 2000 Stämmen, gleich- kommen. Der Preis von 500 Stämmen, der für den jährlichen Gebrauch der Axt gezahlt wird, stellt in diesem Fall eine Quote von 50% des jähr- lichen Gesamtertrages, aber nur eine Quote von 25% des Kapitalwertes dar. Schon das beweist, daß beide Quoten nicht identisch sind. — Sehen wir aber weiter. Später lernt man Stahläxte in beliebiger Menge erzeugen, ihr Kapital- wert sinkt auf die Höhe der jetzigen Reproduktionskosten. Betragen diese beispielsweise 18 Arbeitstage, so wird eine Stahlaxt ungefähr ebensoviel wert sein als 50 Baumstämme, deren Gewinnung gleichfalls 18 Arbeitstage 142 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. erfordert. Natürlich wird der Eigentümer der Axt jetzt auch beim Ver- leihen derselben mit einer viel kleineren Quote der tausend Stämme vorlieb nehmen, die man mit ihr jährlich fällen kann; er erhält allenfalls, statt wie früher die HäKte, jetzt nur mehr ein Zwanzigstel, also 50 Stämme. Diese 50 Stämme repräsentieren einerseits fünf Prozent des Gesamt- ertrags, und andererseits hundert Prozent des Kapitalwerts der Axt. Was zeigt sich also? Während eine Quote von 50% des Gesamt- ertrages nur 25 % des Kapitalwerts der Axt repräsentierte, stellt jetzt die kleinere Quote von nur 5% des Gesamtertrages 100% des Kapitalwertes dar. Während mit anderen Worten die Quote des Gesamtertrages auf ein Zehntel des ursprünglichen Ausmaßes sank, konnte der Zinsfuß, den dieselbe Quote repräsentiert, auf das Vierfache steigen. So wenig brauchen die „Quoten", die Carey so leichthin miteinander ver- wechselt, auch nur parallel zu gehen und so gar nichts beweist das von Carey durchgeführte Gesetz vom „Sinken der Quote des Kapitalisten" für den Gang des Zinsfußes, auf den er es immerfort umdeutet! Daß Careys Ausführungen für die Erklärung des Kapitalzinses voll- kommen wertlos sind, braucht nach dem Gesagten kaum mehr ausgeführt zu werden. Das eigenthche Problem, die Aufklärung, warum der auf den Anteil des Kapitales fallende Ertrag mehr wert ist, als das in der Erziehung desselben aufgezehrte Kapital, ist nicht einmal berührt, und die plumpe Scheinlösung, die Carey gibt, vermag auch nicht den bescheidensten Anforderungen zu genügen. Daß diese Scheinlösung dennoch Eingang in die Schriften mancher hochachtbarer Schriftsteller unserer und fremder Nationen gefunden hat, ist ein Beweis der geringen Gründlichkeit und Schärfe, mit der man unsere so wichtige Materie leider zu behandeln liebt. Um wenig oder nichts korrekter als Carey selbst ist sein Schüler E. Peshine Smith, dessen Manual of Political Economy (1853) seit kurzem durch Stöpels Übersetzung^) in Deutschland große Verbreitung ge- funden hat. Peshine Smith läßt den KapitaJgewinn aus einem Gesellschafts- vertrag zwischen Arbeiter und Kapitalisten hervorgehen. Der Zweck der Gesellschaft ist, „die Form der von dem Kapitalisten beigesteuerten Waren zu verändern und ihren Wert durch eine neue Anwendung von Arbeit zu erhöhen". Der Ertrag, „der neu produzierte Gegenstand", wird geteilt und zwar so, daß der Kapitalist mehr als den Ersatz des beigesteuerten Kapitales erhält, also einen Gewinn macht. Daß dies so sein müsse, hält Smith offenbar für selbstverständlich. Denn ohne sich die Mühe einer ^) Handbuch der politischen Ökonomie von E. Peshine Smith, deutsch von Stöpel, Berlin 1878. Diese Übersetzung liegt auch meiner Darstellung zu Grunde. Carey, Peshine Smith. 143 förmlichen Erklärung zu nehmen, begnügt er sich, ganz allgemein anzu- deuten, daß der Handel „die Interessen beider befördern" soll, und daß „sowohl der Kapitalist als der Arbeiter einen entsprechenden Anteil am Gewinn ihrer Handelsgesellschaft erwarten"^). Im übrigen aber beruft er sich einfach auf die Tatsache: „und tatsächlich gewinnen sie auch", sagt er, „wie lang immer die Reihe der Umformungen und Täusche sein mag, ehe geteilt wird" (S. 99 f.). Eine bloß formelle Verschiedenheit des Kapitalgewinnes tritt ein, je nachdem im Gesellschaftsvertrag der Kapitalist oder aber der Arbeiter das Risiko auf sich nimmt. Im ersten Fall „wird der Anteil des Arbeiters au dem Produkt Lohn genannt, und der Wertunterschied zwischen den Materialien, wie sie dem Arbeiter eingehändigt werden . . . sowie der Ab- nutzung der angewandten Werkzeuge einerseits, und dem vollendeten Produkt andererseits wird Gewinn genannt. Wenn der Arbeiter das Risiko auf sich nimmt, so heißt der Anteil, den er dem Kapitalisten über den Ersatz des geliehenen Kapitales hinaus gibt, Rente" (S. 101). Die Oberflächlichkeit, mit welcher P. Smith an dieser Stelle, in der er doch den Kapitalgewinn in sein System einführt, über jede tiefere Erklärung desselben hinübergleitet, läßt deutlich erkennen, daß er das zu lösende Problem gar nicht erfaßt hat. Immerhin sind seine bisherigen Ausführungen, wenn auch von geringem Gehalt, so doch nicht inkorrekt. Dem folgenden läßt sich auch dieser bescheidene Vorzug nicht mehr nachrühmen. Smith geht nämlich jetzt zur Untersuchung der Wirkungen über, welche die Zunahme des Kapitales auf die Höhe des Kapitalgewinnes ausübt, und kopiert hierbei getreulich nicht allein die Darstellungsweise und die Schlußergebnisse, sondern auch alle Irrtümer und Verstöße Careys. Seine Untersuchung schlägt folgenden Gang ein: Zunächst führt Smith, ganz nach der Art Careys, ein paar Wirt- schaftsbilder aus dem Urzustände vor. Ein Wilder kommt zum Besitze einer steinernen Axt, und erlangt die Erlaubnis, die Axt benützen zu dürfen unter der Bedingung, daß er ein Boot für sich, und ein anderes für den Eigentümer der Axt baue. Eine Generation später sind kupferne Äxte eingeführt, mit denen sich dreimal mehr ausrichten läßt, als mit einer Axt von Stein. Von den sechs Booten, die jetzt der Arbeiter in gleicher Zeit baut, kann er vier für sich behalten, während zwei der Kapitalist in Anspruch nimmt. Der AnteU des Arbeiters hat dabei absolut und relativ zugenommen, der des Kapitalisten absolut zugenommen, dagegen relativ abgenommen: er ist von der Hälfte auf ein Drittel des Produkts herab- gesunken. In einer noch späteren Epoche stehen endlich die ausgezeichneten ^) Der letztere Aussprach ist mit einem „daher" eingeleitet, welches durch das Vorangehende so wenig motiviert ist, daß der Gedanke an eine Korrumpiemng der Stelle durch den Übersetzer nahe liegt. 144 ^I* Prodaktivitötstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorieii< amerikanischen Äxte der Jetztzeit im Gebrauch. Mit ihnen kann abermals dreimal so viel geleistet werden als früher mit den kupfernen Äxten und von den 18 Booten oder sonstigen Arbeitsprodukten, ^e jetzt der Borger einer Axt anfertigen kann, wird er vier für die Benützung der Axt zahlen müssen, während ihm vierzehn als Anteil seiner Arbeit verbleiben. Hiemit ist abermals im Verhältnis der Anteil des Arbeiters gestiegen und der des Kapitalisten gesunken. Hier angelangt, fängt Smith an, die gewonnenen Regeln dem modernen Wirtschaftsleben und seinen Formen anzupassen. Zunächst wird der Vertragsform der Wilden der moderne Leihvertrag substituiert. „Die angeführten Fälle stellen den Kapitalisten als geneigt dar, von dem gemeinsamen Produkt des Kapitals, das er dem Arbeiter anvertraut, und der mechanischen Kraft des letzteren einen festen Lohn zu zahlen. Er läuft dabei Gefahr, daß der Arbeiter sich nicht nach vollen Kräften anstrengt, und daß der nach Bezahlung des Lohnes übrig bleibende Rest, von dem sein Gewinn abhängt, geringer sein kann, als er berechnete. Um sich gegen diese Möglichkeit zu schützen, sucht er natürlich einen geringeren Lohn zu vereinbaren, als die fleißige und ehrliche Anstrengung des Arbeiters ihm ohne Schmälerung des erwarteten Gewinnes zu zahlen erlauben würde. Der Arbeiter aber, welcher weiß, was er leisten kann und sich einer Reduktion nicht unterwerfen will, zieht es vor, für den Gewinn, den der Kapitalist wünscht, Garantie zu leisten und selbst das Risiko zu übernehmen, daß das Produkt einen hinreichenden Gewinn ergibt, um die Löhne zu zahlen, die der Kapitalist zu gewähren sich sträubt. So entsteht ein Leihvertrag," Der aufmerksame Leser wird bemerken, daß in diesen Worten nicht nur der älteren die neue Vertragsform, wogegen nichts einzuwenden ist, sondern unversehens auch dem Nutzungspreise, von dem früher stets die Rede, und der ein Rohzins war, jetzt der „Gewinn" (Reinzins) substituiert wird, wogegen sehr viel einzuwenden ist. Aber Smith geht noch weiter. Er substituiert auch ohne Bedenken der Quote des Produkts die Quote des Kapitalstocks oder den Zins- fuß. Carey hatte dieselbe Verwechslung blindlings gemacht; Smith macht sio, was noch seltsamer und noch schwerer zu entschuldigen ist, mit Überlegung. „Die Menschen berechnen ihren Gewinn durch eine Vergleichung zwischen ihrem früheren Besitz und dessen Zunahme. Der Kapitalist berechnet seinen Nutzen nicht nach seinem Anteil am Produkt, den er durch die Kombination mit der Arbeit gewann, sondern nach dem Verhältnis der Zunahme seines früheren Kapitals. Er sagt, er habe so viel Prozente auf sein Kapital gemacht; er leiht es für soviel Prozente jährlich. Der Unterschied liegt nur in der arithmetischen Bezeich- nung, nicht in der Sache. Wenn sein Anteil am Produkt, Peshine Smith, Thünen. 145 der aus dem ursprünglichen Kapital und dem Zuwachs be- steht, gering ist, wird auch das Verhältnis des letzteren zum Kapital gering sein" (S. 107). Also eine geringe Quote des Produkts und ein geringer Zinsfuß sollen materiell identisch, und nur verschiedene arithmetische Bezeichnungen desselben Tatbestandes sein! Zur Beurteilung dieser wunderlichen Doktrin brauche ich dem Leser nur das oben gegen Carey vorgeführte Beispiel in die Erinnerung zurückzurufen. Wir haben gesehen, daß die Hälfte des Produkts 25% des Kapitales, und daß ein Zwanzigstel des Produkts 100% vom Kapitale darstellen kann. Das ist doch etwas mehr als ein bloßer Unterschied in der mathematischen Bezeichnung! Auf solche Substitutionen gestützt kann Smith endlich Careys „großes Gesetz , daß mit zunehmender Kultur der Anteil des Kapitalisten, das will sagen, der Zinsfuß, sinke, proklamieren, durch die historische Tatsache, daß in reichen Ländern der Zinsfuß herabgeht, verifizieren (S. 108), und damit ein Beispiel geben, wie man einen ziemlich wahren Satz auch aus einer sehr falschen Motivierung ableiten kann. Zu der leichtfertigen Manier der zuletzt geschilderten amerikanischen Schriftsteller büdet die schlichte, aber gewissenhafte und tief durchdachte Weise, in der der deutsche Forscher v. ThünejjI) unser Problem behandelt hat, einen wohltuenden Gegensatz. Auch Thünen untersucht, ganz ähnlich wie Carey, den Ursprung des Kapitalzinses genetisch. Er geht auf die primitivsten wirtschaftlichen Verhältnisse zurück, verfolgt die ersten Anfänge der Kapitalbildung, und erforscht, auf welche Weise und unter welchen Modalitäten hier der Kapital- zins entsteht, sowie nach welchen Gesetzen er sich weiterhin entwickelt. Ehe er seine Untersuchung selbst beginnt, ist er darauf bedacht, alle tat- sächlichen Voraussetzungen, von denen er ausgeht, sowie die Terminologie, deren er sich bedienen, will, mit minutiöser Genauigkeit festzustellen (S. 74—90) — ein Vorgang, der für uns ein charakteristisches Symptom von Thünens gewissenhafter Gründlichkeit, für ihn selbst ein wertvolles Mittel der Selbstkontrolle war. Ich entnehme aus dieser Einleitung, daß Thünen einen mit allen Fähigkeiten, Kenntnissen und Geschicklichkeiten der Zivilisation aus- gerüsteten, aber noch absolut kapitallosen Volksstamm voraussetzt, der unter einem Himmelsstrich von tropischer Fruchtbarkeit, ohne Verbindung mit anderen Völkern lebt, so daß die Kapitalbildung von innen heraus, ohne einen äußern Einfluß vor sich gehen muß. Grund und Boden hat noch keinen Tauschwert, alle Glieder des Volksstammes sind gleich gestellt, *) Der isolierte Staat. 2. Aufl Rostock 1842 — 1863. Die im Texte zitierten Seiten- zahlen beziehen sich auf die 1. Abteilung des IL Teiles (1850). Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 10 146 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. gleich tüchtig und sparsam, und erwerben durch Arbeit ihren Lebens- unterhalt. Als Wertmaß benützt Thünen für den Bereich der Unter- suchung die Subsistenzmittel der Arbeiter, und zwar als Einheit den 100. Teil der Subsistenzmittel, die ein Arbeiter für ein Jahr bedarf. Der Jahresbedarf heißt S, der 100. Teil c, so daß S = 100 c. „Gesetzt" — beginnt Thxjnen seine Untersuchung (S. 90) — „der Arbeiter kann, wenn er fleißig und sparsam ist, durch seiner Hände Arbeit 10% mehr als er zu seinem notwendigen Unterhalt bedarf, also 1, 1 S oder 110 c im Jahre hervorbringen, so erübrigt er nach Abzug dessen, .was er zu seinem Lebensunterhalt verwenden muß, 110 c— 100 c = 10 c." „Er kann also im Verlauf von 10 Jahren einen Vorrat sammeln, wovon er während eines Jahres leben kann, ohne zu arbeiten; oder er kann auch ein ganzes Jahr hindurch seine Arbeit auf die Verfertigung nützlicher Gerätschaften, also auf die Schaffung eines Kapitals wenden." „Folgen wir ihm jetzt bei der kapitalschaffenden Arbeit." „Mit einem zerschlagenen Feuerstein bearbeitet er das Holz zu Bogen und Pfeü; eine Fischgräte dient dem Pfeil zur Spitze. Aus dem Stamm des Pisangs oder der faserigen Schale der Kokosnuß werden Stricke und Bind- faden gemacht und erstere zur Sehne des Bogens, letztere zur Verfertigung von Fischernetzen verwandt." „Im folgenden Jahre wendet er sich dann wieder der Erzeugung von Lebensmitteln zu; aber er ist jetzt mit Bogen, Pfeilen und Netzen versehen, seine Arbeit wird mit Hilfe dieses Gerätes viel lohnender, sein Arbeitsprodukt viel größer." „Gesetzt, sein Arbeitserzeugnis — nach Abzug dessen, was er auf die Erhaltung des Gerätes im gleich guten Zustande verwenden muß — steige dadurch von 110 c auf 150 c, so kann er in einem Jahre 50 c erübrigen, und er braucht jetzt nur zwei Jahre der Erzeugung von Lebensmitteln zu widmen, um wiederum ein ganzes Jahr auf die Verfertigung von Bogen und Netzen zu verwenden." ,,Er selbst kann hievon zwar keine Anwendung machen, da die im früheren Jahre verfertigten Geräte für sein Bedürfnis genügen; aber er kann dasselbe an einen Arbeiter verleihen, der bisher ohne Kapital ar- beitete." „Dieser zweite Arbeiter brachte bisher hervor 110 c; leiht derselbe nun das Kapital, woran der kapitalerzeugende Arbeiter die Arbeit eines Jahres gewandt hat, so ist sein Erzeugnis, wenn er das geliehene Gerät im gleichen Wert erhält und wieder abliefert^), 150 c. Das Mehrerzeugnis vermittelst des Kapitales beträgt also 40 c." ^) „Wie kann aber der verliehene Gegenstand in gleicher Beschaffenheit und gleichem Wert erhalten und wieder abgeliefert werdep ? Dies geht freihch bei einzelnen Gegenständen nicht an, wohl aber bei der Gesamtheit der in einer Nation verliehenen Gegenstände. Wenn jemand z. B. 100 Gebäude von hundertjähriger Dauer vermietet' Thänen. 147 „Dieser Arbeiter kann also für das geliehene Kapital eine Rente zahlen von 40 c, welche der kapitalerzeugende Arbeiter für seine einjährige Arbeit dauernd bezieht" Hier treffen wir auf den Ursprung und Grund der Zinsen und auf ihr Verhältnis zum Kapital. Wie sich der Lohn der Arbeit verhält zu der Größe der Rente, die dieselbe Arbeit schafft, wenn sie auf Kapitalerzeugung gerichtet wird, so verhalten sich Kapital und Zinsen." „In dem vorliegenden Fall ist der Lohn für 1 J. A. = 110 c; die Rente, die das aus der Arbeit eines Jahres hervorgegangene Kapital bringt, betraf 40 c." „Das Verhältnis ist also wie 110 c : 40 c = 100 : 36,4, und der Zins- satz ist 36,4%." - Das Folgende geht nicht so sehr den Ursprung, als die Höhe der Zinsen an. Wir wollen daraus in knappem Auszuge nur einige Grund- gedanken noch kennen lernen, die geeignet sind, Thünens Auffassungs- weise weiter zu illustrieren. Mit der Vermehrung des Kapitals nimmt nach Thünen dessen pro- duktive Wirksamkeit ab, in der Art, daß jeder neue Kapitalzuwachs das Arbeitsprodukt des Menschen in geringerem Grade vermehrt als das zuvor angelegte Kapital. Wenn z. B. das erste Kapital den Arbeitsertrag von 110 c um 40 c, d. i. auf 150 c vermehrte, so wird das zweite hinzukommende Kapital eine weitere Vermehrung nur um 36 c, das dritte nur um 32,4 c usw. hervorrufen. Aus zwei Gründen: „1. Wenn die wirksamsten Geräte, Maschinen usw., woraus das Kapital besteht, in genügender Menge vorhanden sind, so muß ... die fernere Kapitalerzeugung sich auf Gerätschaften von minderer Wirk- samkeit richten. 2. Im Landbau führt der Zuwachs an Kapital, wenn derselbe überall eine Anwendung finden soU, zum Anbau von minder ergiebigen, minder günstig gelegenen Ländereien, oder auch zu einer intensiveren mit größern Kosten verbundenen Wirtschaft — und in diesen Fällen bringt das zuletzt angelegte Kapital eine geringere Rente, als das zuvor angelegte^)." In dem Maß als der durch die Wirksamkeit des Kapitales hervor- gerufene Mehrertrag sinkt, sinkt natürlich auch der Preis, der für die überlassene Nutzung des Kapitales gezahlt werden will und kann, und da nicht für das erst und später angelegte Kapital zwei verschiedene anter der Bedingung, daß der Mieter jährlich ein neues Grebäude errichtet, so behalten die 100 Grebäude trotz der jährlichen Abnutzung doch gleichen Wert. Bei dieser Unter- suchung müssen wir notwendig unseren BUck auf das Ganze richten, und wenn hier nur zwei Personen als handelnd dargestellt sind, so ist dies bloß ein Bild, wodurch die Bewegung, die gleichzeitig in der ganzen Nation vor sich geht, anschauhch gemacht werden soll." (Anmerkung TntJNENs.) 1) S. 195. Ausführlicher S. 93ö. 10> 148 VII. Produktivttätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. Zinsraten neben einander bestehen können, richtet sich der Zins des ganzen Kapitales nach der „Nutzung des zuletzt angelegten Eapitalteilchens" (S. 100). Durch diese Verhältnisse empfängt der Zinsfuß die Tendenz, mit dem Anwachsen des Kapitales zu sinken, und die dadurch entstehende Verminderung der Rente kommt dem Arbeiter zu gute, indem sie den Lohn seiner Arbeit erhöht (S. 101). Wie man sieht, nimmt Thünen seinen Ausgangspunkt mit großer Entschiedenheit von der produktiven Wirksamkeit des Kapitales: diese gibt nicht allein überhaupt Anlaß zur Entstehung des Kapitalzinses, sondern ihr jeweiliger Grad bestimmt auch genau die Höhe des Zinsfußes. Für den Wert dieser Lehre kommt nun alles darauf an, in welcher Art die Verknüpfung zwischen der größeren Ergiebigkeit der durch Kapital unterstützten Arbeit und dem Bezug eines Wertüberschusses durch den Kapitaleigentümer dargestellt wird. Von zwei gefährlichen Klippen hält sich Thünen glücklich fern: er fabuliert nichts von einer wertschaffenden Kraft des Kapitales, sondern mutet diesem nur zu, was es in der Tat bewährt, nämlich die Fähigkeit, zur Erzeugung von mehr Produkten zu helfen, oder mit anderen Worten, physische Produktivität. Sodann ist Thünen glücklich der fatalen Ver- wechslung von Roh- und Reinzins entgangen: was er Reinzins nennt, die 40 c, 36 c, 32,4 c usw., die der Kapitalist empfängt, ist in der Tat Reinzins, weil nach einer ausdrücklichen Voraussetzung (S. 91 am Ende) der Schuldner außerdem noch die volle Wiederherstellung des Wertes des Kapitalstückes leistet. Gerade mit der letzten Voraussetzung hat aber Thünen seiner Zins- theorie nach einer anderen Seite eine Blöße gegeben. Die Gedankenstationen, die im Sinn der TnüNENschen Theorie von der physischen Produktivität des Kapitales zum „Mehrwertsbezug" des Kapitalisten hinüberleiten, lassen sich folgendermaßen herausheben: 1. Die mit Kapital unterstützte Arbeit kann eine größere Menge von Produkten erzielen. — Diese Voraussetzung ist unzweifel- haft richtig. 2. Das Plus, das auf die Kapitalverwendung zuTück- zuführen ist, setzt sich in Thünens Beispiel aus zwei Kom- ponenten zusammen; erstlich aus den 40, 36 oder 32,4 c, die der Kapitalist in Subsistenzmitteln erhält, und zweitens aus der Wieder- herstellung des in der Verwendung abgenützten Kapitalstückes selbst. Erst beide Komponenten zusammen machen das Bruttoerträgnis der Kapitalverwendung aus. — Zum Beleg, daß dieser wichtige, aber von Thünen nicht deutlich hervorgehobene Satz in der Tat in Thünens Lehre enthalten ist, will ich eine kleine Rechnung einschalten. Na,ch Thünen bringt ein Arbeitsjahr ohne Kapitalunterstützung 110 c hervor. Ein Thfinen. 149 Arbeitsjahr unterstützt von Kapited genügt, um nicht allein das Eapit^J, so weit es Abnutzung erfahren hat, zu erneuern, sondern auch noch 150 c hervorzubringen. Die Differenz beider Leistungen, welche das durch die Kapitalverwendung verursachte Plus darstellt, weist also in der Tat 40 e und die Redintegrierung des Kapitales selbst auf. Es mag hier noch die Bemerkung Platz finden, daß Thünen das Dasein der zweiten Komponente ziemlich ins Dunkel gestellt hat, indem er sie — außer an zwei Stellen der S. 91 — nicht wieder erwähnt, und namentlich bei Aufstellung der späteren Tabellen (S. 98, 110 usw.) unberücksichtigt läßt. Die Exaktheit der letzteren wird hiedurch nicht unwesentlich beeinträchtigt. Denn es läßt sich denken, daß, wenn einmal Kapitalien von 6 oder 10 Jahresarbeiten in Verwendung stehen, die jährlich auf ihre Wiederherstellung aufzu- wendende Arbeit einen beträchtlichen Teil der ganzen Arbeitskraft ab- sorbieren muß. 3. Das durch die Kapitalverwendung hervorgerufene Mehrerträgnis^) (= Redintegrierung + 40, beziehungsweise 36 oder 32,4 c) fällt dem Kapitalisten als solchen zu. — Diese Voraussetzung Thünens ist im großen und ganzen meines Erachtens vollkommen richtig, wenn auch der Preiskampf den Anteil des Kapitalisten im einzelnen Falle oft modifizieren mag. 4. Dieses dem Kapitalisten zufallende Bruttoerträgnis des Kapitales ist regelmäßig mehr wert, als der in seiner Erzielung verzehrte Kapitalteil, so daß ein Reinerträgnis, ein Wertüberschuß, ein reiner Kapitalzins erübrigt. — Dieser Satz bildet das natürliche Schlußglied der Gedankenkette. Thünen hat ihn eben so wenig als die früheren Thesen in Form eines allgemeinen Lehrsatzes ausgesprochen. Er stellt ihn nur in der Form auf, daß er sein konkretes Beispiel mit einem regelmäßigen Mehrwert des vom Kapitalisten Emp- fangenen über das von ihm Hingegebene ausgehen läßt, was allerdings, da das gewählte Beispiel ein typisches sein sollte, der ausdrücklichen Formulierung des Lehrsatzes meritorisch gleichkommt; um so mehr, als Thünen einen permanenten Mehrwert des Kapitalertrages über das Kapital- opfer behaupten und erklären mußte, wenn er den in eben diesem Mehr- wert bestehenden Kapitalzins erklären wollte. Wir sind hier an der letzten, entscheidenden Station des bisher im wesentlichen untadelhaften Gedankenganges Thünens angelangt Aber in eben diesem entscheidenden Punkt erweist sieht seine Theorie als schwach. Wenn wir fragen: auf welche Weise motiviert und erklärt Thünen das Dasein jenes Mehrwerts? so müssen wir antworten: er erklärt es gar 1) Um Mißverstlmdiiisse zu vermeiden, hebe ich ausdrücklich hervor, daß Thünen das Mehrerträgnis des letzten angelegten Kapitalteildiens für die ganze Kapitalmasse als maßgebend annimmt. 150 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. nicht, sondern er präsumiert es. Und zwar ist die entscheidende Prä- sumtion an jener sehr wenig auffälligen Stelle unterlaufen, an der Thünen davon spricht, daß der Besitz eines Kapitals den Arbeiter befähigt, nach Abzug dessen, was nötig ist, um das Kapital „im gleich guten Zustand" und „im gleichen Wert" zu erhalten, noch ein Mehrprodukt von 40 oder 36 c usw. zu erzeugen. Ziehen wir den Inhalt dieses scheinbar höchst harmlosen Satzes genauer ans Licht, so enthält er die Voraussetzung, daß das Kapital die Kraft hat, 1. sich selbst und seinen eigenen Wert wieder zu erzeugen, und 2. darüber hinaus noch etwas zu erzeugen. Ist, wie hier vorausgesetzt wird, das Produkt des Kapitales allezeit eine Summe, von der schon das erste Glied gleich dem ganzen Kapitalopfer ist, dann ist es freilich selbstverständlich, daß die ganze Summe jnehr wert sein muß, als jenes Opfer, und Thünen hat ganz Recht, sich mit einer weiteren Erklärung dieses Verhältnisses nicht länger auf- zuhalten. Aber die Frage ist, ob Thünen berechtigt war, eine solche Wirk- samkeit des Kapitales vorauszusetzen. Ich glaube, diese Frage ist entschieden zu verneinen. Zwar in der konkreten Situation, in die uns Thünen zu Anfang seiner Hypothese versetzt, kann uns auch jene Voraussetzung ganz plausibel erscheinen. Wir finden gar nichts ungehöriges darin, anzunehmen, daß der mit Bogen und Pfeil ausgerüstete Jäger imstande ist, in einem Jahre nicht allein um 40 Stück Wild mehr zu erlegen als ohne jene Waffen, sondern auch noch Zeit genug zu erübrigen, um Bogen und Pfeile in gutem Stande zu erhalten, beziehungsweise zu erneuern, so daß sein redintegriertes Kapital am Ende des Jahres so viel wert ist als am Anfang. Aber darf man analoge Voraussetzungen auch für einen komplizierten Zustand der Wirtschafts- führung machen? namentlich für einen Zustand, in dem das Kapital zu mannigfaltig und die Arbeitsteilung zu ausgebildet ist, um die Redinte- grierung des Kapitals durch den dasselbe benützenden Arbeiter selbst zu gestatten? Ist es, wenn dieser die Redintegrierung des Kapitales be- zahlen muß, selbstverständlich, daß das mit der Kapitalshilfe erzielte Mehr an Produkten die Kosten der Redintegrierung, beziehungsweise den Wert des verzehrten Kapitalteiles übersteigt? Gewiß nicht. Es sind im Gegenteile zwei Möglichkeiten denkbar, durch die der Mehrwert verwischt werden könnte. Erstlich ist es denkbar, daß der große produktive Nutzen, den der Besitz des Kapitalstücks sichert, auch die Wertschätzung dieses letzteren steigert, so sehr, daß sein Wert dem Wert seines erwarteten Produktes gleich kommt; daß z. B. Bogen und Pfeile, die während der ganzen Dauer ihres Bestandes um 100 Stücke Wild mehr zu erlegen gestatten, im Wert diesen 100 Stücken gleichgestellt werden. Alsdann würde der Jäger für den Ersatz der verbrauchten Waffen dem Waffenfabrikanten den ganzen Mehrertrag von 100 Stück Wild beziehungsweise deren Wert geben müssen, und behielte nichts übrig, um Thünen. 151 dem Eigentümer, der ihm die Waffen geliehen, einen Mehrwert darüber hinaus, einen Kapitalzins zu zahlen. Oder, die Konkurrenz in der Erzeugung von Waffen ist so stark, daß sie deren Preis unter jene höchste Wertschätzung drückt. Wird aber dieselbe Konkurrenz nicht auch die Ansprüche, die der Kapitalist bei Verleihung der Waffen stellen kann, drücken müssen? Lauderdale hat einen solchen Druck vorausgesetzt, Carey gleichfalls, und die Erfahrung des Wirtschaftslebens läßt keinen Zweifel, djJ3 er in der Tat ausgeübt wird. Wir fragen nun hier gerade so, wie wir bei Lauderdale gefragt haben: warum soll der Druck der Konkurrenz auf den Anteü des Kapitalisten nie so stark werden können, daß er den Wert dieses Anteils auf den Wert des Kapitalstückes selbst herabdrückt? Warum erzeugt und verwendet man nicht so viel Exemplare einer Kapitalsart, bis diese Verwendung gerade nur mehr den nackten Ersatz des Kapitalstücks einträgt? Sowie dies geschähe, wäre aber wieder der Mehrwert und mit ihm der Zins eliminiert. Kurz, ich sehe drei Möglichkeiten im Verhältnis zwischen dem Wert des Kapitalprodukts und dem Wert dejs dasselbe hervorbringenden Kapitals. Entweder der Wert des Produkts zieht den Wert des Kapitalstücks zu sich hinauf; oder der Wert des Kapitalstücks zieht durch Konkurrenz den Wert des Kapitalertrages zu sich herunter; oder endlich der Kapital- anteil am Produkt bleibt über dem Wert des Kapitalstücks stehen. Thünen präsumiert den dritten Fall, ohne ihn weder zu beweisen, noch — und dies ist der entscheidende Mangel — zu erklären; damit hat er aber auch das ganze Phänomen, um dessen Erklärung es sich handelt, den Kapitalzins, statt zu erklären, präsumiert. Wir müssen daher unser EndurteU folgendermaßen fällen: Thünen gibt eine feinere, durchdachtere und gründlichere Version der Produk- tivitätstheorie als irgend einer ihrer früheren Vertreter; aber in dem gefähr- lichsten Schritte strauchelt auch er: wo es sich darum handelt, aus der physischen Produktivität des Kapitales, aus dem Mehr an Produkten, den Mehrwert abzuleiten, nimmt er das zu Erklärende in seine Voraus- setzung auf^). ^) Um die Darstellung im Texte nicht durch noch mehr subtile Gedankengänge, als ich ohnedies dem Leser schon vorzuführen gezwungen war, aufzuhalten, will ich einige Ergänzungen zur obigen Kritik in die Anmerkung verlegen. Thünens Schrift weist zwei Ansätze auf, die man möglicherweise als Versuche, jene Präsumtion zu recht- fertigen, also als Ansätze zu einer wirklichen Erklärung des Zinses deuten kann. Der erste Ansatz liegt in der wiederholt (z. B. S. 111 und 149) gemachten Bemerkung, daß der höchste Belauf an Kapitalrente bei einer gewissen Größe der Kapitalanlage -eintritt, und bei Überschreitung der letzteren sinkt, so daß die Kapitalerzeuger kein Inter- esse haben, die Kapitalerzeugung über diesen Punkt fortzusetzen. Man köimte diesen Satz möglicherweise als eine Erklärung dafür deuten, daß das Angebot an Kapitalstücken sich nicht so sehr steigern könne, um den Reinzins auf Null herab- zudrücken. Allein jene Rücksicht auf den Gesamtnutzen des Kapitalisten- X52 VII. Produktivitätstheorien. 8. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. Thünens Weise bezeichnet einen Gipfelpunkt solider und tiefdurch- dachter Forschung. Leider wurde die durch ihn angezeigte Höhe auch in der deutschen Literatur sehr bald wieder verlassen. Schon sein nächster Nachfolger in der jetzt geschilderten Richtung, Glaser i), läßt bei viel gutem Willen einen entschiedenen Rückschritt in der Tiefe der Auffassung und in der Schärfe der Gredankenführung beobachten. Das Kapital, das er ganz richtig als „Anwendung indirekter Arbeit" Standes hat nichts Zwingendes, ja kaum irgendeinen Einfluß auf die Handlungsweise der einzelnen Kapitalisten, und kann daher da weitere Wachsen des Kapitales nicht hindern. Jeder schreibt — mit Recht — dem durch seine persönliche Sparsamkeit gebildeten Kapitalzuwachs eine unendlich kleine Wirkung auf die Höhe des Zinsfußes im Lande, dagegen eine sehr merkliche Wirkung auf die Erhöhung seines individuellen Zinseinkommens zu — und darum wird jeder, der überhaupt Neigung und Möglichkeit zu sparen hat, unbeirrt sparen; geradeso wie jeder Grundbesitzer seinen Boden melioriert und sein Verfahren verbessert, wie er kann, auch wenn er die theoretische Einsicht hat, daß, wenn alle Grundbesitzer ihr Verfahren verbessern, dies bei ungeändertem Stand der Bevölkerung eine Senkung der Produktenpreise, und ungeachtet der verminderten Kosten eine Senkung der Grundrente nach sich ziehen muß. — Der zweite Ansatz könnte in der oben (S. 146 u. 147) abgedruckten Anmerkung Thünens zu jener Stelle ge- funden werden, in der er von der Redintegrierung des Kapitales durch den Schuldner spricht. Thünen verweist hier darauf, daß man „bei dieser Untersuchung den Blick immer aufs Ganze richten" müsse. Denkbarer Weise könnte man diese Mahnung als Versuch eines Beweises dafür deuten, daß die im Text angenommene Erscheinung, wonach der Benutzer eines Kapitalstückes dieses durch seine Arbeit redintegriert und noch außerdem ein Mehrprodukt erzielt, unter allen wirtschaftlichen Umständen ihre Giltigkeit behaupte, wenn man nur dem Individuum das Volksganze substituiert; es werde nämlich, auch wenn das einzelne Individuum das von ihm benützte Kapital nicht durch seine persönliche Arbeit redintegrieren kann, doch immer innerhalb des ganzen Volkes das Verhältnis zutreffen, daß die Mensdien durch Benutzung von Kapital im Stande sind, ein Mehrprodukt zu erzielen und außerdem — mit einem Teil der ersparten Arbeit — das verbrauchte Kapital wieder herzustellen. In diesem Gedankengang könnte man sodann eine Entkräftung des von mir im Texte gemachten Einwandes erblicken, durch den ich die Voraussetzung Thünens nur für die einfachsten Verhältnisse zutreffend, dagegen für kompliziertere Verhältnisse unstatthaft erklärte. Ich glaube nicht, daß jene Meinung, aufs Ganze zu blicken, von Thünen in diesem Sinne gemeint war. Wenn aber auch, so vermag sie meinem Einwand nichts von seiner Kraft zu nehmen. Denn in Fragen der Verteilung — und die Frage nach dem Kapitalzinse ist eine solche — darf man eben nicht in jeder Beziehung auf das „Ganze" blicken. Daraus, daß die Gesellsdiaft im ganzen im Stande ist, mit Hilfe des Kapitales dieses selbst zu erneuern, und doch darüber hinaus mehr Produkte zu «rzeugen, folgt noch gar nichts für die Existenz eines Kapitalzinses. Denn dieses Plus an Produkten könnte ebensogut als Mehrlohn an die Arbeiter, die ja zur Erzielung desselben ebenso unentbehrlich waren als das Kapital, statt als Zins an die Kapitalisten «rfolgt werden. Der Kapitalzins als Mehrwert des Individualertrages über den individuellen Kapitalaufwand hängt vielmehr davon ab, daß das Individuum seine Kapitalstücke dauernd zu einem Preise bekommt, der niedriger ist, als der Wert des damit erzielten Mehrproduktes. Das ist aber durch jenes Verhältnis in der Gesamtheit nicht ohne- weiteres gewährleistet, jedenfalls nicht selbstverständlich. Wäre es dieses, so gäbe es wahrhaftig nicht so viele Theorien üb'er eine selbstverständliche Sachet ^) Die allgtsueine Wirtsdiaftslehre (>der ^Nationalökonomie, Berlin 1858. Glaser. 153 auffaßt, gilt ihm zweifellos als produktiv. Den Einwand, daß das Kapital ein totes Instrument sei, das nur durch die Airwendung von Arbeit belebt und fruchtbar gemacht werde, weist er damit zurück, daß man mit eben so viel Recht auch umgekehrt sagen könnte, „die Arbeit sei tot und werde erst durch das Kapital belebt" ^). Ebenso gilt es ihm als ausgemacht, daß der Kapitalgewinn seinen Ursprung in der Produktivität des Kapitales finde. „Der Kapitalgewinn", sagt er, „hat seinen Grund darin, daß durch das Kapital ein Teü der Produktion bewirkt wird, und ist nur ein Lohn für diese Mitwirkung". Er stimmt ausdrücklich Say zu, der bereits dasselbe behauptet habe, wirft ihm aber, mit vollem Rechte, vor, daß er die „Art der Mitwirkung des Kapitales" nicht habe dartun können. Diese Aufgabe, die Glaser für nicht besonders schwierig hält, unter- nimmt er nunmehr selbst zu lösen. Leider tut er dies auf eine Weise, die seinen theoretischen Scharfblick eben in kein günstiges Licht stellt. Glaser geht davon aus, daß alles Kapital die Frucht von Arbeit ist» daß der Wert des Kapitales, wie der aller Güter, sich nach der Quantität der Arbeit bemißt, die zu seiner Erzeugung nötig war, und daß die An- wendung des Kapitals nur als die Anwendung einer indirekten Arbeit an- zusehen ist. „Ob ich 100 Arbeiter ein Jahr beschäftige oder das Produkt, welches 100 Arbeiter hervorgebracht haben, anwende, ist für die Sache ganz gleichgiltig." Der Kapitalist verlangt daher mit vollkommenem Rechte, daß ihm eben so viel aus der Produktion zuteü werde, als ob er die Arbeiter, die sein Kapital erzeugt haben, zur Produktion gestellt hätte. Besteht z. B. das Kapital aus einer Maschine, wert die Arbeit von 100 Arbeitern während eines Jahres, und erfordert die Herstellung eines be- stimmten Produktes noch fernere 500 Arbeiter, so ist dieses Produkt als das Erzeugnis von 600 Arbeitern anzusehen, und der Kapitalist hätte den Anteil von 100 Arbeitern, also ein Sechsteil des ganzen Produkts für sich zu fordern. Bis hieher wird man den Gedankengang Glasers kaum beanständen, aber auch kaum absehen, wie es unter den gemachten Voraussetzungen zu einem Gewinn des Kapitalisten kommen kann. Glaser selbst fragt: „Wenn nun das Produkt gerade den Wert von 600 Arbeitern (?) hat, wie kann dem Kapitalisten da noch Gewinn erwachsen?" Die Lösung dieses Rätsels findet er darin, daß durch die Anwendung des Kapitales mehr erzeugt wird als ohne dasselbe. Dadurch wird ein Fonds beschafft, aus welchem eine Entschädigung für die Kapitalnutzung gewonnen werden kann. Dieser Fonds wird indes nur zum Teil dem Kapi- talisten zugewendet, zum andern Teil den Arbeitern, deren Lage sich durch die Kapitalanwendung ebenfalls verbessert, wie denn überhaupt die ganze Gesellschaft aus dem Mehrertrag Nutzen zieht. Die Verteilung geschieht *) Si 69 und 203. Die weiteren im Texte vorgeführten Auseinandersetzungen Glaskbs finden sich a. a. 0. S. 203ff. 154 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. nach dem Grundsatze, daß das Kapital als indirekte Arbeit anzusehen, und diese eben so zu entlohnen ist, wie direkte Arbeit. „Wenn z. B. die Arbeiter, welche das Kapital erzeugt haben, ein Sechsteil aller Arbeiter wären, so würde von dem gesamten Produkte ein Sechsteil — vorausgesetzt, das gesamte Kapital würde bei der Verwendung zur Produktion auch zerstört — dem Kapitalisten zufallen." „Dieses Sechsteil", schließt Glaser seine Auseinandersetzung, „würde mehr sein, als zur Zurück- erstattung des Kapitals nötig wäre, und das Mehr würde eben den Kapitalgewinn ausmachen." Dieser Schlußsatz enthält eine vollkommen unmotivierte Präsumtion. Glaser behauptet hier, daß das Sechstel des Kapitalisten mehr sein würde, als zur Zurückerstattung des Kapitales nötig wäre. Aber er hat diese Behauptung nicht allein mit keinem Worte bewiesen, sondern sie steht im Gegenteile mit allen Prämissen im direkten Widerspruch: es folgt aus allem Gesagten umgekehrt, daß das ganze Sechsteil des Kapitalisten nötig ist, um das Kapital zu ersetzen und daß kein Gewinn übrig bleiben kann. Der Beweis ist leicht zu erbringn. Es ist undenkbar und nach der Voraussetzung auch ausdrücklich ausgeschlossen, daß die Arbeiter, welche das Kapital erzeugen, auf die Dauer nach einem niedrigeren Satze entlohnt werden, als die direkten Arbeiter; ist aber der Arbeitslohn des indirekten Arbeiters ebenso hoch als der des direkten, und bekommen die fünfmal so zahlreichen direkten Arbeiter fünf Sechsteile des gesamten Produkts, so werden die indirekten Arbeiter für ihre Arbeit den fünften Teil vom Lohn jener, also ein Sechsteil des gesamten Produkts erhalten müssen; damit ist das ganze Produkt unter die Arbeiter aufgeteilt, und für den Kapitalisten bleibt — nichts. Ziffer- mäßig veranschaulicht: Nehmen wir an, 100 Arbeiter bauen eine Maschine und 500 andere erzeugen damit ein Jahresprodukt von 300000 fl. Wert; so entfallen nach Glasers Verteilungsschlüssel fünf Sechstel = 250000 fl. auf die 500 direkten Arbeiter, von denen daher jeder einen Jahreslohn von 500 fl. erhält, und das sechste Sechstel = 50000 fl. erhält der Kapi- talist, der die Maschine beisteuert. Die Maschine geht aber angenommener Weise in einem Jahre zu gründe, und der Kapitalist muß sie aus dem Erträgnisse ersetzen. Wie viel kostet ihn der Ersatz? Offenbar nicht weniger als 50000 fl.; denn er muß zu ihrer Herstellung 100 Leute, die einen Jahreslohn von je 500 fl. beanspruchen, durch ein Jahr beschäftigen; macht 50000 fl. Auslage, welche die 50000 fl. Einnahme völlig erschöpfen, und von einem Gewinn kann keine Rede sein. Dies ist indes nicht der einzige Widerspruch, in dem jene aus der Luft gegriffene Behauptung Glasers mit seinen früheren Prämissen steht. So hat er früher ausdrücklich angenommen, daß der Wert aller Güter, auch des Kapitals, sich nach der Quantität Arbeit richtet, die ihre Er- zeugung gekostet hat. Steckt nun in dem zur Verteilung gelangenden Glaser, Roesler. 155 Gesamtprodukt eine Summe von 600 Arbeitsjahren, so muß das Sechsteil, das hievon dem Kapitalisten zufällt, offenbar einen Wert besitzen, der 100 Arbeitsjahren entspricht. Da aber die Herstellung seines Kapitals ebenfalls 100 Arbeitsjahre gekostet hat, so müssen das Kapital selbst und der Kapitalsertrag offenbar genau gleichwe»1ig sein und ein Gewinn ist unmögüch. Auf alle diese nahe liegenden Erwägungen hat aber Glaser nicht geachtet und ist blindlings den Verlockungen gefolgt, welche vom zwei- deutigen Wörtchen „mehr" ausgingen; wer sich die Mühe nimmt, seine Ausführungen im Zusammenhange zu lesen, wird nicht ohne Ergötzen verfolgen, wie das „Mehr", das Anfangs noch ganz richtig ein „Mehr an Produkten" bedeutete, sich später, schon zweideutig, aber noch zulässig, in ein „Mehr des Ertrages", dann in „Vorteil", dann in „Gewinn" ver- wandelt, bis es endlich in der entscheidenden Schlußstelle geradezu als Mehrwert gedeutet und auf den Kapitalgewinn bezogen wird. Ist schon Glaser wegen seiner zu geringen Vorsicht im Gebrauch doppelsinniger Begriffe zu tadeln, so zeigt vollends Roesler einen be- dauerlichen Rückfall in die Manier, mit unklaren Begriffen leichtfertig umzuspringen, sie bald in diesem, bald — wie es dem Autor eben paßt — in einem ganz andern Sinn zu gebrauchen, und so dem geduldigen Wort eine Übereinstimmung abzupressen, die in der Sache wahrhaftig nicht üegt. Da diese Art hauptsächlich durch Mißbrauch der Worte sündigt, so läßt sich ein Urteil über sie nicht leicht ohne Vorführung des Wortlautes begründen, den ich daher in größerer Ausführlichkeit, als mir lieb ist, werde zitieren müssen. Vielleicht wird sich übrigens der Leser durch das Lehrreiche der Sache entschädigt finden: Roesler gibt ein höchst in- struktives Beispiel dafür, wie viele Fallstricke unsere gebräuchliche wissen- schaftliche Terminologie dem folgerichtigen Denken legt, und welch' hoher — leider so selten geübter! — Grad kritischer Wachsamkeit un- erläßlich ist, wenn man sich unserem schwierigen Problem gegenüber nicht in widerspruchsvolle Phrasen verlieren will. Roesler gibt in seinen drei wichtigsten volkswirtschaftlichen Schriften drei ziemlich erheblich differierende Versionen über den Ursprung des Kapitalzinses. In der ersten, der „Kritik der Lehre vom Arbeitslohn" (1861), bringt er ein wenig origiaeUes Durcheinander von Produktivitäts-, Nutzungs- und Abstinenztheorie, das wir füglich übergehen können^). Am eingehendsten und lehrreichsten behandelt er unser Thema in der zweiten Schrift, den „Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre" (1864). Roesler führt hier die Produktivität des Kapitals mit folgenden Worten ein (S. 104): ') Die Hauptstellen findet der Leser auf S. 1, 4, 7, 8 und 39 der oben genannten Schrift. 166 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. „Die Produktivität des Kapitals beruht auf seinen zu produktiven Zwecken verwendbaren Eigenschaften, welche, wie wir gesehen haben, sehr mannigfaltiger Art sind. Jedes Kapital enthält, wie die Natur oder die Arbeit, ein bestimmtes Maß von Kräften in sich, deren Benützung das Kapitalprodukt zur Folge hat. Durch das Kapital werden entweder Stoffe für die Arbeit geliefert oder die Vier- richtungen der Arbeiter in hohem Grade erleichtert oder abgekürzt. Was man bei jeder produktiven Tätigkeit der Mitwirkung des Kapitals verdankt, ist als. Kapitalprodukt anzusehen. Wer z. B. mit der bloßen Hand schwimmend im Wasser Fische fängt, hat in den gefangenen Fischen nur Natur- und Arbeitsprodukt, sofern nicht das Wasser oder die Fische erst künstlich hervorgebracht wurden; bedient man sich dabei eines Bootes oder eines Netzes oder einer Angel, so wirkt die Kapitalkraft mit, und was man dabei mehr, leichter oder schneller fängt, ist Wir- kung dieser letzten Produktivkraft. Das Kapital ist also eine selbständige Güterquelle, wie die beiden anderen, aber es muß in der Regel, je nach der Natur jedes produktiven Geschäfts, mehr oder wieniger mit jenen verbunden werden, um seine Wirkung äußern zu können. Manche Kapitalien vermögen aber auch für sich allein produktiv zu wirken; 80 kann man Wein in Flaschen jahrelang ohne Zutat von Arbeit liegen lassen, und was der Wein durch die fortgesetzte Gärung an vermehrter Annehmlichkeit oder Stärke gewinnt, ist lediglich Kapitalprodukt." In dieser Auseinandersetzung schreibt Roesler — wie man sieht -— dem Kapital eine selbständige Produktivität zu, die er vorläufig als physische Produktivität versteht, indem er sie auf den Umstand gründet, daß man mit Hilfe von Kapital mehr, besser und schneller produziert als ohne Kapital. — Schon hier möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers darauf lenken, daß Roesler das Wort „Kapitalprodukt" in etwas unbe- stimmtem Sinn zu gebrauchen liebt. So bedeutet in dem Satze „was man bei jeder produktiven Tätigkeit der Mitwirkung des Kapitals ver- dankt, ist als Kapitalprodukt anzusehen" das letztere Wort das gesamte aus der Kapital Verwendung hervorgehende Produkt, also den Brutto- ertrag des Kapitales; im Beispiel vom Weine wird aber nur der Gewinn des Weines an vermehrter Annehmlichkeit und Stärke, also der Netto- ertrag des Kapitales als Kapitalprodukt bezeichnet. Wir werden später sehen, welch wichtigen Dienst der Doppelsinn dieses Wortes für Roeslers Theorie zu leisten berufen ist. „Den Naturkräften und der Arbeit," äußert sich Roesler später (S. 135), „wurde wohl zu aDen Zeiten die Eigenschaft der Produktivität zuerkannt, nicht so aber dem Kapital. Erst beim Ausgange des Mittel- alters dämmerten allmählig richtigere Ansichten über die produktive Bedeutung des Kapitals. Aber noch Adam Smith und mehrere seiner Anhänger spraclien Roesler. J_57 eigentlich dem Kapital die produktive Eigenschaft ab, indem sie glaubten, die Kapitalrente, welche der Kapitalist für die Mitwirkung des Kapitals bei der Produktion erhält, werde aus dem Arbeitsertrage genommen. Die Irrigkeit dieser Ansicht springt auf den ersten Blick in die Augen; denn ohne Kapital würde jeder Arbeiter weniger oder schlechter oder langsamer produzieren, und was man so an Menge, Güte oder Zeit- ersparnis gewinnt, ist ein reeller Vorteil, den man nur der Mitwirkung des Kapitales verdankt, und ohne welchen die Mittel der Bedürfnis- befriedigung unzweifelhaft auf einer tieferen Stufe sich befinden würden." Hier bestärkt Roesler die früher ausgesprochene Behauptung der selbständigen Produktivität des Kapitals, und gibt zugleich zu erkennen, daß er dieselbe für die zweifellose Quelle der Kapitalrente hält, die, wie er ein anderes Mal (S. 471) sagt, „nicht vom Unternehmer oder Kapitalisten produziert" wird, sondern „die mühelose Folge der im Kapital selbst liegenden Produktivkraft" ist. Auf welche Weise geht aber die Rente aus der Produktivität des Kapitales hervor? Dieses auszuführen ist der Zweck folgender merk- würdiger Auseinandersetzung (S. 448), die am zweckmäßigsten satzweise vorzuführen und zu glossieren ist. „Was durch Verwendung des Kapitales bei der Produktion hervor- gebracht wird, ist Produkt oder Ertrag des Kapitales." Hier ist Ertrag des Kapitales ersichtlich im Sinne von Bruttoertrag gebraucht. „Dieser Erfolg der Kapitalverwendung besteht, wie bei der Arbeit, in der Hervorbringung eines Gutes oder einer neuen Brauchbarkeit, deren Dasein man bloß der Mitwirkung des Kapitales verdankt, und muß in Gedanken wohl ausgeschieden werden von den Teilen des ganzen Pro- duktionsertrages, welche durch Arbeit oder Mitwirkung freier Näturkräfte entstanden sind." Hier ist zu beachten, daß Roesler den Erfolg der Kapitalverwendung in die Hervorbringung eines Gutes oder einer Brauchbarkeit setzt; von einer Hervorbringung von Wert ist weder hier, noch sonst früher die Rede gewesen. „Ist also der Wert eines bestimmten Produktes, z. B. eines Scheffels Getreide, zu bestimmen, so kommt, da die freien Naturkräfte keinen Wert haben, nur ein Teil auf Rechnung des Kapitales, der andere auf Rechnung der dazu gelieferten Arbeit, und genau in demselben Verhältnis, als Kapital hierbei mitwirkt, wird sein Wert mit Rücksicht auf Kapital bestimmt oder als Ertrag des dabei aufgewendeten Kapitales angesehen." Ist denn „Wert" auf einmal gleichbedeutend mit „Gut" geworden, daß jetzt die Hervorbringung des Wertes so unter die mehreren Faktoren aufgeteilt wird, wie im früheren Satz die Hervorbringung des Gutes, und daß jetzt auf einmal „sein", des Scheffels, „Wert" als Ertrag des dabei 158 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. angewendeten Kapitales gilt, statt wie bisher ein Gut oder eine Brauch- barkeit? — Aber hören wir weiter. „Manche Produkte können auch, in einem gegebenen Zeitpunkte, ausschließlich als Kapitalertrag angenommen werden." Hier besteht der Kapitalertrag wieder aus Produkten oder Gütern. „Legt man z. B. jungen Wein in den Keller und bringt die Arbeit des Einlegens als Wertzuschlag zum Wert des Weines, Fasses, Kellers in Ansatz, so bildet die durch die Gärung nach Umfluß eines Jahres bewirkte Verbesserung der Güte das Kapitalprodukt, des?en Wert sich in dem Unterschied des Most- und Weinpreises offenbart." Was ist hier Kapitalprodukt? — Die „Verbesserung". Das sagt zweierlei: „Verbesserung" bedeutet erhöhte Brauchbarkeit und nicht erhöhten Wert; und „Verbesserung" bedeutet ferner nicht den ganzen Erfolg der Kapitalverwendung, wie oben, sondern nur das Plus, das über die bisherige Brauchbarkeit des Kapitalgutes Most hinzugewonnen wurde. Also „Nettoertrag an Brauchbarkeit." Sofort aber wird durch die Worte „dessen Wert sich in dem Unterschied des Most- und Weinpreises offen- bart", der Nettoertrag an Brauchbarkeit in einen Nettoertrag an Wert umgewandelt. Und nun zieht Roesler sein Resultat mit den abschließenden Worten: „dieser Ertrag ist die Rente." Welcher Ertrag? ist man da wohl versucht zu fragen; der Brutto- ertrag an Gütern, den das Wort Kapitalertrag am Anfang der Stelle bedeutet hat? oder der Nettoertrag an Wert, den es zuletzt bedeutete? oder vielleicht der Bruttoertrag an Wert oder der Nettoertrag an Brauchbarkeit, den es in der Mitte abwechselnd bedeutet hatte? — Man würde wirklich nicht klar, welchem Gegenstande der ganze Beweis eigentlich gilt, wenn man nicht sonst schon wüßte, daß die Rente ein Wertüberschuß ist. Diesen also wollte Roesler erklären. Und hat er ihn erklärt ? — Ich wüßte nicht wann und wie. Er behauptet „die Rente ist die mühelose Folge der im Kapitale selbst liegenden Produktivkraft." Zum Beweis dieser Behauptung ist er die Erklärung schuldig, wieso die Produktivität des Kapitales zu einem Wertüberschuß des Produktes über den eigenen Wert des Kapitales führt. Wo soll er diese Erklärung geliefert haben? — In den ersten Zitaten, in denen er das Wesen der Produktivkraft des Kapitales schildert, gewiß nicht; denn hier behauptet er nur, daß man mit Hilfe des Kapitales mehr Produkte und Brauchbarkeiten erzeugt als ohne Kapital; es ist eine Pro- duktivität, die auf „mehr Güter als sonst" geht, die hier besprochen wird, keine, die auf „mehr Wert als das Kapital selbst" ginge. Aber im Schlußzitat, das der Erklärung der Rente eigens gewidmet ist? — Wer dieses Zitat mit Aufmerksamkeit liest, wird bemerken, daß auch hier die Entstehung des „Mehrwertes" aus der Produktivität des Roesler. 169 Kapitales mit keinem Wort erklärt ist. Eine Verbindung ist freilich zwischen ihnen hergestellt, aber nur dadurch, daß Roesler inmitten seiner Auseinandersetzung auf einmal anfängt „Wert" zu sagen, wo er früher „Gut" gesagt hat, und so tut, als ob Produkt und Wert, mehr Produkt und mehr Wert, noch dazu '„mehr Produkt als sonst" und „mehr Wert als das Kapital selbst"^ schlechthin identisch wären, und als ob mit dem Beweise, daß das Kapital mehr Produkt erzeugt, auch schon bewiesen wäre, daß die Produktivität des Kapitales die spendende Quelle des Mehr- wertes ist. Aber so steht die Sache nicht. Das Kapital hilft zur Entstehung von mehr Produkten als man sonst bekäme: das ist eine Tatsache. Und diese mehreren Produkte haben mehr Wert als das zu ihrer Erzeugung aufgewendete Kapital: da^ ist eine zweite, von der ersten ganz unter- schiedene Tatsache, die ihrer eigenen Erklärung bedarf. Und diese Er- klärung ist Roesler schuldig geblieben — wie so viele seiner Vorgänger. Auch in den Ansichten, die Roesler über die Höhe der Kapital- zinsen äußert, setzt er das bisherige Spiel, falsche Schlüsse auf den Ge- brauch zweideutiger Ausdrücke zu stützen, unverändert fort. Ich würde meinen Lesern und mir selbst die wenig dankbare Aufgabe, Roeslers dialektischen Irrungen noch weiter nachzugehen, gerne erlassen, wenn nicht gerade diesem Teile seiner Ausführungen ein erhöhtes theoretisches Interesse zukäme. Sie beleuchten nämlich drastisch die Verlegenheit, in die nicht bloß Roesler, sondern jede Produktivitätstheorie kommen muß, wenn es gilt, ihre Lehre vom Ursprung des Kapitalzinses auch mit den tatsächlichen Erscheinungen der Zinshöhe zusammenzureimen. Die Ursache des Kapitalzinses liegt den Produktivitätstheorien zu- folge in der Produktivität des Kapitales. Nun läßt sich kaum in Abrede stellen, daß diese mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung immer mehr steigt^). Man sollte daher erwarten, daß mit dem Wachsen der Ursache auch die Wirkung wachsen, also mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung auch der Zinsfuß immer mehr in die Höhe gehen werde. Bekanntlich zeigt aber die Erfahrung das gerade Gegenteil: der Zinsfuß steigt nicht, sondern sinkt in dem Maße, als die wirtschaftliche Kultur vorschreitet. — Wie ist das mit der Lehre zusammenzureimen, daß die Produktivität des Kapitales die wirkende Ursache des Kapitalzinses ist? Roesler hat die Verlegenheit, die hieraus erwächst, deutlich erkannt, die Versuche einiger Früherer, zumal Careys in zutreffender Kritik als unzureichend verworfen, und sucht nun seinerseits nach einem Ausweg 2). Fr wiU ihn darin finden, daß gerade die größere Produktivität des Kapi- *) „Daß diese Produktivität immer mehr zunimmt, lehrt ein Blick auf die Fort- schritte der Technik; man vergleiche Pfeil und Bogen mit einem Schießgewehr, die Verbesserungen der Spinnmaschine, der Webstühle, der Pflüge usw." Roesler a. a. 0. S. 460. ») S. 458ff. 160 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. tales es sei, die den Zins herabdrückt. „Je ergiebiger die Kapitalverwen- dung, desto geringeren Wert besitzt das daraus erzielte Produkt. Der sinkende Zinsfuß ist nicht eine Folge der Schwierigkeit, sondern der Leichtigkeit der Produktion; nicht eine Folge oder ein Zeichen, sondern ein Hindernis der Teuerung." Zur Begründung dieser Sätze entwickelt Koesler folgende Theorie, die ich wieder satzweise vorführen und kritisieren will „Der Gebrauchswert des Kapitales kann nur in dem seines Produktes bestehen." Gewiß sehr richtig. Zu bemerken ist, daß Roesler hier vom Wert und Produkt des Kapitales spricht, nicht der Kapitalnutzung. Kapital- produkt ist daher das Bruttoprodukt der Kapitalverwendung. „Dieser muß aber sinken, je leichter und wohlfeiler man mittelst Kapitalverwendung Bedürfnisse befriedigen kann." Das ist schon falsch. Wächst das Produkt der Kapitalverwendung, so wird allenfalls das einzelne Stück des Produktes im Gebrauchswert sinken, aber gewiß nicht das ganze Produkt, von dem die Rede ist. Wenn ich mit gleichem Kapitalaufwand erst 500, dann 1000 Zentner Zucker zu erzeugen lerne, so mag im zweiten Fall zwar ein einzelner Zentner einen geringeren Gebrauchswert haben, als früher ein einzelner Zentner gehabt hat, aber sicher werden die 1000 Zentner zusammen, das jetzige „Produkt des Kapitales" mehr Gebrauchswert haben, als die 600 Zentner zusammen- genommen hatten. „Es scheint näher zu liegen, um so mehr für die Nutzung einer Produktivkraft zu bezahlen, je mehr man mittelst derselben hervor- bringen kann. Allein dies wäre eine Verwechslung zwischen Größe und Wert des Ertrages und man muß sich erinnern, daß Menge und Wert in diametralem Gegensatze stehen." Dieser Satz bietet Anlaß zu einer Reihe von Bemerkungen. Zunächst fällt auf, daß Roesler auf einmal vom Kapitale selbst auf die Nutzung desselben überspringt. Daß man sodann Größe und Wert des Ertrages nicht verwechseln darf, ist eine sehr richtige Mahnung, die von Roesler selbst in seinen früheren Auseinandersetzungen (siehe oben S. 157 f.) mit Nutzen hätte beachtet werden können. Ebenso ist es in gewissem Sinne richtig, daß Menge und Wert in diametralem Sinne entgegengesetzt sind — nur nicht in dem Sinne, den Roesler der Sache gibt. Richtig ist näm- lich, daß je mehr Exemplare es von einer Güterart gibt, desto weniger — caeteris paribus — das einzelne Exemplar wert ist; nicht richtig ist es aber, daß je mehr Exemplare es von einer Güterart gibt, desto weniger diese zusammen wert sind. Beträgt die Ernte 10 Millionen Metzen Getreide statt 5 Millionen, so gebe ich gerne zu, daß 1 Metzen Getreide weniger wert sein wird als zuvor. Aber ich zweifle, daß die 10 Millionen Roesler. 161 zusammen weniger wert sein werden, als die ö Millionen es waren, am wenigsten an Grebrauchswert, von dem Roesleb ja spricht. Setzen wir uns aber über alle diese Bedenken hinweg und nehmen wir mit Roesler an, es sei wahr: je mehr Produkte das Kapital erzeugt, desto weniger ist die Summe dieser Produkte wert. Folgt daraus irgend etwas für die Erniedrigung des Zinsfußes? Ich sehe nicht ein, wie. Roesler hat selbst gesagt, daß der Gebrauchs- wert des Kapitales in dem seines Produktes besteht. Ist jetzt das Produkt weniger wert, so wird dies seine natürliche Wirkung darin äußern, daß auch das Kapital weniger wert sein wird; mit anderen Worten, daß der Kapitalwert der verschiedenen Produktivmittel, der Fabriken, Maschinen, Rohstoffe usw. sinkt. Daß dabei der Zinsfuß sinken muß, ist nicht im mindesten einleuchtend gemacht. Die Frage ist ja, wie man Roesler mit seinen eigenen Worten, die er gegen Carey gerichtet hatte, vorhalten kann: „zu beantworten, nicht warum für eine Maschine, die früher 100, jetzt 80 kostet, jetzt 4 statt früher 5 an Zins gegeben werden, sondern warum der Zins für einen Wert von 100 früher 5, jetzt 4 beträgt." Sollte der Minderwert des „Kapitalprodukts" für den Zinsfuß etwas zu bedeuten haben, so kann es nur sein, wenn man Kapitalprodukt wieder in einem ganz anderen Sinne, nämlich als Nettoprodukt des Kapitales auffaßt. Die Größe dieses Produktes steht allerdings in direktem Zu- sammenhange mit dem Zinsfuß. Es scheint nun in der Tat, daß Roesler vermöge einer seiner beliebten Begriffsschwankungen in diesem Gedanken- gang — wie früher öfter schon — Kapitalprodukt wieder als Nettoprodukt versteht*). Aber hiemit gibt sich Roesler wieder nach einer anderen Seite eine Blöße. Er irrt nämlich sehr, wenn er den Produktionsüberschuß für eine hermetisch abgeschlossene Größe hält, deren Wert sich selbständig nach Zahl und Brauchbarkeit der in ihr enthaltenen Stücke bestimmt: in der Art, daß der Überschuß groß sei, wenn und weil die darin enthaltenen Stücke selten und darum wertvoll sind, während er klein wird, wenn und weil die darin enthaltenen Stücke zahlreich und darum geringwertig sind. Eine solche Auffassung verkennt das Wesen des Überschusses von Grund aus. Der Überschuß ist das unselbständigste Ding von der Welt, über dessen Wert, ja über dessen Existenz Faktoren entscheiden, die durchaus nicht in ihm selbst liegen. Ob ein Überschuß überhaupt existiert und wie groß sein Wert ist, hängt allemal von zwei Dingen ab : einerseits ^) Dies geht namentlich aus der auf S. 462 folgenden Stelle hervor: „Sollte der Zins je auf Null sinken, so wäre dieses nicht, weil die Produktivität des Kapitales ver- schwunden, sondern weil diese so sehr gestiegen wäre, daß Kapitalprodukte keinen Wert mehr hätten." Der Nullpunkt des Kapitalgewinnes wird eben erreicht, wenn der Wert der Überschußprodukte gleich Null ist; nicht auch wenn das Gesamtprodukt des Kapitales gleich Null ist; denn dann läge Verlust des ganzen Kapitalstockes vor. B ö h m • B » w'e r k , Kapitalzins. 4. Aufl. 11 162 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. von dem Gesamtwert des Bruttoproduktes einer Kapitalverwendung^ und andererseits von dem Wert der hiebei verzehrten Kapitalteile. Ist die erste Summe größer als die zweite, so ist ein Überschuß da, und zwar ein um so größerer, je mehr die erste Summe überwiegt. Damit ist dann auch mit bestimmt, wie viel Stücke von wie großem Einzel- wert in den Überschuß fallen. Beileibe aber nicht umge- kehrt: daß Zahl und Einzelwert der in den Überschuß fließen- den Stücke bestimmen könnte, wie groß der Überschuß sein soll. Der Menge und dem Einzel wert der im Überschuß enthaltenen Stücke einen verursachenden Einfluß auf Dasein und Größe desselben einräumen, hieße auf die Frage: Warum ist etwas übrig geblieben? zur Antwort geben: Weil etwas übrig geblieben ist; und auf die Frage: Warum ist viel übrig geblieben? antworten: Weil viel übrig ge- blieben ist. So bietet denn Roeslers Lehre der Kritik einen wunden Punkt um den andern. Unbefriedigend, wie sie vom Anfang bis zum Ende ist, läßt sie auch den Widerspruch, den der sinkende Zinsfuß und die steigende Produktivität des Kapitales bilden, ohne befriedigende Versöhnung, und mit diesem Widerspruch bleibt auch ein bedenkliches Zeugnis gegen die Richtigkeit aller Theorien in Kraft, welche den Zins als eine reine Frucht der Kapitalsproduktivität erklären wollen. In einer späteren Publikation, den 1878 erschienenen. „Vorlesungen über Volkswirtschaft", hat Roesler seine Ansichten nicht unwesentlich modifiziert, ohne indes einer haltbaren Lösung des Problems näher zu kommen. Das Kapital (der Besitz) erscheint ihm jetzt nicht nur als produktiv, sondern sogar als allein produktiv, während die Arbeit, „die dienende Kraft des im Kapital liegenden Besitzes", selbst nicht produktiv ist^). Seine Produktivität beruht auf der Herrschaft über die Naturkräfte, in der sein Wesen liegt, und die durch die Dienste der — ihm untergeordneten — Arbeit vermittelt wird^). Der Wert gilt Roesler als das „Maß der pro- duktiven Kraft des Besitzes" 3). Da letztere immerfort zunimmt, hat auch der Wert die Tendenz, immerfort zu steigen*), und ebenso der Preis aller Güter, der ja „den Wert der Güter bezahlt" &). Ganz irrig ist es, die allge- meine Steigerung der Preise auf ein Sinken des Wertes der Edelmetalle zurückzuführen, deren Wert vielmehr gleichfalls immerfort steigt«). Die Kapitalrente wird überall als eine natürliche Frucht der Produktivität des 1) Vgl. S. 141, 143, 148, 219, 295, 426, 431 usw. «) Siehe S. 75, 76, 127, 131, 148 usw. ») S. 222, 223, 224 usw. *) S. 224. ») S. 289ff. •) S. 292. Roesler. \Q^ Kapitales behandelt, ohne daß nach ihrem Ursprang ausdrücklich gefragt würde. Die Abnahme des Zinsfußes wird endlich sehr sonderbar damit erklärt, daß bei zunehmender Produktivität alle Werte steigen, also auch „der Kapitalstamm als Wertvermögen in die Höhe geht", woraus angeblich folgen soll, daß auch ein zunehmender Kapitalertrag eine geringere Quote des Kapitalstammes repräsentieren muß. „Der Anteil des Kapitales muß, wie der der Arbeit, im Verhältnis stehen zur Zunahme der produktiven Leistung; da aber mit dieser zugleich der Kapitalstamm als Wertvermögen in die Höhe geht, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer relativen Abnahme der Kapitalrente. Wenn die Kente von 5 auf 10 steigt und der Boden- oder Kapitalwert von 100 auf 300, so wird nun der neue Kapital- ertrag im Verhältnis von 10 zu 300 zu beurteilen sein; in Prozenten be- rechnet wäre dann der Zinsfuß von 5 auf 3% herabgegangen." (S. 437.) Warum, darf man hier wohl fragen, könnte nicht ebensogut der „Anteil des Kapitales" von 5 auf 15, und dabei der Wert des Kapital- stammes nur von 100 auf 200 steigen? Daß der Wert des Kapitalstammes mit zunehmender Produktivität in einem stäriceren Verhältnis steigen muß, als die Rente, das hat ja Roesler nicht mit einem einzigen Wort behauptet, geschweige denn erklärt oder bewiesen. Alsdann wäre aber der Zinsfuß nicht gesunken, sondern von 5 auf 7^% gestiegen! Dieser kurze Auszug zeigt wohl schon zur Genüge, daß Roesler in der neuesten Gestalt seiner Lehre von einer befriedigenden Auffassung unseres Problems wo möglich noch weiter entfernt geblieben ist als zuyor. Inzwischen waren die Produktivitätstheorien ein Gegenstand ernster und wuchtiger Angriffe geworden. Rodbertüs hatte ihnen in einer rahigen sachlichen Kritik vorgeworfen, daß sie Fragen der Verteilung und Fragen der Produktion verwechseln; daß sie mit der Annahme, als ob der als Kapitalgewinn zugewiesene Teil des Gesamtproduktes ein spezifisches Produkt des Kapitales sei, eine petitio principii begingen; daß vielmehr die einzige Quelle aller Güter die Arbeit sei. Lassalle und Marx hatten dann dieses Thema, jeder in seiner Weise, variiert, jener mit Ungestüm und Witz, dieser mit derber Rücksichtslosigkeit. Diese Angriffe riefen eine Erwiderung aus dem Lager der Produk- tivitätstheoretiker hervor, mit welcher ich diesen überlangen Abschnitt beschließen will. Obwohl sie aus der Feder eines noch sehr jungen Ge- lehrten hervorging, verdient sie unser voUes Interesse: teils wegen der Stellung des Autors, der als Mitglied des staatswissenschaftlichen Seminares in Jena zu den damals leitenden Persönlichkeiten der historischen Schule in Deutschland in naher wissenschaftlicher Beziehung stand und daher wohl als Repräsentant der in dieser Schule herrschenden Meinungen ange- sehen werden kann; teils wegen ihres Entstehungsanlasses. Indem sie nämlich in voUer Kenntnis und zur Widerlegung der wuchtigen Angriffe geschrieben wurde, die soeben Marx in seinem „Kapital" gegen die Lehre 11* 164 VII. Produktivitätstheorien. 3. Ü.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. von der Produktivität des Kapitales gerichtet hatte, sind wir zur Erwartung berechtigt, daß sie das Beste und tJberzeugendste enthält, was ihr Autor nach voller kritischer Überlegung zu Gunsten der Produktivitätstheorie zu sagen im Stande war. Diese Erwiderung findet sich in zwei Aufsätzen, die K. Strasburger im Jahre 1871 unter dem Titel „Zur Kritik der Lehre Marx' vom Kapitale" und „Kritik der Lehre vom Arbeitslohn" in Hildebrands Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik veröffentlichte^). Den Kern seiner Lehre hat Strasbürger im zweiten der genannten Aufsätze 2) in folgenden Worten zusammengefaßt: „Das Kapital führt Naturkräfte zu, welche zwar für jeden zugänglich sind, welche aber oft nur mit Hilfe von Kapital zu einer bestimmten Produktion angewendet werden können. Nicht jeder besitzt die Mittel, sich die Naturkräfte zu unterwerfen; die Kraft desjenigen, welcher mit einem geringen Kapital arbeitet, wird zu Operationen in Anspruch genommen, welche für einen anderen, reich mit Kapital ausgestatteten, Naturkräfte verrichten. Des- halb ist die Leistung der Naturkräfte, wenn sie durch Ver- mittlung des Kapitales herbeigeführt wird, kein Geschenk der Natur; sie wird beim Tausche mit in Anschlag gebracht und wer kein Kapital besitzt, muß das Produkt seiner eigenen Arbeit für die Leistung der Naturkräfte dem Kapitalisten überlassen. Das Kapital produziert also Werte, aber seine Eolle bei der Produktion ist eine völlig verschiedene von der, welche die Arbeit bei derselben spielt." Und etwas später ») sagt er: „Schon aus dem vorher Gesagten zeigt sich, wie wir die Produktivität des Kapitales verstehen. Das Kapital produziert Werte, indem es Naturkräften die Arbeit aufbürdet, welche sonst der Mensch selbst verrichten müßte. Die Produk- tivität des Kapitals beruht also darauf, daß es sich von der lebendigen Arbeit, was seine Tätigkeit bei der Produktion anbetrifft, unterscheidet. Wir haben gesagt, daß die Leistung der Naturkräfte im Tausche als ein Äquivalent der menschlichen Arbeit betrachtet wird. Marx behauptet das Gegenteil. Wird ein Arbeiter mehr als ein anderer durch Naturkräfte bei seiner Arbeit unterstützt, so schafft er, meint Marx, mehr Gebrauchs- wert, das Produktenquantum wird größer, die Leistung der Naturkräfte erhöht aber nicht den Tauschwert der von ihm produzierten Waren. Es genügt zur Widerlegung dieser Ansicht an das zu erinnern, was wir schon oben erwähnt haben, daß nämlich nicht jeder dieselben Mittel besitzt, sich die Naturkräfte zu unterwerfen; diejenigen, welche kein Kapital besitzen, müssen sich die Leistungen des letzteren mittelst ihrer eigenen 1) Band 16, S. 93 ff.; Band 17, S. 298ff. ») Jahrbücher 17. Band S, 325 am Ende. ») S. 329. Süasba^er. 166 Arbeit erkaufen, oder wenn sie mit Hilfe des Kapitals eines andern arbeiten, diesem einen TeU des hervorgebrachten Wertes überlassen. Dieser Teil des neuproduzierten Wertes ist der Kapitalgewinn; das Beziehen eines gewissen Einkommens durch den Kapitalisten ist in der Natur des Kapitales begründet." Ziehen wir aus diesen Worten die Grundgedanken noch knapper heraus, so ergibt sich folgender Erklärungsgang. Die Naturkräfte sind zwar an sich frei, aber ihre Benützung ist oft nur mit Hilfe von Kapital möglich. Da femer das Kapital nur in be- schränkter Menge vorhanden ist, so kommen die Kapitalbesitzer in die Lage, für die Mitwirkung der durch ihr Kapital vermittelten Naturkräfte eine Bezahlung zu erlangen. Diese Bezahlung ist der Kapitalgewinn. Der letztere wird also erklärt aus der Notwendigkeit, die Mitwirkung der Naturkräfte zu Gunsten des Kapitalisten zu honorieren.— Wie steht es mit der erklärenden Kraft dieser Lehre? Ich will im Zugeständnisse der Prämissen, von denen Strasbürger ausgeht, nicht spröde sein. Ich will ohne weiteres zugeben, daß viele Natur- kräfte nur durch Vermittlung von Kapital utilisiert werden können, und ich will auch zugeben, daß wegen der beschränkten Menge von Kapital die Besitzer des letzteren in die Lage kommen können, sich für die Mit- wirkung der vermittelten Naturkräfte bezahlen zu lassen. Aber was ich nicht zugeben kann, ist, daß aus diesen Prämissen irgend etwas für die Entstehung des Kapitalzinses folgt. Es ist eine voreilige und unmotivierte Annahme Strasburgers, daß der Kapitalzins als Wirkung jener Prä- missen hervorgehe, indem diese ihrer Natur nach ihre Wirkung in ganz anderen wirtschaftlichen Erscheinungen finden müssen. Ich hoffe den Irrtum Strasbürgers nicht allzu schwer aufdecken zu können. Es ist von zwei Dingen nur eines möglich: entweder ist das Kapital in so beschränkter Menge vorhanden, daß die Kapitalisten eine Hono- rierung der vermittelten Naturkräfte erlangen können, oder nicht. Stras- burgers Theorie setzt den ersten FäU voraus, nehmen also auch wir ihn als gegeben an. Untersuchen wir nun: wie ist der wirtschaftliche Vorgang beschaffen, durch den der Kapitalist das Honorar für die Naturkräfte erlangen kann ? Es wäre eine voreilige petitio principii, zu antworten: durch das Einstreichen des Kapitalgewinnes. Eiae kurze Überlegung wird vielmehr klar machen, daß, wenn der Kapitalzins überhaupt aus der Honorierung von Naturkräften hervorgeht, er sich erst als sekundäre Folge aus kom- plizierteren wirtschaftlichen Vorgängen herausschälen kann. Da die Naturkräfte nämlich am Kapitale hangen, so können sie offenbar nur gleich- zeitig mit der Verwertung der Dienste des Kapitales selbst verwertet werden. Da ferner aber das Kapital durch Arbeitsaufwand entstanden 166 VII; Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. ist und durch den Gebrauch entweder mit einem Schlage untergeht oder doch allmäJilich sich abnutzt, so ist es klar, daß bei einer Verwertung der Kapitaldienste auch die Arbeit, die im Kapitale steckt, honoriert werden muß. Es kann daher das Honorar für Naturkräfte- dem Kapi- talisten nur als Bestandteil eines Bruttoertrages zufließen, der außer jenem Honorar noch ein zweites Honorar für Arbeitsaufwand enthält. Genauer präzisiert: der wirtschaftliche Vorgang, durch den der Kapitalist die Honorierung seiner Naturkräfte erlangt, ist der Verkauf der Dienste seines Kapitales um einen höheren Preis, als er dem Arbeits- aufwand entspricht, der zur Erzeugung der betreffenden Kapitalstücke gemacht wurde. Wenn z. B. eine Maschine, die ein Jahr dauert, mit einem Arbeitsaufwand von 365 Tagen erbaut wurde, und der übliche Taglohn 1 fl. beträgt, so würde ein Verkauf der täglichen Dienste der Maschine um einen Gulden nur knapp die Arbeit honorieren, die in der Maschine steckt und es fiele noch nichts für die Naturkräfte ab, deren Benützung jene vermittelt. Ein Honorar für diese letzteren stellt sich erst dadurch ein, daß die Tagesdienste der Maschine mit mehr als einem Gulden, z. B. mit 1 fl. 10 kr. honoriert werden. Dieser allgemeine Vorgang kann sich nun wieder in mehreren ver- schiedenen Einzelformen vollziehen. Eine derselben tritt dann ein, wenn der Eigentümer des Kapitales dieses selbst, als Produktionsunternehmer, gebraucht. Alsdann besteht zunächst die Honorierung der gesamten Kapitaldienste in jener Quote des Produkts, die nach Abschlag des anderweitigen Produktionsaufwands, für Bodennutzung und unmittelbare Arbeit, zurückbleibt, und die den „rohen Kapitalertrag" ausmacht. Beträgt der letztere, auf den Tag be- rechnet, 1 fl. 10 kr., und ist zur Honorierung der Arbeit, die das in einem Tag vernutzte Kapital erzeugt hat, nur ein Gulden erforderlich, so stellt der Überschuß von 10 kr. täglich das Honorar für Naturkräfte dar. — Daß dieser Überschuß Kapitalgewinn sei, ist damit noch nicht gesagt: die Entscheidung darüber werden wir erst später fällen. Auf einem zweiten direkteren Wege können die Kapitaldienste durch Vermietung Honorierung erlangen. Erzielt unsere Maschine eine Tages- miete von 1 fl. 10 kr., so wird in ganz gleicher Weise der Teilbetrag von 1 fl. das Honorar der zum Maschinenbau verwendeten Arbeit, der Über- schuß von 10 kr. wieder die Honorierung der Naturkräfte repräsentieren. Es gibt aber noch einen dritten Weg, auf dem man die Dienste des Kapitales veräußern kann: indem man nämlich das Kapitalstück selbst veräußert, was wirtschaftlich einer kumulativen Veräußerung aller Dienste gleichkommt, die das Kapitalstück zu leisten imstande ist';. Wird sieh nun bei dieser Form der Veräußerung der Kapitalist mit der 1) Vgl. Knies, der Kredit, II. Hälfte S. 34f., dann 771:. Siehe auch unten Ab- schnitt VIII. strasburger. 167 Vergütung der Arbeit begnügen, die in der Maschine steckt, oder wird er nicht auch eine Vergütung für die Naturkräfte verlangen, deren Be- nutzung er vermittelt? — Ohne allen Zweifel das letztere. Es ist absolut kein Grund einzusehen, warum er bei einer sukzessiven Veräußerung der Maschinendienste sich für Naturkräfte sollte bezahlen lassen, bei einer kumulativen Veräußerung nicht, zumal wir mit Strasbürger voraus- gesetzt haben, daß die Menge des Kapitales so beschränkt ist, daß er eine solche Honorierung erzwingen kann. In welcher Form wird sich nun hier die Honorierung der Naturkräftß äußern? — Ganz natürlich darin, daß der Kaufpreis der Maschine über denjenigen Betrag steigt, der der üblichen Honorierung der zur Erzeugung der Maschine verwendeten Arbeit entspricht; also, wenn die Maschine 365 Arbeitstage ä 1 fl. gekostet hat, darin, daß ihr Kaufpreis mehr als 365 fl. beträgt. Und da kein Grund abzusehen ist, warum bei kumulativer Veräußerung der Kapitaldienste die Naturkraft billiger veräußert werden soll, als bei sukzessiver, so können wir, analog unseren früheren Suppo- sitionen, auch hier eine Honorierung der Naturkraft mit 10% des Arbeits- h onorares annehmen. Demzufolge würde sieh der Kapitalpreis der Maschine auf 365 + 36.5 = 401.5 fl. stellen. Wie sieht es nun unter diesen Voraussetzungen mit dem Kapitalzins aus? — Das ist leicht zu sehen. Der Eigentümer der Maschine, der sie in seiner Unternehmung verwendet oder vermietet, bezieht für ihre Dienste während des Jahres, das sie dauert, täglich 1 fl. 10 kr. Das ergibt eine Gesamteinnahme von 365 x 1 fl. 10 kr. = 401.5 fl. Da aber während des Gebrauchsjahres die Maschine selbst durch Abnützung zugrunde gegangen ist und ihr Kapitalwert volle 401.5 fl. beträgt, so erübrigt als Überschuß, als reiner Kapitalzins — nichts. Obwohl also der Kapitalist sich hat Naturkräfte bezahlen lassen, existiert doch kein Kapitalzins — ein deut- licher Beleg dafür, daß die Ursache desKapitalzinses doch in etwas anderem liegen muß, als in der Honorierung von Naturkräften. Ich bin darauf gefaßt, daß man mir an dieser Stelle einen Gegen- einwand machen wird. Man wird sagen, es ist nicht möglich, daß der Wert der Kapitalstücke so hoch stehen bleibt, daß ihr Erzeuger im Ver- kaufspreis noch eine Prämie für Naturkräfte bezieht: es würde nämlich alsdann die Kapitalerzeugung zu lohnend sein, und dies müßte eine Kon- kurrenz hervorrufen, die endlich den Wert der Kapitalstücke auf den Wert der zu ihrer Erzeugung verwendeten Arbeit herabdrückt. Fände z. B. eine Maschine, die 365 Arbeitstage gekostet hat, wegen Honorierung von Naturkräften, die sie vermittelt, einen Preis von 401.5 fl., so würde — bei einem sonstigen Stand des Tagelohns von 1 fl., — die auf die Er- zeugung solcher Maschinen gerichtete Arbeit lohnender als jede andere; in Folge davon würde dieser Erwerbszweig zahlreich ergriffen und die Erzeugung solcher Maschinen so lang vervielfältigt, bis die gesteigerte 168 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. Konkurrenz ihren Preis auf 365 fl. für das Stück, und damit den an ihr zu erzielenden Arbeitsverdienst auf das normale Maß herabgedrückt hätte. — Ich gebe die Möglichkeit eines solchen Vorganges ohne weiteres zu. Aber ich frage entgegen: Wenn die Maschinen so zahb*eich geworden sind, daß wegen allzustarker Konkurrenz ihr Erzeuger beim Verkauf mit einer knappen Vergütung seiner Arbeit vorlieb nehmen und für die Natur- kräfte, deren Benützung er vermittelt, nichts aufrechnen kann, wie soll er auf einmal bei der Vermietung oder beim Eigengebrauch derselben Maschinen etwas für die Naturkräfte erlangen können? Entweder — oder! Entweder sind die Maschinen selten genug, um eine Aufrechnung für Naturkräfte zu gestatten — dann wird ihnen die Seltenheit beim Verkauf so gut wie bei der Vermietung zu statten kommen, und der Kapitalwert steigt bis zur Absorption des Rohzinses — falls ihn nichts anderes zurückhält." Oder, die Maschinen sind so zahlreich, daß eine Aufrechnung für Naturkräfte durch den Druck der Konkurrenz unmöglich gemacht wird; dann wird sie es bei der Vermietung so gut sein wie beim Verkauf, und der Rohzins sinkt, bis er abermals von der Amortisation absorbiert wird — falls wieder nichts anderes beide Größen auseinander hält, was mit der Honorierung der Naturkräfte nichts zu tun hat. Es ist ein eigentümlicher Zufall, daß die motivierten Produktivitäts- theorien nach fast 70 jähriger Entwicklung beinahe an demselben Punkte enden, an dem sie ausgegangen sind. Was Strasburger im Jahre 1871 lehrt, ist im Wesen fast genau dasselbe, was Latjderdale im Jahre 1804 gelehrt hatte. Die „arbeitersetzende Kraft" des Kapitales, die wegen ihrer Seltenheit und im Maße ihrer Seltenheit dem Kapitalisten zu einer Honorierung verhilft, ist nur dem Namen nach verschieden von den Natur- kräften, die der Besitz des Kapitales vermittelt, und die gleichfalls im Maß der Seltenheit des Kapitales Honorierung erzwingen. Hier wie dort dieselbe Konfundierung von Rohzins und Kapitalwert einerseits, und Reinzins andererseits, dieselbe Mißdeutung der wahren Wirkungen der angenommenen Prämissen, dieselbe Vernachlässigung der wahren Ursachen des zu erklärenden Phänomens. An der Rückkehr zum Ausgangspunkt zeigt sich die ganze Unfrucht- barkeit der dazwischen liegenden Entwicklung. Diese Unfruchtbarkeit war kein Zufall. Es war nicht bloß ein unglücklicher Zufall, daß keiner das erlösende Wort fand, das die geheimnisvolle Ejitstehung des KapitaJ- zinses aus der Produktivität des Kapitales aufzudecken die Kraft hat. Das lösende Wort konnte nicht gefunden werden, weil der Ausgangspunkt des Weges zur Wahrheit verfehlt war. Es war von vornherein ein hoffnungs- loses Bemühen, aus einer produktiven Kraft des Kapitales den Zins ganz und voll erklären zu wollen. Ja, wenn es eine Kraft gäbe, die ebenso, wie auf dem Acker Weizen wächst, direkt einen „Mehrwert" wachsen lassen Schlußergebnisse. 169 könnte! Aber eine solche Kraft gibt es nicht. Was die produktive Kraft leisten kann, ist nur Schaffung von viel Produkt, damit auch allenfalls Schaffung von viel Wert, aber nie Schaffung von mehr Wert. Der Kapital- zins ist ein Überschuß, ein Rest, den der Minuend „Kapitalprodukt" über den Subtrahend „Wert des verzehrten Kapitalstücks selbst" übrig läßt. Die produktive Kraft des Kapitales kann ihre Wirkung darin finden, daß sie den Minuend groß macht. Aber so weit es auf sie allein ankommt, kann sie es nicht, ohne zugleich den Subtrahend ganz eben so groß zu machen. Denn sie ist unleugbar der Grund und der Maßstab auch für den Wert des Kapitalstückes selbst, in dem sie liegt. Kann man mit einem Kapitalstück nichts produzieren, so ist es auch selbst nichts wert. Kann man mit ihm wenig produziereh, so ist es auch selbst wenig wert; kann man mit ihm viel produzieren, so ist es auch selbst viel wert u. zw. immer desto mehr, je mehr man mit seiner Hilfe hervorbringen kann, je größer der Wert seines Produkts ist. Mag daher die produktive Kraft des Kapitales noch so groß sein, so mag sie zwar den Minuend enorm hoch heben, aber, so weit es auf sie ankommt, wird der Subtrahent ganz eben so hoch ge- hoben, und ein ßest — ein Überschuß — bleibt nicht. Es sei mir zum Schlüsse noch ein Vergleich gestattet. Wenn man in ein fließendes Wasser eine schwimmende Querbarre einsenkt, so wird das Niveau des Flusses unterhalb der Barre niedriger sein als oberhalb derselben. Wenn man nach der Ursache fragt, warum das Wasser oberhalb höher steht als unterhalb, wird jemand auf die WasserfüUe des Flusses als die Ursache raten? Gewiß nicht! Denn obgleich die WasserfüUe die Ursache ist, daß das Wasser oberhalb der Barre hoch steht, tendiert sie zugleich, soweit es auf sie ankommt, das Niveau unterhalb der Barre eben so hoch zu steDen. Sie ist die Ursache des „hoch", aber die Ursache des „höher" ist nicht sie, sondern die Barre. Nun, was für den Niveauunterschied des Wassers die WasserfüUe, das ist für den Mehrwert die Produktivität des Kapitales. Sie mag voU- gütige Ursache sein, daß der Wert des Kapitalproduktes hoch ist, aber sie kann nicht die voUgiltige Ursache sein, daß er höher ist als der Wert des Kapitalstückes selbst, dessen Niveau sie ebenso speist und hebt wie das des Produktes. Die wahre Ursache des „Mehr" ist auch hier — eine Barre, welche von der eigentlichen Produktivitätstheorie nicht einmal genannt wird, welche von einer Reihe anderer Theorien in verschiedenen Dingen — bald im Opfer einer Nutzung, bald in einem Opfer an Enthaltsamkeit, bald in einem Opfer an Arbeit der Kapitalbüdung, bald einfach in dem ausbeutenden Druck der Kapitalisten gegen die Arbeiter — gesucht wird, deren Wesen und Wirken bisher aber überhaupt nicht in zufriedensteUender Weise erkannt ist^). *) Es wird sich mancher meiner Leser wundern, warum ich, während ich mich als entschiedenen Gregner der Produktivitätstheorie zeige, mich mit keinem Worte 170 VII. Produktivitätstheorien. 3. U.-A. Motivierte Produktivitätstheorien. jener kräftigen Unterstützung bediene, welche die sozialistische Kritik gegen dieselbe Theorie so reichlich an die Hand gibt; mit anderen Worten, warum ich die Produktivitäts- theorie nicht mit dem Argument von der Hand weise, daß das Kapital selbst Arbeits- erzeugnis und somit seine alUällige Produktivität keine originäre ist. Ich ließ dieses Argument einfach deshalb außer dem Spiel, weil ich ihm für die theoretische Erklärung des Kapitalzinses nur eine sekundäre Bedeutung beilege. Die Sache scheint mir folgender- maßen zu liegen. Es steht wohl außer Zweifel, daß das Kapital, einmal fertiggestellt, eine gewisse produktive Wirkung äußert; daß z. B. eine Dampfmaschine allerdings die Ursache einer gewissen produktiven Wirkung ist. Die primäre theoretische Erklärungs- frage, zu der dieser Tatbestand Anlaß gibt, ist nun: „ist jene produktive Fähigkeit des — fertig vorhandenen — Kapitales die vollwichtige Ursache des Kapitalzinses?" Wäre diese Frage zu bejahen, dann wäre allerdings in zweiter Linie die Frage zu stellen, ob die Produktiv kraft des Kapitales eine selbständige Ej-aft des Kapitales, oder aber nur von der Arbeit, welche das Kapital erzeugt hat, abgeleitet ist ? Mit anderen Worten: ob nicht durch das Medium des Kapitales hindurch die (manuelle) Arbeit als die wahre Quelle des Kapitalzinses anzusehen ist ? Da ich indes schon die erste Frage verneinte, hatte ich keine Veranlassung, mich auf die Eventualfrage nach der Originalität der Produktivkraft des Kapitales einzulassen. — Übrigens werde ich noch in einem späteren Abschnitt (XII) Gelegenheit haben, auch zu der letzteren Frage Stellung zu nehmen. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Werke« sind noch verschiedene Versuche unternommen worden, die Produktivitätstheorie in der einen oder anderen Variante zu vertreten. Der bemerkenswertesten dieser Versuche soll noch unten in dem die Zinsliteratur der Cregenwart behandelnden Anhange gedacht werden. VIII. Die Nutzimgstheorien. Die Nutzungstheorien sind ein Abstämmling der Produktivitäts- theorien, der sich bald zu selbständiger Eigenart entwickelt hat. Sie knüpfen gerade an denjenigen Gedanken an, der die eigentlichen Produktivitätstheorien zum Scheitern bringt: an die Einsieht von der Existenz eines genauen kausalen Zusammenhangs zwischen dem Wert der Produkte und dem ihrer Produktivmittel. Ist, wie man anzuerkennen begann, der Wert jedes Produktes prinzipiell identisch mit dem Werte der darein verwendeten Produktivmittel, so mußte jede Erklärung des „Mehrwerts" aus der Produktivität des Kapitales fehl gehen; denn je höher diese den Wert des Produktes höbe, desto höher müßte sie auch den — prinzipiell identischen — Eigenwert des Kapitales heben; dieser müßte sich mit der Treue eines Schattens an jenen heften und könnte nicht die kleinste Kluft zwischen beiden entstehen lassen. Die Kluft besteht aber dennoch. Warum? Dafür bot sich in dem eben entwickelten (Jedankengang fast von selbst ein neuer &klärungsweg an. Wenn es nämlich einerseits wahr ist, daß der Wert jedes Produktes mit dem Wert der aufgeopferten Produktivmittel identisch ist, und wenn man andererseits wahrnimmt, daß dennoch der Wert des Kapitalproduktes regelmäßig größer ist als der Wert der in seiner Erlangung aufgeopferten Kapitalgüter, so drängt sich fast von selbst der Gedanke auf, daß die Kapitalgüter vielleicht nicht das ganze Opfer ausmachen, das zur Er- langung des Kapitalproduktes gebracht wird; daß vielleicht neben ihnen noch irgend ein anderes Etwas im Spiele ist, das gleichfalls aufgewendet werden muß, und das einen Bruchteü des Produktwertes — eben den rätselhaften „Mehrwert" — für sich absorbiert Man suchte und fand ein solches Etwas. Ja sogar mehr als eines. Indem sich über die Natur jenes Etwas drei verschiedene Meinungen entwickelten, wuchsen auch aus dem gemeinsamen Grundgedanken drei verschiedene Theorien heraus: die Nutzungstheorie, die Abstinenz- theorie und die Arbeitstheorie. Diejenige unter ihnen, welche den 172 VIII. Die Nutzungstheorien, Produktivitätstheorien am nächsten blieb, ja anfänglich bloß als eine Bereicherung derselben erschien, ist die Nutzungstheorie. Sie beruht auf folgenden Grundgedanken: Neben der Substanz des Kapitales ist auch der Gebrauch desselben oder seine Nutzung ein Gegenstand von selbständiger Wesenheit und selbständigem Wert. Um einen Kapitalertrag zu erlangen, genügt es nicht, bloß ein Opfer an der Substanz des Kapitales zu bringen, sondern man. muß auch die „Nutzung" des angewendeten Kapitales für die Dauer der Produktion aufopfern. Da nun prinzipiell der Wert des Produktes gleich ist der Summe des Wertes der zu seiner Erzeugung aufgewendeten Produktivmittel, und da in Gemäßheit dieses Satzes die Kapitalsubstanz und die Kapitalnutzung erst zusammen genommen dem Werte des „Kapital- produktes" äquiparieren, so muß dieser natürlich größer sein als der Wert der Kapitalsubstanz allein. Auf diese Weise erklärt sich die Erschei- nung des Mehrwerts, der nichts anderes ist als der Wertanteil des Teil- opfers „Kapitalnutzung". Daß das Kapital produktiv sei, setzt diese Theorie allerdings voraus, aber nur in einem wenig nachdrücklichen und ganz unverfänglichen Sinne; in dem Sinne nämlich, daß das Hinzutreten des Kapitales zu einer ge- gebenen Arbeitsmenge zur Erlangung eines (an Masse) größeren Produktes hilft, als die ununterstützte Arbeit allein erlangen könnte. Schon nicht notwendig ist, daß dabei der kapitalistische Produktionsprozeß i m G a n z e n , der die Bildung und Benützung des Kapitales begreift, ein vorteilhafter war^). Wenn man z. B. mit 100 Tagen Arbeit ein Netz anfertigt und dann mit Hilfe desselben in anderen 100 Tagen, während derer das Netz dauert, 500 Fische fängt, während man ohne Netz täglich 3 Fische hätte fangen können, so ist offenbar der Gesamtprozeß ein nachteiliger gewesen. Man hat trotz der Kapitalverwendung mit Aufwand von 200 Arbeitstagen nur 500 Fische gefangen, während man sonst 600 hätte fangen können. Dennoch wird im Sinne der Nutzungstheorie — wie es ja auch tatsächlich der Fall ist — das einmal fertig gestellte Netz Kapitalzins tragen müssen. Denn, einmal fertig gestellt, hilft es doch mehr Fische fangen, als man ohne Netz fangen könnte und das genügt, um zu bewirken, daß der Mehrertrag von 200 Fischen ihm zugerechnet wird. Er wird ihm aber nur zugerechnet in Gemeinschaft mit seiner Nutzung. Es wird also ein Teilbetrag vielleicht von 190 Fischen, beziehungsweise deren Wert, der Substanz des Netzes, der Rest der Nutzung des Netzes zugeschrieben, womit ein Mehrwert und ein Kapitalzins zur Entstehung gelangt. Wenn so nur ein sehr bescheidener Grad von physischer Produktivität des Kapitales zur Entstehung des Mehrwerts im Sinne der Nutzungs- theorie genügt, so ist es selbstverständlich, daß sie eine direkte Wert- ^) Vgl. oben S. 99 Anm. 1. Verhältnis zur Froduktivitätstheorie. 173 Produktivität in keiner Weise voraussetzt: ja, richtig verstanden, schließt sie dieselbe sogar prinzipiell aus. Das Verhältnis der Nutzungstheorien zur Produktivität des Kapitales wird man indes in den Schriften der Nutzungstheoretiker selbst nicht so abgeklärt finden, als ich es an dieser Stelle abzuklären bemüht war. Eher im Gegenteile. Die Berufungen auf die Produktivität des Kapitales gehen lange genug parallel mit der Entwicklung der eigentlichen Nutzungs- theorie und erfolgen gar nicht selten in einem Tone, der uns zweifeln läßt, ob der Autor zur Erklärung des Mehrwertes mehr auf die Produktivität des Kapitales, oder auf die der Nutzungstheorie eigentümliche Argu- mentation vertraut. Erst allmählich haben sich die Nutzungstheorien aus solcher Vermischung mit der Produktivitätstheorie losgelöst und in voUer Reinheit entfaltet^). Ich werde im folgenden den Weg einschlagen, daß ich zunächst die Entwicklung der Nutzungstheorien in historischer Darstellung schildere. Die Kritik werde ich teilen. Solche kritische Notizen, welche bloß auf individuelle Mängel der vorgeführten Einzeltheorien Bezug nehmen, werde ich sofort in die historische Darstellung einflechten. Dagegen behalte ich die kritische Würdigung der ganzen Richtung einer zusammenhängenden Schlußbetrachtung vor. 1. Unterabschnitt. Dogmenhistorische Darstellung. Die Entwicklung der Nutzungstheorie knüpft sich hauptsächlich an drei Namen: J. B. Say, der zu ihr den ersten Anstoß gab, Hermann, der sie durch eine ausführliche Lehre von der Natur und dem Wesen der Nutzungen auf eine feste Grundlage stellte; und Meng er, der ihr die höchste Ausbildung gegeben hat, deren sie meines Erachtens überhaupt fähig ist. Alle dazwischen liegenden Bearbeitungen schließen sich an das eine oder das andere Vorbild an, und treten, wenn auch einige von ihnen recht verdienstlich sind, an Bedeutung hinter jene zurück. Dabei gibt die Liste der Autoren, die hier tätig waren, zu zwei auffälligen Beobachtungen Anlaß. Erstlich ist, wenn man von der einzigen Person Says absieht, der Ausbau der Nutzungstheorie ausschließlich durch die deutsche Wissen- ^) Die schwankende Ausdrucksweise vieler Nutzungstheoretiker hat es zum großen Teil verschuldet, daß man auf die selbständige Existenz der „Nutzungstheorien" bis jetzt so wenig geachtet hat. Man pflegt ihre Vertreter mit den Anhängern der eigent- lichen Produktivitätstheorien einfach zusammenzuwerfen und glaubt auch jene schon widerlegt zu haben, wenn man nur die Produktivitätstheoretiker widerlegt hat. Das ist nach dem im Texte gesagten vollkommen irrig; die beiden Tbeoriengruppen beruhen auf wesentlich verschiedenen Grundgedanken. 174 VIII. Die Nutzungstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung. Schaft geleistet worden. Und sodann scheint innerhalb der letzteren wieder die Nutzungstheorie die besondere Vorliebe unserer gründlichsten und scharfsinnigsten Denker auf sich gezogen zu haben: wir finden wenigstens die besten Namen der deutschen Wissenschaft hier auffallend zahlreich vertreten. Die Lehre Says, des Begründers dieser Richtung, habe ich bereits oben^) ausführlich dargestellt. In ihr sind Produktivitäts- und Nutzungs- theorie noch völlig verwachsen; so sehr, daß keine der anderen über- oder untergeordnet erscheint und daß dem Dogmenhistoriker nichts erübrigt, als Sa Y als Vertreter beider Theorien zu registrieren. Um eine Grundlage für das Folgende zu gewinnen, will ich den Gedankengang jener Ideen- reihen, die der Nutzungstheorie zugehören, im knappsten Auszuge reka- pitulieren. Der fonds productif Kapital liefert produktive Dienste. Diese besitzen ökonomische Selbständigkeit und werden Gegenstand selbständiger Wert- schätzung und Veräußerung. Weil dieselben einerseits bei der Produktion nicht zu entbehren und andererseits von ihren Eigentümern nicht ohne Vergütung zu erlangen sind, muß sich der Preis aller Kapitalprodukte — vermittelst des Spieles von Angebot und Nachfrage — derart akko- modieren, daß er über die Vergütung der anderen Produktionsfaktoren hinaus auch noch die übliche Vergütung der produktiven Kapitalsdienste in sich schließt. So entsteht der „Mehrwert" der Kapitalprodukte und der Kapitalzins aus der Notwendigkeit, das selbständige Produktionsopfer „Kapitaldienste" auch selbständig zu honorieren. Die auffälligste Schwäche dieser Lehre — wenn man von der be- ständigen Durchkreuzung derselben durch widersprechende Äußerungen der naiven Produktivitätstheorie absieht — liegt wohl in der Verschwom- menheit, in der Say den Begriff der produktiven Dienste zurückläßt. Wer die selbständige Existenz und Honorierung von produktiven Diensten des Kapitales zum Angelpunkt seiner Zinstheorie macht, ist doch wohl schuldig, sich deutlich darüber auszusprechen, was man sich unter jenem Namen vorzustellen hat. Das hat indes Say, wie ich schon oben gezeigt habe, nicht allein nicht getan, sondern die wenigen Anhaltspunkte, die er über- haupt gibt, weisen überdies in eine falsche Richtung. Aus der oft wiederholten Analogie, die Say zwischen den Kapital- diensten einerseits und der menschlichen Arbeit sowie der Tätigkeit der natürlichen Fonds andererseits zieht, läßt sich nämlich schließen, daß Say unter jenen die Betätigungen der natürlichen Kräfte ver- standen wissen wollte, die in den Kapitalgütern ruhen; z. B. die physischen Aktionen des Zugtieres, der Maschine, die Betätigungen der Heizkraft der Kohle usw. Wenn deni aber so ist, dann bewegt sich der ganze Beweis- 1) Siehe S. lOaff. Say, Storch. 175 gang in einem falschen Geleise. Denn jene Betätigungen sind nichts anderes, als was ich an einem andern Orte die „Nutzleistungen" der Güter genannt habe^); sie sind dasselbe, was in dem sonst herrschenden, wenig bezeichnen- den und bedauerlich unklaren Sprachgebrauch unserer deutschen Wissen- schaft zwar als Nutzung, aber als rohe Nutzung des Kapitales zu be- zeichnen ist, und dasselbe, was durch den ungeschmälerten Brutto- betrag des Pacht- oder Mietzinses der Kapitalstücke vergolten wird: sie sind mit einem Wort das Substrat des rohen, nicht des reinen Kapital- zinses, um den es sich handelt. Hat Sat also in der Tat sie unter den Services productifs gemeint, dann hat seine ganze Theorie ihr Ziel verfehlt; denn dann folgt aus der Notwendigkeit, die Services productifs zu hono- rieren, natürlich auch nur das Dasein eines Rohzinses und gar nichts für das Dasein des zu erklärenden Reinzinses. Hat er aber unter den Services productifs etwas anderes gemeint, dann hat er uns über die Natur dieses anderen absolut im unklaren gelassen — was die auf seine Existenz gebaute Theorie mindestens unvollständig macht. In jedem Fall ist also Says Theorie unvollkommen. Immerhin war durch sie ein neuer Weg gewiesen, auf dem man bei gehöriger Ausbildung dem Kern des Zinsproblems um sehr viel näher kommen konnte, als mit den unfruchtbaren eigentlichen Produktivitätstheorien. Die beiden ersten Nachfolger Says brachten freilich eine solche Ent- wicklung noch nicht Einer derselben, Storch, ist sogar von der geringen Höhe, die durch Says Theorie bezeichnet wird, noch eine staxke Stufe niedergestiegen. Storch^ lehnt sich äußerlich an Say an, den er öfter zitiert, hat aber von dem, was Say seinen Resultaten an Begründung hinzufügte, nichts herüber genommen und den Mangel auch aus eigenem nicht ergänzt. Für die Unfruchtbarkeit, mit der er unsern Gegenstand behandelt, ist es ein charakteristisches Symptom, daß er nicht den Darlehenszins aus dem ursprünglichen Kapitalzins, sondern umgekehrt diesen aus jenem erklärt. Er geht davon aus, daß das Kapital neben Natur und Arbeit, den beiden primären Güterquellen, eine dritte sekundäre „Quelle der Pro- duktion" ist (S. 212). Die Produktionsquellen werden zu Einkommens- quellen, indem sie oft verschiedenen Personen angehören und erst durch einen Leihvertrag demjenigen, der sie zum produktiven Zusammenwirken vereinigt, zur Verfügung gestellt werden müssen. Hiebei erzielen sie ein Entgelt, das zum Einkommen des Verleihers wird. „Der Preis eines ver- liehenen Grundstückes heißt Pacht; der Preis verliehener Arbeit heißt Lohn; der Preis eines verliehenen Kapitales heißt bald Zins, bald Miete" *). Nachdem Storch so zu verstehen gegeben hat, daß das Verleihen *) Vgl. meine „Rechte und Verhältnisse" S. 57ff. (Jenaueres hierüber siehe unten. *) Cours d'Economie Politique, Tome I, Paris 1823. *) Die letzten Worte sind ein Zitat aus Sat. 176 VIII. Die Nutzungstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung. der Produktivkräfte der reguläre Weg ist, sieh ein Einkommen zu ver- schaffen, setzt er anhangweise hinzu, daß man doch auch dann, wenn man seine Produktivkräfte selbst verwendet, ein Einkommen erlangen könne. „Ein Mann, der einen ihm gehörigen Garten auf eigene Kosten bebaut, vereinigt in seinen Händen das Grundstück, die Arbeit und das Kapital. Trotzdem (das Wort ist für Storchs Auffassung bezeichnend!) zieht er vom ersten eine Grundrente, von der zweiten seinen Unterhalt, vom dritten eine Kapitalrente." Denn der Verkauf seiner Produkte muß ihm einen Wert einbringen, der wenigstens dem Entgelt gleichkommt, das er für Grundstück, Arbeit und Kapital im Wege des Verleihens hätte bekommen können: sonst würde er aufhören, den Garten zu bebauen und würde seine Produktivkräfte vermieten^). Warum aber soll es möglich sein, für vermietete Produktivkräfte, speziell für vermietetes Kapital ein Entgelt zu bekommen? — Auch mit der Beantwortung dieser Frage gibt sich Storch nicht viel Mühe. „Da jeder Mensch," sagt er S. 266, „gezwungen ist zu verzehren, bevor er ein Produkt erlangen kann, findet sich der Arme in der Abhängigkeit vom Reichen und kann weder leben noch arbeiten, wenn er nicht von ihm schon existierende Nahrungsmittel erhält, die er ihm dann zurückzustellen verspricht, wenn sein Produkt vollendet sein wird. Diese Darlehen können nicht unentgeltlich sein, denn der Vorteil davon wäre sonst ganz auf der Seite des Armen, während der Reiche an ihrem Abschluß gar kein Interesse hätte. Um ihre Zustimmung dazu zu gewinnen, mußte man daher übereinkommen, daß der Eigentümer des angehäuften Überflusses oder des Kapitales eine Rente oder einen Gewinn bezieht, der mit der Größe jenes Vorschusses im Ver- hältnis steht." Eine Erklärung, die an wissenschaftlicher Präzision ziemlich alles zu wünschen übrig läßt. Von einem zweiten Nachfolger Says läßt sich wenigstens nicht sagen, daß er dessen Theorie verschlechterte. Es ist dies Nebenius. Nebenius hat in seinem ausgezeichneten Werke über den öffent- lichen Kredit'') auch unserem Gegenstand eine kurze Betrachtung ge- widmet, in der er sich eine etwas eklektische Erklärung des Kapitalzinses zurechtlegt. Der Hauptsache nach folgt er der Nutzungstheorie Says. Er hat dessen Kategorie der produktiven Dienste des Kapitales acceptiert ^) ^) Auch bei der Frage nach der Höhe der Kapitalrente kehrt die Verdrehung des Verhältnisses von ursprünglichem und Darlehenszins wieder. Auf S. 286 läßt Storch den Kapitalzins bestimmen durch das Verhältnis zwischen dem Angebote der Kapi- talisten, die Kapitalien zu verleihen haben, und der Unternehmer, die sie zu mieten wünschen. Und auf S. 286 sagt er, daß die Höhe des Einkommens jener Personen, die ihre Produktivkräfte selbst anwenden, sich jener Taxe anpaßt, die durch Angebot und Nachfrage für die verliehenen Produktivkräfte bestimmt wird. *) Ich zitiere nach der 2. Auflage 1829. ») Siehe z. B. S. 19 und 20. Nebenius, Mario. 177 und gründet den Kapitalzins auf den Umstand, daß diese Dienste einen Tauschwert erlangen. Zur Begründung des letzteren zieht er aber als neues Moment auch den Hinweis auf die ., schmerzlichen Entbehrungen und Anstrengungen" heran, welche die Kapitalbildung erfordert^). Endlich fehlt es auch nicht an Anklängen an die Produktivitätstheorie. So be- merkt er einmal, man könne das Mietgeld, welches der Schuldner für ein erborgtes fruchtbar angelegtes Kapital zu entrichten hat, als Frucht dieses Kapitales selbst betrachten (S. 21); und ein anderesmal betont er, daß „in der gegenseitigen Abschätzung, woraus die Bestimmung des Mietgeldes hervorgeht, die Produktivkraft der Kapitalien das Hauptmoment bildet" (S. 22). Auf eine genauere Entwicklung seiner Zinstheorie läßt sich Nebenius indes nicht ein; ebensowenig auf eine Analyse des Wesens der produktiven Dienste des Kapitales, die er offenbar als fertige Kategorie von Say über- nommen hat. Ich will an dieser Stelle sofort noch eines dritten Schriftstellers ge- denken, der, obwohl bedeutend später, lange nach Hermann schreibend, ziemlich genau auf dem SAYschen Standpunkt stehen geblieben ist. Es ist dies Marlo in seinem „System der Weltökonomie" 2). Zu der großartigen Anlage dieses Werkes und zur hervorragenden Bedeutung, ^e nach seiner Tendenz gerade das Zinsproblem für dasselbe haben mußte, steht die überaus dürftige Behandlung, die diesem zu teil geworden, in auffallendem Kontrast. Man wird in den mächtigen Bänden vergebens nach irgend einer zusammenhängenden und eingehenden Unter- suchung über den Ursprung des Kapitalzinses, nach irgend einer wirklichen Zinstheorie suchen. Wenn Marlo nicht durch polemische Ausführungen gegen Andersdenkende, zumal gegen die Lehre von der Arbeit als alleiniger Wertquelle»), seinen Standpunkt einigermaßen gekennzeichnet hätte: seine positiven Ausführungen würden kaum ausreichen, um über seine Meinung auf das Oberflächlichste zu orientieren, geschweige denn, um einen Uneingeweihten in das Wesen des Problems einzuführen. Marlos Meinung ist ein von Say abgeleitetes Gemisch von Nutzungs- und Produktivitätstheorie. Er erkennt, unter besonderer Betonung der ^) „Die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Kapitalien für die Geschäfte der Produktion in den mannigfaltigsten Beziehungen auf der einen und die Schwierigkeit der Entbehrungen, welchen man die Anhäufung verdankt, auf der anderen Seite, sind die Grundlage des Tauschwertes der Dienste, die sie leisten. Sie finden ihre Vergütung in einem Anteile des Wertes der Produkte, zu dessen Hervorbringung sie mitgewirkt haben" (S. 19). „Die Dienste der Kapitalien und der Industrie haben notwendig einen Tauschwert; jene, da die Kapitahen nur durch mehr oder weniger schmerzliche Entbehrungen oder Anstrengungen gewonnen werden, denen man sich zu unterziehen nur durch einen angemessenen Vorteil veranlaßt sein kann . . ." (S. 22). «) Cassel 1850—57. 3) I. Bd. II. Abt. S. 246ff., und öfter. Böhm-B awerk, Kapitalzins. i. Aufl. 12 178 VIII. Die Nutzungstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung. Notwendigkeit ihres- Zusammenwirkens^), zwei Güterquellen an, Natur- imd Arbeitskraft, wobei er das Kapital als „ausgebildete Naturkraft" auffaßt*). Den beiden Güterquellen entsprechend gibt es auch zwei Arten von Einkommen, Zins und Lohn. ,J)er Zins ist die Vergütung für die produktive oder konsumtive Benützung von Vermögensstämmen." „Ver- wenden wir Vermögensteile als Werkmittel, so tragen sie zur Produktion bei und leisten uns dadurch einen Dienst; verwenden wir sie zu konsum- tiven Zwecken, so konsumieren wir nicht nur sie selbst, sondern auch den Dienst, welchen sie bei produktiver Verwendung zu leisten vermöchten. Verwenden wir fremde Vermögensteile, so müssen wir den Eigentümern den produktiven Dienst, welchen sie leisten können, vergüten. Die Ver- gütung für denselben ist der Zins, welcher auch Zinsen, Interessen, Kapitalrente genannt wird. Verwenden wir eigene Güter, so beziehen wir den Zins, den sie tragen, selbst" »). Fürwahr ein kümmerlicher Auszug der alten SATschen Lehre! Noch verwunderlicher erscheint diese ärmliche Wiedergabe längst gesagter Dinge, wenn man bedenkt, daß die Ausbildung der Nutzungs- theorie in der Zwischenzeit einen mächtigen Schritt nach vorwärts getan hatte: durch Hermanns „staatswirtschaftliche Untersuchungen", die im Jahre 1832 erschienen waren. Dieses Werk bildet den zweiten Markstein in der Entwicklung der Nutzungstheorie. In ihm hat Hebmann aus den knappen und wider- spruchsvollen Andeutungen Says, die er voll lobender Anerkennung über- nahm*), eine stattliche Theorie aufzubauen gewußt, die ebensowohl in ihren Grundlagen sorgfältig ausgearbeitet, als auch in alle Details verfolgt ist. Und, was gar nicht gering anzuschlagen ist, diese wohlausgebildete Theorie ist ihm auch in Fleisch und Blut übergegangen. Sie durchdringt das ganze weitläufige Werk äußerhch und innerlich: es weist keinen Ab- schnitt auf, in dem nicht ihrer Darstellung oder Anwendung ein ansehn- licher Platz gegönnt wäre, und an keiner Stelle desselben gestattet sich der Verfasser, den Gesichtspunkten untreu zu werden, zu deren Einhaltung die Nutzungstheorie ihn verpflichtet. Ich will im folgenden die Hauptgedanken der HERMANNschen Theorie, die eine eingehendere Bekanntschaft wohl verdient, im Auszuge ent- wickeln. Ich halte mich dabei überwiegend an die fast vierzig Jahre nach der ersten erschienene zweite Auflage der staatswirtschaftlichen Unter- suchungen, da diese die Theorie im Wesen fast unverändert, und dabei in der Form schärfer und ausführlicher wiedergibt»). 1) II. Bd. S. 214 und öfter. «) II, 266. ») III, 633, 660. *) Siehe I. Aufl. S. 270 in der Note. ») Die zweite Auflage erschien 1870, ein unveränderter Abdruck derselben 1874. Ich zitiere nach dem letzteren. Hermann. 279 Die Grundlage der Lehre Hebmanns bildet sein Begriff der selb- ständigen Gütemutzung. Ganz im Gegensätze zu Sat, der über die Natur seiner Services productifs mit ein paar Analogien und metaphorischen Redensaxten hinüber zu gleiten trachtet, verwendet Hermann auf die Erklärung seines Grundbegriffes alle mögliche Sorgfalt. Er führt ihn zuerst in der Güterlehre ein, wo er von den verschiedenen Arten der Brauchbarkeit der Güter spricht „Die Brauchbarkeit kann eine vergängliche oder eine dauernde sein. Teils die Art des Gutes, teils die Art des Gebrauches ist hier maßgebend. Vergänglich, oft nur momentan, ist die Brauchbarkeit frisch bereiteter Speise, manches Gretränkes; eine Dienstleistung hat bloß momentanen Grebrauchswert, doch kann ihre Wirkung eine dauernde sein, wie es beim Unterricht, beim Rat des Arztes der Fall ist. Grundstücke, Gebäude, Geräte, Bücher, Geld haben dauernden Gebrauchswert. Ihr Gebrauch, während dessen sie fortbestehen, wird ihre Nutzung genannt, die dann wie ein eigenes Gut aufgefaßt werden kann, welches für sich selbst Tausehwert erlangen mag, den man Zins nennt." Aber nicht bloß dauerbare, sondern auch vergängliche, verbrauchliche Güter sind imstande, eine dauernde Nutzung abzugeben. Da dieser Satz von kardinaler Bedeutung für die HERMANNsche Theorie ist, gebe ich seine Veranschaulichung im vollen Wortlaut „Die Technik ist . . . imstande, bei der Umwandlung und Kombination der Brauchbarkeit der Güter die Summe ihrer Tauschwerte unvermindert zu erhalten, so daß Güter, obwohl successiv in neuen Formen, doch im Gleichwerte fortbestehen. Eisenstein, Kohle, Arbeit erlangen im Roh- eisen eine kombinierte Brauchbarkeit, zu der sie alle drei chemische und mechanische Elemente beitragen; wenn dann das Roheisen den Tausch- wert der drei verwendeten Tauschgüter besitzt, so besteht die frühere Gütersumme in der neuen Brauchbarkeit qualitativ verbunden, im Tausch- werte quantitativ addiert fort." „Den materiellen vergänglichen Gütern verleiht die Technik gerade durch Umwandlung wirtschaftiiche Beständigkeit und Fortdauer. Dieser Fortbestand von Brauchbarkeit und Tauschwert in vergänglichen Gütern durch ihre technische Umgestaltung ist für die Wirtschaft von der größten Bedeutung , . . Die Masse der dauernd nutzbaren Güter wird dadurch sehr viel größer; auch materiell vergängliche und bloß temporär brauchbare Güter lassen sich durch beständigen Form- wechsel unter Fortbestand des Tauschwertes so in Fluß bringen, daß sie für den Gebrauch Beständigkeit erlangen. Dann läßt sich, wie bei den dauerbaren, auch bei den Gütern, welche unter, Fortbestand ihres Tauschwertes qualitativ ihre Form ändern, dieser Gebrauch als ein Gut für sich, als 12* 180 VIII. Die Ntttzungstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung. Nutzung auffassen, die selbst Tauschwert erlangen kann"^). — Ich werde auf diese merkwürdige Stelle später zurückkommen. Hermann benützt diese Auseinandersetzung dazu, um sofort auch seinen Kapitalbegriff einzuführen, der sich ganz auf den der Nutzung stützt: „Beständige oder dauerbare Güter und wandelbare, die ihren Wert im Wechsel der Form behaupten, lassen sich damit unter einen und denselben Begriff bringen: eine dauernde Grundlage einer Nutzung zu sein, die Tauschwert hat. Solche Güter nennen wir Kapitale"*). Die Brücke zwischen diesen, einleitenden Begriffsaufstellungen und der eigentlichen Zinstheorie Hermanns bildet der Satz, daß die Kapital- nutzungen den Tauschwert, dessen sie als selbständige Größen fähig sind, im Wirtschaftsleben in aller Regel auch wirklich genießen. Hermann behandelt diesen Satz nicht mit jenem Nachdruck, der seiner Wichtigkeit entspräche. Obwohl alles weitere auf ihm beruht, spricht er ihn weder in solenner Form aus, noch gibt er ihm eine ausgeführte Begründung mit. Letztere fehlt zwar nicht; aber sie steht mehr zwischen den Zeilen, als in ihnen. Sie läuft darauf hinaus, daß die Nutzungen deshalb Tauschwert besitzen, weil sie wirtschaftliche Güter sind; eine Auskunft, die zwar kurz angebunden, aber am Ende auch ohne weiteren Kommentar ge- nügend ist 3). Die weitere Erklärung des Kapitalzinses schlägt dann folgenden Weg ein. Die tauschwerten Kapitalnutzungen bilden in fast allen Produktionen einen unentbehrlichen Teil des Produktionsaufwandes. Dieser setzt sich aus drei Teilen zusammen: 1. aus der Auslage des Unternehmers, d. i. 1) S. 109fi. 2) S. 111. — Dem hier entwickelten Kapitalbegriffe bleibt Hermann allerdinp nicht immer ganz treu. Während er hier die Güter selbst, welche Grundlage einer dauernden Nutzung sind, Kapitale nennt, liebt er es späterhin, das Kapital als etwas von den Gütern verschiedenes, gleichsam über ihnen schwebendes, hinzustellen; so z, B. wenn er auf S. 605 sagt: „Vor allem muß man den Gegenstand, worin sich ein Kapital darstellt, vom Kapital selbst unterscheiden. Kapital ist Grund- lage dauernder Nutzung, die bestimmten Tauschwert hat; es besteht ungeschmälert fort, so lange die Nutzung diesen Wert behält und es ist hierbei gleichgiltig, ob die Güter, welche das Kapital bilden, bloß als Kapital oder noch anderweitig brauchbar sind, überhaupt in welcher Form sich das Kapital darstellt." Wenn man hier fragt, was ist das Kapital denn, wenn es nicht der Inbegriff der Güter ist, in denen es sich „darstellt", 80 dürfte eine ehrliche Antwort, die nicht bloß mit den Worten spielt, schwer genug werden. ») Hermann hielt augenscheinlich den Tauschwert der Nutzungen für etwas zu selbstverständliches, um sich zu einer förmlichen Erklärung desselben veranlaßt zu sehen. Auch die im Texte erwähnte äußerst knappe Erklärung gibt er gewöhnlich nur indirekt, dabei aber ausreichend deutlich; so wenn er S. 607 sagt: „Für die Nutzung des Bodens kann der Komproduzent keine Vergeltung im Preise erhalten, so lange sie als freies Gut jedem in beliebiger Menge sich darbietet," Hermann. 281 aus dem Aufwand an schon vorher vorhandenen Vermögenswerten, z. B. Haupt-, Neben- und Hilfsstoffen, eigener und fremder Arbeit, Verautzungen der Werkgebäude und Geräte usw.; 2. aus der Leistung der Intelligenz und Sorgfalt des Unternehmers bei der Inswerksetzung und Leitung des Unternehmens, und 3. aus den Nutzungen der zur Produktion notwendigen fixen und flüssigen Kapitale während deren Anwendung bis zum Absatz des Produktes^). Da nun der Preis des Produktes wirtschaftlicher Weise die gesamten Produktionskosten decken muß, so muß er auch hoch genug sein, „um neben den Auslagen zugleich die Aufopferung des Unternehmers an Kapital- nutzungen, dann Intelligenz und Sorgfalt" zu ersetzen; oder, wie man es gewöhnlich ausdrückt, er muß über die Vergeltung der Auslagen einen Gewinn (Kapitalgewinn und Untemehmergewinn) abwerfen. Der letztere ist, wie Hermann seinen Gedanken noch genauer erläuternd hinzusetzt, keineswegs „bloß ein im Kampfe der Preisbestimmung zufällig sich er- gebender Vorteü". Der Gewinn ist vielmehr „ebensogut Vergeltung einer wirklichen Hingabe von Tauschwert besitzenden Gütern ins Produkt wie die Auslagen. Nur macht der Unternehmer die letzteren für die Bei- schaffung und Zusammenhaltung anderweitig vorhandener Elemente von Tauschwert für das Produkt; die Nutzungen der anzuwendenden Kapitale und seine eigene Leitung des Geschäftes gibt er selbst während der Pro- duktion neu in das Werk. Er benützt die Auslagen, um zugleich für diese seine neue Zugabe möghchst hohe Vergeltung zu erlangen; diese Vergeltung ist der Gewinn" (S. 314). Zum Abschluß dieser Erklärung des Kapitalgewinnes fehlt noch eines, das ist die Veranschaulichung, wieso man zur Produktion außer der Kapital- auslage auch noch Kapitalnutzungen aufopfern muß? — Diese Auf- klärung gibt Hermann an einer anderen Stelle, an der er zugleich den Nachweis führt, daß sich alle Produkte schließlich auf Arbeitsleistungen und Kapitalnutzungen zurückführen lassen, mit großer Umständlichkeit. Da Hermann hiebei auch über den Charakter der „Gütemutzung", so wie er sich ihn vorstellt, interessante Aufschlüsse gibt, will ich auch diese Stelle im vollen Wortlaut geben. Hermann analysiert die Aufopferungen, welche die Herstellung gesalzener Fische erfordert. Er zählt auf: Arbeit des Fanges, Nutzung und Abnutzung der Geräte, Schiffe; die Arbeit der Salzgewinnung und abermals die Nutzung von allerlei Geräten, Fässern u. dgl.; er löst dann das Schiff auf in Holz, Eisen, Tauwerk, Arbeit und Nutzung von Arbeits- geräten; das Holz wieder in Nutzung des Waldes und Arbeit, das Eisen in Nutzung des Bergwerkes usw. „Mit dieser Reihenfolge von Arbeiten und Nutzungen ist aber der Betrag der Aufopferungen für die Lieferung 1) S. 312ff., 412Ö. 182 VIII. Die Nutzongstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellong. der Salzfisohe nicht vollständig dargelegt. Es muß nämlich noch die Dauer in Anrechnung kommen, während welcher jedes Element von Tauschwert dem Produkt einverleibt ist. Denn von dem Augenblicke an, wo eine Arbeit oder eine Nutzung in ein Produkt verwendet wird, ist die anderweitige Verfügung über dieselben aufgehoben; statt sie selbst zu benützen, wirkt man durch sie lediglich zur Herstellung und Überlieferung des Produktes an den Konsumenten mit. Um einen richtigen Einblick in diese Leistung zu gewinnen, ist zu bedenken, daß Arbeiten und Nutzungen sobald sie in das Produkt verwendet sind, quantitativ als Bestandteil in das flüssige Kapital mit dem Tauschwerte eintreten, den sie vermöge ihrer Preisbestimmung zur Zeit ihrer Verwendung besaßen. Mit diesem werden sie flüssiges Kapital. Eben dieser Wertbetrag ist es aber, auf dessen anderweiten eigenen Gebrauch man verzichtet, bis das Produkt vom Käufer vergolten wird. Wie mit der Gewinnung, Bearbeitung, Aufbewahrung und Verfrachtung das flüssige Kapital durch immer neue Arbeiten und Nutzungen, die in dasselbe verwendet werden, anwächst, ist es selbst Vermögen, dessen Nutzung man den Konsumenten in jedem neuen Wertzugang bis zur Überlieferung des Produktes an den Abnehmer überläßt. Und es ist nicht ein bloßer Verzicht auf den eigenen Gebrauch, der ihm aufgerechnet wird, nein, es ist eine wirkliche neue eigentümliche Nutzung, die ihm mit dem Vermögen selbst überl||sen wird; die Zusammenfassung und Zusammenhaltung, Be^hrung und Bereithaltung aller tech- nischen Elemente der Produktion, von der Gewinnung seiner ersten Naturgrundlage an durch alle technischen Wandlungen und kom- merziellen Vorgänge hindurch bis zur Überlieferung an dem Ort, zu der Zeit und in der Quantität, wo er das Produkt begehrt. Diese Zusammen- haltung der technischen Elemente des Produktes ist der Dienst, die objektive Nutzung des flüssigen Kapitales"*). Wenn wir die Gestalt, die Hermann der Nutzungstheorie gegeben, mit der SAYSchen Lehre vergleichen, so finden wir zwar in den allgemeinsten Umrissen Identität. Beide erkennen die-Eüstenz selbständiger Leistungen des Kapitales an, beide erblicken in deren Benutzung zur Produktion ein selbständiges Opfer neben dem Aufwand an Kapitalsubstanz und beide erklären den Zins als die — notwendige — Vergütung dieses selbständigen Opfers. Dennoch bedeutet Hermanns Lehre einen wesentlichen Fort- schritt gegen Say. Denn dieser hatte u\ der Tat nur Umrisse einer Theorie gegeben, innerhalb derer die wichtigsten Dinge im Unklaren blieben; seine Services productifs sind nichts als ein vieldeutiger Name und die so wichtige Einsicht, wieso ihre Aufopferung ein selbständiges Produktionsopfer neben der aufgeopferten Kapitalsubstanz begründe, wird so gut wie ganz derPhan- 1) S. 286 f. Hermann. ]B8 tasie des Lesers anheimgestellt. Indem Hermann diese beiden Kardinal- punkte mit echt deutscher Gründlichkeit ins Klare zu arbeiten suchte, hat er den von Say übernommenen Umrissen erst einen festen Inhalt und dadurch dem Ganzen den Rang einer soliden Theorie gegeben. — Ein nicht zu unterschätzendes negatives Verdienst ist es auch, daß Hermann sich der bei Say so anstößigen Parallelerklärungen aus der Produktivität des Kapitales strenge enthält; er führt zwar diesen Ausdruck gleichfalls im Munde, allein in einem wenn auch nicht glücklichen, so doch unver- fänglichen Sinne ^). Von allen Inkongruenzen hat Hermann freilich auch seine Formu- lierung der Nutzungstheorie nicht freizuhalten gewußt. Insbesondere bleibt auch bei ihm zweifelhaft, welcher Art der Zusammenhang zwischen dem Tauschwert der Kapitalnutzungen und dem Preise der Kapital- produkte ist. Ist der Preis der Produkte hoch, weil der Tauschwert der Nutzungen hoch ist? Oder ist umgekehrt der Tauschwert der Nutzungen hoch, weil der Preis der Produkte hoch ist? — Diese Frage, in der Say sich in die grellsten Widersprüche verwickelt*), hat auch Hermann nicht vöUig ins Reine gebracht. Während er in den oben vorgeführten und in vielen anderen Stellen offenbar zur ersten Ansicht neigt, also den Preis der Produkte als beeinflußt durch den Wert der Kapitalnutzungen hin- stellt»), fehlt es auch nicht an Äußerungen, die gerade den umgekehrten Gang der Verursachung voraussetzen. So bemerkt Hermann einmal (S. 296), daß die Preisbestimmung der Produkte „selbst erst wieder auf den Preis der Arbeiten und Nutzungen zurückwirkt," und ähnlich schreibt er ein andermal (S. 559) nicht den Kostenbestandteüen, die ein Zwischen- produkt erzeugen geholfen, sondern den Endprodukten, die schließlich daraus hervorgehen, einen bestünmenden Bbfluß auf den Preis der Zwischenprodukte zu. — Es war erst Menger vorbehalten, in dieser schwierigen Frage volle Klarheit zu schaffen. Bis jetzt haben wir lediglich die Lehre Hermanns über den Ursprung des Kapitalzinses ins Auge gefaßt. Wir dürfen aber auch die durchaus eigenartigen Ansichten nicht übergehen, die er über die Ursachen der verschiedenen Höhe des Zinsfußes entwickelt. Hermann geht von dem früher nachgewiesenen Satze aus, daß „die Gesamtmasse der Produkte", in ihre einfachen Bestandteile aufgelöst, „eine Summe von Arbeiten und Kapitalnutzungen" ist. Hält man hieran fest, so ist zunächst klar, daß alle Tauschakte in dem Austausch von Arbeiten und Kapitalnutzungen der Einen (direkt oder in Produkten *) Siehe unten. ») Siehe oben S. 106f. ') Siehe auch S. 560: „Die Kapitahiutzungen sind daher ein Bestimmungsgrand der Preise." 184 VIII. Die Nutzungstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung. verkörpert) gegen Arbeiten und Nutzungen (direkt oder in Produkten verkörpert) Anderer bestehen müssen. Was man dabei an fremden Arbeiten und Nutzungen für eigene Arbeit erhält, ist der Tauschwert der Arbeit oder der Lohn; und „was man an Arbeiten und Kapitalnutzungen von Anderen für ausgebotene eigene Nutzungen erhält, begründet den Tausch- wert von diesen oder den Kapitalgewinn." Arbeitslohn und Kapitalgewinn müssen so die Gesamtmasse aller zu Markt kommenden Produkte er- schöpfen^). Wovon hängt nun die Höhe des Kapitalgewinnes, oder was dasselbe ist, die Höhe des Tauschwertes der Kapitalnutzungen ab? — Zunächst natürlich von der Menge fremder Arbeiten und Nutzungen, die man dafür erhält. Diese hängt aber selbst wieder hauptsächlich ab von dem Ver- hältnis, in dem die beiden Partizipanten am Gesamtprodukt, Arbeiten und Nutzungen, gegen einander ausgeboten und begehrt werden. Und zwar tendiert jede Vermehrung des Ausgebotes der Arbeit auf eine Er- niedrigung des Lohnes und eine Erhöhung des Kapitalgewinnes, und jede Vermehrung am Ausgebot der Nutzungen auf eine Erhöhung des Lohnes und eine Erniedrigung des Gewinnes. Das Ausgebot jedes dieser beiden Faktoren kann aber wieder durch zwei Umstände vermehrt werden; teils durch die Vermehrung der Masse, in der er vorhanden ist, teils durch seine größere Ergiebigkeit. Diese Umstände kommen auf folgende Art zur Wirkung. „Mehrt sich die Masse der Kapitale, so werden mehr Nutzungen feilgeboten, mehr Gegenwerte für dieselben gesucht. Diese können nur Arbeit oder Nutzungen sein. Soweit man für die vermehrten Kapital- nutzungen andere dergleichen verlangt, findet man wirklich eine größere Masse von Gegenwerten disponibel; da also Angebot und Begehr gleich- mäßig vermehrt ist, so kann der Tauschwert der Nutzungen sich nicht ändern. Ist aber, wie hier angenommen sei, die Masse der Arbeiten im ganzen nicht gestiegen, so finden die Kapitalbesitzer für mehr Nutzungen, die sie gegen Arbeit zu vertauschen suchen, nur den vorigen, also einen ungenügenden Gegenwert; der Tauschwert der Nutzungen wird daher gegen Arbeit sinken, oder der Arbeiter wird mit gleicher Leistung mehr Nutzungen kaufen. Beim Umtausch von Nutzung gegen Nutzung erhalten nun die Kapitalisten den vorigen Gegenwert, an Arbeiten aber weniger; es muß also der Gewinnbetrag im Verhältnis zum Gesamtkapital oder der Gewinnsatz sinken. Die ganze Masse der produzierten Güter ist zwar vermehrt, die Zunahme hat sich aber unter die Kapitalisten und Arbeiter verteUt." „Vergrößert sich die Ergiebigkeit der Kapitale oder ge- währen sie in gleicher Zeit mehr Befriedigungsmittel der Bedürfnisse, so ^) Hermann begreift auch Grund und Boden unter dem Kapital. Hermann. 185 bieten die Kapitalbesitzer mehr Gebrauchsgüter aus als früher, verlangen also mehr Gegenwerte. Diese erhalten sie, so weit jeder für seine vergrößerte Nutzung andere Nutzungen sucht. Mit dem Begehr ist hier das Angebot gestiegen; der Tauschwert muß also unverändert bleiben, d. h. die Nutzung gleicher Kapitale in gleicher Zeit gegeneinander vertauscht werden; aber der Gehalt dieser Nutzung an Brauchlichkeit ist ein höherer als früher. Setzt man aber voraus, die Arbeit sei nicht vermehrt, so finden nicht alle Nutzungen, mit denen man Arbeit kaufen will, den bisherigen Gegenwert; dies muß den Wettbegehr nach Arbeit steigern, den Tauschwert der Nutzungen gegen Arbeit senken. Die Arbeiter erhalten nun für ihre vorige Leistung mehr Nutzungen, finden sich also besser gestellt; die Kapital- eigner genießen nicht die ganze Frucht der vermehrten Ergiebigkeit der Kapitale allein, sondern müssen sie mit den Arbeitern teilen. Das Sinken des Tauschwertes der Nutzungen bringt ihnen aber keinen Nachteil, da er doch mehr Genußgüter begreifen kann, als vorher der höhere." Aus analogen Gründen, die wohl nicht mehr ausgeführt zu werden brauchen, zeigt Hermann, daß der Gewinnsatz sich erhöht, wenn die Masse oder die Ergiebigkeit, der Arbeit zunimmt. Der auffälligste Zug in dieser Theorie ist wohl, daß Hermann in der Zunahme der Produktivität des Kapitales einen Erniedrigungsgrund des Kapitalzinses erblickt. Er tritt damit in direkten Gegensatz einerseits zu Ricardo und seiner Schule, die die Hauptursache des sinkenden Zinsfußes in der Abnahme der Ergiebigkeit der Kapitalien fanden, welche an schlechteren Boden gewendet werden müssen; andererseits aber auch zu den Produktivitätstheoretikern, die nach der Natur ihrer Lehre gleichfalls eine gerade Proportion zwischen Produktivitätsgrad und Zinshöhe an- nehmen mußten^). Ob der Kern der HERMANNschen Nutzungstheorie haltbar ist, will ich vorläufig noch dahingestellt sein lassen. Daß aber jene Anwendung, die ihr Hermann auf die Erklärung der Höhe des Zinsfußes gegeben hat, nicht richtig ist, glaube ich schon im gegenwärtigen Stadium unserer Unter- suchungen dartun zu können. Es scheint mir nämlich, daß Hermann in diesem Teil seiner Lehre zwei Größen zu wenig auseinander gehalten hat, die sehr auseinander zu halten waren: Verhältnis der Gesamtgewinne zum Gesamtlohne und Verhältnis des Gewinnbetrages zu seinem Kapitale oder Zinsfuß. Was Hermann ausgeführt hat, ist trefflich imstande, eine Erniedrigung oder Erhöhung des Gesamtgewinnes im Verhältnis zu dem Arbeitslohne zu erklären und zu erweisen, aber es erklärt und erweist nichts für die Höhe des Gewinnsatzes oder des Zinsfußes. ^) z. B. RosCHEB § 183. Eine Ausnahme macht nur Roesler, der der HERMiNN- cjchen Ansicht, wenn auch mit etwas geänderter Motivierung, gefolgt ist. Siehe oben S. 169ff. 186 VIII. Die Nutzongstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung. Die Quelle des Versehens liegt darin, daß Hermann die sonst be- rechtigte Abstraktion, kraft deren er in den Produkten nichts sieht als die Arbeiten und Nutzungen, aus denen sie entstanden sind, auch auf ein Gebiet ausgedehnt hat, wo sie übel angebracht war, nämlich auf das Gebiet des Tauschwertes. Gewohnt, Nutzungen und Arbeiten als Repräsentanten aller Güter anzusehen, meinte Hermann auch nur auf diese Repräsentanten sehen zu dürfen, wenn es sich darum handelt, ob irgend eine Größe hohen oder niedrigen Tauschwert hat. Er kalkuliert: Nutzungen und Arbeiten sind die Repräsentanten aller Güter. Kauft daher die Nutzung gleich viel Nutzungen und dabei weniger Arbeiten als zuvor, so ist ihr Tausch- wert schlechthin kleiner. Das ist falsch. Der Tauschwert (im Sinne von Tauschkraft, in dem Hermann das Wort stets gebraucht) eines Gutes bemißt sich nicht bloß an den Quantitäten von einer oder zwei bestimmten Güterarten, die man dafür eintauschen kann, sondern am Durchschnitt aller Güter, unter die hier alle Produkte zu zählen sind, jedes einzelne gleichberechtigt mit dem Gute „Arbeit" und dem Gute „Kapitalnutzung", So versteht man den Tauschwert im Leben und in der Wissenschaft, und so versteht ihn auch Hermann selbst, wenn er auf S. 432 ausdrücklich erklärt: „Bei solcher Verschiedenheit der Preisgüter ist die Aufstellung eines Durchschnittspreises, wie wir ihn zur Bestimmung des Tauschwertes verlangten, unstatthaft, aber darum die Auffassung des Tauschwertes nicht unmöglich. Man erhält ihn im Überblick aller Durchschnitts- preise, die auf demselben Markte in allen Preisgütern über ein Gut geschlossen werden; er ist eine Reihe von Gleichungen desselben Gutes gegen viele andere Güter. Wir wollen den so bestimmten Tauschwert eines Gutes zum Unterschied von dem Durchschnittsbetrag der Geldpreise oder dem Geldwerte, den Sachwert des Gutes nennen." Es läßt sich nun leicht zeigen, daß die Tauschkraft der Kapitalnutzung gegen Produkte ganz andere Wege geht, als ihre Tauschkraft gegenüber anderen Nutzungen und Arbeitsleistungen. Steigt z. B. die Ergiebigkeit aller Nutzungen und Arbeitsleistungen vollkommen gleichmäßig auf das Doppelte, so wird die Tauschkraft zwischen Nutzungen und Arbeits- leistungen unter einander gar nicht verschoben; dagegen die Tauschkraft beider gegenüber den Produkten, die man daraus gewinnt, sehr bedeutend verschoben, nämlich auf das Doppelte gesteigert. In der Frage des Zinsfußes handelt es sich nun offenbar um ein Ver- hältnis der Tauschkraft der Kapitalnutzungen zur Tauschkraft einer ganz bestimmten Produktengattung, des Kapitalstückes nämlich, das die „Nutzung" abgibt. Ist die Tauschkraft der Maschinennutzung zwanzigmal geringer als die Tauschkraft des Produktes Maschine, „kauft" die Ma- schinennutzung 100 fl., während die Maschine selbst 2000 fl. als Gegenwert erzielt, dann entspricht dieses Verhältnis einem Zinsfuß von 5%. Ist die Tauschkraft der Maschinennutzung dagegen nur zehnmal kleiner als die Hermann. 187 des Produktes ., Maschine", kauft jene 200 fl., während dieses 2000 fL kauft, dann entspricht dieses Verhältnis einem Zinsfuß von 10%. Da nun gar kein Grund zur Annahme vorhanden ist, daß der Tausch- wert der Kapitalstücke sich anders bestimme als der Tauschwert sonstiger Produkte, und da, wie wir gesehen haben, der Tauschwert der Produkte gegenüber dem Tauschwert der Nutzungen überhaupt sich in einem anderen Verhältnis verändern kann, als sich der Tauschwert zwischen Nutzungen und Arbeitsleistungen unter einander verändert, so folgt, daß auch das Verhältnis zwischen der Tauschkraft der Eapitatnutzungen und jener der Eapitalstücke, mit anderen Worten der Zinsfuß, sich anders verschieben kann, als das Tauschwertverhältnis zwischen Nutzungen und Arbeits- leistungen. Hermanns Regel ist also nicht ausreichend begründet^). Zum Schlüsse noch ein paar Worte über die Stellung, die Hermann zur „Produktivität des Kapitales" einnimmt. Ich habe schon erwähnt, daß er diesen Ausdruck häufig gebraucht, aber durchaus nicht im Sinne der Produktivitätstheorie; er ist so weit davon entfernt, den Kapitalzins vom Kapital direkt produzieren zu lassen, daß er ja im Gregenteil eine hohe ^) Vielleicht ist es nicht überflüssig, den sehr abstrakten Gedankengang des Textes durch ein konkretes Beispiel zu unterstützen. Nehmen wir an, bei einem gegebenen Stande der Volkswirtschidt betrage der Zinsfuß 6%. Eine Maschine im Werte von 2000 fl. gebe also eine Nutzung im Werte von 100 fl. Nun steige mit einem Schlage die Ergiebigkeit aller Eiapitalien, auch unserer Maschine, sowie aller Arbeitsleistungen genau auf das Doppelte. Natürlich wird jetzt jede Nutzung und jede Arbeitsleistung doppelt so viele Produkte kaufen als zuvor, während das Tauschverhältnis beider untereinander unverändert bleibt. Nehmen wir an, daß das Produkt „Greld" in genau demselben Verhältnisse im Tauschwert sinkt wie alle anderen Produkte, so können wir das Resultat ziffernmäßig so ausdrücken, daß die Nutzung einer Maschine im Werte von 2000 fl. (der mit Geld verglichene Wert der Maschine bleibt unverändert, da die Maschine ebeniso wie das G«ld und alle anderen Produkte jetzt doppelt so billig her- gestellt wird) Produkte im Werte von 200 fl. kauft, was einer Erhöhung des Zinsfußes von 6 auf 10% entspricht. Nach Hermanns Theorie hätte aber, da sich die Tauschkraft von Nutzungen und Arbeitsleistungen untereinander nicht verschoben hat, der Zinsfuß unverändert auf 6% verharren sollen 1 — Das letztere Resultat könnte nur unter zwei Eventualitäten eintreten; entweder, wenn wir annehmen, daß auch der Geldwert der Maschine von 2000 auf 4000 fl. steigt; dazu ist aber in der Sachlage absolut kein zu- reichender Grund vorhanden; oder, wenn wir annehmen, daß die Vermehrung der (reell) billiger gewordenen Maschinen auch die Tauschkraft ihrer Nutzung gegenüber anderen Produkten durch Mehrangebot herabdrückt, so daß die Nutzung einer Maschine im Werte von 2000 fl. nur mehr Produkte für 100 fl. kauft. Allein ich bemerke, daß auch dieses Ergebnis eine Widerlegung von Hermanns Theorie in sich schließt: unter dieser Annahme ist nämlich nicht bloß die Ergiebigkeit, sondern auch die Masse der Kapitalien größer geworden. Da von beiden Umständen nur der erstere durch die gleichzeitige Vergrößerung der Ergiebigkeit der Arbeit kompensiert ist, so müßte nach Hermanns Theorie in diesem Falle eine Verminderung des Tauschwertes der Kapitalnutzungen gegenüber den Arbeitsleistungen, und damit ein Sinken des Zinsfußes eintreten; ein Postulat, dem durch das unveränderte Verharren des Zinsfußes auf 5% wieder nicht entsprochen ist. 188 VIII. Die Nutzungstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung, Produktivität für einen Erniedrigungsgrund des Zinses hält. Auch ver- wahrt er sich (S. 542) ausdrücklich dagegen, daß der Kapitalgewinn eine Vergeltung für die „tote Nutzung" sei; vielmehr erfordert das Kapital zu seiner Befruchtung „Plan, Sorgfalt, Aufsicht, überhaupt geistige Tätig- keit." Einen besonders klaren Begriff hat er übrigens mit dem Ausdruck „Pi-oduktivität" selbst nicht verbunden. Er definiert ihn mit den Worten: „Die Gesamtheit der Anwendungsarten und das Verhältnis des Pro- duktes zum Aufwand bildet das, was man die Produktivität der Kapitale nennt" ^). Meint er hier das Verhältnis des Wertes des Produktes zum Wert des Aufwandes? Dann wäre hohe Produktivität nur bei hohem Zins vorhanden, während sie ja niedrigen Zins herbeiführt. Oder das Verhältnis der Masse des Produktes zur Masse des Aufwandes? Aber auf die Masse kommt es im Wirtschaftsleben überhaupt nicht an. Oder das Verhältnis der Masse des Produktes zum Wert des Aufwandes? Aber Masse auf der einen und Wert auf der anderen Seite sind inkommen- surabel. Kurz, es scheint mir jene Definition einer scharfen Ausdeutung überhaupt unfähig. Im ganzen dürfte Hermann eine Art physischer Produktivität im Sinne gehabt haben. Die HERMANNSche Nutzungstheorie fand bei vielen angesehenen Schriftstellern Deutschlands Aufnahme und liebevolle Pflege. Ein sehr einsichtsvoller Nachfolger Hermanns ist Bernhardi''). Ohne die Nutzungstheorie weiter auszubilden — er begnügt sich, zur beifällig zitierten Lehre Hermanns seine Zustimmung zu erklären») — beweist er seine Originalität und Gedankentiefe durch eine Reihe schöner Kritiken, die er vornehmlich gegen die englische Schule richtet *). Übrigens findet er auch gegen die Antipoden der letzteren, die blinden Produktivitäts- theoretiker, ein tadelndes Wort, indem er den „seltsamen Widerspruch" rügt, dem toten Werkzeug eine selbständige lebendige Wirksamkeit zuzu- schreiben (S. 307). Auf HsRMANNschem Boden steht ferner Mangoldt\), der nur in unbedeutenden Einzelheiten von Hermann abweicht. So darin, daß er die Bedeutung der „Produktivität des Kapitales" für die Zinsbildung noch mehr zurücktreten läßt, ja jenen Ausdruck sogar als inkorrekt bemängelt, ohne freilich, „der Kürze wegen", sich seines Gebrauches selbst zu ent- halten«); ferner darin, daß er die Höhe des Zinses nicht wie Hermann ^) S. 541. Gleichlautend mit der 1. Aufl. 8. 212. *) Versuch einer Kritik der Gründe, die für großes und kleines Grundeigentum angeführt werden. St. Petersburg 1849. =>) z. B. 236f. *) S. 306ff. *) Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1868, besonders S. 121f., 137, 333, dann 446 usw. «) S. 122 und 432. Mangoldt, Mithoff, Schäffle. 189 in verkehrte, sondern in gerade Proportion mit der Produktivität des Kapitales setzt, und zwar, die Formel Thünens annehmend, mit der Produktivität des „letzten angelegten Kapitalteilchens". — Ebenso hat sich Mithoff in der Darstellung, die er im ScHöNBERoschen Handbuche von der volkswirtschaftlichen Verteilung dör Güter gab, in allen wesent- lichen Zügen an Hermann angeschlossen i). Eine eigentümliche Stellung nimmt Schäffle zur Nutzungstheorie ein. Einer der hervorragendsten Förderer jener kritischen Richtung, die seit dem Auftauchen des wissenschaftlichen Sozialismus ins Leben getreten ist, machte Schäffle auch als einer der ersten jene Gärung der Ansichten durch, welche die natürliche Folge des Aufeinandertreffens zweier so verschiedener Auffassungsweisen ist. Diese Gärung hat in seinen Äuße- rungen über den Zins sehr charakteristische Spuren zurückgelassen. Ich werde später zeigen, daß sich in Schäffles Schriften nicht weniger als drei deutlich verschiedene Erklärungsarten des Zinses verfolgen lassen; eine derselben gehört noch der älteren, zwei der jüngeren „kritischen" Auffassung an. Jene erste Erklärung schlägt in die Gruppe der Nutzangs- theorien ein. In seinem älteren Hauptwerk, dem „Gesellschaftlichen System der menschlichen Wirtschaf t" 2) führt Schäffle seine ganze Zinstheorie noch auf Grund der Terminologie der Nutzungstheorie durch ; der Kapitalgewinn ist ihm ein Gewinn aus der „Kapitalnutzung", der Leihzins ein Nutzungs- preis, seine Höhe hängt ab von der angebotenen und nachgefragten Masse von Leihkapitalnutzungen: die Nutzungen sind ein selbständiges Kosten- element usw. Aber an deutlichen Spuren zeigt 'sich schon, daß er im Be- griffe steht, die äußerlich gehandhabte Theorie zu verlassen. Er gibt wiederholt dem Worte „Nutzung" eine Deutung, die von der Meinung weit abweicht, die Hermann damit verbunden hat. Ej" erklärt die Kapital- nutzung für ein Wirken des wirtschaftenden Subjektes durch das Vermögen, für eine „Benützung" des Vermögens zu fruchtbarer Pro- duktion, für eine „Widmung", für eine „Anwendung" eines Vermögens, für eine „Leistung" des Unternehmers 3) : Ausdrücke, die in der Nutzung weniger ein sachliches, vom Kapitale ausgehendes, als vielmehr ein per- sönliches, vom Unternehmer ausgehendes Produktionselement erblicken lassen. Diese Auffassung wird noch dadurch bekräftigt, daß Schäffle den Kapitalgewinn wiederholt als Prämie eines volkswirtschaftlichen Berufes bezeichnet. Ferner polemisiert Schäffle nachdrücklich gegen die Ansicht, daß der Kapitalprofit ein Produkt der zum Produktions- prozeß beigetragenen Kapitalnutzung sei (II, 389), sowie gegen Hermann, dem er imputiert, seine Theorie zu sehr im Sinne einer selbständigen 1) Schönbergs Handbuch, I. Aufl., I S. 437f., 484ff. ») 3. Auflage, Tübingen 1873. ») Ges. System 3. Aufl., I S. 266ff., II, 458. 190 VIII. Die Nutzangstheonen. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung. Produktivität des Kapitales gefärbt zu haben (II, 459). Allein auf der anderen Seite gebraucht er dpch wieder das Wort Nutzung oft auch so, daß es nur in objektivem, also HERMANNschen Sinne gedeutet werden kann; z. B. wenn er von Angebot und Nachfrage nach Leihkapital- nutzungen spricht; und einmal macht er ausdrücklich das Zugeständnis, daß in der Nutzung neben dem persönlichen auch ein sachliches Element, der „Kapitalgebrauch", enthalten sei (II, 458). Auch enthält er sich, trotz des gegen Hermann gerichteten - Tadels, selbst nicht davon, der Kapitalnutzung gelegentlich „Fruchtbarkeit" zuzuschreiben (I, 268). So hat er den Boden der Nutzungstheorie weder völlig angenommen, noch völlig verlassen. Auch in seinem jüngeren systematischen Hauptwerk, dem „Bau und Leben des sozialen Körpers"^), haben sich SchIffles Ansichten noch nicht zu einer völlig einheitlichen Theorie abgeklärt. Während er sich in einer Beziehung von der alten Nutzungstheorie entfernt, hat er sich in einer andern ihr angenähert. Auch jetzt sieht er nämlich den tatsächlich auftretenden Kapitalzins formell noch immer als „Ertrag der Kapital- nutzung" an, welche jederzeit einen wirtschaftlichen Wert behauptet. Dabei hat er die subjektive Deutung der Nutzung aufgegeben und behandelt diese jetzt unzweideutig als rein objektives, von den Gütern dargebotenes Element, indem er die Nutzungen als „Güterfunktionen", als „Äquivalente der nutzbaren Stoffe an lebendiger Arbeit", als „lebendige Energien der unpersönlichen Sozialsubstanz" bezeichnet. Sogar im Sozialistenstaat würde diese objektive Nutzung ihren selbständigen Wert und damit an sich ihre Fähigkeit bewahren, einem Kapitalzins die Entstehung zu geben: die Erscheinung des letzteren kann nur dadurch verschwinden, daß im Sozialistenstaat die Gesamtheit, welche Kapitalbesitzerin ist, die wertvolle Kapitalnutzung unentgeltlich beisteuern, und so der Ertrag derselben dem gansen sozialen Körper zu gute kommen würde (III, 491 f.). — Da- gegen weicht ScHÄFFLE nunmehr von der älteren Nutzungstheorie darin ab, daß er die Kapitalnutzung nicht mehr als ein letztes, originäres Pro- diürtionselement anerkennt, sondern alle Produktionskosten auf Arbeit allein zurückführt (III, 273 und 274). Damit hat er eine Erklärungs- richtung eingeschlagen, die ich später in einem anderen Zusammenhange eingehend zu erörtern haben werde. Während die bis jetzt genannten Nachfolger Hermanns dessen Theorie nicht so sehr ausgebildet als nur verbreitet haben, darf Knies für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, sie nicht unwesentlich ver- bessert zu haben. Zwar in ihren Grundgedanken hat er keine Veränderung^ vorgenommen; aber er hat diesen Grundgedanken einen viel reineren und unzweideutigeren Ausdruck gegeben, als Hermann selbst. Daß die Her- 1) 2. Auflage, Tübingen 1881. Schäffle, Knies. 191 MANNsche Theorie einer solchen Verbesserung dringend bedurfte, beweisen die vielen Mißverständnisse, denen sie ausgesetzt war. Daß SohIffle Hermann für einen Produktivitätstheoretiker hielt, habe ich schon oben bemerkt. Noch bezeichnender ist es aber, daß Knies selbst in Hermann nicht einen Vorgänger, sondern einen Gregner zu erblicken glaubte^). Knies war. nicht von Anfang an IS^utzungstheoretiker. In den im Jahre 1859 veröffentlichten „Erörterungen über den Kredit"*) sah er die Kreditgeschäfte als Tauschgeschäfte, respektive als Kaufgeschäfte an, „in welchen die Leistung des einen in die Gegenwart, die Gregenleistung des andern in die Zukunft fällt" (S. Ö68). In der weiteren Konsequenz dieser Auffassung wäre es gelegen, den Kapitalzins nicht als Äquivalent einer im Darlehen übertragenen Nutzung, sondern, ähnlich wie Galliani es lange vorher getan hatte»), als ein Teiläquivalent des Darlehensstammea selbst anzusehen. Später aber hat Knies diese Auffassung ausdrücklich zurückgenommen, da zu einer solchen Neuerung gar keine Nötigung vorhanden sei, und im Gegenteile vieles dringlich von ihr abmahne*); und noch etwas später hat er in einer ajisführlichen polemischen Auseinander- setzung sich ganz direkt dahin geäußert, daß die Rücksicht auf den ver- schiedenen Wert, den gegenwärtige und künftige Güter derselben Art w^en der größeren Dringlichkeit des augenblicklichen Bedarfes haben können, zwar „nicht ganz unfruchtbar", aber entschieden nicht aus- reichend sei, um die Hauptsache der Zinserscheinung zu erklären^). Statt dessen entwickelte Knies nunmehr eine ungemein klar und gründlich gedeichte Nutzungstheorie, die in seinem umfassenden Werke über „Geld und Kredit"«) niedergelegt ist Obwohl er nach dem Zwecke dieses Werkes nur den ausbedungenen Kapitalzins zu untersuchen hatte, führt er diese Untersuchung doch von einem so allgemeinen Standpunkt, daß sich aus dem über den ausbedungenen Kapitalzins Gesagten leicht seine Meinung über den ursprünglichen Kapitalzins ergänzen l&ßt. In den Grundgedanken begegnet er sich mit Hermann. Er faßt, ganz ähnlich wie dieser, die Nutzung als „den durch eine laufende Zeit andauernden und durch Zeitmomente begrenzbaren Gebrauch" eines Gutes, der von dem Gute selbst, dem „Nutzungsträger", wohl zu unter- scheiden und zu wirtschaftlicher Selbständigkeit befähigt ist. Der für ^) Knies, Geld und Kredit, II, 2. Abt. S. 35. Vgl. Nasses Rezension in Bd. 35 der Jaiirbächer für Nationalökonomie and Statistik (1880), S. 94. ') Zeitschr. für die gesamte Staatswissenschaft, 15. Bd., S. 559ff. *) Siehe oben S. 42 f. «) Der Kredit, 1. Hälfte S. 11. *) Der Kredit, II. Hälfte S. 38ff. Ich darf vielleicht die Vermatong aassprechen, daß der hochgeehrte Forscher za der obigen Polemik darch den Inhalt einer Arbeit veranlaßt worden war, die ich einige Jahre vorher in seinem volkswirtschaftlichen Seminar verfaßt and in der ich eben die bekämpften Ansichten aufgestellt hatte. •) I. Abt. Das Geld, Berlin 1873; II. Abt. Der Kredit, 1. Hälfte 1876, 2, Hälfte 1879. 192 Vin. Die Nutzuilgstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Daxstellang. die Nutzungstheorie wichtigen Frage, ob eine selbständige Nutzung und deren Übertragung auch an verbrauchlichen Gütern denkbar und durchführbar sei, widmet er eine eingehende Untersuchung, die mit einer entschiedenen Bejahung der Frage endet i). Eine andere Kardinalfrage der Nutzungstheorie geht dahin, ob und warum die selbständige Kapital- nutzung auch einen Tauschwert besitzen und eine Vergütung erlangen müsse, die dann zum Kapitalzins wird? — Diese Frage hat Hermann, wie wir wissen, zwar nicht unbeantwortet gelassen, aber er hat die Ant- wort mit so wenig Nachdruck und in einer so unscheinbaren Form gegeben, daß man sie nicht selten ganz übersehen hat^). Statt dessen erklärt Knies mit ausführlicher Motivierung, daß „das Auftreten und die wirtschaftliche Berechtigung eines Nutzungspreises im Zins durch dieselben Verhältnisse begründet ist, welche die Sachgüterpreise begründen": Die Nutzung ist eben geradeso wie ein Sachgut ein Befriedigungsmittel menschlicher Bedürfnisse, ein „wirtschaftswertiges und gewertetes Objekt"»). — Füge ich noch hinzu, daß Kn^ies nicht bloß jeden Rückfall in die Produktivitäts- theorie selbst, sondern auch jeden Schein eines solchen Rückfalles zu ver- meiden wußte, und daß er seiner Lehre einige sehr bemerkenswerte Kritiken, zumal gegen die sozialistischen Zinstheorien beigegeben hat, so glaube ich die wesentlichsten Verdienste bezeichnet zu haben, die sich jener durch Scharfsinn und Gewissenhaftigkeit der Forschung gleich ausgezeichnete Denker um die Ausbildung der HEBMANNSchen Nutzungstheorie er- worben hat. Ich gelange nunmehr zu jenem Schriftsteller, welcher der Nutzungs- theorie die vollkommenste Gestalt verliehen hat, deren sie wohl überhaupt fähig war: es ist dies «Karl Menger in seinen „Grundsätzen der Volks- wirtschaftslehre" *). Menger ist allen seinen Vorgängern dadurch überlegen, daß er seine Zinstheorie auf eine weit vollkommenere Werttheorie aufbaut, welche insbesondere auch über die so schwierige Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Wert der Produkte und dem ihrer Produktivmittel aus- führliche und zufriedenstellende Aufschlüsse gibt. Hängt der Wert der Produkte von dem ihrer Produktivmittel, oder hängt umgekehrt der Wert der Produktivmittel von dem ihrer Produkte ab? — über diese Frage war man bis auf Menger so ziemlich im Dunkeln umhergetappt. Eine Reihe von Schriftstellern hatte wohl gelegentliche Äußerungen von sich gegeben, wonach der Wert der Produktivmittel durch den Wert ihres ^) Das Geld, S. 61 ff., 71ff. Auf das Detail dieser Untersuchung werde ich weiter unten, bei der Kritik der Nutzungstheorie im Ganzen, noch zurückkommen. «) Vgl. oben S. 180 f. 3) Kredit, II. Hälfte S. 33 f. und öfters. «) Wien 1871. Menger. 193 voraussichtlichen Produktes bedingt sei; so z. B. Say, Riedel, Hermann, Röscher^), Allein diese Äußerungen waren nie in der Form eines allge- meinen Gesetzes und noch weniger mit einer strengen, allgemein giltigen Motivierung vorgebracht worden. Überdies finden sich, wie wir uns über- zeugt haben, bei denselben Schriftstellern auch Äußerungen, die den entgegengesetzten Gang der Wertleitung andeuten; und dieser zweiten Ansicht pflichtet vollends die große Masse der nationalökonomischen Literatur bei, die den Satz, daß die Kosten der Güter den Wert derselben bestimmen, als fundamentales Wertgesetz anerkennt. So lange man aber in dieser Vorfrage nicht klar sah, konnte auch die Behandlung des Zinsproblems sich über das Niveau eines unsicheren Umhertastens kaum erheben. Denn wie soll man in sicheren Zügen eine Wertdifferenz zwischen zwei Größen, zwischen Kapitalaufwand und Kapitalprodukt, erklären können, wenn man nicht einmal weiß, auf welcher Seite des Verhältnisses man die Ursache und auf welcher die Wirkung zu suchen hat? Menger kommt nun das große Verdienst zu, jene Vorfrage mit Ent- schiedenheit gelöst und damit den Punkt, an dem, und die Richtung, in der das Zinsproblem zu lösen ist, für alle Zeit sichergestellt zu haben. Er löst jene Frage dahin, daß der Wert der Produktivmittel (der „Güter höherer Ordnung" in der Terminologie Mengers) stets und aus- nahmslos bedingt ist durch den ihrer Produkte (der „Güter niederer Ordnung") — nicht umgekehrt. Er kommt zu dieser Lösung mittelst folgenden Gedankenganges 2): Wert überhaupt ist die Bedeutung, „welche konkrete Güter oder Güterquantitäten für uns dadurch erlangen, daß wir in der Befriedigung unserer Bedürfnisse von der Verfügung über dieselben abhängig zu sein uns bewußt sind." Die Größe des Wertes eines Gutes hängt jederzeit ab von der Größe der Bedeutung jener Bedürfnisse, deren Befriedigung durch die Verfügung über das Gut bedingt ist. Da die Güter „höherer Ordnung" (Produktivmittel) uns überhaupt nur durch das Medium der Güter ,, niederer Ordnung" (Produkte) dienen, die aus ihnen hervorgehen, so ist es klar, daß jenen nur insofern eine Bedeutung für unsere Bedürfnis- befriedigung zukommen kann, als diese eine solche Bedeutung besitzen: Produktivmittel, deren ausschließlicher Nutzen in der Hervorbringung 1) Vgl. oben S. 124 und 182f. *) Ich muß mir leider versagen, an dieser Stelle mehr als das dürftigste Gerüste der MENGERschen Wertlehre vorzuführen, wodurch freilich die Vorzüge der letzteren — die ich zu den schönsten und zuverlässigsten Errungenschaften der modernen National- ökonomie zähle — nicht zur gebührenden Geltung kommen können. Erst im II. Bande werde ich Gelegenheit haben, der Sache näher zu treten. Einstweilen verweise ich rück- sichtlich der genaueren Begründung der im Texte nur höchst lapidarisch vorgeführten Sätze auf die ungemein lichtvolle und überzeugende Darstellung Mengers selbst in seinen ,, Grundsätzen" passim. Besonders S. 77ff. Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 13 194 VIII. Die Nutzungstheorien. 1. U.-A. Dogmenhistorische Darstellung. wertloser Güter bestände, könnten offenbar in keiner Weise für uns einen Wert erlangen. Da femer zwischen jenem Bedürfniskreise, dessen Be- friedigung durch ein Produkt bedingt ist, und demjenigen, dessen Be- friedigung durch die Summe der Produktivmittel des letzteren bedingt ist, eine offenbare Identität besteht, so muß auch die Größe der Bedeutung, welche ein Produkt und welche die Summe seiner Produktivmittel für unsere Bedürfnisbefriedigung besitzt, prinzipiell identisch sein. Aus diesen Gründen wird der voraussichtliche Wert des Produktes maßgebend nicht allein für das Dasein, sondern auch für die Größe des Wertes seiner Pro- duktivmittel. Da endlich der (subjektive) Wert der Güter auch die Grund- lage des Preises derselben ist, so folgen auch die Preise, beziehungsweise der (von anderen) sogenannte „volkswirtschaftliche Wert" der Güter der obigen Relation. Auf dieser Grundlage gewinnt das Zinsproblem folgende Gestalt: Ein Kapital ist nichts anderes als ein Inbegriff „komplementärer" Güter höherer Ordnung. Wenn nun dieser Inbegriff seinen Wert ableitet von dem Werte seines voraussichtlichen Produktes, wie kommt es, daß er diesen Wert nie ganz erreicht, sondern immer hinter demselben um eine bestimmte Quote zurückbleibt? Oder warum schätzt man, wenn schon der voraussichtliche Wert des Produktes Quelle und Maßstab des Wertes seiner Produktivmittel ist, die Kapitalgüter nicht ganz so hoch als ihr Produkt? Menger gibt darauf folgende scharfsinnige Antwort^): Die Umgestaltung von Produktivmitteln in Produkte oder die Pro- duktion erfordert jederzeit einen gewissen, bald längeren, bald kürzeren Zeitraum. Es ist zum Zwecke der Produktion notwendig, daß man die Produktivgüter nicht bloß in einem einzelnen Momente innerhalb dieses Zeitraumes zu seiner Verfügung hat, sondern daß man sie während des ganzen Zeitraumes in seiner Verfügung behält und im Produktions- prozesse bindet. Es tritt daher in die Reihe der Produktionsbedingungen ein die Verfügung über Quantitäten von Kapitalgütern durch bestimmte Zeiträume. In diese Verfügung setzt Menger das Wesen der Kapitalnutzung. Die so beschaffenen Kapitalnutzungen oder Kapitalverfügungen können nun, insoferne sie nicht in hinreichender Menge vorhanden sind und angeboten werden, einen Wert erlangen, oder mit anderen Worten ein wirtschaftliches Gut werden. Geschieht dies — und es ist in aller Regel so der Fall — so partizipiert außer den sonstigen Produktivmitteln, die in einer konkreten Produktion aufgewendet werden, also außer den Roh- stoffen, Hilfsmitteln, Arbeitsleistungen usw., auch noch die zur Produktion erforderte Verfügung über diese Güter, oder die Kapitalnutzung, an der >) S. 133—138. Menger. 195 Wertsumme, deren Träger das voraussichtliche Produkt sein wird, und da demnach von dieser Wertsumme für das wirtschaftliche Gut „Kapital- nutzung" etwas erübrigen muß, so können die anderweitigen Produktiv- mittel nicht den vollen Wertbelauf des künftigen Produktes erreichen. — Dies der Ursprung der Wertdifferenz zwischen den in die Produktion eingeworfenen Kapitalgütern und dem Produkte, und zugleich der Urspmng des Kapitalzinses*). In dieser Lehre Mengers hat die Nutzungstheorie endlich ihre volle theoretische Reinheit und Reife erlangt. In ihr ist nicht bloß jeder sach- liche Rückfall, sondern auch jede verfängliche Reminiszenz an die alten Produktivitätstheorien abgestreift, und das Zinsproblem endgiltig aus einem Produktionsproblem, das es nicht ist, übergeführt in ein Wert- problem, das es in der Tat ist. Das Wertproblem ist zugleich so klar und scharf gestellt und durch die Ausführungen über das Wertverhältnis zwischen Produkt und Produktionsmittel so glücklich - instruiert, daß Menger dadurch nicht bloß seine Vorgänger in der Nutzungstheorie über- troffen, sondern eine bleibende Grundlage geschaffen hat, auf der von nun an wohl alle ernstlichen Bemühungen um das Zinsproblem werden weiter- bauen müssen. Die Aufgabe des Kritikers nimmt daher .gegenüber Menger eine wesentlich andere Gestalt an, als gegenüber seinen Vorgängern. Die Lehre der letzteren habe ich bis jetzt, die Frage nach der Berechtigung des Grundgedankens der Nutzungstheorie geflissentlich beiseite lassend, ledig- lich in der Richtung geprüft, ob sie diesen Grundgedanken in mehr oder weniger vollkommener Weise, mit mehr oder weniger innerer Konsequenz und Deutlichkeit zur Darstellung brachten; ich habe bisher gewissermaßen die konkreten Nutzungstheorien an der idealen Nutzungstheorie, aber nicht die letztere an der Wahrheit geprüft. Gegenüber Menger kann es sich nur mehr um das letztere handeln. Ihm gegenüber bleibt nur eine, freilich die entscheidendste kritische Frage zu tun: Ist die Nutzungstheorie überhaupt fähig, uns eine befriedigende Erklärung des Zins- problems zu vermitteln? Ich werde die Untersuchung dieser Frage so führen, daß sie nicht bloß eine Spezialkritik der MENGERSchen Formulierung, sondern ein Urteil über die ganze in ihm gipfelnde theoretische Richtung gewähren soU. Indem ich in diese Untersuchung eintrete, bin ich mir bewußt, eine der schwierigsten kritischen Aufgaben übernommen zu haben. Schwierig schon durch die allgemeine Beschaffenheit des Stoffes, der ja seit so vielen Dezennien die Bemühungen hervorragender Geister auf die Probe stellt; schwierig insbesondere deshalb, weil ich gezwungen sein werde, gegen ') An Menqer schließt sich im wesentlichen auch Mataja in seiner schönen Arbeit aber den „Untemehmergewinn" (Wien 1884) an; vgl. besonders SS. 124, 127, 129f., 168 A. 2, 186f., 192«., 196ff. 13* 196 Vin. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. Meinungen zu opponieren, welche von den besten Denkern unserer Nation nach sorgfältiger Prüfung aufgestellt und mit bewunderungswürdigem Scharfsinn begründet worden sind; schwierig endlich auch darum, weil ich gezwungen sein werde, Vorstellungen zu bekämpfen, die, in längst" vergangener Zeit schon einmal heftig umstritten, damals den glänzendsten Sieg über ihre Widersacher davontrugen., und seither wie ein Dogma gelehrt und geglaubt werden. Ich bitte daher meine Leser, mir für die folgenden Ausführungen ganz besonders ein offenes Gehör, Geduld und Aufmerksamkeit zu schenken. 2. Unterabschnitt. Kritik, Alle Nutzungstheorien beruhen auf der Voraussetzung, daß neben den Kapitalgütern selbst ihre „Nutzung" als ein selbständiges wirtschaftliches Gut mit selbständigem Werte existiert und daß dieser ihr Wert zusammen mit dem Werte der Kapitalgüter selbst den Wert des Kapitalproduktes erfüllt. Ich behaupte nun im Gegensatz hiezu: I. Eine derartige selbständige „Kapitalnutzung", wie sie von den Nutzungstheoretikern postuliert wird, existiert nicht, kann daher auch keinen selbständigen Wert haben und nicht durch ihr Hinzutreten die „Mehrwerterscheinung" verursachen. Ihre Annahme ist vielmehr nur das Produkt einer unstatthaften, der Wirklichkeit widersprechenden Fiktion^). IL Auch wenn die Kapitalnutzung in der von den Nutzungstheoretikern vorausgesetzten Beschaffenheit exi- stieren würde, würden sich durch sie die tatsächlichen Zins- erscheinungen noch immer nicht befriedigend erklären lassen. Die Nutzungstheorien beruhen daher auf einer der Wirklich- keit widersprechenden und dabei zugleich zur Erreichung ihres Erklärungszweckes ungenügenden Hypothese. Von diesen beiden Gegenthesen ist es namentlich die erste, deren Nachweis ich in ungünstiger literarischer Position beginnen muß. Während die Diskussion über die zweite These sich auf jungfräulichem, von lite- ^) Um einem unliebsamen Mißverständnisse von vornherein zu begegnen, bemerke ich ausdrücklich, daß es mir nicht beifällt, die Existenz von ,, Kapitalnutzungen" über- haupt zu leugnen. Wohl aber muß ich die Existenz desjenigen speziellen Etwas leugnen, das die Nutzungstheoretiker als Kapitalnutzung bezeichnen und mit allerlei Attributen ausstatten, die meines Erachtens der Natur der Dinge zuwiderlaufen. Das Genauere siehe unten. FeststeDang der Kontroversponkte. 197 rarischem Streit noch unberührtem Boden bewegt, scheine ich mit der ersten eine res judicata aufzugreifen, die längst durch alle Instanzen ver- folgt und die längst und endgütig gegen mich entschieden worden ist. Es handelt sich ja im Grunde um dieselbe Sache, die in vergangenen Jahr- hunderten zwischen den Kanonisten und den Verteidigern des Leihzinses im Streite war. Die Kanonisten behaupteten: Das Eigentum einer Sache umfaßt alle aus ihr zu ziehenden Nutzungen; es kann demnach keine separate Nutzung geben, die, außerhalb des Gutes stehend, sich neben diesem im Darlehen übertragen ließe. Und die Verteidiger des Leihzinses behaupteten: Ja! es gibt dennoch eine solche selbständige Nutzung! Und sie wußten, Salmasius an der Spitze, ilire Meinung mit so wirksamen Argumenten zu bekräftigen, daß ihnen alsbald die öffentliche Meinung der wissenschaftlichen Welt zufiel und daß man heutzutage höchstens ein Lächeln mehr für die „kurzsichtige Pedanterie" der alten Kanonisten übrig zu haben pflegt. Nun, ich behaupte im vollen Bewußtsein, daß ich dadurch den Schein der Absonderlichkeit auf mich lade: in diesem Stücke hatte die verrufene Lehre der Kanonisten dennoch Recht ; die umstrittene selbständige Nutzung des Kapitales existiert wirklich nicht. Und ich hoffe zuversichtlich, daß es mir geüngen wird, den Nachweis zu liefern, daß das Urteil der ersten Instanzen in diesem literarischen Prozesse, so einstimmig es auch gefällt wurde, in der Tat ein irriges war, I. Beweisthema. Daß die von den Nutsungstheoretikern postulierte Kapüälnuteu/ng nicht existiert. Vor allem wird es sich natürlich darum handeln, den Streitgegenstand zu fixieren. Was soll denn die Nutzung sein, deren selbständige Existenz von den Nutzungstheoretikem behauptet und von mir geleugnet wird? Über die Natur der Nutzung herrscht unter den Nutzungstheoretikem selbst keine Übereinstimmung. Insbesondere gibt Menger von ihr eine wesentlich andere Begriffsbestimmung als seine Vorgänger. Hierdurch wird es unvermeidlich, daß auch ich meine Untersuchung in wenigstens zwei Äste teile, von denen der erste sich mit dem Nutzungsbegriff der SAY-HERMANNschen Richtung, der zweite mit dem MENGERschen Nutzungs- begriff zu beschäftigen hat. A. Kritik des Nutzungsbegriffes der SAY-HERjcANNschen Richtung. Auch innerhalb der SAv-HERMANNschen Richtung herrscht keines- wegs eine genaue Übereinstimmung in der Schilderung und Definition 198 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. der „Nutzung". Diese Differenzen sind aber meines Erachtens nicht so sehr auf eine wirkliche Meinungsverschiedenheit über den Gegenstand, als vielmehr auf den allgemeinen Mangel einer klaren Vorstellung über sein Wesen zurückzuführen: nicht weil man verschiedene Gegenstände im Auge hat, schwankt man in der Bezeichnung, sondern weil man von dem einen Gegenstand, den alle im Auge haben, nur unsichere Vorstellungen hat. Ein Beleg hierfür liegt darin, daß die einzelnen Nutzungstheoretiker fast ebenso oft mit ihren eigenen, als mit den Nutzungsdefinitionen ihrer Kollegen in Widerspruch geraten. Sammeln wir einstweilen die wichtigsten dieser Begriffsbestimmungen. Say spricht von produktiven Diensten, Services productifs des Kapi- tales und erläutert sie als eine „Arbeit", die das Kapital leistet. Hermann definiert einmal (S. 109) die Nutzung der Güter als deren Gebrauch; er wiederholt diesen Gedanken auf S. 111, wo er sagt, daß der Gebrauch materiell vergänglicher Güter sich als ein Gut für sich, als „Nutzung" auffassen läßt. Werden hier Gebrauch und Nutzung einfach identifiziert, so geschieht dies wieder nicht in einer Stelle auf S. 125, wo Hermann sagt, daß der Gebrauch die Verwendung der Nutzung ist. Auf S. 287 endlich erklärt Hermann ,, die Zusammenhaltung der technischen Elemente des Produktes" als den Dienst, die „objektive Nutzung des flüssigen Kapitales". Knies identifiziert ebenfalls Gebrauch und Nutzung i). ScHÄFFLE definiert die Nutzung einmal als „Anwendung" der Güter (ges. System 3. A. S. 143); ähnlich auf S. 266 als ,, Erwerbsanwendung": auf S. 267 als „ein Wirken des wirtschaftlichen Subjektes durch das Vermögen, eine Benützung des Vermögens zu fruchtbarer Produktion"; auf derselben Seite als eine ,, Widmung" vqn Vermögen zur Produktion, womit es wenig stimmt, daß Schäffle auf der nächsten Seite von einer Widmung der Kapitalnutzung, also von einer Widmung der „Widmung" spricht. Im „Bau und Leben" endlich erklärt Schäffle die Nutzungen einmal (III, 258) als „Güterfunktionen", etwas später (g. 259) als „Äqui- valente der nutzbaren Stoffe an lebendiger Arbeit", während er auf S. 260 die Nutzung definiert als die ,, Auslösung des Nutzens aus den Sachgütern". Wenn man diese etwas bunte Reihe von Definitionen und Erläute- rungen schärfer betrachtet, kann man gewahren, daß in ihr zwei Deutungen des Nutzungsbegriffes zum Ausdruck kommen: eine subjektive und eine objektive. Diese beiden Deutungen entsprechen ziemlich genau dem Doppelsinne, in dem das Wort „Nutzung" überhaupt im Sprachgebrauche lebt. Er bezeichnet einerseits die subjektive Tätigkeit des „Nutzenden" und heißt dann so viel als „Benützung", oder „Gebrauch" im subjektiven Sinne dieses gleichfalls mehrdeutigen Wortes, oder noch prägnanter „Gebrauchshandlung". Und es bezeichnet andererseits eine objektive *) Geld S. 61. Nutzung =z der durch eine laufende Zeit andauernde und durch Zeitmomente begrenzbare Gebrauch des Gutes. Der Begriff der Nutzung. 199 Funktion des nützenden Gutes, einen vom Gute ausgehenden Dienst. Die subjektive Deutung klingt leise bei Hermann an in der Identifikation von Nutzung und Gebrauch, sehr stark in dem älteren Werke Schäffles. Die objektive Deutung herrscht entschieden bei Sa y, fast ebenso entschieden bei Hermann vor, der ja einmal ausdrücklich von der „objektiven Nutzung" des Kapitales spricht, und ihr wendet sich in seinem jüngsten Werke auch ScHÄFFEE zu, indem er die Nutzung nunmehr als „Güterfunktion" deutet. Es ist leicht einzusehen, daß von beiden Deutungen einzig und allein die objektive dem Charakter der Nutzungstheorie entspricht. Denn, um nur auf das nächstüegende zu greifen, es ist schlechterdings unmöglich, den Kapitalnutzungen, die der Darlehensschuldner vom Gläubiger kauft und mit den Darlehenszinsen bezahlt, eine subjektive Deutung zu geben. Eine Benützungshandlung des Gläubigers können sie nicht sein, denn dieser leistet keine solche; eine Benützungshandlung des Schuldners können sie auch nicht sein, denn dieser nimmt eine solche zwar vor, braucht aber seine eigene Handlung natürüch nicht dem Gläubiger abzukaufen. Von einer Übertragung von Kapitalnutzungen im Darlehen zu sprechen, hat also nur dann einen Sinn, wenn man unter jenen Worten objektive Nutzelemente irgend einer Art versteht. Ich glaube daher berechtigt zu sein, die subjektiven Deutungen der Nutzung, die sich sporadisch bei einzelnen Nutzungstheoretikem finden, als Inkonsequenzen, die mit dem Geiste der eigenen Theorie im Widerspruch stehen, außer acht zu lassen, und mich ausschließhch an die objektiven Deutungen zu halten, die ja auch die überwiegenden und durch die letzte Wendung Schäffies sogar die alleinherrschenden geworden sind. Wir haben uns daher unter der Nutzung im Sinne der Say-Hermann- Bchen Richtung jedenfalls ein objektives Nutzelement vorzustellen, das von den Gütern ausgeht und selbständige wirtschaftliche Existenz sowie selbständigen wirtschaftlichen Wert erlangt. Es kann nun nichts gewisser sein, als daß es in der Tat gewisse objektive Nutzdienste der Güter gibt, die wirtschaftliche Selbständigkeit erlangen und nicht unpassend auch mit dem Namen „Nutzungen" bezeichnet werden können. Ich habe mich mit denselben an einem anderen Orte bereits, einmal ausführlich beschäftigt^) und mir damals alle Mühe ge- geben, ihr wahres Wesen so genau und gründlich als möglich darzulegen. Seltsamerweise steht dieser mein Versuch in der nationalökonomischen Literatur fast völlig isoliert da. Ich sage piit gutem Bedacht „seltsamer- weise": oder gehört es nicht zu den größten Wunderlichkeiten, wenn in einer Wissenschaft, die von Anfang bis zu Ende sich um die Bedürfnis- befriedigung durch Güter, um die Nutzbeziehung zwischen Mensch und Gut als um ihren Angelpunkt dreht, die technische Struktur des Güter- *) Siehe meine „Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der volkswirtschaft- lichen Güterlehre", Innsbruck 1881, S. 61ff. 200 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. nutzens gar nicht einmal untersucht wird ? oder wenn in derselben Wissen- schaft, in der über gar manchen anderen Begriff Seiten, Kapitel, ja Mono- graphien angefüllt werden, der grundlegende Begriff „Gebrauch eines Gutes" nicht einmal mit zwei Zeilen definiert oder erläutert, sondern in der ganzen irreführenden Verschwommenheit und Vieldeutigkeit, in der er im Volksmunde lebt, auch in allen theoretischen Untersuchungen mit- geschleppt wird? Da für unsere jetzige Aufgabe alles darauf ankommt, eine zuverlässige Vorstellung von den Nutzfunktionen der Güter zu erhalten, so muß ich hier abermals mit einiger Genauigkeit auf die Sache eingehen und ich bitte den Leser, die folgenden Ausführungen nicht als eine Abschweifung vom Thema, sondern als streng zur Sache gehörig zu betrachten^). Alle Sachgüter nützen dem Menschen durch die Betätigung der Natur- kräfte, welche in ihnen liegen. Sie sind ein Teil der materiellen Welt und darum muß all ihr Wirken, auch ihr nützendes Wirken, denselben Charakter tragen, den überhaupt das Wirken in der materiellen Welt trägt: es ist ein Wirken von Naturkräften nach Naturgesetzen. Was das Wirken der Sachgüter vor dem Wirken der sonstigen indifferenten oder schädlichen Naturdinge auszeichnet, ist der einzige Umstand, daß die naturgesetzlichen Wirkungen jener eine (gleichfalls innerhalb des Rahmens der Naturgesetze sich vollziehende) Lenkung zum Vorteile der Menschen zulassen. Es sind nämlich zwar alle Dinge schlechthin mit wirkenden Naturkräften begabt; die Erfahrung zeigt jedoch, daß die letzteren eine Lenkung zu einem bestimmten nützlichen Zwecke nur dann gestatten, wenn der mit ihnen begabte Stoff gewisse die Lenkbarkeit seiner Kräfte begünstigende Formen angenommen hat. Die Schwerkraft wohnt z. B. aller Materie ohne Ausnahme inne: allein während die Menschen mit der Schwerkraft eines Berges nichts anzufangen wissen, wird ihnen dieselbe Schwerkraft nützlich, wenn die Materie, der sie innewohnt, die bevorzugte Gestalt eines Uhrpendels eines Beschwersteines, eines Hammers angenommen hat. Oder ebenso sind die Naturkräfte, die im Kohlenstoffe liegen, für jedes Molekül dieses Stoffes identisch. Einen unmittelbaren Wirtschaftsnutzen erlangen wir indes aus den Wirkungen jener Kräfte nur, wenn der Kohlenstoff beispiels- weise die Form von Holz oder Kohle angenommen hat, nicht auch, wenn er als Gemengteil der atmosphärischen Luft existiert. — Wir können daher das Wesen der Sachgüter im Gegensatz zu den nicht nützhchen materiellen Dingen darein setzen, daß jene solche ausgezeichnete Gestaltungen der Materie sind, w<elche eine Lenkung der in ihnen wohnenden Naturkräfte zum Vorteil des Menschen gestatten. *) Ich darf mir wohl erlauben, meine Ausführungen in den ,, Rechten und Ver- hältnissen", die ich schon damals mit Rücksicht auf ihre jetzige Verwendung formulierte, zum Teil in wörtlicher Wiederholung zu benützen. Charakter des Güternutzens. 201 Aus dem Gesagten ergeben sich zwei wichtige Folgerungen, von denen die eine den Charakter der Nutzfunktionen der Sachgüter, die andere den Charakter des Gebrauches der Güter betrifft. Die Funktion der Güter kann in nichts anderem bestehen, als in einer Abgabe von Kraftäußerungen oder Kraftleistungen. Sie weist nach der natürlichen Seite einen vollständigen Parallelismus mit dem Charakter der Nutzfunktion eines Handarbeiters auf: geradeso wie ein Lastträger oder Schanzarbeiter durch Betätigung der seinem Körper innewohnenden Naturkräfte in der Form der Abgabe von nützlichen Leistungen nützt, geradeso sind es auch seitens aller Sachgüter konkrete Betätigungen der in ihnen liegenden lenkbaren Naturkräfte, oder wahre Kräfteleistungen, durch welche der Sachgüternutzen dem Menschen zugeht. Der Gebrauch eines Gutes vollzieht sich dann in der Weise, daß der Mensch die eigentümlichen Kräfteleistungen des Gutes, um die es ihm zu tun ist, im geeigneten Augenblicke hervorruft, „auslöst", — wofern sie nicht ohnedies von freien Stücken unausgesetzt dem Gute entströmen, — und sodann mit demjenigen Objekte, an welchem der Nutzeffekt zur Darstellung kommen soll, in zweckgemäße Verbindung bringt. Um z. B. die Lokomotive zu gebrauchen, wird der Mensch sie durch Wasserfüllung und Heizung zur Abgabe von Bewegungsleistungen veranlassen und mit den Waggons in Verbindung setzen, welche die beförderungsbedürftigen Personen oder Sachen bergen. Oder es wird das Buch oder das Haus, welchen ihre eigentümlichen Lichtbilder und Schutzleistungen ohne Unterlaß entströmen, mit seinem Auge oder seiner ganzen Person in zweck- dienliche Berührung bringen. Ein Sachgütergebrauch, der nicht in dem Empfange nützlicher Kräfteleistungen seitens der gebrauchten Sachgüter bestände, ist dagegen absolut nicht zu denken. Daß die bis jetzt entwickelten Thesen einer wissenschaftlichen Oppo- sition begegnen könnten, glaube ich nicht befürchten zu müssen. Einer- seits ist die in ihnen niedergelegte Auffassung der nationalökonoraischen Literatur nicht mehr fremd ^), und andererseits ist ihre Annahme bei dem heutigen Stande der Naturwissenschaften wohl eine unabweisbare Not- wendigkeit geworden. Sollte jemand vielleicht einwenden, daß jene Auf- fassung eine naturwissenschaftliche und keine wirtschaftliche sei, so efwidere ich, daß in diesen Fragen eben die Wirtschaftswissenschaft der Naturwissenschaft das Wort lassen muß. Der Grundsatz der Einheit aller 1) Insbesondere hat Schäffle im IIL Bande seines „Bau und Leben" denselben Standpunkt sehr schön vertreten. Schäffle bildet überhaupt eine rühmliche Ausnahme von der oben gerügten Gewohnheit, sich um die Elemente des Güterwirkens nicht zu kümmern. In derselben Richtung sind jetzt auch noch John Rae (siehe unten Abschn. XI) und neuestens Irving Fisher zu nennen. 202 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik, Wissenschaft fordert dies. Die Wirtschaftswissenschaft erklärt so wenig wie irgend eine andere Wissenschaft die ihrem Gebiete angehörigen Tat- sachen bis zu Ende, sondern sie löst nur ein Stück des Kausalzusammen- hanges, der die Erscheinungen der Dinge verbindet, und überläßt es anderen Wissenschaften, diö Erklärung fortzusetzen. Der Erklärungs- bereich der Wirtschaftswissenschaft ist eingebettet zwischen die Erklärungs- bereiche der Psychologie einerseits und der Naturwissenschaften anderer- seits — von anderen Grenzwissenschaften ganz zu schweigen. Um ein konkretes Beispiel zu geben, so wird die Wirtschaftswissenschaft die Erklärung des Umstandes, daß Brot einen Tauschwert besitzt, etwa so weit führen, daß sie darauf hinweist, daß Brot imstande ist, das Nahrungs- bedürfnis zu befriedigen, und daß die Menschen ein Bestreben haben, die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, nötigenfalls unter Opfern, sicher zu stellen. Daß und warum die Menschen dieses Streben haben, erklärt nicht mehr die Wirtschaftswissenschaft, sondern die Psychologie; daß und warum die Menschen ein Nahrungsbedürfnis haben, das zu erklären fällt in die Domäne der Physiologie; daß und warum endlich das Brot imstande ist, jenes Bedürfnis zu stillen, fällt wiederum in das Gebiet der Physiologie, die aber mit der Erklärung auf eigenem Gebiete abermals nicht zu Ende kommt, sondern die allgemeineren Naturwissenschaften zu Hilfe nehmen muß. Es ist nun klar, daß alle Erklärungen der Wirtschaftswissenschaft nur unter der Bedingung einen Wert haben, daß sie von den Nachbar- wissenschaften fortgesetzt werden können. Jene darf in ihren Erklärungen sich auf nichts stützen, was ihre Nachbarwissenschaften als unwahr oder unmöghch erklären müssen: sonst ist von vornherein der Erklärungsfaden zerrissen. Sie muß darum in den Grenzgebieten mit den Nachbar Wissen- schaften genaue Fühlung halten, und ein solches Grenzgebiet ist eben die Frage nach dem Wirken der materiellen Güter. Der einzige Umstand, den ich vielleicht zu besorgen habe, ist, daß die Anwendung jener naturalistischen Auffassung auf eine gewisse Minorität von Sachgütern, zumal auf die sogenannten „Idealgüter", im ersten Augenblicke etwas Befremdliches für die Empfindung manches Lesers haben kann. Daß z. B. ein unbewegt stehendes Wohnhaus, ein Band Gedichte oder ein Gemälde Rafaels uns durch Betätigung von Natur- kräften nützen soll, mag in der Tat, ich gestehe es gerne, für den ersten Eindruck etwas seltsam erscheinen. Einige Überlegung wird indes auch diese Skrupel, die ihrem Ursprung. nach mehr Gefühls- als Verstandes- skrupel sind, bald zum Schweigen bringen. Alle die genannten Dinge treten nämlich in der Tat in das Gutsver- hältnis nur ein vermöge der eigentümlichen Naturkräfte, die sie besitzen, und zwar in eigentümlicher Anordnung besitzen. Daß ein Haus schützt und wärmt, ist nichts als eine Wirkung der Schwer-, Kohäsions- und Die sachlichen Natzleistangen. 203 Widerstandskräfte, der Undurchdringlichkeit, der schlechten Wärme- leitung des Baustoffes. Daß die Gedanken und Empfindungen des Dichters sich in uns wiedererzeugen, wird auf eine geradezu physikaüsche Weise vermittelt durch Licht, Farbe und Gestalt von Schriftzeichen und dieser physikalische Teil der Vermittlung ist eben das Amt des Buches. Es muß freilich ein Dichtergeist Ideen und Empfindungen erweckt haben, und nur abermals in einem Geiste und durch geistige Kräfte können sie wieder- erweckt werden; aber der Weg von Geist zu Geist führt ein Stück weit durch die Naturwelt, und auf diesem Stücke muß sich auch das Geistige des Vehikels der Naturkräfte bedienen. Solch ein natürliches Vehikel ist das Buch, ist das Gremalde oder das gesprochene Wort; sie geben aus sich nur eine physikaüsche Anregung, nicht mehr; was von Geistigem dazu- kommt, geben wir bei der Aufnahme der Anregung aus unserem Eigenen hinzu; und sind wir zu einer fruchtbaren Aufnahme nicht vorbereitet, können wir nicht lesen, oder können wir zwar lesen, aber nicht verstehen oder nicht empfinden, so bleibt es einfach bei der physikalischen Anregung. Ich denke, ich darf nach diesen Ejrläuterungen es für eine außer Zweifel gestellte Tatsache ansehen, daß die materiellen Güter ihren wirtschaftlichen Nutzen durch Betätigung der in ihnen wohnenden Naturkräfte äußern. Ich schlage vor, die einzelnen von den Sachgütem zu gewinnenden nutzbaren Betätigungen ihrer Naturkräfte als „Nutzleistungen" der Sachgüter zu bezeichnen^). An sich wäre zwar auch der Name „Nutzungen" hiefür nicht unpassend. Allein einerseits würde damit unser Begriff der ganzen Unklarheit überantwortet, welche jetzt leider an dem vieldeutigen Namen der Nutzung hängt ; und andererseits scheint mir der Name Nutz- leistung in der Tat außerordentlich prägnant zu sein: es sind im eigent- lichen Wortsinn nützliche Kräfteleistungen, die von den Sachgütem ausgehen 2). Der Begriff der „sachlichen Nutzleistung" ist meines Erachtens berufen, einer der wichtigsten Elementarbegriffe der Wirtschaftslehre zu werden. Ej steht dem Begriffe des „Gutes" an Wichtigkeit nicht nach. Leider hat er aber bis jetzt noch wenig Beachtung und Ausbildung erlangt. Unsere Aufgabe macht es unerläßlich, daß wir dieses Versäumnis zum Teil ^) Ich habe diesen Namen bereits in meinen „Rechten und Verhältnissen" ein- geführt; noch früher gebrauchte ich ihn in einer 1876 verfaßten, aber nicht ziun Drucke gelangten Arbeit. Knies bedient sich seiner einigemale in der IL Hälfte seines Kredits, allein leider in demselben zweideutigen Sinne, in dem er sonst den Namen „Nutzung" anwendet. *) Die SAYsche Begriffsaufstellung der Services productifs ist viel deshalb ange- feindet worden, weil sie ein Bild, eine Metapher zu einem wissenschafthchen Grundbegriff machen wollte. Nur eine Person, nicht eine Sache könne „Dienste" leisten. Nach allen im Texte gemachten Auseinandersetzungen glaube ich den gleichen Vorwurf gegen meine Kategorie der Nutzleistungen nicht befürchten zu müssen. 204 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. nachholen und einige der wichtigsten Beziehungen entwickeln, in welche die Nutzleistungen im Wirtschaftsleben eintreten. Zunächst ist es klar, daß jedes Ding, welches auf den Namen Gut Anspruch erheben will, imstande sein muß, Nutzleistungen abzugeben und daß mit der Erschöpfung dieser seiner Fähigkeit auch seine Gutsqualität erlischt: es tritt aus dem Kreise der Güter in den Kreis der einfachen Dinge zurück. Eine Erschöpfung dieser Fähigkeit ist denkbar nicht als eine Erschöpfung ^er Fähigkeit, Kräfteleistungen überhaupt von sich zu geben — denn so unvergänglich als die Materie selbst, sind auch die in ihr wohnenden Kräfte, die nie aufhören zu wirken oder Leistungen aus- zuströmen; wohl aber können die immer fortdauernden Kräfteleistungen aufhören, Nutzleistungen zu sein, indem das anfängliche Gut im Zuge der Abgabe seiner Nutzleistungen eine solche Veränderung, eine solche Trennung, Verschiebung, Verbindung seiner Teile mit anderen Körpern erfahren hat, daß es in seiner veränderten Gestalt sich der Lenkung seiner ferneren Kräfteleistungen zu den Nutzzwecken der Menschen nicht mehr günstig zeigt. Nachdem z. B. der Kohlenstoff des im Hochofen verbrannten Holzes sich im Verbrennungsprozeß mit Sauerstoff verbunden hat, läßt er eine nochmalige Verwendung seiner unausgesetzt fortdauernden und natürlich fortwirkenden Kräfte zur Schmelzung des Erzes nicht mehr zu. Das zerbrochene Pendel behält seine Schwerkraft, erzeugt durch sie nach wie vor Wirkungen, aber der Verlust der Pendelform ist der Lenkung dieser Naturkräfte zur Regulierung des Uhrenganges ungünstig. — Die durch den Gebrauch der Güter herbeigeführte Erschöpfung ihrer Nutz- leistungsfähigkeit pflegt man den Verbrauch oder die Konsumtion derselben zu nennen. Während so alle Güter darin übereinkommen und übereinkommen müssen, daß sie Nutzleistungen abzugeben haben, gehen sie in der Zahl der Nutzleistungen, die sie abzugeben haben, wesentlich auseinander. Hierauf ruht die bekannte Unterscheidung der Güter in verbrauchliche und nicht verbrauchliche, wohl besser „ausdauernde"^) Güter. Viele Güter sind nämlich so geartet, daß sie, um überhaupt den ihnen eigentüm- lichen Nutzen zu stiften, ihre ganze Nutzkrait mit einem Schlage, in einer einzigen mehr oder intensiven Nutzleistung ausgeben müssen, so daß schon ihr erstmaliger Gebrauch ihre Nutzleistungsfähigkeit völlig erschöpft und zum Verbrauche wird. Dies sind die sogenannten verbrauchlichen Güter, wie Nahrungsmittel, Schießpulver, Brennstoffe u. dgl. Andere Güter wieder sind durch ihre Natur zu einer Mehrheit von Nutzleistungen in der Art befähigt, daß sie dieselben innerhalb eines kürzeren oder längeren *) Auch die sogenannten ,, nicht verbrauchhchen" Güter sind, wenn auch nur langsam, verbrauchlich. Die Bezeichnung „dauerbar" hinwiederum drückt weniger den Gegensatz zur raschen Verzehrung der Güter durch den Gebrauch, als zur raschen Verderbnis derselben ohne Rücksicht auf den Gebrauch aus. Die sachlichen Nutzleistungen. 205 Zeitraumes nacheinander abgeben und auf diese Weise auch nach einem ersten oder selbst mehrmaligen Gebrauchsakte ihre Fähigkeit zur Abgabe weiterer Nutzleistungen und damit ihre Gutsqualität bewahren können. Dies sind die ausdauernden Güter, wie z. B. Kleider, Häuser, Werkzeuge, Edelsteine, Grundstücke usw. Wo ein Gut eine Mehrheit von Nutzleistungen nacheinander abgibt, kann dies wieder in einer doppelten Form geschehen: entweder heben sich die einander folgenden Nutzleistungen in ihrer äußeren Erscheinung als deutlich markierte Einzelakte von einander ab, so daß man sie leicht unterscheiden, abgrenzen und zählen kann, z. B. die einzelnen Schläge eines Prägehammers oder die Leistungen der automatischen Druckerpresse eines großen Journals; oder es entströmen die nützhchen Kiäfteleistungen dem Gute in unterbrechungsloser gleichförmiger Folge, wie z. B. die geräuschlosen und lange dauernden Schutzleistungen eines Wohnhauses. Wül man hier die kontinuierliche Masse der Nutzleistungen dennoch auseinanderhalten und teilen — und das praktische Bedürfnis erfordert dies oft — so schlägt man denselben Ausweg ein, den man überhaupt bei Teilung kontinuierlicher Größen betritt: man entlehnt die Teilungsmarke, die sich in der Erscheinung des zu Teilenden selbst nicht darbietet, von irgend einem äußeren Umstände, z. B. dem Ablauf einer bestimmten Zeit, indem man etwa dem Mieter eines Hauses die innerhalb eines Jahres von demselben ausgehenden Nutzleistungen überantwortet. Ein anderer wesentlicher Zug, der uns bei der Analyse der Nutz- leistungen entgegentritt, ist ihre Fähigkeit, volle wirtschaftliche Selb- ständigkeit zu erlangen. Der Ursprung dieser Erscheinung liegt darin, daß in sehr vielen, ja sogar in den meisten Fällen zur Befriedigung eines konkreten menschlichen Bedürfnisses nicht die Erschöpfung des ganzen Nutzinhaltes eines Gutes, sondern nur die Auslösung einer einzelnen Nutz- leistung erforderüch ist. Hiedurch erlangt diese zunächst eine selbständige Bedeutung für unsere Bedürfnisbefriedigung, der dann auch im praktischen Wirtschaftsleben die Anerkennung nicht versagt wird. Wir zollen sie, indem wir einerseits isoherten Nutzleistungen eine selbständige Wert- schätzung zuwenden, andererseits sie sogar zu selbständigen Objekten von Verkehrsakten erheben. Letzteres geschieht, indem wir einzelne Nutz- leistungen oder Gruppen von Nutzleistungen losgelöst von den Gütern selbst, aus denen sie fließen, verkaufen oder vertauschen. Die Wirtschafts- praxis und das Recht hat eine Reihe von Formen geschaffen, in denen dies verwirklicht werden kann: ich nenne als die wichtigsten die Ver- hältnisse des P achtes, der Miete und der Leihe (commodatum) ^), weiter die Institute der Dienstbarkeiten, des Erbpachtes und Erb- zinses (Emphyteusis und Superficies). Man wird sich leicht überzeugen. ^) Nicht des Darlehens; siehe unten. 206 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. daß in der Tat alle diese Verkehrsgestaltungen darin übereinkommen, daß ein Teil der Nutzleistungen, deren ein Gut fähig ist, ausgeschieden und selbständig übertragen wird, während der — größere oder kleinere — Rest der noch anzuhoffenden Nutzleistungen mit dem Eigentum am Körper des Gutes bei dem bisherigen Herrn der Sache zurückbleibt^). Von großer theoretischer Wichtigkeit ist endlich die Feststellung des Verhältnisses, das zwischen den Nutzleistungen einerseits und den Gütern, aus denen sie stammen, andererseits besteht. Hierüber lassen sich drei Kardinalsätze aufstellen, die mir sämtlich so einleuchtend erscheinen, daß sie einer ausführlichen Begründung an dieser Stelle entraten können, die ich übrigens an einem anderen Orte eingehend motiviert habe^). Es scheint mir 1. klar, daß wir die Güter überhaupt nur wegen der Nutzleistungen, die wir von ihnen erwarten, schätzen und begehren. Die Nutzleistungen bilden gleichsam den wirtschaftlichen Kern, um den uns zu tun ist, die Güter selbst nur seine körperliche Schale. — Hieraus ergibt sich — und scheint mir ebensowenig einem Zweifel begegnen zu können — daß 2. auch dort, wo ganze Güter erworben und übertragen werden, der wirtschaftliche Kern dieser Transaktionen im Erwerb und der Übertragung von Nutzleistungen, und zwar jeweils der Gesamtheit der Nutzleistungen der Güter liegt, während die Übertragung der letzteren selbst hiebei eine zwar durch die Natur der Sache nahe gelegte, aber dennoch nur begleitende und abkürzende Form bildet: ein Gut kaufen kann wirtschaftlich nichts anderes heißen, als alle seine Nutzleistungen kaufen 3). — Hieraus geht aber endlich 3. die wichtige Konsequenz hervor, daß auch der Wert und Preis eines Gutes nichts anderes als der in eine Summe zusammengezogene (Pauschal-) Wert und Preis aller seiner Nutzleistungen und daß demnach der Wert und Preis jeder Einzelnutzleistung im Werte und Preise des Gutes selbst inbegriffen ist*). Illustrieren wir noch, ehe wir weitergehen, diese drei Sätze an einem konkreten Beispiele. Ich glaube, alle Leser werden mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß ein Tuchfabrikant Webstühle in der Tat nur deshalb ^) Vgl. meine „Rechte und Verhältnisse", S. 70ff. *) Siehe meine „Rechte und Verhältnisse", S. 60ff., wo insbesondere auch der Charakter der Nutzleistungen als primärer Elemente unserer Wirtschaftsführung und die Ableitung des Güterwertes vom Wert der Nutzleistungen dargelegt wird. 3) Dieser Gedanke ist in etwas abweichender Terminologie ausdrücklich anerkannt von Knies „Der Kredit", 2. Hälfte, S. 34f., dann 77 und 78. Er nennt ausdrücklich den Verkaufspreis eines Hauses den Preis des andauernden Gebrauches des Hauses im Gegensatz zum Mietpreise, der der Preis des zeitweiligen Gebrauches desselben Gutes ist. Vgl. auch dessen „Geld" S. 86ff.; dann Schäffle (Bau und Leben, 2. Aufl. Bd. III), der die Güter als „Vorräte nutzbarer Spannkräfte" bezeichnet (S. 258). *) Das Genauere siehe in meinen „Rechten und Verhältnissen", S. 64ff. „Nutzungen" und „Nutzleistungen" nicht identisch. 207 schätzt und begehrt, weil er von ihnen ihre eigentümlichen nützlichen Kjäfteleistungen zu empfangen hofft; daß er in der Tat nicht bloß dann, wenn er einen Webstuhl mietet, sondern auch dann, wenn er ihn kauft, es dabei auf die Erwerbung seiner Nutzleistungen abgesehen hat, während der Miterwerb des Eigentums am Körper der Maschine nur zur größeren Sicherung der Erlangung der Nutzleistungen dient, und, mag er auch juristisch als das Primäre hervortreten, wirtschaftUch gewiß nur das Sekundäre ist; und daß endlich der Nutzen, den die ganze Maschine bringt, in der Tat nichts anderes als der in eine Summe zusammengezogene Nutzen aller ihrer Nutzleistungen, desgleichen der Wert und Preis der ganzen Maschine nichts anderes als der in eine Summe zusammengezogene Wert und Preis aller ihrer Nutzleistungen ist und sein kann. Kehren wir nunmehr, nachdem wir das Wesen und die Struktur des Güternutzens ausreichend geklärt, zu unserem Hauptthema zurück, zur kritischen Prüfung des Nutzungsbegriffes der Nutzungstheoretiker. Fragen wir zunächst: Sind die „Nutzungen" der SAY-HERMANNSchen Nutzungstheorie vielleicht identisch mit den unzweifelhaft existierenden „Nutzleistungen" der Güter? — Es kann kein Zweifel sein, daß sie nicht identisch sind. Jenes Etwas, das die Nutzungstheoretiker Nutzung nennen, soll die Grundlage und das Äquivalent des reinen Kapitalzinses sein. Die Nutzleistungen dagegen sind bald — bei ausdauernden Gütern — Grund- lage des den Reinzins und einen Teil des Kapitalwertes selbst umschließen- den Rohzinses, bald, bei verbrauchlichen Gütern, sogar die Grundlage des ganzen Kapitalwertes. Wenn ich die Nutzleistungen eines Wohn- hauses kaufe, so zahle ich für die Nutzleistungen eines Jahres den ein- jährigen Mietzins, der ein Bruttozins ist. Wenn ich die Nutzleistungen eines Zentners Kohle kaufe, so zahle ich sogar für die Nutzleistungen der einzigen Stunde, in der die Kohle zu Asche verbrennt, den ganzen Kapitals- wert derselben. Dagegen wird das Ding, das die Nutzungstheoretiker Nutzung nennen, ganz anders honoriert. Die Nutzung, die ein Zentner Kohle während eines ganzen Jahres abgibt, erzielt noch keinen höheren Preis, als etwa ein Zwanzigstel des Kapitalwertes: „Nutzung" und „Nutz- leistung" müssen also offenbar zwei ganz verschiedene Größen sein. — Hieraus wird unter anderem klar, daß jene Schriftsteller, die, indem sie unsere Nutzleistungen definierten und ihre Existenz nachwiesen ^ die Grund- lage des reinen Kapitalzinses zu definieren und zu beweisen meinten, sich einer erheblichen Täuschung hingaben. Dieses Urteil trifft namentlich die Services productifs von Say und die jüngeren Nutzungsdefinitionen SCHÄFFLES. Und nun gelange ich zur entscheidenden Frage: Wenn die Nutzun- gen der Nutzungstheoretiker etwas anderes als die ,, Nutz- leistungen" der Güter sind, können sie dann überhaupt noch etwas Reelles sein? Ist es denkbar, daß uns zwischen, neben 208 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. oder innerhalb der Nutzleistungen noch etwas anderes Nützendes von den Gütern zukommt? Ich kann auf diese Frage keine andere Antwort als das entschiedenste Nein finden, und ich glaube, daß jedermann zu dieser Antwort gezwungen ist, der zugibt, daß die Sachgüter Gegenstände der materiellen Welt sind, daß materielle Wirkungen nicht anders als durch Äußerungen von Natur- kräften hervorgebracht werden können und daß auch das „Nützen" ein Wirken ist: innerhalb dieser Prämissen, von denen wohl keine eine An- fechtung erfahren dürfte, scheint mir schlechterdings keine andere Art des Nutzens von Sachgütern denkbar, als durch Betätigungen ihrer eigentüm- lichen Naturkräfte oder durch Abgabe von „Nutzleistungen". — Indes ich habe gar nicht notwendig, an die Logik der Naturwissenschaften zu appellieren. Ich appelliere einfach an die Vorstellung des Lesers. Versinn- lichen wir uns an ein paar Beispielen, was und wie die Güter nützen. Eine Dreschmaschine z. B. findet unzweifelhaft ihren wirtschaftlichen Nutzen in der Beihilfe zum Ausdreschen des Kornes. Wie stiftet sie, wie kann sie diesen Nutzen stiften? Nicht anders als durch mechanische Kräfteleistungen, die sie abgibt, eine nach der andern, so lange bis ihr abgenützter Mechanismus die Abgabe weiterer analoger Kräfteleistungen weigert. Oder kann sich irgend ein Leser den Einfluß, den die Dresch- maschine auf die Aussonderung der Getreidekörner aus den Ähren übt, unter einem anderen Bilde als dem einer mechanischen Kräfteleistung vorstellen? Kann er sich auch nur ein Atom von Dreschnutzen vorstellen, das die Maschine nicht durch Kjäfteleistungen, sondern durch eine ander- weitige ,, Nutzung" gewirkt haben könnte? Ich zweifle sehr: die Dresch- maschine drischt entweder durch physikalische Kraftleistungen, oder sie drischt gar nicht. Man weise ja nicht, um doch eine anderweitige Nutzung konstruieren zu können, auf allerlei mittelbaren Nutzen hin, den man von der Dresch- maschine ziehen kann. Unser ausgedroschenes Getreide z. B. ist gewiß mehr wert als das unausgedroschene war und der Wertzuwachs ist ein Nutzen, der uns von der Maschine zukam. Aber es ist leicht zu sehen, daß dies kein Nutzen neben den Nutzleistungen der Maschine, sondern ein Nutzen durch dieselben, daß es geradezu ihr eigener Nutzen ist. Es ist geradeso, wie wenn mir jemand 500 fl. schenkt und ich mir ein Reitpferd dafür kaufe. So wenig ich hier zwei Geschenke nebeneinander empfangen habe, 500 fl. und ein Reitpferd, ebensowenig darf man den mittelbaren Nutzen der Nutzleistungen selbst als einen von ihnen ver- schiedenen zweiten Nutzdienst der Güter auffassen^). ^) Spitzfindige Gegner könnten vielleicht noch darauf hinweisen, daß der Besitz guter Maschinen dem Fabrikanten etwa zu einem guten Kredit, zu gutem Renommee, zu guter Kundschaft u. dgl. verhilft. Der aufmerksame Leser wird auch solche Ein- wendungen leicht zurückschlagen. Auf dasselbe Blatt gehört auch der ,, Gebrauch durch Tausch". Nichtexistenz der „Nutzung". 209 Und vollends bei den verbrauchlichen Gütern! Was erlange ich von einem Zentner Kohle? Die wärmeerzeugenden Kräfteleistungen, die er während seiner Verbrennung abgibt, und die ich mit dem Kapitalpreise der Kohle bezahle, und sonst nichts, gar nichts! Und mein Gebrauch von der Kohle besteht darin, daß ich jede Nutzleistungen, während sie der Kohle entströmen, in Verbindung mit irgend einem Objekt setze, an dem ich eine Veränderung durch Wärme hervorrufen will; der Gebrauch dauert dabei so lange als das Entströmen der Nutzleistung aus der verbrennenden Kohle. — Und was erlangt der Schuldner aus dem Zentner Kohle, den ich ihm auf ein Jahr leihe ? Ebenfalls die wärmeerzeugenden Kräfteleistungen, die der Kohle während ein paar Stunden entströmen, und sonst wieder nichts, absolut nichts. Und sein Gebrauch der Kohle ist gleichfalls in denselben wenigen Stunden erschöpft. Ja, kann er denn nicht — wird man vielleicht fragen — die Kohle noch kraft des Darlehensvertrages durch ein ganzes Jahf gebrauchen und nützen? — Der Eigentümer hat freilich nichts dagegen, wohl aber die Natur der Sache. Diese erheischt unerbittlich, daß Gebrauch und Nutzung nach ein paar Stunden vorüber sind. Was dann aus dem Vertrage noch bleibt, ist, daß der Schuldner erst in einem Jahre gehalten sein soll, einen anderen Zentner Kohle zurück- zustellen. Es ist aber wohl eine der seltsamsten Begriffsverwirrungen, daß man der Tatsache, daß jemand an Stelle eines verbrannten Zentners Kohle erst in einem Jahre einen anderen Zentner Kohle zurückgeben muß, die Deutung gegeben hat, daß an dem verbrannten Zentner Kohle noch durch ein ganzes Jahr eine objektive Nutzung fortdauere! So bleibt denn für eine „Nutzung" der Güter, die etwas anderes sein soU als ihre natürlichen „Nutzleistungen", kein Raum übrig, weder in der Welt der Wirklichkeit, noch in der Welt logischer Gedanken. Vielleicht darf ich hoffen, daß mancher Leser schon die bisherigen Auseinandersetzungen für ausreichend überzeugend hält. AEein die Sache ist zu wichtig und die gegnerische Meinung zu tief gewurzelt, als daß ich es schon dabei bewenden lassen dürfte; und so wiU ich denn noch mehr Beweise gegen die Existenz der von den Nutzungstheoretikem postulierten Nutzung vorzubringen suchen. Zwar läßt die Natur meines Beweisthemas, das ein negatives ist, einen handgreiflichen Beweis nicht zu; ich kann die Nichtexistenz eines Dinges nicht so vor die Sinne stellen, als man umgekehrt die Existenz eines Dinges den Sinnen dartun könnte. Dennoch fehlt es nicht an entscheidenden Überzeugungsmitteln, und zwar müssen gerade die Gregner sie mir bieten. In folgender Art. Kriterien eines wahren Satzes sind, daß er durch einen richtigen Beweisgang gewonnen ist und daß er auf richtige Konsequenzen führt. Ich will nun nachweisen, daß bei der gegnerischen Behauptung einer selbständigen Nutzung keines dieser Kriterien zutrifft. Ich will den doppelten Beweis antreten: 1. daß in allen Schlußfolgerungen, durch welche die Böbm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 14 210 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. Nutzungstheoretiker das Dasein der behaupteten Nutzung zu beweisen meinten, ein Irrtum oder ein Mißverständnis unterlaufen ist, und 2. daß die Annahme einer selbständigen Nutzung mit Notwendigkeit auf unhaltbare Konsequenzen führt. Ist mir dieser Beweis gelungen, dann wird im Vereine mit der schon durchgeführten Darlegung, daß für eine andere objektive Nutzung neben den Nutzleistungen kein Raum ist, wohl die vollste Evidenz für meine These erbracht sein, die sich überhaupt erreichen läßt. Von den hervorragenden Vertretern der Nutzungstheorie haben sich zwei mit dem Beweise für die Existenz einer selbständigen Nutzung be- sondere Mühe gegeben: Hermann und Knies. Ihre Beweisführung werde ich denn auch hauptsächlich zum Gegenstand meiner kritischen Prüfung machen. Außerdem verdient noch das, was Say, der Nestor der Nutzungs- theorie, und was Schäffle über die Sache bringt, kritische Beachtung. Ich beginne mit den beiden letzteren Schriftstellern, rücksichtlich deren das Mißverständnis, dem sie zum Opfer gefallen sind, sich mit wenigen Worten nachweisen lassen wird. Say schreibt dem Kapital die Leistung von produktiven Diensten, oder, wie er sich öfter ausdrückt, die Leistung von „Arbeit" zu; diese Arbeit soll die Grundlage des Kapitalzinses sein. Man mag allenfalls an dem Ausdruck Dienste und Arbeit makein, der mehr für die Aktion per- sönlicher Wesen, als unpersönlicher Kapitalgüter paßt: in der Sache hat aber Say unzweifelhaft Recht, das Kapital leistet „Arbeit". Aber es scheint mir ebenso unzweifelhaft, daß jene Arbeit, die das Kapital wirklich leistet, in dem besteht, was ich als die „Nutzleistungen" der Güter be- zeichnet habe, und was die Grundlage des Rohzinses, beziehungsweise des Kapitalwertes der Güter bildet. Daß das Kapital auch von den Nutz- leistungen verschiedene Dienste abgibt, die die separate Grundlage eines reinen Zinses werden könnten, scheint Say zwar stillschweigend anzu- nehmen, gibt aber nicht den mindesten Beweis dafür — wohl deshalb, weil er die schillernde Zweideutigkeit seines Begriffes der Services productifs gar nicht bemerkt hat. Ähnliches gilt von Schäffle. Ich übergehe die subjektiven Deutungen seines älteren Werkes, die zum Charakter der Nutzungstheorie überhaupt nicht passen, und die er in der jüngsten Auflage seines „Bau und Leben" ja stillschweigend zurückgenommen hat. Im letzteren Werke aber nennt er die Güter „Vorräte nutzbarer Spannkräfte" (III, 258) und die Nutzungen „Güterfunktionen", „Äquivalente der nutzbaren Stoffe an lebendiger Arbeit" (III, 258, 259), „lebendige Energien der unpersönlichen Sozial- substanz" (313): Alles ganz richtig, nur daß die Güterfunktion, die Aus- gabe aus dem Vorrat nutzbarer Spannkräfte, wieder in nichts anderem Mißverständnisse der Nutzungstheoretiker. Say, Schäffle, Hermann. 211 als unseren Nutzleistuuj^en besteht, die wieder nicht im reinen Kapital- zinse, wie Schäffle annimmt, sondern im Rohzinse, beziehungsweise im Kapitalwerte der verbrauchlichen Güter ihr Äquivalent finden. Say und Schäffle verfehlen also durch ein Mißverständnis das ganze Objekt des Existenzbeweises. Psychologisch interessant ist die Art, wie Hermann zu seiner selb- ständigen „Nutzung" kommt. Die erste Einführung des Nutzungsbegriffes geschieht unter der Flagge der Nutzung ausdauernder Güter. „Grundstücke, Gebäude, Geräte, Bücher, Geld haben dauernden Gebrauchswert. Ihr Gebrauch, während dessen sie fortbestehen, wird ihre Nutzung genannt, die dann wie ein eigenes Gut aufgefaßt werden kann, welches für sich selbst Tauschwert erlangen mag, den man Zins nennt" ^). Ein eigentlicher Beweis für die Existenz einer selbständigen Nutzung mit selbständigem Wert wird hier nicht geführt, braucht auch nicht geführt zu werden, weil jedermann weiß, daß in der Tat der Grebrauch eines Grundstückes oder eines Hauses selb- ständig bewertet und verkauft werden kann. Aber — und das muß nach- drücklich hervorgehoben werden — was sich in diesem Zusammenhange jeder Leser unter Nutzung vorstellen wird und vorstellen muß, das ist die Bruttonutzung der ausdauernden Güter, das Substrat des Pacht- zinses bei Grundstücken, des Mietzinses bei Häusern; oder dasselbe, was ich oben als Nutzleistungen der Güter bezeichnet habe. Es leuchtet ferner die selbständige Existenz dieser „Nutzung" neben dem Nutzungsträger deshalb und nur deshalb ein, weil die jetzt in Rede stehende Nutzung das Gut selbst nicht erschöpft; man ist gezwungen zuzustimmen, daß die Nutzung etwas vom Gute verschiedenes, selbständiges ist, weil das Gut mit einem noch unberührten Teile seines Nutzinhadtes daneben fort- besteht. Der zweite Schritt, den Hermann unternimmt, ist, daß er eine Analogie zwischen dem Gebrauche ausdauernder und verbrauchlicher Güter zieht und auch bei den letzteren das Dasein einer selbständigen Nutzung mit selbständigem Werte neben dem Gutswerte nachzuweisen sucht. Er findet nämlich 2), daß auch verbrauchliche Güter durch technische Umformung ihre Brauchbarkeit bewahren, und, wenn auch in veränderter Gestalt, „für den Gebrauch Beständigkeit erlangen" können. Wenn z. B. Eisenstein, Kohle und Arbeit zu Roheisen umgestaltet werden, so tragen sie hiebei die chemischen und mechanischen Elemente zu einer neuen kombinierten Brauchbarkeit bei; „und wenn dann das Roheisen den Tauschwert der drei verwendeten Tauschgüter besitzt, so besteht die frühere Gütersumme in der neuen Brauchbarkeit qualitativ verbunden, im Tauschwert quan- titativ addiert fort." Sind aber die verbrauchlichen Güter ebenso eines ^) Staatswirtschaftliche Untersuchungen, 2. Aufl. S. 109. *) S. llOf.; siehe das Zitat oben S. 179. 14* 212 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. dauernden Gebrauches fähig, „dann" — fährt Hermann fort — „läßt sich wie bei den dauerbaren, auch bei den Gütern, welche unter Fort- bestand ihres Tauschwertes qualitativ ihre Form ändern, dieser Gebrauch als ein Gut für sich, als Nutzung auffassen, die selbst Tauschwert erlangen kann." Damit ist Hermann allerdings am gewünschten Ziel, dem Nachweis eines neben dem Gute selbst existierenden Gebrauches auch der verbrauch- lichen Güter, angelangt. Besehen wir uns indes die vorgebrachten Beweis- gründe etwas näher. Vor allem ist festzustellen, daß die einzige Stütze, auf der jener Nach- weis ruht, ein Analogieschluß ist. Die Existenz eines selbständigen Gebrauches verbrauchlicher Güter kann keineswegs, wie die Nutzung ausdauernder Güter, eine sinnliche Wahrnehmung und die praktische Wirtschaftserfahrung als Zeugen für sich anrufen. Niemand hat gesehen, daß sich ein selbständiger Gebrauch von einem verbrauchlichen Gute losscbält, und wenn jemand dies gesehen zu haben meint, indem ja doch in jedem Darlehen der Gebrauch verbrauchlicher Güter übertragen werde, 80 irrt er sich: er sieht hier keinen selbständigen Gebrauch, sondern er schließt auf ihn. Was er sieht ist nur, daß A 100 fl. empfängt, um nach einem Jahre 105 fl. zurückzugeben. Daß hiebei 100 fl. für die Darlehens- summe und 5 fl. für den Gebrauch derselben gegeben werden, ist eine Auslegung, die das Wahrgenommene erfährt, nicht eine unmittelbare sinnliche Wahrnehmung. Jedenfalls kann man sich, wenn die Existenz eines selbständigen Gebrauches verbrauchlicher Güter überhaupt in Frage steht, nicht auf den Darlehensfall berufen: denn so lange jene Existenz in Frage steht, steht natürlich auch die Berechtigung in Frage, den Dar- lehensakt als eine Gebrauchsüberlassung auszulegen; und jenes durch dieses beweisen zu wollen, wäre eine offenbare Präsumtion des Beweis- themas selbst. Wenn daher die Existenz einer selbständigen Nutzung verbrauchlicher Güter mehr als eine unbewiesene Behauptung sein soll, so kann sie es nur sein durch die Kraft eines Analogiebeweises, den Hermann zwar nicht der Form, aber der Sache nach in der oben zitierten Stelle angetreten hat. Der Überzeugungsgang ist dabei der folgende: Die ausdauernden Güter sind, wie jedermann weiß, der Abgabe einer selbständigen Nutzung neben dem Gute selbst fähig; die verbrauchlichen Güter lassen, wenn man genau zusieht, einen ebenso dauernden Gebrauch zu, wie die ausdauernden: folgHch werden und müssen auch die verbrauchlichen Güter der Abgabe einer selbständigen Nutzung neben dem Gute selbst fähig sein. Dieser Analogieschluß ist falsch; denn wie ich sofort dartun werde, besteht gerade in dem entscheidenden Punkte keine Analogie. Ich gebe ohne weiteres zu, daß die verbrauchhchen Güter durch tech- nische Umformung wirklich eines dauernden Gebrauches fähig werden. Eüritik der Hennaimschen Beweisführong. 213 Ich gebe zu, Kohle und Eisenstein wird erstmals zur Erzeugung von Eisen gebraucht; ich gebe zu, der Gebrauch, den dann das Eisen gibt, ist nichts als eine Weiterwirkung der Kräfte jener ersten Dinge, die also im Eisen zum zweiten Male gebraucht werden und weiter im Nagel, den man aus dem Eisen macht, zum dritten Male und im Hause, das der Nagel zusammen- halten hilft, zum vierten Male, also überhaupt dauernd. Allein es ist sehr zu beachten, daß die Dauer hier auf einem ganz anderen Grunde beruht und einen ganz anderen Charakter trägt als bei den ausdauernden Gütern. Diese gebraucht man wiederholt, indem man durch jeden Ge- brauchsakt nur einen Teil ihres Nutzinhaltes erschöpft, neben dem noch ein anderer unberührter Teü für künftige Gebrauchsakte übrig bleibt. Jene aber gebraucht man wiederholt, indem man dasselbe Ganze wieder- holt ausschöpft, indem man jeweils den ganzen Nutzinhalt einer Güter- gestalt erschöpft, aber, da dieser Nutzinhalt zur Bildung einer neuen Gütergestalt führt, den erschöpfenden Gebrauch an dieser wiederholt. Beide Gebrauchsweisen unterscheiden sich*, wie das kontinuierliche Aus- gießen von Wasser aus einem Wasserreservoir von einem ebenso kon- tinuierlichen Umgießen von Wasser aus einem Kruge in den andern und wieder zurück, oder, um ein Beispiel aus der Wirtschaftswelt zu ge- brauchen, wie die Erzielung eines wiederholten Erlöses aus der Veräußerung eines Grundstückes durch stückweisen Verkauf desselben von der Erzielung eines wiederholten Erlöses dadurch, daß man den Kaufpreis des ganzen Grundstückes zu einem neuen Einkaufe verwendet und den eingekauften Gegenstand wieder verkauft usf. Ein paar Worte mehr werden das Hinkende der HERMANNSchen Gegenüberstellung noch schärfer charakterisieren. — Zu dem „Dauer- gebrauch", den Hermann an den verbrauchlichen Gütern nachweist, existiert nämlich wirklich ein vollkommenes Analogen auch an den aus- dauernden Gütern: Hermann hat aber statt seiner etwas anderes in die Parallele gesetzt. Wir haben es hier mit einem jener Punkte zu tun, an denen sich die Vernachlässigung, welche die Wissenschaft sich gegenüber dem Begriffe des „Gebrauches der Güter" zu Schulden kommen ließ, an der Wissenschaft gerächt hat. Hätte Hermann den Begriff des Gebrauches genauer untersucht, so hätte er wahrgenommen, daß man mit jenem Namen zwei ziemlich verschiedene Dinge zusammenfaßt, die ich in Er- mangelung eines besseren Ausdruckes als den unmittelbaren und den mittelbaren Gebrauch der Güter auseinander halten wül. Der unmittel- bare Gebrauch (der vielleicht besser allein auf den Namen Gebrauch An- spruch erheben sollte) besteht im Empfang der Nutzleistungen eines Gutes; der mittelbare (der vielleicht richtiger gar nicht als „Gebrauch" bezeichnet werden sollte) besteht im Empfange der Nutzleistungen jener anderen Güter, die erst durch die Nutzleistungen des zunächst „ge- brauchten" Gutes zur Entstehung kommen; weiter jener Güter, die wieder 214 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. aus den Nutzleistungen der ersten entspringen, usf. Mit anderen Worten, der „mittelbare Gebrauch" besteht im Empfang der entfernteren — und möglicherweise bis zum jüngsten Tage sich abrollenden — Glieder jener Kette von Ursachen und Wirkungen, die mit dem ersten unmittelbaren Gebrauch ihren Anfang nimmt. Ich will nun nicht behaupten, daß es geradezu falsch ist, den Gebrauch dieser entfernten Wirkungen eines Gutes als einen Gebrauch des Gutes selbst zu bezeichnen; jedenfalls haben aber beide Arten des Gebrauches einen recht verschiedenen Gharald;er. Mag man etwa immerhin, wenn ich auf einem Pferde reite, dies einen Gebrauch des Grases nennen, das mein Pferd gefressen hat — jedenfalls steht fest, daß dies eine vom unmittel- baren Gebrauche des Grases vollkommen verschiedene Gebrauchsart ist, die in wesentlichen Stücken ganz anderen Bedingungen unterliegt. Will man daher das Verhalten zweier Güter oder Güterarten gegen- über dem Gebrauche in Analogie ziehen, so darf man sich dabei offenbar auch nur auf gleichartige Gebrauchsweisen beziehen: man mag den uimiittelbaren Gebrauch eines Gutes mit dem des anderen, und wieder den mittelbaren Gebrauch beider Güter, nicht aber den unmittelbaren Gebrauch eines Gutes mit dem mittelbaren des anderen in Parallele stellen; zumal nicht, wenn man aus dieser Parallele weitere wissenschaft- liche Schlüsse ableiten will. Dagegen hat nun Hermann gefehlt. Sowohl ausdauernde als verbrauchliche Güter lassen nämlich beide Arten des Gebrauches zu. Die Kohle, ein verbrauchliches Gut, hat ihren unmittel- baren Gebrauch im Verbrennen, ihren mittelbaren, wie Hermann ganz richtig ausweist, im Gebrauch des Eisens, das sie bereiten hilft. Ebenso hat aber auch jedes ausdauernde Gut, z. B. jede Spinnmaschine neben ihrem unmittelbaren Gebrauch — der in der Erzeugung von Garn besteht — auch einen mittelbaren, der im Gebrauch des Garnes zur Erzeugung von Tuch, im Gebrauch des Tuches zur Erzeugung von Kleidern, im Ge- brauch der Kleider selbst usf. besteht. Richtig gepaart wäre nun offenbar der unmittelbare Gebrauch der ausdauernden Güter mit dem momentanen Verbrauch der verbrauchlichen ^), und der dauernde mittelbare Gebrauch der verbrauchlichen mit dem ebenso dauernden mittelbaren Gebrauche der ausdauernden Güter in Analogie zu stellen gewesen. Hermann aber hat die Paare vergriffen, indem er die Analogie vom unmittelbaren Ge- brauche der ausdauernden Güter zu dem ganz und gar nicht analogen mittelbaren Gebrauch der verbrauchlichen Güter gezogen hat; verieitet ^) Um sich von dem Zutreffenden dieser Analogie zu überzeugen, braucht man sich nur die Stufenleiter von Übergängen vorzustellen, die von den ausdauerndsten Gütern, etwa Grundstücken, Edelsteinen usw., über immer weniger ausdauernde Güter — Gebäude, Möbel, Kleider, Wäsche, Kerzen, papierne Hemdkragen u. dgl. — endhch bis zu den ganz verbrauchlichen Gütern — Zündhölzchen, Speisen, Getränken usw. — hinführt. Kritik der Hermannschen Beweisführung. 215 durch den Umstand, daß beide Gebrauchsarten „dauernd" sind, und übersehend, daß eben diese „Dauer" in beiden Fällen auf höchst verschie- denen Grundlagen ruht. So viel, glaube ich, ist durch die bisherigen Auseinandersetzungen jedenfalls klar geworden, daß die von Hermann gezogene Analogie im „dauernden" Gebrauche ausdauernder und verbrauchlicher Güter keine vollständige ist. Es ist aber weiter leicht zu zeigen, daß die Unähnlichkeit gerade den entscheidenden Punkt trifft. Warum kann man sich denn an ausdauernden Gütern einen selbständigen Gebrauch mit selbständigem Werte neben dem Gute selbst vorstellen? — Nicht schlechthin deshsdb, weil der Gebrauch ein dauernder ist, sondern deshalb, weil der begonnene Gebrauch von dem Gute und Gutswerte noch etwas übrig läßt; weil man im ausgelösten und in dem noch nicht ausgelösten Teile des unmittelbaren Nutzinhaltes zwei verschiedene Dinge hat, die neben einander existieren und deren jedes gleichzeitig seinen wirtschaftlichen Wert hat. Von alledem trifft aber bei den verbrauchlichen Gütern das gerade Gegenteil zu. Der jedesmalige Gebrauch erschöpft hier den Nutzinhalt der jedesmaligen Gutsgestalt völlig und sein Wert ist immer identisch mit dem ganzen Werte des Gutes selbst. Man hat in keinem Momente zwei Dinge von Wert nebeneinander, sondern man hat nur dasselbe Ding von Wert zweimal nacheinander. Indem man Kohle und Eisenstein zur Bereitung von Eisen gebraucht, verbraucht man sie; man bezahlt für diesen Gebrauch den ganzen Kapitals wert jener Güter, und rettet von ihnen nicht den kleinsten Splitter, der neben und nach diesem Verbrauche mit einem selbständigen Werte noch fortbestände. Und geradeso ist es, wenn man das Eisen wieder zur Bereitung von Nägeln gebraucht. Man verbraucht es, man bezahlt dafür den ganzen Kapitalswert des Eisens und es bleibt von diesem wieder nicht der mindeste Splitter daneben bestehen. Man hat nie in einem Momente die Sache und ihren Gebrauch nebeneinander, sondern man hat nur die Sachen „Kohle und Eisenstein", „Eisen" und „Nägel" durch ihren jeweiligen Gebrauch nacheinander. Bei dieser Sachlage ist aber weder per analogiam noch sonst irgendwie einzusehen, wie der „Gebrauch" eineg verbrauchlichen Gutes zu einer selbständigen Existenz und zu einem selbständigen Werte neben dem Gute gelangen soll. Hermanns Analogieschluß ist in Wahrheit nicht korrekter, als wenn er folgenden Schluß gezogen hätte: Aus einem großen Wasserbehälter kann ich eine Stunde lang jede Sekunde einen Liter Wasser abfließen lassen. Jeder der 3600 ausgegossenen Liter hat eine selbständige Existenz für sich und ist ein ganz verschiedenes Ding sowohl von dem Wasser, deis vorher ausgegossen worden ist, als von dem Wasser, das in dem Be- hälter noch zurückbleibt. Wenn ich nur einen einzigen Liter Wasser habe, aber diesen beständig aus einem Grefäß in das andere umgieße, so kann ich gleichfalls es zustande bringen, daß eine Stunde lang jede Sekunde 216 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. ein Liter abfließt: Folglich — muß es auch in diesem Falle 3600 selbständige Liter geben, die sich aus unseren Gefäßen ausschütten lassen! Hermann unternimmt aber endlich einen dritten Schritt: er löst den Gebrauch ausdauernder Güter in zwei Elemente auf; in ein Element, das allein den Namen Gebrauch oder Nutzung verdient, und in ein zweites Element „Abnützung". — Ich muß gestehen, daß mich dieser letzte Schritt lebhaft an das bekannte Münchhausensche Stücklein erinnert, in dem Münchhausen sich mittelst eines Strickes vom Monde herabläßt, indem er denselben immer über seinem Kopfe abschneidet, um ihn unten wieder anzuknüpfen. Hermann hat geradeso anfangs die ganze (rohe) Nutzung von ausdauernden Gütern als Nutzung behandelt: so lange, bis er durch einen darauf gebauten Analogieschluß eine Nutzung auch bei verbrauch- lichen Gütern nachgewiesen hat. Kaum hat er diese gewonnen, so reißt er seinen anfängüchen Nutzungsbegriff in Stücke, unbekümmert darum, daß er damit auch den Stützpunkt zerstört, an den er seinen späteren selbständigen Nutzungsbegriff geknüpft hat, und daß dieser nun ganz in der Luft hängt. Zu welchen Inkonsequenzen dieser Vorgang noch überdies führt, davon ein wenig später. Hier begnüge ich mich festzustellen, daß die auf den ersten Blick in der Tat bestechenden Ausführungen Hermanns bei genauerer Prüfung keine bessere Stütze aufweisen, als eine falsche Analogie. — Meine Kritik würde eine wesentliche Lücke lassen, wenn ich sie nicht auch auf die gründlichen und gewissenhaften Bemühungen ausdehnen würde, welche Knies an die Sache gewendet hat. Die Ausführungen dieses ausgezeichneten Gelehrten haben eine doppelte Ähnlichkeit mit der HERMANNschen Lehre: sie wirken gleich dieser auf den ersten Blick außer- ordentlich überzeugend, und sie verdanken diese Überzeugungskraft einer wirksamen Verwendung von Analogien — die ich indes gleichfalls für falsche Analogien werde erklären müssen. Knies stößt auf unser Thema bei Gelegenheit der Erörterung der Frage nach der wirtschaftlichen Natur des Darlehens. Er huldigt der Ansicht, daß das Wesen des Darlehens in einer Übertragung der Nutzung der Darlehenssumme liege; und indem er diese Auffassung mit gewohnter Sorgfalt zu motivieren sucht, wird er veranlaßt, auch auf die Frage der Existenz oder Nichtexistenz einer selbständigen Nutzung an verbrauch- lichen Gütern sich einzulassen. Er geht in einer einleitenden Betrachtung von dem Gedanken aus, daß es wirtschaftliche „Übertragungen" gibt, die mit der Übertragung von Eigentumsrechten nicht zusammenfallen. Als solche erscheinen namentlich die Übertragungen des bloßen Gebrauches von Gütern oder von Güternutzungen. Er erwähnt sodann des Unterschiedes zwischen verbrauchlichen und nichtverbrauchlichen Gütern, und wendet sich Kritik des Kniesschen Nutzungsbeweises. 217 zunächst zu einer ausführlichen Betrachtung der Übertragung von Nutzun- gen aus nicht verbrauchlichen Gütern — die ihm ähnlich wie Hermann als Brücke für die Erklärung der heikligeren Phänomene an der Nutzung verbrauchlicher Güter dienen müssen. Er stellt hier unter anderem den Unterschied fest, der zwischen der „Nutzung" als dem „durch eine laufende Zeit andauernden und durch Zeitmomente begrenzbaren Gebrauch des Gutes" zu ziehen ist, und dem Gute selbst als dem „Träger der Nutzung". Das wirtschaftliche Prinzip der in Frage kommenden Übertragungen sei, daß eine Nutzung übertragen werden soll, daß aber der Träger der Nutzung nicht übertragen werden soll. Indes macht die Natur der Sache es not- wendig, daß die Übertragung der Nutzungen von Gütern jederzeit gewisse Einräumungen rücksichtlich des Trägers der Nutzung nach sich zieht. Der Eigentümer eines verpachteten Ackers z. B. muß denselben dem Pächter, falls dieser ihn soll benutzen können, auch physisch überliefern. Das Maß dieser Einräumungen und die Gefahr des Verlustes sowie der Deteriorierung des Nutzungsträgers, die hiemit verbunden ist, sind je nach der Verschiedenheit der Dinge und des einzelnen Falles verschieden; bei der Miete ist beispielsweise eine gewisse Deteriorierung und die Ge- stattung derselben durch den Eigentümer sogar notwendig^). Nachdem Knies dann auch noch die Bedeutung der juristischen Kategorien von vertretbeuren und nichtvertretbaren Gütern erläutert hat, wirft er die folgende Frage auf (S. 71): „Ist nicht auch das sachlich möglich und als Intention eines Vertrages wohl begreiflich, daß die Nutzung eines vertretbaren und sogar verbrauchlichen Gutes übertragen werde?" In diesem Satze fragt Knies implicite nach der Existenz einer selb- ständigen Nutzung verbrauchlicher Güter. — Er beantwortet die gestellte Frage durch folgende Ausführung, die ich wörtlich wiedergebe: „Ein Zentner Getreide ist ein solches vertretbares und verbrauch- liches Gut. Der Eigentümer kann unter Umständen einen solchen Zentner Getreide selbst nicht veräußern, nicht vertauschen und nicht verkaufen woUen, etwa weil er ihn selbst nach sechs Monaten verbrauchen muß oder will. Aber bis zu dieser Frist braucht er ihn denn doch auch nicht. Er könnte sich deshalb allerdings wohl darauf einlassen, den Gebrauch dieses Zentners Getreide während der nächsten sechs Monate einem anderen zu überlassen, wenn er nur nach Ablauf derselben sein Gut wieder be- kommen würde. Wenn dann aber ein anderer, der das Getreide begehrt, aber nicht ertauschen oder kaufen kann, erklären muß, daß er eine Nutzung des Zentners Getreide als eines verbrauchlichen Gutes nicht erlangen könne, außer durch den Verbrauch des Getreides selbst, z. B. als Samenkorn, er woUe aber einen anderen Zentner aus der durch die übertragene Nutzung erzielten Ernte zurückstellen, so kann der Eigentümer dies seinem wirt- 1) Geld, S. 69ff. 218 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Ejritik. schaftlichen Interesse vollkommen genügend finden, da es sich ja hier gerade um ein vertretbares Gut handelt." „In dieser Darlegung enthält nicht ein kleinstes Fragment eines Gedankens etwas Unmögliches, Gesuchtes, Erkünsteltes. Ein solcher Vorgang aber für sich genommen, d. h. die Übergabe eines Zentners Ge- treide unter der Bedingung der Wiedergabe eines Zentners Getreide nach 6 Monaten — gehört unbezweifelbar zu denen, welche ein „„Darlehen"" genannt werden. . . . Demgemäß stellen wir das Darlehen in die Reihe der Übertragungen einer Nutzung, nämlich der Nutzung aus vertretbaren Gütern, die zur Gebrauchsbefügnis des Eigentümers übergehen, mittels eines gleichen Quantums zurückgestellt werden. Natürlich ist es gerade bei dem Darlehen von größtem Belang, scharf festzuhalten, daß, wie groß auch der Umfang der Einräumungen gegenüber dem Träger der Nutzung sein mag, doch nicht in ihnen das Prinzip des Vorganges liegt. Diese Einräumungen werden vielmehr immer entsprechend der jeweils obwaltenden Nötigung zur Gewinnung der Nutzung abgegrenzt und eben deshalb gegenüber einem verbrauchlichen Gute auch bis zur Verbrauchs- gewalt des Eigentümers ausgedehnt, ohne daß irgendwo — auch an dieser letzten Stelle nicht — etwas anderes maßgebender Grundgedanke wäre als: Übertragung einer Nutzung. Es ist also im Darlehen die Übertragung des Eigentumsrechtes unvermeidlich — und doch nur begleitend." Ich gestehe gerne, daß diese Auseinandersetzungen auf jeden, der nicht ganz genau zusieht, einen vollkommen überzeugenden Eindruck zu machen geeignet sind. Knies hat nicht allein die schon von den alten Gegnern der Kanonisten benutzte Analogie zwischen Pacht und Miete einerseits und dem Darlehen andererseits mit ungewöhnlicher Geschicklich- keit verwertet, sondern sie noch durch einen neuen höchst wirksamen Zug bereichert. Denn durch die Hinweisung auf die bei allen Nutzungs- übertragungen unvermeidlichen Einräumungen gegenüber dem Nutzungs- träger selbst hat er gerade dasjenige Moment, das sonst die Analogie zwischen Darlehen und Miete am stärksten zu stören schien, nämlich die gänzliche Übertragung des Eigentumes an Darlehensgütem, sogar in eine weitere Stütze dieser Analogie umzuwandeln gewußt. Wer sich indes von diesen brillanten Analogien nicht im Fluge mit- reißen läßt und kritisch zu überlegen beginnt, wird leicht bemerken, daß die Statthaftigkeit und damit die Beweiskraft aller dieser Analogien von der Bejahung einer Vorfrage abhängt: ob nämlich an verbrauchlichen Gütern eine selbständige Nutzung, die dann im Darlehen übertragen werden könnte, überhaupt existiert; und wird genauer zusehen, was für Beweise Knies speziell für diese Vorfrage beibringt, die den Schlüssel zu seiner ganzen Darlehenstheorie büdet. Hier wird man nun die überraschende Entdeckung machen, daß Knies, die Existenz oder auch nur die Denkbarkeit einer selbständigen Kritik des Kniesschen Nutznngsbeweises. 219 Nutzung verbrauchlicher Güter mit keinem Worie bewiesen, sondern diese Hauptklippe seiner Theorie mittelst eines Doppelspieles umschifft hat, dessen Gegenstand das Wort „Nutzung" ist. — Ich wül diese Irrung auf- zudecken suchen. Knies identifiziert selbst (S. 61) die Nutzung mit dem Gebrauche von Gütern. Er weiß ferner (siehe ebenfalls S. 61), daß an verbrauchlichen Gütern kein anderer Gebrauch möglich ist als ein Verbrauch. Er muß daher auch wohl wissen, daß an verbrauchlichen Gütern die Nutzung identisch ist mit dem Verbrauch derselben. Andererseits gebraucht er aber das Wort „Nutzung" in der Stellung des Problems und dann in der Schlußsentenz: „Demgemäß stellen wir das Darlehen in die Reihe der Übertragungen einer Nutzung usw." offenbar in einem Sinne, in dem es nicht mit Verbrauch identisch, sondern als dauernde Nutzung gemeint ist. Zu dieser seiner Schlußsentenz kommt nun Knies, indem er in seiner Aus- führung Zug um Zug die Nutzung im ersten Sinne mit der Nutzung im zweiten Sinne verwechselt, um dann aus einer Reihe von Sätzen, die nur dann richtig sind, wenn man sie auf die Nutzung im ersten Sinne bezieht, die Konklusion zu ziehen, daß es eine Nutzung im zweiten Sinne gibt. Der erste Satz lautet: „Der Eigentümer kann unter Umständen einen solchen Zentner Getreide selbst nicht veräußern, nicht vertauschen und nicht verkaufen wollen, etwa weil er ihn selbst nach sechs Monaten ver- brauchen muß oder will. Aber bis zu dieser Frist braucht er ihn denn doch auch nicht." In diesem Satz ist als die beabsichtigte und nach der Natur der Sache allein zu beabsichtigende Nutzungart ganz richtig der Verbrauch des Gutes bezeichnet. — Dann fährt er fort: „Er könnte sich deshalb allerdings wohl darauf einlassen, den Ge- brauch dieses Zentners Getreide während der nächsten sechs Monate einem anderen zu überlassen, wenn er nur nach Ablauf derselben sein Gut wieder bekommen würde." Hier beginnt die Zweideutigkeit: Was bedeutet hier „Gebrauch"? Bedeutet dieses Wort „Verbrauch"? oder bedeutet es eine durch eine sechsmonatliche Periode andauernde Nutzungsart? — Denkbar ist der Gebrauch selbstverständlich nur als Verbrauch, aber die Worte „Gebrauch während der nächsten sechs Monate" sind geeignet, eine Vorstellung von einem andauernden Gebrauche hervorzurufen, und hiemit beginnt das quid pro quo. Nun folgt der dritte Satz: „Wenn dann aber ein anderer, der das Getreide begehrt, aber nicht ertauschen oder kaufen kann, erklären muß, daß er eine Nutzung des Zentners Getreide als eines verbrauchlichen Gutes nicht erlangen könne, außer durch den Verbrauch des Getreides selbst z. B. als Samenkorn, er wolle aber einen anderen Zentner aus der durch die übertragene Nutzung 220 VIII. Die Nutzongstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. erzielten Ernte zurückstellen, so kann der Eigentümer dies seinem wirt- schaftlichen Interesse vollkommen genügend finden, da es sich ja hier gerade um ein vertretbares Gut handelt." Dieser Satz enthält die entscheidende Verwechslung. Während nämlich Knies in demselben Atem den Darlehenswerber geradezu erklären läßt, daß eine Nutzung an verbrauchlichen Gütern nicht anders als identisch mit dem Verbrauche derselben sein kann, gebraucht und setzt er die Worte „Nutzung" und „Verbrauch" dennoch so, daß die beiden Begriffe auseinander gehalten werden, und nicht identisch zu sein scheinen, und schmuggelt auf diese Weise, je offener desto unvermerkter, in dialektischer Selbsttäuschung die VorsteÜung von einer dauernden Nutzung an ver- brauchlichen Gütern in den Gedankengang ein. Ist dann gleich darauf von der „durch die übertragene Nutzung erzielten Ernte" die Rede, so dürfte man sich in korrekter Weise als das die Ernte Erzielende abermals nur den Nutzgebrauch = Nutz verbrauch des Saatgetreides vorstellen; man ist aber durch den Anklang der „übertragenen Nutzung" an die Nutzungstibertragungen", die man von früher her im Ohr hat und die den Gegensatz zur „Übertragung der Nutzungsträger" bedeutet hatten, un- willkürlich veranlaßt, hiebei an eine dauernde Nutzung nach Analogie der Nutzung an ausdauernden Gütern zu denken. Ein Skrupel über die Denkbarkeit einer solchen Nutzung kann dabei um so schwerer auftauchen, als von dieser zugleich ausgesagt wird, daß durch sie eine Ernte erzielt, also etwas höchst Reelles bewirkt wird: ein Existenzbeweis, den der in der Verwechslung einmal begriffene Leser natürlich der „dauernden Nutzung" zugute kommen läßt. Nun zieht Knies die Früchte aus der Verwechslung. Nachdem er erklärt hat: „in dieser Darlegung enthält nicht ein kleinstes Fragment eines Gedankens etwas Unmögliches, Gesuchtes, Erkünsteltes" — was freilich unter der Voraussetzung ganz richtig, dann aber für seine These ganz ohne Folgen ist, wenn man für die Worte Gebrauch oder Nutzung an den zweideutigen Stellen jedesmal das Wort „Nutzverbrauch" inter- poliert — zieht er den Schluß: Also gehört das Darlehen in die Reihe der Übertragungen einer bloßen Nutzung. Dieser Schluß ist einfach ein Trugschluß. Denn der Beweis, dessen Erbringung Aufgabe war, ist in Wahrheit gar nicht geführt worden; viel- mehr wurde das zu Beweisende unvermerkt als ein Vorausgesetztes in die Deduktion eingeführt und von der „Nutzung" im prätendierten Sinne wie über eine vertraute Tatsache gesprochen, ohne daß auch nur ein Wort über die — zu beweisende — Existenzmöglichkeit einer solchen Nutzung geäußert worden wäre. Die Aufdeckung dieses fundamentalen Beweisfehlers wird aber durch zwei Umstände sehr erschwert; erstlich dadurch, daß die Flagge der Nutzung im echten Sinne auch den unechten Namensbruder deckt: man versäumt, gegen die Existenz der „Nutzung" ünhaltbarkeit der Konseqaenaen. 221 ZU protestieren, weil man sie — Dank der geschickten dialektischen Rede- wendungen — von der unzweifelhaft existierenden echten Nutzung nicht auseinander hält; und zweitens geradezu durch das Naive der Suggestion. Ohne nänüich auch nur mit einem Worte auf das Problem — ob eine dauernde Nutzung an verbrauchlichen Gütern denkbar sei — wirklich einzugehen, läßt Knies den Eigentümer und den Darlehenswerber über die Übertragung der „Nutzung" in einem solchen Tone der Sicherheit ver- handeln, als ob die Ekistenz solcher Nutzungen eine ausgemachte Sache sei — eine Sicherheit, die sich fast dann unwillkürlich auch dem Leser mitteilt^). — Werfen wir einen vergleichenden Rückblick auf die Bemühungen, welche die einzelnen Schriftsteller der SAY-HERMANNSchen Richtung um den Nachweis ihrer eigentümlichen Kapitabiutzung entwickelt haben, so gewahren wir bei aller Verschiedenheit im einzelnen eine sehr lehrreiche Übereinstimmung im ganzen. Alle Autoren, von Say bis auf Knies, beziehen sich, wenn sie von der Kapitalnutzung zu reden anfangen, zuerst auf die wirklich existieren- den Nutzleistungen, und erlangen unter ihrer Flagge von den Lesern das Zugeständnis, daß die „Kapitalnutzung" in der Tat existiert, daß sie als ein selbständiges wirtschaftliches Element existiert und auch einen selbständigen wirtschaftlichen Wert besitzt. Daß diese Selbständigkeit nicht die eines zweiten Ganzen neben dem Gute, sondern nur die eines selbständig loslösbaren Teües des Gutsinhaltes ist, womit es weiter zu- sammenhängt, daß die Ablösung der Nutzleistung jedesmal mit einer Wertverminderung des Gutes selbst verbunden, und das Entgelt für die Nutzleistung ein Brutto zins ist, wird dabei im Dunkeln gelassen. Kaum hat man aber so die Anerkennung der „selbständigen Kapital- nutzung" erlangt, so schiebt man den echten Nutzleistungen, unter deren Deckmantel man sie erlangt hat, die imaginäre Nutzung eigener Faktur unter, dichtet ihr eine Selbständigkeit des Wertes außerhalb des vollen Gutswertes an und schlägt zum Schlüsse gar noch die echten Nutzungen, die der falschen als Schemel gedient hatten, in Stücke. Say und Schäffle geben diesen Prozeß nur in flüchtiger Abbreviatur, indem sie stillschweigend das Substrat des Rohzinses in ein Substrat des Reinzinses umdeuten; Hermann und Knies aber wickeln ihn vor unseren Augen in voller Aus- führlichkeit ab. — Solche Irrungen zeigen, wie dringend das Bedürfnis ist, daß die so beliebten „Revisionen der Grundbegriffe" sich endlich auch dem unscheinbaren Begriffe des „Gebrauches" und der „Nutzung" ^) Knies hat in späteren, der ersten Auflage dieses Werkes nachgefolgten Schriften einen Versuch gemacht, seine Auffassung gegen meine obenstehenden Einwendungen zu verteidigen. Ich werde an einer dazu geeigneten Stelle des zweiten, positiven Teiles meiner Arbeit auf diesen Versuch zurückkommen; siehe meine „Positive Theorie" 3. A. S. 489ff., 4. A. S. 364. 222 "VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. der Güter zuwenden mögen. Ich für meinen Teil habe versucht, hiezu einen ersten Beitrag zu liefern. Ich glaube durch die vorstehenden Ausführungen den angekündigten Beweis erbracht zu haben, „daß in allen Schlußfolgerungen, durch welche die Nutzungstheoretiker der SAY-HERMANNschen Richtung das Dasein der behaupteten Nutzung zu beweisen vermeinten, ein Irrtum oder ein Mißverständnis unterlaufen ist." Aber die Annahme jener selbständigen Nutzung ist nicht allein absolut unerwiesen, sondern sie führt auch, wie ich nunmehr beweisen will, mit Notwendigkeit auf innere Widersprüche und unhaltbare Konsequenzen. Es ist im Kreise der Nutzüngstheoretiker und auch- sonst') üblich, eine rohe Nutzung, welche die Grundlage des rohen Pacht- oder Miet- zinses ist, von einer reinen Nutzung zu unterscheiden, welche die Grund- lage des reinen Kapitalzinses ist. Merkwürdigerweise haben wir alle uns gewöhnt diese Unterscheidung arglos nachzusprechen, ohne daß es jemandem aufgefallen ist, daß sie ein unlösbares Rätsel enthält. Nutzung soll nach der einstimmigen Versicherung der Beteiligten gleichbedeutend sein mit Gebrauch, im objektiven Sinne dieses Wortes genommen. Soll es nun, indem es eine rohe und eine reine Nutzung gibt, zwei Nutzungen, zwei Gebräuche desselben Gutes geben? Und zwar wohlverstanden, nicht zwei sukzessive, oder zwei alternative Gebrauchs- weisen; sondern zwei gleichzeitige kumulative Gebräuche, die in der elementarsten Gebrauchshandlung neben oder ineinander empfangen werden ? Daß ein Gut nacheinander zwei Gebräuche abgibt, wäre einzusehen; daß ein Gut alternativ zwei Gebrauchsweisen zuläßt, Holz zum Baue oder ^) Ich muß ausdrücklich bemerken, daß ich in meiner Polemik über den Nutzungs- begriff nicht allein gegen die eigentlichen Nutzungstheoretiker, sondern fast gegen die gesamte nationalökonomische Literatur anzukämpfen habe. Die von mir bekämpfte Auffassung der Kapitalnutzung ist seit den Tagen des Salmasius die allgemein ver- breitete. Auch Schriftsteller, welche den Ursprung des Kapitalzinses durch ganz andere Theorien, z. B. durch die Produktivitätstheorie, wie Röscher, durch die Abstinenz- theorie, wie Senior, durch eine Arbeitstheorie, wie Courcelle-Seneuil oder Wagner, erklären, fassen den Darlehenszins regelmäßig als ein Entgelt für eine überlassene ICapital- nutzung (use, usage), und hie und da sogar den ursprünglichen Kapitalzins als eine Frucht derselben Kapitalnutzung auf. Der Unterschied zwischen ihnen und den eigent- lichen Nutzungstheoretikern liegt nur darin, daß jene sich solcher Wendungen naiv, in der Ausübung eines populär gewordenen Sprachgebrauches, und ohne sich um die weiteren Prämissen und Konsequenzen dieser Auffassung zu kümmern — die bisweilen mit ihrer sonstigen Zinstheorie sogar in Widerspruch steht — bedienen, während die Nutzungstheoretiker ihre eigenartige Theorie gerade auf die Konsequenzen jener Auf- fassung aufbauen. Die fast universelle Verbreitung des Irrtums, gegen den ich anzu- kämpfen suche, mag ein weiterer Rechtfertigungsgrund für die Weitläufigkeit sein, mit der ich es tue. Unhaitbarkeit der Konsequenzen. 223 zum Verbrennen, ist gleichfalls einzusehen; sogar, daß ein Gut gleichzeitig nebeneinander zwei Gebrauchsweisen zuläßt, die dann aber auch ver- schiedenen, doppelten Nutzen stiften, ist zu begreifen ; z. B. daß eine schöne Gitterbrücke zugleich als Verkehrsmittel und als Objekt ästhetischen Genusses dient. Daß ich aber dann, wenn ich ein Haus oder eine Wohnung miete und durch Bewohnung benütze, durch eine und dieselbe Serie von Gebrauchshandlungen zwei verschiedene Gebräuche soll ausgeübt und empfangen haben, einen weiteren, für den ich den ganzen Mietzins und einen engeren, für den ich den im Mietzins steckenden Reinzins bezahle; daß ich mit jedem Federzuge, den ich über das Papier führe, daß ich mit jedem Bücke, den ich auf ein Gemälde werfe, daß ich mit jedem Schnitte, den mein Messer führt, kurz, daß ich mit jedem einfachsten Nutzen, den ich von einem Gute erlange, allemal zwei Gebräuche in oder nebeneinander soll empfangen haben: das widerstreitet der Natur der Dinge und jeder gesunden Vorstellung. Wenn ich ein Gemälde ansehe oder ein Haus be- wohne, so mache ich davon einen Gebrauch, und wenn ich dabei doch zwei Dinge Gebrauch oder Nutzung nenne, so muß eines derselben diesen Namen mit Unrecht tragen. Welches ? Darüber kursiert nun wieder eine höchst seltsame Ansicht. Die be- treffenden Theoretiker scheinen nämlich das Ungehörige zweier Nutzungen neben einander in der Tat ein wenig empfunden zu haben. Denn obschon sie in der Regel für beide Dinge den Namen Nutzung im Munde führen, nehmen sie bisweilen einen Anlauf, um eine derselben verschwinden zu machen; und zwar wird die rohe Nutzung eliminiert, indem sie in reine Nutzung + partielle Wiedererstattung des Kapitales aufgelöst wird. So Röscher, den wir wohl als Vertreter der landläufigen Meinung zitieren dürfen^): ,,Man darf die Nutzung eines Kapitales nicht mit dessen partieller Wiedererstattung verwechseln. So muß z. B. in der Hausmiete außer der Zahlung für den Gebrauch des Hauses noch eine hin- reichende Summe zur Ausbesserung, ja sogar zur allmählichen Sammlung eines Neubaukapitales enthalten sein." Also das, wofür ich den reinen Zins zahle, das soll in Wahrheit ein Gebrauch sein, und wofür ich den rohen Zins zahle, das soll man nur durch eine irrtümliche Ungenauigkeit Gebrauch nennen. Ich glaube, man könnte die Vertreter dieser wunderlichen Ansicht durch nichts in größere Verlegenheit setzen, als durch die Aufforderung, eine Definition von dem zu geben, was sie unter Gebrauch verstehen. Was kann denn der Gebrauch anderes sein, als der Empfang, oder wenn man dem Gebrauche eine objektive Deutung geben will, die Darbietung der nützlichen Leistungen, deren ein Gut fähig ist? Oder, wenn man ') Grundlagen, 10. Aufl. S. 401 f. 224' VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. gegen meinen Ausdruck „nützliche Leistungen" etwas hat, mag man mit Say „nützliche Dienste", oder mit Schäffle „Auslösung des Nutzens aus den Sachgütern" oder „Empfang nützlicher Wirkungen" oder sonst wie immer sagen. Man mag aber den Gebrauch definieren wie man will, Eines scheint mir unwiderleglich zu sein: wenn man jemandem ein Haus zur temporären Bewohnung überläßt und er bewohnt es, so hat man ihm den Gebrauch des Hauses überlassen, und er hat auch den Gebrauch des Hauses ausgeübt; und wenn er etwas dafür bezahlt, so hat er kein Atom des Mietzinses für etwas anderes bezahlt, als dafür, daß er sich der nützlichen Eigenschaften und Kräfte des Hauses bedienen durfte, mit anderen Worten für den ihm überlassenen Gebrauch. Ja, vielleicht doch! Hat er denn nicht auch einen Bruchteil des Wertes des Hauses selbst konsumiert, und hat man ihm also nich£ neben dem Gebrauche des Hauses einen Teil des Hauswertes selbst über- lassen? — Wer das meinen Ayürde, der würde auf eine sehr seltsame Weise zwei Seiten eines Ereignisses für zwei Ereignisse halten. Die Sache^ liegt einfach so, daß der Mietsmann nur den Gebrauch des Hauses erhalten, aber durch die Ausübung desselben den Wert des Gutes vermindert hat; er hat aus einem Vorrate von „Spannkräften" einige zur Auslösung er- halten, hat nichts getan, als „ausgelöst", als gebraucht, aber natürlich ist dadurch der Wert des Restes der Spannkräfte vermindert worden. Das so auszulegen, als ob der Mietsmann zwei Dinge nebeneinander, Gebrauch und teilweisen Kapitalwert, erhalten hätte, kommt mir eben 80 vor, als wenn man im Zukaufe eines passenden vierten Pferdes zu drei vorhandenen eine Erwerbung von zwei separaten Dingen erblicken wollte; erstens eines Pferdes, und zweitens der Kompletierung des Viergespanns, und wenn man dann behaupten wollte, von den 500 fl., die der Käufer gezahlt hat, sei nur ein Teil, z. B. 250 fl., der Preis des Pferdes, die übrigen 250 fl. seien der Preis für die Kompletierung des Viergespanns! Oder als wenn man von einem Dachdecker, der auf dem Kirchturme das Turm- kreuz aufrichtet und dadurch den Turmbau vollendet, sagen wollte, er habe zwei Akte vorgenommen:, erstens das Turmkreuz aufgerichtet, und zweitens den Turmbau vollendet, und wenn er im ganzen hiebei eine Stunde tätig war, so habe er zum Aufrichten des Turmkreuzes höchstens drei Viertelstunden brauchen können, denn ein Teil des gesamten Zeit- aufwandes, eine Viertelstunde etwa, müsse doch auf den zweiten Akt, die Vollendung des Turmbaues, entfallen! Wer aber trotzdem nicht die Bruttonutzung, sondern ein schwer definierbares anderes Etwas als Gebrauch anerkennen will, der sage doch, worin der Gebrauch einer Speise besteht. Im Essen? — Das kann nicht sein, denn das ist eine den ganzen Kapitalwert verschlingende Brutto- nutzung, die ja mit dem wahren „Gebrauch" nicht verwechselt werden darf. Worin aber sonst ? In einem aliquoten Teile des Essens ? Oder in Unhaltbarkeit der Konsequenzen. 225 etwas ganz anderem? — Die Pflicht, hier eine Antwort zu geben, trifft zum Glück nicht mich, sondern die Nutzungstheoretiker. Wenn daher den Worten Gebrauch und Nutzung nicht ein Sinn gegeben werden soll, der der Sprache und dem Leben, den Vorstellungen der Praxis und der Wissenschaft gleich sehr entgegen ist, so kann man der rohen Nutzung die Eigenschaft einer wahren Nutzung nicht absprechen. Kann es aber nicht zwei Nutzungen geben, und ist die rohe Nutzung jeden- falls als eine berechtigte Trägerin des Nutzungsbegriffes anzuerkennen, dann ergibt sich von selbst der Schluß gegen die reine Nutzung der Nutzungstheoretiker. Aber lassen wir all das beiseite und halten wir uns nur an das Folgende. Mag die rohe Nutzung eine ^chte Nutzung sein oder nicht, etwas ist sie doch unzweifelhaft. Und etwas, wollen die Nutzungstheoretiker, soll die reine Nutzung gleichfalls sein. Diese beiden Größen müssen nun, wenn sie beide wirklich existieren, jedenfalls in irgend einem Verhältnis zu ein- ander stehen. Entweder muß die reine Nutzung ein Teil der rohen sein, oder sie ist kein Teil von ihr: ein drittes gibt es nicht. Sehen wir nun zu. Wenn wir auf die ausdauernden Güter blicken, dann gewinnt es den Anschein, als ob die reine Nutzung ein Teil der rohen wäre; denn da das Entgelt der ersten, der Reinzins, im Entgelt der zweiten, dem Rohzinse inbegriffen ist, so muß wohl auch das erste Kaufobjekt im zweiten inbe- griffen, ein Teil des letzteren sein ; wie dies ja auch die Nutzungstheoretiker selbst behaupten, indem sie die rohe Nutzung in eine Summe, reine Nutzung + partielle Wiedererstattung des Kapitales, zerlegen. Sehen wir aber jetzt auch die verbrauchlichen Güter, Den Reinzins zahle ich hier nicht für den Verbrauch: denn wenn ich für ein verbrauchliches fremdes Gut momentan das vertretbare Äquivalent zurückstelle, so brauche ich gar keinen Zins zu zahlen. Ich zahle ihn vielmehr nur für die Ver- zögerung in der Rückstellung des Äquivalentes, also für etwas, das im Verbrauche, dieser intensivsten Bruttonutzung, nicht inbegriffen ist, sondern ganz außerhalb derselben steht. Folglich ist die reine Nutzung zugleich Teil und Nichtteil der rohen Nutzung? Wie können die Nut- zungstheoretiker diesen Widerspruch erklären? Ich könnte die Reihe von Rätseln und Widersprüchen, in die die An- nahme der selbständigen reinen Nutzung führt, noch lange fortsetzen. Ich könnte die Nutzungstheoretiker fragen, was ich mir z. B. unter der zehnjährigen Nutzung oder dem zehnjährigen Gebrauche einer Flasche Wein vorstellen soll, die ich am ersten Tage des ersten Jahres ausgetrunken habe? Existieren muß sie ja doch, da ich sie durch ein auf zehn Jahre abgeschlossenes Darlehen kaufen und verkaufen kanni Ich könnte darauf hinweisen, wie seltsam, ja ans Komische streifend die Annahme ist, daß in dem Augenblicke, als ein Gut durch seinen gänzlichen erschöpfenden Verbrauch faktisch zu nützen aufhört, es eine perpetuierliche Nutzung Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. lo 226 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. abzugeben erst recht anfangen soll; und daß der Schuldner, der eine geliehene Flasche Wein nach einem Jahre zurückzahlt, weniger verzehrt haben soll als jener, der die Flasche Wein erst nach zehn Jahren zurück- zahlt, indem der erste die Flasche Wein und ihre einjährige Nutzung, der zweite die Flasche Wein und ihre zehnjährige Nutzung konsumiert hat, während es doch auf der Hand liegt, daß beide von der Flasche Wein denselben Nutzen gezogen haben, und daß die früher oder später ein- tretende Pflicht zur Rückzahlung einer anderen Flasche Wein mit der kürzeren oder längeren Fortdauer objektiver Nutzungen der ersten Flasche absolut nichts zu tun hat usw. usw. Doch ich glaube schon mehr als genug zur Überzeugung gesagt zu haben. Fassen wir zusammen. Ich glaube dreierlei bewiesen zu haben. Ich glaube erstens bewiesen zu haben, daß das Wesen der Güter als stofflicher Träger nutzbarer Naturkräfte die Denkbarkeit jeder „Nut- zung" ausschließt, die nicht in der Betätigung ihrer nutzbaren Naturkräfte besteht, die also nicht mit den „Nutzleistungen" der Güter identisch ist, welche letzteren nicht die Grundlage des reinen, sondern die des rohen Zinses, beziehungsweise — bei verbrauchlichen Dingen — des ganzen Kapitalwertes der Güter sind. Ich glaube zweitens bewiesen zu haben, daß alle Versuche der Nutzungstheoretiker, die Existenz oder die Denkbarkeit einer von den Nutzleistungen verschiedenen „reinen Nutzung" zu demonstrieren, irr- tümlich oder mißverständlich sind; und ich glaube drittens bewiesen zu haben, daß die Annahme der von den Nutzungstheoretikern postulierten reinen Nutzung mit Not- wendigkeit auf absurde und widerspruchsvolle Konsequenzen hinführt. Ich glaube daher mit voller Berechtigung behaupten zu dürfen, daß jene reine Nutzung, auf deren Existenz die Nutzungstheoretiker der Say- HERMANNSchen Richtung ihre Erklärung des Kapitalzinses gründen, in Wahrheit nicht existiert, daß sie vielmehr nur das Produkt einer irre- führenden Fiktion ist. Auf welchem Wege kam aber diese merkwürdige Fiktion überhaupt in unsere Wissenschaft? Und wie kam man dazu, sie mit einer Wirklich- keit zu verwechseln? — Indem ich noch auf diese historischen Fragen kurz eingehe, hoffe ich die letzten Zweifel zu zerstreuen und insbesondere auch das Präjudiz, das man aus dem einstigen Siege der Theorie des Salmasiüs ziehen möchte, auf seinen wahren Wert zurückzuführen. Wir haben es hier mit einem jener nicht ganz seltenen Fälle zu tun, in denen eine auf juristischem Gebiete entstandene und ursprünghch im vollen Bewußtsein des Fiktiven für praktische juristische Zwecke geübte Fiktion auf das Gebiet der Volkswirtschaft übertragen wurde, wobei das Bewußtsein der Fiktion unterwegs verloren ging. Die Jurisprudenz hat Unhaltbarkeit der Konsequenzen. 227 von jeher ein starkes Bedürfnis nach Fiktionen gehabt. Um mit verhältnis- mäßig wenigen und einfachen Rechtsregeln für die ganze mannigfaltige Wirklichkeit des Rechtslebens auszulangen, sieht sie sich oft veranlaßt, Fälle, die mit anderen nicht wesensgleich sind, aber zweckmäßig in der Praxis gleichartig behandelt werden können, durch eine Fiktion den ersteren völlig gleichzustellen. So sind die formulae fictitiae des römischen Zivilprozesses, so die juristischen Personen, so die „res incorporales" und so unzählige andere Fiktionen der Rechtswissenschaft entstanden. Bisweilen kam es nun vor, daß eine recht eingealterte Fiktion schließ- lich zu einem ernsthaft geglaubten Lehrsatz versteinerte: hatte man sich durch Jahrhunderte daran gewöhnt, in Theorie und Praxis ein Ding so zu behandeln, als ob es mit einem andern wirklich wesensgleich wäre, so konnte man, wenn sonst die Umstände günstig waren, endlich ganz ver- gessen, daß man das alles nur fingiert hatte. So ist es, wie ich an einem anderen Orte nachgewiesen habe, mit den res incorporales des römischen Rechtes, und so ist es auch mit der selbständigen Nutzung verbrauchlicher und vertretbarer Güter gegangen. Noch läßt sich der Weg, auf dem die Versteinerung der Fiktion in einen Lehrsatz stattfand, Schritt für Schritt verfolgen. Es gibt Güter, an deren Individualität nichts liegt, die nur nach Art und Menge in Betracht kommen, „quae pondere numero mensura con- sistunt". Es sind dies die soojenannten fungiblen oder vertretbaren Sachen. Da auf ihre Individualität nichts ankommt, so füllen die „vertretenden" Güter die Stelle der „vertretenen" vollkommen aus, und man konnte für gewisse Zwecke des praktischen Rechtslebens sie ohne weiteres als identisch behandeln. Insbesondere lag es nahe, dies in solchen Rechtsgeschäften zu tun, in denen es sich um ein Hingeben und Rückempfangen vertretbarer Güter handelt. Hier lag es nahe, die Rückstellung einer gleichen Menge vertretbarer Güter als eine Rückstellung eben derselben Güter auf- zufassen; mit anderen Worten, die Identität der rückgestellten mit den hingegebenen vertretbaren Gütern zu fingieren. So viel mir bekannt ist, haben die alten römischen Rechtsquellen diese Fiktion noch nicht formell aufgestellt: sie sprechen ganz korrekt davon, daß im Darlehen „tantundem" oder „idern genus" — nicht schlechthin „idem" — zurückgestellt wird; wohl aber findet sie sich bereits der Sache nach. Wenn z. B. das sogenannte „depositum irreguläre", bei welchem der Depositar die ihm zur Verwahrung übergebene Geld- summe für sich verwenden und die Rückerstattung in anderen Geld- stücken leisten durfte, als depositum behandelt wurde ^), so läßt sich diese Konstruktion nur so erklären, daß man die Fiktion der Identität der zurückgestellten Geldstücke mit den zur Verwahrung übergebenen ») Siehe 1. 31 Dig. loc. 19. 2, und 1. 25 § 1 Dig. dep. 16. 3. 15* 228 VIII. Die Nutzungstiieorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. ZU Hilfe nahm. Die moderne Jurisprudenz ist hie und da weiter gegangen und hat geradezu von einer „rechtlichen Identität" vertretbarer Güter gesprochen 1). Von dieser ersten Fiktion war nur ein Schritt zu einer zweiten. Sah man nämlich die Sache einmal so an, als ob im Darlehen und verwandten Geschäften dieselben Güter, die der Schuldner empfangen hat, wieder zurückgegeben werden, so mußte man konsequent auch zur weiteren Vorstellung gelangen, daß der Schuldner die empfangenen Güter inzwischen während der ganzen Darlehensfrist behalten, ununterbrochen besessen und ununterbrochen benützt habe; daß er also an ihnen einen dauernden Gebrauch ausübe und den allfälligen Zins für eben diesen dauernden Gebrauch bezahle. Die Juristen machten diesen zweiten fiktiven Schritt in der Tat. Sie wußten dabei anfangs ganz gut, daß es sich nur um eine Fiktion handle. Sie wußten ganz gut; daß die rückgegebenen Güter mit den empfangenen Gütern nicht identisch sind; daß der Schuldner die letzteren nicht während der ganzen Darlehensfrist behält und besitzt, da er sich im Gegenteil, um den Zweck des Darlehens zu erreichen, ihrer in der Regel sehr bald gänzlich entäußern muß; sie wußten endlich ganz gut, daß aus demselben Grunde der Schuldner auch keinen fortdauernden Gebrauch an den Darlehensgütern ausübt: aber für die praktischen Zwecke und Bedürfnisse beider Parteien ist es gerade so gut, als ob alles wirklich so wäre, wie es nur fingiert wird, und darum darf der Jurist es fingieren. Die Juristen geben für den Bereich ihrer Wissenschaft dieser Fiktion Ausdruck, indem sie den schon in der Volkssprache auf Grund der näm- lichen Fiktion eingebürgerten Ausdruck „usura", Gebrauchsgeld, für den Darlehenszins ratifizieren, indem sie lehren, daß der Zins für den Gebrauch der Darlehenssumme entrichtet wird, und indem sie auch an verbrauch- lichen Gütern einen Ususfructus konstruieren: freilich nur einen Quasi- Ususfructus, weil sie eben ganz gut wissen, daß sie nur mit einer Fiktion operieren; sie haben das einmal sogar ausdrücklich hervorgehoben, indem sie einen Akt der Gesetzgebung korrigierten, der der Fiktion einen allzu realistischen Ausdruck gegeben hatte ^). ^) Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechtes,, 2. Aufl. (Stuttgart 1883), II. Bd. 1. Lieferung, S. 26 in der Note. *) Ulpian zitiert bekanntlich in 1. de usufructu earum rerum quae usu consumuntur vel minuuntur Dig. 7, 5 ein Senatuskonsult, das die Legierung des ususfructus an verbrauchlichen Gütern eingeführt hat. Hiezu bemerkt Gaius: „Quo senatus consulto non id effectum est, ut pecuniae usufructus proprie esset; nee enim naturalis ratio auctoritate Senatus commutari potuit: sed, remedio introducto, coepit quasi ususfructus haberi." Ich glaube nicht, wie Knies (Geld S. 75) meint, daß Gaius sich nur an dem formellen Mangel gestoßen hat, daß ein regulärer ususfructus nur an einer fremden Sache möglich sei, während der Legatar die legierten verbrauchhchen Güter Entstehung der Fiktion. 229 Nachdem man endlich durch viele Jahrhunderte gelehrt hatte, daß die „usura" ein Gebrauchsgeld sei, und nachdem sich inzwischen auch der beste Teil des lebendigen Geistes der klassischen Jurisprudenz verflüchtigt hatte, und dafür eine um so größere Ehrfurcht vor den überlieferten Formeln an die Stelle getreten war, da ereignete' es sich, daß die Kanonisten die Berechtigung des Darlehenszinses scharf angriffen. Eine ihrer schärfsten Waffen war eben die Aufdeckung der Fiktion, die man mit dem usus verbrauchlicher Sachen trieb. Ihre sonstige Argumentation schien so zwingend, daß der Darlehenszins nicht zu retten schien, wenn man ihnen die Prämisse einräumte, daß ein selbständiger Gebrauch verbrauchlicher Sachen nicht existiere. So erlangte jene Fiktion auf einmal eine Bedeutung, die sie nie vorher gehabt hatte. An die leibhaftige Existenz jenes usus glauben, wurde gleichbedeutend mit der Billigung des Kapitalzinses; an sie nicht glauben, schien zur Verdammung desselben zu zwingen. In diesem Dilemma gab man, um den Zins zu retten, lieber der juristischen Formel mehr Ehre als sie verdiente, und Salmasius und seine Genossen mühten sich um Gründe ab, die ihnen gestatten sollten, die Formel für die Wirk- lichkeit* zu halten. Die Gründe, die sie fanden, waren gerade gut genug, um Leute zu überzeugen, die gerne überzeugt sein wollten, weil sie durch die sonstige, wirklich ausgezeichnete Beweisführung bereits dafür gewonnen waren, daß Salmasils im ganzen das B^cht auf seiner Seite hatte; während man den Gegnern, die in der Hauptsache offenbar Unrecht hatten, auch in dem mißtraute, worin sie ausnahmsweise Recht hatten. So wurde — nicht zum ersten und gewiß auch nicht zum letzten Male — unter dem Hochdrucke praktischer Exigenzen eine schiefe Theorie geboren und die alte Fiktion der Juristen als Wirklichkeit proklamiert. Dabei ist es denn seither auch gebheben. Wenigstens in der National- ökonomie. Während die neuere Jurisprudenz sich von der Salmasianischen Lehre überwiegend wieder zurückzog, behielt die moderne National- ökonomie das alte Inventarstück des juristischen Formelwesens gerne bei. Denn dieses Heß sich ebensogut, als es im 17. Jahrhundert zur Stütze der praktischen Rechtfertigung des Zinses gedient hatte, im 19. Jahrhur dert als Handhabe zu seiner theoretischen Erklärung verwenden, mit der man sonst in Verlegenheit gekommen wäre. Man hatte nun den rätselhaften „Mehrwert" zu erklären. Er scheint in der Luft zu hängen. Man sucht einen Träger für ihn. Und da bietet sich auf das willkommenste wieder die alte Fiktion der Juristen dar. Den gesteigerten theoretischen Anforde- rungen entsprechend wird sie mit allerlei neuen Zutaten ausgeschmückt, und so wird sie endlich würdig, unter dem Namen der „Nutzung" den im Eigentum als res suae besitzt. Der Appell an die naturalis ratio hat schwerlich der Rehabilitierung einer verletzten formalen Definition des ususfructus, sondern un- endlich wahrscheinlicher der ärger verletzten Naturwahrheit gegolten. 230 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. Gipfelpunkt der Ehre zu besteigen: sie wird zum Grundstein einer ebenso eigenartigen als umfassenden Theorie des Kapitalzinses. Vielleicht ist es diesen Blättern beschieden, den Bann lösen zu helfen, in den eine vielhundertjährige Gewohnheit unsere Auffassung geschlagen hat. Vielleicht wird man die „reine Nutzung" des Kapitales endlich wieder in jenes Reich zurückverweisen, aus dem sie besser nie hätte heraustreten sollen: in das Reich der Fiktion, der Metapher, die, wie Basti at einmal nur allzuwahr bemerkt, die Wissenschaft so oft schon vom rechten Wege abgelenkt hat. Man wird dabei freilich manche tief gewurzelte Anschauung aufgeben müssen: nicht allein die Nutzungstheorie im engeren und eigent- lichen Sinne des Wortes, die die Nutzung zum Grundpfeiler der Erklärung des Kapitalzinses macht, sondern auch eine Reihe anderer Anschauungen, die auch außerhalb der Reihen der Nutzungstheoretiker allgemein ver- breitet sind und jenen Begriff nebenher benützen; unter anderem wird man der so behebten Konstruktion des Darlehens als einer Übertragung von Nutzungen, als eines Analogons von Pacht und Miete, entsagen müssen. Was aber an die Stelle setzen? Darauf zu antworten, ist streng genommen nicht mehr Sathe der Kjritik. die uns hier beschäftigt, sondern Sache der positiven Darstellung, die ich dem IL Bande dieser Arbeit vorbehalten habe. Da man indes mit Recht von mir erwarten kann, daß ich, wenn ich die alte Lehre der Kano- nisten in einem Hauptpunkte in Schutz nehme, schon jetzt wenigstens einen Ausweg zeige, auf dem man den offenbar falschen Resultaten der Kanonisten entrinnen kann, will ich meine Ansicht über das Wesen des Darlehens schon hier flüchtig andeuten; natürlich mit dem Vorbehalte, im nächsten Bande dieses Werkes in genauerer Ausführung darauf zurück- zukommen, und mit der Bitte, daß die Leser ihr endgiltiges Urteil über meine Darlehenstheorie bis zu jenem Zeitpunkte aufschieben mögen, in welchem ich sie ausführlicher und im einheitlichen Zusammenhange mit der gesamten Kapitalzinstheorie werde dargelegt haben. Ich knüpfe am besten an den alten Kanonistenstreit selbst an. Nach meiner Ansicht haben im Resultate die Kanonisten allein, in der Motivierung der Resultate beide Teile Unrecht gehabt ; und zwar sind die Kanonisten dadurch im Unrecht geblieben, daß sie in ihren Beweisen nur einen Fehler gemacht haben, während Salmasius ihrer zwei machte, von denen der zweite den Schaden des ersten wieder ausglich, so daß nach einem sehr tumultuarischen Oberlauf seine Beweisführung am Ende doch in die Wahrheit ausmündet. Und das folgendermaßen: Beide Teile sehen es übereinstimmend für ein Axiom an, daß die nach Ablauf des Darlehensvertrages zurückgestellte Kapitalsumme das Äqui- valent, und zwar das genaue und volle Äquivalent der hingegebenen Kapitalsumme sei. Diese Annahme ist so falsch, daß man sich in der Tat wundern muß, daß sie nicht längst schon als ein Aberglaube aufgedeckt Entstehung der Fiktion. 231 wurde. Jeder Nationalökonom weiß, daß der Wert der Güter nicht einfach von ihrer physischen Qualität, sondern in hohem Grade auch von den Umständen abhängt, unter denen sie zu menschlicher Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stehen. Es ist bekannt, daß Güter derselben Art, z. B. Korn, unter wechselnden Verhältnissen einen sehr verschiedenen Wert behaupten. Zu den wichtigsten Umständen, die außer der physischen Beschaffenheit der Güter deren Wert beeinflussen, gehört unter anderem Ort und Zeit ihrer Disponibilität. So verwunderlich es nun wäre, wenn Güter bestimmter Art an allen Orten, an denen sie sich befinden mögen, genau denselben Wert hätten, so verwunderlich es z. B. wäre, wenn 10 Klafter Holz im Walde genau denselben Wert wie 10 Klafter Holz auf der Bahnstation und diese wieder genau denselben Wert wie 10 Klafter Holz an der Feuer- stelle hätten, gerade so verwunderlich wäre es, wenn 100 fl., die mir heute verfügbar sind, genau äquivalent sein sollten mit 100 fl., die ich ein Jahr später, die ich zwei Jahre später, die ich zehn oder gar hundert Jahre später erhalten werde. Es ist im Gegenteil klar, daß, wenn eine und dieselbe Güterquantität einem wirtschaftenden Subjekte in verschiedenen Zeit- punkten zur Verfügung kommt, sie in aller Regel auch einen verschiedenen Einfluß , auf seine Wirtschaftslage, und demgemäß einen verschiedenen Wert erlangen wird. Eine vollständige Äquivalenz zwischen den im Dar- lehen gegebenen präsenten Gütern und den in einem entlegenen Zeitpunkt zurückerstatteten Gütern gleicher Zahl und Art wird daher unmöglich, wie die Kanonisten und Salmasius es tun, als selbstverständliche Regel vorausgesetzt werden, sondern im Gegenteil nur eine höchst seltene zu- fällige Ausnahme bilden können. Es ist sehr durchsichtig, aus welcher Quelle beide Parteien die ganz unwissenschaftliche Meinung von der Äquivalenz der gegebenen und rückempfangenen Kapitalsumme geschöpft haben : es ist die alte juristische Fiktion der Identität vertretbarer Güter von gleicher Art und Zahl. Faßt man das Darlehen kraft dieser Fiktion so auf, als ob dieselben 100 fl., die der Gläubiger dem Schuldner vorstreckt, nach Ablauf der Darlehensfrist vom Schuldner dem Gläubiger wieder zurückgegeben werden, dann muß man natürlich auch diese Erstattung als die vollkommen äquivalente und gerechte ansehen. Daß die Kanonisten und ihre Gegner diesem ersten Teile der juristischen Fiktion in die Falle gegangen sind, das bildet ihren gemeinsamen Fehler, den einzigen der Kanonisten, den ersten des Sal- masius. Das weitere liegt dann einfach so: Die Kanonisten blieben im Unrecht, weil dieser Fehler ihr einziger war. Nachdem sie ihn begangen haben, fangen sie nämlich zur Unzeit an scharfsichtig zu sein und den vermeintlichen selbständigen Gebrauch der Darlehensgüter als eine Fiktion zu enthüllen. Damit fiel jedes Substrat weg, für das der Zins rechtlicher Weise hätte gegeben werden können und sie mußten ihn — falsch, aber konsequent — für ein Unrecht erkläien. 232 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik, Salmasius aber machte den ersten Irrtum, den er mit der Fiktion der Identität zwischen Kapitalempfang und Kapitabückzahlung begangen hatte, durch einen zweiten wieder gut, indem er auch die Fortsetzung jener Fiktion noch für bare Münze nimmt, und daran glaubt, daß der Schuldner während der ganzen Darlehensfrist den „Grebrauch" der ge- liehenen Güter besitzt. Die Wahrheit liegt abseits von beiden Konstruktionen. Das Dar- lehen ist ein wahrer Tausch gegenwärtiger gegen künftige Güter. Da aus Gründen, die im II. Bande ausführlich zur Darstellung gelangen werden, gegenwärtige Güter in aller Regel einen größeren Wert besitzen als künftige von gleicher Art und Zahl, so kann eine bestimmte Summe gegenwärtiger Güter in aller Regel auch nur durch eine größere Summe künftiger Güter erkauft werden. Gegenwärtige Güter bedingen ein Aufgeld, ein Agio in künftigen Gütern. Dieses Agio ist der Zins. Er ist nicht ein separates Äquivalent für einen undenkbaren separaten dauernden Gebrauch der Darlehensgüter, sondern ein aus praktischen Gründen abgesondertes Teiläquivalent der Darlehenssumme, deren volles Äquivalent erst die „Kapitalerstattung" nebst dem Zinse bildet^). — Meine bisherigen Auseinandersetzungen haben dem Nachweis ge- golten, daß eine selbständige Güternutzung in jener Gestalt, in welcher sie von der SAY-HERMANNSchen Richtung der Nutzungstheorie und nach ihrem Beispiel von fast allen Nationalökonomen der Gegenwart gedacht wird, nicht existiert. Es erübrigt noch der Nachweis, daß der Nutzung auch in jener wesentlich verschiedenen Gestalt, die Menger ihr zu geben versuchte, eine selbständige Existenz nicht zukommen kann. B. Kritik des MENGERschen Nutzungsbegriffes. Wählend die SAY-HERMANNsche Richtung die „reine Nutzung" als ein objektives von den Gütern sich loslösendes Nutzelement sich vorstellte, erklärt sie Menger als eine Verfügung, und zwar als „Verfügung über Quantitäten ökonomischer Güter innerhalb bestimmter Zeiträume" 2). Insoferne diese Verfügung für wirtschaftende Subjekte ein Mittel zur besseren und vollständigeren Befriedigung ihrer Bedürfnisse ist, gewinnt sie nach Mengers Anschauung den Charakter eines selbständigen Gutes, das gewöhnlich wegen seiner relativen Seltenheit zugleich ein wirtschaft- liches Gut sein wird^). ^) Die Keime dieser Anschauungsweise, die ich für die allein richtige halte, finden sich schon bei Galiani und Turgot (siehe oben S. 42 f. und 48), später bei Bentham imd John Rae (siehe unten Absch. XI), und in der neueren Zeit bei Knies, der freilich dieselbe später als irrig ausdrücklich zurückgenommen hat. *) Grundsätze S. 132ff. ») S. 132. Der Nutzungsbegriff Mengers. 233 Es scheint mir nun schon an sich eine sehr gewagte Konstruktion zu sein, die Verfügung über ein Gut, also ein Verhältnis zu einem Gute, selbst für ein Gut zu erklären. Ich habe an einem anderen Orte^) die Gründe ausführlich dargelegt, die mir es speziell unstatthaft erscheinen lassen, Verhältnisse als waire Güter im Sinne der Volkswirtschaftslehre anzu- erkennen. Ich möchte dem damals Gesagten hier nur wenige Bemerkungen beifügen. Man könnte geneigt sein, gegen meine Auffassung einzuwenden, und ich habe in der Tat dies einwenden gehört: Verhältnisse gewisser Art, wie z. B. Erwerbsgelegenheiten, Kundschaften u. dgl., können keine bloßen „Phantome" sein; denn man sehe aUe Tage ihre Realität daran, daß man sie verkaufen kann, daß ein Preis für sie gezahlt wird. Ich glaube, dieses Argument nimmt irrtümlich den Rang einer wirklichen Wahrnehmung, die allerdings etwas beweisen könnte, für eine bloße Auslegung in Anspruch, die für unsere Frage nichts beweisen kann. Ich wiU zunächst die Natur der unterlaufenen Irrung an einigen verwandten Beispielen zu illustrieren suchen, in denen sie leichter zu erkennen ist. Eis im Polarmeer ist wertlos-, Eis in New York ist wertvoll: ..Sehe" ich da nicht, daß die „Gegenwart" oder der „Ort" des Eises bezahlt wird? Mit Schlacke vermischtes Erz ist unbrauchbar; reines Metall ist brauchbar. „Sehe" ich nicht, daß eigentlich die „Reinheit" des Metalles den Hochofenbesitzern, die sie hervorbringen, bezahlt wird? Wird nicht ganz ebenso dem Holzschnitzfr, der aus einem wertlosen Stückchen Holz eine Statuette anfertigt, augenscheinlich die „Form", und dem Färber, welcher den Kattun indigoblau färbt, die „Farbe" des Kattuns bezahlt? Und wenn wir für „Ort", „Reinheit", „Form", „Farbe" einen Preis zahlen „sehen", ist damit nicht handgreiflich bewiesen, daß alle diese Kategorien keine bloßen „Phantome", sondern echte, reelle Güter und selbständige Wirtschaftsobjekte sein müssen? Man sieht leicht, wohin diese Schlußweise führt, und daß sie zu weit führt. Es ist auch nicht schwer, den trügerischen Punkt in dieser Schluß- weise aufzudecken. W^as man in diesen Beispielsfällen wirklich sieht, ist nur, daß ein reeller Preis für irgend ein Etwas bezahlt wird; daß aber dieses Etwas die abstrakten Kategorien von Ort, Form, Farbe, Reinheit usw., und nicht etwa die konkreten Güter Eis, MetaU, Statuette, Kattun seien, das sieht man keineswegs, sondern das deutet man subjektiv in den wahrgenommenen Vorgang hinein, und zwar mittels einer mehr oder weniger bildlichen Redewendung. Und ganz ebenso reicht in unserem Falle der Kundschaften u. dgl. der wirkliche Augenschein nicht weiter, als daß ein reeller Preis für irgend ein, und zwar in diesem Falle nicht ganz ^) Siehe meine „Rechte und Verhältnisse" pa^sim; besonders S. 124ff. 234 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. leicht zu bestimmendes Etwas bezahlt wird. Daß aber dieses verkaufte Etwas just und buchstäblich ein „Verhältnis", und nicht z. B. nach Analogie eines Hoffnungskaufes einfach die Summe der aus der Kundschaft er- hofften Gütergewinne sein solle, das „sieht" man nicht, sondern so deutet man nur den wahrgenommenen Vorgang aus. Ob diese Deutung richtig und zulässig ist, ob sie die Naturwahrheit für sich hat oder aber gleichfalls nur eine bildliche Redewendung darstellt; ist aber eben die Frage, welche aus allgemeineren wissenschaftlichen Erwägungen zu beantworten ist und die man nicht löst, sondern abschneidet, wenn man sich auf einen ver- meintlichen Augenschein beruft. Geht man aber der Sache bis zum letzten Grunde nach, so trifft man auf eine Frage von beinahe metaphysischem Charakter, die jedoch trotz dieses ihres Charakters glücklicherweise eine sehr bestimmte Entscheidung, wenigstens nach der hier in Betracht kommenden Seite, zuläßt. Es gibt Agentien, welche Erscheinungen hervorrufen. Über die wahre Natur dieser Agentien wissen wir nichts. Mit unseren Begriffen und unserer Sprache suchen wir von verschiedenen Seiten her an sie heranzukommen. Wir nennen bald die Dinge selbst (Stoff, Materie, Körper, Substanz), bald ihre Kräfte, bald ihre Eigenschaften, bald, dem ganz nahe verwandt, ihre Verhält-nisse. Ding, Kraft, Eigenschaft bedeutet gewiß keinen reellen Trialismus im Seienden, sondern nur drei verschiedene Anschauungsweisen desselben einen Seienden. Welche dieser Anschauungs- weisen die richtige ist (und selbst ob eine von ihnen die richtige ist), muß dahingestellt bleiben. Weder die Physik noch die Metaphysik weiß eine sichere Antwort. Aber eines ist doch sicher und einleuchtend: man darf aus der Existenz verschiedener subjektiver Anschauungs- und Ausdrucks- weisen nicht einen Beweis für die objektive Existenz mehrerer Gattungen von Seiendem ziehen wollen. Die Unentschiedenheit unserer Auffassung darf nicht als ein Beweis für eine reale Pluralität in den Gegenständen genommen werden. Man darf zweifeln, ob Stoffe, oder Kräfte, oder Eigenschaften und Verhältnisse das wahre Nützende an dem sind, was wir Güter nennen; aber aus dieser Ungewißheit in uns eine Gewißheit dafür ableiten wollen, daß es Stoffe und Kräfte und Eigenschaften und Verhältnisse als separate Realitäten gibt, ist ein Vorgang, dessen Unzu- lässigkeit in die Augen springt^). Würde es sich nun bloß darum handeln, daß wir bei der Inventari- sierung unserer Wohlfahrtsursachen oder Güter uns schwankender Namen für dieselbe Sache bedienen, so wäre dies ein geringes, leicht zu tolerierendes und vielleicht auch gar nicht zu vermeidendes Übel. Es wäre eine In- konsequenz in der Terminologie, aber keine materiell wahrheitsschädliche Lehre. Ich glaube, die Wissenschaft kommt öfters in die Lage, solche ^) Vgl. auch schon meine „Rechte und Verhältnisse" S. 34 Anmerkung 23. Der Nutzungsbegriff Mengers. 235 kleine termiDologische Inkonsequenzen dulden und selbst begehen zu müssen; schon deshalb, weil sie nicht eine vom Grund aus neue, voll- kommen exakte Sprache für sich erfinden kann und will und mit dem Ge- brauch der volkstümhchen Sprache wohl oder übel auch allerlei dieser im Blute liegende Ungenauigkeiten und Inkonsequenzen mit in den Kauf nehmen muß. Solche, ich möchte sagen, terminologische Schönheitsfehler muß und kann die Wissenschaft nicht immer abstellen, sondern sie tut ihnen gegenüber nötigenfalls schon ausreichend ihre Pflicht, wenn sie nur gleichsam ein Warnungszeichen aussteckt, indem sie sich die Inkorrektheit als solche zum Bewußtsein bringt und sich zugleich sorgfältig hütet, an ihr auch im Ernstfall festzuhalten ; das ist dort, wo nicht bloß die bequeme, sprachliche Benennung des Gegenstandes, sondern das Ziehen sachlicher Konsequenzen aus seiner wahren Natur in Frage kommt. In diesem Sinne habe ich seinerzeit meine Untersuchungen über die angebhche Gutsnatur der Rechte und Verhältnisse mit dem Zugeständnis, abgeschlossen, daß nicht nur die Praxis, sondern auch die Theorie ruhig fortfahren solle, an dem eingebürgerten, wenn auch inkorrekten Sprachgebrauch, der jene Kategorien zu Gütern erhebt, für gewöhnlich festzuhalten, und daß sie sich nur die exakte Wahrheit überhaupt klar machen solle, um sie allemal dann aus der Rüstkammer hervorzuziehen, wann und wo Schärfe nottut ^). Eigentlich liegt ja eine terminologische Inkonsequenz selbst schon darin, daß man, wie auch ich es tue, die beiden Kategorien von Sach- gütern und sachlichen Nutzleistungen nebeneinander nennt und an- erkennt. Es wäre konsequenter und vielleicht auch richtiger, statt der Sachgüter „Nutzleistungssummen" in das Güterinventar einzustellen; oder umgekehrt, falls man an der Kategorie der Sachgüter festhalten will, die Nutzleistungen ihnen als ,,Sachgüterteile" gegenüberzustellen. Allein beides stößt auf Inkonvenienzen. Einerseits läßt sich unsere Auffassung und Sprache die Körper selbst, die Sachgüter, am allerwenigsten als Realitäten rauben, zumal ja auch der längst und fest geprägte terminus „Güter" in erster Linie auf Dinge oder Substanzen abzielt; andererseits aber entsprechen die Nutzleistungen, welche die Sachgüter abgeben, keineswegs bestimmten ausgeschiedeneu Teilen des Gutskörpers; sie sind kleinere wirtschaftliche Einheiten als das „Sachgut", aber sie sind nicht buchstäblich Teile des Gutskörpers. Unter diesen Umständen erscheint es als die kleinste Inkonvenienz, eine schillernde Terminologie anzuwenden und die Benennung des Ganzen einer anderen Vorstellungskategorie zu entnehmen als die seiner Teüe, dabei aber das wahre, sachliche Verhältnis beider Kategorien zu einander durch eine ausdrückliche Erläuterung fest- zulegen; nämlich festzustellen, daß Sachgüter und Nutzleistungen nicht zwei verschiedene, nebeneinander bestehende und wirkende Arten von 1) Rechte und Verhältnisse S. 148f. 236 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. Wohlfahrtsursachen, sondern dieselben Arten von Wohlfahrtsursachen darstellen, die nur abwechselnd in verschiedener Quantität, bald als Ganzes, bald als Teil, oder wenn man lieber will, bald als Summe, bald als einzeln^ Einheit ins Auge gefaßt werden. Wenn man unter Beob- achtung dieser Vorsicht sowohl Sachgüter als „Nutzleistungen" „Güter" nennt, so begeht man eine Inkonsequenz, die nicht schlimmer und auch nicht schädlicher ist, als wenn ein Kaufmann bei Aufstellung seiner nach Kategorien von Aktivposten geordneten Vermögensbilanz einen Teil der in seinem Besitz befindlichen Banknoten, vielleicht die kleinen Appoints, die im täglichen Verkehr als Zirkulationsmittel zu dienen pflegen, in die Rubrik „Bargeld", und einen anderen Teil, vielleicht eine 10000 Pfund- Note, die er besitzt, in die Rubrik „Forderungen" einstellt. Man wird dem Manne allenfalls einwenden können, daß seine Rubrizierung von anfechtbarer Konsequenz, aber gewiß nicht, daß seine Bilanz deshalb falsch ist. Ganz anders aber natürlich, wenn unser Kaufmann durch die schillernde Zwitternatur der Banknote, die sich aus einem gewissen Gesichtspunkt als „Bargeld", und aus einem anderen als „Forderung" auffassen läßt, sich dazu verleiten ließe, eine und dieselbe Banknote sowohl als Bargold, als auch als Forderung, also zweimal in seine Vermögensbilanz einzustellen: das wäre keine harmlose terminologische Inkonsequenz mehr, sondern eine sachlich falsche Bilanz. Gerade um eine solche sachliche Bilanzfrage handelt es sich aber, wenn für die Zwecke einer Nutzungstheorie die Existenz eines selbständigen Verhältnisgutes „Verfügung" behauptet wird. Denn die Argumentation geht ja hier geradezu dahin, daß im Sachgut selbst und in der Verfügung darüber zwei verschiedene Güter neben- einander aufgeopfert werden und daher auch in der Kostenbilanz der Produktion nebeneinander als zwei separate Posten aufgerechnet werden müssen. Hiemit scheint mir allerdings für das Verfügungsverhältnis die Gutsnatur in jenem denkbar ernstesten und weittragendsten Sinne ange- sprochen zu werden-, gegen welchen sich die oben vorgetragenen prin- zipiellen Bedenken am entschiedensten kehren. Um so schweren inneren Bedenken das Gleichgewicht zu halten, müßten der MENOERSchen Hypothese sehr schwerwiegende positive Anhaltspunkte zur Seite stehen. Ich zweifle, daß dies in ausreichendem Maße der Fall ist. Von einem direkten Beweise, etwa von einer sinnlichen Überführung davon, daß die Verfügung wirklich ein Gut ist, kann bei dem eigentümlichen Charakter des Beweisthemas natürlich von vornherein nicht die Rede sein. Es kann sich nur daium handeln, ob jene Hypothese durch ein Zusammentreffen ausreichend zahlreicher und bezeichnender indirekter Anhaltspunkte beglaubigt wird. Und das muß ich bezweifeln. Es scheint mir nämlich, daß es eigentlich bloß einen einzigen indirekten Anhaltspunkt für jene Hypothese gibt; und dieser ist die Existenz des Der Nufczungsbegriff Mengers. 237 sonst unerklärten Mehrwertes. Ähnlich wie Astronomen aus gewissen sonst unerklärlichen Störungen der Bahnen bekannter Planeten auf die Existenz störender noch unbekannter planetarischer Körper geschlossen haben, ebenso postuliert Menger die Existenz eines Trägers des sonst unerklärten Mehrwertes. Und da ihm die Verfügung über Güterquantitäten während bestimmter Zeiträume in einem gesetzmäßigen Zusammenhange mit dem Auftreten und der Größe des Mehrwertes zu stehen scheint, steht er nicht an, die Hypothese aufzustellen, daß diese Verfügung der gesuchte Träger und als solcher ein selbständiges Gut von selbständiger Wesenheit sei. Würde dem ausgezeichneten Denker die Möglichkeit einer anderen Erklärung vor Augen gestanden sein, so bin ich überzeugt, daß er auf die Aufstellung jener Hypothese ohne weiteres verzichtet hätte. Ist nun jener einzige indirekte Anhaltspunkt für die selbständige Gutsqualität der „Verfügung" zwingender Natur? Ich habe zwei Gründe, diese Frage zu verneinen. Ich hoffe einerseits im nächsten Bande den Nachweis zu erbringen, daß sich die Mehrwert- erscheinung auch ohne diese Hypothese in vollkommen befriedigender Weise erklären läßt — und zwar erklären läßt in Bahnen, welche Menger selbst durch seine klassische Werttheorie gewiesen hat — ; und ich will andererseits dem Leser sofort einige Betrachtungen vorlegen, die meines Erachtens einen zwingenden Gegenbeweis gegen die selbständige Guts- natur der fraglichen „Verfügung" darstellen. Im Sinne der MENGERschen Theorie ist das Darlehen als eine Über- tragung von Güterverfügungen anzusehen. Die Quantität des über- tragenen Gutes „Verfügung" ist dabei natürlich desto größer, je länger die Darlehensfrist läuft. In einem Darlehen auf zwei Jahre wird mehr Verfügung als in einem Darlehen auf ein Jahr, in einem Darlehen auf drei Jahre mehr Verfügung als in einem Darlehen auf zwei Jahre usf., in einem Darlehen auf hundert Jahre eine nahezu unbegrenzte Menge von Ver- fügung übertragen. Würde endlich die Kückerstattung des Kapitales nicht bloß sehr weit hinausgeschoben, sondern gänzlich aufgehoben, so würde vollends eine wahrhaft unbegrenzte Menge von Verfügung auf den Empfänger übergehen. Dies wird z. B. der Fall sein, wenn eine Güter- summe nicht dargeliehen, sondern geschenkt wird. Es fragt sich nun, wie viel an Wert empfängt in einem solchen Falle der Beschenkte? — Es kann kein Zweifel sein, daß er so viel empfängt, als die geschenkte Sache Kapitalswert besitzt. — Und der Wert der mitgeschenkten immerwährenden Verfügung? — Ist offenbar in dem Kapitalswert der Sache selbst inbegriffen. Daraus schließe ich nun — und ich glaube gewiß keinen Trugschluß zu begehen — : wenn das Plus, nämlich der Wert der immerwährenden Verfügung, im Kapitalwerte des Gutes selbst inbegriffen ist, so muß auch das darin enthaltene Minus, die temporäre Verfügung über ein Gut, im Werte des Gutes selbst inbegriffen 238 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik, sein; die temporäre Verfügung kann also nicht in der Art, in der Menger es annimmt, ein selbständiger Wertträger neben dem Werte des Gutes an sich sein^). IL Beweisthema. Daß aiich unter der Voraussetzung, daß die Hypothese von der Existenz einer selbständigen reinen Nutzung richtig ist, die Nutzungstheorie z%i keiner befriedigenden Erklärung des Kapitalzinses führen Tcann. Ich glaube erwiesen zu haben, daß jene Nutzung, deren selbständige Existenz die Nutzungstheorie als Tatsache annimmt, in Wahrheit nicht existiert. Allein auch wenn sie existieren würde, vermöchte man mit ihrer Hilfe die tatsächUchen Zinserscheinungen nicht befriedigend zu erklären. Ich hoffe diese These mit Aufwand von wenigen Worten erweisen zu können. Die Nutzungstheorie wird durch ihren eigentümlichen Erklärungs- gang darauf geführt, zwischen einem Werte, den die Güter an sich haben, und einem Werte, den die Güternutzung hat, zu unterscheiden. Sie geht dabei überall von der stillschweigenden Voraussetzung aus, daß der gewöhnliche Schätzungs- oder Kaufwert, den ein Kapitalgut erzielt, den Wert des Gutes an sich, ausschließlich des Wertes seiner Nutzung, repräsentiert: denn die Mehrwerterklärung basiert ja eben darauf, daß der Wert der Nutzung als ein neues Element zum Wert der Kapital- substanz hinzutritt und erst mit diesem zusammen den Wert des Produktes erfüllt. Diese Voraussetzung steht aber mit den tatsächlichen Erscheinungen der Wirtschaftswelt in Widerspruch. Es ist bekannt, daß eine Obligation einen dem vollen Kurswerte gleichkommenden Kaufpreis nur dann erzielt, wenn sie mit allen zuge- hörigen Koupons versehen ist; mit anderen Worten, wenn dem Käufer zugleich die Verfügung über alle ihre künftigen „Nutzungen" — um im ^) Noch drastischer kann man vielleicht das Inbegriffensein des Wertes der Ver- fügung im Gutswert erweisen, wenn man den Fall des Beispieles etwas variiert. Nehmen wir an, A leiht dem B eine Sache zuerst unverzinslich auf 20 Jahre, schenkt ihm also das Gut ,, Verfügung auf 20 Jahre"; und dann, ein paar Tage nach dem Abschluß des Darlehensvertrages, schenkt er ihm die Sache selbst. Hier hat er in zwei Akten die zwanzigjährige Verfügung und die Sache selbst geschenkt. Würde die Verfügung ein Ding von selbständigem Werte neben der Sache selbst sein, so müßte der Gesamtwert des Geschenkes offenbar den Wert der Sache selbst übersteigen: was ebenso offenbar nicht der Fall ist. — Legt man sich aber die Sache so zurecht, daß die nachträgUch geschenkte Sache, von welcher die zwanzigjährige Verfügung schon abgetrennt war, nicht mehr ihren vollen ursprünglichen Sachwert, sondern nur einen um den Wert der abgetrennten Verfügung verringerten Wert hatte, so gesteht man damit erst recht zu, daß die Verfügung mit ihrem Werte nicht, wie Mengers Theorie postuliert, außer- halb, sondern höchstens innerhalb der Sache und des Sachwertes gestanden sein kann. Die Nutzungstheorie unzulänglich. 239 Stile der Nutzungstheoretiker zu reden — mit übertragen wird. Fehlt dagegen ein oder der andere Koupon, so wird der Käufer allemal an dem Preise, den er für die Obligation zahlt, einen entsprechenden Abzug machen. Eine analoge Erfahrung kann man auch bei allen anderen Gütern machen. Behalte ich mir beim Verkaufe eines Landgutes, das sonst einen Kauf- wert von 100000 fl. hätte, die Nutzung desselben durch ein oder mehrere Jahre vor, oder verkaufe ich ein eben solches Landgut, das etwa vermöge eines Legates mit einem mehrjährigen Fruchtgenußrechte eines Dritten behaftet ist, so ist kein Zweifel, daß der für das Landgut erzielbare Preis hinter dem Betrage von 100000 fl. um eine Summe zurückbleiben wird, die den vorbehaltenen oder einem Dritten gehörigen „Nutzungen" entspricht. Diese Tatsachen — die sich beliebig vervielfältigen ließen — lassen meines Erachtens nur eine Auslegung zu: daß nämlich der gewöhn- liche Schätzungs- oder Kaufwert der Güter nicht bloß den Wert der Güter „an sich", sondern auch schon jenen ihrer künftigen „Nutzungen" — falls solche existieren — um- schließti). ^) Margolin, Kapital und Kapitalzins, Berlin 1904, S. 104, meint, ich hätte bei dieser Argumentation ,, merkwürdigerweise" außer acht gelassen, daß beim Kaufe ein beiderseitiger Austausch von Gütern stattfinde, daß das eingetauschte Gut ebensowohl wie das ausgetauschte die weitere Benützung als Kapitalgut zulasse und daß darum im FaUe des Kaufes auch keiner der beiden Kontrahenten die Möglichkeit der Benutzung des eingetauschten Gutes als Kapitalgut besonders zu vergüten brauche. Ich kann erwidern, daß ich auch dieses Gegenargument mir schon bei der Niederschrift der ersten Auflage dieses Werkes als denkbar ausdrücklich vor Augen, eine vorbeugende Abwehr aber deshalb für unnötig gehalten hatte, weil es mir aUzu unwahrscheinlich schien, daß jemand dasselbe im Ernste werde vertreten wollen. Es führt nämlich einerseits durchaus nicht aus allen oben geschilderten Verlegenheiten der Nutzungstheorie heraus, dafür aber andererseits in die gekünsteltsten, um nicht zu sagen abstrusesten Konstruk- tionen der einfachsten Verkehrsvorgänge hinein. Nur ein Fingerzeig statt vieler. Zu- nächst müßte man in Mabgolins Sinne schon in jedem Kauf ein Doppelgeschäft er- blicken, in dessen einer Hälfte Güter gegen Güter, in dessen anderer Hälfte aber Ewig- nutzungen gegen Ewignutzungen vertauscht werden, wobei nur dann, wenn auf der einen Seite, z. B. wegen eines fehlenden Koupons oder einer vorbehaltenen zeitlichen Nutzung an der Ewignutzung etwas fehlt, eine Kompensation durch eine Extrazahlung geleistet werden müßte. Aber nicht genug an dem: wenn hier oder sonst Nutzungen gegen Güter vertauscht oder mit Gütern bezahlt werden, so würde es ja wieder für die an letzteren hängenden Ewignutzungen an einem Äquivalent fehlen, wenn Margolin nicht unerschrocken weiter postuliert, daß auch auf der anderen Seite, an den durch Güter vergoltenen Nutzungen selbst wieder eine ebensolche Kette von Ewignutzungen hänge, die das Äquivalent jener bilde; dann müßte aber natürlich dasselbe auch wieder von den Nutzungen dieser Nutzungen und so weiter fort ohne Ende gelten, d. h. man müßte annehmen, daß an jedem einzelnen Gliede jeder endlosen Nutzungsreihe wieder eine ebensolche endlose Nutzungsreihe hängt, und an jedem Ghede dieser abermals und so ohne jedes Ende fort; und wir kämen schheßlich dazu, jeden simpelsten Tausch- akt uns als die Übertragung endloser ineinander geschachtelter Welten von Ewig- nutzungen vorstellen und ausdeuten zu müssen — und dies mit allen den unentkräfteten logischen und tatsächlichen Bedenken im Rücken, welche gegen die Realität solcher 240 VIII. Die Nutzungstheorien. 2. Unterabschnitt. Kritik. Damit versagt aber die Nutzung eben jenen Erklärungsdienst, den die Nutzungstheorie von ihr erwartet. Diese will die Tatsache, daß der Wert eines Kapitales von 100 fl. in seinem Produkte auf 105 fl. anschwillt, damit erklären, daß ein neues selbständiges Element im Werte von 5 fl. hinzugekommen ist. Diese Erklärung verschließt sich in dem Momente, als die Nutzungstheorie anerkennen muß, daß im Kapitalwerte von 100 fl. die künftige Nutzung selbst schon mitberücksichtigt und mitenthalten war. Mag man die Existenz solcher Nutzungen immerhin zugestehen, so wird dadurch das Rätsel des Mehrwertes nicht gelöst, sondern nur seine Frageform ein wenig verschoben. Sie wird jetzt lauten: wie kommt es, daß der Wert der Elemente eines Kapitalproduktes, Kapitalsubstanz und Kapitalnutzungen, die vorher zusammen 100 fl. wert waren, während des Produktionsverlaufes auf 105 fl. anschwillt? — Ja, die Zahl der Rätsel ist jetzt sogar gewachsen; denn zu dem ersten Rätsel, das die Natur der Erscheinungen jeder Zinstheorie aufgibt, und das da lautet: warum schwillt der Wert der Elemente um den Mehrwert? hat die Nutzungstheorie noch ein selbstgeschaffenes zweites Rätsel hinzu- gefügt: auf welche Weise kombinieren die künftigen Nutzungen eines Gutes zusammen mit dem Werte des „Gutes an sich" den gegenwärtigen Kapitalwert des Gutes? — und das ist ein Rätsel, dessen dornenvolle Lösung kein Nutzungstheoretiker auch nur versucht hat. So endet die Nutzungstheorie vor mehr Rätseln, als sie vorgefunden hatte. Wenn es aber der Nutzungstheorie auch nicht geglückt ist, ihr Ziel vollends zu erreichen, so hat sie doch mehr als irgend eine andere Zins- theorie dazu beigetragen, die Wege zum Ziele zu ebnen. Während gar manche andere Theorie auf völlig unfruchtbaren Pfaden umherirrte, gelang es der Nutzungstheorie, manche hochwichtige Erkenntnis zu pflücken. Ich möchte sie mit gewissen älteren naturwissenschaftlichen Theorien vergleichen: mit jener altertümlichen Verbrennungstheorie, die mit dem mystischen Elemente „Phlogiston", mit jener älteren Wärme- theorie, die mit einem „Wärmefluidum" operierte. Phlogiston und Fluidum erwiesen sich als fabelhafte Wesen, nicht anders als sich die „reine Nutzung" als ein solches erweist. Aber das Symbol, mit dem man einstweilen die störende Lücke füllte, in der ein noch unerkanntes Etwas stand, half doch ähnlich, wie das in unseren Gleichungen mitgeführte x, eine Menge wertvoller Beziehungen und Gesetze entdecken, die sich um jenes unbe- kannte Etwas drehen. Es bezeichnete die Wahrheit noch nicht, aber es half sie bringen. ,, Nutzungen" überhaupt sprechen l Es kam mir deshalb einigermaßen überraschend, daß in unseren Tagen auch ein Autor wie Oswalt Marqolins Konstruktion Beifall zollen und dabei noch meinen konnte, eine mit solchen Vorstellungen arbeitende Theorie sei ,, einfach" und „natürhch" und die „Scholastik" in einem anderen Lager zu suchen l IX. Die Abstinenztheorie. Als Begründer der Abstinenztheorie ist N. W. Senior anzusehen. Er hat sie zuerst in seinen an der Universität Oxford gehaltenen Vor- lesungen, später in seinen Outlines of the Science of Political Economy^) niedergelegt. Um Seniors Abstinenztheorie richtig zu würdigen, müssen wir uns für einen Augenblick den Zustand vergegenwärtigen, in dem sich die Doktrin des Kapitalzinses zu Anfang der dreißiger Jahre in England befand. Die Häupter der modernen Richtung in der National-Ökonomie, Smith und Ricardo, hatten, ersterer mit geringerer, letzterer mit größerer Bestimmtheit, die Arbeit für die alleinige Quelle alles Güterwertes erklärt. Ene konsequente Durchführung dieses Gedankens konnte für die Er- scheinung des Kapitalzinses überhaupt keinen Raum lassen. Dennoch bestand der Zins als Tatsache und übte einen unleugbaren Einfluß auf den relativen Tauschwert der Güter. Smith und Ricardo nehmen von dieser Ausnahme des „Arbeitsprinzipes" Notiz, ohne ernstlich zu ver- suchen, weder die störende Ausnahme mit der Haupttheorie zu versöhnen, noch sie durch ein selbständiges Prinzip zu erklären. So bildet der Kapital- zins bei Smith und Ricardo eine prinzipwidrige unerklärte Ausnahme. Das begann die nachfolgende literarische Generation zu empfinden und sie machte den Versuch, den Einklang zwischen Theorie und Wirklich- keit herzustellen. Auf zwei verschiedenen Wegen. Ein Teil suchte die Wirklichkeit der Theorie zu accomodieren; sie hielten das Prinzip, daß die Arbeit allein den Wert schaffe, unverändert aufrecht und mühten sich ab, auch den Kapitalzins als Erfolg und Lohn von Arbeit hinzustellen, was natürlich schlecht genug gelang. Die wichtigsten Vertreter dieser Richtung sind James Mill und McCulloch^). Ein anderer Teil verstand sich — richtiger — dazu, die Theorie der Wirklichkeit zu accomodieren. Auch dies geschah in mehrfacner Weise. Lauderdale erklärte das Kapital für produktiv, fand aber bei seinen Landsleuten wenig Anklang, weü ^) Separatabdruck aus der Encyclopaedia Metropolitana, London 1836. Ich zitiere nach der 6. Auflage, London 1863. 2) Siehe oben S. 86ff., und unten Abschnitt X. Böhm -Ba werk, Kapitalzins. 4. Aafl. 16 242 IX. Die Abstinenztheorie. diese — schon seit Locke — sich mit dem Gredanken, daß das Kapital selbst aus Arbeit hervorgeht, viel zu tief vertraut gemacht hatten, um einer Anerkennung des Kapitales als selbständiger Produktivkraft zu- gänglich zu sein. Andere wieder, Malthus an der Spitze, ergriffen den Ausweg, daß sie den Kapitalgewinn neben der Arbeit für einen Bestandteil der Produktionskosten erklärten. Hiemit war wenigstens formell die Zinserscheinung mit der herrsehenden Werttheorie in Harmonie gebracht: Die Kosten, sagte man, regieren den Wert; zu den Kosten gehört auch der Kapitalzins; folglich müssen die Produkte einen genug hohen Wert haben, um außer der Vergütung der Arbeit auch noch einen Kapitalgewinn übrig zu lassen. Materiell freilich ließ diese Erklärung alles zu wünschen übrig. Denn es war allzu deutlich, daß der Kapitalgewinn ein Überschuß über die Kosten und nicht ein Bestandteil derselben, ein Erfolg und nicht ein Opfer sei. So konnte keine der wissenschaftlichen Positionen, die man damals in der Zinstheorie einnahm, recht befriedigen; jede hatte ihre Anhänger, aber noch zahlreichere Gegner, denen die empfindlichen Schwächen der vorgetragenen Lehre eine willkommene Gelegenheit zu ihrer Bekämpfung gaben; eine Gelegenheit, die denn auch reichlich ausgenützt wurde. Die eine Partei mußte sich mit vernichtender Logik sagen lassen, daß ein Überschuß keine Ausgabe ist, die andere mußte ihre Behauptung ins Lächerliche gezogen sehen, daß der Wertzuwachs, den ein Faß Wein durch Abliegen im Keller erfährt, auf Arbeit zurückzuführen sei. Und während so zwei Parteien über die richtige Begründung des Kapitalzinses im Streite lagen, begann sich, wenn auch erst nur leise, eine dritte hörbar zu machen, welche den Kapitalzins für gar nicht begründet, für eine Beeinträchtigung der Arbeiter erklärte^). In dieser unruhigen und unfruchtbaren Brandung der Meinungen trat nun Senior mit einer Lehre auf, in der er ein neues Prinzip des Kapitalzinses proklamierte: er soll eine Vergütung der Enthaltung des Kapitalisten (reward for abstinence) sein. Vereinzelte Anklänge an diesen Gedanken waren wiederholt schon vor Senior aufgetaucht. Entferntere Spuren desselben können wir in den öfters wiederkehrenden Bemerkungen von Smith und Ricardo erblicken, d£iß der Kapitalist einen Zins erhalten müsse, weil er sonst kein Motiv zur Bildung und Bewahrung des Kapitales hätte; sowie in der hübschen Gegenüberstellung des „künftigen Gewinnes" zum „gegenwärtigen Genüsse",, die sich an einer anderen Stelle des SniTHschen Werkes findet 2), Deut- lichere Anklänge bringt namentlich der Deutsche Nebenius und der Engländer Scrope. ^) Seit dem Auftreten Gouwins, Thompsons und anderer; siehe unten im Ab- schnitt XII. •) Siehe oben S. 62f. Seniors Vorläufer. Nebenius. Scrope. 243 Nebenius stützt die Erklärung des Tauschwertes der Dienste der Kapitalien unter anderem darauf, daß die „Kapitalien nur durch mehr oder weniger schmerzliche Entbehrungen oder Anstrengungen gewonnen werden, denen man sich zu unterziehen nur durch einen ange- messenen Vorteil veranlaßt sein kann". Allein er gibt diesem Gedanken keine weitere Ausbildung, sondern zeigt sich der Hauptsache nach als Anhänger einer in die Produktivitätstheorie hinüberspielenden Nutzungs- theorie i). Noch direkter streift Scrope 2) jenen Gedanken. Nachdem er vorher auseinandergesetzt hat, daß dem Kapitalisten über den Ejsatz des in der Produktion verzehrten Kapitales selbst noch etwas Mehreres (some surplus) übrig bleiben müsse, weil es nicht der Mühe wert wäre, sein Kapital produktiv anzuwenden, wenn man dadurch nichts gewinnen könne, erklärt er (S. 146) ausdrücklich: „Der Gewinn, den der Eigentümer eines Kapitales aus dessen produktiver Beschäftigung zieht, ist im Lichte eines Lohnes zu betrachten dafür, daß er sich für einige Zeit der Verzehrung jenes Teiles seines Eigentumes zu seinem persönlichen Ge- nüsse enthält." Im folgenden wendet er freiüch diesen Gedanken so, als ob eigentlich die „Zeit" den Gegenstand des Opfers des Kapitahsten bildete, polemisiert lebhaft gegen McCulldch und James Mill, welche die Zeit für ein bloßes Wort, für einen leeren Schall erklärt hatten, der nichts tun könne und nichts sei, und steht sogar nicht an, die Zeit für einen Bestandteil der Produktionskosten zu erklären: „Die Produktions- kosten eines Artikels umfassen erstens die Arbeit, das Kapital und die Zeit (!), die man bedarf, um jenen zu erzeugen und auf den Markt zu bringen . . ."'). Sentor hat nun denselben Gedanken, bei dessen flüchtiger Berührung seine genannten Vorläufer es bewenden ließen, zum Mittelpunkt einer wohl ausgebildeten Zinstheorie gemacht, der man, wie immer man auch über die Eichtigkeit ihrer Ergebnisse denken mag, die Anerkennung nicht wird versagen können, daß sie sich unter dem theoretischen Wirrwarr der damaligen Zeit durch systematische Geschlossenheit, imponierende Kon- sequenz und vertiefende Behandlung des Stoffes auf das vorteilhafteste auszeichnete. Ein Auszug der Lehre wird dieses Urteil bestätigen. Senior unterscheidet zwei „primäre" Produktionsinstrumente, Arbeit und Naturkräfte. Diese können aber nicht zu voUer Wirksamkeit gelangen, wenn sie nicht durch ein drittes Element unterstützt werden. Als dieses dritte Element bezeichnet Senior die Enthaltung (abstinence), worunter er das „Benehmen einer Person" versteht, „die entweder sich des un- produktiven Gebrauches der ihr verfügbaren Mittel enthält, oder die ^) Siehe oben S. 176 f. ») Principles of Political Economy, London 1833. ») S. 188. 16* 244 IX. Die Abstinenztheorie. Hervorbringung entfernter Produktionserfolge jener von unmittelbaren Erfolgen absichtlich vorzieht" (S. 58). Fein und geistvoll motiviert Senior, warum er nicht, wie man ge- wöhnlich zu tun pflegt, das Kapital als drittes Produktionselement nennt. Das Kapital ist nämlich kein einfaches, ursprüngliches Instrument; es ist in den meisten Fällen selbst das Resultat des Zusammenwirkens von Arbeit. Naturkräften und Enthaltung. Will man daher das eigentümliche, von den Produktivkräften Arbeit und Natur verschiedene Element nennen, das im Kapitale wirksam wird und das zum Kapitalgewinn in eben dem Verhältnisse steht, wie die Arbeit zum Arbeitslohne, so darf man nichts anderes als die Enthaltung nennen (S. 59). Über die Art und Weise, in der das Element „abstinence" an der Kapitalbildung und damit mittelbar an den Produktionserfolgen teil- nimmt, gibt Senior wiederholt ausführliche Illustrationen, von denen ich eine der kürzesten im Wortlaute vorführen will. „In einem vorgeschrittenen Zustande der menschlichen Gesellschaft ist das gemeinste Gerät das Resultat der, Arbeit vergangener Jahre, vielleicht vergangener Jahr- hunderte. Das Werkzeug eines Zimmermanns gehört zu den einfachsten, die uns begegnen können. Aber welch' eine Aufopferung von gegen- wärtigem Genüsse mußte der Kapitalist auf sich nehmen, der zuerst das Bergwerk aufschloß, dessen Erzeugnis die Nägel und der Hammer des Zimmermanns sind! AVie viel auf entfernte Erfolge gerichtete Arbeit mußte von jenen aufgewendet werden, welche die Werkzeuge formten, mit denen das Bergwerk bearbeitet wurde! In der Tat, . . . wir können den Schluß ziehen, daß es nicht einen einzigen Nagel gibt . . ., der nicht bis zu einem gewissen Grade das Resultat einer auf entfernte Erfolge gerichteten Arbeit, oder, in unserer Ausdrucksweise, einer Enthaltung ist, der man sich vor der Eroberung^ oder vielleicht noch vor der Heptarchie unterzogen hat" (S. 68). Das „Opfer", das im Genußverzicht oder Genußaufschub liegt, er- heischt nun eine Entschädigung. Diese liegt im Kapitalgewinn. Aber wieso — muß man fragen — ist der Kapitalist imstande, den moralischen Anspruch auf Entschädigung, den er allenfalls hat, in der Wirtschaftswelt auch durchzusetzen? — Die Antwort auf diese wichtige Frage gibt Senior in seiner Preistheorie. Der Tauschwert der Güter hängt nach ihm ab teils von der NützHch- keit der Güter, teils von der Beschränktheit des Angebotes (limitation of suppiy) derselben. Bei der Mehrzahl der Güter (ausgenommen sind jene, bei denen irgend ein natürliches Monopol ins Spiel kommt) besteht die Schranke des Angebotes nur in der Schwierigkeit Personen zu finden, die bereit sind, die zu ihrer Erzeugung nötigen Kosten aufzuwenden. Indem die Produktionskosten so die Größe des Angebotes bestimmen, werden sie der Regulator des Tauschwertes und zwar zunächst in der Art, Die Theorie Seniors. 245 da£ die Produktionskosten des Käufers, das ist das Opfer, mit welchem der Käufer die Güter selbst erzeugen oder sich verschaffen könnte, die Obergrenze, die Produktionskosten des Verkäufers die Untergrenze des Tauschwertes büden. Beide Grenzen nähern sich aber bei jener Mehrzahl der Güter, die der freien Konkurrenz unterliegen. Bei ihnen bilden also die Produktionskosten eine einlache wertbestimmende Größe. Die Produktionskosten bestehen aber aus der Summe der Arbeit und der Enthaltung, die zur Produktion von Gütern erforderlich ist. Mit diesem Ausspruch ist der theoretische Zusammenhang der Zins- und Preislehre hergestellt. Wenn das Opfer „Enthaltsamkeit" ein Bestandteil der Produktionskosten ist und diese den Güterwert regeln, so muß letzterer allemal groß genug sein, um eine Vergütung der Enthaltsamkeit übrig zu lassen; damit ist der Mehrwert der Kapitalprodukte und damit der ursprüngliche Kapitalzins formell erklärt. Mit den letzten Ausführungen verbindet Senior eine Kritik der Zinstheorie einiger seiner Vorgänger, die geradezu mustergiltig genannt zu werden verdient. Er deckt unter anderem in schlagender Weise den Mißgriff auf, den Malthus mit der E^inführung des Kapitalgewinnes unter die Kosten begangen hat. Er begnügt sich aber nicht, ihn zu tadeln, sondern klärt auch sehr hübsch die Art und Weise auf, wie Malthus zu seinem Mißgriff gekommen. Malthus habe richtig empfunden, daß es außer der Arbeit noch ein anderes in der Produktion zu bringendes Opfer gebe; da er aber keinen Ausdruck zur Bezeichnung desselben gehabt habe, habe er es mit dem Namen seiner Vergütung benannt, ähnlich wie manche andere den Arbeitslohn, der die Vergütung für das Arbeitsopfer ist, statt der Arbeit selbst als Kostenbestandteil nennen. Torrens hinwieder, der Malthus gleichfalls schon dessen Fehler vorgeworfen, habe selbst eine Unterlassungssünde begangen. Er habe mit Kecht den „profit" aus den Produktionskosten eliminiert, aber die Lücke durch gar nichts auszufüllen gewußt. Da die erste Formulierung, welche die Abstinenztheorie durch Senior empfangen hat, auch die beste geblieben ist^), werden wir uns unser kritisches Urteil über die ganze Richtung am zweckmäßigsten an der SENioRschen Theorie bilden können. Ehe ich meine eigenen Ansichten hierüber darlege, scheint es mir passend, mit ein paar Worten einiger anderer Kritiken zu gedenken, die in unserer Wissenschaft eine weite 1) Erst in der allerneuesten Zeit hat Marshall einige Nuancen hinzugefügt, welche vielleicht als eine Verbesserung der Formulierung angesehen werden können; sie betreffen aber nicht so sehr den charakteristischen Kern der Zinstheorie selbst, als vielmehr nur die Preistheorie, in welche die Zinstheorie eingeschaltet wird. Das Crenauere siehe unten in dem die neueste Zinsliteratur behandelnden Anhang dieses Bandes. 246 IX. Die Abstinenztheorie. Verbreitung gefunden haben und in denen, wie ich glaube, die SENioRsche Lehre viel zu hart beurteilt worden ist. So hat, um mit einem der Zeit nach uns näher stehenden Urteile zu beginnen, Pierstorff in seiner verdienstvollen „Lehre vom Unternehmer- gewinn" ^) sich in äußerst abfälligen Worten über Seniors Theorie ge- äußert. Er geht so weit zu erklären, daß Seniors Weise gegenüber der Anschauungsweise seiner Vorgänger eine Entartung, einen Verzicht auf ernste wissenschaftliche Untersuchung bezeichne und er imputiert Senior, „die wirtschaftlichen Gründe der Erscheinungen durch eine für das Be- dürfnis zugeschnittene Wirtschafts- und Sozialtheorie" ersetzt zu haben. Ich muß gestehen, daß ich diese Äußerung kaum begreife, zumal im Munde eines Dogmenhistorikers, der auch bloß relative Vorzüge zu würdigen wissen sollte. Senior ist im Gegenteile seinen Vorgängern in der Zinslehre an Vertiefung, Systematik und wissenschaftlichem Ernst unendlich über- legen. Auf Ricardo oder Malthüs, auf einen McCulloch und James MiLL mag es passen, wenn man ihre Weise einen Verzicht auf ernste wissen- schaftliche Untersuchung des Zinsproblems nennt. Sie stellen das Problem teils gar nicht auf, teils lösen sie es mit einer offenbaren petitio principii, teUs mit sonderbaren Abgeschmacktheiten; und selbst ein Ladderdale, den Pierstorff leider gar nicht besprochen hat, bleibt trotz eines ernst- haften Ansatzes im Vorhofe des Problems stehen, indem er die Erklärung der Zinserscheinung aus der Werttheorie durch ein grobes Mißverständnis vollkommen vergreift. Dem gegenüber hat Senior mit tiefem Blick er- kannt, nicht aUein, daß ein Problem da ist, sondern auch wo es zu lösen ist, und wo die Schwierigkeiten dieser Lösung liegen. Alle Scheinlösungen verschmähend, geht er auf den Kern der Sache, auf den Grund des Mehr- wertes der Kapitalprodukte über den Kapitalaufwand ein, und wenn er die volle Wahrheit nicht gefunden hat, so liegt es gewiß nicht an einem Mangel an wissenschaftlichem Ernst. Schon die feinen und tiefdurch- dachten kritischen Bemerkungen, die Senior so häufig einstreut, hätten ihn vor so harten Vorwürfen schützen sollen. Ebenso scheinen mir die bekannten Worte weit über das Ziel zu schießen, mit denen seinerzeit Lassalle in seiner hinreißend beredten, aber auch deklamatorisch übertreibenden Weise die SENioRsche Lehre verspottet hat: „Der Kapitalprofit ist der „„Entbehrungslohn""! Glück- liches Wort, unbezahlbares Wort! Die europäischen Millionäre Asketen, indische Büßer, Säulenheilige, welche auf einem Bein auf einer Säule stehen, mit weit vorgebogenem Arm und Oberleib und blassen Mienen einen Teller ins Volk streckend, um den Lohn ihrer Entbehrungen ein- zusammeln! In ihrer Mitte und hoch über alle seine Mitbüßer hinaus- ragend als Hauptbüßer und Entbehrer das Haus Rothschild! Das ist ») Berlin 1875, S. 47f. Kritik der Seniorschen Lehre. 247 desf Zustand der Gesellschaft! Wie ich denselben nur so verkennen konnte 1"^) Ich glaube, daß trotz dieses brillanten Angriffes in der Lehre Seniors ein Kern von Wahrheit steckt. Es läßt sich nicht leugnen, daß sowohl die Bildung als die Bewahrung jedes Kapitales in der Tat eine Enthaltung von momentanem Genüsse, einen Genußaufschub erfordert, und es scheint mir auch keinem Zweifel zu unterliegen, daß die Rücksicht auf diesen Genußaufschub jene Produkte verteuert, die, aus einem kapitalistischen Produktionsprozesse hervorgehend, nicht ohne größeren oder geringeren Genußaufschub erlangt werden können. Wenn z. B. zwei Güter zu ihrer Erzeugung genau gleich viel Arbeit, jedes etwa 100 Tage, benötigt haben, das eine aber gleich nach Absolvierung dieser Arbeit zum Genüsse reif ist, während das andere, etwa Most, dann noch ein Jahr abliegen muß, 80 zeigt die EIrfahrung, daß das später genußreife Gut ungefähr um den Betrag des Kapitalzinses höher im Preise stehen wird, als das sofort genuß- reif gewordene. Ich zweifle nun gar nicht, daß der Grund dieser Verteuerung wirklich in nichts anderem als eben darin liegt, daß man hier den Genuß von der geleisteten Arbeit aufschieben muß. Würde nämlich das sofort und das später genußreife Gut gleich hoch im Werte stehen, so würden alle Leute es vorziehen, ihre 100 Tage Arbeit dorthin zu wenden, wo sie sich sofort lohnt. Diese Tendenz muß ein stärkeres Angebot in den sofort genußreifen Gütern und dieses wieder eine Erniedrigung ihres Preises gegenüber den spät reifen Gütern hervorrufen. Hiedurch wird endlich den Produzenten der letzteren ein Plus über die normale Entlohnung der Arbeit — die ja in allen Produktionszweigen sich auf dasselbe Niveau zu stellen tendiert — mit anderen Worten ein Kapitalzins gesichert. Freilich ist es ebenso gewiß — und daher schreibt sich der große Ein- druck, den Lassalle mit seinem polemischen Angriff erzielt hat — daß das Dasein und die Höhe des Zinses keineswegs immer mit dem Dasein und der Größe eines „Enthaltungsopfers" korrespondiert. Man erlangt Zins auch dort, wo ausnahmsweise gar kein individuelles Enthaltungsopfer vorlag; man erlangt oft hohen Zins, wo das Opfer der Enthaltung sehr gering ist (— siehe Lassalles Millionäre — ), und man erlangt oft niedrigen Zins, wo das Opfer, das die Enthaltung kostet, sehr groß ist: der sauer ersparte Gulden, den der Dienstbote in die Sparkasse legt, trägt absolut und relativ niedrigere Zinsen, als die leicht entbehrten Hunderttausende, die der BörsenmiUionär im „Kostgeschäfte" fruktifiziert. Diese Erfahrungs- tatsachen scheinen übel zu einer Theorie zu passen, welche den Zins ganz allgemein für einen „Lohn der Enthaltung" erklärt, und mußten in den Händen eines Mannes, der sich so gut wie Lassalle auf polemische Rhetorik verstand, ebensoviele spitzige Angriffswaffen gegen jene Theorie liefern. ^) Kapital und Arbeit, Berün 1864, S. 110. 248 IX. Die Abstinenztheorie. Gleichwohl scheint mir ihre entscheidende Schwäche nicht hierin, nicht in dem Mangel einer durchgreifenden Harmonie zwischen der Größe des behaupteten Opfers und des dafür erlangten Lohnes zu liegen. Denn wo überhaupt Kosten oder Opfer den Preis von Gütern bestimmen, pflegen ja bekanntlich, falls verschiedene Teile des Angebotes zu ungleichen Kosten auf den Markt gebracht werden, jeweils die höchsten zur Versorgung des Marktes noch notwendigen Kosten über die Höhe des ganzen, einheitlichen Marktpreises zu entscheiden. Wo immer aber ungleiche Kosten durch einen einheitlichen Preis vergütet werden, ist es grundsätzlich gar nitht möglich, daß die Vergütung in jedem einzelnen Falle harmonische Fühlung mit der Größe des gebrachten Opfers halten könnte, sondern offenbar werden jene Produzenten, welche mit geringeren als den höchsten maß- gebenden Opfern ihr Angebot auf den Markt bringen, immer für ihre Opfer verhältnismäßig reichlicher belohnt werden als ihre minder günstig situierten Konkurrenten. So auffällig daher dem Grade nach das Miß- verhältnis zwischen der Zinseneinnahme von Millionären und ihrem lächer- lich geringfügigen „Enthaltungsopfer" sein mag, so wäre es der Art nach für den Theoretiker nicht befremdlicher als die jedem Theoretiker familiäre Tatsache, daß derselbe hohe Preissatz, den die Produktionskosten der unfruchtbarsten in Kultur genommenen Grundstücke erfordern, auch den Besitzern der fruchtbareren .Grundstücke bezahlt werden muß, welche die gleichen Bodenprodukte zu geringeren Kosten, oder selbst ganz kosten- los hervorbringen^). Die wirklichen und entscheidenden Mängel, an denen Seniors Theorie leidet, glaube ich vielmehr nach reifhcher Erwägung auf folgende zwei Punkte zurückführen zu müssen. Erstens hat nach meiner Meinung Senior einen an sich richtigen Gedanken zu grob generalisiert und zu schablonenhaft verwendet. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß das Moment des Genußaufschubes, das Senior in den Vordergrund stellt, in der Tat auf die Entstehung des Zinses einen gewissen Einfluß ausübt; allein dieser Einfluß ist weder so einfach, noch so unmittelbar, noch so ausschließlich, als daß man den Kapitalzins schlechthin als „Lohn der Enthaltung" erklären könnte. Eine ^) Der diesem Gregeneinwand zu Grunde liegende Gedanke ist im wesentlichen schon von Lorta (La Rendita fondiaria, Mailand 1880, SS. 610 — 624) ausgeführt worden ; Marshall hat denselben systematisch gefaßt und verwertet und auf ihn die inter- essanten Begriff e des,,Producers surplus" und „savers surplus" gebaut (siehe unten den die neueste Zinsliteratur behandelnden Anhang); zum ausdrücklichen Gegeneinwand hat ihn neuestens Macfarlane formuliert (Value and distribution, Philadelphia 1899, S. 175 — 177). In der ersten Auflage dieses Werkes hatte ich, obwohl ich meine eigenen Einwendungen gegen die Abstinenztheorie durchaus auf andere Erwägungen stützte, auch Lassalles Einwendung eine teilweise Berechtigung zugesprochen. Ich glaube jedoch in diesem Punkte der Ansicht der oben genannten Autoren beitreten zu müssen. Kritik der Seniorschen Lehre. 249 genauere Nachweisung hierüber ist an dieser Stelle noch nicht möglich und muß dem zweiten Hauptteile dieser Arbeit vorbehalten bleiben. Zweitens hat Senior dem materiell richtigen Teüe seiner Theorie eine formelle Einkleidung verheben, die jedenfalls der Anfechtung unter- liegt. Ich halte es nämhch für einen logischen Fehler, den Genußverzicht, den Genußaufschub oder die Enthaltung als ein zweites selbständiges Opfer neben der in der Produktion aufgeopferten Arbeit hinzustellen. Ich werde am zweckmäßigsten verfahren, wenn ich die nicht ganz leichte Sache zunächst an einem konkreten Beispiele entwickele und erst dann sie prinzipiell zu fassen suche. Stellen wir uns einen Landbewohner vor, der überlegt, auf welche Weise er den heutigen Arbeitstag verwenden soll. Es stehen ihm hierzu vielleicht hundert verschiedene Möghchkeiten offen. Um nur einige der einfachsten zu nennen, könnte er fischen, oder jagen, oder Früchte ein- sammeln. Alle drei Beschäftigungsarten kommen darin überein, daß sie ihren Erfolg momentan, noch am Abende desselben Arbeitstages ein- bringen. Gesetzt, unser Landbewohner entscheidet sich für das Fischen und bringt am Abend drei Fische heim. Welches- Opfer hat ihn ihre Er- langung gekostet? Wenn wir von der minimalen Abnützung des Fischzeuges absehen, offenbar einen Arbeitstag, und sonst nichts. — Es ist indes möghch, daß unser Landbewohner dieses Opfer auch unter einem anderen Gesichts- punkte ansieht. Es ist möglich, daß er es an dem Genüsse bemißt, den er sich bei einer anderen Verwendung des Arbeitstages hätte verschaffen können, und den er jetzt entbehren muß. Er kann folgendermaßen kalku- lieren: hätte ich heute gejagt statt zu fischen, so hätte ich höchstwahr- scheinlich drei Hasen erlegt. Was mich meine Fische in Wahrheit kosten, sind die drei Hasen, auf deren Genuß ich jetzt verzichten muß. Ich glaube, daß diese Art der Berechnung des Opfers gleichfalls nicht unrichtig ist. Man sieht hier einfach die Arbeit als ein bloßes Mittel zum Zweck an und setzt, über das Mittel, das man zunächst opfert, hinweg- sehend, sofort den Zweck ein, den man durch das Mittel aufopfert. Die- selbe Kalkulationsmethode gebrauchen wir oftmals im Wirtschaftsleben. Wenn ich eine Geldsumme von 300 fl. definitiv zur Ausgabe bestimmt habe, aber zwischen zwei Verwendungen schwanke, und mich endlich für die eine entscheide, z. B. für eine Vergnügungsreise statt für den An- kauf eines persischen Teppichs, so wird sich mir wahrscheinlich das end- gütige Opfer, das mich die Vergnügungsreise gekostet hat, unter dem Bilde des jetzt entbehrten persischen Teppichs darstellen. Jedenfalls ist es aber einleuchtend, daß man bei Berechnung des Opfers, das man für einen wirtschafthchen Zweck gebracht hat, das direkte Opfer an Mitteln, die man zunächst aufopfert, und das indirekte Opfer an anderweitigen Vorteilen, die man vermöge des aufgeopferten Mittels 250 IX. Die Abstiiienztlieorie. sonst hätte erlangen können, immer nur alternativ, nie kumulativ in Rechnung bringen darf. Als Opfer meiner Vergnügungsreise mag ich entweder die 300 fl., die sie direkt gekostet hat, oder den persischen Teppich, den sie indirekt geleistet hat, nie aber die 300 fl. und den Teppich ansehen. Ganz ebenso wird unser Landbewohner als das Opfer, das ihn die Erlangung der drei Fische kostet, entweder den direkt aufgewendeten Arbeitstag, oder die indirekt aufgeopferten drei Hasen, beziehungsweise deren Genuß, nie aber Arbeitstag und Hasengenuß betrachten dürfen. — Ich glaube, das ist klar. Unserem Landbewohner standen aber neben jenen Beschäftigungen, die ihm den aufgewendeten Arbeitstag noch am selben Tage vergelten, auch solche offen, die ihr Genußresultat erst später bringen. Er konnte z. B. auch Weizen säen, wovon er die Frucht erst in einem Jahre, oder Obstbäume pflanzen, wovon er die Frucht erst in zehn Jahren gewinnen kann. Gesetzt, er wählt das letztere: was hat er — wenn wir von Grund und Boden und der minimalen Werkzeugbenutzung wieder absehen — für die Erlangung der Obstbäume aufgeopfert? Mir kommt die Antwort nicht zweifelhaft vor. Wiederum einen Arbeitstag, und nichts weiter. Oder, wenn man die indirekte Kom- putationsmethode vorzieht, mag man statt des Arbeitstages den sonstigen Genuß aufrechnen, den er bei anderweitiger Verwendung desselben sich hätte verschaffen können: also den sofortigen Genuß von drei Fischen, oder von drei Hasen, oder eines Korbes von Früchten. Jedenfalls scheint mir aber wieder einleuchtend, daß, wenn man den Genuß als Opfer auf- rechnet, den man sich durch die Arbeit hätte verschaffen können, man kein Atom der Arbeit daneben aufrechnen darf; und daß, wenn man die Arbeit als Opfer aufrechnet, man daneben kein Atom, des versäumten anderweitigen Genusses aufrechnen darf. Täte man dies dennoch, so beginge man eine Doppelrechnung, die geradeso falsch ist, als wenn man in unserem früheren Beispiele die Kosten der Vergnügungsreise mit den 300 fl., die sie wirklich gekostet hat, und dazu noch mit dem persischen Teppich in Anschlag brächte, den man sonst um die 300 fl. hätte anschaffen können. Eine solche unzulässige Doppelrechnung hat nun Senior begangen. Freilich nicht so grob, daß er den ganzen anderweitigen Genuß von der Arbeit neben der Arbeit aufgerechnet hätte; aber schon indem er den Genußaufschub, die Genuß enthaltung, neben der Arbeit selbständig rechnete, hat er die zulässige Grenze überschritten^). Denn es ist klar, ^) Es ist mir unverständlich, wie trotz dieser, im gleichen Wortlaut schon in der ersten Auflage enthaltenen Stelle Landry, L'int6ret du capital, 1904, S. 181f. und S. 189 (in der Note) mir vorwerfen konnte, ich hätte vermöge einer , .inexakten" zu ,, engen und buchstäblichen" Interpretation Senior den Fehler zugemutet, daß er neben der aufgewendeten Arbeit noch den ganzen verlorenen anderweitigen Genuß (peine depens^e + jouissances perdues) in Rechnung gestellt habe. Kritik der Senior sehen Lehre. 251 daß im Opfer der Arbeit bereits das Opfer des ganzen Vorteiles, den man sich durch anderweitige Verwendung der Arbeit hätte verschaffen können, eingeschlossen liegt; des ganzen Vorteiles, mit Inbegriff aller am Hauptvorteile etwa noch hängenden partiellen oder sekundären Vorteils- nuancen. Wer 300 fl. für eine Vergnügungsreise opfert, opfert nicht neben, sondern in den 300 fl. sowohl den persischen Teppich, den er sonst darum hätte kaufen können, als das Vergnügen, das er an dessen Besitz gefunden hätte, als unter anderem auch den besonderen Vorteil, der in der langen Zeitdauer dieses Besitzes und Genusses gelegen wäre. Und ganz ebenso opfert der Landbewohner, der einen Arbeitstag des Jahres 1914 zur Baum- pflanzung opfert, die im Jahre 1924 ihre Früchte bringen wird, in und nicht neben diesem Arbeitstage sowohl die drei Fische, die er sich mittelst desselben hätte verschaffen können, als auch das besondere Vergnügen, das er etwa am Fischgeschmacke empfindet, als auch den Vorteil, der daraus entspringt, daß er den Fischgenuß bereits im J^hre 1914 hätte erlangen können. Die besondere Aufrechnung des Genuß- aufschubes enthält daher eine Doppelrechnung. Ich darf wohl hoffen, für die vorstehenden Raisonnements die Zu- stimmung der meisten meiner Leser gefunden zu haben. Dennoch kann ich die Sache noch nicht für erledigt halten. Seniors Anschauungsweise hat nämlich unleugbar etwas ungemein Bestechendes, und wenn man sich den in unserem Beispiele benutzten Fall in einem gewissen, der SENioRschen Auffassung günstigsten Lichte vorstellt, scheint derselbe sogar ein geradezu schlagendes Argument gegen mich und für Senior zu bieten. Mit diesem Argument muß ich noch rechnen. Ziehen wir die Parallele folgendermaßen. Verwende ich den heutigen Arbeitstag zum Fang von Fischen, so kosten mich diese einen Tag Arbeit. Das ist klar. Verwende ich aber den heutigen Arbeitstag zur Pflanzung von Obstbäumen, die erst in zehn Jahren Früchte bringen, so habe ich mich nicht bloß einen Tag lang geplagt, sondern muß obendrein auf den Genuß meiner Arbeit zehn Jahre lang warten, was mich vielleicht recht viel Selbstüberwindung und Seelenpein kostet. Also — scheint es — bringe ich in der Tat ein Opfer, das über einen Arbeitstag hinausgeht; nämlich einen Tag Arbeitsplage und noch die Last eines zehnjährigen Genußaufschubes. So scheinbar diese Wendung auch ist, so ruht sie doch auf einem trüge- rischen Grunde. Ich will zuerst durch einige Konsequenzen zeigen, daß man sich täuscht, und dann aufdecken, wo die Quelle der Täuschung liegt. Letztere Aufklärung wird mir auch Gelegenheit geben, die ganze Sache von der prinzipiellen Seite zu fassen. Stellen wir uns folgenden Fall vor Augen. Ich arbeite einen Tag lang an der Pflanzung von Obstbäumen, in der Erwartung, daß sie mir nach zehn Jahren Früchte bringen werde. In der darauffolgenden Nacht 252 IX. Die Abstinenztheorie. kommt ein Unwetter und zerstört die junge Pflanzung völlig. Wie groß ist das Opfer, das ich vergeblich gebracht habe? — Ich glaube, jedermann wird sagen: ein verlorener Arbeitstag, und nichts weiter. Und nun frage ich, wird mein Opfer etwa dadurch größer, daß das Unwetter nicht kommt und die Bäumchen ohne alles weitere Zutun von meiner Seite in zehn Jahren Früchte bringen ? Opfere ich mehr auf, wenn ich einen Arbeitstag darbringe und auf den Genuß davon 10 Jahre warten muß, als wenn ich einen Arbeitstag darbringe und auf den Genuß davon wegen des zerstören- den Unwetters in alle Ewigkeit warten muß ? Dies zu bejahen ist unmöglich. Und doch will es Senior so: denn während im zweiten Falle das Opfer nur mit einem Arbeitstage angegeben werden kann, gibt er es im ersten Falle mit einem Arbeitstage + einer zehnjährigen Genußenthaltung, also größer an! Welch' seltsame Gestalt müßte auch nach Seniors Anschauung die Progression des Opfers bei fortschreitender Entfernung des Nutzens gewinnen ! Wenn sich eine Arbeit augenblicklich lohnt, ist das Opfer nur die aufgewendete Arbeit. Lohnt sie sich nach einem Jahre, so ist das Opfer = Arbeit -|- ein Jahr Enthaltung. Lohnt sie sich nach zwei Jahren, so ist das Opfer = Arbeit -j- zwei Jahre Enthaltung. Lohnt sie sich nach zwanzig Jahren, so wächst das Opfer auf Arbeit + zwanzig Jahre Ent- haltung. Und wenn sie sich gar nie lohnt? Muß da nicht das Opfer an Enthaltung auf den denkbar höchsten Gipfel, auf die Größe ,, unendlich" steigen und den krönenden Abschluß der Progression nach oben bilden ? — nein! Hier sinkt das Enthaltungsopfer auf Null, die Arbeit wird allein als Opfer gezählt, und das Gesamtopfer ist nicht das größte, sondern das kleinste in der ganzen Keihe! Ich denke, diese Resultate zeigen deutlich an, daß in allen Fällen das einzige wirkliche Opfer in der dargebrachten Arbeit bestand, und daß wenn wir daneben noch ein zweites Opfer im Genußaufschub anerkennen zu müssen meinten, wir durch irgend eine irreführende Vorstellung getäuscht worden sein mußten. Was verleitet uns aber zu jener — ich gestehe es — überaus nahe- liegenden Täuschung? Die Quelle derselben liegt einfach darin, daß das zeitliche Moment wirklich nichts Gleichgiltiges ist. Nur übt es seine Wirkung in einer etwas anderen Richtung aus, als Senior und die meisten Laien meinen. Statt nämlich das Material zu einem zweiten selbständigen Opfer zu bieten, fällt es vielmehr bei der Bestimmung der Größe des einen wirklich ge- brachten Opfers ins Gewicht. Um dies vollkommen klar zu legen, muß ich etwas weiter ausholen. Alle wirtschaftlichen Opfer, die wir bringen, finden ihr Wesen in einer Einbuße an Lebenswohlfahrt, die wir erleiden, und ihre Größe bemißt sich nach der Größe der Wohlfahrtseinbuße, die uns widerfährt. Diese Kritik der Seniorschen Lehre. 253 Einbuße kann doppelter Art sein: positiver Art, indem wir positive Leiden, Schmerzen oder Mühen auf uns nehmen; oder negativer Art. indem wir einer Freude oder Befriedigung, die wir uns sonst hätten ver- schaffen können, verlustig gehen. Bei den meisten wirtschaftlichen Opfern, die wir für einen bestimmten Nutzzweck bringen, kommt nur eine der beiden Einbußgattungen in Fiage, und hier ist auch der Kalkül des ge- brachten Opfers sehr einfach. Lege ich z. B. für irgend einen Nutzzweck Geld aus, etwa 300 fl, so berechnet sich mein Opfer einfach nach den Genüssen, die ich mir sonst mit jenen 300 fl. verschafft hätte und nun entbehren muß. Anders steht es mit dem Opfer „Arbeit". Die Arbeit bietet für die wirtschaftliche Betrachtung zwei Seiten dar. Sie ist einerseits eine (nach der Empfindung der meisten Menschen) mit einem positiven Leid ver- bundene Anstrengung, und sie ist andererseits ein Mittel zur Erreichung vielseitiger Genußzwecke. Wer also Arbeit zu einem bestimmten Nutz- zwecke anwendet, bringt einerseits das positive Opfer an Pla^e, anderer- seits das negative Opfer an anderweitigen Genüssen, die man mit derselben Arbeit hätte erreichen können. Es fragt sich nun, wie wird hier das für einen konkreten Nutzzweck gebrachte Opfer richtig zu berechnen sein? Man muß zusehen, wie der Stand an Lust und Leid gewesen wäre, wenn wir die Arbeit nicht zu unserem konkreten Nutzzweck verwendet, sondern sonst rationell über sie verfügt hätten. Die Differenz weist offen- bar die Wohlfahrtseinbuße auf, welche unser Nutzzweck uns kostet. Hand- haben wir diese Differenzmethode, so können wir uns sehr bald über- zeugen, daß das durch Aufwendung der Arbeit gebrachte Opfer bald nach der positiven Plage, bald nach dem negativen Genußentgang, nie aber nach beiden zugleich zu bemessen ist. Es kommt nämlich darauf an, ob wir uns mittelst des aufge- wendeten Arbeitstages auch sonst hätten einen Genuß ver- schaffen können, der größer ist, als das Leid, welches uns die eintägige Arbeitsplage verursacht — oder nicht. Gesetzt wir empfinden die Plage eines Arbeitstages als ein Leid, dessen Größe sich durch die Verhältniszahl 10 bezeichnen läßt; wir verwenden faktisch den Arbeitstag zum Fange von drei Fischen, die uns einen Genuß verschaffen, dem die Verhältniszahl 15 entspricht, und wir fragen nach der Größe des Opfers, das uns die Erlangung der drei Fische kostet: so werden wir unter- scheiden müssen, ob uns, wenn wir uns nicht auf den Fischfang begeben hätten, die Mögüchkeit offen gestanden wäre, mittelst des Arbeitstages uns eine anderweitige, die Verhältniszahl 10 übersteigende Befriedigung zu verschaffen oder nicht. Stand uns eine solche Möglichkeit nicht offen, so hätten wir es offenbar vorgezogen, ganz zu ruhen. Was uns unsere drei Fische in diesem Falle kosten, ist das Arbeitsleid von der Größe 10-, dem wir uns sonst nicht unterzogen hätten. Eine Einbuße an ander- 254 IX. Die Abstinenztheorie. weitigen Genüssen kommt dagegen hier nicht in Frage, weil wir auch sonst keine solchen uns verschafft hätten. — Stand uns dagegen die Möglichkeit offen, auch außerhalb des Fischfanges einen die Verhältnis- zahl 10 übersteigenden Genuß mittelst des Arbeitstages zu erlangen, konnten wir z. B. durch eintägige Jagd uns drei Hasen im Werte von 12 verschaffen, dann wären wir vernünftiger Weise auf keinen Fall müßig geblieben, sondern hätten statt zu 'fischen gejagt. Was uns jetzt unsere Fische in Wahrheit kosten, ist nicht das positive Arbeitsleid mit der Größe 10 — denn dieses hätten wir auch sonst auf uns genommen — sondern die negative Einbuße eines Gütergenusses von der Größe 12, den wir uns andernfalls verschafft hätten. — NatürUch dürfen wir aber endlich nie den Genußentgang und das Arbeitsleid kumulativ aufrechnen: denn so wenig wir, wenn wir nicht auf den Fischfang gezogen wären, uns das Arbeitsleid hätten ersparen und doch den Wildgenuß hätten erlangen können, ebensowenig werden wir, wenn wir auf den Fischfang ziehen, durch ihn beider Vorteile verlustig. Das Gesagte gibt den Stoff zu einer allgemeinen Regel, die im prak- tischen Leben ebenso rasch als sicher gehandhabt wird, und die sich in folgende Worte kleiden läßt: Wenn wir für einen Nutzzweck Arbeit aufwenden, so ist das hiemit gebrachte Opfer jedesmal an derjenigen von den zwei in Betracht kommenden Wohlfahrts- einbußen zu berechnen, welche an Größe überwiegt; am Arbeitsleid, wenn kein überwiegender anderweitiger Genuß- nutzen in Aussicht stand; an letzterem, falls die Möglichkeit eines solchen sich zeigte; nie an beiden zugleich. — Da nun ferner im heutigen Wirtschaftsleben nicht nur die Möglichkeit, sondern für die meisten Menschen auch die Nötigung zu bestehen pflegt, ihre Arbeit jedenfalls zu irgend welchen Erwerbszwecken zu verwerten, so tritt der erste der bezeichneten Fälle nur selten und ausnahmsweise ein: wir schätzen also heutzutage das Arbeitsopfer ganz -überwiegend nicht nach der Arbeitsplage, sondern nach dem entgangenen Gewinn^). Hiemit habe ich endlich den Punkt erreicht, an dem sich der wirkliche Einfluß des zeitlichen Moments auf die Opfergröße nachweisen läßt. Es ist nämlich eine Tatsache — auf welchem Grunde sie beruht, gehört noch nicht hieher — , daß wir unter sonst gleichen Umständen einen gegen- wärtigen Genuß einem künftigen vorziehen. Haben wir daher die Aus- wahl, ein Befriedigungsmittel, z. B. Arbeit, entweder zur Befriedigung eines gegenwärtigen oder eines künftigen Bedürfnisse^ zu verwenden, so ^ Vgl. hierüber meinen Aufsatz über den ,, letzten Maßstab des Güterwertes" in der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, III. Band S. 186 ff., besonders 201ff.; ferner auch den Abschnitt „Wert" und speziell dessen Unterabschnitt VIII in der zweiten Hauptabteilung dieses Werkes. Kritik der Seniorschen Lehre. 255 wird das Lockende des momentanen Genusses die Entscheidung zu Gunsten des künftigen Nutzens erschweren. Entscheiden wir uns aber den- noch für ihn, so wird, indem wir die Größe des hiefür ge- brachten Opfers an der Größe des entgangenen Nutzens messen, der Lockreiz des Augenblicklichen, der an dem letzteren haftet, die Wagschale beschweren, und uns das Opfer als ein härteres erscheinen lassen, als es uns außerdem erschienen wäre. Nicht als ob wir hierin ein zweites Opfer brächten. Ob wir zwischen zwei gegenwärtigen, oder zwischen zwei künftigen, oder zwischen einem gegenwärtigen und einem künftigen Nutzen zu wählen haben: wir bringen immer nur das eine Opfer Arbeit. Aber da wir, wie oben auseinandergesetzt, die Größe dieses Opfers in aller Regel an der Größe des entgangenen Nutzens messen, fheßt bei dieser Schätzung die Rücksicht auf den Reiz der früheren Befriedigung mit ein und hilft den Anschlag des einen Opfers höher heben, als er sonst gewesen wäre. Dies ist der wahre Tatbestand, dem Senior in seiner Theorie eine fehlerhafte Auslegung gegeben hat^). ^) Auch in jener Minderzahl von Fällen, in denen das Arbeitsopfer am Arbeits- leid gemessen wird, kann das zeitliche Moment des Grenußauf Schubes kein zweites selbständiges Opfer begründen. Denn die Schätzung nach dem Arbeitsleid tritt, wie wir uns überzeugt haben, nur dann ein, wenn das letztere jeden anderweitigen aus der Arbeit zu erzielenden Nutzen — einschließlich aller Reize des Momentanen, die an ihm haften mögen — übersteigt, und weim daher die Wahl vernünftiger Weise nur schweben konnte zwischen dem konkreten künftigen Nutzzweck, dem die Arbeit wirklich zuge- wendet wurde, und der gänzlichen Ruhe. Da also hier ein anderweitiger früherer Güter- genuß gar nicht in Frage stand, kann er natürlich auch in keinerlei Weise ein Element der Opferschätzung werden. — Macfarlanes gegenteilige Meinung (value and dis- tribution S. 179), welcher grundsätzlich das mit der Arbeit verbundene Leid und daneben noch ,,an additional allowance" für den Genußaufschub als Opfer rechnen zu dürfen und zu müssen glaubt, scheint mir schlechterdings nicht haltbar zu begründen; siehe auch noch die Besprechung der MARSHALLSchen Zinstheorie im Anhang dieses Bandes. ■ — In der ersten Auflage dieses Werkes hatte ich endlich einen weiteren Einwand gegen Seniors Abstinenztheorie auch noch daraus abgeleitet, daß Seniors Zinstheorie in eine Kostenwerttheorie, welche notorisch nur für einen Teil der Güter, nämlich für die be- liebig reproduzierbaren Güter, Geltung haben kann, eingeschaltet sei, und daher besten- falls selbst keine universelle, sojidern nur eine partikuläre Zinstheorie sein könnte. In der Erwägung, daß das Feld, auf dem der landesübliche Zinsfuß sich feststellt, gerade die den Nivellieningstendenzen offenen Untemehmungszweige sind, glaube ich — hierin ebenfalls einer Anregung Macfarlanes (a. a. 0. S. 181) folgend — jenen Einwand nicht weiter aufrecht erhalten zu sollen. Derselbe hatte übrigens in meiner Schätzung keineswegs, wie in den Augen Macfarlanes (a. a. 0. S. 224) als die ,,most serious ob- jection", sondern nur als ein ziemlich nebensächlicher Einwand gegolten, während ich den durchschlagendsten Grund gegen die Abstinenztheorie damals wie jetzt in der sachlich wie logisch unzulässigen Doppelrechnung mit einem schon in einem anderen Kostenelement enthaltenen und berücksichtigten Faktor erblicke: es ist ein Fehler von derselben logischen Struktur, wie mir ihn die Nutzungstheorie mit ihrer separaten Aufrechnung einer doch schon im Gutswert inbegriffenen Gutsnutzung zu begehen scheint I 256 IX- I^i® Abstinenztheorie. Ich bitte den geneigten Leser zu entschuldigen, daß ich ihn bei diesen abstrakten Ausführungen so lange festgehalten habe. Sie enthalten indes das wichtigste theoretische Moment gegen eine sehr ernsthaft zu nehmende Lehre, die man bis jetzt zwar oft verworfen, aber meines Erachtens noch niemals widerlegt hat, und ich für meine Person halte es für den kleineren Fehler, übergenau zu untersuchen, ehe man abspricht, als abzusprechen, ohne untersucht zu haben. Seniors Abstinenztheorie hat unter den zinsfreundlichen National- ökonomen große Popularität errungen; wie es indes scheint, nicht so sehr wegen ihrer relativen theoretischen Vorzüge, als weil sie dem Bedürfnisse der Zeit, dem hart angegriffenen Kapitalzinse eine Stütze zu bieten, günstig entgegenkam. Ich schüeße auf dieses Verhältnis aus dem eigen- tümlichen Umstände, daß die überwiegende Mehrzahl ihrer späteren Vertreter sich nicht zu ihr ausschließlich bekannt, sondern nur Elemente der Abstinenztheorie zu anderen zinsfreundüchen Theorien eklektisch hinzugefügt hat. Es ist dies ein Vorgang, der einerseits auf eine gewisse Geringschätzung des streng theoretischen Momentes, das man durch eine buntscheckige Häufung widersprechender Erklärungen gröblich zu ver- letzen keinen Anstand nimmt, und andererseits auf eine Bevorzugung des praktisch-politischen Standpunktes deutet, dem damit gedient war, wenn nur recht viele Gründe für die Rechtmäßigkeit des Zinses ins Treffen geführt wurden, sei es auch auf Kosten der theoretischen Einheit und Konsequenz. Wir werden daher der Mehrzahl der Bekenner von Seniors Abstinenz- theorie später unter den Eklektikern begegnen. Ich nenne vorläufig unter den Engländern John Stuart Mill und den scharfsinnigen Jevons, unter den Schriftstellern französischer Sprache Rossi, Molinari und Josef Garnier, unter den Deutschen vor allen Röscher mit seinem zahlreichen Anhange, dann Scnüz und Max Wirth. Unter denjenigen Schriftstellern, welche die Abstinenztheorie reiner bewahrten, wäre etwa hervorzuheben der Engländer Cairnes, der sich in seiner geistvollen Abhandlung über die Produktionskosten i) im wesent- lichen auf Seniors Standpunkt stellt; der Schweizer Cherbuliez^), der allerdings, indem er den Zins als ein Entgelt für die „Anstrengung der Enthaltung" (les . eff orts de l'abstinence) erklärt, auf der Grenzscheide zwischen der Abstinenztheorie und einer eigentümlichen Variante der Arbeits- theorien steht, die wir im nächsten Abschnitte genauer kennen lernen werden; der Italiener Wollemborg, der nach dem Vorgange von Senior und Cairnes das Wesen der Produktionskosten scharfsinnig untersucht 1) Some leading Principles of Political Economy 1874 (neuer Abdruck, London 1883); Chapt. III. ^) Pröcis de la Science Economique, Paris 1862; besonders Band I S. 161, 402ff. Seniors Nachfolger. Bastiat. 257 hat^); und aus den Deutschen Karl Dietzel, der freilich das Problem nur gelegentlich und flüchtig streift 2). Da keiner der letztgenannten Schriftsteller die SENioRsche Abstinenz- theorie durch einen wesentlichen neuen Zug bereichert hat, ist ein genaues Eingehen auf ihre Lehre nicht notwendig. Dagegen muß ich in diesem Abschnitte noch eines Schriftstellers ausführlich gedenken, dessen Theorie seinerzeit großes Aufsehen erregte und bis auf den heutigen Tag 3) einen bedeutenden Einfluß behauptet: Frederic Bastiat. Bastiats vielumstrittene Zinstheorie läßt sich als eine in die Formen der BASTiATSchen Werttheorie eingezwängte und bei dieser Gelegenheit stark verschlechterte Kopie der SENioRschen Abstinenztheorie charakte- risieren. Der Grundgedanke ist bei beiden identisch: der Genußaufschub — Senior sagt „abstinence", Bastiat bald „delai", bald „privation" — ist ein Opfer, das eine Vergütung heischt. In der weiteren Verknüpfung gehen sie etwas auseinander. Senior, der den Wert der Güter aus den Produktionskosten ableitet, erklärt einfach jenes Opfer für einen Bestandteil der Produktionskosten, und ist damit am Ziele. Bastiat, der als Grundlage des Güterwertes ausschließlich ausgetauschte „Dienste" anerkennt, erhebt auch den Auf- schub zu einem Dienst: „Der Aufschub, an sich allein, ist ein spezieller Dienst, da er dem, der ihn gewährt, ein Opfer auferlegt, und dem, der ihn begehrt, einen Vorteil zubringt" *). Dieser „Dienst" muß nach dem großen Gesetze der Gesellschaft, das da lautet „Dienst für Dienst", besonders bezahlt werden. Die Bezahlung geschieht, falls der Kapitalist sein Kapital einem anderen geborgt hat, durch den Darlehenszins (int§ret). Aber auch außerhalb des Darlehensfalles muß jener Dienst vergütet werden; denn es muß ganz allgemein jeder, der eine Befriedigung empfängt, auch die sämtlichen Lasten tragen, welche die bezügliche Produktion erfordert hat, mit Inbegriff des Aufschubes. Letzterer wird als ein „oneroser Um- etand" angesehen und bildet darum ganz allgemein ein Element der Schätzung der Dienste, und damit auch der Wertbildung der Güter s). — Dies ist, knapp zusammengefaßt, der Kern dessen, was Bastiat mit *) Intorno al costo relative di produzione etc., Bologna 1882. *) System der Staatsanleihen, Heidelberg 1885, S. 48: „Der Darleiher des Kapitales gründet seinen Anspruch auf eine Vergütung für die überlassene Benutzung desselben einerseits darauf, daß er darauf verzichtete, seine eigene Arbeitskraft an dem Gegen- stande zu verwerten, andererseits darauf, daß er darauf verzichtete, ihn selbst oder seinen Wert sofort zu unmittelbarem Genuß zu konsumieren. Hierauf beruht der Eapital- zins, der uns jedoch an dieser Stelle nicht weiter interessiert." ') Geschrieben im Jahre 18841 *) Harmonies Econoraiques (Band VI der oeuvres complötes) III. Aufl., Paris 1855, S. 210. Vergl. auch die unmittelbar vorausgehenden Ausführungen auf S. 207 — 209, und überhaupt den ganzen Abschnitt VII. ») VII, 213. Böbm-Bawerk , Eapitalzins. 4. Aufl. 17 258 IX. Die Abstinenztheorie. rhetorischer Weitsch ;veif igkeit und häufigen Wiederholungen über unseren Gegenstand lehrt. Ich nannte seine Lehre eine stark verschlechterte Kopie Seniors. Wenn ich von jenen Mängeln ganz absehe, die der BASxiATschen Zins- theorie nicht aJs solcher, sondern nur wegen ihrer Einkleidung in die — meines Erachtens sehr mangelhafte — Werttheorie Bastiats anhaften, so bezieht sich die Verschlechterung namentlich auf zwei Punkte. Erstlich darauf, daß Bastiat seine Aufmerksamkeit und Beweis- führung fast ganz auf eine Nebensache, nämlich auf die Erklärung des ausbedungenen Kapitalzinses beschränkt, und darüber die Hauptsache, die Erklärung des ursprünglichen Kapitalzinses, vernachlässigt. Sowohl in seinen Harmonies Economiques als auch in seiner dem Zinsprobleme speziell gewidmeten Monographie Capital et Rente ^) wird er nicht müde, sich in seitenlangen Ausführungen über die Erklärung und Rechtfertigung des Darlehenszinses zu ergehen. Zur Erklärung des ursprünglichen Kapital- zinses wendet er dagegen seine Theorie nur ein einzigesmal und auch da nur im flüchtigen Vorbeigehen an: in der oben zitierten Stelle (Harmonies, 3. Aufl. S. 213), die an Deutlichkeit und Ausführlichkeit gar manches zu wünschen übrig läßt. Die Folgen dieser Vernachlässigung machen sich namentlich darin fühlbar, daß das Hauptmotiv der Zinserklärung, das Opfer des Aufschubes, bei Bastiat in seinem Wesen lange nicht so klar gestellt wird als bei Senior. Indem nämlich Bastiat den Kapitaleigentümer dem borgenden Schuldner gegenüberstellt, weist er als Opfer des Ersten gewöhnlich den Entgang des produktiven Nutzens auf, der in der Zwischenzeit vom geliehenen Kapitale hätte gezogen werden können 2), Das hat einen ganz guten Sinn, wenn man nichts anderes beabsichtigt, als was einst Sal- MAsiüs gegen die Kanonisten darzulegen beabsichtigt hatte; zu erklären nämlich, daß, wenn man mit einem Kapitale einen ursprünglichen Gewinn machen kann, es selbstverständlich und gerecht ist, auch für geliehene Kapitalien einen Zins zu fordern. Dagegen ist der Hinweis auf jenes Opfer offenbar ganz ungeeignet, den ursprünglichen KapitaJzing selbst und damit überhaupt das Zinsphänomen endgiltig zu erklären: denn man setzt ^) 1849 erschienen. Oeuvres complötes, 4. Aufl. V. Bd. S. 22ff. •) Si l'on penötre le fond des choses, on trouve qu'en ce cas le c§dant se prive en faveur du cessionaire ou d'une satisfaction imm6diate qu'il recule de plusieurs annöes, ou d'un instrument de travail qui aurait augmentö ses forces, fait con- courirlesagentsnaturels, etaugment^, kson profit, lerapportdes satisfactions aux efforts." (VII, 209.) „II ajoume la possibilitö d-une production . . .'- „Je l'emploierai pendant dix ans sous une forme productive." (XV, 446f.) Ähnlich oft in der Schrift „Capital et Rente"; z. B. S. 44. Jacques, der einen Hobel ange- fertigt und ihn nun an Guillaume für ein Jahr verliehen hat, macht als Grund für seine Zinsforderung geltend: „J'en attendais un avantage, un travail plus achev^ et. mieux retribu6, une am61ioration dans mon sort. Je ne puis te c6der tout cela gra- toitement." Bastiat. 35Q dabei die Exsitenz des ursprünglichen Eapitalzinses bereits als gegebene Tatsache voraus. Für die tiefere Erklärung des Eapitalzinses kann vidmehr offenbar nur jenes andere Opfer Bedeutung haben, auf das sich Senior beruft und das im Aufschub von Bedürfnisbefriedigungen besteht. Von diesem Opfer spricht nun Bastiat allerdings auch, aber die Einmischung jenes ersten Opfers verwirrt seine Lehre; und zwar, wie mir scheint, nicht bloß für seine Leser, sondern auch für ihn selbst. Wenigstens finden sich in seinen Schriften, zumal in der Abhandlung über Kapital und Rente, gar nicht wenige Stellen, in denen er, von seiner Abstinenztheorie abspringend, sich dem Standpunkte der naiven Produktivitätstheoretiker bedenklich an- nähert. Statt daß er, wozu er in der wiederholt berufenen Stelle der „Har- monies" den Weg gewiesen hatte, den Mehrwert des kapitalistisch er- zeugten Produktes aus der Notwendigkeit erklären würde, daß die Käufer des Produktes neben der darin steckenden Arbeit auch den „onerosen Umstand" des Grenußaufschubes vergüten müssen, sieht er es nicht selten als selbstverständlich an, daß das Kapital wegen der produktiven Kraft, die in ihm liegt, seinem Besitzer zu einem „Vorteil", zu einem „Gewinn", zu erhöhten Produktionspreisen und zu einer Verbesserung seines Loses, mit einem Worte zu einem Kapitalgewinn verhelfen muß^). Das heißt aber, wie wir bereits wissen, den Kapitalzins nicht erklären, sondern präsumieren. Es ist denn in der Tat schon mehrfach gegen Bastiat der Vorwurf erhoben worden, daß er der Hauptsache, der Erklärung des ursprünglichen Kapitalzinses, ganz aus dem Wege gegangen sei: ein Vorwurf, der zwar nicht ganz richtig, aber nach dem Gesagten sehr leicht erklärlich ist*). Dies die erste Verschlechterung gegenüber Senior. Die zweite Ver- schlechterung besteht in einer wunderlichen Zugabe. Bastiat gibt nämlich neben der dargestellten Erklärung des Zinses noch eine zweite, die so heterogener Art und dabei zugleich so offenbar vergriffen ist, daß ich nicht einmal eine Vermutung darüber aufstellen kann, wie sich Bastiat das Verhältnis dieser zweiten Erklärung zu seiner Haupterklärung dachte. Jede Produktion, erklärt Bastiat, ist ein Inbegriff von Anstren- ^) So setzt z. B. Bastiat in „Capital et Rente" S. 40 voraus, daß der geliehene Sack Saatgetreide den Schuldner' in den Stand setzt, une valeur snp^rieure zu er- zeugen. Auf S. 43 macht er die Leser in aüsdräcklichen Worten darauf aufmerksam, daß „die Grundlage der Lösung" der Zinsfrage die im Werkzeug liegende Macht ist, die Produktivität der Arbeit zu erhöhen. Weiter sagt er auf S. 46: „nous pouvons conclure qn'il est dans la nature du capital de produire un intSrIt"; auf S. 64: „. . . l'outil met Temprunteur a m&ne de faire des prof its." Auch ist, wie aus der Einleitung zur Broschüre Capital et Rente hervorgeht, die Tendenz der letzteren, die „Produktivität des Kapitales" gegen die Angriffe der Sozialisten zu verteidigen. •) Vgl. z. B. Rodbkbtus, Zur Beleuchtung der sozialen Frage I, 116f., Pier- 8TOBFF a. a. 0. S. 202f. 17* 2G0 IX. Die Abstinenztheorie. gungen. Aber innerhalb der letzteren ist eine wesentliche Unterscheidung zu ziehen. Eine Kategorie von Anstrengungen kommt nämlich bloß der Entstehung "eines einmaligen Produktes, der Leistung eines einmaligen Dienstes, zu Gute ; eine zweite Kategorie von Anstrengungen hilft dagegen einer unbestimmten Reihe von. Produkten oder Diensten zur Entstehung. In die erste Kategorie gehören z. B. die täglichen Anstrengungen des Wasserträgers, die direkt auf die Beförderung des Wassers gerichtet sind; oder, im Gebiete der Landwirtschaft, die Arbeiten des Säens, Jätens, Pflügens, Eggens, Erntens, Dreschens, die sich sämtlich nur auf das Zu- standekommen einer einzelnen Ernte beziehen. In die zweite Kategorie gehört dagegen die Arbeit, die der Wasserträger auf die Verfertigung seines Karrens und seiner Tonne, der Landwirt auf Einhegungen, Ur- barungen, Entwässerungen, Bauten, überhaupt auf Verbesserungen ver- wendet: alle diese Arbeiten, die, wie die Ökonomisten sagen, zur Ent- stehung eines fixen Kapitales führen, kommen einer ganzen Reihe von Kunden, beziehungsweise von Ernten zu Gute^). Bastiat wirft nun die Frage auf, wie nach dem großen Gesetze „Dienst um Dienst" diese beiden Kategorien von Bemühungen geschätzt und entlohnt werden sollen? Er findet das rücksichtlich der ersten Kategorie sehr einfach: die ihr angehörigen Dienste müssen zur Gänze von denjenigen vergütet werden, denen sie zugute kommen. Das geht aber bei der zweiten Kategorie, die zur Entstehung eines „fixen Kapitales" führt, nicht an; denn die Reihe derer, denen dieses Kapital zugute kommt, ist unbestimmt. Würde der Produzent sich dasselbe von den ersten Kunden bezahlen lassen, so wäre das ungerecht; denn erstlich würden unbilligerweise die Ersten für die Letzten zahlen, und außerdem müßte ein Zeitpunkt ein- treten, in dem der Produzent zugleich das noch nicht verzehrte Anlage- kapital und auch schon seine Vergütung hätte, was wieder eine Unge- rechtigkeit in sich schließt 2). Folglich — schließt Bastiat mit einem gewaltigen logischen Salto mortale — läßt sich die Repartition auf die unbestimmte Kundenzahl nicht anders vollziehen, als indem man das Kapital selbst nicht repartiert, dafür aber die Kunden mit den Interessen des Kapitales belastet; ein Auskunftsweg, den Bastiat für den einzig denkbaren zur Lösung jenes Problemes erklärt 3), und der, von dem „in- geniösen" natürlichen Gesellschaftsmechanismus von selbst dargeboten, uns der Mühe überhebt, ihm einen künstlichen Mechanismus zu sub- stituieren *). 1) VII, 214ff. ») VII, 216. •) ,,.... et je d§fie qu'on puisse imaginer une teile repartition en dehors du m6ca- nisme de Tint^ret" VII, 217. *) ,,Reconnaissons donc que le m6canisme social naturel est assez ing6nieux pour qua nous puissions nous dispenser de lui substituer un m^canisme artificiel" (S. 216 am Ende). Bastiat. 261 So erklärt denn Bastiat die Zinsen als die Form, in der ein Kapital- Vorschuß auf eine Gesamtheit von Produkten repartiert wird: „C'est lä, c'est dans cette r^partition d'une avance sur la totalit^ des produits, qu'est le principe et la raison d'etre de l'Int^ret" (VII, 205). Es ist wohl jedem Leser schon während der Lektüre dieser Zeilen aufgefallen, daß Bastiat in seiner Auseinandersetzung in einige un- glaublich grobe Irrungen verfallen ist. Es ist erstens eine grobe Irrung, daß man nicht imstande sein soll, das Anlagekapital selbst auf die Kunden zu repartieren. Jeder Geschäftsmann weiß, daß das möglich ist, und weiß auch, daß und wie das praktisch gehandhabt wird. Man berechnet einfach die wahrscheinliche Dauer des Anlagekapitales, und schreibt nach dem Ergebnisse dieses Anschlages jeder einzelnen Betriebsperiode oder jedem einzelnen Produkte eine entsprechende Abnützungs- oder Amorti- sationsquote zur Last. Indem die Kunden im Kaufpreise der fertigen Ware die Amortisationsquote des fixen Kapitales mitbezahlen, ist aller- dings „das Kapital selbst" auf sie repartiert Freilich nicht absolut „ge- recht", weil man sich in der Berechnung der wahrscheinlichen Dauer des Anlagekapitales und in der darauf gestützten Berechnung der Abnützungs- quote irren kann: aber im großen Durchschnitt werden die sukzessiven Kundenleistungen allerdings dem zu amortisierenden Anlagskapitale entsprechen. Und eine zweite grobe Irrung ist es, anzunehmen, daß die Produ- zenten den Kapitalzins anstatt des unrepartierbaren Kapitales selbst empfangen: sie empfangen vielmehr, wie jedermann weiß, einerseits in den Amortisationsquoten das Anlagekapital selbst zurück, und anderer- seits, solange ein Teil des letzteren noch aussteht, daneben den Zins, der daher auf einer von der Kapitalamortisation völlig verschiedenen Grundlage ruht. Es ist wirklich schwer begreifhch, wie Bastiat in so einfachen und allbekannten Dingen sich irren konnte. Nur im Vorübergehen wiU ich zum Schlüsse noch bemerken, daß Bastiat sein praktisches Zinsgesetz, daß mit dem Anwachsen des Kapi- tales der absolute Anteil der Kapitalisten am Gesamtprodukt sich ver- mehrt, und ihr relativer Anteil sich vermindert^), von Cabey entlehnt hat, und in den theoretisch völlig wertlosen Versuchen, den Beweis für dieses „Gesetz" zu erbringen, gleich Carey die Begriffe ,J*rozentsatz des Gesamtproduktes" und „Prozentsatz vom Kapitale" (= Zinsfuß) unterschiedslos durcheinander wirft. Im ganzen scheint mir sonach der Wert der BASTiAxschen Zins- doktrin tief unter dem Rufe zu strfien, den sie, wenigstens in gewissen Kreisen, so lange genossen bat. 1) a. a. 0. S. 223. Die Arbeitstheorien. Unter diesem Namen fasse ich eine Reihe von Theorien zusammen, die darin übereinkommen, daß sie den Kapitalzins als den Lohn einer vom Kapitalisten dargebrachten Arbeit erklären. Über die Natur der „Arbeit", welche den Entlohnungsanspruch des Kapitalisten begründen soll, gehen die Ansichten wieder ziemlich erheblich auseinander. Ich muß hienach innerhalb der Arbeitstheorien drei selb- ständige Gruppen unterscheiden, die ich, weil sich zufälligerweise ihr Anhängerkreis ziemlich scharf nach Nationalitäten abgrenzt, als die englische, die französische und die deutsche Gruppe bezeichnen will. A. Englische Gruppe. Die erste Gruppe führt ihre Zinserklärung auf jene Arbeit zurück, durch welche die Kapitalgüter selbst zur Entstehung gekommen sind. Diese Gruppe wird hauptsächlich durch James Mill und McCulloch repräsentiert. James Mill^) stößt auf das Zinsproblem in der Lehre vom Preise der Güter. Er hat den Satz aufgestellt, daß die Produktionskosten den Tauschwert der Güter regeln (S. 93). Als Bestandteile der Produktions- kosten zeigen sich auf den ersten Blick Kapital und Arbeit. Da aber, wie Mill genauer ausführt, das Kapital selbst durch Arbeit entstanden ist, so lassen sich alle Produktionskosten auf Arbeit allein zurückführen: Arbeit ist also auch der alleinige Regulator des Güterwertes (S. 97). Mit diesem Satze scheint jedoch die bekannte schon von Ricardo besprochene Tatsache nicht zu harmonieren, daß auch der Zeitaufschub einen Einfluß auf die Güterpreise hat. Wenn z. B. in einer und derselben Saison ein Faß Wein und 20 Sack Mehl mit der gleichen Menge von Arbeit hervorgebracht worden sind, so werden sie am Ende der Saison allerdings ^) Elements of Politicäl Economy. Ich zitiere nach einem im Jahre 1844 er- schienenen Abdruck der 3. Auflage vom Jahre 1826. Die beiden ersten Auflagen (1821 und 1824) standen mir leider nicht zu Grebot«. James Mill. 263 auch den gleichen Tauschwert haben. Wenn aber der Eigentümer des Weines diesen in den Keller legt und ein paar Jahre aufbewahrt, so wird dann das Faß Wein mehr wert sein als die 20 Sack Mehl, und zwar mehr wert sein um den Betrag des Kapitalgewinnes, der für die zwei Jahre entfällt. James Mill findet sich nun mit dieser Störung seines Gesetzes da- durch ab, daß er den Kapitalgewinn selbst für einen Arbeitslohn erklärt, und zwar für eine Vergütung mittelbarer Arbeit. „Warum müssen Kapitalgewinne gezahlt werden?" fragt er. „Darauf gibt es nur eine Antwort, daß sie die Vergütung für Arbeit sind; für Arbeit, die nicht unmittelbar auf das in Frage stehende Gut verwendet wird, sondern darauf verwendet wird vermittelst anderer Güter, welche die Frucht von Arbeit sind." Dieser Gedanke wird dann durch folgende Auseinandersetzung genauer erläutert: „Ein Mann hat eine Maschine, das Produkt von 100 Tagen Arbeit Indem er die Maschine verwendet, verwendet der Eigentümer ohne Zweifel Arbeit — wenn auch in einem Nebensinne (secondary sense) — da er ja etwas verwendet, was nur durch das Medium der Arbeit zu erlangen war. Setzen wir voraus, daß die Dauer der Maschine sich genau auf 10 Jahre berechnet. Dann wird in jedem Jahre ein Zehntel der Früchte von 100 Tagen Arbeit ausgegeben, was in Absicht auf Kosten und Wert auf dasselbe hinauskommt, als wenn man sagt, daß 10 Tage Arbeit ausgegeben worden sind. Der Eigentümer muß für die 100 Tage Arbeit, die die Maschine ihn kostet, nach der üblichen Rate von so und so viel per Jahr d. i. mit einer zehnjährigen Annuität bezahlt werden, die im Werte dem ursprünglichen Werte der Maschine gleichkommt^). Daraus geht hervor (!), daß der Profit einfach eine Vergütung für Arbeit ist. Er mag, ohne der Sprache Gewalt anzutun (?), sogar kaum ohne eine Metapher zu gebrauchen, Lohn genannt werden: ein Lohn jener Arbeit, die nicht unmittelbar durch die Hand, sondern mittelbar durch die Werkzeuge geleistet wird, welche die Hand hervorgebracht hat. Und wenn man den Belauf der unmittelbaren Arbeit am Belauf der Löhne bemißt, so kann man den Belauf jener anderen sekundären Arbeit am Belauf dessen messen, was der Kapitalist empfängt." Hiemit meint James Mill sowohl den Kapitalzins befriedigend erklärt, als auch sein Gesetz, daß Arbeit allein den Wert der Güter be- stimme, unversehrt erhalten zu haben. Es liegt indes auf der Hand, daß ihm keines von beiden gelungen ist. Es mag hingehen, daß er das Kapital angehäufte Arbeit, daß er die Anwendung des Kapitales Anwendung einer mittelbaren sekundären Arbeit nennt, und daß er die Ausnützung der Maschine als ratenweise ^) Der Verfasser meint, wie aus einer Parallelstelle S, 100 hervorgeht, Annuitäten, die den ursprünglichen Wert der Maschine in 10 Jahren ersetzen und zugleich nach dem durch die Marktlage festgesetzten Zinsfuß verzinsen. 264 X' I^iß Arbeitstheorien. A. Englische Gruppe. Ausgabe der angehäuften Arbeit ansieht: aber waram wird denn jede Rate der angehäuften Arbeit mit einer Annuität bezahlt, die mehr als den ursprünglichen Wert derselben Arbeit, nämlich den ursprünglichen Wert plus dem üblichen Zinssatze davon enthält? Zugegeben, die Entlohnung des Kapitales ist die Entlohnung mittelbarer Arbeit: warum wird aber die mittelbare Arbeit zu einem höheren Satze als die unmittelbare gelohnt» indem diese den nackten Lohnsatz, jene eine um den Zins höhere Annuität empfängt? Mill löst diese Frage nicht, sondern benützt die Tatsache, daß ein Kapital nach dem Stande der Konkurrenz auf dem Markte einer gewissen, den Zins schon einschließenden Annuitätenreihe gleich- wertig ist, wie einen festen Pol, als ob er nicht den Profit, also auch den Profitzusatz, der in der Annuität steckt, erst zu erklären sich vorgenommen hätte. Er sagt freilich im Tone der Erklärung: Gewinn ist Arbeitslohn. Er täuscht sich aber sehr über die Erklärungskraft dieser Phrase. Sie könnte allenfalls genügen, wenn Mill zeigen könnte, daß eine Arbeit da ist, die ihren normalen Lohn noch nicht hat und ihn erst durch den Profit erhalten soll; aber sie genügt keineswegs, um eine Lohnerhöhung für eine Arbeit zu erklären, welche schon durch die in den Annuitäten ent- haltenen Amortisationsbeträge normal entlohnt ist. Es bleibt hier eben immer die Frage offen, warum soll denn mittelbare Arbeit höher entlohnt werden als unmittelbare Arbeit? — eine Frage, zu deren Lösung Mill auch nicht die kleinste Andeutung gegeben hat. Dabei hat er von seiner gekünstelten Konstruktion nicht einmal den Vorteil, daß er mit seiner Werttheorie im Einklang bliebe: denn offenbar wird das Gesetz, daß die Menge der Arbeit den Preis aller Güter bestimmen soll, gröblich verletzt, wenn ein Teil des Preises nicht auf die Menge der geleisteten Arbeit, sondern auf die größere Höhe des Lohnes, den sie empfängt, zurückgeführt wird. Mills Theorie bleibt also in jeder Beziehung hinter dem, was sie leisten sollte, erheblich zurück. — Eine sehr ähnliche Theorie hat McCulloch in der ersten Auflage seiner Principles of Political Economy (1825) aufgestellt, aber in den späteren Auflagen dieses Werkes wieder verlassen. Ich habe dieselbe bereits bei einer früheren Gelegenheit zur Darstellung gebracht, der ich nichts mehr hinzuzufügen habe^). — Flüchtiger streifen denselben Ge- ^) Siehe oben S. 86ff. Über das Prioritätsverhältnis zwischen James Mill und McCulloch entnehme ich der inzwischen (1894) erschienenen „History of the theories production and distribution" von Edwin CAiraAN S. 206 — 212 folgende Aufschlüsse. Die erste Erwähnung des Grundgedankens ihrer gemeinsamen Theorie findet sich bei McCulloch in dessen Artikel über Political Economy in dem 1823 erschienenen Supp- lement zur Encyclopaedia Brittannica. James Mill nimmt denselben Gedanken dann in breiterer Ausführung in die 1824 erschienene zweite Auflage seiner Elements auf; der im Text zitierte, gegenüber der zweiten Auflage mehrfach abgeänderte Wortlaut gehört der dritten Auflage (1826) an. Courcelle-Seneuil. 265 danken endlich noch der Engländer Read und der Deutsche Gerstner, deren ich später unter den Eklektikern zu gedenken haben werde. B. Französische Gruppe. Eine zweite Gruppe von Arbeitstheoretikern erklärt den Kapitalzins als den Lohn derjenigen Arbeit, die im Aufsparen des Kapitales liegt (travail d'epargne). Diese Theorie ist am eingehendsten durchgeführt von Courcelle-Seneuil^). Nach Courcelle-Seneuil gibt es zwei Arten von Arbeit: „Muskel- arbeit" und „Ersparungsarbeit" (S. 85). Letzteren Begriff erläutert er folgendermaßen: Damit ein einmal geschaffenes Kapital erhalten werde, bedarf es einer fortwährenden Bemühung an Voraussicht und Ersparung, indem man einerseits an die künftigen Bedürfnisse denkt, und anderer- seits, um dieselben mit Eülfe der gesparten Kapitalien befriedigen zu können, sich von dem gegenwärtigen Genüsse der letzteren enthält. In dieser „Arbeit" liegt ein Akt der Intelligenz, das „pr6voir", und ein Akt des Willens, das Sparen, das „sich enthalten vom Genüsse durch eine gegebene Zeit". Allerdings scheint es auf den ersten Blick seltsam, dem Sparen den Namen einer Arbeit zu geben. Allein dieser Eindruck kommt nach der Ansicht des Autors nur daher, weil wir gewöhnlich zu sehr nur auf das Materielle sehen. Denkt man dagegen einen Augenblick unbefangen nach, so wird man erkennen, daß es dem Menschen ebenso mühsam (penible) ist, sich von der Verzehrung eines geschaffenen Gutes zu enthalten, als mit seinen Muskeln und seinem Verstände zu arbeiten, um ein gewünschtes Gut zu erwerben; und daß es wirklich einer besonderen künstlichen An- strengung von Verstand und Willen, eines willkürlichen Aktes bedarf, der dem natürlichen Hang zur Genußsucht und Trägheit entgegenarbeitet, wenn die Erhaltung der Kapitalien erreicht werden soll. — Nachdem der Verfasser diesen Gedankengang durch einen Hinweis auf die Gewohnheiten wilder Völker zu bekräftigen gesucht hat, schließt er mit der formellen Erklärung: „Wir betrachten also mit Recht, und nicht bloß vermöge einer Metapher das Sparen als eine Form industrieller Arbeit, und folglich als eine produktive Kraft. Es erfordert eine Anstrengung, die allerdings, es ict wahr, von rein moralischer Art, aber immerhin mühsam ist; und es trägt daher mit demselben Rechte wie eine Anstrengung der Muskel den Charakter einer Arbeit." Die „Spararbeit" macht nun ebensowohl auf Entlohnung Anspruch» als die „Muskelarbeit". Während diese durch das „salaire" entlohnt wird, findet jene die Entlohnung im int§ret, dem KapitaJzins (318). Daß dies ^) Trait6 tbSorique et pratique d'flconomie Politiqae I, Paris 1858. 266 X. Die Arbeitstheorien. B. Französische Gruppe. SO sein, und daß insbesondere der Lohn der Spararbeit ein wenig dauernder sein müsse, erklärt Coürcelle folgendermaßen: Der Wunsch, die Versuchung, zu verzehren, ist eine fortdauernd wirkende Kraft: man kann ihre Tätigkeit nicht anders hemmen, als indem man sie durch eine andere Kraft bekämpft, die gleichfalls ewig dauert. Es ist klar, daß jeder so viel als möglieh verzehren würde, wenn er nicht ein Interesse hätte (s'ü n'avait pas int6ret), sich der Verzehrung zu enthalten. Er würde von dem Momente an aufhören sich zu ent- halten, in dem er aufhören würde, dieses Interesse zu haben, welches ohne Unterbrechung dauern muß, damit die Kapitalien immer erhalten bleiben können: darum sagen wir, daß der Zins („l'intör^t"; man beachte das Wortspiel!) der Lohn der Arbeit des Sparens und Enthjdtens ist, ohne den die Kapitalien nicht dauern könnten, und der eine notwendige Be- dingung des industriellen Lebens ist" (S. 322). Die Höhe dieses Lohnes regelt sich „nach dem großen Gesetze des Angebotes und der Nachfrage": sie hängt ab von dem Wunsch und der Fähigkeit, eine Kapitalsumme reproduktiv anzuwenden einerseits, und von dem Wunsche und der Fähigkeit diese Summe aufzusparen andererseits. Ich glaube, daß alle Mühe, die sich der Verfasser damit gegeben hat, die Spararbeit als eine wahre Arbeit darzustellen, nicht imstande ist, den Stempel des Erkünstelten zu verwischen, den diese Theorie auf ihrer Stirn trägt. Das Nichtverzehren eines Vermögens eine Arbeit, das mühelose Einstreichen der Kapitalzinsen ein angemessener Arbeitslohn! Welch dankbares Feld für einen Kritiker, der darauf ausgehen wollte, in der Art eines Lassalle sich an die Eindrücke und Stimmungen des Lesers zu wenden! Ich will indes, statt zu perorieren, daß Coürcelle Unrecht hat, lieber durch Verstandesgründe auseinander legen, warum er Unrecht hat. Vor allem ist es klar, daß Coürcelles Theorie nur eine etwas ab- weichend eingekleidete Variante der SENioRschen Enthaltungstheorie ist. Überall wo Senior sagt „Enthaltung" oder „Opfer der Enthaltung", sagt Coürcelle „Arbeit der Enthaltung"; der Sache nach verwerten aber beide dieselbe Grundidee in identischer Weise. Deshalb unterliegt Coür- celles Arbeitstheorie von vornherein einem guten Teil der Einwendungen, die sich gegen Seniors Enthaltungstheorie erheben, und um derenwillen wir bereits die letztere als ungenügend beurteilt haben. Überdies unterliegt aber die neue Einkleidung Coürcelles noch ihren speziellen Bedenken. Es ist zwar richtig, daß Voraussehen und Aufsparen eine gewisse moralische Mühe kostet: aber das Vorkommen einer Arbeit bei einer Sache, in der eine Einnahme erzielt wird, rechtfertigt es noch lange nicht, die betreffende Einnahme als Arbeitslohn zu erklären. Um das zu können, müßte man imstande sein darzulegen, daß die Einnahme in der Tat für die Arbeit und nur um der Arbeit willen gemacht wird. Dies wird sich Courcelle-Seneuil. 267 wieder am hiesten daraus ersehen lassen, daß die Einnahme dort auftritt, wo die Arbeit geleistet wird, dort fehlt, wo die Arbeit fehlt, hoch ist, wo viel, niedrig ist, wo wenig Arbeit der bezeichneten Art geleistet wurde. Von einer solchen Übereinstimmung der vermeintlichen Ursache des Kapitalzinses mit dem wirklichen Auftreten desselben ist aber kaum eine Spur zu entdecken: wer gedankenlos die Coupons eines Millionenvermögens abschneidet, oder auch durch seinen Sekretär abschneiden läßt, nimmt einen „Arbeitslohn" von Zehntausenden oder Hunderttausenden von Gulden ein; wer sich durch eine wirkliche Plage an Vorbedacht und Ent- haltung 50 Gulden erübrigt hat, die er in die Sparkasse legt, kaum ein paar Gulden; und wer sich mit ebensoviel Plage 50 Gulden erübrigt hat, aber, weü ein drängendes Bedürfnis in Aussicht steht, es nicht wagen kann, die 50 Gulden aus seiner Hand zu geben, bekommt vollends gar keinen „Arbeitslohn". Warum das alles? Warum fällt der Lohn so verschieden aus? Ver- schieden für die einzelnen Klassen der Spararbeiter unter einander und verschieden gegenüber der Entlohnung der Muskelarbeit? Warum trägt das „Arbeitsjahr" dem Eigentümer von 20 Millionen 1 Million Gulden, und dem Handarbeiter, der sich plagt und nichts erspart, 500 Gulden, und dem Handwerker, der sich plagt und dabei 50 Gulden erspart hat, für Muskelarbeit und Spararbeit zusammen 502 Gulden? Das müßte eine Theorie, die den Zins als Arbeitslohn erklärt, doch etwas genauer aufzuklären unternehmen. Statt dessen fertigt Courcelle die heikle Frage nach der Höhe der Zinsen einfach mit der Generalberufung auf das „große Gesetz" von Angebot und Nachfrage ab. Man könnte wirklich ohne alle Ironie sagen, daß Courcelle mit un- gefähr der gleichen theoretischen Berechtigung die körperliche Arbeit des Zinseneinstreichens oder des Couponabschneidens als den Bezugsgrund des Kapitalzinses hätte erklären können: eine Arbeit, die der Kapitalist leistet, ist sie auch, und wenn man es sonderbar finden sollte, daß nach dem Gesetze von Angebot und Nachfre^e diese Sorte Arbeit so unge- wöhnlich hoch entlohnt wird, so wäre dies doch kaum sonderbarer, als daß die geistige Mühe des Millionenerben jährlich mit so und so viel Hunderttausend Gulden bezahlt wird. So gut man von dieser letzteren Arbeit sagen kann, es haben eben so ausnehmend wenige Leute den „Wunsch und die Fähigkeit" Millionenkapitalien aufzubehalten, daß bei der bestehenden Nachfrage nach Kapitalien der Lohn dafür so hoch aus- fallen muß: ebensogut kann man auch sagen, daß nur so überaus wenige Leute den „Wunsch und die Fähigkeit" haben, Zinsen von Hundert- tausenden einzustreichen. Am „Wunsch" wird es in beiden Fällen kaum irgend jemandem fehlen, und was die „Fähigkeit" anbelangt, so beruht sie in beiden Fällen doch hauptsächlich darauf, daß man so glücklich ist, ein Millionenkapital zu besitzen. 268 X. Die Arbeitstheorien. B. Französische Gruppe. Wenn es nach diesen Ausführungen noch einer direkten Widerlegung der CouRCELLEschen Arbeitstheorie bedürfen sollte, so stelle man sich folgenden Fall vor Augen. Der Kapitalist A leiht dem Fabrikanten B eine Million Gulden zu 5% für ein Jahr. Der Fabrikant verwendet die Million produktiv und erzielt dabei einen Gesamtgewinn von 60000 fl., wovon er 50000 fl. als Schuldzinsen dem A abführt, und 10000 fl. als Unternehmer- gewinn für sich behält. Nach Courcelle sind die 50000 fl., die A erhält, der Lohn dafür, daß er die künftigen Bedürfnisse vorausbedacht, und den Versuchungen, die Million sofort zu verzehren, durch einen auf die Genuß- enthaltung gerichteten Willensakt entgegengearbeitet hat. Hat aber B nicht genau dieselbe, ja sogar eine noch größere Arbeit geleistet? Ist nicht auch B, nachdem er die geliehene Million in Händen hatte, in Ver- suchung gestanden, sie sofort zu verzehren? Hätte er nicht z. B. die Million verjubeln und dann Krida machen können? Hat nicht auch er dieser Versuchung durch einen Willensakt der Enthaltung widerstanden? Hat er nicht an Voraussicht. und Vorsorge für künftige Bedürfnisse noch mehr geleistet als A, indem er nicht bloß wie dieser im allgemeinen an künftige Bedürfnisse dachte, sondern der Gütermasse, die in seinen Händen war, diejenige positive Verwendung gegeben hat, in der sie, umgewandelt in Produkte, künftige Bedürfnisse wirklich zu befriedigen geeignet wird? Und doch erhält A für die Arbeit der Konservierung seiner Million 50000 fl., und B, der dieselbe geistige und moralische Arbeit an derselben Million in noch erhöhtem Maße geleistet hat, bekommt nichts; denn die 10000 fl., die seinen Unternehmergewinn ausmachen, sind die Entlohnung für eine andere Sorte von Tätigkeit. Man w^nde ja nicht ein, B habe die Million nicht verzehren dürfen, weil sie ni..ht sein Eigentum gewesen sei; in seiner Ersparung liege daher kein entlohnungswürdiges Verdienst. Denn auf das Verdienst kommt es bei dieser Theorie überhaupt nicht an. Der Ersparungslohn ist groß, wenn nur die ersparte und bewahrte Summe groß ist, und ohne die mindeste Rücksicht darauf, ob die Bewahrung viel oder wenig moralische An- strengung erfordert hat. Daß aber der Schuldner B die Million wirklich bewahrt und die Versuchungen, sie zu verzehren, überwunden hat, läßt sich absolut nicht leugnen. Warum bekommt er keinen Ersparungslohn? — Ich glaube, die Auslegung dieser Tatsachen kann nicht zweifelhaft sein; sie lautet: man bekommt den Kapitalzins eben nicht dafür, daß man dabei eine Arbeit leistet, sondern einfach, weil man Eigentümer ist; der Kapitalzins ist kein Arbeits-, sondern ein Besitzeinkommen. — Eine etwas schüchterne Vertretung hat Coürcelle-Seneüils Theorie späterhin durch Gauwes^) gefunden. Dieser Autor trägt sie zwar vor, aber nicht als ausschließliche Zins- 4 ») Pr6cis du Cours d'Economie Politique, 2, Auflage, Paris 1881 und 1882. Ursprung der deutschen Arbeitstheorien. 269 theorie und nicht ohne gewisse Klauseln und Redewendungen, die deutlich verraten, daß er die Konstruktion der Spararbeit doch nicht unbedenklich findet. „Da die Erhaltung des Kapitales eine Willensanstrengung und in vielen Fällen auch industrielle oder finanzielle Kombinationen von gewisser Schwierigkeit voraussetzt, so konnte man sagen, daß sie eine wahrhafte Arbeit darstellt, die man bisweilen nicht ohne Berechtigung travail d'^pargne genannt hat" (I S. 183). Und ein anderesmal begegnet Caqwes dem Zweifel, ob dem Kapitalisten ein Zins gebühre, da ja doch das Dar- leihen keine Arbeit koste, die einen Zinsanspruch begründen könnte, mit den Worten: „Im Darleihen liegt keine Arbeit, es mag sein; aber sie liegt in dem beharrlichen Willen das Kapital zu erhalten, und in der verlängerten Enthaltung von jedem Akte der Verzehrung, des Genusses gegenüber dem Werte, den es repräsentiert. Es ist, wenn der Ausdruck nicht zu bizarr erscheint, eine Spararbeit, welche durch den Zins entlohnt wird"^). Daneben trägt aber Cauwes auch andere Begründungen des Kapitalzinges, namentlich eine Lehre von der Produktivität des Kapitales vor, weshalb wir ihm noch unter den Eklektikern begegnen werden. Eine flüchtige Annäherung an die Arbeitstheorie Coubcelles findet sich noch bei einigen anderen Schriftstellern französischer Zunge; so bei Cherbuliez^), der den Kapitalzins als Lohn für die „efforts d'abstinence" erklärt; und bei Josef Garnier, der in seine sehr buntscheckige Erklärung des ZLnsphänomens auch das Schlagwort von der „Ersparungsarbeit" einmischt^). Doch verfolgen die Letztgenannten den Gedanken nicht tiefer. C. Die deutsche Gruppe. Von demselben Motive, das in Frankreich den Stoff zu einer ge- quälten, bis ins Detail ausgeführten Zinstheorie abgab, hat auch, aller- dings in freieren Zügen, eine hervorragende Gruppe deutscher National- ökonomen Gebrauch gemacht: die Gruppe der „Katheder-Sozialisten", wie ich sie, einem eingebürgerten Sprachgebrauche folgend, kurz nennen will. Die Arbeitstheorie der deutschen Katheder-Sozialisten ist indes mit der französischen Variante nur durch die Gemeinsamkeit des Grundge- dankens lose verwandt. In der Art seiner Verwertung geht sie ihre eigenen Wege, wie sie auch in ihrem Ursprünge von jener durchaus unabhängig ist. AlsVorläufer der deutschen Arbeitstheorie kann Rodbertüs-Jagetzow angesehen werden, welcher die Grundidee derselben in einigen gelegent- lichen Bemerkungen streift. Rodbertüs spricht einmal von der Denk- barkeit eines Gesellschaftszustandes, in dem zwar Privateigentum über- 1) II, S. 189; vgl. auch I, S. 236. ») Siehe oben S. 256. ») Trait6 d'Economique Politique, 8. Aufl., Paris 188C, S. 522: le loyer „römunöre et provoque les efforts ou le travail d'6pargne et de conservation". 270 -X. Die Arbeitstheorien. C. Deutsche Gruppe. haupt, aber kein rentetragendes Privateigentum bestünde, und in dem daher alles existierende Einkommen Arbeitseinkommen in der Gestalt von Gehalten oder Löhnen wäre. Ein solcher Zustand wäre dann vor- handen, wenn einerseits die Produktionsmittel, Grund und Kapital, im gemeinschaftlichen Eigentum der ganzen Gesellschaft stünden, anderer- seits aber an den Einkommensgütem, die jeder nach Maßgabe seiner Arbeitsleistungen zugewiesen erhielte, ein Privateigentum anerkannt würde. Zu dieser Ausführung merkt dann Rodbertus in einer Note an, daß man in wirtschaftlicher Beziehung überhaupt das Eigentum an Pro- duktionsmitteln wesentlich anders beurteilen müsse, als das Eigentum an Einkommensgütern. „Dem Einkommenseigentum wird schon wirt- schaftlich genügt, wenn es nur hauswirtschaftlich konsumiert wird. Das Grund- und Kapitaleigentum ist aber zugleich eine Art Amt, das national- ökonomische Funktionen mit sich führt, Funktionen, die eben darin bestehen, die ökonomische Arbeit und die ökonomischen Mittel der Nation dem nationalen Bedürfnis entsprechend zu leiten, also diejenigen Fun- tionen zu üben, die in dem vorausgesetzten Gesamteigentumszustande durch nationale Beamte geübt werden würden. Die günstigste Seite also, die man von diesem Gesichtspunkte aus der Rente — der Grundrente wie dem Kapitalgewinne — abgewinnen kann, ist die, daß sie die Ge- hälter solcher Beamten vertritt, daß sie eine Gehaltsform vorstellt, bei der der Beamte an der richtigen Übung seiner Funktionen auch pekuniär stark interessiert ist"^). Ähnlich äußert sich Rodbertus ein anderesmal^), daß nicht bloß Kenntnisse, sondern auch moralische Kraft und Tätigkeit dazu gehören, um in einer bestimmten Produktion die Teilung der Operationen einer Menge von Arbeitern mit Erfolg zu leiten. Diese Art von Diensten können die produktiven Arbeiter selbst nicht leisten, sie seien aber dennoch in der nationalen Produktion absolut notwendig. Insofeme nun diese nützlichen und notwendigen Dienste von den Kapitalisten, Grundbesitzern und Unternehmern geleistet werden, werde niemand zweifeln, daß sie für dieselben „ebensogut ihre Vergeltung verlangen können, wie jeder andere für Dienste anderer nützlicher Art. Sie können es allerdings mit demselben Rechte, wie es z. B. ein Minister des Handels und der öffentlichen Arbeiten kann, gesetzt, daß er seine Schuldigkeit tut." Rodbertus selbst war indes keineswegs gewillt, auf diese Idee eine Theorie des Kapitalzinses, d. i. eine Erklärung derjenigen Form des Kapitalisteneinkommens zu stützen, welche wir im tatsächlichen Leben beobachten. Er weist im Gegenteil diesen Gedanken ausdrücklich ab, indem er wiederholt hervorhebt, daß der heutige Kapitalzins eben nicht ^) Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grundbesitzes. Zweite Ausgabe 1876, II, S. 273f. *) Soziale Frage S. 146. Ursprung der deutschen Arbeitstheorien. Schäffle. 271 den Charakter einer solchen Vergeltung für geleistete Dienste, einer im Wege der „abgeleiteten Güterverteilung" zu erlangenden Besoldung, sondern die Natur eines unmittelbaren, schon bei der „ursprünglichen Güterverteilung" sich realisierenden Anteils am Nationalprodukt habe; und die Ursache dieser Partizipation erblickt Kodbertus in ganz anderen Verhältnissen, nämlich in einem kraft des Grund- und Kapitaleigentums gegenüber den Arbeitern geübten Zwange i). Dieselbe Idee, welche so von Rodbertüs flüchtig gestreift, jedoch absichtlich ohne Nutzanwendung auf die Zinstheorie gelassen worden war, taucht nun später bei einigen hervorragenden Katheder-Sozialisten wieder auf, um diesmal in breiterer Ausführung für das Zinsproblem verwertet zu werden. Zunächst von Schäffle. Schon in der dritten Auflage seines älteren Hauptwerkes, des gesellschaftliehen Systemes der menschlichen Wirt- schaft (1873), nimmt er den Gedanken, daß der Kapitalzins ein Entgelt für Dienstleistungen des Kapitalisten ist, in seine formelle Zinsdefinition auf. „Der Gewinn", schreibt er, „ist anzusehen als die Vergeltung, welche der Unternehmer für den volkswirtschaftlichen Beruf der selb- ständigen wirtschaftlichen Zusammenfassung der Produktivkräfte mittelst spekulativer Kapitalnutzung beanspruchen darf" 2). Diese Auffassung kehrt auch sonst an zahlreichen Stellen des Werkes wieder; und zwar gewöhnlich an solchen, in denen der Kapitalzins von einem weiteren Gesichtspunkte aus betrachtet wird. Auch verteidigt sie Schäffle einmal als die einzig berechtigte gegenüber den anderen Zinstheorien, die er sämtlich verwirft^). Eigentümlicher Weise führt aber Schäffle die intimeren Details der Zinslehre, z. B. die Frage nach der Höhe des Zins- fußes usw., nicht an der Hand dieses Grundgedankens, sondern mit dem technischen Rüstzeug der Nutzungstheorie durch, die er freilich durch die subjektive Färbung, die er dem Nutzungsbegriff gibt, jener anderen Auf- fassung angenähert hat*). In seinem jüngeren Hauptwerke, dem „Bau und Leben des sozialen Körpers", tritt die Auffassung des Zinses als Entgelt einer „funktionellen Leistung" des Kapitalisten noch entschiedener hervor. Sie gewährt Schäffle die Möglichkeit, den Kapitalzins wenigstens für die Jetztzeit und insolange zu rechtfertigen, als man nicht imstande ist, durch eine zweckmäßigere Organisation die kostspieligen Dienstleistungen der Privat- kapitaJisten entbehrlich zu machen ß). Aber auch jetzt werden die Details ^) Soziale Frage S. 75 und 146; siehe auch unten Abschnitt XII. «) II, S. 468. ») II, S. 459f. *) Siehe oben S. 189f. *) „Hienach kann ich allerdings der absoluten Verurteilung des Kapitales und Kapitalprofites als „.„reiner Mehrwert- Aneignung" " nicht zustimmen; es ist eine 272 X. Die Arbeitstheorien. C. Deutsche Gruppe. der Zinserscheinungen nicht aus dieser Auffassung heraus erklärt, und auch jetzt bleiben noch Reste der Nutzungstheorie stehen, deren Nutzungs- begriff überdies objektiv geworden ist^). So hat Schäffle gleichsam den Grundton, aber auch nur den Grundton einer Arbeitstheorie angeschlagen: zu einem ins einzelne gehenden Ausbau derselben, wie er sich bei Cour- celle-Seneuil findet, ist er nicht gekommen. Ein wenig, aber auch nur ein wenig weiter ist Wagner gegangen. Auch ihm sind die Kapitalisten „Funktionäre der Gesamtheit für die Bildung und Beschäftigung des nationalen Produktionsmittelfonds" 2), und der Kapitalgewinn ist ein Einkommen, daß sie für diese, oder wenigstens in dieser Funktion beziehen (S. 594). Er charakterisiert aber die Leistungen der Kapitalisten, die in der „Bildung und Verwendung von Privat- kapitalien", in „Disponier- und Spartätigkeiten" liegen, bestimmter, als dies Schäffle getan hat, als eigentliche „Arbeiten" (S. 111, 592, 630), die einen Teil der gesamten zur Güterproduktion aufzuwendenden Kosten und insoweit ein „konstitutives Wertelement" bilden (S. 630). Auf welche Weise dieses Element zur Bildung des Güterwertes beiträgt, wie sich aus seiner Wirksamkeit die Proportionalität des Zinses zu den Kapitalsummen, die Höhe des Zinsfußes u. dgl. ableiten läßt, darauf ist Wagner ebenso- wenig eingegangen als Schäffle: auch er hat also, wenn auch etwas bestimmter als jener, nur den Grundton der Arbeitstheorie angeschlagen. Bei dieser Sachlage wage ich nicht mit Bestimmtheit zu behaupten, ob die Katheder- Sozialisten mit jener Gedankenreihe überhaupt eine theoretische Erklärung, oder aber nur eine sozialpolitische Rechtfertigung des Kapitalzinses zu geben vermeinten. Für die erste Auffassung spricht die Aufnahme des Arbeitsmotives in die formelle Definition des Kapital- zinses; weiter der Umstand, daß wenigstens Wagner sich gegen alle anderen Zinstheorien ablehnend verhält, so daß er, wenn auch die Arbeits- theorie nicht die seinige wäre, den Zins theoretisch ganz unerklärt gelassen hätte; endlich daß Wagner die „Arbeit" des Kapitalisten ausdrücklich für einen Bestandteil der Produktionskosten und für ein „konstitutives Wertelement" erklärt, was wohl schwer anders zu deuten ist, als daß er Funktion von kardinaler Bedeutung, die das Privatkapital jetzt leistet, indem es sich des „„sich selbst überlassenen Verkehrs"" (Rodbertus) doch immerhin aus welchen Motiven immer annimmt." (2. Aufl. III, S. 386.) ,, Historisch kann denn auch der Kapitalismus vollauf gewürdigt, der Kapitalprofit gerechtfertigt werden. Den letzteren aufzuheben, ohne vorher eine bessere Organisation der Produktion gefunden zu haben, ist unsinnig." ,,Man darf daher erst dann den Kapitalprofit als ,, „Mehrwert" "-Aneignung praktisch verdammen, wenn man den volkswirtschaftlichen Dienst des Privatkapitales durch eine positiv nachgewiesene, vollkommenere und weniger ,,,, Mehrwert schluckende"" öffentliche Organisation zu ersetzen vermag." (III, S. 422f.) 1) Siehe oben S. 190. *) Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre, I. Teil, Grundlegung, 2. Ausgabe, Leipzig und Heidelberg 1879, S. 40, 594. Kritik. 273 die Erscheinung des „Mehrwertes" auf den Vergütung heischenden Arbeits- aufwand des Kapitalisten als theoretische Ursache zurückführt. Für die zweite Auffassung, wonach die Katheder-Sozialisten auf die „Dienste" der Kapitalisten nur als Rechtfertigungsgrund für den be- stehenden Kapitalzins hingewiesen hätten, ohne damit sein Dasein erklären zu wollen, spricht der Mangel jeder theoretischen Detailausführung, der Umstand, daß Schäffle wenigstens zur Detailerklärung, soweit er sie überhaupt gibt, sich einer anderen Zinstheorie bedient, endlich überhaupt das große Übergewicht, welches in den Schriften der katheder-sozia- listischen Gruppe auf das politische Element gegenüber dem theoretischen . gelegt wird^). Unter solchen Umständen halte ich es für angemessen, meine kritischen Bemerkungen in eine hypothetische Form zu kleiden. Für den Fall, ali die Katheder-Sozialisten durch den Hinweis auf die „Arbeitsleistungen" der Kapitalisten das Dasein des Kapitalzinses nur sozialpolitisch rechtfertigen wollten, sind ihre Ausführungen in höchstem Grade beachtenswert. Auf diese Seite der Frage tiefer einzu- gehen, liegt indes außerhalb der Aufgabe, die ich in diesem Teile meines Werkes verfolge. Für den Fall jedoch, daß die Katheder-Sozialisten durch jenen Hin- weis das Dasein des Kapitalzinses theoretisch zu erklären beab- sichtigten, müßte ich das Urteil gänzlicher Unzidänglichkeit, das ich über die französische Variante der Arbeitstheorie fällte, auch auf den deutschen Zweig derselben ausdehnen. — Es ist im Laufe der dogmengeschichtlichen ^) Seit i.ch diese Zeilen niedergeschrieben habe (1884), ist der in ihnen ausgedrückte Zweifel von einem der beteiligten Autoren für seine Person durch eine ausdrückliche Erklärung gelöst worden. A. Wagner hat nämlich in der 3. Auflage seiner „Grund- legung" (II. Teil, 1894, S. 289ff., § 134) erklärt, daß er mit den fraglichen Ausführungen nicht eine theoretische „Erklärung" des Kapitalzinses, sondern eine „Begründung" desselben im Sinne einer „sozialpolitischen Rechtfertigung" zu geben gewillt gewesen sei. Was die theoretische Frage anbelangt, so glaubt Wagner meine inzwischen auf- gestellte Erklärung des Zinses aus dem „Einfluß des Zeitmomentes auf die menschliche Wertschätzung der Güter" als „im ganzen gelungen" ansehen zu dürfen, betont jedoch, daß dies meine theoretische Erklärung noch keine unmittelbare „Rechtfertigung und Begründung des Privatkapitales als Institution der Rechtsordnung" enthalte, weshalb die von ihm vertretene Auffassung zu meiner „Erklärung" noch hinzutreten müsse, um eine volkswirtschaftliche Begründung auch im letzteren Sinne zu geben. In seiner allemeuesten Äußerung zur Sache (Theoretische Sozialökonomik I. Abt. 1907, S. 322ff.) hat aber Wagner seine Meinung abermals und zwar dahin modifiziert, daß er die „Er- gänzungsbedürftigkeit" meiner Theorie „doch noch etwas mehr vertrete als er es früher tat" und für die „sozialökonomische Seite des Problems an der Arbeitstheorie festhalte." Diese liefere nicht bloß für die Rechtfertigung, sondern auch für die „Erklärung und • Begründung des Zinses als rein ökonomische Kategorie die noch erforderliche Ver- vollständigung". — In ganz unzweideutiger Weise hat sich in der Zwischenzeit Stolz- XANN (Die soziale Kategorie, Berlin 1896, S. 421f.) auf den Boden der Arbeitstheorie gestellt; siehe noch unten im Anhang. "Böhm-Bawerk, Eapltalzins. 4. Aufl. 18 274 X. Die Arbeitstheorien. C. Deutsche Gruppe. Entwicklung so oft geschehen, daß man sozialpolitische Rechtfertigung mit theoretischer Erklärung des Zinses verwechselte, daß es sich wohl der Mühe verlohnen mag, den Unterschied zwischen beiden einmal recht deutlich ins Licht zu stellen. Ich will zu diesem Ende dem Leser eine Parallele vorführen, die, wie ich hoffe, zugleich Gelegenheit geben wird, mit einem Schlage auch die Unzulänglichkeit der Arbeitstheorie darzutun. Mit dem ersten Erwerb von Grund und Boden ist regelmäßig eine gewisse Bemühung oder Arbeit des Erwerbers verbunden; entweder mußte er den Boden erst urbar machen, oder er mußte doch an seine Besitz- ergreifung eine gewisse Mühe wenden, die unter Umständen, z, B. wenn ein längeres Suchen nach dem für die Niederlassung geeigneten Platze vorherging, nicht gering sein kann. Das Grundstück trägt nun seinem Erwerber eine Grundrente. Kann man das Dasein der Grundrente aus der Tatsache des ursprünglichen Arbeitsaufwandes erklären? Das hat, mit Ausnahme Careys und einiger weniger Genossen seiner verschrobenen Ansichten, niemand zu behaupten gewagt. Es läßt sicK auch von Nie- mandem behaupten, der für den Zusammenhang der Dinge nicht ganz blind ist. Es ist sonnenklar, daß eine fruchtbare Talniederung nicht deshalb eine Rente trägt, weil ihre Okkupation einst Arbeit gekostet hat, und daß eine felsige Berglehne nicht deshalb rentelos ist, weil ihre Okkupation ohne Mühe vor sich gegangen ist. Es ist ferner unbestreitbar, daß zwei gleich fruchtbare und gleich gut gelegene Grundstücke gleich viel Rente tragen, auch wenn das eine, schon von Natur aus fruchtbar, mit geringer Mühe bloß okkupiert, das andere erst mit großem Arbeitsauf wände ge- urbart werden mußte; es ist ferner klar, daß 200 Joch nicht deshalb doppelt so viel Rente tragen als 100 Joch, weil ihre einstige Besitzergreifung doppelt so mühsam war; es ist endlich klar, daß, wenn die Grundrente mit zunehmender Bevölkerung steigt, dies mit dem Uraufwande an Arbeit nicht das mindeste zu tun hat: kurz, das Auftreten der Grundrente und vollends das Ausmaß derselb(!n harmoniert so ganz und gar nicht mit dem Vorkommen und der Größe des ursprünglich an die Besitzergreifung gewendeten Arbeitsaufwandes, daß in letzterem unmöghch das erklärende Prinzip für die Erscheinung der Grundrente gefunden werden kann. Wesentlich anders steht die Frage, ob man das Dasein der Grundrente mit jenem Arbeitsauf wände nicht rechtfertigen kann. In dieser Richtung läßt sich ganz wohl der Standpunkt vertreten, daß derjenige, der ein Grundstück geurbart oder auch nur als Pionier der Kultur zuerst okkupiert hat, sich hiedurch ein Verdienst erworben hat, das eines ebenso dauernden Lohnes wert ist, als die Vorteile, die daraus der menschlichen Gesellschaft erwachsen, dauernd sind; daß es gerecht und billig ist, wenn derjenige, der ein Grundstück für alle Zeit der Kultur überliefert hat, in der Gestalt der Grundrente auch für alle Zeit einen Teil seines Erträgnisses erhält. Ich will nicht behaupten, daß diese Rücksicht für das Institut des Privat- Kritik. 275 eigentums an Grund und Boden und für den darauf basierenden Grund- rentenbezug Privater unter allen Umständen entscheidend sein muß, aber sie kann es unter Umständen sicherlich werden. Es ist z. B. sehr wohl denkbar, daß eine Kolonialregierung weise handelt, wenn sie, um die Besiedelung des Territoriums zu beschleunigen, als Prämie für die Arbeits- leistung der Urbarung und ersten Okkupierung das Eigentum an den in Kultur genommenen Ländereien und damit das Kecht auf immerwährenden Bezug der Grundrente verheißt. — So kann also die Rücksicht auf den Arbeitsaufwand des ersten Besitzergreifers allerdings ein ganz plausibler Rechtfertigungsgrund und ein ausschlaggebendes sozialpolitisches Motiv für die Einführung und Beibehaltung der Grundrente bilden, während sie absolut kein zureichender Erklärungsgrund für dieselbe war. Und ganz ähnhch steht es auch mit dem Verhältnis der „Spar- und Disponiertätigkeiten" der Kapitalisten zu dem Kapitalzinse. Insoferne man in diesen Tätigkeiten einerseits das wirksamste Mittel zur Bildung und zweckmäßigen Verwendung eines ausreichenden Nationalkapitales erbhckt, und andererseits nicht erwarten kann, daß dieselben in aus- reichender Menge von Privaten dargebracht werden, wenn ihnen dafür nicht auch dauernde Vorteile in Aussicht gestellt werden: kann die Rück- sicht auf jene Leistungen der Kapitalisten einen höchst triftigen Recht- fertigungsgrund und ein ausschlaggebendes legislatives Motiv für die Ein- führung oder Aufrechterhaltung des Kapitalzinses abgeben. Aber eine hievon ganz verschiedene Frage ist es, ob das Dasein des Kapitalzinses mit dem Hinweis auf jene „Arbeit" auch theoretisch erklärt werden kann.^ Wenn dies der Fall sein sollte, so müßte sich doch irgend ein regelmäßiges Verhältnis zwischen der angebUchen Wirkung, dem Kapitalzinse, und ihrer vermeintlichen Ursache, dem Arbeitsaufwande des Kapitalisten, nachweisen lassen. Aber ein solches Verhältnis wird man in der Welt der Wirkhchkeit vergebens suchen. Eine Million trägt 50000 fl. Zinsen, gleichviel, ob die Ersparung und Verwendung der Million ihrem Besitzer viel, wenig oder gar keine Mühe gekostet hat; eine Million trägt zehn- tausendmal so viel Zinsen, als eine Summe von 100 fl., wenn auch an der Ersparung der 100 fl. unendlich mehr Sorge und Plage hängen sollte als an der Ersparung der MUhon; der Schuldner, der fremdes Kapital bewahrt und verwendet, erhält trotz dieses „Arbeitsaufwandes" keinen Zins; der Eigentümer erhält ihn, auch wenn seine „Arbeit" gleich Null ist. Muß doch ScHÄFFLE selbst einmal zugestehen: „Eine Verteilung nach Ver- hältnis des Umfanges und der Verdiensthchkeit der Leistung findet weder für die Kapitalisten untereinander, noch für die Arbeiter gegenüber dem Kapitale statt. Sie ist weder Prinzip, noch ist sie zufällige Folge" ^). Wenn aber erfahrungsgemäß der Kapitalzins außer allem Verhältnis ') Bau und Leben, III, 451. 18» 276 X. Die Aibeitstheorien. C. Deutsche Grappc. ZU der vom Kapitalisten geleisteten Arbeit steht, wie soll vernünftiger- weise in der letzteren sein erklärendes Prinzip gefunden werden können? Ich glaube, die Wahrheit jst zu deutlich in den Tatsachen ausgeprägt, um eines langen Hinweises zu bedürfen: so gleichgiltig der Kapitalzins gegen einen Arbeitsaufwand des Kapitalisten ist, so genau steht er im Verhältnis zur Tatsache des Besitzes und zur Größe des Besitzes; der Kapitalzins ist, ich wiederhole meine früheren Worte, kein Arbeits-, sondern ein Besitz- einkommen. So erweist sich die Arbeitstheorie in allen Varianten unfähig, eine stichhältige theoretische Erklärung des Kapitalzinses zu liefern. Kein Unbefangener konnte wohl auch ein anderes Ergebnis erwarten. Wer nicht an gekünstelten Auslegungen besondere Freude hat, für den konnte es keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß die wirtschaftliche Macht des Kapitales doch einen anderen Hintergrund hat als ein „Arbeitsvermögen" des Kapitalisten, daß der Kapitalzins nicht bloß dem Namen, sondern auch der Sache nach etwas anderes ist als ein Arbeitslohn, Daß man dennoch auf allerlei Arbeitstheorien verfiel, erklärt sieh nur aus der seit Smith und Ricardo eingerissenen Mode, allen Wert auf Arbeit zurückzuführen. Um auch den Kapitalzins in die Einheitlichkeit dieser Theorie zu zwängen und ihm den vermeintlich einzig legitimen Ursprung zuschreiben zu können, scheute man dann auch vor den er- künsteltsten Konstruktionen nicht zurück i). ^) Im Anhang an diesen Abschnitt möchte ich noch J. G. Hoffmanns mit ein paar Worten gedenken. Auch er deutet nämlich den Kapitalzins als Lohn für gewisse Arbeiten. „Auch diese Renten", sagt er, die Kapitalrenten im Sinne führend, ,,sind nur einLohnfürArbeiten, und zwar für sehr gemeinnützige ; denn mit ihrem Empfang ist wesentlich und vorzüglich die Verpflichtung zu freier Tätigkeit für öffentliche Wohl- fahrt, für Wissenschaft und Kunst, für alles verbunden, was das menschliche Leben erleichtert, adelt und schmückt." (Über die wahre Natur und Bestimmung der Renten aus Boden- und Kapitalcigentum in der Sammlung kleiner Schriften staatswirtschaft- lichen Inhalts, Berlin 1843, S. 566). — Hoffmann gegenüber ist wohl in noch höherem Grade als gegenüber den Kathedersozialisten der Zweifel berechtigt, ob seine obigen Worte als eine theoretische Erklärung des Kapitalzinses gemeint waren. Waren sie es, so ist seine Theorie ohne Frage noch unzulänglicher als alle anderen Arbeitstheorien; waren sie es nicht, so liegt es außerhalb meiner Aufgabe, ihre Berechtigung nach einer anderen Richtung zu prüfen. XL John Rae. John Rae^) gehört zu den nicht ganz wenigen National-Ökonomen hervorragenden Ranges, welche von ihren Zeitgenossen fast völlig un- beachtet blieben und deren Bedeutung erst von späteren Greneratioiien erkannt wurde, nachdem ihre verschollenen Entdeckungen inzwischen von anderer Seite wiederentdeckt und unter günstigeren Zeitumständen zu allgemeinerer Beachtung und Diskussion gebracht worden waren. Rae hat speziell auf dem Gebiete der Kapitaltheorie eine Anzahl äußerst origineller und bemerkenswerter Einsichten besessen, die zum Teile eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Ansichten aufweisen, die un- gefähr ein halbes Jahrhundert später von Jevons und vom Schreiber dieser Zeilen entwickelt wurden. Seine Zeitgenossen gingen aber gerade an dem originellen Teile seiner Lehren achtlos vorüber. Zwar kam Rae ein Umstand zu statten, von dem man meinen sollte, er hätte seiner Lehre die größte und rascheste Verbreitung sichern müssen; sein Buch wird nämlich von dem glänzendsten und meistgelesenen nationalökonomischen Schriftsteller seiner Zeit, von J. St. Mill, viel und ausführlich zitiert Aber eigentümlicher Weise hat Mill in seine zahlreichen Zitate nichts von dem aufgenommen, was den originellen Kern der Anschauungen Raes ausmacht; er zitiert vielmehr nur ornamentierendes Beiwerk, und zwar solches, welches sich ebensogut auch zur Illustrierung der herkömm- lichen, von Mill selbst vorgetragenen Lehren brauchen ließ 2). Da nun das RAEsche Buch auch nur von äußerst wenigen Personen im Original gelesen worden zu sein scheint^), so blieb gerade der interessanteste Teil ^) Statement of some new principles on the subject of Political Economy, ex- posing the fallacies of the Systems of free trade, and of some other doctrines maintained in the „Wealth of Nations", Boston 1834. *) Siehe den unten genannten Aufsatz Mixters, S. 165. ^) Hierauf deutet die große Seltenheit dieses Buches. Ich habe mich vergeblich bemüht, ein käufliches Exemplar aufzutreiben, und habe erst kurz vor der Veröffent- lichung der zweiten Auflage meines Buches durch die Güte Prof. C. Mengers, dem die Erwerbung eines Exemplars für seine durch ihre Vollständigkeit berühmt« Bibliothek gelungen war, Einblick in das Werk erhalten. Seither hat Prof. Mixter im Jahre 1906 einen Neudruck des zu posthumer Berühmtheit gelangten Werkes unter dem ver- 278 XI. John Rae. seines Inhaltes schon seinen Zeitgenossen, und umsoraehr den Späteren unbekannt, welche durch Mills Zitate kaum auf die Wichtigkeit des Buches aufmerksam und zu Nachforschungen nach dem rasch verschollenen Buche veranlaßt werden konnten. So erklärt es sich, daß selbst ein in F^ngland lebender gründlicher Literaturkenner wie Jevons das Buch nicht gesehen zu haben scheint; wenigstens konnte ich in seinem Werke keine Spur einer Bekanntschaft mit ihm entdecken, die im anderen Falle bei der nahen Verwandtschaft mancher Ansichten beider Autoren und bei der großen Gewissenhaftigkeit von Jevons gewiß nicht hätte fehlen können. Auch mir war das Buch bei der Herausgabe der ersten Auflage meines Werkes über „Kapital und Kapitalzins" unbekannt. Ich kannte lediglich Mills Zitate daraus, ohne ihm auf Grund derselben eine weiterreichende Bedeutung beizumessen^). Erst unlängst wurde Rae aus seiner Ver- schollenheit durch seinen Landsmann C. W. Mixter hervorgezogen, der in einer au'^führhchen Abhandlung 2) den wesentlichen Inhalt seines Werkes reproduzierte und der Meinung Ausdruck gab, daß die wesentlichsten Punkte derjenigen modernen Kapitalstheorie, die später vom Verfasser dieses Werkes entwickelt wurde, schon von Rae antizipiert worden seien, und zwar sogar in vollständigerer und vorwurfsfreierer Weise ^). Ich ergreife gerne die Gelegenheit, die mir die neue Auflage der „Ge- änderten Titel „The sociological theory of capital" herausgegeben, wobei er auch au der Reihenfolge des — im übrigen wörtlich abgedruckten — Textes starke Änderungen vornahm (New-York, Macmillan Comp. 1905). Seltsamerweise ist das in seiner Heimat unbeachtet gebliebene Werk zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen in das Italienische übersetzt und in die Bibliotheca dell' Economista Vol. XI (Turin 1856) aufgenommen worden, was aber gleichfalls zu seiner Verbreitung in der italienischen Literatur nicht viel beigetragen zu haben scheint. Luigi Cossa widmet ihm in seiner ,,Introduzione allo Studio dell' Economia Politica" (Mailand 1892) S. 483 fünf Zeilen des Inhalts, daß Rae gute, von Stuart Mill aufgenommene Bemerkungen über die Akkumulation des Kapitals gemacht habe — eine Bemerkung, die mir darauf zu deuten scheint, daß auch Cossa, trotz des Bestandes der italienischen Übersetzung, von Rae nur soweit Notiz genommen hat, als Mills Zitate reichten. ^) In einer kurzen Übersicht, die ich in der ersten Autlage meiner ,, Positiven Theorie" (S. 249 Note 1) über die bisherige literarische Behandlung des Themas der Zeit in der Volkswirtschaft gab, konstatierte ich demgemäß nur, daß sich ,,bei dem von J. St. Mill ausführlich zitierten Rae" „gute Bemerkungen" über jenes Thema finden, während ich Jevons als den ersten ansah, der dasselbe ex professo behandelt habe. In der ersten Auflage der ,, Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien" habe ich, da mir eine, aus Mills Zitat eben nicht ersichtliche Zinstheorie Raes nicht bekannt war, Rae gar nicht genannt. -) „A forerunner of Böhm-Bawerk" im Quarterly Journal of Economics Vol. XI, Januar 1897, SS. 161—190. ^) a. a. 0. S. 190: ,,. . . he anticipated Böhm-Bawerks theory of interest, in the substance of its leading features and in many of its details, and even to a great extent in the exact form of its expression. He did more; he expanded that theory on some sides in which it was lacking, he avoided its greatest errors." Darstellung seiner Lehre. 279 schichte und Kritik der Kapitalzinstheorien" bietet*), um eine zweifellose Lücke, welche die erste Auflage meines Werkes gelassen hatte, durch eine ausführliche Darstellung der Lehre Raes auszufüllen. Allerdings würde ich glauben, meine Aufgabe unvollständig zu erfüllen, wenn ich nicht auch gegenüber Rae, geradeso wie gegenüber jedem anderen in diesem kritisch-historischen Werke besprochenen Autor, der Darstellung seiner Ansichten eine kritische Würdigung derselben folgen ließe, welche nicht in allen Punkten mit dem Urteile Mixters wird übereinstimmen können. A. Darstellung. Rae, ein na^h Canada ausgewanderter Schotte, hat sein theoretisches Werk zur Fundierung praktischer Folgerungen geschrieben. In der Frei- handelsfrage, die im Verhältnis von Canada zum Mutterlande eine be- sonders wichtige Rolle spielte, war er ein entschiedener Gegner von Adam Smith, Um seinen Widerspruch stichhaltig zu begründen, holte er zu tief- gehenden theoretischen Untersuchungen aus, in denen er sich insbesondere über „die Natur des Kapitales (stock) und die seine Vermehrung oder Verminderung beherrschenden Gesetze" verbreitet. Diesem Thema ist das uns vornehmlich interessierende zweite und längste Buch (S. 78—357) seines Werkes gewidmet, während das weit kürzere erste Buch (S. 7—77) dem Nachweise gewidmet ist, daß „individuelle und nationale Interessen nicht identisch sind", und das ebenfalls kurze dritte Buch (S. 358—386) unter dem Titel ,,the Operations of the legislator on National stock" die Nutzanwendung der Theorie auf die Praxis enthält 2). Aus dem ersten Buche genügt es für unsere Zwecke, wenige Be- merkungen zu reproduzieren. Rae erörtert zunächst, daß diejenigen Mittel und Wege, durch welche individueller Reichtum erworben und vermehrt werden kann, keineswegs dieselben sind, welche ein Volk als Ganzes reich machen. Individuen bereichern sich durch bloße Erwerbung schon vorhandener Güter, Völker nur durch Produktion von Gütern, die vorher nicht existierten. „Die beiden Prozesse unterscheiden sich dadurch, daß der eine ein Ansichziehen (acquisition), der andere ein Schaffen (creation) ist" (S. 12). Schon in den einleitenden Bemerkungen hebt Rae die ungeheure Bedeutung der geistigen Fortschritte, der Erfindungen und Verbesserungen für den Wohlstand der Nationen hervor. Mit einer etwas rhetorischen Wendung erklärt er die Erfindung (invention) für die einzige ^) Geschrieben im Jahre 1900 gelegentlich des Erscheinens der zweiten Auflage meines Buches. -) Ich zitiere nach der Originalausgabe von 1834. Die Besitzer des MixTEBschen Neudrucks finden auf S. 484 desselben einen „Readers Guide", welcher erkennen läßt, welche Seitenzahlen des Originals und des (die Reihenfolge umstellenden 1) Neudruckes einander entsprechen. 280 XI. John Rae. Kraft auf Erden, der man wirkliches Schaffen zuschreiben könne und dem- zufolge könne, im Unterschied vom Reichtum einzelner, der nationale Wohlstand nicht ohne Beihilfe der „erfinderischen Fähigkeit" (inventive faculty) gesteigert werden (15). Den Ursachen, durch welche dieser Nationalreichtum entsteht, ver- mehrt und vermindert werden kann, spürt nun Rae in seinem zweiten Buche mittelst eines streng systematischen, einen Punkt nach dem anderen wohlbedächtig entwickelnden Untersuchungsganges nach. Er beginnt mit den Elementen der Güterproduktion. Der Mensch hat die Fälligkeit, „den Gang der Ereignisse und ihre gegenseitige Ver- kettung" zu begreifen. Diese ihn von den niederen Tieren unterscheidende Fälligkeit setzt ihn in den Stand, einerseits seine künftigen Bedürfnisse vorauszusehen, und andererseits für ihre künftige Befriedigung dadurch vorzusorgen, daß er durch sein Eingreifen das Entstehen geeigneter Be- friedigungsmittel sicherstellt. In die Natur sowohl der Güterproduktion, als des Güterwirkens zeigt Rae hiebei eine vollkommen klare Einsicht. Er bezeichnet die Güter ganz richtig als „Stoffgestalten", „arrangements of matter" (81), bemerkt, daß wir zwar nicht „die Natur der Dinge", wohl aber die Form derselben ändern können, und daß wir auf diesem Wege „in den Gang der von ihnen ausgehenden oder abhängenden Wirkungen" derart eingreifen können, daß schließlich entweder sie selbst in taugüche Befriedigungsmittel für künftige Bedürfnisse umgebildet, oder mit ihrer Hilfe solche Befriedigungsmittel gebildet oder in unsere Gewalt gebracht werden können (81—82). Als eigentümlichen technischen Ausdruck führt er den Namen „In- strumente" ein, worunter er — in einem viel weiteren als dem in der Volks- sprache damit verknüpften Sinne — alle durch menschliche Arbeit entstandenen Produkte begreift, welche einer künftigen Bedürfnisbefrie- digung dienen; also nicht nur Produktivgüter, sondern auch Genußgüter, falls sie nur noch der Zukunft zu dienen bestimmt sind; also selbst ver- brauchliche Genußgüter, wie Brot, bis zum Augenblick der wirküchen Konsumtion (S. 88), und ausdauernde Genußgüter, wie Hüte (S. 93), oder Reitpferde (105), selbst nachdem sie schon in Gebrauch genommen und nur noch nicht völlig abgenützt sind^). Im Gegensatze zu den In- ^) Vgl. auch S. 171, wo Rae den gesamten, alle Instrumente umfassenden „stock" in den „stock for immediate consumption" und in „capital" unterteilt, und als dem ersteren angehörende „Instrumente" beispielsweise IQeider, Wohnhäuser, Möbel, Gärten, Spielplätze etc. aufzählt. Seine Kapitaldefinition, sowie seine Unterteilung des Kapitales in fixes und zirkulierendes hält sich ganz in dem damals landläufigen Stile und ist ebensowenig glücklich als sie originell ist; indem sie nach damaliger Sitte das Schwergewicht darauf legt, daß die das Kapital bildenden oder mit seiner Hilfe herzustellenden Güter für den Tausch verkehr bestimmt sein müssen (the Instruments, to which this term [capital] applies, supply the future wants of the individuals owning them, indirectly, either from being themselves commodities thatmaybe exchanged Darstellung seiner Lehre. 281 Strumenten stehen die reinen Naturgaben, die als „Materialien" für die menschliche Arbeit in Betracht kommen (92, 93, 99). Gewisse Eigenschaften sind notwendigerweise allen Instrumenten gemein. Alle Instrumente sind direkt oder indirekt durch Arbeit ent- standen (91). Alle bringen femer Leistungen (events) hervor, oder helfen solche Leistungen hervorbringen, welche menschliche Bedürfnisse befriedigen, und werden dann „erschöpft" (exhausted). Ihre Kraft, solche Leistungen hervorzubringen oder den Betrag (amount) von ihnen, den sie hervorbringen, nennt Rae „capacity" (92)^). Endlich ist es allen Instrumenten gemeinsam, daß zwischen ihrer Bildung und Erschöpfung ein Zeitraum verstreicht. „Dies muß notwendig so sein, weil ja alles Greschehen (all events) sich in der Zeit vollzieht" (93). Der Zeitraum kann kurz oder lang sein, Jahre, Monate, oder jioch kürzere Perioden umfassen, aber immer muß er existieren 2). for articles directly suited to their needs, or by their capacity of producing commo- dities which may be so exchanged" S. 171), schließt sie dem Wortlaute nach der Produktivgüter der Eigenproduzenten, also den Pflug, das Grespann und die Dresch- maschine des Landwirtes, der sein Produkt in der eigenen Wirtschaft verbraucht, vom Begriffe des Kapitales ausi Wie jedoch Mixtek (a. a. 0. S. 1691) ganz zutreffend be- merkt, macht Rae im Verlaufe seines Werkes von dem engeren Be^iff des „Kapitales" so gut wie keinen Gebrauch, sondern arbeitet stets mit dem weiteren, alle Instrumente umfassenden Begriffe des „stock", so daß seine übel geratene Kapitaldefinition ohne schädliche Konsequenten bleibt. — Dagegen ist mir nicht verständlich, wieso Mixteb (a. a. 0. S. 169f.) diesen weiteren Begriff des stock oder der „instruments" mit meinem Begriffe der „Zwischenprodukte" identifizieren zu sollen glaubt. Daß sowohl Rae als ich die „warehouse-goods" in unsere beiderseitigen Begriffe einbeziehen, stellt die Identität der letzteren noch keineswegs her, da mein Begriff der „Zwischenprodukte" die reifen Genußgüter (die warehouse-goods sind nach meiner Auffassung eben noch nicht völlig genußreif) grundsätzlich ausschließt, während Rae sie in den Begriff der instruments ebenso grundsätzlich einschließt, auch wenn sie schon zum Konsu- menten gelangt, und von diesem nur noch nicht gänzlich konsumiert sind. Auch die Unterhaltsmittel fallen, entgegen der von Mixteb geäußerten Ansicht, nach der De--» finition und Erläuterung Raes wohl zweifellos in seinen Begriff der „instruments" hinein. Letzterer Begriff, dessen vorstechendstes Merkmal die Widmung für ein künftiges Bedürfnis ist, scheint mir vielmehr am nächsten mit dem Kapitalbegriff Tubgots und Knies' verwandt zu sein. — Seither hat Mixtee die ihm mehrfach unterlaufenen Mißverständnisse selbst zugegeben; siehe dessen spätere, am Schlüsse dieses Abschnittes zitierte Abhandlung „Böhm-Bawerk on Rae". ^) Dieser Ausdruck wäre am besten durch „Leistungsvermögen" zu übersetzen. Ich bin gleich Mixteb (a. a. 0. S. 168) der Meinung, daß Raes Begriff und Auffassung der nützlichen „events" genau mit meinen sachlichen „Nutzleistungen" (siehe oben S. 200ff.) zusammenfällt. *) Hier taucht das Element der Zeit zum erstenmale bei Rae auf. Es ist mir aller- dings wieder nicht recht klar, wieso Mixteb diesen von Rae bezogenen zeitlichen Zwischenraum, der zwischen der Bildung und Erschöpfung der Instrumente vergeht, mit demjenigen Zeiträume identifizieren konnte, auf welchen ich meinen Begriff der kapitalistischen Produktionsumwege gründete. Rae sagt: ,,Between the forma tion and the exhaustion of instruments a space of time intervenes"; und Mixteb meint, 282 XI. John Rae. Es besteht nun die Notwendigkeit, meint Rae, einen Maßstab zu besitzen, um das Leistungsvermögen (capacity) oder die Erträge (returns) der Instrumente mit der direkten und indirekten Arbeit vergleichen zu können, welche zu ihrer Entstehung aufgewendet wurde. Rae nimmt als diesen Maßstab die Arbeit an; demgemäß „werden die durch ein Instrument zustande gebrachten Leistungen (the events brought to pass by any instrument) nach dem Betrage der Arbeit geschätzt, welchem sie vom Eigentümer des Instruments im Werte gleichgesetzt werden (are esteemed equivalent)" (92). Rae ist der, wie wir noch sehen werden, nicht ganz richtigen Meinung, daß diese Auffassungsweise eine bloß terminologische Bedeutung habe (has no other effect than that of giving distinctness to our nomenclature). Zur Rechtfertigung derselben weist er übrigens unter- stützend auch noch darauf hin, daß in häufigen Fällen die Erträge der Instrumente tatsächlich mit Arbeit verglichen werden, weil sie unmittelbar Arbeit ersparen. Wasserleitungsröhren z. B. ersparen die Arbeit des Wassertragens, „und daher kann man von dem Instrument, das die Röhren darstellen, ganz gleichbedeutend sagen (may be said indifferently) ent- weder, daß es eine bestimmte Menge Wasser liefert, oder daß es eine be- stimmte Menge Arbeit erspart" (92). Rae macht von dieser alternativen Ausdrucksweise auch im folgenden öfters Gebrauch (z. B. S. 171). Bei einer späteren Gelegenheit (S. 98) fügt er endlich noch hinzu, daß bei dieser Verwendung der Arbeit als Maßstab für die Berechnung der Leistungsfähigkeit der Güter man sich eigentlich nicht auf die körper- liche und geistige Anstrengung des Arbeiters, sondern auf den Lohn, den er hiefür erhält, beziehe. Diesen Lohn betrachtet Rae, unter Vernach- lässigung der ihm wohlbekannten Schwankungen desselben, für den Bereich seiner theoretischen Untersuchung als eine gegebene, unveränderliche Größe (S. 97). Außer den oben erwähnten drei Umständen, die allen Instrumenten tatsächlich gemeinsam sind (Entstehung durch Arbeit, Fähigkeit zu nütz- lichen Leistungen, Zeitintervall zwischen Bildung und Erschöpfung), glaubt aber Rae für den Bereich seiner Untersuchungen noch einen vierten das sei ,ithe same tliing as saying that the capitalistic process is a roundabout process'' (a. a. 0. S. 169). Das ist ein offenbares Mißverständnis. Denn ich habe denjenigen Zeitraum im Auge, welcher bei der ka^pitalistischen Produktion zwischen dem Einsätze der originären Produktivkräfte und der Herstellung der Produkte verstreicht; also, um in RJVES Sprache zu reden, den Zeitraum, welcher bis zur „formation" der instru- ments verstreicht. R\e bezieht sich dagegen auf den hievon wesentlich verschiedenen Zeitraum, welcher zwischen der ,, formation" und der ,,exhaustion" der In- strumente verstreicht. Wenn Robinson mit der Arbeit einiger Stunden aus plattigen Steinen eine steinerne Ruhebank herstellt, so mag diese zwanzig oder selbst hundert Jalire dauern und wird daher eine sehr ansehnliche ,,period between formation and cxhaustion" im Sinne Raes, dagegen eine äußerst kurze Produktionsperiode in meinem Sinne aufweisen! Siehe auch hiezu den Schluß der Note auf S. 281f. Darstellung seiner Lehre. 283 Umstand als gemeinsam annehmen zu müssen, der es tatsächlich nicht im vollen Maße sei. Wenn wir nämlich das Leistungsvermögen verschie- dener Instrumente, die derselben Gattung von Bedürfnissen dienen, unter- einander vergleichen, so messen wir dieselben sehr oft nach dem Verhältnis des technischen Leistungseffektes (by the relative physical effects), den die Instrumente hervorbringen. Kann z. B. mit einer Klafter Brennholz gewisser Gattung gerade eine doppelt so große Hitze erzeugt werden, als mit einer Klafter Brennholz einer anderen Gattung, so ist die „capacity" der ersteren doppelt so groß als die der letzteren, und, wenn die erstere vier Arbeitstagen gleichgesetzt wird, wird die zweite gerade zwei Arbeits- tage wert sein (if the one be equivalent to four, the other will be equivalent to exactly two days labour). Es gibt jedoch zahlreiche Ausnahmsfälle, in welchen die „relative capacity" von Instrumenten derselben x\rt von anderen Ursachen als ihren rein physikalischen Eigenschaften abhängt^). Trotzdem glaubt Rae wegen der Schwierigkeit, den Gegenstand anders als unter dieser Voraussetzung behandeln zu können, seiner weiteren theoretischen Entwicklung die hypothetische Annahme unterlegen zu müssen, daß die capacity immer nach den physischen Qualitäten der Instrumente bestimmt werde; gerade so, \vie bei der wissenschaftlichen Untersuchung mechanischer Probleme die Existenz rein mathematischer Linien und die Abwesenheit der Reibung voraussetzungsweise ange- nommen werden darf und muß (94). Es ergibt sich aber noch eine weitere interessante, in Ziffern zu kleidende Größenkombination, wenn man in die Vergleichung zwischen der capacity der Instrumente und der zu ihrer Bildung aufzuwendenden Arbeit, oder zu den Kosten ihrer Bildung (S. 100), als drittes Element auch noch die Zeit einbezieht, die zwischen der Bildung und Erschöpfung der Instrumente verstreicht. Alle drei Elemente lassen sich in Ziffern ausdrücken; und je nach dem wechselnden Verhältnis, das bei den ver- schiedenen Instrumenten zwischen denselben besteht, läßt sich eine ,, Serie von Ordnungen" aufstellen, in welche sich alle bestehenden Instrumente einreihen lassen müssen. Rae erklärt den Aufbau dieser „Serie", die auf nichts anderes hinausläuft, als auf eine Reihung der Güter nach dem Gewinnprozent, das ihre Erzeugung oder ihr Besitz einbringt, in ebenso eigenartiger als abstrakter Weise. Er schickt die Bemerkung voraus, daß ,,in Konsequenz eines später zu erklärenden Prinzipes" nur solche In- ^) Die Ausnahmsfälle, auf welche Rae hier und später noch einmal auf S. 259 anspielt, werden von ihm im XL Kapitel über den Luxus entwickelt und bestehen darin, daß Leute häufig aus Eitelkeit kostbare Güter, die ihren reellen Bedürfnissen gar nicht besser, oder nur um wenig besser dienen, gleichwohl weit höher schätzen, als Einige Güter, die ihnen dieselben oder fast dieselben Dienste leisten w^ürden. Würde nicht die Eitelkeit mehr oder weniger die Ausgaben der Leute beeinflussen, so würden wir — meint Rae — finden, daß die Dinge nur nach ihren physischen Qualitäten ge- schätzt würden (283; vgl. auch die Inhaltsangabe zum Kapitel Luxus auf S. XV). 284 XI. John Rae. Strumente absichtlich erzeugt werden, deren capacity größer ist als der Betrag ihrer Arbeitskosten. Er macht femer vorläufig die vereinfachende Annahme, daß sowohl die Erzeugung als auch die Erschöpfung jedes Instrumentes sich in je einem einzigen bestimmten Zeitpunkt vollziehe. „Unter diesen Voraussetzungen muß jedes Instrument seinen Platz an irgend einer Stelle einer Reihe finden können, deren Güeder (orders) sich nach der Größe des Zeitraumes bestimmen, innerhalb dessen die in sie gereihten Instrumente sich in Leistungen vom doppelten Werte ihrer Erzeugungsarbeit umsetzen (issue in events equivalent to double the labor expended in forming them), oder umsetzen würden, falls sie nicht schon vorher erschöpft wären (or would issue, if not before exhausted). Diese Glieder oder Ordnungen mögen durch die Buchstaben A, B, C . . . Z, a, b, c, usw. repräsentiert werden." In der Ordnung A stehen jene Instrumente, welche sich schon in einem Jahre in Leistungen vom doppelten Werte der Erzeugungsarbeit umsetzen, oder umsetzen würden, falls nicht ihre Erschöpfung vorher einträte; in der Klasse B jene, welche binnen zwei Jahren Leistungen vom doppelten Werte der Erzeugungsarbeit abgeben und dann erschöpft werden; in der Klasse C beträgt die Zeit, nach welcher die Verdopplung der Erzeugungskosten erreicht wird, drei Jahre, in der Klasse D vier Jahre, in der Klasse Z 26 Jahre usw. Allgemein nennt Rae die Klassen mit geringerer Verdopplungsperiode, also die Klasse A und die ihr benachbarten, „the more quickly returning orders", die späteren der Klasse Z benachbarten Klassen die „more slowly returning orders" ^). In der Praxis geht die Sache allerdings selten mit den glatten runden Ziffern dieses abstrakten Schemas aus: teils bemessen sich die Perioden, nach welchen die Instrumente sich erschöpfen, selten gerade nach ganzen Jahren, sondern umfassen häufig auch Bruchstücke von Jahren; teils ist die gesamte capadty des Instrumentes nicht gerade dem Doppelten seiner Kosten gleich, sondern größer oder kleiner als das Doppelte. Nichtsdesto- weniger bleibt das Schema anwendbar; es sind nur gewisse Reduktionen nötig, zu welchen Rae folgende Anleitung gibt. Ist die capacity gerade gleich dem doppelten Betrag der Kosten, aber geht die Zeitperiode nicht nach ganzen Jahren aus, dann gehört das betreffende Instrument in eine Mittelklasse, die an der entsprechenden Stelle des Schemas einzuschalten ist. Dauert ein Instrument z. B. 7 ^ Jahre, dann gehört es in eine Mittel- klasse zwischen den Klassen G und H. Ist ferner das Leistungsvermögen eines Instrumentes schon erschöpft, bevor dasselbe den doppelten Belauf der Erzeugungskosten erreicht, so muß man sich die Dauer des Instru- mentes verlängert denken, und zusehen, nach welchem Zeiträume seine Leistungen bis zum doppelten Kostenbetrag anwachsen würden, falls ihr Überschuß über die Erzeugungskosten im bisherigen Verhältnis weiter ^) Diese Ausdrücke lassen sich wohl nicht anders korrekt übersetzen als mit „kurzer" und „langer Verdopplungsperiode". Vgl. Mixter a. a. 0. S. 177. Daratellang seiner Lehre. 285 wachsen würde. Gesetzt z. B., jemand formt ein Instrument mit einem Kostenaufwand im Werte von zwei Arbeitstagen, und dieses Instrument erschöpft sich nach sechs Monaten, indem es bis zu diesem Augenblicke einen Ertrag im Werte von 2.828 Arbeitstagen geliefert hat: so würde, wenn der Überschuß der capacity über die Kosten in demselben Ver- hältnis weiter wachsen würde, die capacity bis zum Ablaufe des zwölften Monats auf vier gewachsen sein; „denn 2.828 ist ein verhältnismäßiges (geometrisches) Mittel zwischen 2 und 4". Und das Instrument würde daher in die Klasse A gehören, welche in einem Jahre das Doppelte der Kosten erreicht (102, 103). Analog muß man bei Instrumenten, deren gesamte Leistungssumme mehr als den doppelten Kapitalbetrag erreicht, den Fortschritt ihrer capacity zurückverfolgen, und zusehen, nach welchem Zeiträume dieselbe, bei gleichmäßigem Fortschritt, gerade den doppelten Betrag der Kosten erreicht hätte. Dieser Zeitraum entscheidet über die Einreihung in die Klassen des Schemas (103). Endlich kann eine Komplikation noch dadurch eintreten, daß die Bildung, oder die Erschöpfung, oder beide, nicht, wie anfangs voraus- gesetzt, je in einem einzigen Zeitpunkte sich vollziehen, sondern, wie es in der Tat gewöhnlich der Fall ist, sich über einen längeren Zeitraum aus- dehnen. Allein solche Zeiträume haben stets gleichsam einen zeitlichen Schwerpunkt ^), um welchen die betreffenden Leistungen sich so gruppieren, daß die ihm gegenüber stattfindende Verfrühung eines Teiles der Leistungen sich mit der Verspätung eines anderen Teiles gerade kompensiert. Diese Punkte stellen dann „die wahre Periode" der Bildung^), beziehungsweise Erschöpfung dar (104, 105). Rae resümiert schließlich alle auf die Ein- reihung der Instrumente in das Ertragsschema wirkenden Einflüsse dahin, daß ein Instrument einer desto günstigeren Ertragsklasse angehört, je größer sein Leistungsvermögen, je kleiner seine Kosten und je kürzer dabei der Zeitraum zwischen der Büdung und Erschöpfung ist (108). Wie der aufmerksame Leser leicht sieht; läßt sich diese ganze Klassen- einteilung auch noch mittelst einer viel familiäreren Vorstellungs- und Ausdrucksweise schüdem, welche Rae auch selbst, jedoch erst an einer späteren Stelle seines Buches, anwendet (S. 195). In die Klasse A gehören nämlich einfach jene Güter, deren Ertragsüberschuß über ihre Erzeugungs- kosten, auf ein Jahr reduziert, 100% ausmacht, und somit den Anfangs- ^) Das Wort findet sich nicht bei Rae. *) Augenscheinlich ist jener längere Zeitraum, über den sich die zur Bildung eines Instruments aufgewendeten Arbeitsleistungen verteilen, identisch mit der „Pro- duktionsperiode" meiner Elapitalstheorie ; sie trifft also mit dem zusammen, was Rae „period of formation" nennt. Rae interessiert sich aber im weiteren nicht mehr für diesen Begriff, sondern nur für den Zwischenraum zwischen der „period of formation" und ,, period of exhauStion", wobei er überdies in den letzteren Ausdrücken das Wort „period" oft (z. B. S. 104) gar nicht zur Bezeichnung eines wirklichen Zeitraumes, sondern zu der eines Zeitpunktes anwendet. Siehe oben S. 281, Anm. 2. 286 XI. John Rae. wert in einem Jahre verdoppelt; die Instrumente der Klasse B tragen 41% per annum, die der Klasse C 26, der Klasse G 10%, der Klasse N 5% usf. ^). Das RAEsche System stellt also einfach eine Reihung der Güter nach der Höhe des Gewinnprozentes dar, das sie einbringen. — Nachdem Rae in diesen vorbereitenden Ausführungen die Elementar- lehre von den Instrumenten entwickelt hat, nähert er sich derjenigen Frage, auf welche nach dem Zwecke seines Werkes das Hauptinteresse fallen muß. Er fragt nämlich nach den Ursachen, welche die Masse der Instrumente bestimmen, die ein Volk bildet und besitzt, in welcher Masse sich ja eben die Größe des Nationalreichtums widerspiegelt. Rae glaubt vier solche Ursachen feststellen zu können: 1. Die Quantität und Qualität der „Materialien", welche das Volk besitzt, also der Naturschätze, über die es verfügt. 2. Die Stärke des wirksamen Ansammlungs- oder Ersparungstriebes (the strength of the effective desire of accumulation). 3. Die Höhe des Arbeitslohnes. 4. Den Fortschritt der Erfindungskraft (inventive faculty; S. 109). Über die erste und dritte Ursache hat Rae nicht viel zu sagen ^). Desto ausführlicher und origineller sind seine Erörterungen über den Ansamm- lungstrieb. Ihnen schickt er jedoch noch eine gleichfalls theoretisch sehr interessante Konstatierung eines Erfahrungsgesetzes voraus, das teils an die Lehre Thünens, teils an moderne Kapitalstheorien zu erinnern ge- eignet ist. Unter der Voraussetzung, daß die Kenntnis der Menschen von den Kräften und Eigenschaften der Stoffe unverändert bleibt, kann die capa- city, welche den Stoffen durch ihre Umbildung zu Instrumenten verliehen wird, nicht ins Unbestimmte gesteigert werden, ohne gleichzeitig die geformten Instrumente in der Serie A, B, C usw. beständig weiter, also in Klassen von immer längerer Verdopplungsperiode, oder, wie wir familiärer sagen können, von immer geringeren perzen- tuellen Erträgnissen, zu rücken (the capacity . . . cannot be indefini- tely increased without moving the Instruments formed continually on- *) Bei der Berechnung der Verdopplungsperiodc aus diesem Zinsfuß rechnet Rae natürlich mit einer geometrischen Progression, also mit Zinseszins. ^) Die Beschaffenheit und Menge der Materialien sieht Rae als eine wichtige, aber letzte Tatsache (important but ultimate fact) an, die keinen Gegenstand seiner Untersuchung zu bilden liabe (130); ähnliches gilt von dem Stande des Arbeitslohnes, den er ebenfalls als „an existing circumstance" anzunehmen erklärt, und von dem er nur kurz erklärt, daß ein niedriger Stand des Arbeitslohnes in derselben Richtung wirkt, wie eine Verbesserung der Qualität der zu bearbeitenden Materialien, oder ein Fortschritt in der technischen Erfindung. Alle diese Umstände ermöglichen nämlich in gleicher "Weise, denselben Ertrag mit einer geringeren Auslage zu erzielen. Rae versäumt jedoch nicht anzumerken, daß sich in anderen Beziehungen die Wirksamkeit der genannten Momente sehr wesentlich unterscheide (130, 131). Darstellung seiner Lehre. 287 wards in the series A, B, C etc.); dagegen läßt sich auch bei stationärem Stand der Kenntnisse, wenn diese nur einmal einen einigermaßen großen Umfang erreicht haben, die capacity, die den Materialien verliehen werden kann, ohne absehbare Grenze steigern, ohne die Instrumente ganz aus der Serie A, B, C usw. hinauszudrängen, mit anderen Worten, ohne den Überschuß ihrer capacity über die Kosten, oder einen perzentuellen Reinertrag, ganz zum Schwinden zu bringen (but there is no assignable limit to the extent of the capacity which a people having attained con- siderable knowledge of the qualities and powers of the materials they possess, can communicate to them without carrying them out of the series A, B, C etc., even if that knowledge remain stationary, S. 109). Die erste Hälfte dieses Gesetzes begründet Rae folgendermaßen. Die capacity der Instrumente kann entweder durch eine Steigerung ihrer Dauer, oder durch Steigerung ihrer Wirksamkeit (efficiency) gesteigert werden: entweder dadurch, daß die Zeit verlängert wird, durch welche sie nützKche Leistungen abgeben, oder dadurch, daß die Menge der Leistungen vermehrt wird, die sie in der gleichen Zeit abgeben. Die Dauerhaftigkeit der Instrumente kann in der Regel nur durch einen größeren Arbeitsaufwand bei ihrer Herstellung gesteigert werden. Wird nun beispielsweise durch einen Zusatz von Erzeugungsarbeit die Dauer eines Wohnhauses, das sonst 30 Jahre gedauert hätte, auf 60 Jahre erhöht, so ist dieser Vorgang geradeso aufzufassen, als ob man mit jenem Arbeitszusatz ein zweites Haus von 30 jähriger Dauer hergestellt hätte, welches nach dem Untergang des ersten zur Benützung kommt. Da aber der Arbeitszusatz schon jetzt geleistet werden muß, so stehen die Erträge, die der Arbeitszusatz einbringt, vom Aufwand der betreffenden Kosten zeitlich sehr weit ab, und führen daher, auch wenn sie die Kosten. über- steigen, doch erst nach einer langen Periode zur Verdopplung. Der Vorgang kommt daher der Bildung eines Instrumentes gleich, welches einem „order of slower retum" angehört. Dies würde nur dann nicht zutreffen, wenn der Arbeitszusatz, der zu einer bestimmten Verlängerung der Dauer führt, sieb immerfort in einer geometrischen Progression vermindern ließe; dies würde aber, wie Rae richtig bemerkt, auf die Dauer zu einer Absurdität führen'). Was aber die Steigerung der Wirksamkeit anbelangt, die den Materialien durch Bearbeitung mitgeteilt werden kann, so stößt diese Steigerung auf die Dauer auf vermehrte Schwierigkeiten, die nur durch einen größeren Aufwand von Arbeit überwunden werden können. Die *) „If, therefore, continual additions be made to the durability of an Instrument, it cannot be preserved atan order'of equally quick return unless the several augmentations be communicated to it by an expenditure diminishing in a geometrical ratio; that is, in a ratio becoming indefinitely less, as it is continued. This, however, cannot happen, for, it would imply an absurdity" (S. 112). 288 XI. John Rae. Leute werden nämlich zuerst jene Materialien in Bearbeitung nehmen, deren Kräfte am leichtesten in Bewegung gesetzt werden können, und welche die gewünschten Effekte am reichlichsten und raschesten bringen. Da aber der Vorrat an Materialien, die eine Gesellschaft besitzt, ein be- schränkter ist, so müssen die Mitglieder derselben, sofern einerseits ihre Kenntnisse nicht wachsen, und sie andererseits doch die Masse der In- strumente, die sie aus jenen Materialien bilden, beständig vermehren wollen, auf die Dauer zu solchen Materialien ihre Zuflucht nehmen, welche entweder nur mit größerer Schwierigkeit sich bearbeiten lassen, oder die gewünschten Effekte spärlicher oder später bringen. In allen diesen Fällen muß die Wirksamkeit der Instrumente mit größeren Kosten geschaffen werden, das heißt, sie müssen in „orders of slower return" übergehen (112, 113). Dieser Übergang wird rasch sein, so lange die Technik noch in ihrer Kindheit ist, die Menschen nur erst wenige Arten der Verwendung der Materialien kennen, und daher mit den ihnen bekannten Arten vorteil- hafter Verwendung bald zu Ende kommen; sind dagegen bei vorgeschrit- tenem Stande der Kenntnisse den Menschen sehr zahlreiche Wege und Koriibinationen bekannt, durch welche ein gewünschtes Ziel erreicht werden kann, so werden zwar immer einzelne dieser Wege vorteilhafter als andere, die Abstufung aber eine sehr allmälige sein, so daß der durch die Erschöpfung der vorteilhaftesten erzwungene Übergang zur nächst minder vorteilhaften Kombination zur Bildung von Instrumenten führen wird, die in dem Schema der Kentabilitätsklassen nicht viel weiter zurück- stehen (113). Sind schließlich sehr viele Kräfte und Eigenschaften von sehr vielei?. Materialien bekannt, so wird die Zahl der Kombinationen, in welchoa man diese Kräfte und Materialien aufeinander wirken lassen kann, eine praktisch unbegrenzte — analog, wie eine steigende Zahl von Ziffer- elementen eine immer größere, und schließlich eine unendlich große Zahl von Kombinationen zuläßt. Diese Erwägung erklärt die zweite Hälfte des obigen Gesetzes, daß nämlich bei Nationen von beträchtlich ent- wickelter Technik der fortwährenden Vermehrung ihres Vorrates an Instrumenten überhaupt keine Schranke gesetzt ist, mit einziger Aus- nahme dessen, daß, wie der erste Teil des Gesetzes aussagt, die zuwachsen- den Instrumente sukzessive in minder vorteilhafte Klassen des Schemas rücken müssen (115). Diese abstrakte Erwägung findet Rae auch in der Erfahrung durch einen Blick auf die Verhältnisse von Großbritannien bestätigt, welches in der Bearbeitung der Materialien seines beschränkten Gebietes zu Instrumenten sicherlich schon so weit vorgeschritten sei, als irgend ein anderes Volk der Gegenwart; dennoch sei noch ein riesiger, absehbarer Weise nicht erschöpflicher Spielraum für weitere Bearbeitungen dieser Art offen (116). Darstellung seiner Lehre. 289 In welchem Maße von diesem Spielraum praktischer Gebrauch ge- macht wird, hängt nun bei stationärer Technik von dem Stande desjenigen Faktors ab, welchen Rae die „Stärke des effektiven Ansammlungstriebes" nennt. Die Untersuchung hierüber füllt eines der interessantesten Kapitel des RAEschen Buches (118 ff.). Alle Instrumente erfordern zu ihrer Büdung den Aufwand einer gewissen Menge von Arbeit oder Arbeitsäquivalenten, und bringen eine andere größere Menge von Arbeit oder ihren Äquivalenten ein. Die Bildung jedes Instruments involviert daher das Opfer eines kleineren gegenwärtigen Gutes zugunsten der Erzeugung eines künftigen größeren Gutes. Hält man nun dafür, daß die Erzeugung dieses künftigen größeren Gutes die Aufopferung jenes gegenwärtigen kleineren Gutes wert ist, so wird das Instrument gebildet werden, im entgegengesetzten Falle nicht. Unter diesen Umständen wird jede Gesellschaft die Vermehrung der Instrumente, die mit einem Vorrücken derselben in Klassen von immer längerer Ver- dopplungsperiode verbunden ist, desto weiter fortsetzen, je länger die Periode ist, bis zu welcher die Geneigtheit ihrer Mitglieder anhält, ein gegenwärtiges Gut für die Erlangung eines doppelt so großen Gutes nach Ablauf der Periode aufzuopfern. Erstreckt sich diese Geneigtheit bis zu einem, zwei, drei, zwanzig Jahren usw., so wird die Bildung der Instru- mente bis zu den Klassen A, B, C, T usw. fortgesetzt werden, und an dem Punkte, an welchem die Bereitwilligkeit, das Opfer zu bringen, aufhört, muß auch die Bildung von Instrumenten Halt machen. „Die Entschlossen- heit (determination), einen gewissen Betrag von gegenwärtigen Gütern aufzuopfern, um einen anderen größeren Betrag in einer künftigen Periode zu erlangen", nennt Rae „effective desire of accumulation" (119). Im weiteren untersucht Rae die Ursachen, welche das Verhalten der Menschen in dieser Frage und somit die Stärke ihres Ansammlungstriebes bestimmen. Er findet zunächst in der Unsicherheit und Kürze des Lebens, sowie in der im Alter eintretenden Abnahme der Genußfähigkeit Umstände, welche geeignet sind, „in der Schätzung der meisten Menschen die Gegen- wart weit über die Zukunft zu stellen". Warum sollten wir für Güter Vor- sorgen, die wir erst in Zeiten genießen können, die wir vielleicht, oder, wenn sie sehr entfernt sind, sicher nicht mehr erleben werden, oder in denen unsere Genußfähigkeit abgenommen haben wird? (119, 120). Dazu kommt, daß die Aussicht auf eine gegenwärtige Freude viel stärker unsere Aufmerksamkeit, unsere Vorstellungskraft und auch unsere Begierde anzuregen pflegt als die Aussicht auf eineu künftigen Genuß. „Es gibt vielleicht niemanden, dem nicht ein Gut, das er heute genießen kann, von einer ganz anderen Bedeutung erscheinen würde, als ein völlig gleichartiges, aber erst nach zwölf Jahren zu genießendes Gut, selbst wenn beide Genüsse gleich sicher wären" (120). Würden daher, meint Rae, die Menschen nur ihr eigenes persönliches Interesse in Rechnung ziehen, so würde die Stärke Böhm- Ba werk, Kapitalzins. 4. Aufl. 19 290 XI' John Rae. ihres effektiven Ansammlungstriebes eine geringe sein, und es würden nur Instrumente mit kurzer Verdopplungsperiode gebildet (121). „Aber die Freuden der Mensehen sind nicht zur Gänze selbstischer Natur" (not altogether selfish). Die Menschen sind nicht bloß auf ihr persönlicTies Wohl, sondern auch auf das ihrer Familie, ihrer Freunde, ihres Landes, ihres Stammes bedacht. Hiedurch verlieren die künftigen Güter, die man sich für das Opfer eines gegenwärtigen Genusses verschaffen kann, „den größeren Teil ihrer Unsicherheit und Wertlosigkeit" (uncertainty und worthlessness). Die Bedachtnahme auf die HinterbHebenen, oder, allge- meiner ausgedrückt, die ,, sozialen und menschenliebenden Antriebe" (social and benevolent affections) haben daher die Tendenz, den wirksamen Ansammlungstrieb sehr wesentlich zu verstärken (122). Ein anderes in dieser Richtung einflußreiches Moment ist die Stärke unserer intellektuellen Fähigkeiten, insofern diese, im Gegensatze zu den Leidenschaften des Augenblicks, uns die zukünftigen Bedürfnisse und zwar sowohl unsere eigenen, als die anderer Personen, „in ihrer legitimen Stärke" vor Augen stellen, und so eine gehörige Vorsorge für dieselben unter- stützen (122). Ferner müssen überhaupt alle Umstände, welche die Wahrscheinlichr keit erhöhen, daß irgend eine Vorsorge, die wir für die Zukunft treffen, von uns oder anderen auch genossen werden kann, die Stärke des An- sammlungstriebs befördern. Solche Umstände sind z. B. ein gesundes Klima oder ein gesunder, sicherer Lebensberuf. Umgekehrt sind Seeleute, Soldaten, Bewohner ungesunder Landstriche verschwenderisch. Ähnlich wirkt die Sicherheit und Unsicherheit der gesellschaftlichen Zustände, der Rechtspflege u. dgl. (123), Dies sind die hauptsächlichsten Umstände, welche das Verhältnis der Wertschätzung zwischen Gegenwart und Zukunft bei denjenigen, die sich überhaupt durch bewußte Motive leiten lassen, in derjenigen Zeit bestimmen, in welcher sie ihre Lebensgewohnheiten bilden. Sind diese einmal gebildet, dann sind sie es, welche das fernere Verhalten regeln und gleichsam ihre früheren Herren meistern. Die große Menge der Leute bildet übrigens ihre Gewohnheiten überhaupt nicht auf Grund eigener Wahl und Über- legung, sondern folgt einfach dem Beispiele ihrer Umgebung und der allgemeinen Richtung, in welcher die Denk- und Handlungsweise der ganzen Gesellschaft läuft (123). Zwischen verschiedenen Völkern bestehen in dieser Beziehung sehr bedeutende Verschiedenheiten, welche ebenso große Verschiedenheiten in dem Grade nach sich ziehen, bis zu welchem die Bildung und Anhäufung von Instrumenten bei ihnen gebracht wird, was Rae an einer Reihe historischer Beispiele erläutert und darlegt. Mittelst einer recht seltsamen Verknüpfung geht Rae sodann zur Betrachtung des Tausches der Güter, seiner Gesetze und seines Werk- zeuges, des Geldes, über. Er knüpft daran an, daß jedermann trachte, Darstellung seiner Lehre. 291 die Leistungsfähigkeit seiner Instrumente so rasch als möglich zu er- schöpfen, weil sie hiebei ihre Erträge schneller bringen. Soweit dies gelingt, gehen die Instrumente in Klassen von kürzerer Verdopplungs- periode über, und dies gibt der Ansammlung und Vermehrung der In- strumente einen stärkeren Antrieb. Dies sei der Gesichtspunkt, aus welchem der Nutzen der Arbeitsteilung zu betrachten sei. Wenn jeder sich auf einen bestimmten Produktionszweig und demgemäß auf die Bildung solcher Instrumente, die zum Betriebe desselben notwendig sind, be- schränkt, so liegen die Instrumente nie müßig, infolge davon verstreicht ein geringerer Zwischenraum zwischen ihrer Bildung und Erschöpfung, sie gehen in einen „order of quicker retum" über, woran sich die Möglich- keit einer verstärkten Akkumulation und einer besseren Vorsorge für die künftigen Bedürfnisse der ganzen GröseUschaft schließt (164, 165). Diese nach unseren heutigen Begriffen wohl sehr einseitige Auffassung der Arbeitsteilung erscheint Rae so wichtig, daß er ihrer Verteidigung sogar einen besonderen Appendix (S. 352 ff.) widmet, in welchem er gegen Adam Smith polemisiert, der bekanntlich die Vorteile der Arbeitsteilung auf ganz andere Weise erklärt hatte. Arbeitsteilung gibt es aber nicht ohne Tausch; deshalb muß auch dieser in die Untersuchung einbezogen werden. Hiebei entwickelt Rae eine kurze, aber bemerkenswerte Preistheorie. Sie ist eine sehr vorsichtig und gut formulierte Reproduktionskosten-Theorie. Würden die Dinge Arbeit allein kosten, so würden Dinge, die gleich viel Arbeit kosten, sich auf gleichem Fuße gegeneinander vertauschen. Aber nicht einfach deshalb, weil sie so viel Arbeit gekostet haben, sondern weil sie Instru- mente zur Befriedigung künftiger Bedürfnisse sind, und unter der Vor- aussetzung, daß sie nicht für weniger Arbeit erlangt werden können. Fehlt die letztere Voraussetzung, hat z. B. der Produzent nur aus Ungeschick oder Stümperei so viel Arbeit verwendet, so wird der Käufer keinen der tatsächlich aufgewendeten Arbeitsmenge entsprechenden Preis zahlen. Rae formuliert daher sein Preisgesetz genauer dahin, daß, soweit Arbeit allein in Betracht kommt, ein Ding gegen ein anderes sich verkauft nicht im Verhältnis der Arbeit, die auf jedes von beiden verwendet worden ist, sondern im Verhältnis zur Arbeit, die aufgewendet werden muß (which it necessary to bestow), um gleich taugliche Befriedigungsmittel hervor- zubringen. Rae hebt denn auch ganz zutreffend hervor, daß bei einem Fortschritt in der Produktionstechnik Artikel nicht mehr für so viel Arbeit verkauft werden, als sie tatsächlich gekostet haben, sondern nur für jenen geringeren Betrag an Arbeit, der für die Erzeugung eines gleichen Stückes jetzt noch erforderlich ist (166—169). Aber außer der Arbeit bildet immer auch noch die Zeit ein in Rechnung kommendes Element (one of the items to be taken into account). Beinahe immer werden nämlich außer der Arbeit auch Instrumente, Stoffe, Werk- le* 292 ^l- J"Ji" ^«• zeuge u. dgl. verbraucht oder abgenützt. Diese müssen gleichfalls im Preise der Waren vergütet werden, und zwar nach einem Satze, welcher nicht bloß auf die Arbeit, die zu ihrer Erzeugung aufgewendet wurde, sondern auch auf die Zeit, nach deren Ablauf die betreffende Arbeit sich lohnt, und zwar nach Maßgabe der jeweiligen Stärke des ,.effective desire of accumulation" Rücksicht nimmt. Hat z. B. ein Webstuhl, den der Weber in 7 Jahren abnützt, 100 Arbeitstage gekostet, und ist der effektive Ansammlungstrieb des betreffenden Individuums von genügender Stärke, um ihn bei der Bildung der Instrumente bis zur Klasse G, mit sieben- jähriger Verdopplungsperiode, zu treiben (,,strength sufficient to carry him to the order G"), dann erfordert die Mitwirkung des Webstuhles ein Entgelt, welches 200 Arbeitstagen am Ende der siebenjährigen Periode, oder falls es früher geleistet wird, einem im Verhältnis der Zeit geringeren, aber 100 Arbeitstage jedenfalls übersteigenden Betrage gleichkommt. Würde der Weber „nicht eine moralische Gewißheit haben, so viel zu erhalten, so würde er das Instrument nicht gebildet haben, und würde ein solcher Ertrag nicht andauern, so würde er das Instrument nicht mehr erneuern" (169, 170). Aber auch dort, wo scheinbar Arbeit allein gezahlt wird, macht sich der Faktor Zeit in der Preisbildung bemerklich. Wenn ein Arbeiter z. B. die Fällung der Bäume einer Waldparzelle übernimmt, und die Ausführung dieser Arbeit drei Monate dauert, so wird seine Bezahlung verschieden groß ausfallen, je nachdem sie ihm am Beginne, oder aber am Ende der drei Monate geleistet wird; „und die Differenz beider Beträge wird, so wie in anderen Fällen, sich danach bestimmen, bis zu welchen Klassen, in der betreffenden Situation, die Bildung der Instrumente überhaupt vorgeschritten ist" (by the particular orders to which instruments, in that particular Situation, are generally wrought up; S. 170). Dieser Gedanke findet eine sehr interessante Erläuterung durch eine andere Äußerung, die Rae bald darauf, allerdings in einem anderen Zu- sammenhange, macht. Alle Instrumente haben eine Fähigkeit zur Be- friedigung von Bedürfnissen oder Ersparung von Arbeit^). Aber diese ihre Leistungen liegen in der Zukunft. Nun können wir unmöglich die gleiche Menge von Bedürfnisbefriedigungen oder von ersparter Arbeit, falls sie morgen, oder aber, falls sie erst in fünf oder in fünfzig Jahren uns zugute kommt, gleich hoch schätzen. Sonst müßten wir 100 erwachsene Bäume, die uns morgen 100 Klafter Brennholz geben können, als gleich- wertig mit 100 Schößlingen ansehen, die in 50 Jahren dieselbe Quantität Brennholz ergeben werden. Den natürlichen Maßstab, um solche Güter untereinander zu vergleichen, und für alle einen Ausdruck in einer Quan- tität gegenwärtiger Arbeit zu finden, gibt die verhältnismäßige ') Siehe oben S. 282 Darstellung seiner Lehre. 293 Schätzung ab, welche die betreffenden Individuen sich selbst in Bezug auf Gegenwart und Zukunft bilden, das ist, die Stärke des effektiven Ansammiungstriebes, der in der betreffenden Gesellschaft herrscht. Ist der Ansammlungstrieb von genügender Stärke, um die Bildung der Instrumente bis zur Klasse E mit fünfjähriger Ver- dopplungsperiode zu treiben, dann wird ein Instrument, welches nach Ablauf von fünf Jahren einen Ertrag im Werte von zwei Arbeitstagen bringt, passend als gleichwertig mit einem Tage gegenwärtiger Arbeit zu schätzen sein (171, 172). An einer späteren Stelle (300) wird endlich die Preistheorie noch kurz und bündig dahin resümiert, dajß die Waren ausgetauscht werden „für gleiche Quantitäten von Arbeit, gerechnet nach der Zeit ihrer Aufwendung und der tatsächlich erreichten Klasse der Instrumente" (for equal quantities of labor, reckoned according to the time when applied, and the actual Orders of instruments). Einem sehr aufmerksamen Leser wird vielleicht nicht entgangen sein, daß Rae in diesen verschiedenen Aussprüchen den preisbestimmenden Einfluß der Zeit abwechselnd in zwei etwas verschiedenen, von mir im Drucke hervorgehobenen Varianten formuüert. In einigen Aussprüchen stellt er das Prinzip auf, daß das Zeitmoment eine Vergütung nach der Stärke des bei dem betreffenden Individuum oder in der betreffenden Gesellschaft herrschenden Ansammlungstriebes, also nach dem Stande der psychologischen Faktoren finden müsse; nach anderen Aussprüchen ist dagegen der Vergütungsmaßstab von derjenigen Ertragsklasse abzu- nehmen, bis zu welcher die Bildung der Instrumente in der betreffenden Gesellschaft tatsächlich gediehen ist. Beides ist, wie dies auch Rae sehr wohl bekannt war, keineswegs identisch. Denn die Stärke des Ansamm- lungstriebes pflegt der tatsächlichen Ansammlung, die ja erst ihre Wirkung ist, immer voraus zu sein: erst wenn der Ansammlungstrieb genügende „Zeit gehabt hat zu wirken", könnte er von der tatsächlichen Ansammlung vollständig eingeholt werden i); allein gewisse Umstände, unter denen die neuen Erfindungen bei Rae eine besonders wichtige RoUe spielen, sorgen dafür, daß immer von neuem wieder ein gewisser Spielraum zwischen den tatsächlich erreichten und den durch den Stand der psychologischen Faktoren gestatteten Stand der Akkumulation sich einschiebt. Ich merke einstweilen diese Zwiespältigkeit in der FormuKerung des Preisgesetzes bloß an, und behalte mir vor, später bei der kritischen Würdigung der RAEschen Theorie darauf zurückzukommen. — *) Rae unterscheidet z. B. auf S. 172f. ausdrücklich Fälle, „where the effective desire of accumulation of a Community has had opportunity to work up the materials possessed by itinto instruments of an Order correspondent to its own strength"» von jenen Fällen, „where the accumulative principle has not yed had time fully to operate" ähnlich S. 194 und 264. 294 XI. John Rae. J)ie Einführung der Geldrechnung hat nun alle Rechnungsoperationen, die mit dem Ertrag von Instrumenten im Verhältnis zu der Zeit, nach der er einfließt, zu tun haben, in einfache und gleichartige Form gebracht. Man rechnet nach Perzenten per annum^). Der Ertrag von Instrumenten, die man auf Kredit verleiht, heißt Kapitalzins (interest), jener von In- strumenten, die man selbst behält und benützt, Kapitalgewinn (profit of stock). Unter letzterem Ausdruck begreift man gewöhnlich auch noch die Vergütung für die körperliche und geistige Bemühung des Unter- nehmers und für sein Risiko. Scheidet man diese Elemente aus, so kann man den üblichen Zinsfuß (rate of interest) als einen passenden Maßstab für die reelle durchschnittliche Höhe der Kapitalgewinne in einem Lande, und folgerichtig für die Klasse des Rentabilitätsschemas ansehen, bis zu welcher die Bildung der Instrumente gelangt ist („at which Instruments are there arrived"; 195, 196). Wiewohl der effektive Ansammlungstrieb bei den verschiedenen Individuen desselben Volkes sehr verschieden ist, kann man die Beob- achtung machen, daß in einer und derselben Gesellschaft alle existierenden Instrumente derselben, oder fast derselben Rentabilitätsklasse angehören (familiärer ausgedrückt, daß alle Kapitalien annähernd gleich hohe Zinsen tragen), Rae erklärt dies in folgender Weise. Verschwender, oder über- haupt Personen, deren „desire of accumulation" schwächer als der gesell- schaftliche Durchschnitt ist, können für die in ihrem Besitze befindlichen Instrumente im Austausche mehr erlangen, als was sie nach ihrer eigenen Schätzung von Gegenwart und Zukunft wert sind, und darum verkaufen sie sie ; solche Personen verarmen allmählich. Umgekehrt würden Personen von überdurchschnittlich starkem Akkumulationstrieb geneigt sein, In- strumente von noch niedrigerer als der üblichen Rentabilitätsklasse zu bilden; aber das ist nicht nötig, weil sie die von den Verschwendern abge- stoßenen normal rentierenden Instrumente kaufen können. „Sie sind die natürlichen Abnehmer der aus den Händen der Verschwender kommen- den Vermögensbestandteile; ihr Überschuß an Vorsorge hält dem Defizit bei den letzteren die Wage und erhält die Gesamtmasse der Instrumente in der Gesellschaft ungefähr in der gleichen Klasse" (198, 199). Diese Uniformität der Ertragsraten, welche die Instrumente abwerfen, führt dahin, daß die Individuen jene herrschende Ertragsrate zur Richtschnur für die Beurteilung aller ihrer Geschäfte nehmen; ein Geschäft, welches die übliche Profitrate zu bringen verspricht, wird unternommen und gilt als gewinnbringendes, ein Geschäft, das nicht den üblichen Gewinnsatz verspricht, wird unterlassen und gilt als unprofitables, verlustbringendes Geschäft; Ausdrucksweisen, die, wie Rae ganz zutreffend hinzufügt, nicht ganz korrekt sind, und jedenfalls nur eine sehr relative, auf ein bestimmtes ') Siehe oben S. 292 Darstellung seiner Lehre. 295 Land und einen bestimmten Zeitpunkt eingeschränkte Berechtigung haben (205, 206). - Neben dem Akkumulationstrieb wirkt aber als zweite große Haupt- kraft der Fortschritt der Erfindungskraft. Rae widmet diesem Faktor sehr interessante allgemeine und historische Betrachtungen. Für unser Thema kommt hauptsächlich die Art und Weise in Betracht, in welcher technische Fortschritte auf die Größe des Nationalvermögens einerseits, und auf die Höhe des Zinsfußes andererseits einwirken. Das Wesen der technischen Erfindungen beruht zumeist darauf, daß man neue oder geeignetere Materialien, oder neue nützliche Eigenschaften oder Wirkensweisen derselben entdeckt, wobei zumal in letzterer Beziehung die Fortschritte der Wissenschaft eine große Rolle spielen (224 ff.). Die nächste Wirkung eines Fortschrittes ist stets, daß die Arbeit ergiebiger wird, indem man mit gleich viel Arbeit einen größeren Effekt, oder mit einem geringeren Aufwand von Arbeit den gleichen Effekt erzielt. Und dies hat wieder, so weit die von Rae gleich anfangs als notwendig be- zeichnete theoretische Voraussetzung gilt,, daß die Instrumente im Ver- hältnis zu ihrer physischen Leistung geschätzt werden i), zur weiteren Folge, daß die Instrumente, wegen des verbesserten Verhältnisses zwischen ihrer capacity und ihren Kosten, in „more speedily returning orders" über- gehen (258, 259). Und zwar pflegt sich diese Wirkung, obschon sie anfangs nur jene speziellen Instrumente ergreift, auf welche sich die Erfindung unmittelbar bezieht, sehr bald auf alle im Besitze der ganzen Gesellschaft befindlichen Instrumente auszubreiten. Wenn z. B. im Brotbacken ein Fortschritt gemacht wird, der es ermöglicht, mit halb so viel Arbeit und Feuerungsaufwand als zuvor ein ebenso gutes Brot herzustellen, so würde die Wohltat dieses Fortschrittes nicht ausschließlich den Bäckern zugute kommen, sondern über die ganze Gesellschaft hin empfunden werden. „Die Bäcker würden eine kleine Erhöhung ihres Profites, aber die ganze Gesellschaft würde Brot für etwas weniger Arbeit, und jeder Konsument von Brot, also jedes Mitglied der Gesellschaft, würde von der gleichen Auslage einen etwas größeren Ertrag erlangen. Die ganze Reihe von Instrumenten, welche die Gesellschaft besitzt, würde etwas produktiver, in eine Klasse schnelleren Ertrages vorgerückt werden" (woidd be some- what more productive, would be carried to an order of quicker return; 259). Auf diese Weise vergrößert jede Erfindung, indem sie die ganze Masse der Instrumente einer Volkswirtschaft in „more productive orders" rückt, diejenige Größe, welche Rae ihr „absolutes Kapital und Vermögen" (absolute capital and stock) nennt; das heißt, das Volkskapital gemessen nach demjenigen idealen Maßstabe, den Rae etwas früher (S. 172, siehe oben S. 292f.) für die Schätzung aller der Zukunft dienenden Instrumente ^) Vgl. oben S. 283. 296 XI. John Rae. aufgestellt hatte. Schätzt man nämlich die Instrumente nach ihrem künftigen Ertrage, umgerechnet auf gegenwärtige Arbeit nach dem in der Gesellschaft herrschenden Schätzungsverhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft, so muß eine durch den Fortschritt bewirkte Verdopplung des Ertrages, bei ungeändertem „desire of accumulation", auch zu einer doppelt so hohen Schätzung der Instrumente, oder zu einer Verdopplung des durch die Instrumente repräsentierten absoluten Kapitales führen- Allein gewöhnlich schätzen die Leute ihre Instrumente nach einem anderen Maßstabe, indem sie nämlich dieselben untereinander, nach dem Ver- hältnis ihres gegenseitigen Austausches, vergleichen, wobei sie ein be- stimmtes Gut (das Geld) als Maßstab annehmen, mit welchem alle anderen Instrumente verglichen werden. Eine Schätzung nach diesem Maßstabe, nach dem Tauschwerte gegenüber den anderen Gattungen der Instru- mente, führt zum Begriffe des „relativen Kapitales oder Vermögens" (172). Dieses relative Kapital wird nun durch Erfindungen unmittelbar nicht vergrößert. Denn unmittelbar wird durch eine Verbesserung nicht die Masse, sondern nur die capacity der bestehenden Instrumente ver- größert. Trifft diese Vergrößerung die verschiedenen Instrumente gleich- mäßig, so ist keine Ursache abzusehen, warum sie sich untereinander in einem anderen Verhältnisse vertauschen sollten als zuvor; und auch, wenn sie von der Verbesserung ungleich betroffen werden, so wird man zwar für manche Instrumente im Austausche mehr Instrumente anderer Gattung erlangen als zuvor; aber natürlich ist dann der Tauschwert dieser letzteren Instrumente in demselben Verhältnis vermindert, und der ge- samte „relative oder Tauschwert" (relative or exchangeable value) des Volksvermögens bleibt unverändert (260). Daß die Zunahme des absoluten Vermögensstandes gleichwohl eine reelle Bedeutung hat, zeigt sich aber jedenfalls an folgenden drei Um- ständen: 1. haben die Mitglieder der Gesellschaft eine reichlichere Versorgung für künftige Bedürfnisse, 2. die betreffende Volkswirtschaft wird im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften mächtiger; und 3. wird indirekt ein Zuwachs in der Masse der Instrumente oder des Volksvermögens bewirkt. Der technische Fortschritt ermöglicht nämlich, minder geeignete oder widerspenstigere Materialien, die man vorher unbeachtet ließ, in die Bearbeitung einzubeziehen; es wird so der Kreis der bearbeitungsfähigen Materialien, und in weiterer Folge die Masse der Instrumente, die man aus den Materialien des Landes gewinnt, ver- größert. Damit wächst aber endlich auch die Tausch wertsumme, welche die vergrößerte Masse der existierenden Instrumente repräsentiert, oder das „relative Kapital" des Volkes. Wie groß dieser Zuwachs ausfällt, hängt ganz von der Beschaffenheit und Menge der Materialien ab, die in Darstellung seiner Lehre. 297 den „nächst niedrigeren", durch die Verbesserung in den Bereich der Bearbeitung gerückten Schichten (quantity of materigds of the next lower grades) sich finden. Bisweilen kann schon eine kleine Verbesserung eine große Menge von Materialien bei dem herrschenden Grade des Akkumu- lationstriebes in dessen Reichweite rücken, bisweilen aber auch ein be- trächtlicher Fortschritt doch nur eine geringfügige Vermehrung der In- strumente ermöglichen (262, 263). Die Einführung von Verbesserungen pflegt, falls nicht entgegenwirkende Ursachen ins Spiel treten, aus den geschilderten Gründen eine hohe Profit- rate im Gefolge zu haben. Eine aus solchen Ursachen stammende hohe Profitrate ist ein Anzeichen (indicative) einer stattgefundenen unmittel- baren Vermehrung des absoluten Kapitales der Volkswirtschaft, und führt in der oben geschilderten Art zu einer darauffolgenden Vermehrung des relativen Kapitales. Eine hohe Profitrate muß sich aber auch in solchen Ländern einstellen, in welchen der wirksame Ansammlungstrieb schwach ist. Alsdann ist sie jedoch ganz anders zu beurteilen. Sie ist weder das Anzeichen eines Wachstums des Einkommens der Volksglieder, noch eines bevorstehenden Wachstums ihres relativen Kapitales (263). Schließlich zieht Rae auch noch die einer Vermehrung des Volks- vermögens feindlichen Gegentendenzen in Betracht; unter ihnen besonders den Luxus und die auf der Handlungsweise Einzelner oder der Staaten (Krieg!) beruhende Schadenstiftung (waste). Von theoretischem Interesse ist daraus die Scheidung der Güter in „luxuries" und „utüities". Utilities sind die Güter, insofern sie nach ihren physischen Eigenschaften geschätzt werden, die sie zur Befriedigung reeller Bedürfnisse geeignet machen; luxuries. insofeme als sie nach ihrer Eignung zur Befriedigung der Eitel- keit (vanity) geschätzt werden (Inhaltsverzeichnis S. XV). Die Luxus- güter sind diejenigen, die sich der von Rae zu Anfang (S. 94, siehe oben S. 283) aufgestellten theoretischen Voraussetzung, daß die Güter unter- einander nach ihren physischen Eigenschaften verglichen und geschätzt werden, nicht fügen; bei ihnen ist nicht ihre Eignung zur reellen Bedürfnis- befriedigung, sondern ihre Kostbarkeit der Grund der Schätzung (305 und öfters). Eine Betrachtung des Zusammenwirkens aller die Natur und Er- zeugung der Güter berührenden Umstände führt endlich Rae noch auf eine bündige Gegenüberstellung der Wirkensweise der beiden Hauptkräfte, des „inventive piinciple" und des „accumulative principle". Elrsteres erweitert die menschliche Macht und vermehrt das Volksvermögen auf dem Wege, daß es die dasselbe zusammensetzenden Instrumente in Klassen of quicker return versetzt. Das „accumulative principle" führt die Menschen dazu, einen weiteren Kreis von Vorgängen in ihre Operationen einzubeziehen und vergrößert das Vermögen, indem es die capacity der bereits gebildeten Instrumente erhöht oder neue Materialien aufarbeitet; 298 XI- Jo'>n Rap. hiebei führt es, im geraden Gegensatz zum „inventive principle", die In- strumente in Klassen of slower return über (321, 322). B. Kritik. Um die Leistungen Kaes auf unserem Gebiete unbefangen zu be- urteilen, muß man sich vor allem gegenwärtig halten, daß Raes Interessen und Absichten auf ein anderes Ziel als auf die Erklärung des Kapitalzinses gerichtet waren. Ihn interessiert die Vermehrung des Nationalreichtums. Er führt seine tiefgehenden Untersuchungen überall so weit, bis sie ihm eine Nutzanwendung auf dieses sein Hauptthema gestatten. Aus diesem Gesichtspunkt kommt er auch auf die mit dem Kapitalzinse zusammen- hängenden Fragen, und zumal auf sein Schema von Instrumenten ver- schiedener Rentabilitätsklasse zu sprechen. Die jeweils erreichte Ren- tabilitätsklasse markiert den Zinsfuß; aber wichtiger als der Einfluß auf den Zinsfuß ist ihm, daß das Vorrücken und Zurückschreiten der Renta- bilitätsgrenze auf die Masse der Instrumente, welche gebildet werden können, und damit auf die Größe des Nationalreichtums einen Einfluß nimmt. Rae behandelt das Zinsproblem, aber nur weil und so weit es ihm am Wege zu seinem Hauptziele lag. Eine Folge davon ist eine eigen- tümliche Ungleichmäßigkeit in der Behandlung. Jene Prämissen der Zins- theorie, welche zugleich Prämissen für seine Ansichten über die Ver- mehrung des Volksvermögens sind, werden mit großer Ausführlichkeit und Gründlichkeit herausgearbeitet, wie z. B. die Bestimmgründe des effective desire of accumulation. Jene Prämissen dagegen, welche nur dem eigentlichen Zinsproblem als Distributionsproblem dienen können, werden mit lakonischer Kürze abgefertigt; wie z. B. die ganze Theorie der Tauschwert- und Preisbildung auf vier Seiten (166—170) zusammen- gedrängt, und, höchst charakteristischer Weise, die Höhe des Arbeits- lohnes, die wegen ihrer unverkennbaren Wechselbeziehung zur Höhe des Kapitalzinses für das Distributionsproblem einen notwendig zu berührenden Gegenstand hätte bilden müssen, geflissentlich von jeder Untersuchung ausgeschlossen, und einfach als eine gegebene unveränderliche Größe vor- ausgesetzt wird (S. 97, 130f.). Und daran knüpft sich in weiterer Folge, daß die phänomenale Gründlichkeit und Geschlossenheit, mit welcher Rae seine Gedanken auf seiner Hauptroute aneinander zu fügen gewöhnt ist, nicht immer auch auf den Gelegenheitsexkursen zu finden ist, auf denen er das Distributionsproblem des Kapitalzinses berührt und abtut. In Raes Äußerungen über das Zinsproblem lassen sich zwei Gedanken- reihen unterscheiden. Die eine Gedankenreihe erklärt den Zins aus dem Einflüsse der Zeit auf die Schätzung der Bedürfnisse und Güter. Diese Gedankenreihe ist, obwohl sie von Rae nicht zusammenhängend vor- getragen, sondern bei verschiedenen Gelegenheiten bruchstückweise vor- Kritik. 299 gebracht wird, doch inhaltüch vollkommen geschlossen. Sie läßt sich in folgende Sätze zusammenziehen. Aus Gründen, die in unserer Person liegen, nämlich wegen der Kürze und Unsicherheit des Lebens, wegen der voraHszusehenden Abnahme unserer Genußfähigkeit, endlich wegen unserer leidenschaftlicheren Hingabe an den Augenblick, legen wir gegen- wärtigen Freuden und Bedürfnissen und deswegen auch den Befriedigungs- mitteln für gegenwärtige Bedürfnisse eine größere Schätzung bei, als künftigen Freuden, Bedürfnissen und Befriedigungsmitteln. Wegen dieser Höherschätzung der Gegenwart würden wir uns für ein gegenwärtiges Opfer an Arbeit oder Gütern nicht ausreichend entschädigt halten, wenn wir im Wege der Produktion nur ebensoviel, als wir in der Gegenwart geopfert haben, in der Zukunft erlangen würden; wir erachten vielmehr ein gegenwärtiges Opfer nur dann für aufgewogen, wenn der künftige Produktionserfolg das gegenwärtige Produktionsopfer mindestens in dem- jenigen Verhältnisse an Wert übersteigt, in welchem wir die Gegenwart höher schätzen als die Zukunft. Enthält der Preis der Produkte nicht eine nach diesem Gesichtspunkte ausreichende Entschädigung, so würde die Produktion des betreffenden Artikels nicht unternommen, beziehungs- weise aufgegeben werden, und auf diese Weise wird auf die Dauer ein Preisstand erzwungen, welcher den Unternehmern außer der Vergütung für ihre Auslagen noch ein der gesellschaftlichen Schätzung des Verhält- nisses von Gegenwart und Zukunft und der Länge des Zeitraumes, nach welchem sie für ihre Auslagen entschädigt werden, entsprechendes Mehr- erträgnis übrig läßt. Dieses Mehrerträgnis wird zum Kapitalgewinn ^). Diese Gedankenreihe enthält einen großen und originellen Fortschritt gegenüber verschiedenen Ansätzen, die sich in der älteren Literatur fanden. Wie wir wissen, hatten schon Galiani und Turgot in gelegentlichen schlagwortartigen Äußerungen den Zins mit einer verschiedenen Schätzung gegenwärtigej und künftiger Güter in Verbindung gebracht, aber diesen Gedanken weder durchgeführt, noch auch nur festgehalten*). Etwas später hat — wie vielleicht hier am schicklichsten eingeschaltet werden kann — der berühmte Utilitarier Bentham denselben Gedanken mit völliger Deutlichkeit ausgesprochen, aber ebenfalls noch nicht zu einer im Detail ausgeführten Zinstheorie entwickelt. Er stellt nämlich in einer seiner philosophischen Schriften mit voller Ausdrücklichkeit die psycho- *) Dieser Gredankengang ergibt sich insbesondere aus dem Zusammenhalt der Äußerungen Raes auf S. 118ff., 172 und 169f. Seinen bündigsten Ausdruck findet er in den zahlreichen Stellen, in welchen Rae das rein psychologische Moment, den „strength of the effective desire of accumulation", mit der Preis- und Zinsbildung in Verbindung bringt. Dagegen gehört, wie wir sehen werden, die Einführung des „actual Order of instruments" an Stelle des „strength of desire" als Regulator von Preis und Zins einer anderen Gedankenreihe an. 2) Siehe oben S. 43 und 48. 300 XT. John Rae. logische Prämisse auf, daß der „Wert" von Lustgefühlen unter anderem durch die zeitliche Entfernung ihres Auftretens beeinflußt, beziehungs- weise herabgesetzt wird^), und er stellt eine Gedankenverbindung zwischen (lieser psychologischen Tatsache und der Erscheinung des Zinses durch die bei anderer Gelegenheit vorgebrachte Bemerkung her, daß auch der Wert zweier Geldsummen von derselben Größe, von welcher die eine ohne Verzug, die zweite erst am Schlüsse des zehnten Jahres von der Gegenwart an gerechnet zahlbar ist, verschieden groß, und daß z. B. bei einem Zinsfuß von 5% der Wert der zweiten Geldsumme nur halb so groß sei als jener der ersten*). Und in einer seiner ökonomischen Schriften findet sich der hiezu völlig passende lapidare Satz, daß das Ausleihen von Geld auf Zinsen nichts anderes als der Austausch von gegenwärtigem Gelde gegen künftiges sei^). Da aber die erklärenden Zwischenglieder, aie von jener psychologischen Prämisse zu der Erscheinung des Zinses und zumal des ursprünglichen Kapitalzinses hinführen, gar nicht weiter entwickelt werden — ist es ja doch fast zweifelhaft, ob Bentham den Zins aus jener psychologischen Prämisse oder umgekehrt letztere aus der feststehenden Existenz des Zinses ableiten wollte*) — so hat auch Bentham für die Entwicklung der Zinstheorie noch nicht wesentlich mehr geleistet als vor ihm Galiani und Türgot. Wozu noch kommt, daß infolge des zufälligen Ganges der Dinge Benthams interessante Anregung fast ohne allen Einfluß auf die spätere literarische Entwicklung blieb. So sehr Bentham durch seine hedonistische Philosophie auf die Geistesrichtung der englischen Nationalökonomie seines Zeitalters im großen wirkte, so unbeachtet scheint jener spezielle Zug seiner psychologischen Lehre geblieben zu sein. Ich kann wenigstens eine sichere Spur seines literarischen Einflusses bei keinem früheren als Jevons entdecken; ob speziell Rae jene Äußerungen Benthams überhaupt kannte und ob er durch sie irgendwie beeinflußt wurde, muß in Ermanglung bestimmter Anhaltspunkte völlig dahingestellt bleiben«). ^) Principles of Moral and Legislation Ch. IV. *) Works IV S. 540 (Codification Proposal); zitiert nach Cuhel, Lehre von den Bedürfnissen, § 404. Verwandt und nur etwas allgemeiner gehalten ist eine Stelle am Schlüsse des oben zitierten Ch. IV der Principles: „Der Wert eines Vermögensobjektes steigt und fällt, wie man allgemein annimmt, ... je nach der Nähe oder Ent- fernung der Zeit, zu welcher es ... in unseren Besitz gelangen soll". ') Defence of usury, Letter II. «) Siehe Exkurs XI zur 3. Aufl. meiner „Positiven Theorie" S. 308f; 4. Aufl. S. 226f. *) Weil ich in der mir damals bekannten nationalökonomischen Literatur von einer Zinstheorie Benthams keinerlei Spuren fand (auch bei Jevons fand ich ja Bent- HA.M nur als philosophischen Gewährsmann für eine allgemeine psychologische These, aber nicht als Autor einer Zinstheorie zitiert!), habe ich in den beiden ersten Auflagen dieses Werkes Benthams nur ganz flüchtig als eines Gegners des kanonistischen Zins- verbotes gedacht. Erst durch die im Jahre 1901 erschienene Abhandlung „Zur Theorie Kritik. 301 Jedenfalls ist Rae der erste, der jenen Gedankenkeimen eine wohl- motivierte, geschlossene Entwicklung gibt. Und mit dieser Entwicklung füllt er zugleich nach einer anderen Seite hin auch einen Rahmen aus, dessen Umrisse Smith, Ricardo und Malthus ebenfalls in unzureichenden schlagwortartigen Äußerungen bezeichnet hatten: indem nämhch diese Autoren darauf hingewiesen hatten, daß die KapitaHsten ein Interesse an der Kapitalbildung und produktiven Verwendung der KapitaUen haben müssen, und daß, wenn die Güterpreise keinen Kapitalgewinn übrig ließen, die Kapitalbildung zum Stillstand und zum Versiegen käme^). Alle diese Schlagworte erhalten bei Rae einen sie zur wirklichen Theorie gestaltenden Inhalt. Und um vorgreifend sofort auf die Stellung Raes zu der späteren Literaturentwicklung zu kennzeichnen: wenn jene Gedankenreihe bei Rae die einzige geblieben wäre, so hätte er damit beiläufig das antizipiert, was 37 Jahre später Jevons im allgemeinen über das Thema von Gegen- wart und Zukunft lehrte; er hätte genau das antizipiert, was wiederum anderthalb Dezennien später Launhardt und Sax, mit einer ziemlich mechanischen Nutzanwendung der jEvoNsschen Ideen, speziell über das Thema des Kapitalzinses lehrten; und endlich das, was mir selbst in einem gewissen frühesten Stadium meiner Forschungen nach den Ursachen des Kapitalzinses vorgeschwebt war, wobei ich mich jedoch, als bei einer zur vollen Lösung des Problems unzureichenden Erklärung, nicht beruhigt hatte. Ich halte es nämlich zwar für einen vollkommen richtigen Gedanken, daß der Zins seine letzte Wurzel in einer verschiedenen Schätzung gegen- wärtiger und künftiger Güter hat; ich halte es ferner für vollkommen richtig, daß an dieser verschiedenen Schätzung diejenigen Gründe rein psychologischer Natur, welche Rae hiefür anführt, einen sehr wesent- lichen Anteil nehmen; aber ich halte es für ebenso zweifellos, daß diese Gründe die Erklärung der tatsächlichen Zinsphänomene nicht erschöpfen können. Und das hat auch sowohl Rae als Jevons schon gewußt. Die Erfahrungstatsachen lassen nämlich keinen Zweifel darüber, daß auf den Gang und Stand des Zinsfußes nicht bloß die rein psychologischen Rück- sichten auf die Kürze und Unsicherheit unseres Lebens und unserer Genuß- fähigkeit und auf die größeren Lockreize des Augenblicks, sondern daß auch Tatsachen der Produktionstechnik hier ihren Einfluß üben: die- jenigen Tatsachen und Erfahrungen, welche eine uns schon bekannte theoretische Richtung auf die Idee einer selbständigen „Produktivität des Kapitales" geführt haben. Die Schwierigkeit — und zwar, wie ich glaube, zugleich die größte und die pikanteste Schwierigkeit des ganzen des Wertes. Eine Bentham-Studie" von Oskar Kraus wurde ich auf Benthams in- teressante Beziehungen zur Theorie des Zinses aufmerksam. ») Siehe oben S. 62f., 77, 135. 302 XL John Rae. Zinsproblems — ist nur darzulegen, in welcher Weise und durch welche Mittelglieder hindurch jene heterogenen, teils objektiv technischen, teils höchst subjektiv psychologischen Teilursachen ineinander und zum Schluß- ergebnis unseres erfahrungsmäßigen einheitlichen Kapitalzinses wirken. Und ich glaube zum Verständnis der Haltung Raes in dieser Frage nicht besser beitragen zu können, als indem ich, mein Vorgreifen fortsetzend, sofort mit ein paar Schlagworten auch den Standpunkt derjenigen Schrift- steller zu charakterisieren suche, welche nach Kae mit dieser Frage sich zu befassen Anlaß hatten. Und zwar will ich, die Chronologie umkehrend, mit meiner eigenen Theorie beginnen. Ich bemühe mich darzulegen, daß die Tatsachen der Produktions- technik, die ich unter den Gesichtspunkt einer größeren technischen Ergiebigkeit der zeitraubenden Produktionsumwege bringe, selbst einen Teilgnmd dafür abgeben, daß gegenwärtige Güter, deren Besitz uns das Einschlagen jener ergiebigen zeitraubenden Umwege gestattet, höher geschätzt werden als künftige. Nach dieser Auffassung wirken die pro- duktionstechnischen und die psychologischen Tatsachen schon zu allem Anfang koordiniert, indem sie ihre Wirksamkeit zunächst zu dem gemein- samen Ergebnisse vereinigen, daß gegenwärtige Güter höher geschätzt werden als künftige: dieses Ergebnis steht dann allein als erklärendes Zwischenglied zwischen den Teilursachen, die es selbst hervorbringen, und dem Kapitalzins, der aus ihm als weitere Folge hervorgeht^). Jevons scheint dagegen keine Möglichkeit gesehen oder gefunden zu haben, die produktionstechnischen und die rein psychologischen Tat- sachen in ein gemeinsames Erklärungsbett zu leiten. Er bietet daher eine eklektische Doppelerklärung, wobei er mit keiner der beiden Erklärungs- hälften di6 Schranken der alten Schulmeinungen sprengt. Die Heran- ziehung der produktionstechnischen Tatsachen geschieht im Geleise der alten Produktivitätstheorie, wobei nur der Länge des zeitlichen Intervalls zwischen Beginn und Beendigung des Produktionsprozesses zutreffend ein ursächlicher Einfluß auf die Größe des technischen Erfolges zuge- schrieben wird; die psychologischen Momente aber werden schließlich unter dem alten Schlagworte der ,, Abstinenz" für die Zinserklürung fruktifiziert, während die glänzenden und originellen Erkenntnisse über die psychologischen Gründe einer Minderschätzung der künftigen Güter eigentlich brach liegen gelassen werden 2). Launhardt und Sax wieder scheinen gar nicht die Notwendigkeit gefühlt zu haben, auch die produktionstechnischen Tatsachen zur Er- klärung der erfahrungsmäßigen Zinserscheinung mit heranzuziehen, und *) Wegen des genaueren muß ich auf den zweiten, meine Positive Theorie ent- haltenden Band dieses W^kes verweisen (in der ersten Auflage S. 248ff. und 273ff., in der dritten 426ff. und 453ff., in der vierten S. 318ff. und 338ff.). ') Das genauere siehe unten im Abschnitt XIII. Kritik. 303 begnügten sich, wohl sehr gegen die Absicht ihres Vorbildes, damit, jene von Jevons bereitgelegten, aber unbenutzt gelassenen Materialien einer Teilerklärung als ausschließliche Grundlage für eine vermeintliche Voll- erklärung des Kapitalzinses zu benutzen^). Rae endlich hat vollkommen richtig erkannt, daß außer den psycho- logischen Erwägungen der Menschen auch gewisse objektive Tatsachen der Produktionstechnik mit dem Kapitalzins etwas zu tun haben müssen; er weiß z. B. und merkt ausdrücklich an, daß bei vollkommen ungeändertem Stande der psychologischen Momente die Auffindung besserer technischer Produktionsmethoden den Zinsfuß zu erhöhen geeignet ist; und deshalb hat er jener ersten, rein psychologischen noch eine zweite produktions- technische Gedankenreihe an die Seite gestellt. Dieselbe scheint mir jedoch — und hierin weiche ich vom Urteile Mr. Mixters*^) ab — den schwachen Punkt seiner Lehre zu bilden. Rae hat die hier sich ergebenden Schwierigkeiten des Problems nicht bemeistert. Wie so viele vor ihm und wie selbst ein Jevons nach ihm hat er zu leicht und leichthin technische Mehrerfolge der Produktion für vermehrte Wertüberschüsse über die Kosten der Produktion genommen, und damit Erklärungsgänge, die nur ein Mehr an Produkten zu begründen geeignet waren, voreilig als eine zureichende Erklärung von Überschuß- oder Zinsphänomenen gedeutet. In diesem Teile der RAEschen Ausführungen macht sich besonders fühlbar, was ich oben bemerkte, daß nämlich die Erklärung des Kapitalzinses nicht das Hauptziel der theoretischen Untersuchungen Raes war. Gewisse Untersuchungen, die nicht für das Produktionsproblem, sondern nur für das Distributionsproblem vonnöten waren, nimmt Rae leicht, und hält sie weder sich, noch den Lesern in geschlossener logischer Folge vor Augen. Dabei konnten logische Sprünge, Inkon^uenzen zwischen dem, bis wohin Rae bei einer früheren Gelegenheit gelangt war, und dem, woran er bei einer späteren Gelegenheit wieder anknüpft, endlich Widersprüche viel leichter unbemerkt bleiben, als dies möglich gewesen wäre, wenn Rae das Zinsproblem sich zum theoretischen Hauptvorwurf genommen, und Glied für Glied die Gedankengänge geprüft und ineinander gefügt hätte, die von den empirischen Grundtatsachen zur Erklärung des Kapital- zinses hinführen. Rae webt in seine psychologische Zinserklärung das produktions- technische Moment an zwei Punkten ein Er sucht erstens produktions- technisch zu erklären, warum die Leute bei zunehmender Akkumulation und Stillstand der Erfindungen mit immer geringeren Wertüberschüssen vorlieb nehmen müssen. Er erklärt dies aus den begrenzten, kargen Vor- räten an Materialien bester Qualität und aus der Nötigung, stufenweise für die Anfertigung von Instrumenten auf immer schlechtere Materialien ^) Das genauere siehe unten im Anhang zu diesem Bande. ») Siehe oben S. 278. 304 XI. John Rac. ZU greifen, welche denselben produktiven Erfolg nur mit größerem Arbeits- aufwand oder größeren Kosten zu erreichen gestatten und daher einen geringeren Überschuß der capacity über die Kosten übrig lassen^). Und er bildet zweitens mit einer produktionstechnischen Begründung die der psychologischen Gedankenreihe entsprechende Regel, daß der Zinsfuß der psychologischen Stärke des gesellschaftlichen Ansammlungs- triebes entsprechen müsse, in die hievon verschiedene Regel um, daß der Zinsfuß sich nach demjenigen Ertragsniveau richtet, bis zu welchem die tatsächliche Akkumulation bisher die Anfertigung von Instrumenten ge- bracht hat. Hier läßt Rae vornehmlich die Erfindungen, das „inventive principle", ihre Rolle spielen. Indem der Erfolg der Erfindungen darauf hinausläuft, daß den Instrumenten mit gleicher Arbeit eine größere capacity verliehen wird, wird der Überschuß der capacity über die Kosten ein größerer, und es werden demnach die Instrumente in Klassen kürzerer Verdopplungsperiode oder höheren prozentuellen Ertrags hinaufgerückt. So lange es aber Instrumente von höherer Rentabilität zu bilden gibt, werden natürlich auch jene Leute, deren „strength of the effective desire of accuraulation" ihnen gestatten würde, zur Bildung von Instrumenten niedrigerer Rentabilität herabzusteigen, dies nicht tun, und es wird inso- lange nicht der Stand des psychologischen ,, desire of accumulation", sondern der höhere faktische Ertrag derjenigen Schichte von Instrumenten, bis zu welcher man bei stufenweiser Verwertung der besten Produktions- gelegenheiten gelangt ist, in allen geschäftlichen Berechnungen, bei der Preisbildung und schließlich bei der Festsetzung des üblichen Gewinn- satzes die entscheidende Rolle spielen. Demgemäß substituiert Rae an den meisten einschlägigen Stellen seines Werkes dem „strength of the effective desire of accumulation" als Bestimmgrund des Zinses den „actual Order", „at which Instruments are arrived" oder „to which Instruments are generally wrought up"^). Wie man leicht sieht, rückt hier Rae die produktionstechnischen Tat- sachen in die vorderste Reihe der Erklärung, und zwar tut er dies, wie gleichfalls auf den ersten Blick auffällt, in einer Weise, welche mit den einschlägigen Ausführungen Thünens die frappanteste Ähnlichkeit hat. Nicht nur der produktionstechnische Grund des sukzessiven Sinkens des Zinsfußes, daß nach Erschöpfung der ergiebigsten Produktionsgelegen- ^) Siehe oben S. 288. Die ergänzende Demonstration, daß auch die Dauerhaftig- keit der Güter nicht ins grenzenlose gesteigert werden kann, ohne zu einer Verringerung des Grewinnprozentes zu führen (siehe oben S. 287), ist sachlich korrekt, ohne freilich dem Phänomen ganz auf den Grund zu sehen. 2) z. B. S. 170, 196, 300 und oft. Der obige Gedankengang ist gleichfalls aus zer- streuten Äußerungen Raes zusammengesetzt. Die wichtigsten Stellen sind 268ff. (Erfindungen), 170 (Preisbildung), 205f. (übliche Profitrate); dann 194 und 172, wo sich Bemerkungen darüber finden, ob der „desire of accumulation" schon Zeit gehabt hat zu wirken. Kritik. 306 heiten „die fernere Kapitalerzeugung sich auf Gerätschaften von minderer Wirksamkeit richten muß", kehrt bei beiden Schriftstellern fast mit den gleichen Worten wieder, sondern es ist auch die TnüNENsche Formel, daß sich der herrschende Zinsfuß nach der Ergiebigkeit „des zuletzt an- gelegten Kapitalteilchens" richtet, offenbar nur eine andere Aussageform für den RAEschen Gedanken, daß die Rentabilität derjenigen Schicht von Instrumenten, bei welcher man bei einer stufenweisen Ausnützung der vorteilhaftesten Produktionsgelegenheiten gerade angelangt ist, für die Höhe des üblichen Zinsfußes den Ausschlag gibt^). Wir müssen nur hier wie dort fragen, ob die produktionstechnischen Prämissen so verwertet sind, daß aus ihnen eine wirkliche, und zwar zureichende Erklärung dessen abgeleitet wird, was aus ihnen erklärt werden will? Thünen gegenüber mußten wir diese Frage verneinen, und auch gegenüber Rae können wir sie nicht bejahen. Es ist das alte Lied, das wir von den Produktivitätstheorien her kennen: es wird die physische und die Wertproduktivität immerfort durch- einander geworfen. Dieses Quid pro quo geht durch den ganzen RAEschen Gedankenbau, und zwar eigentümlicherweise halb be^Mißt, halb unbewußt. Der Träger der Konfusion ist der Begriff der „capacity" und der hiemit oft synonym gebrauchte Begriff „return". In der offiziellen Definition wird die capacity zunächst als ein rein technischer Begriff definiert. „Alle Instrumente", heißt es auf S. 92, „bringen Leistungen (events) hervor, oder tragen zu ihrer Hervorbringung bei, welche Bedürfnisse der Menschen befriedigen. Ihre Kraft, solche Leistungen hervorzubringen, oder der Betrag von ihnen (the amount of them), den sie hervorbringen, soll ihre capacity genannt werden". Also die capacity ist groß oder klein, je nach- dem viele oder wenige Bedürfnisse befriedigt, beziehungsweise, wenn das Instrument kein Genuß-, sondern ein Produktivgut ist, viele oder wenige Produkte mit seiner Hilfe hervorgebracht werden. In demselben tech- nischen Sinne wird die capacity auch an zahlreichen Stehen durch Beispiele illustriert. Ein Obstbaum bringt Früchte, ein Feld Ernten, eine Wasser- leitung Wasser (S. 92). Desgleichen wird die Art und Weise, in der die capacity der Güter vergrößert werden kann, auf S. 109 ff. auf geradezu naturwissenschaftlich-technischer Grundlage demonstriert. Entweder kann man die Zeitdauer verlängern, durch welche die Instrumente Leistungen abgeben, oder man kann die Menge der Leistungen vergrößern, die das Instrument in einem gegebenen Zeitraum abgibt. Die größere capacity der makadamisierten Straßen wird daran illustriert, daß sie die Benützung ^) Siehe oben S. 147. Ich halte es für zweifellos, daß beide Schriftsteller völlig anabhängig von einander zu so analogen Ergebnissen gelangten. Ihre Forschungen; wenn auch nicht ihre Publikationen, waren ungefähr gleichzeitig, und beide waren nicht so sehr große Leser, als einsame Denker, deren Lehren vollständig das Gepräge ureigenster Gedankenarbeit tragen. Böhm-Bawerk, Rapitalzins. 4. Anfl. 20 306 XI. John Rae. durch 200000 Wagen zulassen. Und auf S. 259 illustriert Kae den Satz, daß erfinderische Verbesserungen „greater returns" mit derselben Aus- lage hervorbringen, damit, daß die Leute mit einem verbesserten Pflug bei gleichem Aufwand von Arbeit und Zugvieh ein größeres Stück Land pflügen können. Kurz, die capacity ist eine technische Größe, zu messen an der Masse von Befriedigungsakten oder Produkten, deren Erziehung sie vermittelt. Daneben bezieht aber Rae fortlaufend und abwechselnd die capacity auch auf die Wertsumme, welche die durch ein Instrument erzeugten Produkte oder Leistungen repräsentieren. Er leitet diese Umdeutung mit der Bemerkung ein, daß es notwendig sei, einen Maßstab für die Ver- gleichung der capacity oder returns der Instrumente mit der für ihre Bildung verausgabten Arbeit zu besitzen. Indem er als diesen Maßstab die Arbeit, und zwar nach ihrem Tauschwert oder Lohn bemessen, an- nimmt, gilt ihm nunmehr die capacity eines Instrumentes als groß oder klein, je nachdem seine Leistungen mit vielen oder wenigen Arbeitslöhnen gleichwertig sind, also eine größere oder kleinere Wertsumme repräsen- tieren. Daß er damit einen zweiten, inhaltlich verschiedenen Begriff der capacity konstruiert, scheint ihm zunächst nicht bewußt gewesen zu sein, weil er die Umdeutung mit der Bemerkung begleitet, daß sie eigentlich nur eine Verdeutlichung der Terminologie enthalte (92). Später bringt er jedoch eine Bemerkung vor, welche als bewußte Rechtfertigung für die Identifizierung der technischen und der Wertproduktivität der Instru- mente gedeutet werden kann, und wahrscheinHch im Sinne Raes auch als eine solche Rechtfertigung zu deuten ist: er erklärt nämlich seinen theo- retischen Auseinandersetzungen die Annahme zu gründe legen zu müssen, daß die Menschen die Instrumente nach ihren physischen Qualitäten, also nach ihrer technischen Leistungsfähigkeit schätzen, eine Annahme, die auch der Wirklichkeit — mit alleiniger Ausnahme der bloß der Eitelkeit dienenden Luxusgüter — entspreche^). Daneben stellt aber freilich Rae innerhalb seines Systemes gleich- zeitig auch noch eine entgegengesetzte Wertregel auf: er lehrt nämlich, 1) S. 93f., 259, 283, Contents XV. Zu bemerken ist, daß die diesem Gesetze bei seiner ersten Erwähnung (S. 94) beigegebene Bemerkung, daß die capacity von In- strumenten, ,,die derselben Sorte von Bedürfnissen dienen", untereinander nach ihren physical effects verglichen werde, nicht etwa eine Einschränkung des Gel- tungsgebietes jenes Gesetzes bedeutet, sondern nur der selbstverständlichen Erwägung Ausdruck leiht, daß nur gleichartiges verglichen werden kann. Bei den späteren Er- wähnungen desselben Gesetzes wird jene Klausel nicht mehr ausdrücklich erwähnt und es geht sowohl aus dem Wortlaute, als aus dem Kontexte deutlich hervor, daß die Schätzung nach den physical effects ein allgemeines Schätzungsprinzip für alle ,, Utilities" sein soll, während das Schätzungsprinzip der ,,luxuries" die Kostbarkeit, die Schwierigkeit der Erlangung ist (siehe S. 269, 283, 305f. und XV des Inhaltsver- zeichnisses). Kritik. 307 daß der Wert der Güter sich nach -ihren Reproduktionskosten be- stimme i). Wie sich Rae das Verhältnis zwischen diesen kontrastierenden Wertregeln gedacht haben mag, ist einer der zahlreichen Punkte, für welche sich in den lakonischen und abgerissenen Äußerungen Raes keine sichere Aufklärung findet. Ich halte es für das wahrscheinlichste, daß Rae in der damals allgemein üblichen Weise ein doppelter Wertbegriff vorgeschwebt ist; ein gebrauchswertartiger — den Ausdruck „Gebrauchs- wert" selbst habe ich allerdings in seinem Buche nirgends gefunden — auf den sich die Regel von der Schätzung nach den physischen Qualitäten beziehen sollte; und der — von Rae auch geradezu so benannte — „Tausch- wert", welcher dem Gesetze der Reproduktionskosten folgt. Wie dem aber auch sei, zweifellos entspringt jenes Überschußphänomen, welches zum Kapitalzinse führt, einer Differenz der Tauschwerte von Produkt und Kosten, und ebenso zweifellos bewegt sich der Tauschwert des Produkts bei veränderten Produktionsbedingungen ganz und gar nicht in gleicher Linie mit seiner technischen Größe und Brauchbarkeit. Dessenungeachtet knüpft Rae, verleitet von der Zweideutigkeit, oder eigentlich sogar Drei- deutigkeit seiner „capacity" (technische capacity, Gebrauchswertsumme, Tauschwertsumme) an Prämissen, die nur für eine technische capacity etwas beweisen könnten, unvermittelt Folgerungen auf Wertsummeii und Tauschwertüberschüsse an. Er macht mit rein produktionstechnischen Prämissen, wie Qualität der bearbeiteten Materialien, Vermehrung unserer Kenntnisse von den Eigenschaften der Materialien und von den Natur- prozessen u. dgl., ein Anwachsen oder Herabsinken der technischen capa- city plausibel, und deutet dies dann ohne weiteres auf ein entsprechendes Anwachsen oder Sinken der Wertsummen, auf ein Steigen und Fallen des Überschusses dieser Tauschwertsummen über die Kosten und auf ein dementsprechendes Vor- und Zurückrücken der betreffenden Instrumente in seiner „series of Orders" um, welche series of orders ja nichts anderes als eine Reihung der Güter nach dem prozentuellen Wertüberschuß ist, den dieselben über ihren Eigenwert hinaus ihren Besitzern einbringen. Das ist natürlich vollkommen falsch, wie sich auch im einzelnen für beide oben erwähnten Gedankengänge, mittelst deren Rae das produktions- technische Element in die Zinstheorie hineinverwebt, leicht und handgreif- lich dartun läßt. Rae wül das Sinken des Zinsfußes bei zunehmender Kapitalsansamm- lung mit der Notwendigkeit erklären, zu immer spröderen, schwerer zu bearbeitenden Materialien überzugehen, wobei Instrumente von gleicher „efficiency" nur mit größeren Kosten hervorgebracht werden können. „Das heißt." — meint Rae — „sie müssen in Klassen geringeren Ertrages (of slower return) übergehen". ») Siehe oben S. 291 f. 308 XL John Rae. „Das heißt" aber in Wahrheit etwas ganz anderes. Wenn die Leute aus spröderem Material Instrumente bilden, z. B. auf minder fruchtbarem Boden Vieh züchten oder Rüben oder Getreide bauen, so wird — bei ungeändertem Stand der technischen Kenntnisse — sicherlich die Er- zeugung desselben Quantums von „Instrumenten" oder Produkten, z. B. eines Zentners Schafwolle oder eines Zentners Getreide, mehr direkte und indirekte Arbeit kosten als bisher; aber dafür wird dieser Zentner Schafwolle oder Getreide, wenn auch seine physische efficiency oder capacity natürlich die gleiche geblieben ist, vermöge des von Rae gelehrton Reproduktionskostengesetzes jetzt auch einen höheren Wert erlangen als zuvor. Es steht also, wenn man die capacity — wiederum nach der eigenen Anweisung Raes — nach der Menge von Arbeit oder Arbeitslöhnen, denen sie gleichgesetzt wird, schätzt^), den vermehrten Kosten auch eine ver- größerte, durch die capacity der Instrumente repräsentierte Wertsumme gegenüber, und es wird durch keinen Zug der RAEschen Lehre bewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht, daß der Produktwert in einem schwächeren Verhältnis steigen müsse, als die Kosten gestiegen sind: Raes Reproduktionskostengesetz ließe eher im Gegenteile erwarten, daß der Wert des Produktes in demselben Verhältnis steigen müsse, als seine Kosten gestiegen sind, und dann würde natürlich auch nicht einzusehen sein, warum der Überschuß des Produktwertes über die Kosten kleiner werden, und das Niveau des Ertrages, welchen die betreffenden Instrumente einbringen, sich erniedrigen sollte. Rae geht aber auf eine solche feinere Beweisführung, warum etwa der Wert des Produktes in einem schwächeren Verhältnis gestiegen sein sollte als die Kosten, gar nicht ein, weil er wegen seiner Verwechslung der technischen und der Wert-Capacity irrtümlich glaubt, schon am Ziele zu sein, wenn er nur dargetan hat, daß der gleichen Produktmenge jetzt größere Kosten gegenüberstehen. Ricardo hatte hier weiter geblickt. Man wird unschwer in Raes Gedankengang die Berufung auf dasselbe „law of diminishing returns" erkennen, aus dem auch Ricardo die Tendenz des Zinsfußes zum Sinken erklären will. Nur hat Rae jenem Gesetze eine etwas allgemeinere, ab- straktere Fassung gegeben, indem er überhaupt von der Notwendigkeit sprach, zu undankbareren „Materialien" überzugehen, während Ricardo, sich konkreter fassend, nur auf den wichtigsten Hauptfall hinwies, nämlich auf die Nötigung, zu immer undankbareren Grundstücken seine Zuflucht zu nehmen. Ricardo hat sich aber ganz richtig gegenwärtig gehalten, daß die Steigerung der Arbeitsmenge, die nunmehr zur Erzeugung desselben Produktquantums aufgewendet werden muß, keineswegs schon unmittelbar den Kapitalgewinn schmälert; vielmehr müsse dann auch der Wert jenes Produktquantums, und zwar in demselben Verhältnisse steigen, in welchem 1) Siehe oben S. 282 und 306f. Kritik. 309 sich die zu seiner Erzeugung erforderte Arbeitsmenge gesteigert hat; und nur, weil unter den gegebenen Voraussetzungen überdies auch der Arbeits- lohn steigen müsse, vermindere sich der Überschuß des — schwächer gestiegenen — Produktwertes über die — stärker gestiegenen — Pro- duktionskosten, und damit die Gewinnrate^). Dieser — freihch, wie wir gesehen haben, auch nicht zum Ziele führende — Gedanke ist aber Rae fremd geblieben, welcher absichtlich und ausdrücklich den Arbeitslohn in seinen Auseinandersetzungen als eme gegebene und unveränderte Größe vorauszusetzen erklärt ^). Und nicht besser steht es mit der erklärenden Kraft dessen, was Rae über den Zusammenhang neuer Erfindungen mit einer Erhöhung des Gewinnsatzes vorbringt. Wenn durch eine glänzende Erfindung es möglich gemacht wird, mit derselben Arbeit das zehnfache technische Produkt hervorzubringen, so ist — den Fall eines Monopols ausgenommen, den aber auch Rae nirgends vor Augen hat — gar keine Rede davon, daß das Produkt auch eine zehnfach größere Wertsumme repräsentieren und einen zehnfach größeren Überschuß über den Eigenwert des betreffen- den Instrumentes übrig lassen, und dieses somit in der Erträgnisskala um so viel vorwärts rücken würde. Vielmehr wird, wieder in Konsequenz eines von Rae in seiner Preislehre (S. 168) ausdrücklich ausgeführten Lehrsatzes, der Wert des Produktes auf das den verringerten Arbeits- kosten entsprechende Niveau herabsinken, und es ist wiederum nicht ersichtlich, daß und warum bei solcher ebenmäßiger Verringerung von Wert und Kosten die Differenz zwischen beiden, die den Kapitalgewinn ergibt, größer geworden sein sollte als zuvor. In dem Falle der Erfindungen ist übrigens die Senkung des Wertes der von der Erfindung berührten Artikel eine so auffällige und notorische Erscheinung, daß Rae nicht vermeiden konnte, von ihr Notiz zu nehmen. Die betreffende Stelle — von insgesamt 16 Zeilen — ist deshalb besonders bemerkenswert, weil sie die einzige ist, in der Rae den eigentlich kritischen Punkt des Zinsproblems, wenn auch nur in höchst lakonischer Weise, streift. Er bemerkt nämlich, daß die Wirkungen von Verbesserungen zwar „unmittelbar und zuerst" nur die verbesserten Instrumente ergreifen, „aber sich sehr bald über die ganze Masse aller im Besitze der Gesellschaft stehenden Instrumente ausbreiten". Und nun folgt das von uns oben (S. 295) wiedergegebene Beispiel vom technischen Fortschritt im Brot- backen, der den Bäckern nur „eine kleine Erhöhung ihres Profites", aber allen Gliedern der Gesellschaft ein billigeres Brot, und damit für eine gleiche Auslage einen etwas größeren Ertrag einbringe, und daher alle im Besitze der Gesellschaft befindlichen Instrumente in eine Klasse größerer Rentabilität rücke. 1) Siehe oben S. 78ff. *) Siehe oben S. 298. 310 XL John Rae. Der tatsächliche Vorgang, den Rae hiebei im Auge hat, ist offenbar der, daß, dem entwickelten Tauschwertgesetze entsprechend, der Wert des Brotes infolge seiner gesunkenen Erzeugungskosten sich herunter- nivelliert. In dem Maße, als diese Herunternivellierung sich vollzieht, gehen natürlich die beiden von Rae nicht unterschiedenen „capacities" auseinander. Die technische capacity des Brotes, seine Fähigkeit, die Bedürfnisse der Leute zu stillen, bleibt unvermindert, seine Wert-Capacity geht herunter — nebenbei bemerkt, ein handgreiflicher Beweis dafür, daß die Einführung des Wertmomentes in den Begriff der capacity doch etwas mehr als eine bloß terminologische Verdeutlichung bedeutet hat. In dem Maße, als sich das Tauschwertgesetz durchsetzt, annullieren sich aber natürlich auch diejenigen Einflüsse, durch deren Vermittlung Rae eine Steigerung des Zinssatzes erklären will. Denn indem der Tauschwert des Brotes im Verhältnis zu seinen verminderten Kosten sinkt, läßt der Ertrag natürlich auch keinen größeren Überschuß über die Kosten als früher, die Instrumente der Brotbereitung rücken nicht in eine höhere Renta- bilitätsklasse, und der Profitsatz erfährt keine Steigerung. Allerdings fügt Rae noch zwei Bemerkungen hinzu, die seiner Meinung nach wahrscheinlich einen Ausweg aus diesem für seine Theorie fatalen Dilemma andeuten sollten, in der Tat aber einen solchen keineswegs ent- halten. Einerseits soll die zinssteigernde Wirkung der Erfindung, welche durch die Herabnivellierung des Brotpreises vom Brote abgelenkt wird, sich dafür an allen übrigen Instrumenten, welche die Gesellschaft besitzt, fühlbar machen. Es ist aber eine offenbar unzutreffende Vorstellung, daß der Vorteü, den das Publikum aus dem billigeren Einkauf des Brotes genießt, sich in die Gestalt eines höheren Kapitalzinses von den Besitz- tümern umsetzen solle. Erstens genießen jenen Vorteil ja nicht bloß die Besitzenden, sondern auch die Arbeiter, die durch die Verbilligung eines Konsumartikels eine reelle Erhöhung ihres Arbeitslohnes erfahren. Und insoweit zweitens wirklich jener Vorteil durch den Tausch von Besitz- tümern vermittelt wird, liegt in Raes Gedankengang gar nichts, was ge- eignet wäre, eine Erhöhung des Ertrages dieser Besitztümer über ihren Eigenwert erklärlich zu machen. Rae ist eben auch hier wieder der Selbst- täuschung durch die Verwechslung von technischer Leistungsfähigkeit und Wertproduktivität zum Opfer gefallen. Wenn jeder im Austausche für seine Ware mehr Brot bekommt wie früher, so läßt sich allerdings in einem gewissen Sinne behaupten, daß die technische capacity aller Waren eine größere geworden ist, weU man sich durch ihre Hingabe eine größere Menge von Bedürfnisbefriedigungen verschaffen kann. Auch das läßt sich allenfalls noch behaupten, daß der reelle Tauschwert jener Waren sich gesteigert hat, insoferne das Tauschverhältnis jeder Ware gegenüber einer Warengattung (dem Brote) gebessert, und gegenüber allen übrigen ungeändert geblieben, also in der Gesaratbilanz um eine Kritik. 311 Kleinigkeit gebessert ist. Allein hierin liegt noch gar kein Anhaltspunkt dafür, daß sich das für das Vorrücken in einen „order of more quicky return" maßgebende Verhältnis zwischen Ertrag und Eigenwert oder Kostenweit der Instrumente gebessert haben soll. Denn ganz dieselbe le)se Besserung des reellen Tauschwertes, welche jede andere Produkt- gattung außer dem Brot erfährt, erfahren ja auch die Kostengüter dieser Produkte, einschließlich des allgemeinsten Kostengutes Arbeit, und es tritt daher ganz dieselbe Art und derselbe Grad der Wertschwellung auf beiden Seiten der Büanz, auf Seite der Kosten einerseits, und des „Er- trages" andererseits in Erscheinung, und es ist absolut nicht einzusehen, wie dieser Tatbestand zu einer Vergrößerung des Überschusses des Er- trages über die Kosten Anlaß geben solle. Aber Rae macht noch eine zweite Andeutung. Er sagt nämlich, die Bäcker würden eine kleine Erhöhung ihres Profites (a small additional profit) übrig behalten. Mit diesen drei Worten berührt Rae, und zwar, wie ich glaube, das einzigemal in seinem ganzen Werke und im Tone der bloßen Behauptung denjenigen Punkt, welcher bei einer zielbewußten Zinstheorie im Zentrum der Erklärungsversuche hätte stehen müssen. Warum, wenn es ein nivellierendes Kostengesetz gibt, soll die nivellierende Konkurrenz bei einem Punkte Halt machen, der noch über den Kosten steht? Das ist die Frage, die wir in den verschiedensten, der individuellen Beschaffenheit der betreffenden Lehren angepaßten Tonarten allen Pro- duktivitätstheoretikern der Reihe nach entgegenhalten mußten, von Laüderdale mit seinen arbeitersparenden Wirkstühlen angefangen bis zu Strasburger mit seiner Honorierung für mitwirkende Naturkräfte; und die wir jetzt auch Rae entgegenhalten müssen: warum sollen die Bäcker trotz der nivellierenden Konkurrenz eine „kleine" Erhöhung ihres Profits dauernd*) übrig behalten? Wahrscheinlich dachte Rae, daß seine beiden Andeutungen sich. gegenseitig stützen. Wenn es richtig wäre, daß die Tatsache des billigeren Broteinkaufes für alle übrigen Geschäftszweige eine unmittelbare Erhöhung ihres Kapitalgewinnes bedeutet, so Keße sich in der Tat einsehen, daß dann das Bäckergewerbe mit keinem niedrigeren Profitsatz vorlieb zu nehmen braucht, als ihn alle anderen Unternehmungszweige haben, und daß das fernere Andrängen von Kapital, wodurch sich ja die nivellierende Wirkung des Kostengesetzes vollzieht, schon an einem Punkte Halt macht, der dem Bäckergewerbe einen höheren Gewinnsatz als zuvor, und zwar den- selben Gewinnsatz übrig läßt, der Dank dem billigeren Broteinkauf jetzt *) d. i. auch nach Abschluß des Niveilierungsprozesses, der durch die anfänglich abnormen Gewinne des Bäckergewerbes angeregt wurde. Ein Verschwinden der Ge- winnerhöhung nimmt Rae erst für denjenigen, weit späteren und überhaupt ungewissen Zeitpunkt in Aussicht, in welchem die Akkumulation von Kapital vollständig den „desire of accumulation" eingehölt hat. 312 XI. John Rae. auch in allen übrigen Geschäftszweigen herrschen würde. Aber da, wie wir gesehen haben, die letztere Annahme hinfällig ist, so kann sie auch der ersteren keine Stütze bieten. In sich selbst kann diese aber auch keine Stütze finden. Eine Stütze ist nämhch — und dadurch unterscheidet sich Raes Gesamttheorie vorteilhaft von den reinen Produktivitätstheorien — zwar allerdings dafür vorhanden, daß die Konkurrenz der Brotpreise nie ganz bis auf den Betrag der Selbstkosten, bis auf die nackte Erstattung des für Arbeitslöhne u. dgl. ausgelegten Betrages herabnivellieren kann: das verhüten in Raes Gesamt- theorie die der „ersten Gedankenreihe" ^) angehörigen rein psychologischen Motive und Kräfte. Allein für eine weitere Spannung der Preise über den durch den Stand dieser Kräfte geforderten Punkt hinaus — also für das, was Rae in seinem jetzigen Beispiele „eine kleine Erhöhung des Profits" nennt, und was in seiner allgemeinen Theorie durch die Substituierung des, ein höheres tatsächliches Ertragsniveau anzeigenden, „actual order of Instruments" an Stelle des rein psychologischen „strength of effective desire of accumulation" 2) zum Ausdrucke kommt — fehlt es in Raes Theorie an jeder emporhaltenden Stütze. Diese weitere Spannung soll durch produktionstechnische Einflüsse verursacht und erklärt werden; allein Raes Gedankengang, der sich hier ganz in den Fußstapfen der Produktivitätstheoretiker bewegt, vermag ihren dauernden 3) Bestand nicht zu erklären. Denn das physische Mehr an Produkten, von dem Rae seinen Ausgangspunkt nimmt, ist ein für allemal kein Mehr an Wert- überschüssen, mit dem Rae seinen Gedanken weiterspinnt; in derber Auffälligkeit überall dort, wo er die verbesserten Instrumente selbst, entsprechend ihrer gesteigerten technischen Leistungsfähigkeit, in orders of more quicky returns aufrücken läßt, weniger auffällig, aber für den genauer Zusehenden nicht weniger charakteristisch ausgeprägt an der einen merkwürdigen Stelle, in welcher er den herabnivellierenden Einfluß der Konkurrenz in seine Betrachtung einbezieht. Denn indem er statt der einen Instrumentgattung, bei der die Verbesserung eingetreten ist, alle Instrumente in orders of more quicky return aufrücken läßt, läßt er ja auch hier den technischen Mehrerfolg unmittelbar in einen vermeintüchen Wertüberschuß umschlagen, der durch die nivellierende Konkurrenz weder zum Verschwinden gebracht, noch auch verkleinert, sondern nur über die ganze Menge der gesellschaftlichen Instrumente hin gleichmäßig verteilt werden soll! Zu allem Überflusse findet sich aber in Raes eigener Lehre noch ein Lehrsatz mehr, welcher ihn bei folgerichtigem Denken hätte abhalten müssen, ein Mehr oder Minder an Produkten, die durch Vermittlung eines ») Siehe oben S. 298f. «) Siehe oben S. 292f., 303f. ») Siehe oben S. 311, Anm. Kritik. 313 Instrumentes geschaffen werden können, in einen größeren oder kleineren Ertragsüberschuß umzudeuten. Denn er gibt einmal die ausdrückliche Anleitung, daß der Wert der Instrumente nach ihren künftigen Leistungen unter entsprechender Berücksichtigung ihrer zeitlichen Entlegenheit zu schätzen ist; dies sei ihr „natürlicher" Schätzungsmaßstab, den auch Kae selbst in seinen folgenden Untersuchungen anwenden zu wollen er- klärt^). Wendet man aber diesen Maßstab an, so müßte ja, wenn ein Instrument durch eine glückliche Erfindung doppelt so wirksam gemacht wird, auch sein eigener Wert doppelt so hoch geschätzt werden, und dem verdoppelten Ertrage des Instrumentes stünde der verdoppelte Eigenwert desselben, das ja durch Abnützung in der Produktion zugrunde geht, als verdoppelter Kostenaufwand gegenüber, so daß ein Wachsen der Differenz zwischen Ertrag und Kosten erst recht nicht erklärlich gemacht wäre! Dies führt mich auf einen letzten Gesichtspunkt, aus welchem — und vielleicht am allereinfachsten und einleuchtendsten — Raes Fehlgriff sich veranschaulichen-- läßt. Alle vorteilhaften und nachteiligen Änderungen der Produktionstechnik, welche Rae einerseits aus glücklichen Erfindungen, und andererseits, falls solche ausbleiben, aus der Nötigung, zur Ver- arbeitung minder günstiger Materialien zu schreiten, ableitet, laufen in letzter Linie auf Änderungen in der Produktivität der Arbeit hinaus: eine gleiche Quantität von Arbeit vermag im ersten FaU einen größeren, im letzteren einen kleineren technischen Erfolg zu erzielen, sie ist also im ersten Falle produktiver, im zweiten weniger produktiv als bisher 2). Rae läßt nun alle Instrumente, die durch diesen Ergiebigkeitswechsel berührt werden, in ihrem Werte, sei es ihr Gebrauchswert oder ihr Tauschwert, Veränderungen erleiden, nur die einzige Arbeit selbst nicht: ob sie vermöge glücklicher Erfindungen doppelt so viel, oder vermöge der Erschöpfung der geeignetsten Materialien doppelt so wenig für die menschlichen Be- dürfnisse ausrichtet als zuvor, nie soll daraus irgend eine Änderung für ihren eigenen Wert hervorgehen. Der Wert und Lohn der Arbeit wird von Rae mittelst einer ausdrücklich ausgesprochenen hypothetischen Voraussetzung für den ganzen Bereich seiner theoretischen Untersuchungen als eine gegebene unveränderliche Größe behandelt (S. 97, 131; siehe oben S. 282, 286). Das war gestattet, wenn seine theoretischen Ziele auf etwas anderes gerichtet waren, als auf die Erklärung von Wertbildungen, die zum Wert der Arbeit in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung stehen; das war aber eine nicht gutzumachende methodische Todsünde, wenn gerade die Bildung von Differenzen des Güterwertes gegenüber dem Werte der Arbeit — und nichts anderes ist ja seinem Wesen nach der Kapitalzins — den Gegenstand der Erklärung bilden sollte. Offenbar 1) a. a, 0. S. 172; siehe auch oben S. 292. *) Rae drückt sich selbst dahin aus, daß die inventive faculty „must render the labour of the members of the society more effective" (S. 258). 314 XI. John Rae. müßte die vergrößerte Ergiebigkeit der Arbeit caeteris paribits ihren Wert — sei es Gebrauchs- oder Tauschwert — aus denselben Ursachen und in derselben Richtung beeinflussen, in welcher sie den Wert des durch die Arbeit gebildeten Produktes beeinflußt; und ebenso offenbar ist eine Theorie verfehlt, welche die Bildung eines Abstandes zwischen zwei in derselben Richtung bewegten Größen einfach damit erklärt, daß sie die Bewegung der einen als ungehemmt sich vollziehend, die andere, derselben Bewegung unterliegende Größe aber vermöge einer selbstgeschaffenen und durch nichts berechtigten Hypothese als festgenagelt annimmt. — Rae hat also Grund und Maß der Einflüsse, die vom Gebiete der Produktionstechnik in das des Kapitalzinses herüberragen, nicht richtig verstanden — und wohl auch nicht richtig verstehen können, da ihm noch nicht das Werkzeug einer ausgebildeten Werttheorie zur Verfügung stand, die, wie die moderne Theorie des Grenznutzens, gestattet hätte, die Rück- wirkung veränderter Produktmengen auf den Gebrauchs- und Tauschwert sowohl der Produkte selbst, als auch ihrer Produktionsmittel im Detail zu verfolgen. Raes großes und originelles Verdienst ist es, jene erste Gedankenreihe, welche die psychologischen Gründe für eine verschiedene Bewertung der Gegenwart und Zukunft enthält, im wesentlichen richtig — auf Bemängelungen im Detail will ich hier nicht eingehen — dargelegt, und ihr auch schon, hierin selbst Jevons übertreffend, eine Anwendung auf die Erklärung des Kapitalzinses gegeben zu haben. Mit seiner zweiten, produktionstechnischen Gedankenreihe war Rae dagegen unglücklich. Wenn Mr. Mixter ihm auch hierin vollkommene und zutreffende Ein- sichten zuschreibt^), so hat er sich wahrscheinlich durch gewisse Äußer- lichkeiten täuschen lassen, die bei flüchtigem Zusehen in der Tat eine Täuschung leicht hervorrufen können. Mr. Mixter hatte nämlich bereits gewisse im Detail ausgeführte Zinstheorien vor Augen, die durch die •spätere Forschung, und namentlich auch durch den Schreiber dieser Zeilen aufgestellt worden waren. Ein merkwürdiger Zufall fügt es nun, daß der äußere Apparat, mit dem Rae arbeitet, eine ganze Reihe von Stücken aufweist, welche eine frappante Ähnlichkeit mit Ausdrücken, Gesetzen und methodischen Behelfen haben, deren sich die späteren Zinstheorien bedienen; freilich fügt es derselbe Zufall auch, daß die äußerlich ähnlichen Bestandstücke in beiden Theorien zumeist einen völlig verschiedenen Sinn und Inhalt haben. So operiert meine Theorie mit einem „Schema abnehmender Mehr- erträgnisse" 2), Rae mit einer ,,series of Orders" mit abnehmendem Perzent- satz der Erträgnisse. Inhaltlich haben freilich beide „Reihen" miteinander gar nichts gemein: denn in ihnen werden verschiedene Gegenstände — ^) Siehe oben S. 278. 2) Positive Theorie. 1. Aufl. S. 402, 413ff., 3. Aufl. S. 591, 604ff., 4. Aufl. S. 441, 451ff. Kritik. 315 bei mir die Bruttoerträgnisse von Arbeitseinheiten, bei Rae die Netto- erträgnisse von Kapitalgütern — nach verschiedenen Gesichtspunkten — Länge der Zeit, welche der Produktionsprozeß ausfüllt, und Länge der Zeit, innerhalb deren eine Verdopplung des Anfangswertes des Kapital- stückes eintritt — und natürlich auch mit verschiedenen Ergebnissen gruppiert. Femer kennt meine Theorie ein Gesetz „abnehmender Mehrerträg- nisse", Raes Theorie ein Gesetz „of diminishing retums"^) — von aber- mals völlig verschiedenem Inhalt. Rae leitet aus der Kargheit der Natur- dotation an Materialien besserer und bester Qualität das Gesetz ab, daß bei stabilem Stand der Erfindungen eine wirkliche Abnahme der Arbeitserträgnisse stattfinden müsse, so daß mit der Arbeitseinheit ein geringeres Quantum von Produkten erzielt wird. Meine Theorie leitet aus Gründen, die mit der Kargheit der Naturdotation nichts zu tun haben, ein Gesetz ab, nach welchem durch Verlängerung der Produktionsperiode eine Arbeitseinheit ein immer größeres Quantum von Produkten zu er- zielen imstande ist, nur daß die Progression, in welcher das Produkt- quantum zunimmt, allmählich eine langsamere wird 2). Meine Theorie kreiert den technischen Ausdruck „Zwischenprodukt", Rae den Terminus „Instrument", von dem ich schon oben gezeigt habe, daß er einen anderen Kreis von Gütern umfaßt und von Mixter irrtümlich für identisch mit meinen „Zwischenprodukten" gehalten wird^). Endlich spielt in beiden Theorien das Moment der Zeit eine hervor- ragende RoUe. Soweit der Einfluß der Zeit auf die Schätzung gegen- wärtiger oder künftiger Bedürfnisse in Betracht kommt, also rücksichtlich der oft erwähnten „ersten Gedankenreihe", besteht in der Tat ein voll- kommener Paralleüsmus der beiderseitigen Anschauungen. Auf dem produktionstechnischen Gebiete wiederholt sich aber das Spiel des Zufalls mit halb ähnlichen Begriffen und ähnlichen, ja sogar fast identischen Namen, die aber eine verschiedene Bedeutung haben. Meine Theorie interessiert sich für die „Produktionsperiode", welche den Zeitraum bis zur Herstellung des Produktes umfaßt. Bei Rae findet sich gelegentlich der fast wörtlich identische Ausdruck „period of formation"; aber es ist nicht diese zeitliche Größe, welcher Rae für seine Konklusionen Wichtig- keit beilegt, sondern vielmehr die Größe des anderen Zeitraumes, welcher zwischen der Herstellung des Produkts und seiner Erschöpfung verstreicht; also nicht so sehr die Dauer des Werdens, als die des Seins der Güter» Und dementsprechend kommt in Raes Gedankenkreis dem zeitlichen ^) Rae selbst gebraucht diesen Ausdruck nicht; Mr. Mixter wendet ihn jedoch bei seiner Gregenüberstellung beider Theorien an. *) Daß diese zwei Vergleichsstücke beider Theorien wesentlich differieren, hebt auch Mixter ausdrücklich hervor a. a. 0. S. 188f. ») Siehe oben S. 280, Note. 31ß XI. John Rae. Zwischenraum eine mehr nur distributive Rolle zu, indem sich danach entscheidet, ob das gesamte Reinerträgnis, welches das Instrument während seiner Lebensdauer abwirft und das von Gnaden des erfinderischen Ge- dankens da ist^), auf einen kurzen oder langen Zeitraum als Gewinn zu verrechnen ist, und daher viele oder wenige Prozente per annum darstellt; während der wichtige, schon bei Jevons sich findende und später in meiner Theorie zur Verwebung der produktionstechnischen mit den rein psychologischen Einflüssen verwertete Gedanke, daß der Dauer des Werde- prozesses der Güter ein ursächlicher Einfluß auf die Größe des technischen Produkts zukommt, dem RAESchen Gedankenkreise fremd ist; ein Um- stand, den auch Mr. Mixter nicht unterläßt wenigstens indirekt hervor- zuheben, den er aber Rae eher als Verdienst anzurechnen geneigt ist 2). Immerhin werden diese sachlichen Verschiedenheiten, ja Gegensätze, erst dem genauer Zusehenden bemerklich; und erwägt man, daß nicht bloß rücksichtlich der ganzen dem psychologischen Gebiete angehörenden „ersten Gedankenreihe", sondern auch rücksichtlich gewisser elementarer Grundlagen der Produktionslehre, insbesondere rücksichtlich des elemen- taren Charakters der Produktion und des Güterwirkens in der Tat eine vollständige Harmonie zwischen Raes und meinen Anschauungen besteht 3) und daß sich Rae über die wichtigsten dem Zinsprobleme als solchem dienenden Gedankenglieder überhaupt nur äußerst kurz und oft dunkel ausgesprochen hat, so ist es subjektiv wohl begreiflich, daß Mr. Mixter sich zu der etwas voreiligen Annahme verführen ließ, daß auch im rest- lichen Teile des Lehrgebäudes hinter dem Gebrauch ähnlicher Ausdrücke und Behelfe sich übereinstimmende Gedanken verbergen müssen, und daß er in den produktionstechnischen Teil der RAEschen Lehre Gedanken hineingedeutet hat, die Rae tatsächlich fremd waren*). 1) SiehjB oben S. 279f. '') Er merkt nämlich einmal an, daß Rae den Einfluß der Zeit auf die Erzielung eines größeren Produktes nicht als einen unterstützenden Grund für einen Wertvorzug der gegenwärtigen über die künftigen Güter anführt (a. a. 0. S. 173), und spricht ein anderesmal die Meinung aus, daß Rae meinem Satze, daß erfahrungsgemäß die zeit- raubenden Produktionsmethoden ergiebiger sind, „hätte zustimmen können" („Rae might agree" etc., S. 188) — also jedenfalls nicht ausdrücklich zugestimmt hat; lobt ihn aber gleichzeitig dafür, daß er — im Unterschiede von mir — der Erfindung die richtige Stellung in der ganzen Frage angewiesen habe. ») Siehe oben S. 280, 281 Anm. 1. *) Prof. Mixter hat nach dem Erscheinen der zweiten Auflage dieses Werkes und unter spezieller Bezugnahme auf die obigen Ausführungen in meinem Text mit anerkennenswerter Offenheit zugestanden, daß er in der Tat in seiner älteren Schrift in einem erheblichen Umfange „Böhm-Bawerk in Rae hineingelesen" und eine größere Ähnlichkeit zwischen unseren beiderseitigen Lehren angenommen habe als sie tat- sächlich besteht; siehe dessen Aufsatz ,, Böhm-Bawerk on Rae" im Querterly Journal of Economics, Vol. XVI No. 3 (Mai 1902), S. 385 in der Note. Mixter sah sich dadurch veranlaßt, den kritischen Vergleich beider Lehren auf neuer Grundlage zu wiederholen, ohne jedoch zu einer erheblichen Änderung in den Ergebnissen zu gelangen. Ich kann Kritik. 317 Ich fürchte, viele Leser werden den Eindruck haben, daß ich in diesem Abschnitte ungebührlich viel und ungebührlich vorgreifend nicht bloß von John Rae, sondern von meiner eigenen Theorie gesprochen habe. Ich hätte es sicherlich nicht getan, wenn mir nicht die ganz besondere Gestalt der Sachlage die Nötigung, ja die Verpflichtung dazu auferlegt hätte. Wäre ich in -der Lage gewesen, dem Urteile Mr. Mixters voU- inhaltüch beizupflichten, so hätte ich die Priorität Raes für den pro- duktionstechnischen Teil des Zinsproblems ebenso gerne und bereitwillig anerkannt, als ich dies für den psychologischen Teil hiemit ausdrücklich tue. Allein — amicus Plato, sed magis amica veritas ! Und wenn ich als dogmenhistorischer Kritiker zu einer anderen Auffassung als Mr. Mixter gelangte, so hielt ich mich in solchem Falle zu der genauesten und skrupu- lösesten Darlegung des Sachverhaltes verpflichtet, zumal Raes äußerst selten gewordenes Werk den meisten Lesern unzugänglich ist, und das Material zur Beurteilung desselben ihnen daher an dieser Stelle mit Voll- ständigkeit geboten werden mußte. Alles in allem glaube ich über Rae sagen zu können: Mit der einen Hälfte seiner Lehren ist er originell als Erster vorangegangen; mit der anderen befindet er sich, trotz mancher origineller Details, in der Gefolg- schaft der Produktivitätstheoretiker, geradeso wie sein ebenbürtiger Zeit- genosse Thünen, mit dem ihn überhaupt die größte Ähnlichkeit in der Lehre, in der Geistesrichtung und in der durch Leseeinflüsse uubeirrten Selbständigkeit des Denkens verbindet. indes Mixters Auffassung jetzt, nachdem ein Teil ihrer Voraussetzungen als irrig auf- gegeben werden mußte, nicht für besser begründet ansehen als zuvor und glaube darum meine im Text gegebene, von mir sorgfältig abgewogene Kritis Raes auch gegenüber der erneuorten Darlegung Mixters ohne jede Änderung aufrecht halten zu müssen. XII. Die Ausbeutungstheorie. 1. Unterabschnitt. Historischer Überblick. Ich gelange nunmehr zu jener denkwürdigen Theorie, deren Auf- stellung vielleicht nicht zu den erfreulichsten, ganz gewiß aber zu den folgenschwersten wissenschaftlichen Ereignissen des 19- Jahrhunderts zählt; die an der Wiege des modernen Sozialismus gestanden und mit ihm groß geworden ist; und die heute den theoretischen Angelpunkt bildet, um den sich Angriff und Abwehr im Streite um die Organisation der menschlichen Gesellschaft zumeist bewegen. Diese Theorie hat noch keinen kurzen bezeichnenden Namen. Wollte ich diesen von einer Eigenschaft ihrer hauptsächlichsten Bekenner her- holen, so könnte ich sie die sozialistische Zinstheorie nennen, Wül ich, was ich für zweckmäßiger halte, den theoretischen Inhalt der Lehre selbst für die Namengebung verwerten, so erscheint mir kein Name passender als der der Ausbeutungstheorie. Dieses Namens will ich mich fernerhin bedienen. ~ In ein paar Sätze zusammengedrängt läßt sich das Wesen der Lehre vorläufig folgendermaßen charakterisieren- Alle Güter von Wert sind das Produkt menschlicher Arbeit, und zwar, wirtschaftlich betrachtet, ausschließlich das Produkt menschlicher Arbeit. Die Arbeiter erhalten jedoch nicht das ganze Produkt, das sie allein hervorgebracht haben, sondern die Kapitalisten benützen die ihnen durch das Institut des Privateigentums gewährleistete Verfügung über die unentbehrlichen Hilfsmittel der Produktion, um einen Teil des Produktes der Arbeiter an sich zu ziehen. Das Mittel dazu büdet der Lohnkontrakt, vermittelst dessen sie die Arbeitskraft der durch den Hunger zur Ein- willigung gezwungenen wahren Produzenten schon um einen Teil dessen erkaufen, was durch sie hervorgebracht wird, während der Kest des Pro- duktes als müheloser Gewinn den Kapitalisten in den Schoß fällt. Der Kapitalzins besteht also in einem Teile des Produktes fremder Arbeit, erworben durch die Ausbeutung der Zwangs- lage der Arbeiter. Ursprung der Ausbeutangstheorie. 319 Die Entstehung dieser Lehre war von langer Hand vorbereitet, ja fast unvermeidHch geworden durch die eigentümliche Wendung, welche die nationalökonomische Lehre vom Werte der Güter seit Smith, und noch mehr seit Ricardo genommen hatte. Man lehrte und glaubte, daß der Wert aller, oder wenigstens weitaus der meisten wirtschaftlichen Güter sich nach der Menge von Arbeit bemesse, die in ihnen verkörpert ist, und daß diese die Ursache und Quelle des Güterwertes sei. Bei dieser Sachlage konnte es nicht ausbleiben, daß man früher oder später zu fragen anfing, warum denn der Arbeiter nicht den ganzen Wert erhalte, dessen Ursache seine Arbeit gewesen war? Und sobald diese Frage gestellt war, konnte man im Geiste derselben Werttheorie keine andere Antwort finden, als daß ein Teil der Gesellschaft, die Kapitalisten, sich drohnenartig einen Teü vom Werte des Produktes aneigne, das der andere Teil der Gesellschaft, die Arbeiter, allein hervorgebracht. Die Urheber der Arbeitswerttheorie, Smith und Ricardo, geben freilich, wie wir gesehen haben, diese Antwort noch nicht. Sie wurde auch noch von etlichen ihrer ersten Nachfolger vermieden, die zwar die wertschaffende Kraft der Arbeit schon recht scharf pointierten, aber in der Gesamtauffassung des volkswirtschafthchen Lebens sich noch fest im Geleise ihrer Meister hielten: wie die Deutschen Soden und Lotz. Aber jene Antwort lag doch schon als Konsequenz in ihrer Lehre einge- schlossen, und es bedurfte nur eines passenden Anlasses und eines kon- sequenzliebenden Schülers, um sie unfehlbar früher oder später an die Oberfläche zu bringen. Smith und Rtcardo können so als unfreiwillige Paten der Ausbeutungstheorie angesehen werden. Sie werden als solche auch von den Bekennem der letzteren behandelt. Sie und fast sie allein werden auch von den absprechendsten Sozialisten mit einer gewissen Achtung genannt, die den Entdeckern des „wahren" Wertgesetzes gezollt wird, und der einzige Vorwurf, den man ihnen macht, ist der, daß sie sich durch Mangel an Konsequenz hätten hindern lassen, selbst schon auf ihre Werttheorie die Ausbeutungstheorie zu pflanzen. Wer es liebt, nicht bloß für Familien, sondern auch für Theorien alte Stammbäume auszuforschen, wird schon in vergangenen Jahrhunderten manche Äußerung auffinden können, die in den Gedankenkreis der Aus- beutungstheorie einschlägt. Von den Kanonisten ganz absehend, die doch nur mehr zufällig in den Resultaten übereinstimmen, nenne ich Locke, der einmal sehr entschieden auf die Arbeit als die Quelle aller Güter hin- weist i), und ein anderesmal den Zins als eine Frucht fremder Arbeit hin- ^) Civil Grovemement. Buch II, Cap. V, § 40. Die Stelle, die ich nach Roschers Übersetzung in seinem Aufsatze „Zur Geschichte der englischen Volkswirtschafts- lehre" gebe, lautet im Zusammenhange folgendermaßen : ,,Auch ist es nicht so auffallend, wie es beim ersten Blicke erscheinen kann, daß das Eigentum der Arbeit imstande sein sollte, die Gemeinschaft des Bodens zu überwiegen. Denn es ist die Arbeit in der 320 XII. Die Ausbeutungstheorie. 1. U.-A. Historischer Überblick. stellt^); James Steüart, der sich, weniger deutlich ausgeprägt zwar, in demselben Gedankenkreise bewegt^); Sonnenfels, der gelegentlich die Kapitalisten als die JOasse derjenigen bezeichnet, „die nichts arbeiten und sich vom Schweiße der arbeitenden Klassen nähren"^): oder Busch, der gleichfalls den Kapitalzins (er handelt freilich nur vom. ausbedungenen Leihzinse) als einen „durch fremde Industrie bewirkten Ertrag des Eigen- tumes" ansieht *). Es sind dies Beispiele, die sich bei einer emsigen Durch- forschung der älteren Literatur sehr wahrscheinlich würden verviel- fältigen lassen. Dennoch ist die Geburt der Ausbeutungstheorie als einer wohl- bewußten zusammenhängenden Lehre erst in eine spätere Periode zu setzen. Ihr gingen noch zwei vorbereitende Entwicklungen voran. Erstlich, wie oben erwähnt, die Entwicklung und Popularisierung der Ricardianischen Werttheorie, die den theoretischen Boden abgab, aus dem die Ausbeutungs- theorie naturgemäß emporwachsen konnte; und dann- das siegreiche Um- sichgreifen einer kapitalistischen Großproduktion, die, indem sie einen klaffenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit schuf und bloßlegte, auch das Problem des arbeitslosen Kapitalzinses in die vorderste Reihe der großen Gesellschaftsfragen stellte. Unter solchen Einflüssen scheint unsere Zeit ungefähr seit den Zwan- ziger Jahren des 19. Jahrhunderts für die systematische Entwicklung der Ausbeutungstheorie reif geworden zu sein. Zu den ersten Theoretikern, welche sie ausführlicher begründeten — von den „praktischen" Kom- munisten", deren Bestrebungen natürlich in ähnlichen Vorstellungen wurzelten, sehe ich in dieser Geschichte der Theorie ab — zählt William Thompson in England und Sismondi in Frankreich. Thompsons) hat die Kardinalsätze der Ausbeutungstheorie kurz, aber Tat, welche jeder Sache ihren verschiedenen Wert gibt. Man bedenke nur, was der Unterschied ist zwischen einem Acker Landes, welcher mit Tabak oder Zucker bepflanzt, mit Weizen oder Gerste besäet ist, und einem Acker desselben Landes, aber ungeurbart, und man wird finden, daß die Verbesserung durch Arbeit den bei weitem größeren Teil des Wertes bildet. Ich denke, es wird eine sehr mäßige Schätzung sein, daß von den für das menschliche Leben nützlichen Bodenprodukten '/jo Arbeitsresultate sind; ja, wollen wir die Dinge richtig würdigen, so wie sie in unseren Gebrauch kommen, und berechnen die verschiedenen Ausgaben, was rein der Natur und was der Arbeit verdankt wird: so werden wir finden, daß in den meisten von ihnen 99 Prozent völlig auf Konto der Arbeit kommen." ^) Considerations of the consequences of the lowering of interest etc. 1691. p. 24. Vgl. oben Abschnitt III, S. 38. 2) Siehe oben Abschnitt III, S. 40. ^) Handlungswissenschaft, 2. Aufl., S. 430. ♦) Geldumlauf, III. Buch, § 26. ^) An inquiry into the principles of the distribution of wealth most conducive to human happiness, 1824. Über Thompson und seine unmittelbaren Vorläufer Godwin und Hall siehe Anton Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, Stuttgart Thompson, Hodgskin. 321 schon mit bemerkenswerter Klarheit und Schärfe entwickelt. Wir finden bei ihm den theoretischen Ausgangspunkt, daß die Arbeit die Quelle alles Wertes ist, und die Nutzanwendung dieses Gedankens dahin, daß die Erzeuger den ganzen Betrag dessen", was sie erzeugt haben, erhalten sollen; diesem Anspruch auf den vollen Arbeitsertrag gegenüber wird konstatiert, daß die Arbeiter tatsächlich auf einen zur Existenzfristung knapp aus- reichenden Lohn eingeschränkt sind, während der Mehrwert (additional value, surplus value), welcher infolge des Gebrauches von Maschinen und anderem Kapital mit derselben Menge von Arbeit erzeugt werden kann, von den Kapitalisten, die das Kapital angesammelt und den Arbeitern vorgeschossen haben, in Anspruch genommen wird. Grundrente und Kapitalzins stellen sich daher als Abzüge vom vollen, den Arbeitern gebührenden Arbeitsertrage dar^). Über das Maß des Einflusses, welchen Thompson auf die spätere Literaturentwicklung genommen hat, gehen die Ansichten auseinander. Seine sichtbaren Spuren sind jedenfalls gering. In der englischen Literatur hat Thompsons Richtung wenig Fortsetzung gefunden^), und die hervor- ragendsten Sozialisten der französischen und deutschen Literatur knüpfen wenigstens äußerlich nicht an ihn an. Ob die neuestens von Anton Menger mit großer Lebhaftigkeit vertretene Annahme, daß Marx und Rodbertüs ihre wichtigsten sozialistischen Theorien von älteren englischen und fran- zösischen Vorbildern und speziell von Thompson entlehnt haben ^), be- 1886, §§ 3 — 6, und Held, Zwei Bücher zur sozialen Greschichte Englands, Leipzig 1881, S. 89ff. und 378ff. }) Siehe Anton Menger a. a. 0. § 5. *) Derselben Zeit und Richtung gehören die Schriften Hodgskins an, eine wenig bekannte „Populär Political Economy" und eine anonyme Schrift unter dem bezeich- nenden Titel „LaBour defended against the claims of capital". Ich konnte die Schriften selbs*" nicht einsehen, und wurde auf sie nur durch Zitate in anderen gleichzeitigen englischen Autoren aufmerksam. Besonders Read und Scrope zitieren sie, gegen ihren Inhalt polemisierend, oft. Der vollständige Titel der anonymen Schrift ist: „Labnur defended against the claims of Capital; or the Unproductiveness of capital proved. By a labourer, London 1825." Daß Hodgskin der Autor ist, entnehme ich einer Be- merkung von Scrope, Principles of Political Economy, London 1833, S. 160. Ein paar charakteristische Stellen will ich nach Reads Zitaten geben. „All the benefits attributed to capital arise from co-existing and skilled labour." (Vorrede.) Später wird zuge- geben, daß man mit Hilfe von Werkzeugen und Maschinen mehr und bessere Produkte erzeugen kann als ohne jene, daran aber folgende Betrachtung geknüpft: ,,But the question then occours what produces Instruments and machines, and in what degree do they aid production independent of the labourer, so that the owners of them are entitled to by far the greater part of the whole produce of the country? Are they or are they not the produce of labour? Do they or do they not constitute an efficient means of production separate from labour ? Are they or are they not 80 much inert, decaying, and dead matter, of no utility whatever, possessing no productive power whatever, but as they are guided, directed and applied by skilful hands? (S. 14.) ' ») Siehe Anton Menger a. a. 0. -Vorrede S. V, dann S. 63, 79ff., 97 und öfters. Böhm-Bawerk, Kapitalzids. 4. Aufl. 81 ^2 ^I' I^iß Ausbeutungstheorie. 1. U.-A. Historischer Überblick. gründet ist, läßt sich schwer entscheiden. Ich halte diese Annahme keines- wegs für zwingend. Wenn eine Lehre sozusagen in der Luft liegt, muß die Erfassung desselben Gedankens keineswegs immer als Entlehnung gedeutet werden, und die Originalität eines Schriftstellers wird in solchem Falle nicht schon dadurch begründet oder verwirkt, daß er einen in der Luft liegenden Grundgedanken um einige Jahre früher oder später überhaupt ausgesprochen hat, sondern seine schöpferische Kraft erprobt sich vielmehr daran, ob er durch originelle Zutaten aus ihm ein zusammenhängendes lebenskräftiges Lehrgebäude zu gestalten vermochte. In wissenschaftlichen Dingen ist überhaupt sehr oft — es gibt allerdings auch Fälle des Gegen- teils — das „ahnende" Aussprechen eines Gedankens eine sehr viel leichtere und minder verdienstliche Sache, als die beweiskräftige Begründung und Durchführung dieses Gedankens. Ich erinnere an das bekannte Verhältnis Darwins zu Goethes Vorahnung von Gedanken der Entwicklungstheorie; oder aus unserer Wissenschaft an Adam Smith, der aus dem schon von Locke ausgesprochenen Gedankenkeime, daß die Arbeit die Quelle allen Reichtums ist, sein berühmtes „Industriesystem" zu entwickeln vermochte. In unserem Falle scheinen mir nun Rodbertus und Marx den durch die Ausbildung der Arbeitswerttheorie längst gleichsam auf die Zunge gelegten Gedanken der Ausbeutung in so eigenartiger Weise erfaßt und entwickelt zu haben, daß ich für meine Person sie weder in ihrem Verhältnis zu ein- ander, noch im Verhältnis zu Früheren als „Entlehner" auffassen möchte^). Unzweifelhaft groß und weitreichend ist dagegen der Einfluß Sis- MONDis geworden. Wenn ich Sismondi als Vertreter der Ausbeutungstheorie anführe, so muß das mit einer gewissen Reserve geschehen. Sismondi hat nämlich eine Lehre aufgestellt, die alle wesentlichen Züge der Ausbeutungstheorie an sich trägt bis auf einen: er spricht kein Verwerfungsurteil über den Kapitalzins aus. Er ist eben der Schriftsteller einer Übergangsperiode: im Wesen der Sache der neuen Theorie ergeben, hat er doch mit der alten noch nicht so völlig gebrochen, um nicht vor gewissen äußersten Konse- quenzen des neuen Standpunktes zurückzuscheuen. Das große und einflußreiche Werk Sismondis, welches für unsere Frage hauptsächlich in Betracht kommt, sind seine Nouveaux Principes d'Economie politique^). Sismondi knüpft in demselben an Adam Smith *) Ähnlich hat sich A. Wagner ausgesprochen: „Grundlegung" 3. Aufl. I. Teil S. 37, Note 1, und II. Teil S. 281. ») 1. Aufl. 1819. 2. Aufl. Paris 1827. Ich zitiere nach der letzteren. In Sismondis früherem, der klassischen Lehre noch erheblich näher stehenden Werke „De la richesse commerciale" 1803 findet sich unter anderem eine interessante Bemerkung des Inhaltes, daß in jeder Anstellung eines produktiven Arbeiters ein Tausch gegenwärtiger gegen zukünftige Güter liege; der gegenwärtigen Güter nämlich, die man dem Arbeiter zum Lohne gibt, gegen die künftigen Güter, die man als Produkt seiner Arbeit in der Zu- Sismondi. 323 an. Er akzeptiert dessen Satz, daß die Arbeit die alleinige Quelle alles Reichtums sei^), mit lebhafter Zustimmung (S. 51); er tadelt, daß man häufig die drei Gattungen von Einkommen, Rente, Kapitalgewinn und Lohn, drei verschiedenen Quellen, der Erde, dem Kapital und der Arbeit zuschreibe: in Wahrheit entstamme alles Einkommen der Arbeit allein, und jene drei Zweige seien nur ebenso viele verschiedene Arten, an den Früchten der menschlichen Arbeit teilzunehmen (S. 8ö). Der Arbeiter nämlich, der durch seine Tätigkeit alle Güter hervorbringt, hat sich „in unserem Zustande der Zivilisation" das Eigentum über die nötigen Pro- duktionsmittel nicht erhalten können. Einerseits steht der Grund und Boden gewöhnlich im Eigentume eines anderen, der zur Vergütung für die Mithilfe dieser „Produktivkraft" dem Arbeiter einen Teil der Früchte seiner Arbeit abheischt; dieser Anteil bildet die Grundrente. Andererseits besitzt der produktive Arbeiter gewöhnlich keinen ausreichenden Vorrat von Lebensmitteln, von dem er während der Ausführung seiner Arbeit leben könnte; ebensowem'g besitzt er die zur Produktion nötigen Rohstoffe und — nicht selten kostspieligen — Werkzeuge und Maschinen. Der Reiche, der alle diese Dinge besitzt, erlangt dadurch eine gewisse Herrschaft über die Arbeit des Armen: ohne selbst an der Arbeit teilzunehmen, nimmt er zur Vergütung für die Vorteile, die er diesem zur Verfügung stellt, den besten Teil von den Früchten seiner Arbeit (la part la plus importante des fruits de son travail) vorweg. Dieser Anteil ist der Kapitalgewinn (S. 86 und 87). So hat durch die Einrichtungen der Gesellschaft der Reichtum die Fähigkeit erlangt, sich durch fremde Arbeit zu reproduzieren (S. 82). Dem Arbeiter aber bleibt, obschon er durch seine Tagesarbeit weit mehr als seinen Tagesbedarf hervorbringt, nach der Teilung mit Grund- besitzer und Kapitalisten selten viel mehr als sein unabweisbarer Unterhalt, den er in Gestalt des Lohnes bezieht. Der Grund davon liegt in der Ab- hängigkeit, in der er sich gegenüber dem kapitalbesitzenden Unternehmer befindet. Der Arbeiter braucht viel dringender seinen Unterhalt, als der Unternehmer seine Arbeit. Er braucht seinen Unterhalt, um leben zu können, der Unternehmer seine Arbeit, nur um damit einen Gewinn zu machen. So fällt der Handel fast immer zu Ungunsten des Arbeiters aus: er muß sich beinahe stets mit dem knappsten Unterhalt begnügen, während kunft erhalten wird; a. a. 0. S. 53. Auf diese frühzeitige Erwähnung eines Gedankens, den ich viele Jahrzehnte später in meiner Zinstheorie zu umfassender Anwendung gebracht habe (vgl. z. B. meine „Positive Theorie" 3. A. S. 503ff. und 524, 4. Aufl. S. 374ff. und 391), wurde ich durch ein Zitat bei Salz, „Beiträge zur Geschichte und Kritik der Lohnfondstheorie", 1905, S. 66, aufmerksam. ^) Ein Satz, der übrigens von Smith selbst keineswegs immer konsequent fest- gehalten wurde. Neben „labour" werden nicht selten auch „land" und „capital" als Güterquellen genannt. 21* 324 ^I- Di^ Aasbeutungstheorie. 1. U.-A. Historischer Überblick. der Löwenanteil an den Erfolgen der durch die Arbeitsteilung gesteigerten Produktivität dem Unternehmer zufällt (S. 91 f.). Wer den Ausführungen Sismondis bis hieher gefolgt ist, und in ihnen unter anderem auch den Satz gelesen hat, daß „die Reichen die Produkte der Arbeit der anderen verzehren" (S. 81), muß erwarten, daß Sismondi zum Schlüsse den Kapitalzins für einen ungerechten Erpressungsgewinn erklären und verwerfen werde. Allein diesen Schluß zieht Sismondi nicht, sondern weiß mit einer plötzlichen Schwenkung einige dunkle und vage Redensarten zu Gunsten des Kapitalzinses vorzubringen, der am Ende gerechtfertigt dasteht. Er sagt zunächst vom Grundeigentümer, daß er durch die ursprüngliche Arbeit der Urbarung oder auch durch die Okku- pation eines herrenlosen Landes ein Recht auf die Grundrente erworben habe (*S. 110). Analog schreibt er dem Kapitaleigentümer ein Recht auf den Kapitalzins zu, das sich auf die „ursprüngliche Arbeit" gründet, der das Kapital seine Entstehung verdankt (S. 111). Beiden genannten Ein- kommenszweigen, die zusammen als Einkommen vom Besitz einen Gegen- satz zum Einkommen aus der Arbeit bilden, weiß er nunmehr nachzu- rühmen, daß sie ganz den gleichen Ursprung wie das Arbeitseinkommen haben; nur daß ihr Ursprung in eine andere Epoche zurückgreift. Die Arbeiter nämlich gewinnen jährlich ein neues Recht auf Einkommen durch neue Arbeit, während die Besitzer in einem früheren Zeitpunkte ein immer- währendes Recht durch eine ursprüngliche Arbeit erworben haben, welche die jährliche Arbeit vorteilhafter gemacht hat^) (S. 112). „Jeder" — so schließt er — „erhält seinen Anteil am Nationaleinkommen nur nach Maßgabe dessen was er selbst oder seine Stellvertreter zur Entstehung desselben beigetragen haben oder beitragen." — Ob und wie sich dieser Ausspruch mit dem früheren zusammenreimen läßt, wonach der Kapital- zins aus den Früchten der Arbeit eines anderen vorweggenommen wird, muß freilich dahingestellt bleiben. Die Konsequenzen, die Sismondi selbst aus seiner Theorie noch nicht zu ziehen wagte, wurde bald von Andern mit großer Entschiedenheit gezogen. Er bildet die Brücke zwischen Smith und Ricardo einer- seits und dem nachfolgenden Sozialismus und Kommunismus andererseits. Jene hatten mit ihrer Werttheorie die Veranlassung zur Entstehung der Ausbeutungstheorie gegeben, die letztere aber selbst noch gar nicht aus- geführt. Sismondi hat die Ausbeutungstheorie der Sache nach so gut wie vollständig durchgeführt, aber ohne ihr noch eine Anwendung auf das sozialpolitische Gebiet zu geben. Auf ihn folgt endlich die breite Masse des Sozialismus und Kommunismus, der die alte Wertlehre in aUe ihre theoretischen und praktischen Konsequenzen verfolgt und zu dem Ende kommt: der Zins ist Erbeutung, und darum soll er fallen. ^) Wenn man will, kann man in diesen Worten einen höchst summarischen Aus- dnick der James MiLLschen Arbeitstheorie erblicken. (Siehe oben S. 262f.) Proudhon. 325 Es hätte keinerlei theoretisches Interesse, wenn ich die massenhafte sozialistische Literatur des 19. Jahrhunderts in Bezug auf alle Äußerungen exzerpieren wollte, in denen sie die Ausbeutungstheorie verkündet. Ich müßte in diesem Falle den Leser durch eine Unzahl von Parallelstellen ermüden, die kaum in den Worten variierend, in der Sache eine wenig kurzweilige Monotonie aufweisen, und die überdies zum weitaus größten Teile sich begnügen, die Kardinalthesen der Ausbeutungstheorie zu be- haupten, ohne zu ihrem Beweise mehr als eine Berufung auf die Autorität Ricardos oder einige Gemeinplätze hinzuzufügen. Es hat eben die Mehr- zahl der wissenschaftlichen Sozialisten ihre geistige Kraft nicht so sehr in der Fundamentierung der eigenen, als in der ätzenden Kritik der gegne- rischen Theorien geübt. Ich begnüge mich daher aus der Masse der Schriftsteller mit sozia- listischer Färbung einige wenige Männer zu nennen, die für die Entwicklung oder Ausbreitung unserer Theorie besonders wichtig geworden sind. Unter ihnen ragt der Verfasser der „Contradictions 6conomiques", P. J. Proudhon, durch die Lauterkeit der Gesinnungen und durch glänzende Dialektik hervor, Eigenschaften, die ihn zum wirksamsten Apostel der Ausbeutungstheorie in Frankreich machten. Da uns mehr um den Inhalt als um die Form zu tun ist, verzichte ich auf die Wiedergabe ausführlicher Stilproben, und begnüge mich, den Kern der PRouoHONschen Lehre in wenige Sätze zusammenzufassen. Man wird sofort bemerken, daß sich dieselbe, abgesehen von ein paar Eigentümlichkeiten der Einkleidung, von dem anfangs gegebenen allgemeinen Schema der Ausbeutung^theorie sehr wenig unterscheidet. Vor allem gilt es Proudhon für ausgemacht, daß die Arbeit allen Wert schafft. Der Arbeiter hat darum einen natürlichen Anspruch auf das Eigentum an seinem ganzen Produkt. Im Lohnkontrakt zediert er diesen Anspruch an den Kapitaleigentümer gegen einen Arbeitslohn, der kleiner ist, als das zedierte Produkt. Er wird dabei übervorteilt; denn er kennt weder sein natürliches Recht, noch den Umfang der Zession, die er macht, noch den Sinn des Kontraktes, den der Eigentümer mit ihir i schließt. Und dieser bedient sich dabei des Irrtums und der Überraschung, um nicht zu sagen, der List und des Betruges („erreur et surprise, si meme on ne doit dire dol et fraude"). So kommt es, daß heutzutage der Arbeiter sein eigenes Produkt nicht erkaufen kann. Sein Produkt kostet auf dem Markte mehr als was er an Lohn erhalten hat; es kostet mehr um den Betrag von allerlei Ge- winnen, die durch den Bestand des Eigentumsrechtes veranlaßt und die unter den verschiedensten Titeln, Gewinn, Zins, Interesse, Rente, Pacht, Zehent usw. ebensoviele „ZöUe" (aubaines) bilden, die auf die Arbeit gelegt sind. Was z. B. 20 Millionen Arbeiter für einen Jahreslohn von 20 Milliarden Franken erzeugt haben, kostet einschließlich und wegen 326 Xl-f« I^'® Ausbeutungstheorie. 1. U.-A. Historischer Überblick. jener Gewinne 25 Milliarden. Das bedeutet aber, „daß die Arbeiter, welche, um leben zu können, dieselben Produkte zurückzukaufen gezwungen sind, fünf zahlen müssen für das, was sie um vier erzeugt haben, oder daß sie von je fünf Tagen einen fasten müssen". So ist der Zins eine Nachsteuer auf die Arbeit, eine Vorenthaltung („retenue") am Arbeitslöhne'^). — An Reinheit der Absichten Proudhon ebenbürtig, an Gedankentiefe und Besonnenheit weitaus überlegen, daneben aber freilich an Darstellungs- gabe hinter dem heißblütigen Franzosen zurückbleibend, ist der Deutsche RoDBERTUs. Für den Dogmenhistoriker ist er die wichtigste unter den hier zu nennenden Persönlichkeiten. Man hat seine wissenschaftliche Bedeutung eine Zeit lang verkannt, merkwürdiger Weise gerade wegen der Wisseuschaftlichkeit, die in seinen Schriften vorherrscht. Weil er sich nicht wie andere unmittelbar an das Volk wendete, weil er, sich über- wiegend auf die theoretische Ergründung der sozialen Frage beschränkend, in praktischen Vorschlägen, an die sich das unmittelbarste Interesse der großen Massen knüpft, gemäßigt und zurückhaltend war, blieb er eine Zeit lang an Ruf hinter minder bedeutenden Männern zurück, die seine Geistesware in zweiter Hand übernahmen und der interessierten Volks- menge in ihrer Art mundgerecht machten. Erst die neueste Zeit hat RoDBERTus, diesem liebenswürdigsten Sozialisten, volle Gerechtigkeit widerfahren lassen und erkennt ihn als das an, was er ist, als den geistigen Vater des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Statt der hitzigen Ausfälle und rednerischen Antithesen, durch die sich die Masse der Sozia- listen so gerne hervortut, hat Rodbertüs eine tief und ehrlich gedachte Theorie der Verteilung der Güter hinterlassen, die, so irrig sie in vielen Punkten sein mag, des Wertvollen genug enthält, um ihrem Urheber einen bleibenden Rang unter den Theoretikern der National-Ökonomie zu sichern. Indem ich mir vorbehalte, auf seine Formulierung der Ausbeutungs- theorie später ausführlich zurückzukommen, wende ich mich zu zw:eien seiner Nachfolger, die sich ebenso stark von einander, als von ihrem Vor- gänger Rodbertüs unterscheiden. Der eine von ihnen ist Ferdinand Lassalle, das beredteste, aber inhaltlich mindest originelle unter den Häuptern des Sozialismus. Ich erwähne hier seiner nur, weil er durch seine glänzende Beredsamkeit auf die Ausbreitung der Ausbeutungstheorie einen großen Einfluß genommen hat: zu ihrer theoretischen Ausbildung hat er so gut wie nichts beigetragen. Ich kann darum auch darauf verzichten, seine Lehre, die inhaltlich die '■) Siehe Pboudhons zahlreiche Schriften passira. Insbesondere „Qu'est ce que la propri6t6" (1840; in der Ausgabe Paris 1849, S. 162); „Philosophie der Not" (deutsch von Wilhelm Jordan, II. Ausgabe) S. 62, 287f.; Verteidigungsrede vor den Assisen von Besancon, gehalten am 3. Februar 1842 (Gesamtausgabe Paris 1868, II. Band). — Über Proudhon siehe jetzt namentlich das umfassende Werk Diehls „P. J. Proudhon, seine Lehre und sein Leben", in drei Abteilungen, Jena 1888 — 1896. Rodbertas, Lassalle, Marx. 327 Lehre seiner Vorgänger ist, durch Zitate oder Exzerpte aus seinen Schriften zu reproduzieren und begnüge mich, auf einige der markantesten Stellen in der Note zu verweisen^). Während Lassalle ausschließlich Agitator ist, ist Karl Marx wieder Theoretiker und zwar nächst Rodbertus der bedeutendste Theoretiker des Sozialismus. Seine Lehre berührt sich zwar in vielen Punkten mit den bahnbrechenden Forschungen Rodbertus, ist aber mit unleugbarer Originalität und mit einem hohen Grade scharfsinniger Konsequenz zu einem eigenartigen Ganzen ausgebaut, das wir gleichfalls in der Folge eingehend kennen zu lernen haben werden. — Wenn die Ausbeutungstheorie auch vorzugsweise von sozialistischen Theoretikern ausgebildet worden ist, so haben die ihr eigentümlichen Ideen doch auch in andere Schriftstellerkreise Eängang gefunden. In verschie- dener Art und Ausdehnung. Manche machen die Ausbeutungstheorie in Bausch und Bogen zu ihrer eigenen und verweigern höchstens ihren letzten praktischen Konsequenzen die Anerkennung. Auf diesem Standpunkte steht z. B. Gute*). Er nimmt alle wesentlichen Lehrsätze der Sozialisten vollinhaltlich an. Die Arbeit gilt ihm als ausschließliche Wertquelle; der Zins entsteht dadurch, daß wegen der ungünstigen Konkurrenzverhältnisse der Lohn der Arbeit stets hinter ihrem Produkte zurückbleibt; ja. Gute steht sogar nicht an, für diesen Vorgang den schroffen AusÄiick „Ausbeutung" als terminus technicus einzuführen. Zum Schlüsse aber entzieht er sich den praktischen Konsequenzen dieser Lehre durch einige einlenkende Klauseln. „Fern sei es von uns, der Ausbeutung des Arbeiters als Quelle des ursprünglichen Profitsatzes einen vom Rechtsstandpunkte ungerechtfertigten Akt zu unterstellen; sie beruht vielmehr auf einer freien Vereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und Arbeiter, die allerdings unter dem letzteren in der Regel ungünstigen Marktverhältnissen zustande kommt." Das Opfer, welches der ausgebeutete" Arbeiter bringt, ist vielmehr nur ein „Vorschuß gegen Ersatz". Denn die Vermehrung des Kapitales steigert die Pro- ^) Unter seinen zahlreichen Schriften ist „Herr Bastiat-Schnlze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit" (Berlin 1864) diejenige, in der Lassalle seine Meinungen über das Zinsproblem am kompendiösesten ausgedrückt und zugleich sein agitatorisches Grenie am glänzendsten entfaltet hat. Hauptstellen: Die Arbeit ist „Quelle und Faktor aller Werte" (S. 83, 122, 147). Der Arbeiter erhält aber nicht allen Wert, sondern nur den Marktpreis der als Ware betrachteten Arbeit, der gleich den Erzeugungskosten d. i, dem notdürftigen Unterhalt ist (S. 186ff.). Aller Überschuß fäUt auf das Kapital (S. 194). Der Kapitalzins ist daher ein Abzug vom Ar- beitsertrage des Arbeiters (S. 126 und sehr drastisch S. 97). Gegen die Lehre von der Produktivität des Kapitales S. 21ff. Gegen die Enthaltsamkeitstheorie S. 82£f. und besonders S. llOff. Vgl. auch die übrigen Schriften Lassalles. •) Die Lehre vom Einkommen in dessen Gesamtzweigen, 1869. Ich zitiere nach der 2. Ausgabe von 1878. 328 XII. Die Ausbeutungstheorie. 1, U.-A. Historischer Überblick. dufctivität der Arbeit: immer mehr; in Folge davon verwoMf eilen sich die Arbeitsprodukte, der Arbeiter kann mit seinem Lohne mehr von ihm kaufen und es steigt also sein Sachlohn; zugleich erweitert sich anderer- seits wegen „größerer Nachfrage der Beschäftigungskreis des Arbeiters, wonach auch der Geldlohn steigt". Die „Ausbeutung" gleicht daher einer Kapitaleinlage, die sich in ihrer mittelbaren Wirkung dem Arbeiter zu steigenden Prozenten verzinst^). — Auch Dühring steht in seiner Zins- theorie völlig auf sozialistischem Boden. „Der Charakter des Kapital- gewinnes ist eine Aneignung des hauptsächlichsten Teiles des Ertrages der Arbeitskraft. . . . Die Ertragssteigerung und die Ersparung von Arbeitsleistungen sind Wirkungen der verbesserten und erweiterten Produktionsmittel; aber der Umstand, daß sich die Hindernisse und Schwierigkeiten der Hervorbringung vermindern, und daß sich die nackte Arbeit, indem sie sich technisch ausrüstet, selbst produktiver macht, gibt dem toten Werkzeug keinen An- spruch, auch nur das Geringste mehr zu absorbieren, als was zu seiner Reproduktion erforderlich ist. Der Kapitalgewinn ist daher kein Begriff, den man aus reinen Produktivgründen und etwa an dem Schema eines einheitlichen Wirtschaftssubjektes entwickeln könnte. Er ist eine Aneignungsform und eine Schöpfung der Vertejlungsver- hältnisse"2). Eine zweite Gruppe von Schriftstellern nimmt die Ideen der Aus- beutungstheorie eklektisch zu ihren sonstigen Ansichten über das Zins- problem hinzu; wie z. B. John Stuart Mill und Schäffle'). Wieder andere endlich ließen sich durch den Eindruck der sozia- listischen Schriften zwar nicht zur Anerkennung ihres ganzen Lehr- gebäudes, aber doch zur Aufnahme einzelner wichtiger Züge daraus be- stimmen. Als das wichtigste Ereignis in dieser Richtung erscheint es mir, daß ein namhafter Teil der deutschen katheder-sozialistischen Richtung wieder den alten Satz rezipierte, daß die Arbeit allein die Quelle alles Wertes, daß sie die einzige „wertschaffende" Kraft sei. Dieser Satz, dessen Annahme oder Ablehnung von enormer Tragweite für die Beurteilung der wichtigsten volkswirtschaftlichen Phänomene ist, hat ein eigentümliches Schicksal gehabt. Er war ursprünglich von der englischen National-Ökonomik ausgegangen, und hatte in den ersten Dezennien nach dem Erscheinen des SniTHSchen Systemes mit diesem zugleich eine weite Verbreitung gewonnen. Späterhin kam er unter dem 1) a. a. 0. S. 109 ff., 122ff. Vgl. auch S. 271 ff. *) Kursus der National- und Sozialökonomie, Berlin 1873, S. 183. Etwas später (S. 185) erklärt er, in sichtlicher Anlehnung an Proudhons „droit d'aubaine", den Kapitalzins als einen „Zoll", der für den Verzicht auf ökonomische Macht eingehoben wird : der Zinsfuß repräsentiert den Bezollungssatz. ') Siehe unten im Abschnitt XIII. Plan der Darstellung. 329 EänfluB der Lehren Says, der die Theorie von den drei Produktivfaktoren Natur, Arbeit und Kapital ausbildete, dann Hermanns und Seniors bei der überwiegenden Mehrzahl der National-Ökonomen, selbst der englischen Schule, in Mißkredit, und eine Zeit lang war es beinahe die Gruppe der sozialistischen Schriftsteller allein, die ihn überhaupt noch fortpflanzte. Indem ihn nunmehr die deutschen Katheder-Sozialisten aus den Schriften eines Proüdhon, Rodbertus und Marx übernahmen, gewann er aber- mals eine feste Stütze in der gelehrten Nationalökonomie, und es hat fast den Anschein, als ob er, getragen von dem Ansehen, das die ausgezeichneten Häupter jener deutschen Schule genießen, im Begriffe stände, von hier aus zum zweitenmale den siegreichen Rundgang durch die Literatur aller Nationen anzutreten i). Ob dies zu wünschen ist, wird die kritische Prüfung der Ausbeutungs- theorie zeigen, der ich mich nun zuwende. 2. Unterabschnitt. Kritik. Um das Amt eines Ejitikers gegenüber der Ausbeutungstheorie aus- zuüben, standen mir mehrere Wege offen. Entweder konnte ich alle Ver- treter dieser Theorie individuell kritisieren. Dies wäre zwar der genaueste Weg gewesen, hätte aber wegen der starken Übereinstimmung der Einzel- lehren zu überflüssigen und äußerst ermüdenden Wiederholungen geführt. Oder ich konnte, ohne auf irgend eine individuelle Formulierung einzu- gehen, die Kritik an das allgemeine Schema legen, das den einzelnen Darstellungen gemeinsam zugrunde liegt. Hiebei wäre ich indes einem doppelten Übelstande begegnet. Einerseits wäre ich in Gefahr geraten, gewissen individuellen Nuancierungen der Lehre tatsächlich zu wenig Rechnung zu tragen; und andererseits wäre mir, auch wenn ich dieser Gefahr entgangen wäre, sicherlich der Vorwurf nicht erspart geblieben, daß ich mir die Sache zu leicht gemacht und meine Kritik statt an der wirklichen Lehre nur an einem willkürlich konstruierten Zerrbild derselben geübt hätte. So entschloß ich mich denn für die Betretung eines dritten Weges; nämlich aus der Masse der Einzeldarstellungen einige wenige herauszugreifen, die ich für die besten und vollständigsten erkannte, und diese einer individuellen Kritik zu unterziehen. ^) Greschrieben im Jahre 1884; seither scheint mir hierin eine Wendung einge- treten zu sein. Zwar hat, wie ich glaube, die Arbeitswerttheorie zunächst noch durch einige Jahre, im Zusammenhang mit der Ausbreitung der sozialistischen Ideen, eher an Ausbreitung gewonnen, in der jüngsten Zeit aber in den theoretischen Kreisen aller Länder entschieden an Terrain verloren, und zwar hauptsächlich zu Gunsten der immer mehr zum Durchbruch gelangenden Theorie des „Grenznutzens". 330 XII- I^i« Ausbeutungstheorie, 2. U.-A. Kritik. Ich wählte zu diesem Zwecke die Darstellungen von Rodbertus und von Marx. Sie sind die einzigen, die eine tiefere und zusammenhängende Begründung darbieten: dabei ist jene nach meiner Meinung die beste diese die anerkannteste Darstellung, gewissermaßen die offizielle Lehr- meinung des heutigen Sozialismus. Indem ich beide einer eingehenden Prüfung unterziehe, glaube ich die Ausbeutungstheorie an ihrer stärksten Seite zu fassen — getreu dem schönen Worte von Knies : „Wer im Reiche wissenschaftlicher Forschung Sieger bleiben will, muß den Gegner in sehier vollen Rüstung und mit seiner ganzen Stärke vortreten lassen"^). Vorher noch eine Bemerkung zur Vermeidung von Mißverständnissen. Zweck der folgenden Blätter ist es ausschließlich, die Ausbeutungstheorie als Theorie zu kritisieren, d. h. zu untersuchen, ob die Ursachen der nationalökonomischen Erscheinung des Kapitalzinses in der Tat in jenen Umständen liegen, welche die Ausbeutungstheorie als Entstehungs- ursachen des Zinses angibt. Dagegen beabsichtige ich an dieser Stelle nicht, ein Urteil über die praktische, sozialpolitische Seite des Zinsproblems, über Güte oder Verwerflichkeit, Beibehaltung oder Ab- schaffung des Kapitalzinses abzugeben. Es fällt mir zwar nicht ein, ein Werk über den Kapitalzins zu schreiben und mich dabei über die wichtigste Frage, die damit zusammenhängt, in Stillschweigen zu hüllen. Aber ich kann die praktische Seite des Gegenstandes erst dann fruchtbar besprechen, wenn vorher die theoretische völlig ins Reine gebracht ist, und muß daher jene Untersuchungen dem II. Bande meiner Arbeit aufsparen. An dieser Stelle — ich wiederhole es — will ich bloß prüfen, ob der Kapitalzins, mag er nun gut oder schlecht sein, aus denjenigen Ursachen da ist, welche die Ausbeutungstheorie darstellt. A. Rodbertus*). Der Ausgangspunkt für Rodbertus' Zinstheorie ist der „von Smith in die Wissenschaft eingeführte und von der RicARooschen Schule noch tiefer begründete" Satz, „daß alle Güter wirtschaftlich nur als Produkte 1) „Der Kredit", 2. Hälfte, Berlin 1879, S. VII. *) Ein ziemlich vollständiges Verzeichnis der zahlreichen von Dr. Karl Rod- bertus- Jagetzow herrührenden Schriften findet sich bei Kozak „Rodbertus' sozial- ökonomische Ansichten", Jena 1882, S. 7ff. Ich benützte vorzugsweise den 2. und 3. Brief an v. Kirchmann in dem (etwas veränderten) Abdrucke, den Rodbertus im Jahre 1876 unter dem Titel ,,Zur Beleuchtung der sozialen Frage" herausgab; weiter die Schrift „Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grundbesitzes" (2. Ausgabe, Jena 1876) und den aus Rodbertus' Nachlasse von Adolf Wagner und KozAK unter dem Titel „Das Kapital" herausgegebenen 4. sozialen Brief an. v. Kibch- KAiSN (Berlin 1884). — Die RoDBERTUSsche Zinstheorie ist seinerzeit durch Knies (Der Kredit, II. Hälfte, Berlin 1879, S. 47ff.) einer äußerst eingehenden und gewissen- haften Kritik unterzogen worden, der ich in den wichtigsten Punkten beipflichte. Trotzdem kann ich auf eine selbständige Erneuerung der kritischen Arbeit nicht ver- Rodbertus. 331 der Arbeit anzusehen sind, nichts als Arbeit kosten." Rodbertus erläutert diesen Satz, der auch wohl in der Form ausgedrückt zu werden pflegt, „da£ die Arbeit allein produktiv ist", näher dahin, daß erstens nur diejenigen Güter zu den wirtschaftlichen gehören, welche Arbeit gekostet haben, während alle übrigen Güter, mögen sie auch noch so notwendig oder nützlich für den Menschen sein, natürliche Güter sind, die eine Wirtschaft nichts angehen; daß zweitens alle wirtschaftlichen Güter nur Arbeitsprodukt sind, daß sie für die wirtschaftliche Auffassung nicht als Produkte der Natur oder irgend einer anderen Kraft, sondern nur der Arbeit gelten: jede andere Auffassung sei naturgeschichtlich, aber nicht wirt- schaftlich; daß endlich drittens die Güter wirtschaftlich genommen nur das Produkt derjenigen Arbeit sind, welche die materiellen Operationen, die dazu nötig waren, verrichtet hat. Hiezu gehört aber nicht bloß die- jenige Arbeit, welche das Gut unmittelbar herstellt, sondern auch die- jenige Arbeit, welche erst das Werkzeug herstellt, das zur Herstellung von jenem Gute dient. Das Getreide ist z. B. nicht bloß das Produkt des- jenigen, der denPflug führte, sondern auch desjenigen, der ihn baute usw.^). Die materiellen Arbeiter, welche das ganze Güterprodukt schaffen, haben wenigstens „nach der reinen Rechtsidee" einen natürlichen und gerechten Anspruch, das Eigentum an ihrem ganzen Produkt zu erlangen*). Mit zwei nicht unwichtigen Einschränkungen. Erstlich macht das System der Arbeitsteilung, unter dem Viele an der Erzeugung eines Produktes mitwirken, es technisch unmöglich, daß jeder Arbeiter sein Produkt in natura erhalte. Es muß daher dem Ansprüche auf das ganze Produkt der Anspruch auf den ganzen Wert des Produktes substituiert werden'). Ferner müssen aus dem Nationalprodukte auch noch alle diejenigen beteilt werden, welche der Gesellschaft nützliche Dienste leisten, ohne unmittel- bar an der materiellen Entstehung der Güter mitzuwirken, z. B. der G^ist liehe, der Arzt, der Richter, der Naturforscher, nach der Meinung Rod- bertus' auch die Unternehmer, die „eine Menge Arbeiter mit einem Kapital produktiv zu beschäftigen verstehen"*). Allein solche nur „mittelbar wirtschaftliche Arbeit" wird ihren Honorierungsanspruch nicht schon in der „ursprünglichen Güterverteilung", an der nur die Produzenten teil- zunehmen haben, sondern erst in einer „abgeleiteten Güterverteilung" zu stellen haben. Der Anspruch, den nach der reinen Rechtsidee die ziehten, da ich im theoretischen Standpunkte von Knies weit genug differiere, um doch mancherlei Dinge in wesentlich verschiedenem Lichte zu betrachten. — Vgl. über Rodbertus jetzt namentlich auch A. Wagiter in seiner „Grundlegung" III. Aufl. I. Teil § 13, IL Teil § 132, dann H. Dietzel, C. Rodbertus, Jena 1886—1888. *) Zur Beleuchtung der sozialen Frage S. 68 und 69. «) Soziale Frage S. 56; Erklärung und Abhilfe S. 112. ») Soziale Frage S. 87 und 90; Erklärung usw. S. 111; Kapital S. 116. *) Soziale Frage S. 146; Erklärung und Abhilfe II, S. 109ff. 332 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. materiellen Arbeiter zu stellen haben, geht hienach darauf, in der ur sprünglichen Verteilung den ganzen Wert ihres Arbeits- produktes zu erhalten — unbeschadet des sekundären Salarienings- anspruches anderer nützlicher Gesellschaftsglieder. Diesen natürlichen Anspruch findet Rodbertus in der heutigen Gesellschaftsordnung nicht verwirklicht. Denn die Arbeiter erhalten heute in der ursprünglichen Verteilung nur einen Teil des Wertes ihres Produktes als Lohn, während der Rest den Grund- und Kapitalbesitzern als Rente zufällt. Als solche definiert Rodbertus „alles Einkommen, was ohne eigene Arbeit lediglich auf Grund eines Besitzes bezogen wird"^). Sie umschließt zwei Arten, die Grundrente und den Kapitalgewinn. „Welche Gründe," fragt nun Rodbertus, „bewirken, daß, da jedes Einkommen nur Arbeitsprodukt ist, Personen in der Gesellschaft Ein- kommen (und zwar ursprüngliches Einkommen) beziehen, die keinen Finger zur Herstellung desselben rühren?"' — Hiemit hat Rodbertus das allgemeine theoretische Problem der Rente gestellt 2). Er findet darauf folgende Antwort. Die Rente verdankt ihre Existenz der Verbindung zweier Tatsachen, einer wirtschaftlichen und einer positiv rechtlichen. Der wirtschaftliche Grund der Rente liegt darin, daß cQe Arbeit seit der Einführung der Arbeits- teilung mehr hervorbringt, als die Arbeiter zu ihrem Lebensunterhalte und zur Fortsetzung ihrer Arbeit bedürfen, so daß andere davon mitleben können. Der rechtliche Grund liegt in der Existenz des Privateigentumes an Grund und Boden und an den Kapitalgegenständen. Indem durch dieses Privateigentum die Arbeiter von der Verfügung über die unentbehr- lichen Produktionsbedingungen ausgeschlossen sind, können sie überhaupt nicht anders als nach einer vorhergegangenen Vereinbarung und im Dienste der Besitzer produzieren; und diese legen ihnen für die Darbietung jener Produktionsbedingungen die Pflicht auf, einen Teil des Produktes ihrer Arbeit als Rente abzutreten. Ja diese Abtretung erfolgt sogar in der erschwerenden Form, daß die Arbeiter das Eigentum an ihrem ganzen Produkte den Besitzern überlassen, und von ihnen nur einen Teil seines Wertes, soviel als die Arbeiter zum Lebensunterhalte und zur Fortsetzung ihrer Arbeit unabweislich bedürfen, als Lohn zurückempfangen. Die Macht, die die Arbeiter zur Einwilligung in diesen Kontrakt zwingt, ist der Hunger, — Lassen wir Rodbertus selbst reden. „Da es kein Einkommen, wenn nicht durch Arbeit hervorgebracht, geben kann, so beruht die Rente auf zwei unumgänglichen Vorbedingungen. Erstens: Es kann keine Rente geben, wenn nicht die Arbeit mehr hervor- bringt, als wenigstens zur Fortsetzung der Arbeit für die Arbeiter erforder- lich ist, — denn es ist unmöglich, daß, ohne ein solches Plus, jemand, ohne ») Soziale Frage S. 32. ») Soziale Frage S. 741. Rodbertus. 333 selbst zu arbeiten, regelmäßig ein Einkommen beziehen kann. Zweitens: Es kann keine Rente geben, wenn nicht Einrichtungen bestehen, die dies Plus ganz oder zum Teile den Arbeitern entziehen, und anderen, die nicht selbst arbeiten, zuwenden — denn die Arbeiter sind durch die Natur selbst immer zunächst im Besitze ihres Produktes. Daß die Arbeit ein solches Plus gibt, beruht auf wirtschaftlichen Gründen, solchen, welche die Produktivität der Arbeit erhöhen. Daß dies Plus ganz oder zum Teile den Arbeitern entzogen und anderen zugewandt wird, beruht auf Gründen des positiven Rechtes, das, wie es sich von jeher mit der Gewalt koaliert hat, so auch nur durch fortgesetzten Zwang diese Entziehung durchsetzt." „Ursprünglich hat die Sklaverei, deren Entstehung mit der des Acker- baues und des Grundeigentumes zusammenfällt, diesen Zwang geübt. Die Arbeiter, die in ihrem Arbeitsprodukt ein solches Plus hervorgebracht haben, sind Sklaven gewesen, und der Herr, dem die Arbeiter und damit auch das Produkt selbst gehört haben, hat den Sklaven nur so viel gegeben, als zur Fortsetzung ihrer Arbeit erforderlich war, den Rest oder das Plus für sich behalten. Wenn aller Boden des Landes ins Privateigentum über- gegangen ist, wenn damit zugleich Privateigentum an allem Kapital gegeben ist, so übt das Grund- und Kapitaleigentum einen ähnlichen Zwang auch über freigelassene oder freie Arbeiter aus. Denn dies wird erstens noch ebenso wie die Sklaverei bewirken, daß das Produkt selbst nicht den Arbeitern, sondern den Herren des Bodens und Kapitales gehört, und es wird zweitens bewirken, daß die Arbeiter, die nichts besitzen, gegenüber den Herren, die Boden und Kapital besitzen, froh sind, von ihrem eigenen Arbeitsprodukt nur einen Teil zur Unterhaltung ihres Lebens, d. h. wieder zur Fortsetzung ihrer Arbeit zu erhalten. So ist allerdings an die Stelle der Anordnung des Sklavenbesitzers der Vertrag des Arbeiters mit dem Lohnherrn getreten, aber dieser Vertrag ist nur formell, nicht materiell frei, und der Hunger ersetzt fast völlig die Peitsche. Was früher Futter hieß, heißt jetzt nur Lohn"^). Hienach ist also alle Rente eine Erbeutung^), oder wie sich Rod- bertus bisweilen noch schärfer ausdrückt^), ein Raub am Produkte fremder Arbeit. Dieser Charakter kommt allen Arten der Rente gleich- mäßig zu, der Grundrente wie dem Kapitalgewinne und den hievon abge- leiteten Bezügen des Pachtes und der Leihzinsen. Letztere sind den Unter- nehmern gegenüber, die sie zahlen, ebenso rechtmäßig, als sie den Arbeitern gegenüber, auf deren Kosten sie in letzter Linie gezahlt werden, unrecht- mäßig sind*). ^) Soziale Frage S. 33. Ähnlich und noch ausführlicher S. 77—94. *) Soziale Frage S. 115 und oft. • 3) a. a. 0. S. 150; Kapital S. 202. *) Soziale Frage S. 115, 148f. Vgl. auch die Kritik gegen Bastiat a. a. 0. S. 115 bis 119. 334 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Die Höhe der Kente wächst mit der Produktivität der Arbeit. Denn der Arbeiter erhält unter dem Systeme der freien Konkurrenz im allge- meinen und auf die Dauer stets nur den Betrag des notwendigen Unter- haltes, d. i. ein bestimmtes reales Produktquantum. Je größer nun die Produktivität der Arbeit ist, eine desto geringere Quote des gesamten Produktwertes wird durch dieses reale Produktquantum in Anspruch ge- nommen, und eine desto größere Produkt- und Wertquote erübrigt für den Anteil der Besitzer, für die Kente ^). Obwohl nach dem bisher Gesagten im Grunde alle Rente eine einheit- liche Masse von vollkommen homogenem Ursprünge bildet, teilt sie sich im praktischen Wirtschaftsleben bekanntlich in zwei Zweige: in die Grund- rente und den Kapitalgewinn. Den Grund und die Gesetze dieser Teilung erklärt nun Rodbertüs in höchst eigenartiger Weise. Er geht, wie vor- ausgeschickt werden muß, für den ganzen Bereich der bezüglichen Unter- suchung von der theoretischen Voraussetzung aus, daß der Tauschwert aller Produkte äqual ihrer Kostenarbeit sei, mit anderen Worten, daß alle Produkte sich in demselben Verhältnisse gegen einander austauschen, in welchem sie Arbeit gekostet haben 2). Bei dieser Annahme ist bemerkens- wert, daß RoDBERTus zwar weiß, daß sie nicht genau der Wirklichkeit entspricht. Doch glaubt er. daß die faktische Abweichung in nichts anderem bestehe, als daß der „wirkliche Tauschwert bald hüben bald drüben" falle, wobei aber immer wenigstens eine Gravitation nach jenem Punkte sich zeige, „der wie der natürliche so auch der gerechte Tauschwert wäre"^). Den Gedanken, daß die Güter sich normaler Weise nach einem anderen als nach dem Verhältnisse der an ihnen haftenden Arbeit vertauschen, daß Abweichungen von diesem Verhältnisse nicht bloß das Ergebnis zufälliger augenblicklicher Marktschwankungen, sondern eines festen, den Wert nach anderer Richtung ziehenden Gesetzes sein könnten, schließt er völlig aus*). Ich mache auf diesen Umstand, der sich später als wichtig herausstellen wird, einstweilen aufmerksam. — Die gesamte Güterproduktion läßt sich nach Rodbertüs in zwei Zweige teilen, in die Rohproduktion, welche mit Hilfe von Grund und Boden Rohprodukte gewinnt, und in die Fabrikation, welche die Roh- produkte weiter verarbeitet. Ehe die Arbeitsteilung eingeführt war, wurde die Gewinnung und die weitere Verarbeitung der Rohprodukte in unmittel- barer Aufeinanderfolge von Einem Unternehmer vollzogen, der dann auch die gesamte resultierende Rente unterschiedslos empfing: in diesem Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung fand eine Trennung der Rente in Grund- rente und Kapitalgewinn noch nicht statt. Seit der Einführung der Arbeits- ^) Soziale Frage S. 123ff. *) a. a. 0, S. 106. ») Soziale Fra^e S. 107. Ähnlich S. -113, 147, Erkl. T, S. 123. *) Soziale Frage S. 148. Rodbertns. 335 teilung sind aber die Unternehmer der Rohproduktion und der sich daran schließenden Fabrikation verschiedene Personen. Es fragt sich vorläufig, in welchem Verhältnisse wird die aus der Gesamtproduktion resultierende Rente sich nunmehr unter die Rohproduzenten einerseits und die Fabri- kationsunternehmer andererseits teilen? Die Antwort auf diese Frage geht aus dem Charakter der Rente hervor. Die Rente ist ein Abzug am Produktwerte, eine Quote desselben. Die Masse der in einer Produktion zu gewinnenden Rente wird sich daher nach der Größe des in dieser Produktion geschaffenen Produktwertes richten. Da aber die Größe des Produktwertes sich wieder nach der Menge der verwendeten Arbeit richtet, so werden sich Rohproduktion und Fabri- kation in die Gesamtrente nach dem Verhältnisse der in jedem dieser Produktionszweige aufgewendeten Kostenarbeit teilen. An einem konkreten Beispiele entwickelt^). Wenn die Gewinnung einer Rohprodukt- menge 1000 Arbeitstage erfordert, und die Verarbeitung derselben weitere 2000 Arbeitstage, und wenn die Rente überhaupt 40% vom Produktwerte zu Gunsten der Besitzer vorweg nimmt, so wird auf die Rohproduzenten das Produkt von 400 Arbeitstagen, auf die Fabrikationsunternehmer das Produkt von 800 Arbeitstagen als Rente fallen. — Ganz indifferent ist dagegen für diese Verteilung die Größe des in jedem Produktionszweige angewendeten Kapitales: die Rente wird freilich auf das Kapital be- rechnet, bestimmt sich aber nicht nach diesem Kapitale, sondern nach den zugesetzten Arbeitsquantitäten. Gerade der Umstand nun, daß die Größe des angewendeten Kapitales keinen verursachenden Einfluß auf die Masse der in einem Produktions- zweige zu erlangenden Rente hat, wird zur Entstehungsursache der Grund- rente. In folgender Weise. Die Rente, obwohl Arbeitsprodukt, wird, weü durch den Besitz von Vermögen bedingt, als Ertrag des Vermögens ange- sehen. Da in der Fabrikation nur Kapitalvermögen, nicht auch Grund und Boden in Anwendung steht, wird speziell die gesamte in der Fabrikation zu erzielende Rente als Ertrag des Ka^tales oder als Kapitalgewinn be- trachtet. Indem man dann, wie es üblich ist, das Verhältnis zwischen der Größe des Ertrages und der Größe des ertraggebenden Kapitales berechnet, gelangt man zur Konstatierung eines bestimmten perzentuellen Gewinn- satzes, der in der Fabrikation sich vom Kapitale erzielen läßt. Dieser Gewinnsatz, der sich vermöge bekannter Tendenzen der Konkurrenz in allen Zweigen annähernd gleichstellen wird, wird auch für die Berechnung des Kapitalgewinnes in der Rohproduktion maßgebend werden; schon deshalb, weü in der Fabrikation ein weit größerer Teil des Nationalkapitales angewendet wird als in der Landwirtschaft, und weü begreiflicherweise der Ertrag des bei weitem größeren Teües des Kapitales auch für den ^) Das sich bei Rodbertus nicht findet, und das ich nur hinzufüge, um dea schwierigen Gedankengang gegen* Verwechslungen sicher zu stellen. 336 XI^' ^^® Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. kleineren den Satz diktieren kann, nach welchem er seinen Gewinn be- rechnet erhalten soll. Es werden daher die Rohproduzenten von der gesamten in der Rohproduktion erzielten Rente sich so viel als Kapital- gewinn berechnen, als der Größe des angewendeten Kapitales und der Höhe des üblichen Kapitalgewinnsatzes entspricht. Der Rest der Rente wird dagegen als Ertrag des Grundes und Bodens aufgefaßt und bildet die Grundrente. Eine solche Grundrente muß. nun nach Rodbertus in der Roh- produktion allemal notwendig übrig bleiben, unter der einzigen Voraus- setzung, daß die Produkte sich im Verhältnisse der an ihnen haftenden Arbeitsmenge vertauschen. Rodbertus begründet dies folgendermaßen. Die Größe der in der Fabrikation zu erzielenden Rente hängt, wie oben dargestellt, nicht von der Größe der geraachten Kapitalauslage, sondern von der Menge der in der Fabrikation geleisteten Arbeit ab. Diese summiert sich aus zwei Bestandteilen: einerseits aus der unmittelbaren Fabrikations- arbeit, andererseits aus jener mittelbaren Arbeit, „die wegen der vernutzten Werkzeuge und Maschinen mit aufzurechnen ist." Von den verschiedenen Bestandteilen der Kapitalauslage haben daher nur einige einen Einfluß auf die Größe der Rente, nämlich jene, die im Arbeitslohne und im Auf- wände für Maschinen und Werkzeuge bestehen. Der Kapitalauslage für das Rohmaterial kommt dagegen ein solcher Einfluß nicht zu, weil dieser Auslage keine im Stadium der Fabrikation geleistete Arbeit entspricht. Wohl aber vergrößert dieser Teü der Auslage das Kapital, auf welches die gewonnene Rente als Ertrag berechnet wird. Die Existenz eines Kapital- teiles, der einerseits das Fabrikationskapital, auf das der abfallende Üententeü als Gewinn berechnet wird, vergrößert, andererseits aber diesen Gewinn selbst nicht vergrößert, muß offenbar das Verhältnis des Gewinnes zum Kapitale, mit anderen Worten, den Kapitalgewinnsatz in der Fabri- kation herabdrücken. Nach diesem erniedrigten Satze wird nun auch in der Rohproduktion der Kapitalgewinn berechnet. Hier stehen aber die Verhältnisse noch günstiger. Da nämlich die Landwirtschaft die Produktion ab ovo beginnt und kein aus einer vorangegangenen Produktion herstammendes Material verarbeitet, so fehlt in ihrer Kapitalauslage der Bestandteil „Material- wert". Sein Analogon wäre nur der Boden, der indes von allen Theorien kostenlos vorausgesetzt wird. Infolge davon nimmt kein Kapitalteil an der Repartierung des Gewinnes teil, der nicht auch auf seine Größe Einfluß genommen hätte, und in weiterer Folge muß das Verhältnis zwischen der erzielten Rente und dem in Verwendung gestandenen Kapitale in der Land- wirtschaft günstiger sein als in der Fabrikation. Da aber der Kapital- gewinn auch in der Landwirtschaft nur nach dem niedrigeren aus der Fabrikation stammenden Gewinnsatze berechnet wird, so muß allemal noch ein Überschuß an Rente bleiben, der dem Grundeigentümer als Rodbertus. 337 Grundrente zufällt. Dies nach Rodbertus der Ursprung der Grundrente und ihrer Unterscheidung vom Kapitalgewinne i). — Zur Ergänzung will ich schließlich noch kurz bemerken, daß Rod- bertus trotz des sehr scharfen theoretischen Urteiles, das er über die Beutenatur des Kapitalgewinnes fällt, dennoch weder das Kapitaleigentum noch den Kapitalgewinn abgeschafft wissen wilL Vielmehr schreibt er dem Grund- und Kapitaleigentüme „eine erziehende Gewalt" zu, die nicht zu entbehren ist; „eine Art häuslicher Gewalt, die nur durch ein völlig ver- ändertes nationales Unterrichtssystem, zu dem aber selbst noch wieder alle Vorbedingungen fehlen, ersetzt werden könnte" 2). Das Grund- und Kapitaleigentum erscheint ihm insolange „als eine Art Amt, das national- ökonomische Funktionen mit sich führt, Funktionen, die eben darin bestehen, die ökonomische Arbeit und die ökonomischen Mittel der Nation dem nationalen Bedürfnisse entsprechend zu leiten". Die Rente aber kann man von diesem — ihr günstigsten — Gesichtspunkte als eine Form des Gehaltes ansehen, das jene „Beamte" für die Ausübung ihrer Funktionen empfangen 3). Ich habe bereits oben bemerkt, wie Rodbertus mit dieser ziemlich gelegentlich — in einer bloßen Note — abgegebenen Äußerung zuerst eine Idee berührte, aus der Spätere, zumal Schäffle, eine eigen- tümliche Variante der Arbeitstheorie ausgebildet haben. — Ich wende mich nun zur Kritik des RoDBERTUsschen Lehrgebäudes. Ohne Umschweife spreche ich es sofort aus, daß ich die darin enthaltene Kapitalzinstheorie für vollkommen verfehlt erachte. Sie leidet nach meiner Überzeugung an einer Reihe schwerer theoretischer Gebrechen, welche ich im folgenden, so klar und unbefangen ich es vermag, darzustellen mich bemühen werde. Die kritische Prüfung muß schon an dem ersten Steine, den Rod- bertus zu seinem Lehrgebäude legt, Anstoß nehmen: an dem Satze, daß alle Güter, wirtschaftlich betrachtet, nur Produkte der Arbeit sind. Vor allem, was soU das sagen „wirtschaftlich betrachtet?" Rod- bertus erläutert es durch einen Gegensatz. Er stellt den wirtschaftlichen Standpunkt in Gegensatz zu dem naturgeschichtlichen. Daß natur- geschichtlich die Güter Produkte nicht nur der Arbeit, sondern auch der Naturkräfte sind, gibt er ausdrücklich zu. Wenn dennoch vom wirtschaft- lichen Standpunkte die Güter nur Produkte der Arbeit sein sollen, so kann das wohl nur einen einzigen Sinn haben: den nämlich, daß die Mitwirkung der Naturkräfte bei der Produktion für die Erwägungen der menschlichen Wirtschaft etwas vollkommen gleichgiltiges sei. Rodbertus gibt auch J) Soziale Frage S. 94ä., besonders S. 109—111; Erklärung I, S. 123. «) Erklärung II, S. 303. ') Erklärung II, S. 273 f. In der nachgelassenen Schrift über das „Kapital" spricht sich Rodbertus allerdings schärfer gegen das private Kapitaleigentum aus, und will es zwar nicht einfach aufgehoben, aber doch abgelöst wissen. (S. 116ff.) Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 22 338 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. dieser Auffassung einmal drastischen Ausdruck, wenn er sagt: „Alle übrigen Güter (außer jenen, die Arbeit gekostet haben), mögen sie auch noch so notwendig oder nützlich für den Menschen sein, sind natürliche Güter, welche eine Wirtschaft nichts angehen." „Was die Natur bei den wirtschaftlichen Gütern vorgetan hat, dafür mag der Mensch dankbar sein, denn es hat ihm so viel mehr Arbeit erspart, aber die Wirtschaft berücksichtigt sie nur so weit, als die Arbeit das Werk der Natur komplettiert hat''^). Das ist nun einfach falsch. Auch rein natürliche Güter, wofem sie nur im Vergleiche zum Bedarfe nach ihnen selten sind, gehen die Wirtschaft an. Oder geht ein gediegener Goldklumpen, der als Meteorstein einem Grundeigentümer auf sein Grundstück fällt, oder eine Silbermine, die er zufällig auf seinem Grundstücke entdeckt, die Wirtschaft nichts an? Wird der Eigentümer das von der Natur geschenkte Gold und Silber etwa achtlos liegen lassen oder verschenken oder verschwenden, nur deshalb, weil es ihm von der Natur ohne seine Bemühung geschenkt ist? Oder wird er es nicht ebenso sorgsam bewahren, gegen fremde Habsucht in Sicherheit bringen, umsichtig auf dem Markte verwerten, kurz damit haushalten oder wirtschaften, geradeso, wie er es mit Gold und Silber täte, das er sich durch seiner Hände Arbeit errungen? — Und berücksichtigt die Wirtschaft auch jene Güter, die Arbeit gekostet haben, wirklich nur so weit, als die Arbeit das Werk der Natur komplettiert hat? Wenn das der Fall wäre, müßten die wirtschaftenden Menschen den Eimer herr- liclisten Rheinweines einem Eimer gut gepflegten, aber von Natur aus geringen Landweines völlig gleichstellen: denn bei beiden hat die mensch- liche Arbeit ungefähr gleich viel geleistet! Daß dennoch der Rheinwein oft die zehnfache wirtschaftliche Wertschätzung erfährt, ist eine sprechende Widerlegung, die das Leben gegen Rodbertus' Theorem richtet. Solche Einwendungen liegen so nahe, daß man berechtigt wäre zu erwarten, Rodbertus werde seinen ersten und wichtigsten Fundamental- satz mit aller Sorgfalt gegen sie in Schutz genommen haben. Diese Er- wartung wird indes getäuscht. Allerdings hat Rodbertus zugunsten seiner These einigen Überzeugungsapparat aufgeboten. Was derselbe bietet, läuft indes teils auf einen nicht beweiskräftigen Appell an Autori- täten, teils auf eine ebensowenig beweiskräftige Dialektik hinaus, welche den springenden Punkt nicht berührt, sondern umgeht. In die erste Kategorie gehört die wiederholte Anrufung von Smith und Ricardo als Gewährsmännern für jenen Satz, „über den in der vor- geschrittenen Nationalökonomie kein Streit mehr" sei, der unter den englischen Nationalökonomen eingebürgert, unter den französischen doch vertreten, und, „was das Wichtigste ist, gegen alle Sophismen einer Hinter- ') Soziale Frage S. 69. Rodbertus. 33g gedanken hegenden Lehre unauslöschlich ins Volksbewußtsein geprägt" sei^). Wir werden indes etwas später die interessante Tatsache festzustellen haben, daß Smith und Ricardo den in Rede stehenden Satz nur axio- matisch behaupten, ohne ihn irgendwie zu begründen; und überdies haben beide, wie Knies sehr hübsch nachgewiesen hat 2), selbst nicht einmal konsequent an jenem Satze festgehalten. Insoferne nun in einer wissen- schaftlichen Diskussion selbstverständlich auch Autoritäten nicht durch ihren Namen, sondern nur durch die Kraft der Gründe beweisen, die von ihnen vertreten werden, in diesem Falle aber gar keine Gründe, ja nicht einmal eine konsequente Behauptung hinter den Namen steht, ergibt sich aus dem Autoritäten-Appell keine materielle Stärkung der Position von Rodbertus; diese ruht vielmehr lediglich auf den Gründen, die Rodbertus selbst für seine These beizubringen imstande ist. In dieser Beziehung kommt nun eine etwas längere Beweisführung in dem ersten der fünf Theoreme „zur Erkenntnis unserer staatswirtschaft- lichen Zustände", und ein gedrängterer Syllogismus in der Schrift „zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grundbesitzes" in Betracht. An ersterem Orte entwickelt Rodbertus zunächst vollkommen zu- treffend, daß und waxum wir mit Gütern, die Arbeit kosten, wirtschaften müssen. Er stellt mit vollem Recht das quantitative Mißverhältnis zwischen der „Unendlichkeit und Unersättlichkeit unseres Begehrungsvermögens" oder unserer Bedürfnisse und der Beschränktheit unserer Zeit und Kraft in den Vordergrund; erst in zweiter Linie, und mehr andeutungsweise, spricht er auch davon, daß die Arbeit „mühsam", ein Opfer an „Freiheit" u. dgl. sei 3). Desgleichen führt er vollkommen zutreffend aus, daß und warum ein Aufwand von Arbeit als , Kosten" aufgefaßt werden müsse. „Man muß sich" — sagt er*) — „nur den Begriff von „kosten" klar machen. In ihm liegt mehr, als daß etwas zur Hervorbringung eines anderen nur nötig ist. Wesentlich gehört dazu, sowohl daß ein Aufwand gemacht ist, der deshalb nicht mehr für anderes zu machen ist, als auch, daß er von einem Subjekt gemacht wird, das durch die Unwiederbringlichkeit des Aufwandes getroffen wird. In dem letzteren liegt, daß nur dem Menschen etwas kosten kann." Vollkommen richtig! — Ebenso richtig ist auch, daß, wie Rodbertus weiter ausführt, beide Kriterien des Kostens bei der Arbeit zutreffen. Denn der Aufwand von Arbeit, den jedes Gut verursacht hat, ,.ist für ^) Soziale trage S. 71. ") Kredit, II. Hälfte S. 60ff. *) Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustände (1842) Erstes Theorem, 5 und 6. ♦) a. a. 0. S. 7. 22* 340 ^I^- ^^^ Ausbeutongstheorie. 2. U.-A. Kritik. kein andere» weiter aufzuwenden" — erstes Kriterium — und „durch ihn wird keiner sonst getroffen als der Mensch, denn er besteht aus seiner Kraft und seiner Zeit, und beide sind beschränkt der endlosen Reihe von Gütern gegenüber" — zweites Kriterium. Nun handelt es sich aber für Rodbertus darum, auch noch zu be- weisen, daß ein „kosten" und in weiterer Folge ein Grund zum Wirtschaften eben nur gegenüber der Arbeit allein und gegenüber keinem anderen Elemente zutreffe. Er muß zuvörderst einräumen, „daß zur Produktion eines Gutes noch ein anderes (außer der Arbeit) nötig und tätig ist", nämlich — abgesehen von Ideen, welche der Geist dazu leiht — ein Material, das die Natur dazu leiht, und Naturkräfte, welche „im Dienst der Arbeit die Umwandlung oder Aneignung des Stoffes vollbringen helfen". Allein dem Anteil der Natur fehlen beide Kriterien des Kostens. Denn die tätige Naturkraft sei „unendlich und unzerstörbar: die Kraft, welche die er- forderlichen Substanzen zu einem G«treidekorn zusammenbildet, ist immer im Gefolge dieser Substanzen. Das Material, das die Natur zu einem Gute Jeiht, ist allerdings so lange nicht zu einem zweiten zu verwenden. Allein man müßte die Natur personifizieren, und von ihren Kosten sprechen, wollte man deshalb überhaupt von Kosten sprechen. Das Material ist kein Aufwand, den der Mensch für das Gut macht; Kosten des Gutes sind für uns aber nur diejenigen, welcher dieser hat"^). Von den beiden Gliedern dieses Schlusses ist das erste, welches das Zutreffen des ersten Kriteriums in Abrede stellen will, ganz offenbar ver- fehlt. Freilich sind die Naturkräfte ewig und unzerstörbar, aber für die Fragen des Produktionsaufwandes kommt es nicht darauf an, ob jene Kräfte überhaupt fortexistieren, sondern darauf, ob sie in einer Weise fortexistieren und fortwirken, welche sie zu einer abermaligen produktiven Nutzwirkung geeignet macht. Und in dieser, für unsere Frage allein in Betracht kommenden Beziehung ist von einer unzerstörten Forterhaltung keine Rede. Wenn wir unsere Kohle verbrannt haben, dauern freilich die chemischen Kräfte des Kohlenstoffes, die durch ihre Verbindung mit dem Sauerstoff der atmosphärischen Luft die uns willkommene Heizwirkung hervorgebracht haben, auch weiterhin fort: allein nunmehr erschöpft sich ihre Wirkung in der Festhaltung der Sauerstoffatome, mit denen sich die Kohlenstoffatome zur Kohlensäure verbunden haben, und von einer wiederholten Nutzwirkung dieser Kräfte ist bis auf weiteres nicht die Rede. Der Aufwand an chemischen Kräften, den wir durch die Verbrennung der Kohle zu gunsten der Produktion eines Gutes gemacht haben, kann nicht mehr zu gunsten eines anderen Gutes gemacht werden 2). Ganz dasselbe 1) a. a. 0. S. 8. *) Es ist leicht zu sehen, daß Rodbertus konsequent auch die Arbeitskraft für etwas ewiges und unzerstörbares hätte erklären müssen, da ja auch die im mensch- Rodbertus. 341 gilt natürlich auch von den Materialien der Produktion. Rodbertus i*äumt es bezüglich ihrer eigentlich auch ein, wenn auch in unzureichender Weise, wenn er sagt, daß sie „so lange" nicht zu einem anderen Gute zu verwenden sind. In Wahrheit sind sie nicht bloß „so lange", als sie in dem ersten Gute darin stecken, sondern regelmäßig auch nachher nicht zur Produktion eines zweiten Gutes zu verwenden. Wenn ich Holz zu Dippel- bäumen verwende, so ist dasselbe nicht bloß während der hundert Jahre, während derer es in dem Hause als Dippelbaum dient und allmählich verfault, sondern auch nach seiner Verfaulung nicht mehr zu einer Pro- duktion eines anderen Gutes zu gebrauchen, weil seine freilich fortbestehen- den chemischen Elemente sich nunmehr in einem Zustande befinden, der sie zur Lenkung für Nutzzwecke des Menschen nicht mehr geeignet macht. Etwas später, bei der Erörterung eines selbstgestellten Einwandes, läßt denn auch Rodbertus selbst diesen seinen ersten Grund fallen, und stützt sich bloß noch darauf, daß das zweite Kriterium, die Beziehung der Kosten auf eine Person, fehle. Aber auch hiemit hat Rodbertus Unrecht. Auch der Aufwand an seltenen Naturgaben ist ein Aufwand, durch dessen Unwiederbringlichkeit ein Subjekt getroffen wird, geradeso wie Rodbertus es in seiner Definition des Kostens fordert, und aus genau demselben Grunde, den er selbst für die Arbeit zur Geltung bringt. Welchen Sinn hat es denn, wenn Rod- bertus nicht etwa das mit der Arbeit verbundene Leid, sondern mit wiederholtem Nachdruck die quantitative Beschränktheit der Arbeit gegenüber der Unendlichkeit unserer Bedürfnisse als den Grund aufruft, der uns mit der Arbeit und ihren Produkten zu wirtschaften zwingt? Doch keinen anderen, als daß jede Vergeudung der zur vollen Bedürfnisbefrie- digung ohnedies unzureichenden Arbeit in unsere Bedürfnisbefriedigung eine noch größere Lücke reißen würde. Dieses Motiv würde bestehen bleiben, auch wenn die Arbeit mit gar keiner persönlichen Leidempfindung, Plage, Zwang u. dgl. verbunden wäre, sondern dem Arbeiter ein reines ungetrübtes Vergnügen bereiten, aber dabei in ihrer Menge für die Er- zeugung aller gewünschten Güter doch unzureichend sein würde. Die Person wird somit durch einen vergeudeten, oder überhaupt durch einen Arbeitsaufwand getroffen, einfach weil ihr dadurch eine anderweitige Bedürfnisbefriedigung entgeht^). Und ganz dasselbe findet statt, wenn liehen Organismus liegenden chemischen und mechanischen Kräfte nicht aus der Welt verschwinden 1 ^) Man denke z, B. noch daran, ob nicht auch ein Gebieter über fremde Arbeit, sei er nun Lohnherr, oder Familienvorstand, oder Sklavenhalter, vernünftige Ursache hat, mit fremder Arbeit zu wirtschaften. Natürlich kann hier als die Ursache nicht mehr in Betracht kommen, daß die Arbeit seiner Zeit, seiner KIraft oder seinem persönlichen Opfer an Freiheit entstamme, sondern es ist offensichtig die im Texte geschilderte Beziehung zu seiner (oder seiner Familie) Bedürfnisbefriedigung maß- gebend. 342 XII- I^ie Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. eine seltene Naturgabe vergeudet oder überhaupt aufgewendet wird. Vergeude ich mutwillig oder durch Raubbau ein wertvolles Mineral- oder Kohlenlager, so vergeude ich eben eine Summe von Bedürfnisbefriedigungen, die ich bei wirtschaftlichem Verhalten hätte erlangen können, und die ich durch unwirtschaftliches Verhalten eben verscherze^). RoDBERTus hält sich diesen — kaum zu übersehenden — Einwand auch selbst vor Augen. Man könne einwenden, meint er, daß dem Besitzer eines Waldes außer der Arbeit, die er auf das Holzfällen usw. verwendet, auch noch das Material selbst koste, „da es zu einem Gute verwendet, nicht mehr zu einem andern zu verwenden ist, und es sich also als Aufwand darstellt, durch den er, der Besitzer, getroffen wird"^). Rodbertus weicht aber diesem Einwand durch ein Sophisma aus. Er beruhe, sagt er, auf einer „.Fiktion", „weil man nämlich ein Verhältnis des positiven Rechtes zu einer staatswirtschaftlichen Grundlage macht, da doch zu dieser nur statt- hafte natürliche Verhältnisse dienen können". Nur vom Standpunkte der bestehenden positiven Rechtsordnung könne man annehmen, daß es an Naturdingen, ehe Arbeit an sie gewendet worden ist, schon einen ,, Be- sitzer" gebe, und die Sache würde sich sogleich anders stellen, wenn man das Grundeigentum aufheben würde. Im entscheidenden Punkte würde sich indes die Sache eben nicht anders stellen. Ist das Holz am Stamme überhaupt eine relativ seltene Naturgabe, so erfordert, unabhängig von jeder Rechtsordnung, schon die Natur der Sache, daß jede Vergeudung der seltenen Naturgabe am Wohl und Wehe von Personen ausgeht: die Rechtsordnung kommt nur für die Auswahl der Personen in Betracht, welche betroffen werden. Bei Bestand privaten Grundeigentums ist der Interessierte und somit Betroffene der Besitzer; bei Gemeineigentum würde es der ganze Kreis der Gesellschafts- mitglieder sein, bei Abgang jeder Rechtsordnung der tatsächliche Gewalt- haber, sei es jener, der zuerst kommt, oder der Stärkste. Aber nie würde sich vermeiden lassen, daß der Verlust oder der Aufwand an seltenen Naturgaben überhaupt irgend eine Person oder einen Kreis von Personen in ihrer Bedürfnisbefriedigung trifft — außer man denkt etwa daran, daß der Wald überhaupt keine menschlichen Bewohner hat, oder daß die Bewohner aus irgend einem außer wirtschaftlichen, z. B. religiösen Motiv sich grundsätzlich von jeder Antastung des Holzes zurückhalten. Dann wird freilich mit dem Holz nicht gewirtschaftet werden, aber nicht deshalb, weil reine Naturgaben grundsätzlich nicht Gegenstand eines eine Person ins Mitleid ziehenden Opfers werden könnten, sondern weil sie durch die ^) Die in allen Berggesetzgebungen vorfindlichen Bestimmungen gegen Raubbau sind eine handgreifliche Widerlegung gegen Rodbertus, da sie ein Wirtschaften mit seltenen Naturgaben — aus sehr vernünftigen Gründen 1 — geradezu zur Pflicht machen. 2) a. a. 0. S. 9. Rodbertus. 343 konkreten Umstände des Falles aus solchen persönlichen Beziehungen, in welchen zu stehen sie an sich sehr wohl fähig sind, ausgeschaltet worden wären. — In einer späteren Schrift widmet Rodbertus seiner These nochmals eine kurze Begründung, die augenscheinlich denselben Gedanken, aber zum Teil in etwas anderer Wendung verfolgt. Er meint, es sei alles Produkt, das durch eine Arbeit in ein Guts Verhältnis zu uns kommt, deshalb wirt- schaftlich auf alleinige Rechnung der menschlichen Arbeit zu setzen, weil Arbeit die einzige Urkraft und auch der einzige Uraufwand ist, mit dem die menschliche Wirtschaft haushält^). Dieser Argumentation gegenüber kann man jedoch erstlich sehr zweifeln, ob die in ihr benützte Prämisse selbst richtig ist, wie sie denn auch von Knies mit großer Entschiedenheit, und, wie ich glaube, auch mit triftigen Argumenten in Zweifel gezogen wird^). Und zweitens, wenn auch die Prämisse richtig wäre, so ist es darum der Schlußsatz noch nicht: Auch wenn wirklich die Arbeit die einzige Urkraft wäre, mit der die menschliche Wirtschaft haushält, so sehe ich gar nicht ein, warum die menschliche Wirtschaft nicht auch noch mit etwas anderem als mit den „Urkräften" hauszuhalten Ursache haben soll? Warum nicht auch mit gewissen Ergebnissen jener Urkraft, oder mit Ergebnissen anderer Urkräfte? Warum z. B. nicht mit dem oben be- sprochenen goldenen Meteor? Warum nicht mit dem zufällig gefundenen Edelsteine? Oder mit den natürlichen Kohlenlagern? Rodbertus faßt eben das Wesen und die Motive der Wirtschaft zu enge auf. Wir wirt- schaften mit der Urkraft Arbeit, wie Rodbertus ganz richtig sagt, „weil diese Arbeit nach Zeit und Maß beschränkt, einmal angewendet auch auf- gewendet, und endlich ein Raub an unserer Freiheit ist." Aber das sind alles nur Zwischenmotive, noch nicht das letzte Motiv für unser haus- hälterisches Benehmen. Im letzten Grunde halten wir mit der beschränkten und mühsamen Arbeit haus, weil wir durch eine unwirtschaftliche Gebarung mit ihr eine Einbuße an Lebenswohlfahrt erleiden würden. Ganz dasselbe Motiv treibt uns aber zum Haushalten auch jedem anderen nützlichen Dinge gegenüber, das wir, weil es in beschränkter Menge vorhanden, nicht ohne eine Einbuße an Lebensgenuß entbehren oder verlieren können: >) Erklärung und Abhilfe, II, S. 160. Ähnlich Soziale Frage S. 69. -) Der Ejredit, II. Hälfte, S. 69: „Es ist einfach sachlich nicht wahr, was Rod- bertus als einzigen Grund für sich anführt, daß ,,die Arbeit die einzige Urkraft und auch der einzige Uraufwand ist, mit dem die menschliche Wirtschaft haushält!" Welche gerade bei einem Grundbesitzer so überraschende Verblendung, daß die in unseren beschränkten Grundstücken wirksame Bodenkraft von unhaushälterischen Menschen nicht ,,tot liegend" gelassen, nicht für den Erwuchs von „Unkraut vergeudet" werden könne usw. usw. Ein so absurdes Urteil muß ja auch schließlich den Satz vertreten, daß der Verlust von x Morgen Landes für einen Landwirt von y Quadratmeilen für eine Volkswirtschaft keine „wirtschaftliche Einbuße bedeute" 344 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. Ü.-A. Kritik. mag es nun Urkraft sein oder nicht, mag es Urkraft Arbeit gekostet haben oder nicht. Vollends unhaltbar wird die von Rodbertus eingenommene Position endlich durch den Zusatz, daß die Güter sogar nur als Produkte der mate- riellen Handarbeit zu betrachten seien. Dieser Satz, durch den unter anderem sogar die unmittelbare geistige Leitung der Produktionsarbeit von der Anerkennung als wirtschaftlich produktive Tätigkeit ausge- schlossen wird, führt zu einer Fülle innerer Widersprüche und schiefer Konsequenzen, die keinen Zweifel an seiner Unrichtigkeit aufkommen lassen, und die von Knies in so schlagender Weise aufgedeckt worden sind, daß es eine überflüssige Wiederholung wäre, wenn auch ich nochmals auf die Sache eingehen wollte i). So ist denn Rodbertus schon bei Aufstellung seines ersten Fun- damentalsatzes mit der Wahrheit in Widerspruch gekommen. Um übrigens vollkommen loyal zu sein, muß ich an dieser Stelle eine Einräumung" machen, die Knies von dem Standpunkte der Nutzungstheorie, den er vertritt, nicht machen konnte. Ich räume nämlich ein, daß mit der Wider- legung jenes Fundamentalsatzes noch nicht die ganze Zinstheorie Rod- bertus' widerlegt ist. Jener Satz ist irrig, aber nicht weil er den Anteil des Kapitales, sondern nur weil er den Anteil der Natur an der Güter- erzeugung verkennt. Ich glaube nämlich gleich Rodbertus, daß, wenn man die Folge aller Produktionsstadien als ein Ganzes betrachtet, das Kapital keinen selbständigen Platz unter den Produktionskosten behaupten kann: es ist nicht ausschließlich „vorgetane Arbeit", wie Rodbertus meint, aber es ist teils und zwar gewöhnlich der Hauptsache nach „vor- getane Arbeit", zum Reste ist es aufgespeicherte wertvolle Naturkraft. Wo letztere zurücktritt — etwa in einer Produktion, die durch alle Stadien hindurch nur freie Naturgaben und Arbeit oder solche Produkte anwendet, die selbst ausschließlich aus freien Naturgaben und Arbeit entstanden sind — da kann man in der Tat mit Rodbertus sagen, daß solche Güter, wirtschaftlich betrachtet, nur Produkte der Arbeit sind. Indem sich sonach Rodbertus' FundamentaJirrtum nicht auf die Rolle des Kapitales, sondern nur auf jene der Natur bezieht, müssen auch die Folgesätze, die er daraus ^) Siehe Knies, Der Kredit, IL Hälfte, S. 64ff.; z. B.: „Wer Steinkohlen „„pro- duzieren"" will, muß nicht bloß graben, sondern er muß an einem bestimmten Orte graben; an Tausenden von Orten kann er ganz erfolglos dieselbe materielle Operation des Grabens machen. Wenn aber die schwierige und notwendige Leistung der richtigen Ortsbestimmung von einer besonderen Person, etwa einem Geologen übernommen wird; wenn ohne eine weitere „geistige KIraft" kein Schacht zurecht gebracht würde usw. — wie soll dann die „wirtschaftliche" Leistung nur das Graben sein? Wann und wo die Wahl der Stoffe, die Bestimmung der Mengenverhältnisse u. dgl. von einer anderen Person ausgeht, als von derjenigen, welche das „Pillendrehen" besorgt, soll dann der wirtschaftliche Wert dieses Sachkörpers, soll dieses Heihnittelfabrikat als solches, ein Produkt nur der bezüglichen Handarbeit sein?-' RodbertuB. 345 über die Natur des Kapitalgewinnes herleitet, nicht notwendig falsch sein. Erst wenn sich auch in der Fortsetzung seiner Lehre wesentliche Irrtümer zeigen, werden wir sie als falsch verwerfen dürfen. Solche Irrtümer finden sich nun allerdings. Um von dem ersten Versehen Rodbertus' keinen ungebührKchen Nutzen zu ziehen, will ich für die ganze folgende Untersuchung alle Voraus- setzungen so stellen, daß die Folgen jenes Versehens vollständig eliminiert werden. Ich will supp'onieren, daß alle Güter nur durch das Zusammen- wirken von Arbeit und freien Naturkräften und unter ausschließlicher Beihilfe solcher Kapitalgegenstände hervorgebracht werden, die selbst nur durch das Zusammenwirken von Arbeit und freien Naturkräften ohne Dazwischenkunft tauschwerter Naturgaben entstanden sind. Unter dieser begrenzenden Voraussetzung kann ich Rodbertus' Fundamentalsatz, daß die Güter, wirtschaftlich betrachtet, nur Arbeit kosten, auch meinerseits gelten lassen. — Sehen wir nun weiter. Rodbertus' nächste These läutet, daß naturgemäß und nach der „reinen Rechtsidee" dem Arbeiter das ganze Produkt, das er allein hervor- gebracht, beziehungsweise dessen ganzer Wert ohne Abzug gehören müsse. — Ich stimme auch dieser These, gegen deren Richtigkeit und Gerechtig- keit sich unter der oben gemachten begrenzenden Voraussetzung meines Erachteüs kein Einwand erheben läßt, vollkommen zu. Aber ich glaube, daß Rodbertus und alle Sozialisten mit ihm von der Verwirklichung dieses wahrhaft gerechten Satzes sich eine falsche Vorstellung machen, und durch diese mißleitet die Herstellung eines Zustandes begehren, der jenem Satze nicht entspricht, sondern widerspricht. Da merkwürdigerweise in den vielen Widerlegungsversuchen, die bisher gegen die Ausbeutungstheorie gerichtet wurden, dieser entscheidende Punkt höchstens oberflächlich gestreift, aber noch nie ins gehörige Licht gesetzt worden ist, darf ich mir wohl erlauben, den Leser für die folgende Entwicklung um einige Auf- merksamkeit zu bitten, umsomehr, als die nicht leichte Sache ihrer dringend bedarf. Ich will den Fehler, den ich rüge, erst nennen, dann beleuchten. Der vollkommen .gerechte Satz, daß der Arbeiter den ganzen Wert seines Produktes erhalten soll, kann vernünftiger Weise in sich schließen, ent- weder daß der Arbeiter den ganzen jetzigen Wert seines Produktes jetzt, oder daß er den ganzen künftigen Wert seines Produktes künftig erhalten soll. Rodbertus und die Sozialisten legen ihn aber so aus, daß der Arbeiter den ganzen künftigen Wert seines Produktes jetzt erhalten solle, und tun dabei, als ob das die ganz selbstverständliche und einzig mögliche Auslegung jenes Satzes wäre. Versinnlichen wir uns die Sache an einem konkreten Beispiele. Stellen wir uns vor, die Herstellung eines Gutes, z. B. einer Dampfmaschine, kostet fünf Arbeitsjahre, und der Tauschwert, den die fertige Maschine 346 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. erzielt, sei gleich 5500 fl. Stellen wir uns ferner — einstweilen von der Tatsache der Teilung des Werkes unter Mehrere abstrahierend — vor, daß ein Arbeiter allein durch die kontinuierliche Arbeit von fünf Jahren die Maschine herstelle, und fragen wir, was ihm im Sinne des Satzes, daß dem Arbeiter sein ganzes Produkt, beziehungsweise der ganze Wert seines Produktes gehören soll, als Lohn gebührt? — Die Antwort kann nicht einen Augenblick zweifelhaft sein: es gebührt ihm die ganze Dampf- maschine, beziehungsweise die ganzen 5500 fl. Aber wann? — Auch darüber kann nicht der mindeste Zweifel sein: offenbar nach Ablauf der fünf Jahre. Denn naturgemäß kann er die Dampfmaschine nicht eher empfangen, als sie existiert, einen selbstgeschaffenen Wert von 5500 fl. nicht eher in Besitz nehmen, als bis er geschaffen ist. Er wird in diesem Falle seine Entlohnung nach der Formel empfangen haben: das ganze künftige Produkt, beziehungsweise dessen ganzer künftiger Wert in einem künftigen Zeitpunkte. Aber es kommt sehr oft vor, daß der Arbeiter nicht warten kann oder will, bis sein Produkt völlig fertig gestellt ist. Unser Arbeiter wünscht z. B. schon nach Ablauf Eines Jahres eine entsprechende Teilentlohnung zu empfangen. Es fragt sich: wie wird diese dem obigen Grundsatze ent- sprechend zu bemessen sein? — Ich glaube, es wird auch dies nicht einen Augenblick zweifelhaft bleiben können: dem Arbeiter wird sein Recht geschehen, wenn er jetzt das Ganze bekommt, was er bis jetzt gearbeitet hat. Wenn er also z. B. bis jetzt einen Haufen unfertigen Erzes, Eisens oder Stahlmateriales erzeugt hat, so wird ihm sein Recht geschehen, wenn man ihm eben diesen ganzen Haufen von Erz, Eisen oder Stahl übergibt, beziehungsweise den ganzen Wert, den dieser Materialhaufen hat, und zwar natürlich jetzt hat. — Ich glaube nicht, daß irgend ein Sozialist an dieser Entscheidung etwas aussetzen könnte. Wie groß wird dieser Wert im Verhältnisse zum Wert der fertigen Dampfmaschine nun sein ? — Dies ist ein Punkt, an dem ein oberflächlicher Denker leicht irren kann. Der Arbeiter hat nämlich bis jetzt ein Fünftel der technischen Arbeit, die die Herstellung der ganzen Maschine erfordert, geleistet: folglich — ist man bei oberflächlicher Betrachtung versucht zu folgern — wird sein jetziges Produkt auch ein Fünftel des Wertes des ganzen Produktes, also einen Wert von 1100 fl. besitzen. Der Arbeiter soll also einen Jahreslohn von 1100 fl. erhalten. Dies ist falsch. 1100 fl. sind ein Fünftel des Wertes einer fertigen, gegenwärtigen Dampfmaschine. Was aber der Arbeiter bis jetzt produziert hat, ist nicht ein Fünftel einer Maschine, die schon fertig ist, sondern nur ein Fünftel einer Maschine, die erst in vier Jahren fertig sein wird. Und das ist zweierlei. Nicht nur nach einer sophistischen Wortklauberei, sondern zweierlei der Sache nach. Jenes Fünftel hat einen anderen Wert als dieses, so gewiß eine ganze gegenwärtige Maschine für die heutige Rodbertus. 347 Wertschätzung einen anderen Wert hat, als eine Maschine, die erst in vier Jahren verfügbar sein wird, so gewiß, als überhaupt gegenwärtige Güter heute einen anderen Wert haben als künftige. Daß gegenwärtige Güter in der Schätzung der Gegenwart, in der sich die Wirtschaft vollzieht, einen höheren Wert haben als künftige Güter derselben Art und Güte, ist eine der verbreitetsten und wichtigsten wirt- schaftlichen Tatsachen. Über die Gründe, denen diese Tatsache ihren Ursprung verdankt, über die vielverzweigten Modalitäten, in denen sie sich äußert, und über die ebenso vielverzweigten Konsequenzen, zu denen sie im Wirtschaftsleben hinführt, werde ich im zweiten Bande dieses Werkes eingehende Untersuchungen zu führen haben; Untersuchungen, die weder so leicht noch so einfach sein werden, als die Einfachheit des Grund- gedankens es zu verheißen scheint. Aber auch ehe ich diese eingehenden Untersuchungen durchgeführt habe, glaube ich mich auf die Tatsache, daß gegenwärtige Güter einen höheren Wert haben als gleichartige künftige, berufen zu dürfen ; denn ihre Existenz wird schon durch die roheste Empirie des Alltagslebens außer Zweifel gestellt. Man gebe 1000 Personen die Wahl, ob sie lieber heute, oder lieber in 50 Jahren ein Geschenk von 1000 fl. empfangen wollen, und es werden alle 1000 den gegenwärtigen 1000 fl. den Vorzug geben; oder man frage 1000 andere Personen, die ein Pferd brauchen und für ein gutes Tier 200 fl. zu geben geneigt wären, wie viel sie wohl jetzt für ein ganz gleich gutes Pferd geben würden, das sie erst in 10 oder in 50 Jahren bekommen sollen; und alle werden, wenn über- haupt eine, so eine unendlich geringere Summe nennen und damit doku- mentieren, daß die wirtschaftenden Menschen ganz allgemein gegenwärtige Güter für wertvoller erachten, als ganz gleichartige Güter der Zukunft. Es hat demnach das von unserem Arbeiter im ersten Jahre erarbeitete Fünftel einer in vier Jahren zu vollendenden Dampfmaschine nicht den ganzen Wert eines Fünftels einer schon vollendeten Maschine, sondern einen geringeren. Einen um wie viel geringeren? — Das kann ich, ohne auf störende W^eise vorzugreifen, jetzt noch nicht erklären. Es genüge hier die Bemerkung, daß dies in einem gewissen erfahrungsmäßigen Zu- sammenhange mit der Höhe des landesüblichen Zinsfußes^) und mit der Entlegenheit des Zeitpunktes steht, in dem das ganze Produkt vollendet sein wird. Setze ich den üblichen Zinsfuß mit 5 % an, so wird das Produkt des ersten Arbeitsjahres an dessen Schlüsse ungefähr 1000 fl. wert sein*). Demgemäß wird der Lohn, der dem Arbeiter nach dem Motto gebührt, daß ^) Es fällt mir natürlich nicht ein, den Zinsfuß hier als Ursache der Mindet* bewertung der zukünftigen Güter einführen zu wollen. Ich weiß ganz gut, daß Zins und Zinsfuß.nur eine Folge jener primären Erscheinung sein können. Ich will hier über- haupt nicht erklären, sondern Tatsachen schildern. -) Das Zutreffende dieses auf den ersten Blick befremdenden Ziffernansatzes wird sich sehr bald herausstellen. 348 -XII. Die Ausbeatongstheorie. 2. U.-A. Kritik. er sein ganzes Produkt, beziehungsweise dessen ganzen Wert erhalten soll, für das erste Arbeitsjahr den Betrag von 1000 fl. erreichen. Wenn jemand trotz der vorstehenden Deduktionen den Eindruck haben sollte, daß dies zu wenig sei, so gebe ich folgendes zu bedenken. Niemand wird zweifeln, daß der Arbeiter nicht verkürzt wird, wenn er nach fünf Jahren die ganze Dampfmaschine, beziehungsweise den ganzen Wert von 5500 fl. erhält. Berechnen wir, um vergleichen zu können, auch den Wert des antizipierten Teülohnes für den Zeitpunkt nach Ende des fünften Jahies. Da man 1000 fl., die man am Ende des ersten Jahres erhalten hat, bis dahin noch vier Jahre verzinslich anlegen und daher bei einem Zinsfuße von 5% um weitere 200 fl. (ohne Zinseszins) vermehren kann (eine Verwendung, die ja auch dem entlohnten Arbeiter offen steht), so sind offenbar 1000 fl. am Ende des ersten Jahres bezahlt äquivalent mit 1200 fl. am Ende des fünften. Bekommt daher der Arbeiter für ein Fünftel der technischen Arbeit nach einem Jahre 1000 fl., so ist er offenbar nach einem Maßstabe gelohnt, der nicht ungünstiger ist, als wenn er für das Ganze nach Ablauf von fünf Jahren 5500 fl. bekommen hätte. Wie aber stellen sich Rodbertus und die Sozialisten die Erfüllung des Satzes vor, daß der Arbeiter den ganzen Wert seines Produktes erhalten solle ? — Sie wollen, daß der ganze Wert, den das fertige Produkt am Ende der Arbeit haben wird, zu Lohnzahlungen verwendet, diese aber nicht erst am Schlüsse der ganzen Produktion, sondern ratenweise schon im Laufe der Arbeit flüssig gemacht werden. Man erwäge wohl, was das heißt. Das heißt für unser Beispiel, daß der Arbeiter die ganzen 5500 fl., die die fertige Dampfmaschine nach fünf Jahren wert sein wird, im Durchschnitt der Teilzahlungen schon nach 2^ Jahren empfange. Ich muß gestehen, daß ich es für absolut unmöglich halte, diese Forderung aus jener Prämisse zu begründen. Wie soU es naturgemäß und in der reinen Rechtsidee be- gründet sein, daß Jemand ein Ganzes, das er erst nach fünf Jahren ge- schaffen haben wird, schon nach 234 Jahren bekommt? Das ist so weiiig „naturgemäß", daß es im Gegenteile natürlich gar nicht durchführbar ist. Es ist selbst dann nicht ausführbar, wenn man den Arbeiter aller Fesseln des vielgeschmähten Lohnkontraktes entledigt und ihn in die denkbar günstigste Stellung des Unternehmers auf eigene Faust versetzt. Als Arbeiter-Unternehmer wird er freilich die ganzen 5500 fl. bekommen, aber nicht früher als bis sie produziert sind, d. i. nach fünf Jahren. Und wie soll das, was die Natur der Dinge dem Unternehmer selbst versagt, im Namen der reinen Rechtsidee durch den Lohnkontrakt zustande ge- bracht werden? Was die Sozialisten wollen, heißt mit den richtigen Worten bezeichnet, daß die Arbeiter vermöge des Lohnkontraktes mehr bekommen sollen, als sie erarbeitet haben, mehr als sie bekommen könnten, wenn sie Unter- nehmer auf eigene Rechnung wären, und mehr als sie dem Unternehmer, Rodbertus. 349 mit dem sie den Lohnkontrakt schließen, verschaffen. Was sie geschaffen haben und worauf sie gerechten Anspruch haben, sind 5500 fl. nach fünf Jahren. Aber 5500 fl. nach 2^4 Jahren, die man für sie beansprucht, sind mehr, sie sind, wenn der Zins auf 5% steht, ungefähr so Wel wie 6200 fl. nach fünf Jahren. Und dieses Wertverhältnis ist nicht etwa eine Folge anfechtbarer sozialer Institutionen, die den Zins geschaffen und auf 5% festgestellt hätten; sondern eine unmittelbare Folge dessen, daß unser Aller Leben in der Zeit sich abspielt, das Heute mit seinen Bedürfnissen und Sorgen vor dem Morgen kommt, und das Übermorgen vielleicht schon uns überhaupt nicht mehr sicher ist. Nicht nur die gewinnsüchtigen Kapitalisten, sondern auch jeder Arbeiter, überhaupt jeder Mensch macht diesen Wertunterschied zwischen Gegenwart und Zukunft. Wie würde der Arbeiter über Übervorteilung klagen, wenn man ihm für 10 fl. seines Wochenlohnes, die man ihm heute schuldet, 10 fl. in einem Jahre bieten wollte! Und was dem Arbeiter nicht gleichgültig ist, soll dem Unter- nehmer gleichgültig sein? Er soll 5500 nach 2|4 Jahren geben für 5500, die er in der Gestalt des fertigen Produktes erst nach 5 Jahren empfangen wird? Das ist weder gerecht noch natürlich! Was gerecht und natürlich ist, ist, ich will es nochmals gerne zugestehen, daß der Arbeiter die ganzen 5500 fl. nach fünf Jahren bekommt. Kann oder will er nicht fünf Jahre warten, so soll er noch immer den ganzen Wert seines Produktes bekommen; aber natürlich den jetzigen Wert seines jetzigen Produktes. Dieser Wert aber wird kleiner sein müssen, als die der technischen Arbeit ent- sprechende Quote des künftigen Produktwertes, weil in der Wirtschafts- welt das Gesetz herrscht, daß der jetzige Wert künftiger Güter kleiner ist als der gegenwärtiger Güter; ein Gesetz, das keiner sozialen oder staatlichen Institution, sondern unmittelbar der Natur des Menseben und der Natur der Dinge sein Dasein verdankt. — Wenn irgendwo, so dürfte an diesem Platze Weitläufigkeit entschuldbar sein, an dem die Widerlegung einer so überaus folgenschweren Lehre, wie die sozialistische Ausbeutungstheorie es ist, in Frage steht. Ich will daher auf die Gefahr hin, manchem meiner Leser langweilig zu werden, noch einen zweiten konkreten Fall vor Augen führen, der, wie ich hoffe, mir Gelegenheit bieten wird, den Fehler der Sozialisten noch überzeugender nachzuweisen. Ich habe in unserem ersten Beispiele von der Tatsache der Arbeits- teilung noch abstrahiert. Ich will jetzt die Voraussetzungen so variieren, daß sie in diesem Punkte der AVirkhchkeit des Wirtschaftslebens näher kommen. Setzen wir also voraus, daß an der Anfertigung der Maschine fünf verschiedene Arbeiter arbeitsteilig partizipieren, von denen jeder eine einjährige Arbeit beisteuert. Ein Arbeiter gewinnt etwa im Bergbau das notwendige Eisenerz, der zweite bereitet daraus Eisen, der dritte verwandelt dies in Stahl, der vierte fertigt daraus die nötigen Einzel- 350 XII- Diß Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. bestandteile und der fünfte gibt endlich diesen den nötigen Zusammen- hang und legt überhaupt die letzte Hand an das Werk. Da jeder nach- folgende Arbeiter hiebei nach der Natur der Sache sein Werk erst beginnen kann, wenn seine Vorgänge ihr vorbereitendes Werk vollendet haben, so werden die fünf Arbeitsjahre unserer Arbeiter nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander abgeleistet werden können; die Anfertigung der Maschine wird also geradeso wie im ersten Beispiele fünf Jahre dauern. Der Wert der fertigen Maschine bleibe wie bisher 5500 fl. Was wird nach dem Satze, daß der Arbeiter den ganzen Wert seines Produktes zu erhalten hat, jeder der fünf Teilnehmer für seine Leistung beanspruchen können? Suchen wir diese Frage zunächst für den Fall zu lösen, daß die Lohn- ansprüche ohne Dazwischenkunft eines fremden Unternehmers lediglich zwischen den Arbeitern untereinander zu schlichten, beziehungsweise das erzielte Produkt einfach unter die fünf Arbeiter aufzuteilen ist. Für diesen Fall steht zunächst zweierlei fest. Erstens, daß eine Verteilung erst nach fünf Jahren geschehen kann, weil vorher nichts zur Verteilung geeignetes vorhanden ist; denn wollte man etwa schon das Erz und Eisen, das in den beiden ersten Jahren gewonnen wurde, als Belohnung an Einzelne weggeben, so würde der Rohstoff für das folgende Werk fehlen; es ist vielmehr klar, daß das in den ersten Jahren gewonnene Vorprodukt not- wendig jeder früheren Verteilung entzogen und bis zum Schlüsse in der Produktion gebunden bleiben muß. — Zweitens steht fest, daß ein Gesamtwert von 5500 fl. unter die fünf Arbeiter zur Verteilung zu bringen sein wird. Nach welchem Schlüssel? Gewiß nicht, wie man auf den ersten oberflächlichen Blick leicht meinen möchte, zu gleichen Teilen. Denn darin würde eine bedeutende Begünstigung jener Arbeiter, deren Arbeit in ein späteres Stadium der Gesamtproduktion fällt, gegenüber ihren vorher tätigen Kollegen liegen. Der Arbeiter, der die Maschine vollendet, bekäme für sein Arbeitsjahr 1100 fl. unmittelbar nach dem Schlüsse desselben; jener, der die Einzel- bestandteile der Maschine erzeugt, bekäme dieselbe Summe, müßte aber noch ein ganzes Jahr nach Vollendung seines Arbeits] ahres auf seine Be- lohnung warten; jener Arbeiter vollends, der das Erz gewinnt, bekäme den gleichen Lohn erst vier Jahre nachdem er seinen Arbeitsteil geleistet. Da eine solche Verzögerung den Beteiligten unmöglich gleichgültig sein könnte, so würde jeder die Schlußarbeit, die keinen Aufschub im Lohne zu erleiden hat, und niemand die vorbereitenden Arbeiten übernehmen wollen. Um für diese doch Übernehmer zu finden, werden die Arbeiter der Schlußstadien gezwungen sein, ihren das Werk vorbereitenden Kollegen zum Ersatz für die Verzögerung einen höheren Anteil am schließlichen Produktwerte zu bewilligen. Die Höhe desselben würde teils durch die Dauer des Aufschubes, teils durch die Größe der Differenz bestimmt Rodbertus. 351 werden, die nach den wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen unserer kleinen Gesellschaft zwischen der Wertschätzung gegenwärtiger und künftiger Güter besteht. Beträgt diese Differenz z. B. 5 %, so würden die Anteile der fünf Arbeiter sich folgendermaßen abstufen: Der zuerst tätige Arbeiter, der auf seine Entlohnung noch vier Jahre nach Schluß seines Arbeitsjahres zu warten hat, bekommt am Ende des fünften Jahres 1200 der zweite, der drei Jahre warten muß 1150 der dritte, der zwei Jahre wartet 1100 der vierte, der ein Jahr wartet 1050 der letzte, der seinen Lohn unmittelbar nach Abschluß seiner Arbeit bekommt 1000 Summe 5500 Daß alle Arbeiter den gleichen Betrag von 1100 fl. erhalten, wäre nur unter der Voraussetzung denkbar, daß die Zeitdifferenz ihnen völlig gleichgültig ist, und daß sie sich mit 1100 fl., die sie drei bis vier Jahre später bekommen, ganz ebenso gut belohnt finden, als wenn sie die 1100 fl. unmittelbar nach Beendigung ihrer Arbeit erhalten hätten. Ich brauche aber kaum hervorzuheben, daß diese Voraussetzung nie zutrifft und nie zutreffen kann. Daß sie aber je 1100 fl. unmittelbar nach Ableistung ihrer Arbeit erhalten, ist, wenn nicht ein dritter dazwischen tritt, über- haupt nicht möglich. Es ist wohl der Mühe wert, im Vorbeigehen auf einen Umstand be- sonders aufmerksam zu machen. Ich glaube nicht, daß irgend jemand das obige Verteüungsschema ungerecht finden wird, und vollends kann, da die Arbeiter ihr eigenes Produkt nur unter einander teilen, voi: einer durch Kapitalisten-Unternehmer begangenen Ungerechtigkeit nicht die Rede sein: und doch bekommt jener Arbeiter, der das vorletzte Fünftel der Arbeit geleistet hat, nicht ein volles Fünftel des schließlichen Produkt- wertes, sondern nur 1050 fl., und der letzte Arbeiter erhält vollends nur 1000 fl. - Nehmen wir nunmehr an, wie es ja in der Wirklichkeit gewöhnlich vorkommt, daß die Arbeiter auf ihre Entlohnung bis zum gänzlichen Abschlüsse der Maschinenproduktion nicht warten können oder wollen, und daß sie mit einem Unternehmer in Unterhandlung treten, um von ihm nach Ableistung ihrer Arbeit einen Lohn zu erlangen, wogegen er Eigentümer des schließlichen Produktes werden soll. Nehmen wir weiter an, daß dieser Unternehmer ein vollkommen gerechter und uneigennütziger Mann ist, der weit entfernt ist, eine etwaige Zwangslage der Arbeiter zu einer wucherischen Herabdrückung ihrer Lohnansprüche zu benützen, und fragen wir, zu welchen Bedingungen der Lohnkontrakt unter solchen Umständen abgeschlossen werden wird? 352 XII. Die Ausbeutungsüieorie. 2. U.-A. Kritik. Die Frage wird ziemlich leicht zu beantworten sein. Offenbar werden die Arbeiter vollkommen gerecht behandelt werden, wenn ihnen der Unternehmer dasselbe als Lohn bietet, was sie im Falle der Produktion auf eigene Rechnung als Verteilungsquote erhalten hätten. Dieser Satz gibt uns einen festen Anhaltspunkt zunächst für einen Arbeiter, nämlich für den letzten. Dieser hätte sonst 1000 fl. unmittelbar nach Ableistung seiner Arbeit erhalten, diese wird ihm also, um vollkommen gerecht zu sein, der Unternehmer auch jetzt bieten müssen. Für die übrigen Arbeiter gibt der obige Satz keinen unmittelbaren Anhaltspunkt. Denn da der Zeitpunkt der Entlohnung jetzt ein anderer ist, als er im Verteilungsfalle gewesen wäre, können auch die Summen des letzteren nicht unmittelbar maßgebend sein. Aber wir haben einen anderen festen Anhaltspunkt. Da nämlich alle fünf Arbeiter zum Zustandekommen des Werkes gleich viel geleistet haben, gebührt ihnen gerechter Weise der gleiche Lohn ; und dieser wird sich jetzt, wo jeder Arbeiter unmittelbar nach Ableistung seiner Arbeit entlohnt wird, auch in einer gleichen Summe ausdrücken. Es werden also gerechter Weise alle fünf Arbeiter am Ende ihres Arbeitsjahres je 1000 fl. bekommen. Wer etwa meinen möchte, daß das zu wenig sei, den verweise ich auf das folgende einfache Rechenexempel, das dartun wird, daß die Arbeiter so ganz denselben Wert empfangen, den sie bei der — unzweifelhaft ge- rechten — Verteilung des ganzen Produktes unter sich allein empfangen hätten. Der Arbeiter Nr. 5 erhält im Verteilungsfalle 1000 fl, unmittelbar am Ende des Arbeitsjahres, im Falle des Lohnkontraktes dieselbe Summe im selben Zeitpunkte. Der Arbeiter Nr. 4 erhält im Verteilungsfalle 1050 fl. ein Jahr nach Schluß des Arbeitsjahres, im Falle des Lohnkontraktes 1000 fl. unmittelbar nach Schluß desselben; läßt er durch ein Jahr diese Summe verzinslich stehen, so kommt er genau in dieselbe Lage, in die er im Verteilungsfalle gekommen wäre, er hat 1050 fl. ein Jahr nach Vollendung seiner Arbeit. Der Arbeiter Nr. 3 erhält im Verteilungsfalle 1100 fl. zwei Jahre nach Schluß seiner Arbeit, im Lohnkontrakt 1000 fl. sofort, die, verzinslich angelegt, bis zu jenem Zeitpunkte auf dieselbe Summe von 1100 fl. anwachsen. Und so äquiparieren endlich die 1000 fl, die der 1. und 2. Arbeiter erhalten, mit Zurechnung der Zwischenzinsen vollkommen den 1200 und 1150 fl, die dieselben im Verteüungsfalle vier, beziehungsweise drei Jahre nach Vollendung ihrer Arbeit erhalten hätten. Äquipariert aber jeder einzelne TeiUohn der entsprechenden Verteilungsquote, so muß natürlich auch die Summe der Teülöhne der Summe aller Verteilungs- quoten äquiparieren: die Summe von 5000 fl, die der Unternehmer den Arbeitern unmittelbar nach Leistung ihrer Arbeit zahlt, ist vollständig gleichwertig den 5500 fl, die im anderen Falle am Ende des fünften Jahres unter die Arbeiter hätten verteilt werden können^). ^) Stolzmann (Soziale Kategorie S. 305 ff.) hat diesem meinem Illustrations Rodbertus. 353 Eine höhere Entlohnung, z. B. eine Entlohnung des Arbeitsjahres mit je 1100 fl., wäre nur denkbar, wenn entweder das, was den Arbeitern nicht gleichgültig ist, nämlich die Zeitdifferenz, dem Unternehmer völlig gleichgültig wäre, oder wenn der Unternehmer den Arbeitern mit der Wert- differenz zwischen gegenwärtigen und künftigen 1100 fl. ein Geschenk machen woUte. Von privaten Unternehmern ist, wenigstens als Regel, weder das eine noch das andere zu erwarten, ohne daß man ihnen deshalb den mindesten Vorwurf, und am wenigsten den der Ungerechtigkeit, Aus- beutung oder Beraubung machen könnte. Nur eine Person gibt es, von beispiel einige, wie ich glaube, ziemlich nebensächliche, und überdies mißverständliche Einwendungen entgegengesetzt. Von der irrigen Meinung ausgehend, ich hätte in meiner Arbeitergruppe eine Art Urtypus, einen kleinen Staat mit vollständiger, in sich ab- geschlossener Wirtschaftsführung darstellen woUen oder sollen, wirft er ein, daß auch der letzte Arbeiter „mit der fertigen Maschine noch nichts anfangen, keinen Tag seines Lebens damit fristen könnte" (307), sowie, daß die von mir angenommene Entlohnung des ersten Arbeiters mit 1200 fl. am Ende des fünften Jahres ein ungenügender Ersatz für sein fünfjähriges Warten sei; vielmehr müsse dieser, ,,wenn er die lange Zeit nicht verhungern will", während er „die Hände nutzlos und müßig in den Schoß zu legen gezwungen wird", den Lohn für volle fünf Jahre mit 5000 fl. erhalten (308). — Ich brauche demgegenüber nur festzustellen, daß es eben ganz und gar nicht meine Absicht war, das Beispiel eines geschlossenen Urtypus zu geben, sondern daß ich eine mitten im modernen Wirtschaftsleben stehende, lediglich zu einem einzelnen Produktions- geschäft, nämlich dem Bau einer Maschine eingegangene Sozietät von fünf Personen schildern wollte und geschildert habe. Ich verweise auf den klaren Wortlaut der von mir auf Seite 345 entwickelten Voraussetzungen meines Beispieles, in dem unter anderem vom , .Tauschwert" der fertigen Maschine die Rede ist, und von nichts anderem als von der Arbeitsteilung — und zwar auch von dieser bloß vorläufig und bloß in Bezug auf die Herstellung der Maschine — abstrahiert wird. Es ist daher auch von einem Zwang der Teilnehmer an jener produktiven Operation, während derjenigen Zeit, als sie von derselben nicht in Anspruch genommen werden, müßig zu gehen, keine Rede. Und wenn Stolzmann weiter auf S. 313 mir einen „argen error dupK" vorwirft, wenn ich es als möglich voraussetze, daß etwa auch einer der Arbeiter seinen früher erhaltenen Lohnanteil bis zum Ablauf des fünften Jahres verzinslich anlegen könne, indem ich hiemit „die Lohnarbeiter neben den Unternehmern zu Kapitalisten stemple", so habe ich zu bemerken, daß ich durch kein Wort meines Beispieles ausgeschlossen habe, daß der eine oder der andere der Teilhaber auch selbst Mittel hat, die ihm das Warten gestatten würden. Im Gegenteile habe ich sowohl auf S. 346 als auf S. 351 (392 u. 399 der I. Aufl.) ausdrücklich alternativ vorausgesetzt, daß die Arbeiter nicht warten „können oder wollen", welche Stellen Stolzmann auf S. 307 und 309 aus einem offenbaren Versehen unrichtig mit „können und wollen" zitiert. — Daß ich endlich mit meinem Beispiel überhaupt nicht das Zinsphänomen selbst erklären, sondern nur einen bestimmten Gedankengang an der Hand gegebener Tatsachen illustrieren wollte, habe ich schon oben in der (schon in der I. Aufl. enthaltenen) Note 1 auf S. 347 ausdrücklich angemerkt. — Eine interessante und tiefer in die Sache dringende Ein- wendung wurde von Dr. Robert Meyer in seinem trefflichen Werke über das „Wesen des Einkommens" (Berlin 1887, S. 270ff.) erhoben. Da die Aufklärung seines, gleich- falls mißverständlichen Bedenkens nicht ohne Vorausnahme mehrfacher Details meiner positiven Kapitals theorie möglich wäre, muß die Erörterung desselben dem IT. Bande dieses Werkes vorbehalten bleiben; siehe den Exkurs VI zu dessen vierter Auflage. Böhm-Bawerk. Kapitalzins. 4. Aufl. 23 354 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. der die Arbeiter ein solches Benehmen als Regel erwarten könnten, den Staat. Denn der Staat mi\ß einerseits als Wesen von ewiger Dauer auf die zeitliche Differenz in der Hingabe und Erstattung von Gütern nicht not- wendig so viel Rücksicht nehmen als die kurzlebenden Individuen; und der Staat, dessen Endzweck die Wohlfahrt der Gesamtheit seiner Glieder ist, kann andererseits, wenn es sich um die Wohlfahrt einer großen Zahl der Glieder handelt, den strengen Standpunkt von Leistung und Gegen- leistung verlassen und statt zu feilschen schenken. So wäre es denn aller- dings denkbar, daß der Staat, freilich nur der Staat, als riesiger Pro- duktionsunternehmer auftretend, den Arbeitern den vollen künftigen Wert ihres künftigen Produktes schon jetzt d. i. unmittelbar nach Leistung ihrer Arbeit als Lohn darbieten könnte. Ob der Staat dies tun soll — womit die soziale Frage praktisch im Sinne des Sozialismus gelöst wäre — ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, auf die an dieser Stelle einzugehen nicht in meiner Absicht liegen kann. Aber das will ich nochmals mit allem Nachdruck wiederholen: wenn der Sozialistenstaat den Arbeitern den ganzen künftigen Wert ihres Produktes schon jetzt als I^ohn auszahlt, so ist das nicht eine Erfüllung, sondern eine aus sozialpolitischen Gründen eingeschlagene Abweichung von dem Grundsatze, daß der Arbeiter den Wert seines Produktes als Lohn empfangen soll; so ist das nicht die Wieder- herstellung eines Zustandes. der an sich natürlich oder der reinen Rechts- idee entsprechend und derzeit nur durch die Ausbeutungssucht der Kapitalisten gestört wäre, sondern ein künstlicher Eingriff, um etwas im natürlichen Laufe der Dinge nicht Durchführbares dennoch möglich zu machen, und zwar möglich zu machen durch ein verhülltes perpetuier- liches Geschenk de*s großmütigen Gemeinwesens Staat an seine ärmeren Glieder. Und nun eine kurze Nutzanwendung. Man erkennt leicht, daß jener Zustand der Entlohnung, den ich zuletzt in unserem Beispiele geschildert habe, derselbe ist, der in unserer Wirtschafts weit tatsächlich platzgreift. Auch hier wird nicht der volle Wert des Arbeitsproduktes, sondern nur eine geringere Summe, aber in einem früheren Zeitpunkte, als Lohn verteilt. Soferne nun die ratenweise verteilte Gesamtsumme des Lohnes hinter dem Endwerte des Schlußproduktes um nicht mehr zurück bleibt, als nötig ist, um die herrschende Differenz in der Wertschätzung zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern auszugleichen, mit andern Worten, so lange die Lohnsumme hinter dem schließlichen Produktwerte um nicht mehr als um den Betrag der landesüblichen Zinsen zurückbleibt, werden die Arbeiter in ihrem Ansprüche auf den ganzen Wert ihres Produktes nicht verkürzt; sie erhalten ihr ganzes Produkt nach der Bewertung des- jenigen Zeitpunktes, in dem sie ihren Lohn empfangen. Nur insoferne der Gesamtlohn um mehr als den Betrag der landesüblichen Zinsen hinter Rodbertus. 355 dem schließlichen Produktwerte zurückbliebe, kann darin unter Um- ständen eine wirkliche Ausbeutung der Arbeiter liegen i). Wenden wir uns zu Rodbertus zurück. Der zweite entscheidende Fehler, den ich ihm in den letzten Ausführungen vorgeworfen habe, war, daß er den zugestandenen Satz, der Arbeiter solle den ganzen Wert seines Produktes erhalten, unberechtigter und unlogischer Weise dahin inter- pretiert, daß der Arbeiter den ganzen Wert, den sein vollendetes Produkt einst haben wird, schon jetzt erhalten solle. Forschen wir nach, auf welchem Wege Rodbertus in diesen Irrtum geriet, so zeigt sich, daß seine Quelle ein anderer Irrtum war, der dritte wichtige Irrtum, den ich an seiner Ausbeutungstheorie auszustellen habe. Er geht nämlich von der Voraussetzung aus, daß der Wert der Güter sich ausschließlich nach der Menge der Arbeit richtet, die ihre Herstellung gekostet hat. Wäre dies richtig, so würde freilich das Vorprodukt, an dem die Arbeit eines Jahres haftet, schon jetzt ein volles Fünftel des Wertes besitzen müssen, den das vollendete Produkt, an dem fünf Arbeits- jahre haften, besitzen wird; und alsdann wäre auch der Anspruch, daß der Arbeiter schon jetzt ein volles Fünftel jenes Wertes als Lohn erhalten solle, berechtigt. Allein jene Voraussetzung ist in der Art, wie sie Rodbertus aufstellt, unzweifelhaft falsch. Um dies nachzuweisen, brauche ich gar nicht das berühmte Wertgesetz Ricardos, daß die Arbeit Quelle und Maßstab alles Wertes sei, in seiner prinzipiellen Geltung anzuzweifeln; ich habe bloß nötig auf die Existenz einer durchgreifenden Ausnahme von diesem Gesetze aufmerksam zu machen, die von Ricardo selbst gewissenhaft verzeichnet und in einem besonderen Abschnitte ausführlich besprochen, von Rodbertus deigegen merkwürdigerweise völlig außer Acht gelassen *) Genauere Ausführungen hierüber behalte ich dem II. Bande vor. Um mich gegen Mißverständnisse und namentlich gegen die Zumutung, als ob ich jeden die landes- üblichen Zinsen übersteigenden Unternehmergewinn für einen „Beutegewinn" hielte, zu schützen, will ich nur folgende kurze Bemerkung einschalten. In der Gresamtdifferenz zwischen Produktwert und ausgezahlten Löhnen, die dem Unternehmer zufällt, können möglicherweise vier von einander wesentlich verschiedene Bestandteile vorkommen. 1. Eine Risikoprämie für die Gefahr des Mißlingens der Produktion. Diese wird, richtig ausgemessen, im Durchschnitt der Jahre zur Deckung tatsächlicher Verluste aufgebraucht werden, und involviert natürlich keine Verkürzung der Arbeiter. 2. Eine Entlohnung für die eigene Arbeit des Unternehmers, die natürlich gleichfalls unanstößig ist und die unter Umständen, z. B. bei Ausnützung einer neuen Erfindung des Unternehmers, wird hoch ausgemessen werden dürfen, ohne daß darin eine Ungerechtigkeit gegen die Arbeiter läge. 3. Die im Texte besprochene Vergütung für die Zeitdifferenz zwischen Lohnzahlung und Realisierung des Schlußproduktes geleistet durch die landesüblichen Zinsen; endlich 4. kann der Unternehmer möglicherweise einen Gewinnzuschuß noch dadurch erlangen, daß er die Notlage der Arbeiter zu einer noch weitergehenden wuche- rischen Erniedrigung ihres Lohnes ausnützt. Unter diesen vier Bestandteilen involviert nur der letzte eine Verletzung des Satzes, daß der Arbeiter den ganzen Wert seines Produktes erhalten soll. 23* 356 XII. Die Ausbeutongstheorie. 2. U.-A. Kritik. wird. Es ist dies die Tatsache, daß von zwei Gütern, die zu ihrer Her- stellung gleichviel Arbeit gekostet haben, dasjenige einen höheren Tausch- wert erlangt, dessen Vollendung den stärkeren Vorschuß an vorbereitender Arbeit oder den längeren Zeitraum beansprucht. Ricardo nimmt von dieser Tatsache in eigentümlicher Form Notiz. Er führt aus (Sect. IV des I. Kapitels seiner Principles), daß „das Prinzip, daß die Menge der auf die Produktion von Gütern verwendeten Arbeit deren relativen Wert bestimme, eine erhebliche Modifikation erleide durch die Anwendung von Maschinen und anderem fixen und dauerhaften Kapital"; ferner auch (Sect. V) „durch die ungleiche Dauer des Kapitales und durch die ungleiche Geschwindigkeit, mit welcher es seinem Herrn wieder eingeht". Güter nämlich, in deren Produktion viel fixes Kapital, oder fixes Kapital von langer Dauer angewendet wird, oder die Umschlagsperiode, nach welcher das flüssige Kapital dem Unternehmer jedesmal zurückerstattet wird, eine längere ist, haben einen höheren Tauschwert, als Güter, die gleich viel Arbeit gekostet haben, bei denen aber die genannten Umstände nicht oder in geringerem Grade zutreffen, und zwar einen Tauschwert, der höher ist um den Betrag des Kapitalgewinnes, den der Unternehmer aufrechnet. DaJ3 diese von Ricardo beobachtete Ausnahme vom Arbeitswert- gesetze wirklich besteht, dürfte auch von den eifrigsten Verfechtern jenes Gesetzes nicht in Zweifel gezogen werden; ebensowenig, daß unter Um- ständen die Rücksicht auf den zeitlichen Aufschub sogar einen größeren Einfluß auf den Wert von Gütern nehmen kann, als die Rücksicht auf das Quantum der Kostenarbeit. Ich erinnere z. B. an den Wert eines alten durch Dezennien abgelagerten Weines, oder eines hundertjährigen Stammes im Walde. Mit dieser Ausnahme hat es aber noch eine ganz besondere Bewandtnis. Man braucht nämlich gar nicht sonderlich scharfsichtig zu sein, um zu bemerken, daß in ihr eigentlich die Hauptsache des ursprünglichen Kapital- zinses steckt. Denn das Plus von Tauschwert, das jene Güter erlangen, deren Erzeugung einen Vorschuß an vorgetaner Arbeit erfordert, ist es ja eben, was bei der Austeilung des Prodüktwertes als Kapitalgewinn an den Händen des Unternehmer- Kapitalisten haften bleibt^). Existierte ^) Anderer Meinung scheint Natoli zu sein, der diese Worte meines Textes mit einer polemischen Glosse begleitet (II principio del valore e la misura quantitativa del valore, 1906, S. 114, Note 2) und auch sonst wiederholt mit Nachdruck darauf besteht, daß die ,,Ricardianischen Differenzen" im Tauschwert von Produkten, die in ungleich langer Produktionsperiode produziert werden, eine ganz andere Tatsache seien, als die im „kapitalistischen Tausch" zwischen Kapitalisten und Arbeitern zum Vorschein kommenden Differenzen im Wert gegenwärtiger und künftiger Güter, aus welch letz- teren Differenzen allein der Zins entspringe (z. B S. 224ff.); es sei mein Fehler, daß ich diese beiden verschiedenen Tatsachen mit einander vermische oder „konfundiere" (z. B. S. 279, 314). Ich glaube indes bei meiner im Texte entwickelten Anschauung Rodbertus. 357 jene Wertdifferenz nicht, so würde auch der ursprüngliche Kapitalzins nicht existieren; jene Wertdifferenz ermöglicht ihn, enthält ihn, ist identisch mit ihm. Nichts ist leichter zu veranschaulichen als dies — falls für eine so offen am Tage liegende Tatsache ein Nachweis überhaupt noch gefordert wird. Gesetzt, drei Güter erfordern zu ihrer Herstellung je ein Jahr Arbeit, aber eine verschiedene Dauer des Vorschusses dieser Arbeit; das erste nur einen einjährigen, das zweite einen zehnjährigen, das dritte einen zwanzigjährigen Vorschuß des Arbeitsjahres. Unter diesen Umständen wird und muß der Tauschwert des ersten Gutes ausreichen, um den Lohn für ein Arbeitsjahr und darüber noch die einjährige Verzinsung des Arbeits- vorschusses zu bestreiten. Es liegt aber auf der Hand, daß der gleiche Tauschwert nicht ausreichen kann, um ebenfalls den Lohn für ein Arbeits- jahr, und daneben noch eine zehn- oder zwanzigjährige Verzinsung des gleichen Arbeitsvorschusses zu bestreiten. Die letztere kann nur ge- leistet werden, wenn und weil der Tauschwert des zweiten und dritten Gutes entsprechend höher ist als der des ersten Gutes, obschon alle drei gleich viel Arbeit gekostet haben; und die Tauschwertdifferenz ist er- sichtlich die Quelle, aus der der zehn- und zwanzigjährige Kapitalzins fließt und fließen kann. So kommt also jener Ausnahme vom Arbeitswertgesetz keine geringere Bedeutung zu, als daß sie mit dem Hauptfalle des ursprünglichen Kapital- zinses identisch ist. Wer diesen erklären will, muß in erster Linie sie erklären: ohne Erklärung jener Ausnahme keine Erklärung des Zins- problems. Wenn nun in Abhandlungen, die gerade den Kapitalzins zu ihrem Objekte haben, dennoch diese Ausnahme ignoriert, um nicht zu sagen abgeleugnet wird, so liegt hierin ein Versehen, wie es gröber gar nicht gedacht werden kann. Denn jene Ausnahme ignorieren hieß in Rod- bertus' Falle nichts anderes, als den Hauptteil dessen ignorieren, was er erklären sollte. Man kann sein Versehen auch nicht damit entschuldigen, daß Rod- bertus nicht beabsichtigt habe, eine im wirklichen Leben geltende Regel, sondern nur eine hypothetische Annahme aufzustellen, deren er sieh bediente, um seine abstrakten Untersuchungen leichter und korrekter durchführen zu können. Allerdings kleidet Rodbertus den Satz, daß der Wert aller Güter sich nach der Kostenarbeit bestimme, an einigen Stellen um so sicherer verharren zu können, als Natou selbst zuzugestehen gezwungen ist, daß die beiden Tatsachen, gegen deren ,, Vermischung" er protestiert, sich ,,an eine analoge und sogar identische Ursache anknüpfen" (221), ja daß es sich dabei um Er- scheinungen handelt, die geradezu selbst eine „identische Natur" besitzen (241). Natolis Versuch, eine Trennungslinie dort zu ziehen, wo in der Natur der Sache keine besteht, scheint mir nur der Reflex eines anderen, wohl ebenso vergeblichen Versuches zu sein, überwiegend richtige, aus der Grenznutzentheorie und der „Agiotheorie" geschöpfte Erkenntnisse auf das Prokrustesbett der Arbeitswerttheorie zu spannen- 358 XII- I^'c Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. seiner Schriften in die Gestalt einer bloßen Voraussetzung^). Allein erstlich fehlt es auch nicht an Stellen, in denen Rodbertus die Überzeugung kundgibt, daß seine Wertregel auch inr tatsächlichen Wirtschaftsleben gilt 2); und andererseits darf man auch bloß voraussetzungsweise nicht alles annehmen, was man will. Auch in einer nur hypothetischen Voraus- setzung darf man nämlich doch nur von solchen Umständen der Wirklich- keit abstrahieren, die für die zu untersuchende Frage irrelevant sind. Was soll man aber dazu sagen, wenn an der Spitze einer theoretischen Untersuchung über den Kapitalzins von der Existenz des wichtigsten Hauptfalles des Kapitalzinses abstrahiert wird?! wenn der beste Teil dessen, was erklärt werden soll, „voraussetzungsweise" wegeskamotiert wird ? ! ! Rodbertus hat freilich Recht: wenn man ein Prinzip wie das der Grundrente oder des Kapitalzinses ermitteln will, so darf man „den Wert nicht auf- und abtanzen lassen"^), man muß die Geltung einer festen Wertregel supponieren. Aber ist die Tatsache, daß Güter mit größerer Zeitdifferenz zwischen Arbeitsaufwand und Vollendung caeteris paribus einen höheren Wert haben, nicht auch eine feste Wertregel? Und ist diese Wertregel für die Erscheinung des Kapitaizinses nicht von funda- mentaler Bedeutung? Und doch soll von ihr abstrahiert werden wie von einer regellosen Zufälligkeit der Marktverhältnisse?!*) 1) z. B. Soziale Frage S. 44, 107. =) Soziale Frage S. 113, 147; Erklärung und Abhilfe I, S. 123. An letzterer Stelle sagt Rodbertus: ,,wenn der Wert des landwirtschaftlichen und des Fabrikations- produktes sich nach der auf ihnen haftenden Arbeit reguliert, was im großen und ganzen auch in einem freien Verkehr immer geschieht" etc. 3) Soziale Frage S. 111 Anm. *) Die obigen Ausführungen waren niedergeschrieben, ehe Rodbertus' nach- gelassene Schrift über das „Kapital" (1884) veröffentlicht wurde. In letzterer nimmt Rodbertus zu unserer Frage eine äußerst seltsame Haltung ein, die eher zu einer weiteren Verschärfung, als zu einer Milderung der obigen Kritik auffordert. Rodbertus betont nämlich jetzt zwar lebhaft, daß das Arbeitswertgesetz kein exaktes, sondern ein bloß annäherndes Gravitationsgesetz ist (S. 6ff.); auch gesteht er jetzt ausdrücklich zu, daß wegen der Kapitalgewinnforderung der Unternehmer eine ständige Abweichung des faktischen Wertes der Güter von dem nach Arbeit bemessenen Werte stattfindet (S. llff.). Allein er gibt diesem Zugeständnisse einen viel zu geringen Umfang, indem er annimmt, daß jene Abweichung nur im Verhältnisse der verschiedenen Stadien der Produktion eines und desselben Gutes zu einander, nicht aber auch ,,im Ganzen aller Produktionsstufen" eintritt. Wenn nämlich die Herstellung eines Gutes in mehrere Produktionsabschnitte zerfällt, von denen jeder zu einem besonderen Gewerbe ent- wickelt ist, so kann nach Rodbertus der Wert des , .besonderen Produktes", das in jedem einzelnen Abschnitte geschaffen wird, mit der in ihm aufgewendeten Arbeits- menge deshalb nicht im genauen Einklang bleiben, weil die Unternehmer der späteren Produktionsstadien eine größere Auslage für Material, daher einen größeren Kapital- aufwand zu leisten, und eben darum auch einen höheren Kapitalgewinn zu berechnen haben, welcher nur in einem relativ höheren Werte des bezüglichen Produktes seine Deckung finden kann. So richtig diese Auffassung ist, so klar ist es, daß sie nicht weit Rodbertus. 359 Die Folgen der seltsamen Abstraktion sind denn auch nicht aus- geblieben. Eine erste Folge habe ich schon berührt: indem Rodbertus den Einfluß der Zeit auf den Produktwert übersah, konnte und mußte er in den Irrtum fallen, den Anspruch des Arbeiters auf den ganzen gegen- wärtigen Wert seines Produktes mit dem auf den künftigen Wert desselben zu verwechseln. Mnige andere Konsequenzen werden wir sofort kennen lernen. — Ein vierter Vorwurf, den ich gegen Rodbertus erhebe, ist, daß seine Lehre in wichtigen Punkten sich selbst widerspricht. Rodbertus' ganze Grundrententheorie basiert auf dem wiederholt und nachdrücklich ausgesprochenen Satze, daß die absolute Menge von „Rente", die in einer Produktion zu gewinnen ist, nicht von der Größe des angewandten Kapitales, sondern ausschließlich von der Menge der in der betreffenden Produktion hinzugefügten Arbeit abhängt. Gesetzt, in einer bestimmten gewerblichen Produktion, z. B. in einem Schuhmacher- gewerbe, werden zehn Arbeiter beschäftigt; jeder Arbeiter erzeugt in einem Jahre ein Produkt im Werte von 1000 fl. ; der notwendige Unterhalt, den er als Lohn empfängt, nimmt hievon 500 fl. in Anspruch: so wird, mag das angewendete Kapital groß oder klein sein, die vom Unternehmer zu beziehende Jahresrente 5000 fl. betragen. Beträgt das angewendete Kapital etwa 10000 fl., nämlich 5000 fl. für Arbeitslohn und 5000 fl. für Material, so wird die Rente 50% des Kapitales ausmachen. Stehen in einer anderen Produktion, z. B. in einer Goldwarenfabrik, gleichfalls zehn Arbeiter in Verwendung, so werden sie unter der Voraussetzung, daß der genug geht. Die Abweichung des faktischen Güterwertes von der verwendeten Arbeits- menge trägt sich eben durchaus nicht bloß zwischen den Vorprodukten eines Gutes untereinander zu, um sich etwa im Zuge der Produktionsstadien durch wechselseitige Kompensation wieder aufzuheben und das Endresultat aller Produktionsstufen, die fertigen Genußgüter, doch wieder dem Arbeitswertgesetze gehorchen zu lassen, sondern die Rücksicht auf die Größe und Dauer des Kapitalvorschusses drängt den Wert aller Güter endgiltig von einer genauen Harmonie mit ihrer Kostenarbeit ab. — Den strengsten Tadel aber verdient es, daß Rodbertus seiner eigenen Einräumung zum Trotz noch immer dabei verharrt, das Gesetz der Verteilung aller Güter in Lohn und Rente unter der theoretischen Hjrpothese zu entwickeln, daß alle Güter den ,,normalen'' d. i. einen ihrer Kostenarbeit entsprechenden Wert besitzen. Er glaubt dies tun zu dürfen, weil der normale Wert „in Bezug auf die Ableitung sowohl der Rente überhaupt, wie der Grundrente und Kapitalrente besonders, der indifferenteste sei. Er allein erschleiche nichts von dem, was erst aus ihm erklärt werden soll, wie es doch jeder Wert tut, in den man von vornherein schon einen Bestandteil für die Renten mit hineinnimmt." (S. 23.) Rodbertus täuscht sich hier gröblich. Er „er- schleicht" geradeso ungebührlich als nur irgend einer seiner Gegner erschlichen haben kann; nur in umgekehrter Richtung. Während seine Gegner durch ihre Voraus- setzungen die Existenz des Kapitalzinses erschlichen haben, erschleicht Rodbertus selbst seine Nichtexistenz, indem er mit der ständigen Abweichung vom ,, Normal- werte", die dem ursprünglichen Kapitalzinse seinen Ursprung und seine Nahrung gibt, den Hauptfall des Zinsphänomens selbst hinweg abstrahiert. 360 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Wert der Produkte sich nach der Menge der an ihnen haftenden Arbeit richtet, gleichfalls ein zusätzliches Jahresprodukt von je 1000 fl. erzeugen, wovon die Hälfte ihnen als Lohn, die andere Hälfte dem Unternehmer als Rente zufällt. Da aber hier das Material Gold einen bedeutenden höheren Kapitalwert repräsentiert als das Leder des Schuhmachers, so wird sich in diesem Beispiele die Gesamtrente von 5000 fl. auf ein weit größeres Geschäftskapital repartieren; nehmen wir an, daß das letztere sich auf 200000 fl, 5000 fl. für Löhne und 195000 fl. für das Materiale, beläuft, so wird die Rente von 5000 fl. nur eine 2^perzentige Verzinsung des Geschäftskapitales ergeben. — Beide Beispiele sind durchaus im Sinne der RoDBERTUsschen Theorie durchgeführt. Da fast in jeder „Fabrikation" ein anderes Verhältnis zwischen der Zahl der (unmittelbar und mittelbar) beschäftigten Arbeiter und der Größe des angewendeten Geschäftskapitale^ besteht, so müßte konsequent auch fast in jeder Fabrikation das Geschäftskapital sich nach einem anderen Zinsfuße verzinsen, innerhalb des weitesten Spielraumes. Daß dies im Leben wirklich der Fall sei, wagt nun Rodbertus selbst nicht zu be- haupten; sondern er setzt in einer merkwürdigen Stelle seiner Grund- rententheorie voraus, daß sich vermöge der Konkurrenz der Kapitalien auf dem ganzen Gebiete der Fabrikation ein gleicher Gewinnsatz ein- bürgern werde. Ich will die Stelle im Wortlaute vorführen. Nachdem Rodbertus bemerkt hat, daß man die in der Fabrikation entfallende Rente, da hier ausschließlich Kapitalvermögen in Verwendung steht, ganz als Kapitalgewinn ansieht, fährt er fort: „Es ist damit auch ferner ein Kapitalgewinnsatz gegeben, welcher auf Gleichstellung der Kapitalgewinne wirken wird und nach welchem deshalb auch auf das zur Landwirtschaft nötige Kapital der Kapital- gewinn von dem auf das Rohprodukt fallenden Teil der Rente berechnet werden muß. Denn wenn es infolge des überall vorgetretenen Tausch- wertes jetzt einen gleichnamigen Maßstab gibt, um das Verhältnis des Ertrages zum Vermögen auszudrücken, so dient derselbe auch bei dem auf das Fabrikationsprodukt fallenden Teil der Rente dazu, das Ver- hältnis des Gewinnes zum Kapitale auszudrücken; mit anderen Worten, man wird sagen können, daß der Gewinn in einem Gewerbe x Prozent des aufgewendeten Kapitales beträgt. Dieser Kapitalgewinnsatz wird dann ein Richtmaß zur Gleichstellung der Kapitalgewinne abgeben. In welchen Gewerben dieser Kapitalgewinnsatz höhere Ge- winne anzeigt, wird die Konkurrenz vermehrte Anlage vom Kapitalvermögen veranlassen und dadurch ein allgemeines Streben zur Gleichstellung der Gewinne verursachen. Es wird deshalb auch niemand Kapital anlegen, wo er nicht nach diesem Kapitalgewinnsatz Gewinn zu erwarten hat"^). ») Soziale Frage S. 107f. Rodbertus. 361 Es verlohnt sich der Mühe, diese Stelle genauer ins Auge zu fassen. RoDBERTus nennt die Konkurrenz als denjenigen Faktor, der einen einheitlichen Gewinnsatz auf dem Gebiete der Fabrikation einbürgern werde. In welcher Weise dies geschehen werde, das deutet Rodbertus nur mehr ganz flüchtig an. Er setzt voraus, daß jeder höhere als der durch- schnittliche Gewinnsatz durch eine Vermehrung der Kapitalsanlage auf das Durchschnittsniveau erniedrigt, und, wie wir wohl ergänzen können, jeder niedrigere Gewinnsatz durch das Abströmen von Kapitalien auf das Durchschnittsniveau gehoben werde. Setzen wir die Betrachtung dieser Vorgänge, die Rodbertus kurz abbricht; noch ein Stück weit fort. Auf welche Weise kann eine vermehrte Kapitalanlage den abnorm hohen Gewinnsatz nivellieren? Offenbar nur dadurch, daß mit dem vergrößerten Kapital die Produktion des betreffen- den Artikels gesteigert, und durch die Vermehrung des Angebotes der Tauschwert des Produktes so weit erniedrigt wird, bis er nach Abzug der Arbeitslöhne nur mehr den üblichen Gewinnsatz als Rente übrig läßt. In unserem obigen Beispiele vom Schuhmachergewerbe hätten wir uns die Nivellierung des abnormen Gewinnsatzes von 50 % auf den Durchschnitts- satz von 5% offenbar folgendermaßen vorzustellen. Angelockt durch den hohen Gewinnsatz von 50% werden einerseits zahlreiche Personen das Schuhmachergewerbe neu ergreifen, andererseits die bisherigen Schuh- produzenten ihre Erzeugung ausdehnen. Hiedurch wird das Angebot der Schuhwaren gesteigert, hiedurch ihr Preis und Tauschwert gedrückt. Dieser Prozeß wird so lange wirken, bis der Tauschwert des von zehn Arbeitern im Schuhmachergewerbe erzeugten Jahresproduktes von 10000 fl. auf 5500 fl. gedrückt ist. Alsdann behält der Unternehmer nach Abzug des notwendigen Lohnes von 5000 fl. nur 500 fl. Rente übrig, die, auf ein Geschäftskapital von 10000 fl. repartiert, dieses zum üblichen Satze von 5 % verzinsen. An der nunmehr erreichten Stelle wird sich der Tauschwert der Schuhwaren dauernd festsetzen müssen, wenn der Gewinn im Schuh- machergewerbe nicht wieder abnorm werden soll, was dann die Wieder- holung des geschilderten Nivellierungsprozesses zur Folge hätte. Analog wird der unterdurchschnittliche Gewinnsatz von 2^% in der Goldwarenfabrikation in der Art auf 5 % gesteigert werden, daß wegen des zu geringen Gewinnes die Goldwarenfabrikation restringiert, dadurch das Angebot an Goldwaren verringert, dadurch ihr Tauschwert erhöht wird, solange, bis das Zusatzprodukt von 10 Arbeitern in der Goldwaren- branche einen Tauschwert von 15000 fl. erreicht. Jetzt bleiben nach Abschlag des notwendigen Arbeitslohnes von 5000 fl. dem Unternehmer 10000 fl. Rente, die das Geschäftskapital von 200000 fl. zum üblichen Satze von 5% verzinsen; und hiemit ist der Ruhepunkt erreicht, an dem sich der Tauschwert der Goldwaren, wie oben der Wert der Schuhwaren, dauernd festsetzen kann. 362 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A, Kritik. Daß die Nivellierung abnormer Gewinnsätze nicht ohne eine dauernde Änderung im Tauschwert der beteiligten Produkte erfolgen kann, ist ein wichtiger Punkt, den ich, ehe ich weiter schreite, noch von einer anderen Seite her völlig außer Zweifel stellen will. Bliebe nämlich der Tauschwert der Produkte unverändert, so könnte ein unzureichender Gewinnsatz nur dadurch auf das normale Niveau gehoben werden, daß das Fehlende auf Kosten des notwendigen Lohnes der Arbeiter gedeckt wird. Behielte z. B. das Produkt von zehn Arbeitern in der Goldwarenfabrikation den dem aufgewendeten Arbeitsquantum entsprechenden Wert von 10000 fl. un- verändert bei, so wäre eine Nivellierung des Gewinnsatzes auf 5%, das ist eine Erhöhung des Gewinnbetrages von 5000 auf 10000 fl, offenbar in keiner anderen Weise denkbar, als daß der Lohn von je 500 fl., den die zehn Arbeiter bisher erhielten, gänzlich eingezogen und das ganze Produkt dem Kapitalisten als Gewinn ausgefolgt würde. Ich will ganz davon ab- sehen, daß diese Annahme eine bare Unmöglichkeit in sich schließt, und will nur darauf hinweisen, daß sie gleich sehr der Erfahrung und Rod- bert us' eigener Theorie zuwider ist. Sie ist der Erfahrung zuwider: denn diese zeigt, daß die nivellierende Einschränkung des Angebotes in einem Produktionszweige nicht in einer Erniedrigung des Arbeitslohnes, sondern in einer Erhöhung der Produktpreise ihre regelmäßige Wirkung findet; und sie weiß ferner nichts davon, daß der Arbeitslohn in solchen Gewerben, die eine starke Kapitalinvestition erfordern, wesentlich niedriger stünde als in anderen Gewerben, wie es doch sein müßte, wenn das höhere Gewinn- erfordernis an ihrem Lohne statt an den Produktpreisen hereingebracht werden sollte. Jene Annahme ist aber auch der eigenen Theorie von RoDBERTüs zuwider. Denn diese setzt voraus, daß die Arbeiter auf die Dauer stets den Betrag der notwendigen Unterhaltskosten als Lohn er- halten, eine Regel, die durch die obige Art der Ausgleichung empfindlich verletzt würde. Ebenso leicht läßt sich umgekehrt zeigen, daß eine Ermäßigung über- durchschnittlicher Gewinne bei ungeändertem Produktwert nur dadurch erfolgen könnte, daß in den betreffenden Gewerben der Lohn der Arbeiter über das Normalmaß erhöht würde, was wieder in gleicher Weise wie oben der Erfahrung und der RoDBERTUsschen Theorie selbst zuwider liefe. Ich darf also wohl den Anspruch erheben, den Vorgang der Gewinn- nivellierung im Einklänge mit den Tatsachen und im Einklänge mit den von Rodbert US selbst gemachten Voraussetzungen geschildert zu haben, wenn ich annehme, daß die Nivellierung abnormer Gewinne durch eine dauernde Veränderung, Erniedrigung oder Erhöhung des Tauschwertes der betreffenden Produkte vermittelt wird. Wenn aber das Jahresprodukt von zehn Arbeitern im Schuhmacher- gewerbe einen Tauschwert von 5500 fl. und das Jahresprodukt von zehn Arbeitern in der Goldwarenfabrikation einen Tauschwert von 15000 fl. Rodbertus. 363 hat, und haben muß, wenn die von Rodbertus vorausgesetzte Gewinn- ausgleichung dauernd soll erfolgen können, wo bleibt dann die Rodbertus- sche Voraussetzung, daß sich die Produkte im Verhältnisse der daran haftenden Arbeit vertauschen; und wenn aus der Beschäftigung derselben Arbeitsmenge in dem einen Gewerbe 500, in dem andern 10000 fl an Rente resultieren, wo bleibt weiter die Lehre, daß die Menge der Rente, die in einer Produktion zu gewinnen ist, sich nicht nach der Größe des darin verwendeten Kapitales, sondern nur nach der Menge der darin geleisteten Arbeit richte? Der Widerspruch, in den sich Rodbertus hier verwickelt hat, ist ebenso sonnenklar, als er unlöslich ist. Entweder vertauschen sich die Produkte wirklich auf die Dauer im Verhältnis der daran haftenden Arbeit und richtet sich die Größe der Rente in einer Produktion wirklich nach der Menge der darin verwendeten Arbeit — dann ist eine Nivellierung der Kapitalgewinne unmöglich. Oder es findet eine Nivellierung der Kapitalgewinne statt — dann ist es unmöglich, daß die Produkte fort- fahren sich im Verhältnisse der daran haftenden Arbeit auszutauschen, und daß die Menge aufgewendeter Arbeit ausschließlich die Summe der zu gewinnenden Rente bedingt. Rodbertus hätte diesen auf der Hand liegenden Widerspruch bemerken müssen, wenn er dem Vorgange der Gewinn ausgleichung nur ein wenig wirkliches Nachdenken gewidmet hätte, statt mit der Phrase von der ausgleichenden Wirkung der Kon- kurrenz ganz an der Oberfläche stehen zu bleiben! Aber damit noch nicht genug. Auch die ganze Erklärung der Grund- rente, die bei Rodbertus so innig mit der Erklärung des Kapitalzinses verbunden ist, beruht auf einer Inkonsequenz, die so auffällig ist, daß sie dem Autor nur durch eine fast unbegreifliche Unachtsamkeit verborgen bleiben konnte. Von zwei Dingen ist nur eines möglich. Entweder findet eine Kapital- gewinnausgleichung durch die Wirkungen der Konkurrenz statt oder nicht. Gesetzt sie finde statt; was berechtigt dann Rodbertus anzunehmen, daß die Nivellierung zwar das ganze Gebiet der Fabrikation ergreifen, aber an den Grenzen der Rohproduktion wie durch einen Zauber gebannt Halt machen werde? Warum soll, wenn die Landwirtschaft einen lockenden höheren Gewinn verheißt, nicht auch ihr mehr Kapital zuströmen, mehr geurbart, intensiver gebaut, die Kultur verbessert werden, bis der Tausch- wert der Rohprodukte sich in Harmonie mit dem gewachsenen landwirt- schaftlichen Kapitale gesetzt hat, und ihm auch nur den allgemeinen Gewinnsatz abwirft? Wenn das „Gesetz", daß die Menge der Rente nicht nach der Kapitalauslage, sondern nur nach der Menge aufgewendeter Arbeit sich richtet, die Nivellierung in der Fabrikation nicht gehindert hat, wie soll es sie in der Rohproduktion hindern? Wo bleibt dann aber der ständige Überschuß über den üblichen Gewinnsatz oder die Grund- rente ? 364 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A, Kritik. Oder, die Nivellierung findet überhaupt nicht statt. Dann gibt es überhaupt keinen allgemeinen, üblichen Gewinnsatz, dann fehlt es, wie überhaupt, so auch in der Landwirtschaft an einer bestimmten Norm dafür, wie viel von „Eente" man sich als Kapitalgewinn aufzurechnen hat, dann fehlt es endlich auch an der Trennungsmarke zwischen Kapital- gewinn und Grundrente. Mag demna6h Gewinnausgleichung stattfinden oder nicht — in beiden Fällen hängt die RoDBERTUssche Grundrenten- theorie in der Luft. — Also Widersprüche über Widersprüche, und zwar nicht in Kleinigkeiten, sondern in den Grundlehren der Theorie! Ich habe bis jetzt an Einzelheiten der RoDBERTusschen Theorie meine Kritik angelegt. Ich wiU damit schUeßen, daß ich die Theorie als Ganzes auf die Probe stelle. Wenn die Theorie richtig ist, so muß sie imstande sein, für das Phänomen des Kapitalzinses, so wie es im wirklichen Wirtschaftsleben sich darbietet, und zwar in allen seinen wesentlichen Erscheinungsformen eine befriedigende Erklärung zu vermitteln; vermag sie das nicht, so ist ihr Urteil gesprochen, sie ißt falsch. Ich behaupte nun und werde sofort nachweisen, daß die Rodbertus- sche Ausbeutungstheorie zwar zur Not imstande wäre, die Verzinsung der im Arbeitslohne investierten Kapitalteile begreifhch zu machen, daß es aber absolut unmöglich ist, mit ihrer Hilfe die Verzinsung jener Kapital- teile zu erklären, die im Fabrikationsmateriale angelegt sind. Man urteile. Ein Juwelier, der sich hauptsächlich mit der Verfertigung von Perlen- schnüren beschäftigt, läßt jährlich durch fünf angestellte Arbeiter echte Perlen im Werte von einer Million Gulden in Schnüre fassen, die er durch- schnittlich nach einem Jahre absetzt. Er wird demnach beständig ein Kapital von einer Million in Perlen investiert haben, das ihm nach dem üblichen Zinsfuße einen reinen Jahresgewinn von 50000 fl. abwerfen muß. Fragen wir nun? wie ist dieser Zinsenbezug des Juweliers zu erklären? RoDBERTus antwortet, der Kapitalzins ist ein Beutegewinn, ent- standen aus Abknappungen am natürlichen und gerechten Arbeitslohn. Am Lohn welcher Arbeiter? der fünf Arbeiter, die die Perlen sortieren und in Schnüre fassen? Das kann doch wohl nicht sein: denn wenn man durch Abknappung vom gerechten Lohne von fünf Arbeitern 50000 fl. soll gewinnen können, so müßte der gerechte Lohn derselben jedenfalls mehr als 50000 fl., also für den Mann jedenfalls mehr als 10000 fl. betragen — eine Höhe des gerechten Lohnes, die man doch kaum im Ernste an- nehmen kann, zumal das Geschäft des Sortierens und Aneinanderreihens von Perlen sehr wenig sich über den Charakter der gemeinen Arbeit erhebt. Sehen wir uns indes weiter um: vielleicht sind es die Arbeiter eines früheren Produktionsstadiums, aus deren Arbeitsprodukt der Juwelier seinen Beutegewinn macht, etwa die Perlenfischer? — Allein mit diesen Arbeitern ist der Juwelier in gar keine Berührung gekommen, er hat ja seine Perlen unmittelbar vom Unternehmer der Perlenfiseherei oder gar Rodbertus. 3g5 von einem Zwischenhändler gekauft: er hatte also gar keine Gelegenheit, den Perlenfischern einen Teil ihres Produktes oder Produkt wertes in Abzug zu bringen. Vielleicht aber hat dies an seiner Stelle der Unternehmer der Perlenfischerei getan, so daß der Gewinn des Juweliers aus einem Lohnabzug stammt, den der Unternehmer der Perlenfischerei seinen Arbeitern gegenüber vollzogen hat? — Auch das ist nicht möglich; denn offenbar würde der Juwelier seinen Gewinn auch dann machen, wenn der Unternehmer der Perlenfischerei seinen Arbeitern gar keinen Lohnabzug macht. Mag dieser auch die ganze Million, die die gefischten Perlen wert sind und die er vom Juwelier als Kaufpreis erhält, als Lohn unter seine Arbeiter verteilen, so erreicht er damit nur, daß er keinen Gewinn macht, keineswegs, daß der Juwelier seinen Gewinn einbüßt. Denn für diesen ist die Art, in der sich der von ihm geleistete Kaufpreis verteilt — falls er sich nur nicht erhöht hat — etwas vöUig Gleichgültiges. Mag man also seine Phantasie anstrengen wie man wül, so wird man vergebens nach den Arbeitern suchen, aus deren gerechtem Lohne der Juweliergewinn von 50000 fl. denkbarer Weise zurückbehalten sein könnte. Vielleicht läßt indes dieses Beispiel bei manchem Leser doch noch Skrupel übrig. Vielleicht findet es mancher zwar etwas seltsam, daß die Arbeit der fünf Perlenfasser die Quelle sein soll, aus der der Juwelier einen so bedeutenden Gewinn von 50000 fl. erbeuten kann, aber ganz undenkbar sei es doch nicht. Ich will daher ein zweites noch schlagenderes Beispiel vorführen: ein gutes altes Beispiel, an dem im Laufe der Zeit schon manche Zinstheorie erprobt und falsch befunden wurde. Elin Weinbergbesitzer hat ein Faß guten jungen Weines geerntet. Es hat unmittelbar nach der Ernte einen Tauschwert von 100 fl. Er läßt den Wein ruhig im Keller liegen, und nach einem- Dutzend von Jahren hat der alt gewordene Wein einen Tauschwert von 200 fl. Eine bekannte Tatsache. Die Differenz von 100 fl. fällt dem Eigentümer des Weines als Verzinsung des in letzterem liegenden Kapitales zu. An welchen Arbeitern soll nun dieser Kapitalgewinn erbeutet worden sein? Da während des Abliegens absolut keine Arbeit mehr an den Wein gewendet worden ist, so wäre es nur denkbar, daß die Erbeutung an jenen Arbeitern begangen wurde, die den Neuwein produziert hatten. Der Weinbergbesitzer hat ihnen zu wenig Lohn gezahlt. Allein, frage ich, wie viel hätte er ihnen ,. gerechter Weise" an Lohn zahlen sollen? Auch wenn er ihnen die ganzen 100 fl. zahlt, die der neue Wein zur Zeit der Ernte wert war, so bleibt ihm immer noch der Wertzuwachs von 100 fl., den Rodbertus als Beutegewinn brandmarkt. Ja selbst wenn er ihnen 120 oder 150 fl. an Lohn gezahlt hätte, büebe der Vorwurf der Erbeutung an ihm noch hängen; er würde von ihm erst dann befreit, wenn er volle 200 fl. gezahlt hätte. 366 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Soll man nun im Ernst verlangen, daß als „gerechter Arbeitslohn" für ein Produkt, das nicht mehr als einhundert Gulden wert ist, zwei- hundert Gulden als Lohn gezahlt werden sollen? Weiß denn der Eigen- tümer im vorhinein, ob das Produkt überhaupt jemals 200 fl. wert werden wird? Kann er denn nicht gegen seine ursprüngliche Absicht gezwungen sein, den Wein vor Ablauf von 12 Jahren zu verbrauchen oder zu verkaufen? und hätte er dann nicht 200 fl. für ein Produkt gezahlt, das nie mehr als 100 fl. oder vielleicht 120 fl. wert war ? Und wie soll er denn die Arbeiter honorieren, die jenen neuen Wein produzieren, den er sofort um 100 fl. verkauft ? Auch mit 200 fl. ? Dann geht er zu Grunde. Oder nur mit 100 fl. ? Dann bekommen verschiedene Arbeiter für völlig gleiches Werk verschiedenen Lohn, was wieder ungerecht ist; abgesehen davon, daß man ja kaum im vorhinein wissen wird, wessen Produkt sofort verkauft und wessen Produkt ein Dutzend Jahre aufbewahrt werden wird. Aber noch mehr. Sogar ein Lohn von 200 fl. für ein Faß neuen Weines wäre noch kein Lohnbetrag, der gegen den Vorwurf der Ausbeutung ge- sichert wäre: denn der Eigentümer kann den Wein statt eines Dutzends zwei Dutzend Jahre im Keller liegen lassen, und dann wird er nicht 200, sondern 400 fl. wert sein. Soll er deshalb den Arbeitern, die 24 Jahre früher ihm den Wein produziert haben, statt 100 fl. vierhundert Gulden gerechter Weise zu zahlen schuldig sein? Der Gedanke ist zu absurd! Zahlt er ihnen aber nur 100 fl., oder 200 fl., so macht er seinen Kapital- gewinn, und RoDBERTUs erklärt, daß er den Arbeiter durch Rückhaltung eines Teiles vom Werte seines Produktes am gerechten Arbeitslohne verkürzt hat! Ich glaube nicht, daß irgend jemand die Behauptung wagen wird, daß die vorgeführten und die zahlreichen ihnen analogen Fälle von Zins- bezügen durch RoDBERTus' Theorie erklärt seien. Eine Theorie aber, die für einen wichtigen Teil der zu erklärenden Erscheinungen die Er- klärung schuldig bleibt, kann die wahre nicht sein, und so führt denn auch diese summarische Schlußprüfung zu demselben Ergebnisse, das die vorangehende Detailkritik erwarten ließ: die RooBERTUssche Ausbeutungs- theorie ist in ihrer Begründung und ihren Resultaten falsch, im Wider- spruche mit sich selbst und mit den Erscheinungen der Wirklichkeit. — Die Natur meiner kritischen Aufgabe hat es mit sich gebracht, daß ich in den voranstehenden Blättern vorzugsweise und einseitig auf die Irrtümer hinweisen mußte, in die Rodbertus verfallen ist. Ich glaube dem Andenken dieses bedeutenden Mannes schuldig zu sein, ebenso un- umwunden seine hervorragenden Verdienste um die Entwicklung der nationalökonomischen Theorie anzuerkennen, deren Darstellung indes leider außerhalb des Rahmens meiner jetzigen Aufgabe fällt. Marx. 367 B. Marxi). Marx' theoretisches Lebenswerk ist sein großes, dreibändiges Werk über das Kapital. Die Grundlagen seiner Ausbeutungstheorie sind in dem ersten Bande niedergelegt, dem einzigen, der — 1867 — bei Lebzeiten des Verfassers erschien. Der zweite, schon nach dem Tode des Verfassers von Engels im Jahre 1885 herausgegebene Band ist inhaltlich dem ersten vöHig homogen. Weniger homogen ist bekanntlich der dritte, abermals erst nach einer vieljährigen Pause im Jahre 1894 herausgegebene Band. Viele, und darunter auch der Verfasser dieser Zeilen sind der Ansicht, daß der Inhalt des dritten Bandes neben dem des ersten nicht bestehen kann und umgekehrt. Da aber Marx selbst dieses Verhältnis nicht zuge- standen, vielmehr auch in seinem dritten Bande die andauernde volle Geltung der im ersten Bande niedergelegten Lehren beansprucht hat, ist die Kritik sowohl berechtigt als auch verpflichtet, die Lehre des ersten Bandes trotz der Existenz des dritten als den Ausdruck der wahren und fortdauernden Meinung von Marx anzusehen; freilich aber auch ebenso berechtigt und verpflichtet, die Lehren des dritten Bandes am entsprechen- den Ort zur Illustration und Kritik mitheranzuziehen. Marx nimmt seinen Ausgangspunkt von dem Satze, daß der Wert aller Waren sich ausschließlich nach der Menge der Arbeit richtet, die ihre Erzeugung kostet. Er gibt diesem Satze viel mehr Nachdruck als KoDBERTus. Während letzterer ihn erst im Zuge seiner Auseinander- setzungen mehr beiläufig erwähnt, häufig nur in der Form einer hypo- 1) Zur Ejritik der politischen Ökonomie, Berlin 1859; das Kapitel. Kjritik der politischen Ökonomie, 3 Bände 1867 — 1894. Vgl. über Marx den Artikel ,,Marx" von Engels im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (nebst vollständigem Verzeichnis der von Marx verfaßten Schriften, in der 3. Auflage des Handwörterbuchs fortgesetzt und ergänzt von K. Diehl), dann u. a. Knies, das Geld, II. Auflage, 1885, S. 163 ff.; A. Wagner in seiner ,, Grundlegung der politischen Ökonomie" 3. Aufl., passim, be- sonders II 285ff.; Lexis in Conrads Jahrbüchern 1885 N. F. XI 452ff.; Gross, K. Marx, Leipzig 1885; Adler, Grundlagen der Marxschen KJritik der bestehenden Volkswirt- schaft, Tübingen 1887; Komorzynski, der dritte Band von Karl Marx das Kapital, Zeitschr. für Volkswirtschaft, Sozialpol. und Verwaltung VI. Band. S. 242ff.; Wenck- stern, Marx, Leipzig 1896; SoMbart, Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx, Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik Bd. VII, Heft 4, S. 555ff.; meinen Aufsatz „Zum Abschluß des Marxschen Systems" in den ,, Festgaben für Karl Knies", Berlin 1896 (in selbständiger Buchausgabe in russischer Sprache Petersburg 1897 und in englischer Sprache London 1898 erschienen); Diehl, Über das Verhältnis von Wert und Preis im ökonomischen System von Karl Marx, Abdruck aus der Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S., Jena 1898; Masaryk, Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus, Wien 1899; Tugan-Baranowski, Theoretische Grundlagen des Marxismus, Leipzig 1905; v. BoRTKiEwicz, Wertrechnung und Preisrechnung im Marxschen System (im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Bd. 23 und 25); und viele andere Schriften der massenhaften und immer noch anwachsenden Marxliteratur. 368 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. thetischen Voraussetzung ausspricht und nirgends ein Wort zu seinem Beweise verliert^), stellt ihn Marx an die Spitze seiner ganzen Lehre und widmet ihm eine ausführliche Begründung und Erläuterung. Das Untersuchungsfeld, das Marx zu durchforschen unternimmt, um dem „Wert auf die Spur zu kommen" (I 23)2), beschränkt er von Haus aus auf die Waren, worunter wir in seinem Sinn wohl nicht alle wirt- schaftlichen Güter, sondern nur die für den Markt erzeugten Arbeits- produkte zu verstehen haben 3). Er beginnt mit der „Analyse der Ware" (I 9). Die W^are ist einerseits als nützliches Ding, das durch seine Eigen- schaften menschliche Bedürfnisse irgend einer Art befriedigt, ein Gebrauchs- wert, andererseits bildet sie die stofflichen Träger des Tauschwertes. Auf diesen letzteren geht die Analyse nunmehr über. „Der Tauschwert er- scheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art aus- tauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt." Er scheint also etwas Zufälliges zu sein. Dennoch muß es in diesem Wechsel ein Bleibendes geben, dem Marx nachzuspüren unternimmt. Er tut es in seiner bekannten dialektischen Weise: „Nehmen wir zwei Waren, z. B. Weizen und Eisen. Welches immer ihr Austauschverhältnis, es ist stets darstellbar in einer Gleichung, worin ein gegebenes Quantum Weizen irgend einem Quantum Eisen gleichgesetzt wird, z. B. 1 Quarter Weizen = ä Zentner Eisen. Was besagt diese Gleichung? Daß ein Gemeinsames von derselben Größe in zwei verschiedenen Dingen existiert, in 1 Quarter Weizen und ebenfalls in ä Zentner Eisen. Beide sind also gleich einem Dritten, das an und für sich weder das eine, noch das andere ist. Jedes der beiden, soweit es Tauschwert, muß also auf dies Dritte reduzierbar sein." „Dieses Gemeinsame" — fährt Marx fort — „kann nicht eine geo- ^) LiFSCHiTZ, „Zur Kritik der Böhm-Bawerkschen Werttheorie", Leipzig 1908, S. 16, will zwischen dieser Bemerkung und der an einer früheren Stelle meines Buches (oben S. 338ff., in der I. Aufl. S. 887ff.) von mir selbst verzeichneten „ernstlichen Motivierung" Rodbertus' einen Widerspruch finden.hat aber entweder so oberflächlich gelesen oder so oberflächlich gedacht, daß er dabei zwei verschiedene Thesen mit ein- ander verwechselt. Wirklich motiviert hat nämlich Rodb'Ertus die These, daß alle Güter wirtschaftlich nur Arbeit kosten, während ich hier von der ganz anderen These spreche, daß der Wert der Güter sich ausschließlich nach der Menge der Kostenarbeit richtet. Dabei hätte Lifschitz auf den recht wesentlichen Unterschied, der zwischen beiden Thesen besteht, u. a. schon durch die völlig verschiedene Stellung, die ich oben auf S. 844f. einerseits und 365ff. andererseits ihnen gegenüber einnahm, aufmerksam werden können 1 *) Ich zitiere den I. Band des Marxschen Kapitales stets nach der (zweiten) Auf- lage von 1872, den IL Band nach der Ausgabe von 1886, den III. nach der von 1894, und zwar ist, wenn nichts anderes bemerkt wird, unter III stets die erste Abteilung des dritten Bandes gemeint. *) I 15, 17, 49, 87 und öfters. Vgl. auch Adler, Grundlagen der Karl Marxschen Kritik der bestehenden Volkswirtschaft, Tübingen 1887, S. 210 und 213. Marx. 369 metrische, physische, chemische- oder sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein. Ihre körperlichen Eigenschaften kommen überhaupt nur in Betracht, soweit selbe sie nutzbar machen, also zu Gebrauchswerten. Andererseits ist aber das Austauschverhältnis der Waren augenscheinlich charakterisiert durch die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten. Inner- halb desselben gilt ein Gebrauchswert gerade so viel wie jeder andere, wenn er nur in gehöriger Proportion vorhanden ist. Oder, wie der alte Barbon sagt: „„Die eine Warensorte ist so gut wie die andere, wenn ihr Tauschwert gleich groß ist. Da existiert keine Verschiedenheit oder Unter- scheidbarkeit zwischen Dingen von gleich großem Tauschwerte."" Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedener Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedener Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert." „Sieht man nun vom Gebrauchswerte der Warenkörper ab, so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten. Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswerte, so abstrahieren wir auch von den körper- lichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswerte machen. Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Garn oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinnüchen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder Bauarbeit oder Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. Mit dem nützüchen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit." „Betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts von ihnen übrig geblieben als dieselbe gespenstige Gegenständlich- keit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d. h. der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung. Diese Dinge stellen nur noch dar, daß in ihrer Pro- duktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit auf- gehäuft ist. Als Krystalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaft- lichen Substanz sind sie — Werte." Damit ist der Wertbegriff gefunden und bestimmt. Er ist der dia- lektischen Form nach nicht identisch mit dem Tauschwert, aber er steht zu ihm in der innigsten unzertrennlichen Beziehung: er ist eine Art begriff- lichen Destillats aus dem Tauschwert. Er ist, um mit Marx' eigenen Worten zu reden, „das Gemeinsame, was sich im Austauschverhältnis oder Tauschwert der Waren darstellt", wie denn auch umgekehrt wieder der „Tauschwert die notwendige Ausdrucksweise oder Erscheinungsform des Wertes" ist (I 13). Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 24 370 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Von der Feststellung des Begriffes des Wertes schreitet Marx zur Darlegung seines Maßes und seiner Größe vor. Da die Arbeit die Substanz des Wertes ist, wird konsequent auch die Größe des Wertes aller Güter an dem Quantum der in ihnen enthaltenen Arbeit, beziehungsweise an der Arbeitszeit, gemessen. Aber nicht an jener individuellen Arbeitszeit, die gerade dasjenige Individuum, welches das Gut angefertigt hat, zufällig benötigt hat, sondern an der ,, gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit", welche Marx erklärt als die „Arbeitszeit, erheischt um irgend einen Ge- brauchswert mit den vorhandenen gesellschafthch-norraalen Produktions- bedingungen und dem gesellschaftlichen Grade von Geschick und Inten- sivität der Arbeit darzustellen" (I 14). „Nur das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswertes gesell- schaftlich notwendige Arbeitszeit ist es, welche seine Wertgröße bestimmt. Die einzelne Ware gilt hier überhaupt als Durchschnittsexemplar ihrer Art. Waren, worin gleich große Arbeitsquanta enthalten sind, oder die in der- selben Arbeitszeit hergestellt werden können, haben daher dieselbe Wert- größe. Der Wert einer Ware verhält sich zum Werte jeder anderen Ware, wie die zur Produktion der einen notwendige Arbeitszeit zu der für die Produktion der anderen notwendigen Arbeitszeit. Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit." Aus alledem leitet sich nun der Inhalt des großen „Werfgesetzes" ab, welches „dem Warenaustausch immanent" ist (I 141, 150) und die Austauschverhältnisse beherrscht. Es besagt, und kann nach dem Voraus- gegangenen nichts anderes besagen, als daß die Waren sich untereinander nach dem Verhältnisse der in ihnen verkörperten gesellschaftlich not- wendigen Durchschnittskrbeit austauschen (z. B. I 52). Andere Ausdrucks- formen desselben Gesetzes sind, daß die Waren -,sich zu ihren Werten vertauschen" (z. B. I, 142, 183, III 167), oder daß sich „Äquivalent gegen Äquivalent vertauscht" (z. B. I 150, 183). Zwar kommen im einzelnen Falle je nach den momentanen Schwankungen von Angebot und Nachfrage auch Preise zur Erscheinung, die über oder unter den Werten stehen. Allein diese „beständigen Oszillationen der Marktpreise . . . kompensieren sich, heben sich wechselseitig auf und reduzieren sich selbst zum Durchschnittspreis als ihrer inneren Regel" (I 151 Note 37). Auf die Dauer setzt sich „in den zufälligen und stets schwankenden Austausch- verhältnissen" doch stets ,.die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durch" (I 52). Marx spricht dieses Gesetz als das „ewige Gesetz des Warentausches" (I 182), als „das Ratio- nelle", als „das natürliche Gesetz des Gleichgewichts" an (III 167). Die allerdings, wie schon gesagt, vorkommenden Fälle, in denen Waren zu Preisen vertauscht werden die von ihren Werten abweichen, sind im Ver- hältnis zur Regel als ».zufällige" (I 150 Note 37), und die Abweichungen Marx. 371 selbst als „Verletzung des Gesetzes des Warenaustausches" anzusehen (I 142). Auf diesen werttheoretischen Grundlagen richtet Marx sodann den zweiten Teil seines Lehrgebäudes, seine berühmte Lehre vom ., Mehr- wert" auf. Er untersucht die Quelle des Gewinnes, den die Kapitalisten aus ihren Kapitalien ziehen. Die Kapitalisten werfen eine gewisse Geld- summe ein, verwandeln sie in Waren, und verwandeln diese dann — mit oder ohne dazwischenliegenden Produktionsprozeß — durch Verkauf in mehr Geld zurück. Woher kommt dieses Inkrement, dieser Überschuß der herausgezogenen über die ursprünglich vorgeschossene Geldsumme, oder, wie Marx es nennt, der ., Mehrwert"? Marx grenzt zunächst in der ihm eigentümlichen Weise dialektischer Ausschließung die Bedingungen des Problems ab. Er führt zuerst aus, daß der Mehrwert weder daraus entspringen kann, daß der Kapitalist als Käufer die Waren regelmäßig unter ihrem Wert einkauft, noch daraus, daß er sie als Verkäufer regelmäßig über ihrem Wert verkauft. Das Problem stellt sich sonach folgendermaßen dar: ., Unser . . . Geldbesitzer muß die Waren zu ihrem Werte kaufen, zu ihrem Werte verkaufen, und dennoch am Ende des Prozesses mehr Wert herausziehen, als er hinein- warf . . . Dies sind die Bedingungen des Problems. Hie Khodus, hie salta!" (I 150 ff.) Die Lösung findet nun Marx darin, daß es eine Ware gibt, deren Gebrauchswert die eigentümliche Beschaffenheit besitzt, Quelle von Tauschwert zu sein. Diese Ware ist das Arbeitsvermögen oder die Arbeits- kraft. Sie wird auf dem Markte feilgeboten unter der doppelten Bedingung, daß der Arbeiter persönlich frei ist — denn sonst würde nicht seine Arbeits- kraft, sondern seine ganze Person, als Sklave, feil sein — ; und daß der Arbeiter von „allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen" entblößt ist; denn sonst würde er es vorziehen, auf eigene Rechnung zu produzieren und seine Produkte statt seiner ^irbeitskraft feilzubieten. Durch den Handel mit dieser Ware erwirbt nun der Kapitalist den Mehr- wert. In folgender Weise. Der Wert der Ware Arbeitskraft richtet sich, gleich dem jeder anderen Ware, nach der zu ihrer Reproduktion notwendigen Arbeitszeit, das heißt in diesem Falle, nach der Arbeitszeit, die notwendig ist, um so viel Lebens- mittel zu erzeugen, als zur Erhaltung des Arbeiters erfordert werden. Ist z. B. zur Erzeugung der notwendigen Lebensmittel für einen Tag eine gesellschaftliche Arbeitszeit von 6 Stunden erforderlich und ist zugleich, wie wir annehmen wollen, dieselbe Arbeitszeit in 3 gh. Gold verkörpert, so wird die Arbeitskraft eines Tages um 3 sh. zu kaufen sein. Hat der Kapitalist diesen Kauf geschlossen, so gehört der Gebrauchswert der Arbeitskraft ihm, und er realisiert ihn, indem er den Arbeiter für sich arbeiten läßt. Würde er ihn täglich nur so viele Stunden arbeiten lassen, 24* 372 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. Ü.-A. KJritik. als in der Arbeitskraft selbst verkörpert sind und als er beim Einkaufe derselben hatte bezahlen müssen, so würde ein Mehrwert nicht entstehen. Denn 6 Arbeitsstunden können dem Produkte, in das sie verkörpert werden, nach der Annahme keinen größeren Wert als 3 sh. zusetzen; so viel hat aber der Kapitalist auch an Lohn gezahlt. Aber so handfeln die Kapitalisten nicht. Auch wenn sie die Arbeitskraft um einen Preis gekauft haben, der nur einer sechsstündigen Arbeitskraft entspricht, lassen sie den Arbeiter den ganzen Tag für sich arbeiten. Jetzt sind im Produkte, das während dieses Tages geschaffen wird, mehr Arbeitsstunden verkörpert, als der Kapitalist bezahlen mußte, es hat daher einen größeren Wert als der bezahlte Lohn, und die Differenz ist „Mehrwert", der dem Kapitalisten zufällt. Ein Beispiel. Gesetzt, ein Arbeiter kann in 6 Stunden 10 Pfd. Baum- wolle in Garn verspinnen. Gesetzt, diese Baumwolle hat zu ihrer eigenen Erzeugung 20 Arbeitsstunden erfordert und besitzt demgemäß einen Wert von 10 sh. Gesetzt ferner, der Spinner vernutzt während der sechsstündigen Spinnarbeit am Werkzeug so viel, als einer vierstündigen Arbeit entspricht und daher einen Wert von 2 sh. repräsentiert; so wird der Gesamtwert der in der Spinnerei verzehrten Produktionsmittel 12 sh. entsprechend 24 Arbeitsstunden betragen. Im Spinnprozesse „saugt" die Baumwolle noch weitere 6 Arbeitsstunden ein: das fertige Gespinnst ist daher im ganzen das Produkt von 30 Arbeitsstunden und wird demgemäß einen Wert von 15 sh. haben. Unter der Voraussetzung, daß der Kapitalist den gemieteten Arbeiter nur 6 Stunden im Tage arbeiten läßt, hat die Herstellung des Garnes den Kapitalisten auch volle 15 sh. gekostet: 10 sh. für Baumwolle, 2 sh. für Abnützung an Werkzeugen, 3 sh. an Arbeitslohn. Ein Mehrwert kommt nicht zur Erscheinung. Ganz anders, wenn der Kapitalist den Arbeiter 12 Stunden tätlich arbeiten läßt. In 12 Stunden verarbeitet der Arbeiter 20 Pfd. Baumwolle, in denen schon vorher 40 Arbeitsstunden verkörpert, und die daher 20 sh. wert sind; vernutzt ferner an Werkzeugen das Produkt von 8 Arbeits- stunden im Werte von 4 sh. ; setzt aber dem Rohmateriale während eines Tages 12 Arbeitsstunden, d. i. einen Neuwert von 6 sh. zu. Nunmehr steht die Bilanz folgendermaßen. Das während eines Tages erzeugte Garn hat insgesamt 60 Arbeitsstunden gekostet, hat daher einen Wert von 30 sh. Die Auslagen des Kapitalisten betrugen 20 sh. für Baumwolle, 4 sh. für Werkzeugabnützung und 3 sh. für Lohn, folglich zusammen nur 27 sh.: es erübrigt jetzt ein „Mehrwert" von 3 sh. DerMehrwert ist daher nachMARX eineFolge davon, daß der Kapitalist den Arbeiter einen Teil des Tages für sich arbeiten läßt, ohne ihn dafür zu bezahlen. Im Arbeitstage des Arbeiters lassen sich zwei Teile unter- scheiden. Im ersten Teile, der „notwendigen Arbeitszeit", produziert der Arbeiter seinen eigenen Lebensunterhalt, beziehungsweise dessen Wert; Marx. 373 jfür diesen Teil seiner Arbeit empfängt er ein Äquivalent im Lohn. Während des zweiten Teiles, der „Surplus- Arbeitszeit", wird er „exploitiert", erzeugt er den „Mehrwert", ohne selbst irgend ein Äquivalent dafür zu erlangen (I 205 ff.). „Das Kapital ist also nicht nur Kommando über Arbeit, wie A. Smith sagt. Es ist wesentlich Kommando über unbezahlte Arbeit. Aller Mehrwert, in welcher besonderen Gestalt von Profit, Zins, Rente usw. er sich später krystaUisiere, ist seiner Substanz nach Materiatur unbezahlter Arbeitszeit. Das Geheimnis von der Selbstverwertung des Kapitales löst sich auf in seine Verfügung über ein bestimmtes Quantum unbezahlter fremder Arbeit" (I 554). Dies der Kern der MARxschen Ausbeutungstheorie, wie er im I. Bande des „Kapital" niedergelegt und im III. vielleicht, wie wir noch sehen werden, unfreiwillig widersprochen, aber in keiner Weise widerrufen ist. Der aufmerksame Leser wird in dieser Darstellung — wenn auch zum Teile in etwas veränderter Einkleidung — alle wesentlichen Lehren wieder erkannt haben, aus denen schon Rodbertus seine Zinstheorie zusammen- gesetzt hatte: so die Lehre, daß der Güterwert sich nach Arbeitsmengen bemißt; die Lehre, daß die Arbeit allein allen Wert schafft; daß der Arbeiter im Lohnkontrakte weniger an Wert empfängt, als er schafft, worein zu willigen die Not ihn zwingt; daß den Überschuß der Kapitalist sich an- eignet, und daß der so erzielte Kapitalgewinn demnach den Charakter einer Beute aus dem Ertrage fremder Arbeit hat. Wegen der sachlichen Übereinstimmung beider Theorien — oder richtiger gesagt beider Formulierungen derselben Theorie — findet fast alles, was ich zur Widerlegung der Lehre von Rodbertus angeführt habe, seine volle Geltung auch gegen Marx. Ich kann mich daher jetzt auf einige ergänzende Ausführungen beschränken, die ich für nötig halte, teils um meine Kritik in einigen Stücken der eigenartigen Formulierung Marx' anzupassen, teils auch, um auf einige wirkliche Neuerungen ein- zugehen, die Marx gebracht hat. Unter diesen Neuerungen ist weitaus die wichtigste der Versuch, den Satz, daß aller Wert auf Arbeit beruhe, nicht allein zu behaupten, sondern auch zu begründen. G^gen Rodbertus habe ich diesen Satz ebenso beiläufig bekämpft als er ihn beiläufig behauptet hatte: ich be- gnügte mich einige zweifellose Ausnahmen von jenem Satze einzuwenden, ohne die Sache an der Wurzel zu fassen. Marx gegenüber kann und will ich dies nicht unterlassen. Zwar begebe ich mich damit auf ein Feld, das schon oftmals und von ausgezeichneten Gelehrten im literarischen Streit durchpflügt wurde, so daß ich kaum hoffen kann, viel Neues in dem, was ich zu sagen habe, vorzubringen. Allein ich glaube, daß es mir übel an- stehen würde, in einem Buche, das die kritische Darstellung der Kapital- zinstheorien zum Gegenstande hat, der eingehenden Kritik eines Satzes aus dem Wege zu gehen, der von einer der wichtigsten Theorien als ihr 374 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. wichtigster Fundamentalsatz an die Spitze gestellt wird. Auch ist leider der heutige Stand unserer Wissenschaft nicht derart, daß eine Erneuerung der kritischen Bestrebungen als überflüssige Mühe angesehen werden könnte: denn gerade in unseren Tagen ^) ist jener Satz im Begriffe, in immer weiteren Kreisen gleich einem Evangelium angenommen zu werden, während er in Wahrheit nichts als eine von einem großen Manne einmal erzählte, und von einer gläubigen Menge seither nachgesprochene Fabel ist. Für die Lehre, daß aller Güterwert auf Arbeit beruht, pflegt man als Urheber und zugleich als gewichtige Autoritätszeugen zwei stolze Namen in Anspruch zu nehmen: Adam Smith und Ricardo. Nicht mit Unrecht, aber doch auch nicht ganz mit Recht. In den Schriften beider findet sich nämlich jene Lehre; aber Adam Smith widerspricht ihr auch zuweilen 2), und Ricardo engt ihr Geltungsgebiet so sehr ein und durchkreuzt sie mit so wichtigen Ausnahmen, daß man kaum berechtigt ist zu behaupten, daß er die Arbeit als das allgemeine und ausschließliche Prinzip des Güter- wertes hingestellt habe^). Er eröffnet nämlich seine „Principles" mit der ausdrücklichen Erklärung, daß der Tauschwert der Güter aus zwei Quellen stammt: aus ihrer Seltenheit und aus der Arbeitsmenge, die ihre Erlangung gekostet hat. Gewisse Güter, z. B. seltene Statuen und Gemälde, zögen ihren Wert ausschließlich aus der ersten Quelle, und nur der Wert jener Güter, die sich ohne Schranken durch Arbeit vervielfältigen lassen — und die freilich nach Ricardos Meinung die weitaus überwiegende Mehrzahl aller Güter ausmachen — werde durch die Menge der Kosten- arbeit bestimmt. Aber auch rücksichthch der letzteren Güter sieht sich Ricardo noch zu einer weiteren Einschränkung gezwungen. Er muß nämlich einräumen, daß auch bei ihnen der Tauschwert nicht ausschließ- lich durch die Arbeit bestimmt wird, sondern daß auf ihn auch die Zeit, die zwischen dem Aufwände an vorgeschossener Arbeit und der Reali- sierung des Endproduktes verstreicht, einen erheblichen Einfluß nimmt*). Somit hat weder Smith noch Ricardo das in Rede stehende Prinzip so rückhaltslos aufgestellt, als der landläufige Glaube geht. Immerhin haben sie es aufgestellt, wenigstens in gewisser Ausdehnung. Sehen wir also weiter, auf welche Gründe hin sie es aufgestellt haben. Hier kann man nun eine merkwürdige Entdeckung machen: Smith *) 1884 geschrieben; siehe auch oben die Note auf S. 329- ') z. B. wenn er sich im 5. Kapitel des II. Buches folgendermaßen äußert: „Nicht nur die arbeitenden Knechte und Mägde des Pächters, sondern auch seine Arbeitstiere Bind produktive Arbeiter;" und weiter: „In der Landwirtschaft arbeitet die Natur mit den Menschen; und obwohl ihre Arbeit nichts kostet, haben ihre Produkte doch ebensowohl ihren Wert als die Produkte der teuerst bezahlten Arbeiter." Vgl. Knies, Der Kredit, II. Hälfte S. 62. ^) Vgl. hierüber Verrijn Stuarts schöne Studie „Ricardo und Marx" und meine Besprechung darüber in Conrads Jahrbüchern, III. Folge Bd. I (1891) S. 877ff. *) Siehe oben S. 356, und Knies a. a. 0. S. 66f. Marx. 375 sowohl als Ricardo haben nämlich jenes Prinzip gar nicht begründet, sondern seine Geltung einfach wie etwas Selbstverständliches behauptet Die berühmten Worte, in denen sich Smith hierüber ausgesprochen und die hernach Ricardo in wörtlichem Zitat in seine eigene Lehre aufge- nommen hat, lauten: „Der wiikliche Preis jedes Dinges, das, was jedes Ding demjenigen, der es zu erwerben wünscht, wirklich kostet, ist die Mühe und Beschwerüch- keit der Erwerbung. Was jedes Ding für den Mann, der es erworben hat und es zu veräußern oder für etwas anderes zu vertauschen wünscht, in Wirklichkeit wert ist (is really worth), ist die Mühe und Beschwer- lichkeit, die es ihm ersparen, und auf andere Leute abwälzen kann"i). Bleiben wir hier einen Augenblick stehen. Smith spricht diese Worte in einem Tone, als ob ihre Wahrheit unmittelbar einleuchten müßte. Aber ist sie wirklich einleuchtend? Sind wirklich Wert und Mühe zwei so zusammengehörige Begriffe, daß man unmittelbar von der Einsicht ergriffen werden muß, daß die Mühe der Grund des Wertes ist? — Ich glaube, kein Unbefangener wird dies behaupten können. Daß ich mich um ein Ding geplagt habe, ist eine Tatsache; daß das Ding die Plage auch wert ist, eine zweite davon verschiedene; und daß beide Tatsachen nicht immer Hand in Hand gehen, ist von der Erfahrung viel zu sicher bekräftigt, als daß darüber irgend ein Zweifel möglich sein könnte. Jede der unzähligen erfolglosen Mühen, die täglich aus technischem Ungeschick, oder aus verfehlter Spekulation, oder einfach aus Unglück an ein unwertes Resultat verschwendet werden, gibt ein Zeugnis dafür ab. Nicht minder aber auch jeder der zahlreichen Fälle, in denen sich wenig Mühe mit hohem Werte lohnt. Die Okkupation eines Grundstückes, das Finden eines Edelsteines, die Entdeckung einer Goldmine. Um aber von solchen Fällen ganz abzu- sehen, die man als Ausnahmen vom regelmäßigen Verlaufe der Dinge hinstellen könnte, so ist es eine ebenso unzweifelhafte als vollkommen normale Tatsache, daß die gleiche Mühe verschiedener Personen einen sehr verschiedenen Wert hat. Die Frucht der einmonathchen Mühe eines ausgezeichneten Künstlers ist ganz regelmäßig hundertmal so viel wert, als die Frucht der gleichen einmonatlichen Mühe eines gewöhnlichen Zimmermalers. Wie wäre das möghch, wenn wirklich die Mühe das Prinzip des Wertes wäre? Wenn wirklich vermöge eines unmittelbaren psycho- logischen Zusammenhanges unser Werturteil auf die Berücksichtigung der Mühe und Beschwerde, und nur auf diese Rücksicht sich stützen müßte? Oder ist etwa die Natur so aristokratisch, daß sie durch ihre psychologischen Gesetze unsere Psyche zwingt, die Mühe eines Künstlers hundertmal kräftiger in Anschlag zu bringen als die bescheidenere Mühe ^) Inquiry, I. Buch V. Kap. (S. 13 der McCuLLOCHschen Ausgabe); Ricardo Principles, Chapt. I. 37^ XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. eines Zimmermalers ^)? — Ich glaube, wer ein wenig überlegt, statt blind- lings zu glauben, wird zur Überzeugung gelangen, daß von einem un- mittelbar einleuchtenden inneren Zusammenhange zwischen Mühe und Wert, wie ihn jene Stelle bei Smith anzunehmen scheint, keine Rede sein kann. Aber bezieht sich die Stelle auch nur wirklich, wie man stillschweigend vorauszusetzen liebt, auf den Tauschwert? — Ich glaube, auch dies wird niemand, der die Stelle mit unbefangenem Blicke liest, behaupten können. Sie bezieht sich weder auf den Tauschwert, noch auf den Gebrauchswert, noch auf irgend einen „Wert" im streng wissenschaftlichen Sinne. Sondern Smith hat hier, wie schon der gebrauchte Ausdruck (worth, nicht value) andeutet, das Wort Wert in jenem weitesten, verschwommenen Sinne gebraucht, in dem es im vulgären Sprachgebrauche lebt. Ein sehr be- zeichnender Zug! In der unwillkürlichen Empfindung, daß vor dem Forum einer streng wissenschaftlichen Reflexion sein Satz keine Zustimmung erlangen könnte, wendet sich Smith durch das Medium der Alltagssprache an die weniger scharf kontrollierten Eindrücke des Alltagslebens, und wie die Erfahrung gezeigt hat, nicht ohne Erfolg, der freilich im Interesse der Wissenschaft lebhaft zu bedauern ist Wie wenig die ganze Stelle den Anspruch auf wissenschaftliche Schärfe erheben kann, ergibt sich endlich noch daraus, daß in ihren wenigen Worten auch noch ein Widerspruch Platz gefunden hat. Smith nimmt nämlich die Eigenschaft, Prinzip des „wirklichen" Wertes zu sein, in einem Atem sowohl für die Mühe, die man sich durch den Besitz eines Gutes ersparen kann, als auch für die Mühe, die man einem anderen auflasten kann, in Anspruch. Das sind aber zwei Größen, die, wie jedermann weiß, durchaus *) Smith findet sich mit der im Texte erwähnten Erscheinung folgendermaßen ab: „Wenn eine Art der Arbeit einen ungewöhnlichen Grad von Geschicklichkeit und Scharfsinn erfordert, so wird wegen der Achtung, in welcher solche Talente stehen, dem, was durch dieselben geschaffen wird, ein höherer Wert beigelegt, als ihm bei einer bloßen Berechnung der darauf verwendeten Zeit gebühren würde. Solche Talente sind selten anders als durch anhaltenden Fleiß zu erwerben, und der höhere Wert ihrer Erzeugnisse ist gewöhnlich nicht mehr als ein billiger Ersatz für die auf ihre Erwerbung verwendete Zeit und Mühe." (I. Buch VI. Kap.) Das Unzureichende dieser Erklärung liegt auf der Hand. Es ist erstlich klar, daß der höhere Wert der Pro- dukte ausnehmend geschickter Menschen auf einem ganz anderen Grunde beruht als auf der „Achtung, in welcher solche Talente stehen". Wie viele Dichter und Gelehrte ließ das Publikum trotz der höchsten Achtung, die es ihren Talenten zollte, verhungern, und wie vielen gewissenlosen Spekulanten hat es ihre Geschicklichkeit schon mit Hundert- tansenden bezahlt, obschon es ihre , .Talente" gar nicht achtete? Gesetzt aber auch, die Achtung wäre der Grund des Wertes, so wäre damit das Gesetz, daß der Wert auf Mühe beruht, offenbar nicht bestätigt, sondern durchbrochen. — Wenn dann in dem xweiten der zitierten Sätze Smith den Versuch macht, jenen höheren Wert auf die zur Erwerbung der Geschicklichkeit verwendete Mühe zurückzuführen, so gesteht er durch die Einschaltung des Wortes „gewöhnlich" selbst zu, daß dies nicht für alle Fälle mög- lich ist. Es bleibt also der Widerspruch bestehen. Marx. 377 nicht identisch sind. Unter der Herrschaft der Arbeitsteilung ist die Mühe, die ich persönlich hätte aufwenden müssen, um in den Besitz einer begehrten Sache zu gelangen, gewöhnlich sehr viel größer, als die Mühe, mit der ein fachmännisch geschulter Arbeiter sie herstellt. Von welcher diesen beiden „Mühen", der „ersparten" oder der „überwälzten", soll nun unmittelbar einzusehen sein, daß sie den wirklichen Wert bestimme? Kurz, die berühmte Stelle, in der unser Altmeister Smith das Arbeits- prinzip in die Wertlehre einführt, ist von dem, was man darin gewöhnlich erblicken wül, von einem großen und wohlbegründeten wissenschaftlichen Fundamentalsatz, so weit als möglich entfernt. Sie ist nicht von selbst einleuchtend, sie ist durch kein Wort der Begründung unterstützt; sie hat das nachlässige Gewand und das nachlässige Wesen einer Vulgär- sentenz, sie widerspricht sich endlich selbst. Daß sie trotzdem allgemeinen Glauben fand, hat sie meines Erachtens der Vereinigung zweier Umstände zu verdanken; erstlich, daß ein Adam Smith sie ausgesprochen hat; und zweitens, daß er sie ohne alle Begründung ausgesprochen hat. Hätte Adam Smith auch nur mit einem Worte der Begründung zum Kopfe gesprochen, statt bloß zur unmittelbaren Empfindung zu sprechen, so hätte der Kopf sich das Recht nicht nehmen lassen, die Gründe verstandesmäßig zu prüfen, und da hätte ihre Fadenscheinigkeit unfehlbar an den Tag kommen müssen. Nur durch Überrumpelung können solche Lehren siegen, Hören wir indes weiter, was Smith und nach ihm Ricardo sagt: „Arbeit war der erste Preis, das ursprüngliche Kaufgeld, welches für alle Dinge gezahlt worden ist." — Dieser Satz ist ziemlich unanstößig, aber auch für das Wertprinzip nichts beweisend. — „In jenem frühen und rohen Zustande der Gesellschaft, welcher der Anhäufung von Kapitalien und der Aneignung des Grundes und Bodens vorhergeht, scheint das Verhältnis zwischen den zur Erwerbung ver- schiedener Gegenstände nötigen Arbeitsquantitäten der einzige Umstand zu sein, der eine Norm für den wechselseitigen Austausch derselben anzu- geben imstande ist. Wenn z. B. in einem Jägerstamme die Elrlegung eines Bibers gewöhnlich doppelt so viel Arbeit kostet, als die Erlegung eines Hirsches, so muß natürlich ein Biber zwei Hirsche kaufen oder wert sein. Es ist natürlich, daß dasjenige, was gewöhnlich das Produkt von zweitägiger oder zweistündiger Arbeit ist, doppelt so viel wert sein muß, als das, was gewöhnlich das Produkt einer eintägigen oder einstündigen Arbeit ist." Man wird auch in diesen Worten jede Spur einer Motivierung ver- gebens suchen: Smith sagt einfach „scheint der einzige Umstand zu sein", „muß natürlich", „es ist natürlich" usw., überläßt es aber durchaus dem Leser, sich von der „Natürlichkeit" dieser Aussprüche selbst zu überzeugen. Eine Aufgabe, nebenbei bemerkt, die dem kritischen Leser nicht leicht gelingen wird. Denn wenn es überhaupt „natürlich" 378 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. sein soll, daß die Produkte sich ausschließlich nach dem Verhältnisse der Arbeitszeit vertauschen, die ihre Erlangung kostet, so müßte es z. B. auch natürlich sein, daß irgend ein seltener, bunter Schmetterling, oder ein seltener eßbarer Frosch unter den Wilden zehnmal so viel wert ist als ein Hirsch, wofern man nach jenem in der Regel zehn Tage suchen, diesen dagegen gewöhnlich schon mit der Arbeit eines Tages erbeuten kann: ein Verhältnis, dessen „Natürlichkeit" kaum jemandem einleuchten dürfte. — Das Ergebnis der letzten Betrachtungen glaube ich folgendermaßen zusammenfassen zu können: Smith und Ricardo haben den Satz, daß die Arbeit das Prinzip des Güterwertes ist, ohne alle Begründung lediglich als Axiom behauptet; ein Axiom ist er aber nicht. Folglich muß man, wenn man ihn überhaupt aufrecht halten will, von Smith und Ricardo als Gewährsmännern ganz absehen und nach einer anderweitigen, selb- ständigen Begründung suchen. Es ist nun eine sehr merkwürdige Tatsache, daß dies von den Späteren beinahe niemand getan hat. Dieselben Männer, die sonst die alther- gebrachte Lehre von oben bis unten mit ihrer zersetzenden Kritik durch- wühlten, denen kein verjährter Lehrsatz fest genug zu stehen schien, um ihn nicht noch einmal in Frage zu stellen und auf seine Beweisbarkeit zu prüfen: dieselben Männer haben gerade gegenüber dem wichtigsten Fundamentalsatze, den sie der alten Lehre entnahmen, auf alle Kritik verzichtet. Von Ricardo bis Rodbertus, von Sismondi bis Lassalle ist der Name von Adam Smith die einzige Deckung, die man jener Lehre mitzugeben für nötig findet; was man aus Eigenem hinzufügt, sind nichts als wiederholte Beteuerungen, daß der Satz wahr, unwiderleglich, un- zweifelhaft sei, aber kein Versuch, seine Wahrheit wirklich zu beweisen, Einwände wirklich zu widerlegen, Zweifel wirklich zu beseitigen. Die Verächter des Autoritätenbeweises begnügen sich selbst mit der Anrufung von Autoritäten; die Feinde beweislos präsumierender Behauptungen be- gnügen sich selbst ohne Beweis zu behaupten. Nur äußerst wenige Ver- treter der Arbeitswerttheorie machen hievon eine Ausnahme, und einer dieser Wenigen ist Marx. Für jemanden, der überhaupt nach einer wirklichen Begründung für jene These sucht, bieten sich von selbst zwei Wege als die natürlichen dar, auf welchen eine solche Begründung gesucht und gefunden werden könnte: der empirische und der psychologische Weg. Entweder könnte man nämlich einfach die erfahrungsmäßigen Austauschverhältnisse der Waren über- prüfen und zusehen, ob sich in ihnen eine erfahrungsmäßige Harmonie zwischen Tauschwertgröße und Arbeitsaufwand widerspiegelt; oder man könnte — mit einer in unserer Wissenschaft sehr gebräuchlichen Mischung von Induktion und Deduktion — die psychologischen Motive analysieren, welche die Leute einerseits bei dem Vollzuge der Tauschgeschäfte und der Feststellung der Tauschpreise, andererseits bei ihrer Mitwirkung an der Marx. 379 Produktion leiten, und man könnte dann aus der Beschaffenheit dieser Motive Schlüsse auf eine typische Handlungsweise der Leute ziehen, wobei unter anderem denkbarer Weise auch ein Zusammenhang der regelmäßig geforderten und bewilligten Preise mit der zur Hervorbringung der Waren benötigten Arbeitsmenge sich ergeben könnte. Marx hat indessen keinen dieser beiden naturgemäßen Untersuchungswege eingeschlagen, und interessanter Weise erfahren wir jetzt aus seinem dritten Bande, daß er selbst auch ganz gut wußte, daß weder die Erprobung der Tatsachen, noch die Analyse der in der „Konkurrenz" wirksamen psychologischen Triebkräfte auf ein seiner These günstiges Ergebnis hätte leiten können. Statt dessen schlägt er einen dritten, für einen derartigen Stoff gewiß etwas seltsamen Beweisgang ein: den Weg eines rein logischen Beweises, einer dialektischen Deduktion aus dem Wesen des Tausches heraus. Marx hat schon beim alten Aristoteles den Gedanken gefunden, „daß der Austausch nicht sein kann ohne die Gleichheit, die Gleichheit aber nicht ohne die Kommensurabiiität" (I 35). An diesen Gedanken knüpft er an. Er stellt sich den Austausch zweier Waren unter dem Bilde einer Gleichung vor, folgert, daß in den beiden ausgetauschten und dadurch gleichgestellten Dingen „ein Gemeinsames von derselben Größe" existieren müsse, und geht darauf aus, dieses Gemeinsame, auf welches die gleich- gestellten Dinge als Tauschwerte „reduzierbar" sein müssen, aufzusuchen^). Ich möchte einschaltungsweise bemerken, daß mir schon die erste Voraussetzung, wonach im Austausch zweier Dinge sich eine „Gleichheit" derselben manifestieren soll, sehr unmodern — woran allerdings am Ende nicht viel liegen würde —., aber auch sehr unrealistisch, oder um es gut deutsch zu sagen, unrichtig gedacht zu sein scheint. Wo Gleichheit und genaues Gleichgewicht herrscht, pflegt ja keine Veränderung der bisherigen Ruhelage einzutreten. Wenn daher im Falle des Tausches die Sache damit endet, daß die Waren ihren Besitzer wechseln, so ist das viel eher ein Zeichen dafür, daß irgend eine Ungleichheit oder ein Übergewicht im Spiele war, durch dessen Ausschlag die Veränderung erzwungen wurde — geradeso, wie zwischen den Bestandteilen einander nahe gebrachter zu- sammengesetzter Körper neue chemische Verbindungen eingegangen werden, wenn die chemische „Verwandtschaft" zu Bestandteilen des an- genäherten fremden Körpers eben nicht gerade gleich stark, sondern stärker ist als zu den Bestandteilen der bisherigen Zusammensetzung. In der Tat ist ja auch die moderne Nationalökonomie einmütig darin, daß die alte scholastisch-theologische Anschauung von der „Äquivalenz" der auszutauschenden Werte unzutreffend ist. Aber ich will auf diesen Punkt kein weiteres Gewicht legen und wende mich der kritischen Untersuchung derjenigen logischen und methodischen Operationen zu, durch welche Marx als das gesuchte „Gemeinsame" die Arbeit herausdestilliert. ») I 11; siehe oben S. 368ff. 380 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Marx schlägt bei der Suche nach dem für den Tauschwert charakte- ristischen ,. Gemeinsamen" folgendes Verfahren ein. Er läßt die ver- schiedenen Eigenschaften, welche die im Tausche gleichgesetzten Objekte überhaupt besitzen, Revue passieren, scheidet dann nach der Methode der Ausschließung alle diejenigen, welche die Probe nicht bestehen, aus, bis zuletzt nur noch eine einzige Eigenschaft übrig bleibt. Diese — es ist die Eigenschaft, Arbeitsprodukt zu sein — muß dann die gesuchte gemein- same Eigenschaft sein. Dieses Verfahren ist etwas seltsam, aber an sich nicht verwerflich. Es ist gewiß etwas seltsam, wenn man, statt die gemutmaßte charakte- ristische Ejgenschaft positiv auf die Probe zu stellen — was allerdings auf eine der beiden früher besprochenen, von Marx geflissentlich ver- miedenen Methoden geführt hätte — sich die Überzeugung, daß gerade sie die gesuchte Eigenschaft sei, lediglich auf dem negativen Wege ver- schafft, daß alle übrigen Eigenschaften es nicht sind, eine es aber doch sein müsse. Immerhin kann diese Methode zum erwünschten Ziele führen, wenn sie mit der nötigen Vorsicht und Vollständigkeit gehandhabt wird; d. h., wenn man mit peinlicher Sorgfalt darauf achtet, daß ja alles, was hinein gehört, in das logische Sieb auch wirklich hineingetan, und dann bei keinem einzigen Glied, welches im Weg der Durchsiebung ausge- schlossen wird, ein Versehen begangen wird. Wie geht aber Marx vor? Er tut von vornherein nur diejenigen tauschwerten Dinge in das Sieb, welche die Eigenschaft besitzen, die er als die „gemeinsame" schließ- lich heraussieben will, und läßt alle andersartigen draußen. Er macht es, wie jemand, der dringend wünscht, daß aus der Urne eine weiße Kugel hervorgehen soll, und dieses Ergebnis vorsichtiger Weise dadurch unter- stützt, daß er in die Urne keine anderen als weiße Kugeln hineinlegt. Er beschränkt nämlich den Umfang seiner Untersuchung nach der Substanz des Tauschwertes von vornherein auf die „Waren", wobei er diesen Begriff, ohne ihn just sorgfältig zu definieren, jedenfalls enger als den der „Güter" faßt und auf Arbeitsprodukte im Gegensatz zu Naturgaben einschränkt. Nun liegt es doch auf der Hand: wenn wirklich der Austausch eine Gleich- setzung bedeutet, die das Vorhandensein eines „Gemeinsamen von gleicher Größe" voraussetzt, so muß dieses Gemeinsame doch bei allen Güter- gattungen zu suchen und zu finden sein, die in Austausch treten; nicht bloß bei Arbeitsprodukten, sondern auch bei Naturgaben, wie Grund und Boden, Holz auf dem Stamm, bei Wasserkräften, Kohlenlagern, Stein- brüchen, Petroleumlagern, Mineralwassern, Goldminen u. dgl. ^). Die ') Treffend wendet Knies gegen Marx ein: „Es ist innerhalb der Darlegung von Marx absolut kein Grund ersichtlich, weshalb nicht so gut wie die Gleichung: 1 Quarter Weizen = a Zentner im Forst produzierten Holzes, auch die zweite auftreten soll: Marx. 381 tauschwerten Güter, die nicht Arbeitsprodukte sind, bei der Suche nach dem dem Tauschwerte zu gründe liegenden Gemeinsamen auszuschließen, ist unter diesen Umständen eine methodische Todsünde. Es ist nicht anders, als wenn ein Physiker den Grund einer allen Körpern gemeinsamen Eigen- schaft, z. B. der Schwere, aus einer Siebung der Eigenschaften einer einzelnen Gruppe von Körpern, z. B. der durchsichtigen Körper, erforschen wollte, indem er alle den durchsichtigen Körpern gemeinsamen Eigen- schaften Revue passieren läßt, von allen übrigen Eigenschaften derselben demonstriert, daß sie der Grund der Schwere nicht sein können, und auf Grund dessen schließüch proklamiert, daß die Durchsichtigkeit die Ursache der Schwere sein müsse. Die Ausschließung der Naturgaben (die dem Vater des Gedankens von der Gleichsetzung im Austausch, Aristoteles, gewiß nicht in den Sinn gekommen wäre) läßt sich umsoweniger rechtfertigen, als manche Natur- gaben, wie der Grund und Boden zu den allerwiehtigsten Objekten des Vermögens und Verkehres gehören, und als sich auch durchaus nicht etwa behaupten läßt, daß bei Naturgaben die Tauschwerte sich immer nur ganz zufällig und willkürlich feststellen. Einerseits kommen Zufalls- preise auch bei Arbeitsprodukten vor, und andererseits weisen die Preise von Naturgaben oft die deutlichsten Beziehungen zu festen Anhaltspunkten oder Bestimmgründen auf. Daß z. B. der Kaufpreis von Grundstücken ein nach dem landesüblichen Zinsfuß sich richtendes Multiplum ihrer Rente bildet, ist ebenso bekannt, als es sicher ist, daß Holz am Stamm oder Kohle in der Grube bei verschiedener Güte oder in verschiedenen Lagen mit ungleichen Bringungsverhältnissen nicht aus bloßem Zufall einen verschiedenen Preis erzielt u. dgl. Marx hütet sich auch, eine ausdrückliche Rechenschaft darüber ab- zulegen, daß und warum er einen Teil der tauschwerten Güter von der Untersuchung von vornherein ausgeschlossen hat. Er versteht es auch hier, wie so oft, über die heiklen Stellen seines Räsonnements mit aalglatter dialektischer Geschicklichkeit hinüberzugleiten. Er vermeidet zunächst, seine Leser darauf aufmerksam zu machen, daß sein Begriff der „Ware" enger ist als der des tauschwerten Gutes überhaupt. Er bereitet für die spätere Einschränkung der Untersuchung auf die Waren ungemein ge- schickt einen natürlichen Anknüpfungspunkt durch die an die Spitze seines Buches gestellte, scheinbar ganz harmlose allgemeine Phrase vor, daß „der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Pro- duktionsweise herrscht, als eine ungeheuere Warensammlung erscheine". Dieser Satz ist vollkommen falsch, wenn man den Ausdruck Ware in dem ihm von Marx später unterlegten Sinne von Arbeitsprodukten versteht. 1 Quarter Weizen = a Zentner wildgewachsenen Holzes, = b Morgen jungfräulichen Bodens = c Morgen Weidefläche auf natürlichen Wiesen." (Das Geld, I. Aufl., S. 121, IL Aufl. S. 167.) 382 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Denn die Naturgaben, einschließlich des Grundes und Bodens machen einen sehr erheblichen und nicht im mindesten gleichgültigen Bestandteil des Nationalreichtums aus. Aber der unbefangene Leser geht leicht über diese Ungenauigkeit hinweg, weil er ja nicht weiß, daß Marx später dem Ausdruck Ware einen viel engereij Sinn beilegen wird. Auch im folgenden wird dies noch nicht klargestellt. Im Gegenteil, in den ersten Absätzen des ersten Kapitels ist abwechselnd vom „Ding", vom „Gebrauchswert", vom „Gut" und der „Ware" die Rede, ohne daß zwischen letzterer und den ersteren eine scharfe Unterscheidung gezogen würde. „Die Nützlichkeit eines Dinges" — heißt es auf S. 10 — „macht es zum Gebrauchswert". „Der Warenkörper ... ist ein Gebrauchs- wert oder Gut". Auf S. 11 lesen wir: „Der Tauschwert erscheint ... als das quantitative Verhältnis . . . worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen." Wohlgemerkt, hier wird als Held des Tauschwertphänomens geradezu noch der Gebrauchswert = Gut bezeichnet. Und mit der Phrase ,, Betrachten wir die Sache näher", die sicherlich kein Überspringen auf ein anderes, engeres Gebiet der Unter- suchung anzukündigen geeignet ist, fährt Marx fort: „Eine einzelne Ware, ein Quarter Weizen tauscht sich in den verschiedensten Propor- tionen mit anderen Artikeln aus." Und „Nehmen wir ferner zwei Waren" usw. In demselben Absätze kehrt sogar noch einmal der Aus- druck „Dinge" wieder und zwar gerade in der für das Problem wichtigen Wendung, daß „ein Gemeinsames von derselben Größe in zwei verschie- denen Dingen existiert" (die eben einander im Austausche gleichgesetzt werden). Alif der folgenden Seite 12 führt aber Marx die Suche nach dem „Gemeinsamen" nur für den „Tauschwert der Waren" durch, ohne mit einem Sterbenswörtlein darauf aufmerksam zu machen, daß er das Unter- suchungsfeld damit auf einen Teil der tauschwerten Dinge eingeengt haben wilP). Und sofort auf der nächsten Seite, S. 13, wird die Einschränkung wieder verlassen, und das soeben für den engeren Bereich der Waren gewonnene Ergebnis auf den weiteren Kreis der Gebrauchswerte der Güter angewendet. „Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist!" Hätte Marx an der entscheidenden Stelle die Untersuchung nicht auf die Arbeitsprodukte eingeengt, sondern auch bei den tauschwerten Naturgaben nach dem Gemeinsamen gesucht, so wäre es handgreiflich gewesen, daß die Arbeit das Gemeinsame nicht sein kann. Hätte er jene ^) In einem Zitat aus Bakbon wird sogar in diesem selben Absatz der Unter- schied von Waren und Dingen noch einmal verwischt: „Die eine Warensorte ist so gut wie die andere, wenn ihr Tauschwert gleich groß ist. Da existiert keine Verschie- denheit oder Unterscheidbarkeit zwischen Dingen von gleich großem Tauschwert!" Marx. 383 Einengung ausdrücklich und offenkundig vollzogen, so hätte er selbst und hätten seine Leser unfehlbar über den derben methodischen Fehler stolpern, sie hätten über das ng^ve Kunststück lächeln müssen; durch welches die Eigenschaft, Arbeitsprodukt zu sein, glücklich als gemeinsame Eigenschaft eines Kreises herausdestilliert wird, nachdem man zuvor alle von Natur aus gleichfalls hinein gehörigen tauschwerten Dinge, die nicht Arbeitsprodukte sind, eigens aus demselben ausgeschieden hat. Das Kunst- stück war nur so zu machen, wie Marx es gemacht hat, unvermerkt, mit einer rasch und leicht über den heiklen Punkt gleitenden Dialektik, Indem ich meine aufrichtige Bewunderung über die Geschicklichkeit ausspreche, mit der Marx ein derart fehlerhaftes Verfahren annehmbar zu präsentieren wußte, kann ich natürlich doch nur feststellen, daß das Verfahren ein vollkommen fehlerhaftes war. Aber sehen wir weiter zu. Mit dem soeben geschilderten Kunststücke hatte Marx doch erst erreicht, daß die Arbeit überhaupt in die Konkurrenz eintreten konnte. Durch die künstliche Einengung des Kreises war sie überhaupt erst zu einer für diesen engen Kreis „gemeinsamen" Eigen- schaft geworden. Aber neben ihr konnten ja auch noch andere Eigen- schaften als gemeinsam in Frage kommen. Wie werden nun diese anderen Konkurrenten ausgestochen ? Das geschieht durch zwei weitere Gedankenglieder, von denen jedes nur einige Worte, aber in ihnen einen der schwersten logischen Fehler enthält. Im ersten Glied schließt Marx alle „geometrischen, physischen, chemischen oder sonstigen natürlichen Eigenschaften der Waren" aus. Denn „ihre körperlichen Eigenschaften kommen überhaupt nur in Betracht, soweit selbe sie nutzbar machen, also zu Gebrauchswerten. Anderer- seits ist aber das Austauschverhältnis der Waren augen- scheinlich charakterisiert durch die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten," Denn „innerhalb desselben (des Austausch visr- hältnisses) gilt ein Gebrauchswert gerade so viel wie jeder andere, wenn er nur in gehöriger Proportion vorhanden ist" (I 12). Was hätte Marx zu folgender Argumentation gesagt? An einer Opernbühne haben drei ausgezeichnete Sänger, ein Tenor, ein Baß und ein Bariton, jeder einen Gehalt von 20000 fl. Man fragt, was ist der gemein- same Umstand, um dessenwiUen sie im Gehalte einander gleichgestellt werden? und ich antworte: In der Gehaltfrage gilt eine gute Stimme gerade so viel wie jede andere, eijie gute Tenorstimme so viel wie eine gute Baß- oder gute Baritonstimme, wenn sie nur überhaupt in gehöriger Proportion vorhanden ist, Folghch abstrahiert man „augenscheinlich" in der Gehaltfrage von der guten Stimme, folglich kann die gute Stimme die gemeinsame Ursache des hohen Gehaltes nicht sein. — Daß diese Argumentation falsch ist, ist klar. Ebenso klar ist aber auch, daß die 384 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. MARxsche Schlußfolgerung, nach der sie genau kopiert ist, um kein Haar richtiger ist. Beide leiden an demselben Fehler. Sie verwechseln Abstraktion von einem Umstände überhaupt mit Abstraktion von den speziellen Modalitäten, unter denen dieser Umstand auftritt. Was in unserem Beispiele für die Gehaltfrage gleichgiltig ist, ist offenbar nur die spezielle Modalität, unter der die gute Stimme erscheint, ob als Tenor, als Baß, als Baritonstimme; aber beileibe nicht die gute Stimme überhaupt. Und ebenso wird für das Austauschverhältnis der Waren zwar von der speziellen Modalität abstrahiert, unter der der Gebrauchswert der Waren erscheinen mag, ob die Ware zur Nahrung, Wohnung, Kleidung usw. dient, aber beileibe nicht vom Gebrauchswerte überhaupt. Daß man nicht vom letzteren schlechtweg abstrahiert, hätte Marx schon daraus entnehmen können, daß ja kein Tauschwert existieren kann, wo nicht ein Gebrauchs- wert vorhanden ist; eine Tatsache, die Marx selbst wiederholt einzu- gestehen gezwungen ist^). Noch schlimmer ist es aber mit dem nächsten Gliede des Beweis- ganges bestellt. ,, Sieht man vom Gebrauchswerte der Warenkörper ab," sagt Marx wörtlich — „so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten." Wirklich? Nur noch eine Eigenschaft? Bleibt den tauschwerten Gütern nicht z, B. auch die Eigenschaft geraeinsam, daß sie im Verhältnis zum Bedarf e selten sind? Oder daß sie Gegenstand des Begehrs und Angebotes sind? Oder daß sie appropriiert sind? Oder daß sie „Naturprodukte" sind? Denn daß sie ebensosehr Natur- als Arbeitsprodukte sind, sagt niemand deutlicher als Marx selbst, wenn er einmal ausspricht: ,,Die Warenkörper sind Verbindungen von zwei Ele- menten, Naturstoff und Arbeit"; oder wenn er beifällig die Worte Pettys ^) z. B. S. 15 am Ende: ,, Endlich kann kein Ding wert sein, ohne Gebrauchsgegen- stand zu sein. Ist es nutzlos, so ist auch die in ihm enthaltene Arbeit nutzlos, zählt nicht als Arbeit (sie!) und bildet daher keinen Wert." — Auf den im Texte gerügten logischen Fehler hat schon Knies aufmerksam gemacht. Siehe Das Geld, Berlin 1873, S. 123f. (2. Aufl. S. 160ff.) In seltsamer Weise hat Adler ( Grundlagen der Karl Man- schen Kritik, Tübingen 1887, S. 211 f.) mein Argument mißverstanden, wenn er mir entgegenhält, daß die guten Stimmen keine Waren im Marxschen Sinne seien. Es handelte sich mir ja keineswegs darum, ob sich die ,, guten Stimmen" als wirtschaftliche Güter unter das Marxsche Wertgesetz subsumieren lassen oder nicht, sondern viel- mehr lediglich darum, das Muster eines logischen Schlusses aufzustellen, der denselben Fehler aufweist, wie der MARXsche. Ich hatte dazu ebensogut ein Beispiel wählen können, das gar keine Beziehung zilm wirtschaftlichen Gebiet besitzt. Ich hätte z. B. ebensogut demonstrieren können, daß nach MARXscher Logik das Gemeinsame der bunten Körper in Gott weiß was, aber nicht in der Mischung mehrerer Farben gelegen sein könne. Denn eine Farbenmischung, z. B. weiß, blau, gelb, schwarz, violett, gilt für die Buntheit gerade so viel wie jede andere Farbenmischung, z. B. grün, rot, orange, himmelblau usw., wenn sie nur „in gehöriger Proportion" vorhanden ist: folglich abstrahiere man augen- scheinlich von der Farbe und Farbenmischung! Marx. 385 zitiert: „Die Arbeit ist sein (des stofflichen Reichtumes) Vater, und die Erde seine Mutter"^). Warum soll nun, frage ich, das Prinzip des Wertes nicht ebensogut in irgend einer dieser gemeinsamen Eigenschaften liegen können, statt in der Eigenschaft, Arbeitsprodukt zu sein? Denn zu gunsten der letzteren hat Marx nicht einmal die Spur eines positiven Grundes vorgebracht; sein einziger Grund ist der negative, daß der glücklich hinweg abstrahierte Gebrauchswert das Prinzip des Tauschwertes nicht ist. Kommt aber dieser negative Grund nicht ganz im gleichen Maße allen anderen von Marx übersehenen gemeinsamen Eigenschaften zu? Ja noch mehr! Auf derselben S. 12, auf welcher Marx den Einfluß des Gebrauchswertes auf den Tauschwert mit der Motivierung hinweg- abstrahiert hat, daß ein Gebrauchswert so viel gilt wie jeder andere, wenn er nur in gehöriger Proportion vorhanden ist, erzählt er uns von den Arbeitsprodukten folgendes: „Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchs- wert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen. Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Garn oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinnlichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unter- scheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit.'. Kann man deutlicher und ausdrücklicher sagen, daß für das Aus- tauschverhältnis nicht bloß ein Gebrauchswert, sondern auch eine Art von Arbeit und Arbeitsprodukten „gerade so viel wie jede andere gilt, wenn sie nur in gehöriger Proportion vorhanden ist?" daß mit anderen Worten genau derselbe Tatbestand, auf Grund dessen Marx soeben sein Ausschließungsverdikt gegen den Gebrauchswert ausgesprochen hat, auch rücksichtlich der Arbeit besteht? Arbeit und Gebrauchswert haben eine qualitative und eine quantitative Seite. So gut der Gebrauchswert als Tisch, Haus oder Garn qualitativ verschieden ist, so gut ist es die Arbeit als Tischlerarbeit, Bauarbeit oder Spinnarbeit. Und so gut man Arbeit verschiedener Art nach ihrer Menge vergleichen kann, gerade so kann man Gebrauchswerte verschiedener Art nach der Größe des Gebrauchs- wertes vergleichen. Es ist absolut unerfindlich, warum der identische Tatbestand für den einen Konkurrenten zur Ausschließung, für den anderen 1) Das Kapital S. 17f. B Ö h m - B a w e r k . Kapitslzliu. 4. Aufl. 26 386 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik, zur Klrönung mit dem Preise führen soll! Wenn Marx zufällig die Reihen- folge der Untersuchung verkehrt hätte, so hätte er mit genau demselben Schlußapparat, mit welchem er den Gebrauchswert ausgeschlossen hat, die Arbeit ausschließen, und dann wiederum mit demselben Schlußapparat, mit welchem er die Arbeit gekrönt hat, den Gebrauchswert als die allein übrig gebliebene und also gesuchte gemeinsame Eigenschaft proklamieren, und den Wert als eine „Gebrauchswert-Gallerte" erklären können. Ich glaube, es läßt sich nicht im Scherze, sondern im vollen Ernst behaupten, daß in den beiden Absätzen der S. 12, in deren erstem der Einfluß des Gebrauchswertes hinwegabstrahiert, und im zweiten die Arbeit als das gesuchte Gemeinsame demonstriert wird, ohne irgend eine Veränderung in der äußeren logischen Richtigkeit sich die Subjekte gegenseitig ver- tauschen ließen; daß in das ungeänderte Satzgefüge des ersten Absatzes statt des Gebrauchswertes überall die Arbeit und die Arbeitsprodukte, in das Gefüge des zweiten statt der Arbeit überall der Gebrauchswert eingesetzt werden könnte! So ist die Logik und die Methodik beschaffen, mit welcher Marx seinen Fundamentalsatz von der Arbeit als alleiniger Grundlage des Wertes in sein System einführt. Wie ich unlängst schon an einem anderen Orte bemerkt habe^), halte ich es für vollkommen ausgeschlossen, daß dieser dialektische Hokuspokus für Marx selbst Grund und Quelle der Überzeugung war. Ein Denker vom Range Marx' — und ich schätze ihn für eine Denkkraft allerersten Ranges — hätte, wenn es sich für ihn darum gehandelt hätte, seine eigene Überzeugung erst zu bilden, und den tat- sächlichen Zusammenhang der Dinge wirklich erst mit freiem unpartei- ischem Blick zu suchen, ganz unmöglich von Haus aus auf einem derart gekrümraten und naturwidrigen Wege suchen, er hätte ganz unmöglich aus bloßem unglücklichem Zufall in alle die geschilderten logischen und methodischen Fehler der Reihe nach hineintappen, und als naturwüchsiges, nicht vorausgewußtes und vorausgewoUtes Ergebnis eines solchen For- schungsweges die These von der Arbeit als alleiniger Wertquelle heim- bringen können. Ich glaube, der wirkliche Sachverhalt war anders. Ich zweifle gar nicht, daß Marx von seiner These wirklich und ehrlich überzeugt war. Aber die Gründe seiner Überzeugung sind nicht die, die er ins System geschrieben hat. Er glaubte an seine These, wie ein Fanatiker an ein Dogma glaubt. Er wurde ohne Zweifel von ihr auf Grund derselben vagen, beiläufigen, vom Verstand nicht scharf kontrollierten Eindrücke, die vor ihm schon Adam Smith und Ricardo zum Ausspruch ähnlicher Ideen verleitet hatten, und unter dem Einfluß dieser angesehenen Autoritäten erfaßt; und er gelangte wohl nie dazu, auch nur den mindesten Zweifel 1) Zum Abschluß des Marxschen Systems, S. 77ff. Marx. 387 an ihrer Richtigkeit zu hegen. Für ihn selbst stand also sein Satz fest -wie ein Axiom. Aber seinen Lesern mußte er ihn beweisen. Empirisch oder wirtschaftspsychologisch hätte er sich nicht beweisen lassen: so wandte er sich denn an die seiner Geistesrichtung ohnedies zusagende logisch-dialektische Spekulation, und künstelte und schraubte an den geduldigen Begriffen und Prämissen mit einer in ihrer Art bewunderns- werten Kunstfertigkeit so lange herum, bis das vorausgewußte und voraus- gewoUte Ergebnis in äußerlich reputierlicher Schlußform wirklich heraus- kam. Mit diesem seinem Versuche, auf dialektischem Wege seiner These zu einer beweiskräftigen Stütze zu verhelfen, ist nun Marx, wie wir uns soeben überzeugt haben, vollständig gescheitert. Hätte sich aber eine Stütze nicht etwa auf einem der von Marx vermiedenen, dem empirischen oder psychologischen Wege gewinnen lassen? Daß die Analyse der bei der Tauschwertbildung wirksamen psycho- logischen Motive auf ein anderes Ergebnis führt, werden wir im zweiten, positiven Hauptteil dieses Werkes sehen, und ist inzwischen im nach- gelassenen dritten Bande eigentlich auch von Marx selbst zugestanden worden^). Bleibt also noch die empirische Probe, die Probe aus. den Tat- sachen der Erfahrung. Was zeigen diese? Die Erfahrung zeigt, daß der Tauschwert nur bei einem Teile der Güter, und auch bei diesem nur beiläufig im Ver- hältnisse zu der Menge der Arbeit steht, welche die Er- zeugung derselben kostet. — So bekannt dieses tatsächliche Ver- hältnis wegen der Offenkundigkeit der Tatsachen, auf denen es beruht, auch sein sollte, so selten wird es richtig gewürdigt. Zwar darüber, daß die Erfahrung das Arbeitsprinzip nicht vollkommen bestätigt, ist alle Welt, einschließlich der sozialistischen Schriftsteller einig. Sehr häufig begegnet man aber der Ansicht, daß die Fälle, in denen die Wirklichkeit mit dem Arbeitsprinzipe übereinstimmt, die weitaus überwiegende Regel, und die Fälle, welche jenem Prinzipe widersprechen, eine relativ gering- fügige Ausnahme bilden. Diese Ansicht ist sehr irrig. Um sie ein für allemal zu berichtigen, will ich im folgenden die „Ausnahmen", welche in der Wirt Schafts weit das Arbeitswertprinzip erfahrungsgemäß durchkreuzen, gruppenweise zusammenstellen. Man wird sehen, daß die „Ausnahmen" so sehr überwiegen, daß sie kaum mehr etwas für die „Regel" übrig lassen. 1. Sind von der Geltung des Arbeitsprinzips alle „Seltenheitsgüter" ausgenommen, welche wegen irgend eines obwaltenden falktischen oder rechtlichen Hindernisses gar nicht, oder doch nicht in unbeschränkter Menge reproduziert werden können. Ricardo nennt beispielsweise Statuen und Gemälde, seltene Bücher und Münzen, ausgezeichnete Weine, und ^) Siehe noch unten. 25* XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. fügt die Bemerkung hinzu, daß diese Güter „nur einen sehr kleinen Teil der Gütermenge bilden, welche täglich auf dem Markte ausgetauscht wird". Wenn man indes bedenkt, daß in dieselbe Kategorie auch der gesamte Grund und Boden, ferner die zahlreichen Güter gehören, bei deren Erzeugung ein Erfindungspatent, Autorrecht oder Gewerbegeheimnis ins Spiel konunt, so wird man den Umfang dieser „Ausnahme" keineswegs unbeträchtlich finden^). 2. Buden eine Ausnahme alle Güter, welche nicht durch gemeine, sondern durch qualifizierte Arbeit erzeugt werden. Obwohl im Tages- produkte eines Bildhauers, eines Kunstschreiners, eines Geigenmachers, eines Maschinenbauers usw. nicht mehr Arbeit verkörpert ist, als im Tages- produkte eines gemeinen Handwerkers oder Fabriksarbeiters, hat doch jenes einen größeren, oft um vielfaches größeren Tauschwert. — Die Anhänger der Arbeitswerttheorie haben diese Ausnahme natürlich nicht übersehen können. Seltsamer Weise stellen sie sich aber so an, als ob hierin keine wirkliche Ausnahme, sondern nur eine kleine Variante läge, die sich noch innerhalb der Regel hält. Marx z. B. trifft die Auskunft, daß er die qualifizierte Arbeit als ein Vielfaches von gemeiner Arbeit rechnet. „Kompliziertere Arbeit" sagt er (S. 19), „gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so daß ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit ist. Daß diese Reduktion beständig vorgeht, zeigt die Erfahrung. Eine Ware mag das Produkt der kompliziertesten Arbeit sein; ihr Wert setzt sie dem Produkte einfacher Arbeit gleich und stellt daher selbst nur ein bestimmtes Quantum einfacher Arbeit dar." Fürwahr ein theoretisches Kunststück von verblüffender Naivität! Daß man einem Arbeitstage eines Bildhauers fünf Arbeitstage eines Schanzgräbers in manchen Beziehungen, z. B. in der Bewertung gleich- halten könne, unterliegt gar keinem Zweifel. Aber daß 12 Arbeitsstunden des Bildhauers 60 gemeine Arbeitsstunden wirklich sind, wird wohl kein Mensch behaupten wollen. Nun, in Fragen der Theorie, z. B. in der Frage nach dem Prinzipe des Wertes, handelt es sich nicht um das, was (üe Menschen fingieren mögen, sondern nur um das, was wirklich ist. Für die Theorie ist und bleibt das Tagesprodukt des Bildhauers das Produkt einer Tagesarbeit; und wenn das Produkt einer Tagesarbeit so viel wert ist als ein anderes Gut, welches das Produkt von fünf Tagesarbeiten ist, so liegt hierin, mögen die Menschen fingieren was sie wollen, eine Aus- nahme von der behaupteten Regel, daß der Tauschwert der Güter sich nach der Menge der in ihnen verkörperten menschlichen Arbeit richte. — Gesetzt, eine Eisenbahn stuft im allgemeinen ihre Tarifsätze nach der 1) Vgl. Knies, Kredit, II. Hälfte S. 61. Marx. 389 Länge der von den beförderten Personen und Gütern durchlaufenen Strecke ab, ordnet jedoch an, daß innerhalb einer Teilstrecke mit besonders kostspieligen Betriebsverhältnissen jeder Kilometer für zwei Kilometer gerechnet werden soll: kann dann jemand behaupten, daß die Länge der Strecke das ausschließliche Prinzip für die Tarifbestimmung der Bahn wirklich ist? Gewiß nicht; es wird fingiert, daß sie es sei, aber in Wahrheit wird ihre Wirksamkeit von der zweiten Rücksicht auf die Be- schaffenheit der Strecke durchkreuzt. Und eben so wenig ist trotz aller Kunstgriffe die theoretische Einheit des Arbeitsprinzipes zu retten i). Auch diese zweite Ausnahme umfaßt, wie weiter auszuführen wohl nicht nötig ist, einen bedeutenden Teil der Verkehrsgüter. Ja, wenn man strenge sein wiU, gehören beinahe alle Güter hieher. Denn fast bei der Produktion jedes Gutes kommt wenigstens etwas qualifizierte Arbeit ins Spiel, Arbeit eines Erfinders, Dirigenten, Vorarbeiters u. dgl.; was dann auch den Wert desselben ein wenig über jenes Niveau erhebt, das der Menge der Arbeit allein entsprochen hätte. 3. Wird die Zahl der Ausnahmen vermehrt durch die allerdings nicht bedeutende Menge von Gütern, die durch abnorm schlecht gelohnte Arbeit erzeugt werden. Bekanntlich kann aus Gründen, die hier nicht erörtert zu werden brauchen, in gewissen Produktionszweigen der Arbeitslohn dauernd unter dem Existenzminimum stehen, wie z. B. bei weiblichen Handarbeiten, Näh-, Stick- und Strickarbeiten u. dgl. Die Produkte dieser Beschäftigungen haben dann gleichfalls einen abnorm niedrigen Wert. Es ist z. B. nicht ungewöhnlich, daß das Produkt von drei Arbeits- tagen einer Weißnäherin noch nicht dem Werte des Produktes von zwei Arbeitstagen einer Fabriksarbeiterin gleichkommt. — Alle bis jetzt namhaft gemachten Ausnahmen liegen in der Richtung, daß sie gewisse Gütergruppen von der Wirksamkeit des Arbeitswertgesetzes gänzlich eximieren, also das Geltungsgebiet des letzteren einengen. Sie lassen für das letztere eigentlich nur mehr jene Güter übrig, deren be- liebiger Reproduktion keinerlei Schranken entgegenstehen und die zu- gleich zu ihrer Erzeugung keine andere als gemeine Arbeit erfordern. Aber selbst dieses eingeengte Gebiet wird vom Arbeitswertgesetze nicht ausnahmslos beherrscht; vielmehr wirken einige weitere Ausnahmen in der Richtung, daß sie auch hier noch die Strenge seiner Geltung lockern. Eine 4. Ausnahme vom Arbeitsprinzipe wird nämlich durch die be- kannte und allseitig zugestandene Erscheinung gebildet, daß auch jene Güter, deren Tauschwert im großen und ganzen mit der Menge ihrer Kostenarbeit harmoniert, diese Harmonie doch nicht in jedem Augenblicke aufweisen; daß vielmehr durch die Schwankungen von Angebot und Nach- frage der Tauschwert häufig über, häufig unter dasjenige Niveau ver- ^) Grenauer habe ich mich über diese Frage in meinem wiederholt zitierten Aufsatz zum AbschluS des MABXschen Systemes S. 80ff. ausgesprochen. 390 ^I- I^ic Aasbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. schoben wird, welches der in den Gütern verkörperten Arbeitsmenge entspräche. Letztere bezeichnet nur den Gravitationspunkt, keinen Fix- punkt des Tauschwertes. — Auch mit dieser Ausnahme scheinen mir die sozialistischen Anhänger des Arbeitsprinzipes sich allzuleicht abzufinden. Sie konstatieren sie zwar, behandeln sie aber als vorübergehende kleine Irregularität, deren Dasein dem großen „Gesetze" des Tauschwertes keinen Eintrag tut. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß diese Irregularitäten ebenso viele Beispiele von Tauschwertbildungen sind, die durch andere Bestimmgründe als die Menge der Kostenarbeit geregelt werden. Dies hätte doch wenigstens zu einer Untersuchung Anlaß geben sollen, ob nicht vielleicht ein allgemeineres Prinzip des Tauschwertes existiert, auf welches sich nicht allein die „regelmäßigen" sondern auch die — vom Standpunkte der Arbeitstheorie — als unregelmäßig erscheinenden Tauschwertbüdungen gemeinsam zurückführen lassen. Eine solche Untersuchung wird man aber bei den Theoretikern der jetzt besprochenen Richtung vergeblich suchen. 5. Endlich zeigt es sich, daß abgesehen von diesen momentanen Schwankungen der Tauschwert der Güter von dem durch die verkörperte Arbeitsmenge bezeichneten Niveau auch noch ständig nicht unbeträcht- lich abweicht, indem von zwei Gütern, deren Herstellung genau die gleiche Menge gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit kostet, dasjenige einen höheren Tauschwert behauptet, dessen Herstellung den stärkeren Vorschuß „vorgetaner" Arbeit fordert. Ricardo hat, wie wir wissen, diese Aus- nahme vom Arbeitsprinzip in zwei Sektionen des I. Kapitels seiner „Grund- sätze" ausführlich besprochen, Rodbertus und Marx ignorieren sie bei der Ableitung ihrer Theorien^), ohne sie ausdrücklich zu leugnen, was sie füglich nicht konnten: denn daß ein hundertjähriger Eichenstamm einen höheren Wert besitzt, als der halben Minute Zeit entspricht, die die Aus- saat seines Keimes fordert, ist zu bekannt, um mit Erfolg bestritten werden zu können. Resümieren wir: dem angeblichen „Gesetze", daß der Wert der Güter sich nach der Menge der in ihnen verkörperten Arbeit richte, gehorcht ein beträchtlicher Teil der Güter gar nicht, der Rest nicht immer und nie genau: dies ist das Erfahrungsmaterial, mit dem der Werttheoretiker zu rechnen hat. Welche Schlüsse kann ein unbefangener Theoretiker aus solchem Materiale ziehen ? — G^wiß nicht den, daß Ursprung und Maß alles Wertes sich ausschließlich auf Arbeit gründet. Ein solcher Schluß wäre um kein Haar besser, als wenn man auf die Erfahrung hin, daß Elektrizität häufig ^) Marx nimmt von ihr erst im nachgelassenen dritten Bande ausdrücklich Notiz, und zwar, wie nicht anders zu erwarten war, mit dem Erfolge, daß er zu den Ge- setzen des ersten Bandes, die unter Ignorierung der Ausnahme gewonnen worden waren, in Widerspruch geriet. Marx. 391 durch Reibung, häufig freilich auch auf andere Weise entsteht, das Gesetz proklamieren wollte: Alle Elektrizität entsteht durch Reibung. Dagegen wird man wohl den Schluß ziehen können, daß der Arbeits- aufwand ein Umstand ist, der einen weitreichenden Hnfluß auf den Tausch- wert vieler Güter ausübt; allein wohlgemerkt, nicht als endgiltige Ursache, die ja allen Werterscheinungen gemeinsam sein müßte — sondern als partikuläre Zwischenursache. Für einen solchen Einfluß der Arbeit auf den Wert wird man auch um eine innere Begründung nicht verlegen sein, die sich für jenen weitergehenden Satz absolut nicht finden läßt. Es mag femer ganz interessant und ganz wichtig sein, den Einfluß der Arbeit auf den Güterwert genauer zu verfolgen, und die Ergebnisse in der Form von Gresetzen auszusprechen: nur wird man dabei nie aus dem Auge ver- lieren dürfen, daß dies nur partikuläre Wertgesetze sein werden, welche das allgemeine Wesen des Wertes nicht berühren^). Um mich eines Ver- gleiches zu bedienen: die Gesetze, die den Einfluß der Arbeit auf den Tauschwert der Güter formulieren, werden zum allgemeinen Wertgesetze in ähnlichem Verhältnisse stehen, wie das Gesetz: „Westwind bringt Regen", zu einer allgemeinen Theorie des Regens. ' Westwind ist eine vielverbreitete Zwischenursache des Regens, wie Arbeitsaufwand eine viel- verbreitete Zwischenursache des Güterwertes; aber das Wesen des Regens beruht so wenig auf dem Westwinde, als das des Wertes auf aufgewendeter Arbeit. Ricardo selbst hat die berechtigten Grenzen nur erst wenig über- schritten. Wie ich oben gezeigt habe, weiß er recht gut, daß sein Arbeits- wertgesetz nur ein partikuläres ist, daß z. B. der Wert der „Seltenheits- güter" auf einer anderen Grundlage beruht. Er irrt nur insofern, als er den Umfang, für den es gilt, sehr überschätzt und ihm eine praktisch nahezu universelle Geltung zuschreibt. Im Zusammenhange damit steht es, daß er der gering geachteten Ausnahmen, die er im Anfange seines Werkes ganz richtig namhaft gemacht hat, späterhin fast gar nicht mehr gedenkt, und von seinem Gesetze — mit Unrecht — oft in einem Tone spricht, als ob es wirklich ein universelles Wertgesetz wäre. Erst seine weniger weitblickenden Nachfolger sind in den kaum be- greiflichen Fehler verfallen, die Arbeit mit voller und bewußter Strenge *) Elrheblich zu weit scheint mir darum von neueren auch Natoli, Principio del valore, zu gehen, der trotz einer recht lebhaften Erkenntnis, daß die Arbeit weder einen originären, noch einen universellen Einfluß auf den Güterwert ausübt, daß dieser sich vielmehr ausnahmslos auf den „grado di utilita" (Grenznutzen) stützen müsse, und daß endlich in der RiCARDiANischen Arbeitswerttheorie Ursache und Wirkung verkehrt wird (a. a. 0. S. 191), dennoch auf dem Umweg über eine angeblich sich immer durchsetzende ,, Nützlichkeitsgleichung" (equazione utilitaria) zwischen Wert und Arbeit dazu gelangt, die Übereinstimmung zwischen Wert und Arbeit als das Fun- damentalgesetz des Wertes, ja sogar als das grundlegende „Kardinalgesetz der ganzen Ökonomie" zu erklären (a. a. 0. S. 191, 244, 277 und 391). 392 XII. Die Ansbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. als das universelle Prinzip des Wertes hinzustellen. Ich sage: in den kaum begreiflichen Fehler; denn es läßt sich in der Tat schwer fassen, wie theo- retisch gebildete Männer nach reiflicher Überlegung einen Lehrsatz be- haupten konnten, den sie einfach auf gar nichts stützen können: nicht auf die Natur der Sache, denn diese zeigt absolut keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Wert und Arbeit; nicht auf die Erfahrung, denn diese zeigt im Gegenteile, daß der Wert meistens mit dem Arbeitsaufwande nicht harmoniert; endlich nicht einmal auf Autoritäten: denn die be- rufenen Autoritäten haben den Satz in der anspruchsvollen Allgemeinheit, die man ihm jetzt zu geben liebte, nie behauptet. Und einen so ganz in die Luft gebauten Satz behaupten die sozia- listischen Anhänger der Ausbeutungstheorie nicht etwa nur nebenher in irgend einer harmlosen Ecke eines theoretischen Lehrgebäudes, sondern sie stellen ihn an die Spitze der eingreifendsten praktischen Forderungen. Sie behaupten das Gesetz, daß der Wert aller Waren auf der in ihnen verkörperten Arbeitszeit beruht, um im nächsten Augenblicke aUe Wert- bildungen, die mit diesem „Gesetze" nicht harmonieren, z. B. die Wert- differenzen, die als Mehrwert dem Kapitalisten zufallen, als „gesetzwidrig", „unnatürlich", „ungerecht" anzugreifen und zur Ausrottung zu empfehlen. Erst ignorieren sie also die Ausnahme, um ihr Wertgesetz als allgemeines proklamieren zu können. Und nachdem sie so die Allgemeingiltigkeit desselben erschlichen haben, werden sie wieder auf die Ausnahmen auf- merksam, um sie als Verstöße gegen das Gesetz zu brandmarken. Diese Art der Schlußfolgerung ist wirklich nicht besser, als wenn man wahr- nimmt, daß es viele törichte Menschen gibt, ignoriert, daß es auch weise Menschen gibt, hiedurch zu dem „allgemein gütigen Gesetze" kommt, daß „alle Menschen töricht sind", und dann die Ausrottung der „gesetzwidrig" existierenden Weisen forderte! — So habe ich über das Arbeitswertgesetz überhaupt, und speziell über die von Marx dafür gegebene Begründung im wesentlichen schon vor vielen Jahren, in der ersten Auflage dieses Werkes geurteilt. Seither ist der nachgelassene dritte Band des MARxschen Kapitales erschienen. Sein- Erscheinen war in den theoretischen Kreisen aller Parteien mit einer gewissen Spannung erwartet worden. Man war gespannt, wie sich Marx mit einer gewissen Schwierigkeit auseinandersetzen werde, in die ihn die Lehre des ersten Bandes notwendig verstricken mußte und die im ersten Bande nicht nur ungelöst, sondern vorläufig auch noch unerörtert ge- blieben war. Ich habe schon Rodbertüs gegenüber darauf aufmerksam gemacht, daß die im Sinne des Arbeitswertgesetzes liegende Annahme, daß sich die Güter im Verhältnis der an ihnen haftenden Arbeit vertauschen, absolut unverträglich ist mit der weiteren von Rodbertüs gemachten, übrigens als Eifahrungstatsache unzweifelhaft feststehenden Annahme, daß eine Marx. 393 Nivelliening der KapitaJgewiime stattfindet^). Dieselbe Schwierigkeit mußte natürlich auch Marx in seinem Wege finden und dieselbe spitzte sich bei ihm sogar noch drastischer zu, weil bei ihm gerade jene Partie der Lehre, in der der Stein des Anstoßes liegt, mit besonderer, die Schwierig- keit sozusagen herausfordernder Nachdrückhchkeit formuliert ist. Marx unterscheidet nämlich innerhalb des Kapitales, welches dem Kapitalisten zur Aneignung von Mehrwert dient, zwei Bestandteile: den- jenigen Teil, welcher zur Besoldung von Arbeit dient, das „variable Kapital", und denjenigen Teil, welcher für sachliche Produktionsmittel, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen u. dgl., ausgelegt wird, das „konstante Kapital". Da nur die lebendige Arbeit wirklich neuen Mehrwert schaffen kann, so kann auch nur der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitales seinen Wert im Produktionsprozeß verändern, vergrößern, weshalb ihn eben Marx das „variable" Kapital nennt. Er allein reproduziert seinen eigenen Wert und noch einen Überschuß darüber, den Mehrwert. Der Wert der vemutzten Produktionsmittel dagegen wird nur einfach erhalten, indem er in veränderter Gestalt, aber unveränderter Größe — deshalb „konstantes" Kapital — im Wert des Produktes wiedererscheint; er kann keinen „Mehrwert ansetzen". Hieraus folgt mit Notwendigkeit, und Marx unterläßt nicht, diese Konsequenz mit allem Nachdruck hervor- zuheben, daß die Masse des Mehrwertes, der mit einem Kapitale produziert werden kann, im geraden Verhältnisse nicht zur Gesamtgröße des Kapitales, sondern nur zum variablen Teile desselben stehen kann^). Und es folgt weiter, daß gleich große Kapitalien eine ungleiche Menge von Mehrwert produzieren müssen, wenn ihre Zusammensetzung aus kon- stanten und variablen Bestandteilen — Marx nennt dies ihre „organische Zusammensetzung" — eine verschiedene ist. Nennen wir mit Marx weiter das Verhältnis des Mehrwertes zu dem für Löhne bezahlten variablen Kapitalteil die „Rate des Mehrwerts", und sein Verhältnis zu dem ge- samten vom Kapitalisten angewendeten Kapitale, auf welches derselbe in der Praxis den angeeigneten Mehrwert zu berechnen pflegt, die , Profit- rate", so ergibt sich, daß bei gleichem Ausbeutungsgrad oder gleicher Mehrwertsrate Kapitalien von ungleicher organischer Zusammensetzung eine ungleiche Profitrate tragen müssen. Kapitalien, in deren Zusammen- setzung der variable Bestandteil überwiegt, müssen eine höhere Profit- rate tragen, als solche, in deren Zusammensetzung der konstante Bestand- ») Siehe oben S. 363. *) „Bei gegebener Rate des Mehrwertes und gegebenem Werte der Arbeitskraft verhalten sich die Massen des produzierten Mehrwertes direkt wie die Größen der vor- geschossenen variablen Kapitale." „Die von verschiedenen Kapitalien produzierten Massen von Wert und Mehrwert verhalten sich bei gegebenem Werte und gleich großem Exploitationsgrad der Arbeitskraft direkt wie die Größen der variablen Bestandteile dieser Kapitale, d. h. ihrer in lebendige Arbeitskraft umgesetzten Bestandteile." (Marx I auf.) 394 ^I^' ^i^ Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. teil stärker vertreten ist. Die Erfahrung zeigt aber, daß vermöge des Gesetzes der Gewinnausgleichung die Kapitalien ohne Unterschied ihrer Zusammensetzung auf die Dauer gleich hohe Profitraten tragen. Es ergibt sich sonach ein offenbarer Konflikt zwischen dem, was ist, und dem, was nach der MABXschen Lehre sein soUte. Die Existenz dieses Konfliktes war Marx selbst nicht entgangen. Er hatte ihn schon in seinem ersten Bande in lakonischer Weise angemerkt, als einen bloß ,. scheinbaren" bezeichnet und bezüglich seiner Lösung auf die später folgenden Teile seines Systems verwiesen^). Die lang dauernde Spannung, wie wohl Marx dem fatalen Dilemma zu entrinnen suchen würde, wurde endlich durch das Erscheinen des dritten Bandes gelöst. Dieser enthält eine ausführliche Erörterung des Problemes — aber freilich keine Lösung desselben, sondern, wie es nicht anders zu erwarten war, eine Besiegelung des unversöhnlichen Widerspruches, und eine bemäntelte, uneingestandene, beschönigte, aber im Wesen immerhin eine Preisgebung der Lehre des ersten Bandes. Marx entwickelt nämlich jetzt folgende Lehre. Ej erkennt aus- drücklich an, daß in der Wirklichkeit vermöge der Wirksamkeit der Kon- kurrenz die Profitraten der Kapitalien, einerlei, welches ihre organische Zusammensetzung sei, auf eine gleiche Durchschnittsprofitrate ausge- glichen werden und ausgeglichen werden müssen 2). Er erkennt weiter ausdrücklich an, daß eine gleiche Profitrate bei ungleicher organischer Zusammensetzung der Kapitale nur dann möglich ist, wenn die einzelnen Waren sich untereinander nicht im Verhältnis zu ihrem nach Arbeit be- stimmten Wert, sondern in einem davon abweichenden Verhältnis und zwar so vertauschen, daß die Waren, bei deren Erzeugung Kapital mit einem prozentig stärkeren Anteil an konstantem Kapital (Kapitale von „höherer Zusammensetzung") beteiligt ist, sich über ihrem Wert, die Waren dagegen, bei deren Erzeugung Kapital mit einem prozentig schwächeren Anteil von konstantem, und stärkeren Anteil von variablem Kapital (Kapitale von „niedrigerer Zusammensetzung") beteiligt ist, sich unter ihrem Wert vertauschen»). Und Marx erkennt endlich ausdrücklich 1) I S. 312 und 542. *) „Andererseits unterliegt es keinem Zweifel, daß es in der Wirklichkeit, von unwesentlichen, zufälligen und sich ausgleichenden Unterschieden abgesehen, die Ver- schiedenheit der durchschnittlichen Profitraten für die verschiedenen Industriezweige nicht existiert und nicht existieren könnte, ohne das ganze System der kapitalistischen Produktion aufzuheben." (III 132.) „Infolge der verschiedenen organischen Zusammen- setzung der in verschiedenen Produktionszweigen angelegten Kapitale . . . sind die Profitraten, die in verschiedenen Produktionszweigen herrschen, ursprünglich sehr verschieden. Diese verschiedenen Profitraten werden durch die Konkurrenz zu einer allgemeinen Profitrate ausgeglichen, welche der Durchschnitt aller dieser verschiedenen Profitraten ist." (III 136.) ') Marx entwickelt diese Lehre an einem tabellarischen Beispiel, welches fünf Marx. 395 an, daß die Preisbildung im praktischen Leben wirklich in dieser Weise verläuft. Marx nennt denjenigen Preis einer Ware, welcher außer der Vergütung für die bezahlten Löhne und die vemutzten Produktionsmittel (deren „Kostpreis") auch noch den Durchschnittsprofit für das in der Produktion angewandte Kapital enthält, ihren „Produktionspreis" (III 136). Derselbe „ist tatsächlich dasselbe, was A. Smith natural price nennt, Ricardo price of production, die Physiokraten prix n^cessaire nennen, weil er auf die Dauer Bedingung der Zufuhr, der Reproduktion der Ware jeder besonderen Produktionssphäre ist" (III 178). Im wirklichen Leben vertauschen sich also die Waren nicht mehr nach ihren Werten, sondern nach ihren Produktionspreisen, oder, wie Marx dies euphemistisch aus- zudrücken liebt (z. B. III 176): „die Werte verwandeln sich in Pro- duktionspreise". Daß diese Einräumungen und Feststellungen des dritten Bandes in eklatantem Widerspruch zu den Grundlehren des ersten Bandes stehen, ist unmöglich zu verkennen. Im ersten Bande ist den Lesern eine logische, aus dem Wesen des Tausches entwickelte Notwendigkeit vorgestellt worden, daß zwei im Tausch einander gleichgesetzte Waren ein Gemeinsames von gleicher Größe enthalten müssen, und daß dieses Gemeinsame von gleicher Größe die Arbeit sei. Im dritten Bande erfahren wir, daß die im Tausch einander gleichgesetzten Waren tatsächlich und regelmäßig ungleiche Mengen von Arbeit enthalten, und notwendiger Weise enthalten müssen. Im ersten Bande (I 142) war gesagt worden: „Waren können zwar zu Preisen verkauft werden, die von ihren Werten abweichen, aber diese Abweichung erscheint als Verletzung des Gesetzes des Warenaustausches." Und jetzt wii'd als Gesetz des Warenaustausches hingestellt, daß sich die Waren zu ihren Produktionspreisen verkaufen, welche grundsätzlich von ihren Werten abweichen ! Ich glaube, bündiger und schärfer ist wohl noch niemals der Anfang eines Systems von seinem Ende Lügen gestraft worden! Marx selbst freiüch will von einem Widerspruche nichts wissen. Er erhebt auch in seinem dritten Bande noch den Anspruch, daß das Wertgesetz des ersten Bandes die tatsächlichen Verhältnisse des Güter- austausches beherrsche, und er läßt es sich manche Mühe und manche Warengattungen und Produktionszweige mit Kapital verschiedener organischer Zu- sammensetzung umfaßt, und kommentiert die ]&gebnisse der betreffenden Tabelle mit folgenden Worten: ,, Zusammengenommen werden die Waren verkauft 2 + 7 + 17 = 26 über und 8 + 18 = 26 unter dem Wert, so daß die Preisabweichungen durch gleichmäßige Verteilung des Mehrwerts oder durch Zuschlag des durchschnittlichen Profits von 22 auf 100 vorgeschossenes Kapital zu den respektiven Kostpreisen der Waren I — V sich gegenseitig aufheben; in demselben Verhältnis, worin ein Teil der Waren über, wird ein anderer unter seinem Wert verkauft. Und nur ihr Verkauf zu solchen Preisen ermöglicht, daß die Profitrate für I — V gleichmäßig ist, 22%, ohne Rücksicht auf die verschiedene organische Komposition der Kapitale I — V," Der- selbe Gedanke wird dann auf den folgenden Seiten 136 — 144 umständlich erörtert. 396 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. dialektische Ausflucht kosten, um doch noch irgend eine Fortdauer einer solchen Herrschaft zu demonstrieren. Ich habe an einem anderen Orte alle diese Ausflüchte eingehend besprochen und ihre Nichtigkeit dargetan*). Hier wiU ich einer einzigen von ihnen ausdrücklich gedenken, teils weil sie auf den ersten Blick wirklich etwas Bestechendes haben könnte, teils weil sie nicht bloß bei Marx, sondern, und zwar noch vor dem Erscheinen des dritten Bandes, auch bei einem der fähigsten sozialistischen Theoretiker der jetzigen Generation Vertretung gefunden hat. Im Jahre 1889 hat nämlich Konrad Schmidt einen Versuch gemacht, den damals noch ausständigen Teil des MARxsehen Systems selbständig, jedoch im mut- maßhchen Sinn von Marx, auszubauen 2). Er gelangte dabei zu einer Konstruktion, welche ebenfalls darauf hinauslief, daß die einzelnen Waren sich nicht, wie der Wortlaut des MARxschen Wertgesetzes es fordert, im Verhältnis zu der in ihnen verkörperten Arbeitsmenge austauschen können, sah sich dadurch natürlich vor die Frage gestellt, ob und inwieweit man nach einem solchen Zugeständnisse überhaupt noch die Giltigkeit des MARxschen Wertgesetzes behaupten könne, und suchte die Giltigkeit des letzteren schon damals mittels desselben dialektischen Argumentes zu retten, das sich jetzt zu demselben Zwecke auch bei Marx selbst in seinem dritten Bande wiederfindet. Dieses Argument geht dahin, daß zwar die einzelnen Waren sich teils über, teils unter ihren Werten vertauschen, daß aber diese Abweichungen sich gegenseitig kompensieren oder aufheben, so daß für aUe vertauschten Waren zusammengenommen doch wieder die Summe der bezahlten Preise der Summe ihrer Werte gleich ist. Für die Totalität aller Produktions- zweige zusammengenommen setze sich somit das Wertgesetz „als die beherrschende Tendenz" allerdings durch 3). *) „Zum Ahschluß usw." S.25 — 62, Hilfebdings seither erschienene apologetische Gegenkritik in Bd. I der Marx-Studien (1904) hat mir in keiner Richtung einen Anlaß zur Änderung meiner Ansichten geboten. Insbesondere sind, wie ich mit Rücksicht auf eine Äußerung Heimanns (Methodologisches zu den Problemen des Wertes, Separat- abdruck aus dem Archiv für Sozialwissenschaft Bd. 37 S. 19) nicht unterlassen möchte ausdrücklich zu bemerken, auch meine a. a. 0. S. 53 vorgeführten Tabellen vollkommen korrekt und sachgemäß, dagegen Hilferdings „Korrektur" derselben ebenso will- kürlich als vom Thema ablenkend. *) Die Durchschnittsprofitrate auf Grund des Marxschen Wertgesetzes, Stutt- gart 1889. ä) „In demselben Verhältnis, worin ein Teil der Waren über, wird ein anderer unter seinem Wert vertauscht" (III 135). „Der Gesamtpreis der Waren I — V- (in dem von Marx benützten tabellarischen Beispiel) „wäre also gleich ihrem Gesamtwert . . . Und in dieser Weise ist in der Gesellschaft selbst — die Totalität aller Produktionszweige betrachtet — die Summe der Produktionspreise der produzierten Waren gleich der Summe ihrer Werte" (III 138). Die Divergenzen der Produktionspreise von den Werten lösen „sich immer dahin auf, daß, was in der einen Ware zu viel, in der anderen zu wenig iät Mehrwert eingeht, und daß daher auch die Abweichungen vom Wert, die in den Marx. 397 Das dialektische Gewebe dieses Scheinargumentes läßt sich jedoch, wie ich ebenfalls schon bei anderer Gelegenheit dargelegt habe^), sehr leicht zerreißen. Was ist denn überhaupt die Aufgabe des Wertgesetzes ? Doch nichts anderes als das in der Wirklichkeit beobachtete Austauschverhältnis der Güter aufzuklären. Wir wollen wissen, warum im Austausch z. B. ein Rock geradesoviel wie 20 Ellen Leinwand, warum 10 Pfund Tee soviel wie eine halbe Tonne Eisen gelten usf. So hat auch Marx selbst die Erklärungsaufgabe des Wertgesetzes gefaßt. Von einem Austausch- verhältnis kann nun offenbar nur zwischen verschiedenen einzelnen Waren untereinander die Rede sein. Sowie man aber alle Waren zusammengenommen ins Auge faßt und ihre Preise summiert, so sieht man von dem im Innern dieser Gesamtheit bestehenden Verhältnis not- wendig und gefhssentlich ab. Die relativen Preisverschiedenheiten im Innern kompensieren sich ja in der Summe. Um was z. B. der Tee gegen- über dem Eisen mehr gilt, um das gut das Eisen gegenüber dem Tee weniger und vice versa. Jedenfalls ist es keine Antwort auf unsere Frage, wenn wir nach dem Austauschverhältnis der Güter in der Volkswirtschaft uns erkundigen, und man uns mit der Preissumme antwortet, die alle zusammen erzielen; geradeso wenig, als wenn wir uns erkundigen, um wie viele Minuten oder Sekunden der Sieger in einem Wettrennen zur Durchmessung der Rennbahn weniger benötigt hat als seine Konkurrenten, und man uns antwortet: aUe Konkurrenten zusammengenommen haben 25 Minuten 13 Sekunden benötigt! Nun steht die Sache folgendermaßen. Auf die Frage des Wertproblems antworten die Marxisten zunächst mit ihrem Wertgesetz, daß sich die Waren im Verhältnis zu der in ihnen verkörperten Arbeitszeit vertauschen: dann revozieren sie — verblümt oder unverblümt — diese Antwort für das Gebiet des Austausches einzelner Waren, also gerade für dasjenige Gebiet, auf dem die Frage überhaupt einen Sinn hat; und halten sie in voller Reinheit nur noch aufrecht für das ganze Nationalprodukt zusammen- genommen, also für ein Gebiet, auf dem jene Frage als gegenstandslos gar nicht gestellt werden kann. Als Antwort auf die eigentliche Frage des Wertproblems wird somit das „Wertgesetz" zugestandenermaßen durch die Tatsachen Lügen gestraft; und in der einzigen Anwendung, in der es nicht Lügen gestraft wird, ist es keine Antwort auf die eigentlich Produktionspreisen der Waren stecken, sich gegeneinander aufheben" (III 140). Ähnlich K. Schmidt a. a. 0. S, 61: „Die notwendige Divergenz zwischen dem tatsächlichen Preis und dem Wert der einzelnen Waren verschwindet . . . sobald man die Summe aller einzelnen Waren, das jährliche Nationalprodukt, betrachtet." *) Zuerst in einer Besprechung der obengenannten ScHMiDTschen Schrift in der Tübinger Zeitschrift 1890, S. 590ff. 398 XII. Die Äasbeatungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Lösung heischende Frage mehr, sondern könnte bestenfalls eine Antwort auf irgendeine andere Frage sein. Es ist aber nicht einmal eine Antwort auf eine andere Frage, sondern es ist gar keine Antwort, es ist eine einfache Tautologie. Denn wie jeder Nationalökonom weiß, vertauschen sich, wenn man durch die verhüllenden Formen des Geldverkehrs hindurch blickt, die Waren schließlich wieder gegen die Waren. Jede in Austausch tretende Ware ist zugleich Ware, aber auch der Preis ihrer Gegengabe. Die Summe der Waren ist somit identisch mit der Summe der dafür gezahlten Preise. Oder, der Preis für das gesamte Nationalprodukt zusammengenommen, ist nichts anderes als — das Nationalprodukt selbst. Unter diesen Umständen ist es freilich ganz richtig, daß die Preissumme, die für das gesamte Nationalprodukt zusammen gezahlt wird, mit der in letzterem krystallisierten Wert- oder Arbeitssumme völlig zusammentrifft. Allein dieser tautologische Aus- spruch bedeutet weder irgend einen Zuwachs an wirkhcher Erkenntnis, noch kann er insbesondere als Richtigkeitsprobe für das angebliche Gesetz dienen, daß sich die Güter nach dem Verhältnis der in ihnen verkörperten Arbeit vertauschen. Denn auf diesem Wege ließe sich ebenso gut — oder vielmehr ebenso schlecht — auch jedes beliebige andere „Gesetz", z. B. das „Gesetz" verifizieren, daß sich die Güter nach dem Maßstab ihres spezifischen Gewichtes vertauschen! Denn wenn auch freilich ein Pfund Gold als „einzelne Ware" sich nicht gegen ein Pfund Eisen, sondern gegen 40000 Pfund Eisen vertauscht, so ist doch die Preissumme, die für ein Pfund Gold und 40000 Pfund Eisen zusammengenommen bezahlt wird, nicht mehr und nicht weniger als 40000 Pfund Eisen und 1 Pfund Gold. Es entspricht also das Gesamtgewicht der Preissumme — 40001 Pfund — ganz genau dem in der Warensumme verkörperten Gesamtgewicht von ebenfalls 40001 Pfund; und folglich ist das Gewicht der wahre Maßstab, nach dem sich das Austauschverhältnis der Güter regelt ? ! C Die MARxsche Lehre im Munde seiner Nachfolger. Wenn ich mich nicht täusche, ist mit dem dritten Bande desMARxschen Systems für die Arbeitswerttheorie der Anfang vom Ende gekommen. Die MARxsche Dialektik hat in ihm einen so offenkundigen Schiffbruch gelitten, daß das blinde Vertrauen in sie auch in den Reihen der Anhänger wankend werden mußte. Schon beginnen sich die literarischen Spuren davon zu zeigen. Einstweilen in der Form, daß man die in ihrem Wortlaut nicht mehr zu haltende MARxsche Lehre durch Umdeutungen zu retten versucht. Aus jüngster Zeit liegen mehrere Ankündigungen sdcher Umdeutungen Äfarx' Nachfolger. Sombart, K. Schmidt, 399 von Seiten ernster Theoretiker vor. Werner Sombart hat rundweg zugestanden, daß das MARxsehe Wertgesetz nicht haltbar ist, wenn man es mit dem Anspruch vorträgt, daß es der empirischen Wirklichkeit ent- spreche. Er will aber der MxRxschen Lehre die Deutung unterlegen, daß ihr „Wertbegriff" nur ein „Hilfsmittel unseres Denkens" sein solle. Der MxRxsche Wert trete weder in dem Austauschverhältnis der kapi- talistisch produzierten Waren in die Erscheinung, noch spiele er etwa als Distributionsfaktor bei der Aufteilung des gesellschaftüchen Jahres- produktes eine Rolle, sondern er sei einfach ein Hüfsbegriff des Denkens, um die sonst wegen ihrer qualitativen Verschiedenheit nicht kommensu- rablen Gebrauchsgüter als quantitative Größen auffassen und als solche unserem Denken kommensurabel machen zu können, und in dieser gedank- lichen Funktion könne man ihn aufrecht halten^). Ich glaube und habe dieser meiner Meinung auch schon an einem anderen Orte Ausdruck gegeben 2), daß dieser Vorschlag alle Eigenschaften eines für beide Teile unannehmbaren Kompromisses an sich trägt. Er kann die Marxisten nicht befriedigen, weil er mit den ausdrücklichsten Aussprüchen von Marx sich in Widerstreit setzt und weil er materiell eine vollständige Preisgebung der MARxschen Lehre enthält, da ja eine Theorie, die zugestandenermaßen auf die Wirklichkeit nicht paßt, selbst- verständlich auch für die Erklärung und Beurteilung der wirklichen Verhältnisse nichts bedeuten kann; es sind denn auch schon entschieden ablehnende Stimmen aus dem Marxistischen Lager laut geworden«). Andererseits kann sich mit ihr aber auch der unbefangene Theoretiker vom Standpunkt der rein theoretischen Ejfordernisse nicht zufriedenstellen, da auch die Hilfsbegriffe, mit denen der Theoretiker operiert, von der Wirklichkeit abstrahiert und nicht im Widerspruch zu ihr sein sollen. Ich halte daher Sombarts Umdeutungsversuch für eine Auskunft, welche sich schwerlich viele Freunde und literarische Verfechter erwerben wird. Mehr Stoff zu literarischer Diskussion wird voraussichtlich ein zweiter Umdeutungsversuch bieten, den unlängst Konrad Schmidt angekündigt hat. In einer mit anerkennenswerter Sachlichkeit und Unparteilichkeit geführten Besprechung meiner mehrerwähnten Schrift „Zum Abschluß des MARxschen Systems" gelangt Schmidt zu dem Ergebnisse, daß das MARXsche Wertgesetz durch die im dritten Bande aufgewiesenen Tat- sachen in der Tat die Bedeutung verliere, „die es nach der Darstellung von Band I des Kapital zu haben schien", und gegen die meine Kritik sich *) Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx, Archiv für soziale Gesetzgebung Bd. VII Heft 4, S. 573ff. ») „Zum Abschluß usw." S. 103ff. •) z. B, von Engels in seiner letzten in der „Neuen Zeit" Nr. 1 und 2 des XIV. Jahr- gangs (1895 — 96) veröffentlichten Arbeit „Elrgänzung und Nachtrag zum dritten Buch des Kapital". 400 ^11- I>ie Ausbeutangstheorie. 2, U.-A. Kritik. gerichtet habe; eben damit gewinne es aber „einen neuen tieferen Sinn, der nur noch klarer in seinem Gegensatze zu der ursprünglichen Fassung des Wertgesetzes herausgearbeitet werden müßte". Durch ein „Umdenken" der Werttheorie in einer „von Marx selbst freiüch nicht klar ausge- sprochenen Weise" werde es möglich sein, „wenigstens im Prinzip" über die von mir hervorgehobenen Widersprüche hinweg zu kommen. Und Schmidt deutet auch schon die Grundlinien für ein solches Umdenken an. Er meint, Preis und Arbeitszeit seien beide meßbare Größen. An sich sei eine doppelte Beziehung zwischen ihnen denkbar. „Entweder richtet sich die Preisgröße direkt nach der in der Ware enthaltenen Arbeits- zeit, oder es findet aus gewissen, wenigstens im Allgemeinen formulier- baren Regeln eine Abweichung von der Norm dieses direkten Verhältnisses statt." Da letzteres ebenso gut denkbar sei als ersteres, so dürfe man das auf der ersteren Annahme beruhende Wertgesetz zunächst nur als Hypo- these ansehen, „deren Bestätigung oder weitere Modifikation Aufgabe der weiteren konkreten Untersuchung ist." Die beiden ersten Bände von Marx führen „die ursprüngHche einfache Hypothese in alle ihre Konse- quenzen fort", und gelangen so „zu einem detaillierten Bude der kapita- listisch ausbeutenden Volkswirtschaft, wie sich dieselbe bei einem direkten Zusammenfallen von Preis und Arbeitszeit darstellen würde". Dieses Bild widerspricht aber, wenn es auch die kapitalistische Wirküchkeit „in den Grundzügen widerspiegelt", derselben doch auch in gewisser Beziehung, und darum muß — was im dritten Bande geschieht — eine Modifikation jener Hypothese vorgenommen werden, „durch welche der partielle Wider- spruch zwischen ihr und der Wirklichkeit gehoben wird". „Die einfache Regel des Zusammenfallens beider Faktoren, die zu einer vorläufigen Orientierung unumgänglich nötig war, ist nun dahin abzuändern, daß die wirklichen Preise von jener vorausgesetzten Norm nach einer gewissen allgemein formulierbaren Regel abweichen." Auf diesem Umweg, und auf diesem Umweg allein, könne die wirkliche Beziehung zwischen den Preisen und der Arbeitszeit, damit aber auch der wirkliche Modus der Ausbeutung, durch den die kapitalistische Produktionsweise charakte- risiert sei, erkannt und im Detail begriffen werden^). Ich kann diesem Umdeutungsversuch kein günstigeres Prognostiken stellen als dem MARxschen Originale. K. Schmidt mag ja, ein scharf- sinniger Dialektiker wie er ist, wenn er einmal an den detaillierten Ausbau der skizzierten Lehre schreiten wird, dieselbe mit mancher geschickter Wendung und manchem kaptivierenden Argument annehmbar zu präsen- tieren suchen; aber mit aller Kunst der Darstellung und Argumentierung wird er nicht um zwei sachliche Klippen herumkommen können, von denen es schon nach der vorliegenden Skizze seines Programmes sicher ^) 1. Beilage zur Nummer des „Vorwärts" vom 10. April 1897. Marx' Nachfolger. K. Schmidt. ^qj ist, daß er sie in seinem Wege finden muß. Es ist eine methodische Be- gehungs- und eine eben solche Unterlassungssünde, die in seinem Pro- gramme schon jetzt aufscheinen: eine widerspruchsvolle petüio principii, und die buchstäbliche Haltlosigkeit des Ausgangspunktes. Eine widerspruchsvolle petitio principri. Stellen wir uns einmal auf den Standpunkt, den Schmidt uns einzunehmen einlädt. Sehen wir das „Wertgesetz", nach welchem das Austauschverhältnis der Waren durch die in ihnen verkörperte Arbeit allein bestimmt wird, vorläufig als bloße Hypothese an, deren Berechtigung noch nicht feststeht, sondern durch genauere Untersuchung der Tatsachen erst auf die Probe gestellt werden solL Wie fällt nun diese Probe aus? Daß die Hypothese durch sie nicht vollinhaltlich bekräftigt wird, wird offen zugestanden; es muß im Gegeuteile zugegeben werden, daß tatsächlich das Quantum der verkörperten Arbeit nicht den ausschließ- lichen Bestimmungsgrund für die Preise abgibt, welche der Eigentümer von Waren für diese erhält. Erwägt man nun, daß die behauptete Aus- schließhchkeit des Einflusses der Arbeit — deren mitbestimmenden Einfluß ja auch jede andere Werttheorie zugibt — gerade den eigentlich unterscheidenden und charakteristischen Zug des MARxschen Wertgesetzes bildet, so sieht man schon hieraus, daß die „nicht voUinhaltüche Be- stätigung" in diesem Falle eigentlich die Nichtbestätigung der Hypo- these in ihrem einzig wesentlichen Punkte bedeutet. Ich frage nun weiter: mit welchem Recht kann unter diesen Um- ständen Schmidt postulieren, daß die in ihrem Hauptpunkt nicht be- stätigte Hypothese gleichwohl „die kapitalistische Wirklichkeit in deren Grundzügen widerspiegelt", insbesondere auch darin, daß der Zinsbezug der Kapitalisten grundsätzüch auf einer „wirklichen Ausbeutung" der Arbeiter beruhe? Würde Schmidt irgend welche andere Erwägungen vorführen, welche den Ausbeutungscharakter des Zinses motivieren könnten, so müßten wir natürlich diese andern Erwägungen selbständig prüfen. Aber solche andere selbständige Gründe macht Schmidt in seinem Pro- gramme nicht geltend, und er kann auch, wie wir einen Augenblick später sehen werden, solche nicht anführen. Seine einzige Begründung für den Ausbeutungscharakter des Zinses liegt in der Hypothese des Wertgesetzes, Nun wird in dieser Hypothese der Ausbeutungscharakter des Zinses daraus und nur daraus gefolgert, daß in der verkörperten Arbeit die aus- schließliche Ursache des Tauschwertes und seiner Größe zu suchen ist: nur wenn und weil kein Atom des Tauschwertes einer anderen Ursache als der Arbeit entspringen kann, steht es auch fest, daß ein Wertanteil, den ein Nicht-Arbeiter vom Produktwert empfängt, nur auf Kosten der Arbeiter, also als Ausbeutungsgewinn bezogen worden sein kann. In dem Augenblick jedoch als zugegeben werden muß, daß der Tauschwert der Waren von der verkörperten Arbeitsmenge abweicht, ist es auch klar, Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. ^ 402 XII. Die Ansbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. daß sich in die Tauschwertbüdung außer der Arbeit noch ein anderer ursächlicher Faktor einmischt: und in demselben Augenblick steht jeden- falls schon nicht mehr fest, daß der Wertanteil des Kapitalisten einer Ausbeutung der Arbeiter entspringt, da er ja denkbarer und sogar recht wahrscheinlicher Weise auch jener anderen mit der Arbeit konkurrierenden Ursache der Tauschwertbildung entspringen könnte, über deren Beschaffen- heit zunächst noch gar nichts feststeht. Die Berechtigung, auf Grund der Hypothese vom „Wertgesetze" den Kapitalzins als Ausbeutungsgewinn anzusehen, steht und fällt also mit der vollinhaltlichen Beglaubigung der Hypothese. Schon ihre teilweise Entkräftung entzieht jener An- schauung ganz den Boden, weil diese ja gerade in dem unbestätigten Teil der Hypothese, in der Annahme, daß die Arbeit der ausschließliche Bestimmungsgrund des Tauschwertes sei, gewurzelt hat. Indem Schmidt die hienach in der Luft hängende Annahme, daß die Ausbeutungshypothese „die kapitalistische Wirklichkeit in ihren Grundzügen widerspiegle," als einen vermeinthch feststehenden, aus dem beglaubigten Teile des Wert- gesetzes fließenden Satz hinstellt, begeht er eine offenbare petitio principii. Und zwar eine durch einen Widerspruch verschärfte petitio principii. Die bloße beweislose Präsumtion des Ausbeutungscharakters des Zinses würde ihm nämlich noch immer nicht zum Ziele helfen. Er ist vielmehr gezwungen, den ominösen Satz, daß die Größe des Tauschwertes aus- schließlich durch die verkörperte Arbeitsmenge bestimmt werde, im Zuge des logischen Räsonnements, das ihn zur Erklärung der tatsächlichen Zinserscheinungen leiten soll, abwechselnd bald als tatsächhch giltig, bald als tatsächlich ungiltig zu behandeln. Er muß nämlich nicht bloß den Ursprung, sondern auch die Höhe des Zinses erklären. Hiebei stellt er sich mit dem Marx des dritten Bandes auf den Standpunkt, daß die Höhe des Zinses sich in der Weise feststellt, daß die Gesamtmasse des von den Kapitalisten erbeuteten Mehrwerts nach dem Gesetze der Gewinn- ausgleichung auf alle angewendeten Kapitalien im Verhältnis zu ihrer Größe und der Investitionszeit sich gleichmäßig verteile; und um diesen Teil der Erklärung durchführen zu können, wird ausdrücklich zugestanden, daß die vorläufige Hypothese des Wertgesetzes, daß die Waren sich genau im Verhältnis der verkörperten Arbeit austauschen, der Wirklichkeit eben nicht entspricht, daß sie keine giltige Wahrheit ist. Aber das genügt zur Erklärung der Zinshöhe noch nicht. Es muß vielmehr eine Annahme und Erklärung auch noch darüber gegeben werden, wie groß der zu jener gleichmäßigen Verteilung gelangende Dividend, oder die Gesamtmasse des von den Kapitalisten erbeuteten Mehrwertes ist. Für diesen Teil der Erklärung setzt nun Schmidt im Verein mit dem Marx aller drei Bände wieder voraus, daß die Kapitalisten doch in der Lage sind, für die Waren, die sie durch ihre Arbeiter erzeugen lassen, einen Tauschwert zu realisieren, der der Hypothese des Wertgesetzes völlig- Marx' Nachfolger. K. Schmidt. 403 entspricht, der nämlich in seiner Größe genau der Zahl der Arbeits- stunden korrespondiert, die in den Waren verkörpert sind. Er be- handelt also in zwei Stadien eines und desselben erklärenden Ge- dankenganges das Wertgesetz abwechselnd als tatsächlich gütig und tatsächlich nicht giltig. Darüber könnte sich noch reden lassen, wenn den zwei Stadien des erklärenden Gedankenganges auch zwei geson- derte Stadien im. wirklichen Geschehen entsprechen, wenn die Bil- dung des Mehrwertes in einem, für sich abgeschlossenen und vorausgehenden, und die Verteilung des gebildeten Mehrwertes in einem zweiten, davon unabhängigen und nachfolgenden Prozesse erfolgen würde — etwa so wie bei dem Gewinn einer Aktiengesellschaft, dessen Bildung und Gesamthöhe durch die Geschäftsergebnisse des betreffenden Jahres, dessen Verteilung aber erst hinterher durch einen von den Erwerbungs- akten ganz unabhängigen Akt, nämlich durch den Verteilungsbeschluß der Generalversammlung bestimmt wird. Aber so steht die Sache nicht bei dem „Mehrwert" der Kapitalisten. Seine Bildung und seine Verteilung fällt gerade nach der MARX-ScHMiDTschen Lehre nicht in zwei verschiedene Akte auseinander, sondern vollzieht sich mittels einer und derselben Tat- sache, nätalich mittels der Tausch wertbüdung der Waren: der Mehrwert bildet sich in der von Marx behaupteten Art und Höhe, weil der von den UntemehmerkapitaJisten realisierte Tauschwert der Waren sich vöUig und einzig nach der in ihnen verkörperten Zahl der Arbeitsstunden richtet, und er verteilt sich in der von Marx behaupteten IVeise, weil derselbe von den Unternehmerkapitalisten realisierte Tauschwert der Waren sich nicht vöUig und einzig nach der in ihnen verkörperten Zahl der Arbeits- stunden richtet! Es muß also buchstäblich in Ansehung einer und der- selben Tatsache, nämlich der Tauschwertbildung der Waren, zugleich behauptet werden, daß das Wertgesetz volle empirische Wirklichkeit, und daß es nicht zutreffende Hypothese ist! Im MARXschen Lager stützt man sich gern auf die Analogie mit natur- wissenschaftlichen Gesetzen und Hypothesen, deren empirische Wirk- samkeit auch gewisse Modifikationen durch hindernde Widerstände erfahre, ohne daß das Gesetz selbst deshalb an seiner Kichtigkeit eine Einbuße erhtte. Würde z. B. das Gravitationsgesetz in seiner vollen Reinheit zur Wirksamkeit kommen, so müßte der Fall der Körper nicht unbeträchtlich anders verlaufen, als er unter dem störenden Einfluß des Luftwiderstandes u. dgl. tatsächlich verläuft. Dennoch sei das Gravitationsgesetz ein un- zweifelhaft echtes, wahres, wissenschaftliches Gesetz. Ebenso sei es mit dem „Wertgesetze"; das Gesetz sei richtig, nur werde seine Wirksamkeit in der Praxis durch die Existenz des Privatkapitalistentums, welches eine gleiche Profitrate für sich verlange, verzerrt; sowie der Luftwiderstand die fallenden Körper von den genauen, ihnen nach dem Gravitations- gesetze zukommenden Maßen der Geschwindigkeit, ebenso dränge der 26* 404 ^11« I^io Ausbeutangstheorie. 2. U.-Ä. Kritik. Einfluß des Privatkapitalistentums mit seinem Anspruch auf gleiche Profitraten den Tauschwert der Waren von seiner genauen Kongruenz mit den verkörperten Arbeitsmengen ab. Der Vergleich hinkt. Die MARxsche Schluß weise weist einen Auswuchs auf, für den sich in der reinlichen Schlußweise der Physiker kein Vorbild findet und finden kann. Der Physiker ist sich klar darüber, daß die Gra- vitation zwar im widerstandslosen, luftleeren Raum die einzige Ursache der Fallgeschwindigkeit der Körper bildet; er ist sich aber ebenso klar darüber, daß die Fallgeschwindigkeit im lufterfüllten Raum von Haus aus die Resultante der Wirkung mehrerer Ursachen ist, und er hütet sich daher, für den lufterfüllten Raum irgend etwas auszusagen, was noch die alleinige Wirksamkeit der Gravitation zur Voraussetzung hätte. Anders die Marxisten- Auch nachdem sie die Existenz des Privatkapitalistentums — das Analogen des Luftwiderstandes — schon in die Hypothese ein- geführt haben, erklären sie, wie wir gesehen haben, die Entstehung der Gesamtgröße des Mehrwertes immer noch aus der Annahme, daß der Tauschwert der Waren durch die verkörperten Arbeitsmengen allein beeinflußt werde, und erst bei der Erklärung der Verteilung des Gesamt- wertes auf die einzelnen Teile des Kapitals fangen sie an, sich an die Existenz der konkurrierenden Ursache zu erinnern. Das ist gerade so, als ob die Physiker behaupten würden, auch im lufterfüllten Räume bleibe die Gesamtgeschwindigkeit eines fallenden Körpers gerade so groß, als sie im luftleeren Räume wäre, nur verteile sie sich jetzt auf die einzelnen durchmessenen Schichten in einem anderen Verhältnisse als im luftleeren Räume ! Die Physiker haben aber ferner einen guten Grund zu ihrer Annahme, daß wenigstens im luftleeren Räume der Fall der Körper sich wirklich genau nach dem Gravitationsgesetze vollziehen würde. Die Marxisten haben dagegen für die analoge Annahme, daß in einem Zustand ohne Privatkapitalistentum der Tauschwert der Waren genau dem prätendierten Arbeitswertgesetz folgen würde, weder einen guten, noch einen schlechten, sondern einfach gar keinen Grund. Damit gelange ich zu der zweiten, oben signalisierten Kardinalsünde des ScHMroTschen Progranimes, zu der buchstäblichen Haltlosigkeit des Ausgangspunktes. Ich glaube, die Marxisten machen es sich mit der Aufstellung der „Hypothese" vom Arbeitswert etwas zu leicht. Gewiß enthält diese Hypothese nichts, was von Haus aus, a priori undenkbar oder unmöglich wäre. Aber das genügt noch nicht, um eine Hypothese zur Grundlage einer ernst zu nehmenden Theorie machen zu können. A priori undenkbar wäre es ja doch auch nicht, daß der Tauschwert auf dem spezifischen Gewicht, der Körper beruhen würdel — Auch das ist kein haltbarer Gesichts- punkt, daß man den Anspruch erheben dürfe, daß eine Hypothese so lange für die zutreffende angesehen werde, bis nicht ihre buchstäbüche, greifbare Marx? Nachfolger. K. Schmidt. 405 Widerlegung gelungen sei. Ich könnte z. B. die Hypothese aufstellen, daß der ganze Weltraum mit zahllosen unsichtbaren, großen und kleinen Kobolden erfüllt sei, die an den Körpern ziehen und auf sie drücken, und durch diesen ihren Zug und Druck jene Erscheinungen bewirken, welche die Physiker — vermöge einer anderen Hypothese — der Gravitation der Materie zuschreiben. Jeder Erkenntnistheoretiker wird mir zugeben, daß eine strikte Widerlegung jener phantastischen Hypothese, so phantastisch sie auch sein mag, mit unseren Erkenntnismitteln nicht möglich ist. Man wird nie beweisen können, daß es die ziehenden und drückenden Kobolde nicht gibt, sondern man wird bestenfalls nur dartun können, daß ihre Existenz äußerst unwahrscheinlich ist. Aber trotzdem würde man mich mit vollem Kecht auslachen, wenn ich prätendieren würde, daß man dieser Hypothese so lange den Vorzug vor jeder anderen geben möge, als nicht ihre strikte Widerlegung gelungen sei. Es ist vielmehr evident — und so hält man es auch seit jeher in aller wissenschafthchen Forschung — daß nur eine solche Hypothese einen Anspruch auf ernste wissenschaft- liche Beachtung machen kann, welcher irgend welche positive Gründe zur Seite stehen, die sie zu einer guten, beziehungsweise zur relativ besten Hypothese machen. Der Hypothese, daß der Wert der Waren auf der verkörperten Arbeit allein beruhe, steht aber im gegenwärtigen Stadium der Diskussion über- haupt gar kein Grund zur Seite. Ein unmittelbar einleuchtendes Axiom, das gar keiiier Begründung bedürfte, ist sie gewiß nicht; das haben wir schon oben gesehen. Der einzige Versuch einer inneren Begründung, der jemals gemacht wurde, der Versuch von Marx, ist gescheitert, und augenscheinlich auch von Schmidt als gescheitert aufgegeben; denn es ist offenbar ein zu starkes Stück, uns glauben zu machen, daß es eine begriff- liche Notwendigkeit des Tausches sei, daß in jedem Tausche gleiche Arbeits- mengen vertauscht werden müssen, während Marx selbst uns im dritten Bande als unter gewissen Verhältnissen auftretende ökonomische Not- wendigkeit demonstriert, daß im Tausch ungleiche Arbeitsmengen einander gleichgesetzt werden müssen ! Ein strammes Zusammenstimmen mit den Erfahrungstatsachen, welches unter Umständen eine innere Begründung ersetzen könnte, und sie sogar überall dort ersetzen muß, wo es sich um letzte, einer ferneren Analyse nicht mehr zugängliche Tat- sachen handelt, liegt gleichfalls nicht vor; im Gegenteil zeigt, wie schon sattsam besprochen, die Erfahrung zahlreiche flagrante Widersprüche, und auf der ganzen Linie keine genaue Übereinstimmung mit der „Hypo- these". Und ein Versuch endlich — der wieder auf eine innere Begründung hinauslaufen würde — durch eine Analyse der beim Tausch wirksamen Motive einen inneren Zug der Wertbildung nach einem nur durch äußere Hindernisse gestörten Zusammenstimmen mit den Arbeitsmengen nach- zuweisen oder begreiflich zu machen, ist als gänzlich aussichtslos von 406 ^11- ^'^ Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Marxistischer Seite nicht einmal unternommen worden. Alles vielmehr, was wir in der Erfahrung sehen und über die triebkräftigen Motive des Tausches wissen, zwingt uns im Gegenteil zu der Annahme, daß ebenso- wenig wie in der privatkapitalistischen Wirklichkeit auch in einer un- kapitalistischen Gesellschaft der Wert mit der Arbeitsmenge harmonieren könnte: die Leute lassen sich in jeder Gesellschaftsform und bei jeder Verteilung der Glücksgüter durch Rücksichten auf ihren Nutzen und auf ihre Kosten leiten, welche die Rücksicht auf die Größe des Arbeitsauf- wandes zweifellos als Teilerwägung in sich enthalten, aber ebenso zweifellos in ihr sich nicht erschöpfen, und in welchen insbesondere auch die Zeit, in welcher die Güter ihren Nutzen bringen, eine Rolle spielt, für welche die lebensfeindliche Arbeitswerthypothese keinen Raum läßt. Aus der jüngsten Zeit liegt denn auch schon eine bemerkenswerte Publikation aus dem sozialistischen Lager vor, welche noch einen wichtigen Schritt hinter die von Konrad Schmidt verteidigte Linie zurückweicht und das Wertgesetz überhaupt nicht mehr als beweisende Stütze für die sozialistische Ausbeutungstheorie in Anspruch nimmt. Wohl widmet ihr Verfasser, Ed. Bernstein^, dem Wertgesetze noch eine gewisse, laue Apologie, deren Gedankengänge zwischen denen Sombarts und Schmidts etwa die Mitte halten. Die Unrealität des Wertgesetzes, soweit es sich auf die Austauschverhältnisse der einzelnen Waaren beziehen soll, wird offen zugestanden; der Arbeitswert wird für eine „rein gedankliche Kon- struktion", für eine „auf Abstraktion aufgebaute rein gedankliche Tat- sache" erklärt; er sei ,, absolut nichts als ein Schlüssel, ein Gedankenbüd Ysde das beseelte Atom". Mit der „Unterstellung", daß sich die einzelnen Waren zu ihrem Wert veräußern, habe Marx nur am „konstruierten Einzelfall" den Vorgang „veranschaulichen" wollen, wie ihn nach seiner Auffassung die Gesamtproduktion tatsächlich darstelle: nämlich die Tat- sache der „Mehrarbeit". Diese letztere will aber Bernstein nicht mehr aus dem Wertgesetz beweisen. Wohl in der deutliehen Empfindung, daß das Wertgesetz selbst allzu unhaltbar ist, um noch irgend etwas anderes darauf stützen zu können, erklärt er: „Ob die MARxsche Werttheorie richtig ist oder nicht, ist für den Nachweis der Mehrarbeit ganz und gar gleichgiltig. Sie ist in dieser Hinsicht keine Beweisthese, sondern nur ein Mittel der Analyse und der Veranschaulichung" 2). Und bezeichnenderweise fügt er dieser Einräumung die weiteren Ein- räumungen bei, daß der Arbeitswert auch als Schlüssel „von einem gewissen Punkt ab versagt und daher noch fast jedem Schüler von Marx ver- üängnisvoll geworden ist"; daß überhaupt „die Wertlehre so wenig eine Norm für die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Verteilung des ^) Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899. «) a. a. 0. S. 38, 41, 42, 44. Marx' Nachfolger. Bernstein. 407 Arbeitsprodukts gibt, wie die Atomlehre eine solche für die Schönheit oder Verwerflichkeit eines Bildwerkes"; „daß der Grenznutzenwert der Gossen- jEvoNs-BöHMschen Schule", welcher ebenso, wie der MARXsche Arbeitswert „wirkliche Beziehungen" zur Grundlage habe, aber auf Ab- straktionen aufgebaut sei, auch gleich jenem „für bestimmte Zwecke" und „innerhalb bestimmter Grenzen Anspruch auf Geltung" habe, und daß schon mit Rücksicht darauf, daß ja auch Marx die Bedeutung des Gebrauchswertes hervorgehoben habe, es unmöglich sei, „sich über die GossEN-BöHMSche Theorie mit einigen überlegenen Redensarten hinweg- zusetzen" ^). Womit will nun aber Bernstein die aufgegebene Beweisstütze, die der ältere Marxismus in dem Wertgesetze gesucht hatte, ersetzen, um gleichwohl noch, so wie er es tut, die Ausbeutungstheorie aufrecht erhalten zu können? — Er nimmt die Zuflucht zu einer außerordentlich einfachen, aber freilich in ihrer Beweiskraft auch außerordentlich fragwürdigen Prä- misse. Er weist einfach auf die Tatsache hin, „daß an der Herstellung und Zustellung der Waren nur ein Teil der Gesamtheit tätigen Anteü nimmt, während ein anderer Teil aus Leuten besteht, die entweder Einkommen für Dienste genießen, die in keiner direkten Beziehung zur Produktion stehen, oder arbeitsloses Einkommen haben. Von der gesamten in der Produktion enthaltenen Arbeit lebt also eine bedeutend größere Zahl Menschen als daran tätig mitwirken, und die Statistik der Einkommen zeigt uns, daß die nicht in der Produktion tätigen Schichten obendrein einen vier größeren Anteil vom Gesamtprodukt sich aneignen, als ihr Zahlenverhältnis zum produktivtätigen Teil ausmacht. Die Mehrarbeit dieses letzteren ist eine empirische, aus der Erfahrung nachweisbare Tatsache, die keines deduktiven Beweises bedarf" 2). Mit andern Worten, da ja Bernstein die „Mehrarbeit" doch im prononeiert marxistischen Sinne als ausgebeutete fremde Arbeit versteht: durch die einfache Tatsache, daß nicht das ganze Nationalprodukt als Arbeitslohn an die produktiven Arbeiter verteilt wird, sondern überhaupt noch andere Einkommensformen existieren, will Bernstein unmittelbar auch schon für empirisch erwiesen halten, daß an den Arbeitern Aus- beutung geübt werde, ohne daß dieser Schluß erst irgend eine deduktive Erleuchtung bedürfte. Dieser Schluß ist aber im Gegenteile so offenbar voreilig, enthält eine so offenbare petüio prindpii, daß er kaum einer regelrechten Widerlegung bedarf. Offenbar könnte man mit genau der- selben Schlußweise, die Physiokraten noch überbietend, auch beweisen, daß die ganze übrige Menschheit von einer Ausbeutung der landwirt- schaftlichen Klassen lebt: denn schließHch ist es Tatsache, daß von den Bodenprodukten, welche die landwirtschaftlichen Arbeiter hervorbringen, auch eine Menge anderer Leute mit erhalten wird! 1) a. a. 0. S. 45, 41, 42. «) a. a. 0. S. 42. 408 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. Das Problem ist doch etwas weniger einfach. Die Erfahrung zeigt vor allem, daß das Nationalprodukt aus einem Zusammenwirken der menschlichen Arbeit mit sachlichen Produktionsmitteln, die teils natür- lichen, teils künstlichen Ursprungs sind (Boden, Kapital), hervorgeht, und nach irgend einem Schlüssel an die Parteien verteilt wird, welche die mitwirkenden Faktoren beisteuern. Wer nun der — sehr wohl diskutier- baren — Meinung ist, daß von allen tatsächlichen Partizipanten nur ein einziger partizipieren sollte, so daß die Teilnahme eines anderen von vorneherein eine Ausbeutung an jenem ist, der müßte doch in das innere Verhältnis jener Faktoren hineinleuchten und aus inneren Gründen dar- zutun suchen, daß und warum, trotz der äußeren Mehrheit zusammen- wirkender Faktoren, einer von ihnen überhaupt, oder wenigstens für die Frage der Verteilung, Alles bedeutet und daher auch Alles für sich in Anspruch nehmen kann, und die anderen nichts. So hat auch Marx das Problem verstanden. Die Güter gelten im Wirtschaftsleben nach ihrem Wert, und darum hat Marx ganz folgerichtig, um das Alleinrecht der Arbeiter auf den ganzen Produktwert zu erweisen, darzutun versucht, daß der Wert die Spezialschöpfung der Arbeit allein sei: sein Wertgesetz war ihm ein Beweismittel, durch das die Beteilungsansprüche der Grund- eigentümer und Kapitalisten hinwegdeduziert werden sollten. Ganz ohne Deduktion wird wohl nun auch Bernstein selbst nicht auszukommen meinen. Offenbar liegt seinem vermeintlich rein empirischen Beweise doch ein unausgesprochenes deduktives Glied inmitten: nämlich der RoDBERTüssche Satz, daß wirtschaftlich betrachtet alle Güter reine Arbeitsprodukte seien. Denkt man nicht wenigstens diesen Satz — nach- dem das MARxsche Wertgesetz aus den beweismachenden Prämissen aus- drücklich ausgeschlossen ist — als Bindeglied hinzu, so wäre Bernsteins Folgerung nicht einmal formell schlüssig. Aber diese deduktive Prämisse, auf die Berntsein zurückzuweichen gezwungen ist, vermag die Aus- beutungstheorie nicht wirksamer zu stützen, als das Mar xsche Wertgesetz es konnte. Sie ist, wie wir wissen, positiv falsch, insoferne sie die Be- deutung der seltenen Naturgaben für die menschliche Wirtschaft und Produktion verkennt und verleugnet^); und, was für unsere Frage des Kapitalzinses das wichtigere ist, sie bietet, selbst soweit sie richtig ist, noch keine Stütze für diejenige Auffassung und diejenigen Folgerungen, welche die Ausbeutungstheorie auf sie stützen will. Denn, erinnern wir uns, die Ausbeutungstheorie begnügt sich nicht, für die Arbeiter aUes zu reklamieren, was diese schaffen, sondern sie reklamiert dieses alles überdies in einem früheren Zeitpunkt als es die Arbeiter geschaffen haben, und für diese künstliche Verfrühung mindestens gibt es keinen natürlichen öder naturrechtlichen Titel, dessen Nichtbeachtung grundsätzlich als „Ausbeutung" gebrandmarkt werden dürfte. Die Vertreter der Aus- 1) Siehe oben S. 338f. Marx' Nachfolger. Bernstein. 409 beutungstheorie machen freilieh sich und ihren Lesern diesen unnatür- lichen, um nicht zu sagen widernatürlichen Einschlag in ihre aus ver- meintlich einleuchtenden natürlichen Grundsätzen abgeleiteten Postulate nicht klar, aber es ist unmöglich, seine Existenz zu verleugnen. Ich habe dies oben gegenüber Kodbertüs an einem konkreten Beispiele, gleichsam im kleinen nachgewiesen^); ich will es jetzt, gegenüber Bernstein, noch einmal fürs ganze und große zeigen. Scheint es ja doch, daß der Kampf um die Ausbeutungstheorie, nachdem die Episode mit dem famosen MABxschen Wertgesetze endlich der Überwindung entgegengeht, sich noch einmal nach derjenigen Position zurückbewegen und dort die letzte Ent- scheidung finden wird, wo Rodbertus mit seinen Theoremen gehalten hat. Bernstein faßt den Gedankeninhalt dieser Position in eine Vor- stellung von verblüffender Einfachheit zusammen, mit dem Hinweise darauf, daß auch andere Leute als die produktiven Arbeiter aus dem Nationalprodukte leben. Ich wül dem einige nicht minder einfache und elementare Tatsachen gegenüberstellen. Tatsache ist, daß die heute üblichen Produktionsmethoden, bei welchen durch „mittelbare Arbeit" von lang her Materialien, Werkzeuge, Maschinen, Hilfsstoffe, Transportmittel u. dgl. vorbereitet werden, weit- aus ergiebiger sind, als solche Produktionsmethoden, die derartiger weit ausgreifender Vorbereitungen ermangeln. Tatsache ist, daß wenn man alle direkt und indirekt auf ein fertiges Genußgut gewendete Arbeit als ein Ganzes überblickt, die genußreife Frucht erst am Ende eines mehrere, oder selbst viele Jahre umspannenden, mit Arbeit gefüllten Prozesses erlangen kann. Und Tatsache ist, daß die Sozialisten dieses ganze Produkt, beziehungsweise dessen ganzen Wert ausschließlich für die an der Erzeugung tätigen Arbeiter als deren „voUen Arbeitsertrag" in Anspruch nehmen, daß sie aber keineswegs gesonnen sind, einen Aufschub der Verteilung dieses ganzen Wertes an die Arbeiter bis zu jenem Zeitpunkte zuzulassen, in welchem das von ihnen geschaffene Produkt auch fertig und verteilungs- reif sein wird; sie prätendieren vielmehr, daß die Arbeiter, jeder sofort nach Ableistung seines Arbeitsanteiles, das volle gleichwertige Ebenbild von demjenigen erhalten, was erst nach einer Reihe von Jahren aus ihrer zusammenwirkenden Arbeit hervorgehen wird. Und hier spielt eine zweite Tatsachenreihe ein. Tatsache ist, daß irgend eine Verteilung an die Arbeiter vor Vollendung ihres Werkes über- haupt nur dann und deshalb stattfinden kann, wenn und weil aus irgend einer andern Quelle her genußreife Güter schon vor Abschluß ihres Werkes vorhanden sind; und daß nur unter der gleichen Bedingung die Arbeit überhaupt auf entfernte Genußziele gerichtet, beziehungsweise die er- giebigen, weitausholenden Produktionsmethoden ergriffen werden können, während im anderen Falle mit kleineren Arbeitserträgen, die aus minder 1) Siehe oben S. 345ff. 410 XII. Die Ausbeutungstheorie. 2. U.-A. Kritik. gut vorbereiteten, weniger weit ausholenden Produktionsmethoden ge- wonnen werden könnten, vorlieb genommen werden müßte. Solche Güter- vorräte existieren nun, sich von Generation zu Generation forterbend und vermehrend, in den Händen der Kapitalisten. Ihr Erwerb mag — das mag vorläufig ununtersucht bleiben — vielleicht nur teilweise ein recht- mäßiger, und teilweise ein unrechtmäßiger gewesen sein: gewiß ist aber, daß dieser Güterstock durch ein anderes Verdienst, als durch das Verdienst derjenigen Arbeiter, die daraus während der Dauer der begonnenen Pro- duktionsprozesse unterhalten und entlohnt werden sollen, geschaffen und erhalten worden ist. Es ist also schon nicht das volle Verdienst der heute werktätigen Arbeiter, ihres Fleißes und ihrer Geschicklichkeit allein, daß nach so und so vielen Jahren ein gewisses, reichlicheres Produkt zur Entstehung gelangen wird; sondern ein Teil der Verursachung und des Verdienstes fällt irgend einem Kreise vorauswirkender Personen zu, welche für die Bildung und Bewahrung der aufgestapelten Gütervorräte gesorgt haben; und da soll die Leistung der ersteren Arbeiter einen fraglosen Anspruch nicht allein darauf begründen, daß jenes größere, reichlichere Produkt ihnen überhaupt in seinem ganzen Betrage zufallen soll, sondern auch noch darauf, daß es ihnen in seinem vollen Betrage zufallen soll, ehe es selbst noch zur Entstehung gelangt ist? Das will uns die Ausbeutungstbeorie glauben machen, das kann aber auch dem wärmsten Arbeiterfreund nicht einleuchten, wenn er sich den Tatbestand voll und klar vor Augen stellt. Letzteres tut freilich die Aus- beutungstheorie nicht. Sie hat bisher in allen ihren Formulierungen ver- mieden, den springenden Punkt der Sache, die Zeitdifferenz zwischen der Ablohnung und der Fertigstellung des Produktes, sowie überhaupt die Bedeutung der Zeitdifferenz für die Technik der Produktion und für die Wertung der Güter ins Licht zu setzen. Sie läßt entweder dieses Thema unberührt, oder sie berührt es in irreführender, unrichtiger Weise — wobei wiederum Marx sein reichlich Teil gesündigt hat. Er erklärt es einmal als einen für die Wertbildung des Produktes „durchaus gleichgültigen Umstand", daß ein Teil der zur Bildung eines fertigen Produktes nötigen Arbeit in früheren Zeiträumen aufgewendet werden mußte, ,,im Plus- quamperfektum steht" ^); und ein andermal weiß er in verdrehender Dialektik sogar umgekehrt zu demonstrieren, daß die üblichen Lohn- zahlungstermine nicht eine Verfrühung, sondern eine Verspätung der Lohn- zahlung zu Ungunsten der Arbeiter in sich schließen, da ja die Arbeiter erst am Ende des Tages, der Woche, des Monats, während dessen sie für den Unternehmer schon gearbeitet haben, ihrenLohn zu empfangen pflegen, so daß nicht der Unternehmer den Lohn, sondern umgekehrt die Arbeiter ihre Arbeit vorschießen 2). 1) I 175. ») II 197ff. Marx' Nachfolger. Bernstein. 411 Das wäre ja vollkommen richtig, wenn man den Standpunkt akzeptiert, daß der Lohnanspmch des Arbeiters mit dem künftigen Produkt, das aus seiner Arbeit entsteht, nichts weiter zu tun hat; wenn man sagt, der Unternehmer kauft nicht das künftige Produkt, das aus der Arbeit ent- stehen wird, sondern einfach die jetzige physische Leistung des Arbeiters; ob überhaupt und wie viel Nützliches daraus entstehen wird, ist nach Abschluß des Vertrages seine, des Unternehmers, Sache und geht den Arbeiter und seinen Lohnanspruch nichts mehr an. Wer diesen Stand- punkt akzeptiert, wird allerdings ganz richtig sagen dürfen, daß bei einer der Arbeitsleistung nachfolgenden Lohnzahlung nicht der Unternehmer den Lohn, sondern der Arbeiter seine Arbeit vorschießt. Wenn man aber, wie Marx und die Sozialisten es tun — und vielleicht nicht mit Unrecht tun — den Lohnanspruch geradezu auf das Produkt stellt, das aus der Arbeit hervorgehen wird, und demgemäß sein ganzes kritisches Urteil über die gezahlten Löhne auf eben das Verhältnis aufstützt, in welchem diese Lohnzahlungen zum schließlichen Produkt der Arbeit stehen, dann darf man auch die Tatsache nicht übersehen und verleugnen, daß die Lohnzahlungen, wenn sie auch der Ableistung der einzelnen Arbeitsraten um eine Kleinigkeit nachfolgen mögen, doch der Entstehung der genuß- reifen Produkte um erhebliches vorausgehen, so daß der auf das Produkt gestellte Lohnanspruch allerdings mit einer künstlichen Verfrühung be- friedigt wird, welche bei der Ekistenz einer Wertdifferenz zwischen Gegen- wart und Zukunft nicht ganz ohne Kompensation in der Größe der Lohn- zahlung bleiben kann. Ich habe mich, so oft ich oben der übrigen am Nationalprodukt partizipierenden Parteien zu gedenken hatte, absichtlich reserviert und mehr nur negativ geäußert. Es entsprach dies der Natur meiner jetzigen Aufgabe. Die Richtigkeit oder Falschheit der Ausbeutungstheorie hängt nicht davon ab, ob die nicht zu Lohnzahlungen verwendeten Teile des Nationalprodukts eine genau nach dem wirklichen Verdienst der Be- teiligten abgestufte Verwendung finden, sondern einzig und allein davon, ob es sich nachweisen läßt, daß das Verdienst der Arbeiter einen absoluten Anspruch auf eine künstlich verfrühte Zuwendung des ganzen National- produktes an sie allein begründet. Läßt sich dies nicht begründen, dann ist die Ausbeutungstheorie falsch — und dann bleibt ein Teil des National- produktes frei, an den andere Anwärter Rechts- oder Billigkeitsansprüche erheben mögen, und über den, soweit dies nicht der Fall ist, eine erleuchtete Rechtsordnung nach weisen, auf die dauernde Beförderung des allgemeinen Besten gerichteten Zweckmäßigkeitserwägungen disponieren mag. Kann sein — und in der Tat scheint die Entwicklung unserer Rechtsordnung, wie unsere modernen Arbeiterversicherungen, progressiven Einkommen- steuern, zunehmenden Verstaatlichungen usw. zeigen, in dieser Richtung sich zu bewegen — kann sein, sage ich, daß die Rechtsordnung alle Ursache 412 XII. Die Ausbeutungstheorip. 2. U.-A. Kritik. hat, den auf natürlichen Rechtsansprüchen beruhenden Anteil der arbeiten- den Klassen durch künstliche, auf Zweckmäßigkeitsrücksichten im höchsten Sinne dieses Wortes gestützte Maßnahmen aus jenem disponiblen Teil des Nationalprodukts noch weiter zu verstärken und die Besitzeinkommen direkt oder indirekt zu beschränken: allein in die Erwägung und Ent- scheidung hierüber spielen Gründe von ganz anderer Art hinein, als die- jenigen, welche die Ausbeutungstheorie beruft und gelten läßt; die Trag- weite der Ausbeutungstheorie aber geht in letzter Linie dahin, daß sie durch Vorschützung eines falschen Rechtstitels die Diskussion abschneiden und bei der Auseinandersetzung über den durch einen giltigen Rechts- titel der Arbeiterschaft nicht gedeckten Teil des Nationalproduktes die eigentlich zuständigen Erwägungen und Gründe gar nicht zu Worte kommen lassen will. — Ich habe der Erörterung der Ausbeutungstheorie einen ungewöhnlich und unverhältnismäßig großen Raum gewidmet. Mit gutem Bedacht. Hat ja doch keine der anderen Lehren einen nur annähernd so großen Einfluß auf das Denken und Fühlen ganzer Generationen genommen wie sie. Und gerade unsere Zeit hat sie auf ihrem Höhepunkt gesehen; von dem sie, wenn ich mich nicht täusche, heute schon herabzusinken beginnt, aber nicht ohne daß weitere Versuche zäher Verteidigung oder metamor- phosierender Wiederbelebung zu erwarten stünden. Und darum glaubte ich der Sache zu dienen, wenn ich mich nicht mit einer rein retrospektiven Kritik der bereits abgeschlossenen Entwicklungsstadien dieser Lehre begnügte, sondern vorwärts schauend auch schon jenen Gedankenschau- platz kritisch zu beleuchten versuchte, auf welchen nach deutlichen An- zeichen ihre Anhänger den Meinungskampf noch einmal hinüberzuspielen versuchen werden. Was aber jene alte sozialistische Ausbeutungstheorie betrifft, die wir in ihren beiden ausgezeichnetsten Vertretern, Rodbertus und Marx, vorführten, so kann ich das strenge Urteil, das ich schon in der ersten Auflage dieses Werkes über sie fällte, nicht mildem. Sie ist nicht allein unrichtig, sondern sie nimmt sogar, wenn man auf theoretischen Wert sieht, einen der letzten Plätze unter allen Zinstheorien ein. So schwere Denkfehler auch von den Vertretern einiger anderer Theorien begangen worden sein mögen, so glaube ich doch kaum, daß sich irgendwo die schlimmsten Fehler in so reicher Zahl vereinigt finden: leichtfertige, vor- eilige Präsumtion, falsche Dialektik, innerer Widerspruch und Blindheit gegen die Tatsachen der Wirklichkeit. Als Kritiker sind die Sozialisten tüchtig, aber als Dogmatiker sind sie ausnehmend schwach. Diese Über- zeugung würde die Welt schon längst gewonnen haben, wenn zufällig die Parteistellungen vertauscht gewesen wären, und ein Marx und Lassalle mit derselben glänzenden Rhetorik und derselben treffsicheren, beißenden Schlußergebnisse. 4£3 Ironie, die sie gegen die „Vulgärökonomen" kehrten, den sozialistischen Theorien an den Leib gerückt wären! Daß die Ausbeutungstheorie trotz ihrer inneren Schwäche so viel Glauben fand und findet, hat sie meines Erachtens dem Zusammentreffen zweier Umstände zu verdanken. Erstlich dem Umstände, daß sie den Streit auf ein Gebiet verpflanzt hat, auf dem nicht der Kopf allein, sondern auch das Herz mitzusprechen pflegt. Was man gerne glaubt, das glaubt man leicht. Die Lage der arbeitenden Klassen ist in der Tat meist elend: jeder Philanthrop muß wünschen, daß sie gebessert werde. Viele Kapitalgewinne fließen in der Tat aus unlauterer Quelle: jeder Philanthrop muß wünschen, daß solche Quellen versiegen. Steht er nun einer Theorie gegenüber, deren Resultate dahin gehen, die Ansprüche der Elenden zu erhöhen und jene der Reichen zu vermindern, und die so ganz oder zum Teile mit den Wünschen seines Herzens zusammenfallen, so wird gar mancher von vornherein für sie parteiisch sein, und von der kritischen Schärfe, die er sonst auf die Prüfung ihrer wissenschaftlichen Gründe verwandt hätte, einen guten Teil nachlassen. Daß vollends die großen Massen solchen Lehren anhängen, versteht sich von selbst. Ihre Sache kann ja kritische Überlegung nicht sein, sie folgen einfach dem Zuge ihrer Wünsche. Sie glauben darum an die Ausbeutungstheorie, weil sie ihnen genehm ist, und obwohl sie falsch ist; und sie würden an sie auch dann glauben, wenn ihre theoretische Begründung noch weit schlechter wäre, als sie in der Tat ist. Ein zweiter Umstand sodann, der der Ausbeutungstheorie und ihrer Verbreitung zugute kam, war die Schwäche ihrer Gegner. Solange die wissenschaftliche Polemik gegen sie vom Standpunkt und mit den Argu- menten der nicht minder anfechtbaren Produktivitäts-, Enthaltsamkeits- oder Arbeitstheorien, in der Tonart Bastiats oder McCullochs, Roschbrs oder Strasbukgers geführt wurde, konnte der Streit für die Sozialisten nicht übel ausgehen. Aus so fehlerhaft gewählten Stellungen trafen die Gegner ihre wahren Blößen nicht; ihre lahmen Angriffe konnten nicht aUzuschwer abgeschlagen und der Gegner siegreich ins eigene Lager ver- folgt werden: und das verstanden die Sozialisten mit ebensoviel Glück als Geschick zu tun. Dadurch und fast dadurch allein hat auch der Sozialis- mus der Theorie genützt: wenn manche sozialistische Schriftsteller eine bleibende Bedeutung in der Geschichte der Wirtschaftstheorie errungen haben, so haben sie es der Kraft und Gewandtheit zu danken, mit welcher sie manche alte und tief eingewurzelte Irrlehre zu zerstören wußten. Freilich an die Stelle des Irrtumes selbst die Wahrheit zu setzen, das ver- mochten die Sozialisten nicht, noch weniger als manche ihrer vielge- schmähten Gegner. XIII. Die Eklektiker. Die Schwierigkeiten, welche die Lösung des Zinsproblems der Wissen- schaft bereitete, spiegeln sich vielleicht in keinem Umstände bezeichnender als darin, daß die Majorität der national-ökonomischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht dazu gelangte, sich eine feste Ansicht über jenes Problem zu bilden^). In der Form, in die sich der Mangel eines festen Urteiles kleidete, trat etwa seit den Dreißiger Jahren eine Änderung ein. Vorher hatten die Unentschiedenen, die zu jeder Zeit zahlreich waren, es einfach ver- mieden, auf das Zinsproblem einzugehen; sie bevölkerten so jene Kategorie, welche ich als die der „Farblosen" bezeichnet habe. Später, als das Zins- problem ein ständiger Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung geworden war, ging das nicht mehr an. Man mußte eine Meinung bekennen. Jetzt wurden die Unentschiedenen Eklektiker. Zinstheorien waren in über- reicher Zahl aufgestellt worden. Wer weder selbst eine solche schaffen, noch sich für eine der vorhandenen ausschließlich entscheiden konnte oder wollte, der las aus zwei, drei öder noch mehr heterogenen Theorien die ihm zusagenden Teile heraus, und verwob sie zu einem gewöhnlich schlecht genug zusammenhängenden Ganzen; oder auch, er wandte, ohne die Herstellung eines äußerlichen Ganzen auch nur zu versuchen, im Verlaufe seiner Ausführungen alternativ bald die eine, bald die andere Theorie an, wie es für die Absichten, die er gerade verfolgte, besser paßte. Es versteht sich von selbst, daß ein solcher Eklektizismus, der sich von der Kardinalpflicht des Theoretikers, der Konsequenz, leichthin entband, keinen sonderlich hohen Stand der Theorie bezeichnet. Dennoch treffen wir auch hier, geradeso wie einst unter den „Farblosen", neben zahlreichen Schriftstellern von untergeordneter Bedeutung auch einige Köpfe ersten Ranges. Es ist dies nicht zu verwundern; denn die Theorie hatte sich so eigentümlich entwickelt, daß gerade für tüchtige Denker die Versuchung, Eklektiker zu werden, fast übermächtig werden mußte. Es existierte eine so große Zahl heterogener Theorien, daß man mit den vor- ^) 1884 geschrieben; über die neueste Literatureutwickluug siehe nunmehr den diesem Bande beigegebenen Anhang. Die Versuchangen zum Eklektizismus. 4[5 handenen auch die möglichen schon für erschöpft halten konnte. Keine einzelne unter ihnen konnte ein kritischer Kopf vollkommen zufrieden- stellend finden. Aber ebensowenig ließ sich verkennen, daß in mancher von ihnen doch wenigstens ein Körnchen Wahrheit enthalten war. Die Produktivitätstheorie z. B. war als Ganzes sicherlich unzureichend; aber kein Unbefangener konnte sich dem Eindrucke entziehen, daß die Existenz des Zinses mit der größeren Ergiebigkeit der kapitalistischen Produktion, oder, wie man sagte mit der Produktivität der Kapitalien, doch irgend etwas zu tun haben müsse. Oder ebensowenig ließ sich aus der „Enthalt- samkeit des Kapitalisten" eine Vollerklärung des Kapitalzinses ziehen, während man doch wieder schwer leugnen konnte, daß die Entbehrung, die das Sparen gewöhnlich kostet, nichts ganz Gleichgültiges für die Ent- stehung und Höhe des Zinses sein kann. Unter solchen Verhältnissen lag in der Tat nichts näher, als daß man die Splitter der Wahrheit aus ver- schiedenen Theorien zusammenzulesen suchte; umsomehr, als nicht bloß die theoretische, sondern auch die sozialpolitische Frage des Kapital- zinses auf der Tagesordnung stand, und der Eifer, diesen zu rechtfertigen, manchen lieber auf die Einheit der Theorie, als auf die Häufung von Rechtfertigungsgründen verzichten ließ. Freilich blieben die zusammen- getragenen Wahrheitssplitter in den Händen der Eklektiker auch nur Splitter, deren Kanten schroff genug an einander stießen, und die der Vereinigung zu einem harmonischen Ganzen hartnäckig widerstrebten. — Der Eklektizismus weist eine reichhaltige Musterkarte von Kom- binationen der verschiedenen Einzeltheorien auf. Am häufigsten zeigen sich jene beiden Theorien in die Mischung verwendet, deren, allerdings mißverstandener, Zusammenhang mit der Wahrheit am nächsten am Tage lag: die Produktivitäts- und die Enthaltsamkeitstheorie. Unter den zahlreichen Schriftstellern, die sich dieser Mischung bedienen, will ich mit einiger Ausführlichkeit Rossis gedenken. Teils, weil seine Wieder- gabe der Produktivitätstheorie einer gewissen Originalität nicht entbehrt, teils weil seine Art als charakteristischer Typus für die konsequenzlose Manier gelten kann, die bei den Eklektikern gebräuchlich ist. Rossi bedient sich in seinem Cours d'Economie Politique^) der Pro- duktivitäts- und Abstinenztheorie abwechslungsweise, ohne irgend einen Versuch zu machen, beide in eine einheitliche Theorie zu verschmelzen; und zwar folgt er im ganzen bei jenen Gelegenheiten, in denen er des Zins- phänomens und seines Ursprunges mehr im allgemeinen gedenkt, lieber der Abstinehztheorie, im Detail der Lehre und namentlich in der Unter- suchung über die Höhe des Zinses vorzugsweise der Produktivitätstheorie. Ich lasse die wichtigsten Belegstellen hiefür nacheinander folgen, ohne mir mit der Herstellung einer Konkordanz unter ihnen eine Mühe zu geben, die sich der Verfasser selbst nicht genommen hat. ») 4. Auflage, Paris 1865. 4X6 XIII- I>ie Eklektiker. Rossi erkennt in der herkömmlichen Weise das Kapital als einen Produktionsfaktor neben der Arbeit und dem Boden an (I S. 92). Für seine Mitwirkung erheischt es eine Vergütung den Gewinn (profit). Warum? wird einstweilen nur mit den mystischen, wohl mehr im Sinne der Produktivitätstheorie zu deutenden Worten erklärt: „aus denselben Gründen, aus demselben Titel wie die Arbeit" (S. 93). Deutlicher und zwar entschieden im Sinne der Abstinenztheorie spricht sich Rossi in dem Summarium der 3, Lektion des III. Bandes aus; „Der Kapitalist verlangt die der Entbehrung, die er sich auferlegt, gebührende Vergütung" (III 32). Im Verlauf der folgenden Lektion entwickelt er diesen Gedanken genauer. Er tadelt zuvörderst Malthus, daß dieser den Kapitalgewinn, der ja doch keine Ausgabe, sondern eine Einnahme des Kapitalisten sei, unter die Produktionskosten gestellt habe — ein Vorwurf, den er übrigens zuerst an seine eigene Adresse hätte richten können; denn in der 6. Lektion des I. Bandes hatte er selbst in aller Form und auf das ausdrücklichste den Kapitalgewinn den Produktionskosten beigezählt^). Als richtigen Kostenbestandteil formuliert er statt dessen nunmehr die „kapitalisierte Ersparung" (l'öpargne capitalis§e), das Nichtverzehren und produktiv Anwenden verfügbarer Güter. Auch später finden sich noch wiederholt (z. B. III 261, 291) Hinweisungen auf den Genuß verzieht des Kapitalisten als einen an der Entstehung des Gewinnes tätigen Motor. Hat sich Rossi bis jetzt überwiegend als Abstinenztheoretiker gezeigt, so stellen sich von der 2. Hälfte des III, Bandes an erst sporadisch, dann immer häufiger Äußerungen ein, welche zeigen, daß Rossi auch unter dem Einflüsse der vielverbreiteten Produktivitätstheorie stand. Anfangs bringt er noch in etwas unbestimmten Worten den Kapitalgewinn mit dem Umstände in Verbindung, daß ,,die Kapitale zur Produktion beitragen" (III 258). Etwas später (S. 340) heißt es schon ganz entschieden: „Der Gewinn ist die der produktiven Kraft" — nicht mehr der Entbehrung — „gebührende Vergütung". Zuletzt wird die Höhe der Kapitalzinsen auf breitester Basis aus der Produktivität des Kapitales erklärt. Rossi sieht nämlich als „natürlich" an, daß der Kapitalist als seinen Anteil am Pro- dukte so viel empfangen soll, als sein Kapital daran hervorgebracht hat; das wird viel sein, wenn die produktive Kraft des Kapitales groß ist, wenig, wenn die produktive Ki'aft gering ist. So gelangt Rossi zum Gesetze, daß die natürliche Hohe des Kapitalgewinnes im Verhältnis zur Größe der produktiven Kraft des Kapitales stehe. Er entwickelt dieses Gesetz zunächst unter der Hypothese einer Produktion, die nur Kapital zu ihrem Vollzuge erfordert, während der Faktor Arbeit als verschwindend klein außer Acht gelassen werden kann, sowie unter ausschließlicher Berücksichtigung des Gebrauchswertes des Produktes. Unter diesen ^) I S. 93: „Les frais de production se composent: 1. de la r§tribution due aux travailleurs, 2. des profus du capitaliste'' etc. Rossi. 417 Voraussetzungen findet er es evident, daß, wenn z. B. die Anwendung eines Spatens auf ein bestimmtes Grundstück nach Ersatz des ausgelegten Kapitales noch 20 Hektoliter Getreide Gewinn gibt, die Anwendung eines wirksameren Kapitales, etwa eines Pfluges, auf dasselbe Stück Land, nach vollständiger Erstattung des Kapitales mehr Gewinn, z. B. 60 Hekto- liter Gewinn bringen wird, „weil man ein Kapital von größerer produktiver Kraft angewendet hat". Dasselbe natürliche Grundgesetz gilt aber auch unter den komplizierten Verhältnissen unseres tatsächlichen Wirtschafts- lebens. Auch hier ist es „natürlich", daß der Kapitalist sich mit den Arbeitern in das Gesamtprodukt in demselben Verhältnisse teilt, in welchem die produktive Kraft seines Kapitales zur produktiven Kraft der Arbeiter steht. Wird z, B. in einer Produktion, die bisher von 100. Arbeitern voll- zogen wurde, eine Maschine eingeführt, die die Kraft von 50 Arbeitern ersetzt, so hat der Kapitalist einen natürlichen Anspruch auf die eine Hälfte des Gesamtproduktes, oder auf den Lohn von 50 Arbeitßrn. Dieses natürliche Verhältnis wird nur durch eines gestört: dadurch, daß der Kapitalist eine Doppelrolle spielt. Er trägt nämjich nicht nur sein Kapital zu gemeinsamem Zusammenwirken bei, sondern er verbindet damit als zweites Geschäft den Kauf von Arbeit. Vermöge des ersteren Momentes würde er immer nur den der Produktivität des Kapitales ent- sprechenden natürlichen Gewinn erhalten. Aber indem er die Arbeit bald billig, bald teuer kauft, kann er entweder seinen natürlichen Kapitalgewinn noch auf Kosten des natürlichen Arbeitslohnes vergrößern, oder einen Teil desselben zum Vorteüe der Arbeiter einbüßen. Wenn z. B. die durch die Maschine verdrängten 50 Arbeiter durch ihr Angebot den Arbeitslohn herabdrücken, so kann es sein, daß der Kapitalist die Arbeit der bei- behaltenen 50 Arbeiter um einen geringeren Teü des Gesamtertrages kauft, als nach dem Verhältnisse ihrer Produktivkraft zur Produktivkraft des Kapitales entfiele; daß er z. B. ihre Arbeit statt um 50% schon um 40% des Gesamtproduktes kauft. Alsdann tritt zu dem natürlichen Kapitalgewtane noch ein additioneller Gewinn von 10% hinzu. Dieser ist aber seiner Natur nach dem Kapitalgewinne, mit dem er irriger Weise zusammengeworfen zu werden pflegt, völlig fremd, und vielmehr als ein Gewinn aus dem Arbeitskaufe anzusehen. Nicht der natürliche Kapitai- gewinn, sondern erst dieser fremde Zusatz schafft einen Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit: und nur mit Kücksicht auf diesen Zusatz kann der Satz gelten, daß der Gewinn steigt, wenn der Arbeitslohn sinkt, und umgekehrt; während der natürliche, echte Kapitalgewinn den Arbeits- lohn unberührt läßt und nur von der produktiven Kraft des Kapitales abhängt (III, Lektion 21 und 22). — Einer eingehenden Detaükritik können diese Lehren nach allem, was schon oben über die Produktivitätstheorien gesagt worden, wohl entraten; und ich will nur auf eine ungeheuerliche Konsequenz derselben hinweisen: Böhm-Bawerk. Kapitalzins. 4. Aufl. 27 418 XIII. Die Eklektiker. nach Rossi müßten alle Mehrerträge, die aus der Einführung und Ver- besserung der Maschinen, oder überhaupt aus der Entwicklung des Kapi- tales hervorgehen, für alle Ewigkeit ganz und voll in die Taschen der Kapitalisten fließen, ohne daß die Arbeiter irgend einen Anteil an den Segnungen dieser Fortschritte hätten; denn jene Mehrerträge sind der vermehrten produktiven Kraft des Kapitales zu danken, und deren Frucht bildet den „natürlichen" Anteil des Kapitalisten i) ! In denselben Geleisen wie Rossi bewegen sich, ohne etwas neues zu bringen, unter den französ. Schriftstellern Molinari^) und Leroy- Beaulieu^), unter den Deutschen Röscher mit seinem Anhange, Schüz und Max Wirth*). Aus der italienischen Literatur derselben Richtung hebe ich L. Cossa hervor. Leider hat dieser treffliche Schriftsteller die monographische Untersuchung, die er dem Begriffe des Kapitales widmete b), nicht auch auf die Frage des Kapitalzinses ausgedehnt, und so sind wir in letzterer Beziehung auf die sehr lapidarischen Andeutungen angewiesen, die sich in seinen bekannten Elementi di Economia Politica«) finden. Nach dem liihalte derselben ist auch Cossa Eklektiker; doch scheint mir die Art, in der er sich zum Dolmetsch der gebräuchlichen Lehren macht, deutlich zu verraten, daß er nicht frei von kritischen Skrupeln gegen dieselben ist. So sieht er den Kapitalzins zwar als eine Vergütung für den „produktiven Dienst" des Kapitales an (S. 119), verweigert aber dem letzteren die Anerkennung als primärer Produktionsfaktor, und läßt es nur für ein ^) Vgl. die scharfe, aber meist zutreffende Kritik Pierstorffs a. a. 0. S. 93ff. *) Cours d'Economie Politique, 2. Auflage, Paris 1863. Seine Produktivitäts- theorie ist nach SAYschem Zuschnitt (der Zins ist eine Vergütung für den Service pro- ductif des Kapitales; z. B. I S. 302); seine Abstinenztheorie (vgl. I S. 289, 293 f., 300f.) wird durch die eigentümliche Fassung, die er dem Begriffe ,,privation" gibt, besonders unbefriedigend. Er versteht nämlich darunter jene Entbehrungen, die der Kapitalist deshalb erleiden kann, weil das in der Produktion gebundene Kapital ihm zur Befrie- digung dringlicher Bedürfnisse, die möglicherweise inzwischen sich einstellen können, nicht zur Verfügung steht. Wohl eine sehr ungeeignete Grundlage für eine allgemeine Zinstheorie I ') Essai sur la R6partition des richesses, 2. Auflage, Paris 1883. Siehe besonders S. 236 (Abstinenztheorie), dann 233ff., 238ff. (Produktivitätstheorie). Siehe auch oben S. 116. *) Über Röscher siehe oben S. Ulf.; Schüz, Grundsätze der National-Ökonomie, Tübingen 1843, besonders S. 70, 285, 296f.; Max Wirth, Grundzüge der National- ökonomie, 3. Auflage, I 324, 5. Auflage, I 327f. — Vgl. weiter Huhn, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1862, S. 204; H. Bischof, Grundzüge eines Systems der National-Ökonomik, Graz 1876, S. 459ff., besonders 465 Anm. 2; Schulze- Delitzsch, Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus, S. 23f., 27, 28 usw. ') La nozione del Capitale. In den Saggi di Economia Politica Mailand 1878, S. 166ff. «) 6. Auflage 1883. L. Cossa, Jevons. 419 „abgeleitetes Werkzeug" der Produktion gelten i). Ferner steUt er zwar nach Art der Abstinenztheoretiker den Faktor „Entbehrungen" (priva- zioni) unter die Produktionskosten ein (S. 65), macht aber hieven in der Lehre vom Zinse in einem Tone Anwendung, als ob er nicht seine eigene Überzeugung ausspräche, sondern nur die Lehren Dritter referierte 2). Für die interessanteste unter allen jenen eklektischen Theorien, welche die Abstinenz- und Produktivitätstheorie vermischen, halte ich aber die Theorie des Engländers Jevons, mit der ich die Darstellung dieser Gruppe beschließen wül. Jevons 3) gibt zuvörderst eine sehr klare, von dem Mystizismus einer besonderen „produktiven Kraft" sich freihaltende Darstellung der volks- wirtschaftlichen Funktion des Kapitales. Er erblickt sie einfach darin, daß das Kapital uns gestattet, Arbeit vorschußweise aufzuwenden. Es hüft uns über die Schwierigkeit hinweg zu kommen, die im ZeitintervaUe zwischen dem Anfange und Ende eines Werkes liegt. Es gibt unendhch viele Verbesserungen in der Gütererzeugung, deren Einführung notwendig mit einer Verlängerung des Zwischenraumes zwischen dem Augenblicke des Arbeitsaufwandes und dem Augenbücke der Werkvollendung ver- bunden ist. Alle diese Verbesserungen werden durch den Gebrauch von Kapital bedingt, und in ihrer Ermöglichung liegt der große, und beinahe auch der einzige Nutzen des Kapitales*). Auf dieser Grundlage erklärt Jevons den Kapitalzins folgender- maßen. Er setzt voraus, daß jede Verlängerung des Zeitintervalles zwischen Arbeitsaufwand und Genuß des Endproduktes die Erzielung eines größeren Produktes mit derselben Arbeitsmenge ermöglicht. Die Differenz zwischen jenem Produkte, das man bei einem kürzeren Intervall hätte erzielen können, und dem größeren Produkte, das man bei Verlängerung des Inter^ vaUes erlangt, bildet den Gewinn jenes Kapitales, dessen Investierung die Verlängerung des Intervalles ermöglichte. Nennen wir das kürzere Intervall t und das durch eine additionelle Kapitalinvestition verlängerte t + A t» ferner das bei dem kürzeren Intervall zu erzielende Produkt einer bestimmten Quantität Arbeit F t, so wird nach der Annahme das bei längerem Intervall zu erzielende Produkt entsprechend größer, also F (t -f A t) sein. Die Differenz dieser beiden Größen, F (t + A t) — F t, ist der Kapitalgewinn. Um den Zinsfuß zu erfahren, den dieser Gewinnbetrag darstellt, muß ^) S. 34, und ausführlicher in den Saggi. •) „Due sono gli elementi dell' interesse, cioö: 1. la retribuzione pel non uso del capitale, 0, come altri dice, per la sua formazions, e pel suo servizio pro- duttivo" etc. (S. 119.) — Die vorstehend zitierten Äußerungen finden sich fast unver- ändert auch noch in der zehnten, der letzton bei Lebzeiten des Verfassers erschienenen Auflage der CossAschen „Elementi". ») Theory of Political Economy, 2, Auflage, London 1879. *) S. 243ff. 27* 420 XIII. Die Eklektiker. man den letzteren auf die Größe jener Kapitalinvestition berechnen, durch die die Verlängerung des Intervalles ermöglicht wurde. Als in- vestiertes Kapital ist die Größe F t anzusehen; denn dieses ist die Pro- duktenmenge, die man ohne die zusätzliche Investition schon nach Ablauf des Zeitraumes t hätte genießen können. Die Dauer der zusätzlichen Investition ist /\ t. Die ganze Größe der zusätzlichen Investition stellt sich also im Produkte F t . A t dar. Dividiert man die obge Differenz der Produkte durch die letztere Größe, so erhält man den Zinsfuß. Er . , , • . F (t + A t) - F t 1 ., ist gleich ^^ ^ F7 )• Je reicher ein Land mit Kapital gesättigt ist, desto größer ist das Produkt F t, das man ohne eine neue zusätzliche Kapitalinvestition er- zielen könnte; desto größer ist in weiterer Folge das Kapital, auf das der bei einer additioneilen Verlängerung des Intervalles sich ergebende Gewinn berechnet wird, und desto niedriger daher der Zinsfuß, den jener Gewinn ausmacht. Daher die Tendenz zur Senkung des Zinsfußes mit fortschreiten- der Wohlfahrt. Da ferner alle Kapitalien nach dem gleichen Zinsfuße streben, so müssen alle mit jenem niedrigsten Zinsfuße vorlieb nehmen, den der zuletzt investierte Kapitalzuwachs erlangt. So wird der Vorteil, den der letzte Kapitalzuwachs für die Produktion bringt, für die jeweilige Höhe des gesamten Zinsfußes im Lande entscheidend. Man wird die Ähnlichkeit dieses Gedankenganges mit den Ausfüh- rungen des Deutschen Thünen leicht erkannt haben. Er bietet auch der Kritik ähnliche Blößen. Jevons identifiziert nämlich, ähnlich wie Thünen, zu leicht das „Mehr an Produkten" mit einem Überschusse an Wert. Was in seiner Darstellung wirklich beglaubigt erscheint, ist ein „increment of produce" gegenüber dem Falle, daß die Produktion ohne Hilfe des letzten Kapitalzuwachses hätte stattfinden müssen. Daß dieses Mehr an Produkten aber zugleich einen Überschuß an Wert über das in der In- vestition verbrauchte Kapital hinaus darstellt, hat Jevons nirgends ein- leuchtend gemacht. An einem konkreten Beispiele veranschauhcht. Wir begreifen, daß jemand unter Anwendung einer unvollkommenen, aber rasch verfertigten Maschinerie in einem Arbeitsjahre 1000 Stück einer Gütergattung, und unter Anwendung einer vollkommeneren, aber lang- wierig zu bauenden Maschinerie, gleichfalls in einem Arbeitsjahre, 1200 Stück derselben Gütergattung erzeugt. Aber daß die Differenz von 200 Stück reiner Wertüberschuß sein müsse, ist damit keineswegs gesagt. Es könnte entweder jene vollkommenere Maschinerie, die die Erwerbung des Zuwachses von 200 Stück vermittelt, wegen dieser ihrer Fähigkeit so hoch geschätzt werden, daß der Zuwachs von 200 Stück zur Deckung ^) S. 266 ff. Jevons stellt dieselbe Formel noch in anderen Gestalten dar, die ich füglich übergehen kann. Jevons. 421 ihrer Amortisation absorbiert wird; oder es könnte denkbarer Weise die neue erfolgreiche Produktiönsmethode so häufig angewendet werden, daß das verstärkte Angebot den Wert der jetzigen 1200 Stück auf dasselbe Niveau herabdrückt, das einst der Wert der 1000 Stück einnahm. In beiden Fällen würde kein Mehrwert existieren, Jevons ist also hier in den alten Fehler der Produktivitätstheoretiker verfallen, das leicht nach- weisbare Mehr an Produkten mechanisch als Mehrwert zu deuten. Allerdings fehlt es in seiner Lehre nicht an Ansätzen, um gerade auch die Wertdifferenz zu erklären. Aber er hat dieselben nicht in Zusammen- hang mit seiner Produktivitätstheorie gebracht; sie ergänzen dieselben nicht, sondern sie durchkreuzen sie. Einer dieser Ansätze liegt in der Aufnahme von Elementen der Ab- stinenztheorie. Jevons zitiert beistimmend Senior, erklärt dessen „ab- stinence*' als jenes „temporäre Opfer an Genuß, das mit der Existenz von Kapital wesentlich verbunden ist", beziehungsweise als das „Erdulden des Bedürfniszustandes" (endurance of want), das man auf sich nimmt, und entwirft Formeln für die Berechnung der Größe -des Opfers „absti- nence" (S. 253 ff.). Er rechnet dieses (bisweüen vermöge einer ungenauen Redewendung sogar die Zinsen) unter die Produktionskosten, und be- zeichnet einmal die Einnahme des Kapitalisten ausdrücklich als die Ver- gütung für ,. Enthaltsamkeit und Risiko" (S. 295 a. E.). Sehr interessant ist sodann eine — zweifellos durch Bentham beein- flußte^) — Reihe von Betrachtungen, die Jevons über den Einfluß der Zeit auf die Schätzung von Bedürfnissen und Bedürfnisbefriedigungen anstellt. Er bemerkt, daß wir künftige Leiden und Freuden antizipieren; die Aussicht auf künftige Freuden wird schon jetzt als „antizipierte" Freude empfunden. Aber die Intensität der letzteren ist immer kleiner als die der künftigen Freude selbst, und hängt von zwei Faktoren ab: von der Intensität der künftigen Freude, die man antizipiert, und von der Größe des Zeitintervalles, das vom wirklichen Eintritte der Freude noch trennt (S. 36 f.). Seltsamer Weise findet Jevons den Unterschied, den wir so in der augenblicklichen Schätzung eines gegenwärtigen und eines künftigen Genusses machen, eigentlich unberechtigt; er beruhe nur auf einem Fehler unserer Geistes- und Gemütsanlage, und eigentlich sollte die Zeit hier gar keinen Einfluß haben. Immerhin sei es aber wegen der UnvoUkommenheit der menschUchen Anlage eine Tatsache, daß „eine künftige Empfindung immer weniger einflußreich ist als eine gegen- wärtige" (S. 78). Jevons urteilt nun ganz richtig, daß dieses unser Vermögen, künftige Empfindungen zu antizipieren, einen weitreichenden Einfluß in den wirt- schaftlichen Dingen üben müsse; denn unter anderem beruhe alle Kapital- ') Siehe oben S. 299f. 422 Xm. Die Eklektiker. ansammlung darauf (S. 37). Leider läßt er es aber bei Andeutungen all- gemeinster Natur und einigen ganz fragmentarischen Anwendungen der- selben^) bewenden: zu einer fruchtbaren Durchbildung und durchgreif enden Verwertung jenes Gedankens für die Wert- und Einkommenstheorie ge- langt er nicht. Diese Unterlassung ist um so verwunderlicher, als einige Züge seiner Kapitalzinstheorie eine starke Aufforderung enthielten, das Moment der Zeit zur Erklärung des Kapitalzinses recht ausgiebig zu ver- werten. Einerseits hatte er ja so energisch, wie kein anderer vor ihm^) die üoUe hervorgehoben, welche eben die Zeit in der Funktion des Kapi- tales spielt. Es wäre nun gewiß sehr nahe gelegen zu ufitersuchen, ob nicht die Rücksicht auf die Zeitdifferenz auch einen derartigen unmittel- baren Einfluß auf die Wertschätzung des Kapitalproduktes üben kann, daß sich hieraus die dem Kapitalzinse zu gründe liegende Wertdifferenz erklären ließe. Statt dessen beharrt, wie wir wissen, Jevons bei dem alten Brauche, den Kapitalzins einfach aus einer Differenz in der Masse des Produktes zu erklären. — Noch näher wäre es vielleicht gelegen gewesen, den gleichfalls berührten Begriff der „abstinence" mit dem Unterschiede in Verbindung zu bringen, den wir in der Schätzung gegenwärtiger und künftiger Genüsse machen, und das Opfer, das im Genußaufschub liegen soll, auf eben jene Minderschätzung des Zukunftsnutzens zurückzuführen. Allein auch diesem Gedanken gibt Jevonö nicht allein keinen positiven Ausdruck, sondern er schließt ihn sogar indirekt aus, indem er einerseits, wie oben erwähnt, jene Minderschätzung für einen durch die UnvoU- kommenheit unserer Anlage hervorgerufenen bloßen Irrtum, anderer- seits die „abstinence" für ein wirkliches und wahrhaftes Opfer erklärt, das in der Fortdauer des (leidenden) Bedürfniszustandes besteht. So findet zwischen den mancherlei interessanten und scharfsinnigen Gedanken, die sich Jevons über unser Thema macht, keine wechselseitige Befruchtung statt, und Jevons selbst bleibt zwar ein geistvoller Eklektiker, immerhin aber ein Eklektiker. — Eine zweite Gruppe von Eklektikern zieht auch die Arbeitstheorie in irgend einer ihrer Nuancen zur Mischung heran. Ich nenne zuvörderst Read, dessen Arbeit »), die freilich aus der ^) So entwickelt Jevons einmal, daß man unter dem Einflüsse jenes Momentes bei der Verteilung eines Gütervorrates auf Gegenwart und Zukunft den künftigen Zeiten einen im Verhältnisse ihrer Entlegenheit geringeren Güteranteil zuweisen wird (S. 78f.). *) 1884 geschrieben; seither sind die nahe verwandten, aber Jevons mutmaßlich unbekannt gebliebenen Forschungen seines hervorragenden Vorläufers Rae ans Licht gezogen worden; vgl. oben Abschnitt XI. 3) An inquiry into the natural grounds of right to vendible property or Wealth, Edinburgh 1829. Read. 423 verworrensten Periode der englischen Zinsliteratur stammt, ein besonders inkonsequentes Durcheinander von Meinungen aufweist. Read legt anfänglich das größte Gewicht auf die selbständige Pro- duktivität des Kapitales, von der er fest überzeugt ist. „Wie absurd", ruft er einmal aus (S. 83). „muß die Behauptung erscheinen, daß die Arbeit alles erzeugt und die alleinige Quelle alles Reichtums ist: als ob das Kapital nichts erzeugen und nicht auch eine wahre und selbständige (a real and distinct) Quelle von Reichtum sein würde." Und etwas später schließt er eine Beleuchtung dessen, was das Kapital in gewissen Produktions- zweigen leistet, mit der völlig im Geiste der Produktivitätstheorie ge- haltenen Erklärung, daß alles, was nach Bezahlung der am Werke mit- tätigen Arbeiter erübrigt, mit Recht als das Produkt und die Be- lohnung des Kapitales in Anspruch genommen werden kann (may fairly be claimed as the produce and reward of capital). Später sieht er jedoch die Sache in einem wesentlich verschiedenen Lichte an. Er stellt jetzt die Tatsache in den Vordergrund, daß das Kapital selbst durch Arbeit und Ersparung entstanden ist, und baut darauf eine Erklärung des Kapitalzinses, die halb im Geiste der Arbeitstheorie James Mills, halb im Geiste der Abstinenztheorie Seniors gehalten ist. „Die pCTSon", sagt er jetzt (S. 310), „welche vorher gearbeitet, und das Produkt ihrer Arbeit nicht verzehrt, sondern aufgespart hat, und deren Produkt jetzt zur Unterstützung eines anderen Arbeiters im Produktions- werke verwendet wird, ist zu ihrem Gewinne oder Interesse (das die Belohnung für vergangene Arbeit und für die Ersparung und Aufbewahrung der Früchte dieser Arbeit ist) ebensowohl be- rechtigt, als der jetzige Arbeiter auf seinen Lohn ein Recht hat, der die Vergeltung für seine neuere Arbeit ist." Daß es bei dieser eklektischen Schwenkung nicht ohne allerlei Wider- sprüche abgehen kann, versteht sich von selbst. So löst jetzt Read selbst das Kapital in vorgetane Arbeit auf, wogegen er früher i) auf das hart- näckigste protestiert hat; und so erklärt Read selbst jetzt den Kapital- gewinn als Lohn für vergangene Arbeit, während er früher 2) McCülloch auf das gröbüchste dafür getadelt hat, daß er den Unterschied zwischen den Begriffen „profit" und „wages" verwische. — An Read kann ich am passendsten den Deutschen Gerstner an- reihen. Dieser beantwortet die „bekannte Frage", ob das Kapital selb- ständig und unabhängig von den beiden anderen Güterquellen produziert, bejahend; glaubt, daß man die Teilnahme des Produktionswerkzeuges Kapital an der Erzeugung des Gesamtproduktes mit mathematischer Genauigkeit bestimmen kann, und sieht diesen Produktionsanteil ohne *) a. a. 0. S. 131 und überhaupt in der ganzen Polemik gegen GoDwm und die Anonymschrift „labour defended". *) a. a. 0. Note zu S. 247. 424 XIII. Die Eklektiker. weiteres als „die dem Kapital zugehörige Rente am Gesaratgevdnne" an^). 1d diese freilich sehr lapidarische Produktivitätstheorie mischt aber Gerstner Anklänge an die MiLLSche Arbeitstheorie, indem er (S. 20) die Produktionswerkzeuge als „eine Art Antizipation der Arbeit", und, darauf fußend, „die auf die Produktionswerkzeuge fallende Kapitalrente als den nachträglichen Lohn früher schon geleisteter Arbeit" erklärt (S 23). An die nahe liegende Frage, ob denn die früher schon geleistete Arbeit nicht auch schon früher ihren Lohn aus dem Kapitalwerte der Kapitalstücke empfangen hat, und warum sie darüber hinaus noch einen ewigen Zuschuß im Zinse bekommt, denkt er ebensowenig als Read. Weiter gehören hieher die Franzosen Cauwes^) und Joseph Garnier. Wie Gauwes sich in etwas reservierten Worten als Anhänger der CouRCELLE-SENEuiLschen Arbeitstheorie zeigt, habe ich schon oben 3) dargestellt. Daneben entwickelt er aber auch allerlei Ansichten die in der Produkti^ätätstheorie wurzeln. Er schreibt, gegen die Sozialisten polemisierend, dem Kapitale eine selbständige „aktive Rolle" in der Produktion neben der Arbeit zu (I S. 235 f.); er sieht in der „Produktivität des Kapitales" den Bestimmgrund der jeweiligen Höhe des Leihzinses*), und er leitet endlich überhaupt die Existenz des „Mehrwertes" von der Produktivität des Kapitales ab, wenn er einmal die Erklärung des Kapital- zinses auf die Tatsache basiert, daß man der produktiven Anwendung des Kapitales ,, einen gewissen Mehrwert verdankt"^). Bei Joseph Garnier s) finden wir sogar die Elemente dreier ver- schiedener Theorien eklektisch vereinigt. Die Basis seiner Anschauungen bildet offenbar die SAvsche Produktivitätstheorie, von der er sogar den von der Kritik längst verworfenen Zug noch beibehalten hat, daß er den Kapital zins unter die Produktionskosten rechnet'). Daneben nennt er — wohl in Nachahmung Bastiats — die Entbehrung (privation), die sich der Verleiher von Kapital durch die Entäußerung des letzteren auferlegt, als Rechtfertigungsgrund des Zinses; und endlich erklärt er, daß der letztere die „Ersparungsarbeit" (travail d'epargne) hervorrufe und ver- güte«). — ') Beitrag zur Lehre vom Kapital, Erlangen 1857, S. 16, 22f. *) Precis d'Economie Politique, 2. Auflage, Paris 1881. =») Siehe S. 268ff. *) ,,Le principe est donc que le taux de l'intöret est en raison directe de ia pro- dactivit6 du capital." (II S. 110.) ') ,,Nous avons vu que la valeur reelle de l'int^ret d^pendait de l'emploi pro- ductif donn6 au capital: puisqu'une certaine plus value est due au capital, l'intöret est une partie de cette plus-value presumee fixee k forfait que reeoit le pr§teur pour le service par lui rendu." (II S. 189.) •) Traite d Economic Politique, 8. Auflage, Paris 1880. ') a. a. 0. S. 47. •) S. 522. Cauw6s, Garnier, Hoffmann, Mill. 425 Alle bisher genannten Eklektiker verbinden eine Mehrheit von Theorien, die zwar nicht in ihrer inneren Begründung, aber doch wenigstens in ihren praktischen Ergebnissen harmonieren: sie verbinden nämlich sämtlich zins- freundliche Theorien. Seltsamer Weise gibt es aber auch eine Reihe von Schriftstellern, die mit einer oder mehreren zinsfreundlichen auch Elemente der zinsfeindlichen Ausbeutungstheorie verknüpfen. So stellt J. G. Hoffmann auf der einen Seite eine eigentümliche, dem Kapitalzinse günstige Theorie auf, die den Zins als Entgelt gewisser, durch die Kapitalisten zu leistender gemeinnütziger Arbeiten erklärt ^). Anderer- seits verwirft er aber entschieden die schon zu seiner Zeit im Schwünge befindliche Produktivitätstheorie, indem er die Meinung, „daß in der toten Masse des Kapitales oder des Bodens erwerbende Kräfte wohnen", als einen Wahn bezeichnet 2); und erklärt dafür in dürren Worten, daß der Kapitalist im Kapitalzinse die Früchte fremder Arbeit einheimst. „Ka- pital", sagt er 3), ,.kann ebenso zur Förderung eigener als fremder Arbeiten verwandt werden. Im letzten Falle gebührt dem Eigentümer eine Miete dafür, die nur aus der Frucht der Arbeit gezahlt werden kann. Diese Miete, die Zinsen, hat insoferne die Natur der Bodenrente, als sie, gleich dieser, dem Empfänger aus der Frucht fremder Arbeit zu- fließt". Noch frappanter ist die Vereinigung gegensätzlicher Meinungen bei J. St. Mill*). Es ist schon oft bemerkt worden, daß Mill eine Zwitter- steUung zwischen zwei sehr stark divergierenden Richtungen der politischen Ökonomie einnimmt: zwischen der sogenannten Manchester-Richtung einerseits und dem Sozialismus andererseits. Es begreift sich, daß eine solche Zwitterstellung dem Ausbau einer strammen einheitlichen Lehre überhaupt nicht günstig sein konnte; am allerwenigsten auf demjenigen Gebiete, das den Haupttummelplatz für die „kapitalistische" und „sozia- listische" Fehde abgibt: auf dem Gebiete der Kapitalzinstheorie. So ist denn in der Tat die MiLLSche Lehre vom Kapitalzinse in eine derartige Verwirrung gekommen, daß man dem ausgezeichneten Denker sehr Unrecht tun würde, wenn man^ seine wissenschaftliche Bedeutung nach dieser übelgelungensten Partie . seines Werkes beurteilen wollte. Wie Mill im großen und ganzen auf den nationalökonomischen Ansichten Ricardos weiterbaute, so übernahm er auch die Lehre, daß die Arbeit die Hauptquelle alles Wertes ist. Dieses Prinzip wird aber durch die tatsächliche Existenz des Kapitalzinses durchkreuzt, Mill modifiziert ^) Kleine Schriften staatswirtschaftlichen Inhalts, Berlin 1843, S. 566. Siehe oben S. 276. ») a. a. 0. S. 588. ») a. a. 0. S. 576. *) Principles of Political Economy. Ich zitiere nach Soetbeers Übersetzung, Leipzig 1869. 426 XIII. Die Eklektiker. es daher dem Kapitalzinse zu Liebe in der Weise, daß er statt der Arbeit allgemeiner die Produktionskosten als maßgebend für den Wert der Güter erklärt, und innerhalb derselben neben der Arbeit, die das ,, hauptsäch- lichste, ja das fast alleinige Element" derselben ausmacht, auch dem Kapitalgewinne einen selbständigen Platz einräumt: der Kapitalgewinn ist bei ihm das zweite ständige Element der Produktionskosten i). Schon damit, daß er so nach dem Vorbilde von Malthus einen Produktions- überschuß für ein Produktionsopfer erklärt, gibt er sich eine starke Blöße, was um so verwunderlicher ist, als das hierin liegende Versehen in der englischen Literatur schon längst, zumal von Torrens und Senior, herb und treffend kritisiert worden war. Woher kommt aber der Kapitalgewinn? — Hiefür gibt Mill statt einer drei widersprechende Erklärungen. Den kleinsten Anteil nimmt hieran die Produktivitätstheorie, in deren Bahnen Mill nur an vereinzelten Stellen und mit allerlei Vorbehalten einlenkt. Er erklärt zunächst mit einiger Reserve das Kapital für den dritten selbständigen Produktionsfaktor. Zwar sei dasselbe selbst das Produkt von Arbeit; seine Wirksamkeit bei der Produktion sei daher eigentlich die der Arbeit in einer indirekten Form. Dessenungeachtet findet Mill dafür eine „besondere Aufstellung erforderlich" 2). Nicht weniger gewunden äußert er sich über die nahe verwandte Frage, ob das Kapital selbständige Produktivität besitzt. „Man spricht oft von den produktiven Kräften des Kapitales. Dieser Ausdruck ist, buchstäblich genommen, nicht richtig. Eigentlich sind nur die Arbeit und die Natur- kräfte produktiv. Wenn man von einem Teile des Kapitales den Ausdruck gebrauchen wiU, daß es eine eigene produktive Kraft habe, so sind dies nur Werkzeuge und Maschinen, von denen man behaupten kann, daß sie (wie Wind und Wasser) der Arbeit Beistand leisten. Der Unterhalt der Arbeiter und die Stoffe der Produktion haben keine produktive Kraft ..."3). Also, Werkzeuge sind wirklich produktiv, Rohstoffe nicht — eine ebenso wunderliche als unhaltbare Unterscheidung! Viel entschiedener bekennt sich Mill zur SENioRschen Enthaltsam- keitstheorie. Sie bildet gleichsam seine offizielle Lehrmeinung über den Zins, die in dem dem Kapitalgewinne gewidmeten Abschnitte ausdrücklich und eingehend vorgetragen und außerdem oftmals im Verlaufe des Werkes berufen wird. „Wie der Lohn des Arbeiters die Vergütung für Arbeit ist" — sagt Mill im XV. Kapitel des IL Buches seiner „Grundsätze" — „so besteht (nach Herrn Seniors passend gewähltem Ausdrucke) der Gewinn des Kapitalisten in der Vergütung für Enthaltsamkeit. Sein Gewinn bildet sich dadurch, daß er sich die Verwendung des Kapitales für seine eigene 1) Buch III, Kap. IV, §§ 1, 4, 6, Kap. VI, § 1 Nr. VIII und oft. •) Buch I, Kap. VII, § 1 (S. 107). ') I, V, § 1. John St. MUI. ^7 Person versagt und dasselbe durch produktive Arbeiter zu ihrem Nutzen verbrauchen läßt. Für solche Versagung verlangt er eine Belohnung." Und ebenso entschieden erklärt er ein anderesmal: „Bei unserer Ent- wicklung der Erfordernisse der Produktion fanden wir, daß es dabei außer der Arbeit noch ein anderes notwendiges Element gibt, das Kapital. Da das Kapital das Ergebnis der Enthaltsamkeit ist, so muß das Produkt oder dessen Wert hinreichen, um nicht allein für sämtliche erforderliche Arbeit, sondern auch für die Enthaltsamkeit aller der Personen, welche die Bezahlung der verschiedenen Klassen von Arbeitern vorgeschossen haben, Vergütung zu gewähren. Das Mnkommen für Enthaltsamkeit ist der Kapitalgewinn" ^). Daneben trägt aber Mill in demselben XV. Kapitel des II. Buches, das vom Kapitalgewinne handelt, noch eine dritte Theorie vor. „Die eigentliche Ursache des Kapitalgewinnes", sagt er im § 5 dieses Kapitels, „liegt darin, daß die Arbeit mehr produziert, als zu ihrem Unter- halte erfordert wird. Der Grund, weshalb landwirtschaftliches Kapital einen Gewinn abwirft, ist, daß menschliche Wesen mehr Nahrungsmittel hervorbringen können, als während dieser Hervorbringung zu ihrem Unter- halte nötig sind, einschließlich der zur Anfertigung der Gerätschaften und zu sonstigen notwendigen Vorbereitungen erforderlichen Zeit. Eine Folge hiervon ist, daß wenn ein Kapitalist die Ernährung der Arbeiter unter der Bedingung, dafür den Ertrag ihrer Arbeit zu erhalten, über- nimmt, er nach Ersatz seiner Vorschüsse noch etwas für sich behält; oder in anderer Weise ausgedrückt, der Grund, weshalb Kapital einen Gewinn abwirft, ist, daß Nahrung, Kleidung, Rohstoffe, Werkzeuge eine längere Dauer haben als die zu ihrer Hervorbringung erforderliche Zeit, so daß, wenn ein Kapitalist eine Anzahl Arbeiter mit diesen Dingen versieht unter der Bedingung, ihren ganzen Arbeitsertrag zu erhalten, diese außer der Wiederhervorbringung üirer eigenen Lebenserfordernisse und Werk- zeuge noch einen Teil ihrer Zeit übrig haben, um für den Kapitalisten zu arbeiten". — Hier wird „die eigentliche Ursache des Kapitalgewinnes" nicht in einer produktiven Ejaft des Kapitales, nicht in der Notwendigkeit, ein besonderes Opfer des Kapitalisten an Enthaltsamkeit zu vergüten, sondern einfach darin gefunden, „daß die Arbeit mehr produziert als zu ihrem Unterhalte erfordert wird", daß „die Arbeiter noch einen Teil ihrer Zeit übrig haben, um für den Kapitalisten zu arbeiten"; mit einem Worte, der Kapitalgewinn wird im Sinne der Ausbeutungstheorie als eine An- eignung des durch die Arbeit erzeugten Mehrwertes durch die Kapitalisten erklärt, — Eine ähnliche Zwitterstellung an der Grenzscheide zwischen „Kapi- talismus" und, „Sozialismus" nehfiien die deutschen Kathedersozialisten ») III, Kap. IV, § 4. Siehe außerdem I S. 42, 228, III S. 320 und oft. 428 XIII. Die Eklektiker. ein. Die Frucht dieser Zwitterstellung ist auch hier nicht selten ein Eklek- tizismus, dessen Resultante indes näher der Ausbeutungstheorie läuft, als es bei Mill der Fall gewesen war. Ich begnüge mich, hier eines Hauptes der Kathedersozialisten zu 'gedenken, dem wir im Verlaufe dieser Arbeit schon wiederholt begegnet sind, Schäffles. In ScHÄFFLEs Werken lassen sich in Bezug auf unser Thema deutlich drei verschiedene Strömungen verfolgen. In einer ersten Strömung folgt ScHÄFFLE der HERMANNschen Nutzungstheorie, die er durch eine sub- jektive Färbung des Nutzungsbegriffes theoretisch verschlechtert, aber der zweiten seiner Theorien annähert. Diese Strömung dominiert im „gesellschaftlichen Systeme der menschlichen Wirtschaft", hat aber auch noch im „Bau und Leben des sozialen Körpers" deutliche Spuren zurück- gelassen i). Die zweite Strömung geht dahin, den Kapitalzins als ein Berufseinkommen aufzufassen, das für gewisse Leistungen des Kapitalisten bezogen wird. Diese schon im „Gesellschaftlichen System" aufgestellte Auffassung wird im „Bau und Leben" ausdrücklich bekräftigt 2). Daneben machen sich aber endlich im letztgenannten Werke zahlreiche Ansätze zur sozialistischen Ausbeutungstheorie bemerklich. Vor allem die Auf- lösung aller Produktionskosten in Arbeit. Während Schäffle in seinem „Gesellschaftlichen System'. Hoch die Vermögensnutzungen als einen selbständigen elementaren Kostenfaktor neben der Arbeit anerkannt hatte 3), erklärt er jetzt: „Die Kosten haben zwei Bestandteile: Aufwand persönlicher Güter durch Auslösung von Arbeit und Aufwand von Kapital. Letztere Kosten können aber auch auf Arbeitskosten zurückgeführt werden; denn der produktive Sachgüteraufwand läßt sich auf eine Summe von Teilchen des Arbeitsaufwandes früherer Perioden reduzieren, man kann daher alle Kosten als Arbeitskosten betrachten"*). Ist sonach Arbeit das einzige wirtschaftlich zu berücksichtigende Opfer, das die Güterproduktion kostet, so liegt es nahe, auch das Resultat der Produktion zur Gänze für diejenigen in Anspruch zu nehmen, die dieses Opfer gebracht haben. Es gibt denn auch Schäffle wiederholt, z. B. III 313 ff., zu verstehen, daß er das Ideal einer volkswirtschaftlichen Verteilung der Güter darin erblickt, wenn letztere nach dem Maßstabe der geleisteten Arbeit an die Volksglieder verteilt würden. Heutzutage wird allerdings die Verwirklichung dieses Ideales noch durch allerlei Hindernisse durchkreuzt. Unter anderem dadurch, daß das Kapital- vermögen als Aneignungsmittel dient; teils zu einer illegalen und unmora- lischen, teils zu einer legalen und moralischen Aneignung von Arbeits- ') Siehe oben S. 189ff. *) Siehe oben S. 271f. ä) I 258, 271 und oft. *) Bau und Leben III S. 273f. Schaf fle. 429 produkt^). Diese „Mehrwertsaneignung" der Kapitalisten verwirft Schäffle zwar nicht ganz unbedingt, aber er läßt sie doch nur als ein opportunistisches Auskunftsmittel insolange gelten, als man nicht den „volkswirtschaftlichen Dienst des Privatkapitales durch eine positiv nach- gewiesene, vollkommenere und weniger „„Mehrwert schluckende"" öffentliche Organisation zu ersetzen vermag" 2). Gegenüber einer solchen opportunistischen Duldung trägt Schäffle aber auch oft in dürren Worten das Dogma der Ausbeutungstheorie vor, daß der Kapitalzins eine Erbeutung am Produkte fremder Arbeit sei So wenn er in unmittelbarem Anschlüsse an die obigen Worte fortfährt: „Immerhin ist spekulativ-privatwirtschaftliche Geschäftsorganisation nicht das non plus ultra der Geschichte der Volkswirtschaft. Sie dient bloß mittelbar einem sozialen Zweck. Unmittelbar isl sie nicht auf höchsten reinen Nutzen für die Gesamtheit, sondern auf den höchsten Erwerb der Privatbesitzer von Produktionsmitteln und auf den höchsten Lebensgenuß der Kapitalistenfamilien gerichtet. Der Besitz der unbeweglichen und der beweglichen Produktionsmittel wird angewendet, um vom Ertrage der Nationalarbeit so viel wie nur möglich zu appropriieren. SchonProudhon hates zurvollen kritischen Evidenz erhoben, daß das Kapital in hunderterlei Formen vor- wegnimmt. Den Lohnarbeitern ist nur der Ertragsanteil gesichert, welchen ein aufrechtes Arbeitstier, das mit Vernunft begabt ist und deshalb nicht zu bloß tierischem Bedürfen herabgesetzt werden kann, notwendig hat, um sich in jener historisch bedingten Qualität zu erhalten, die für die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmers selbst Bedürfnis ist." "■) III 266f. 2) III 423. Vgl. auch III 330, 386, 428 und öfter. XIV. Zwei neuere Versuche. Ich habe die weite Verbreitung des Eklektizismus als ein Symptom des unbefriedigenden Standes der nationalökonomischen Zinsdoktrin ge- deutet: man mischt Elemente mehrerer Theorien, wenn und weil man keine einzige der vorhandenen Theorien für sich genügend findet. Ein zweites Symptom, das in dieselbe Richtung deutet, ist die Tat- sache, daß trotz der großen Zahl vorhandener Theorien die hterarische Bewegung über das Thema des Kapitalzinses nicht zur Ruhe kommen kann. Seitdem der wissenschaftliche Sozialismus die Skepsis gegen die alten Schulmeinungen rege gemacht hat, ist kein Lustrum, und in dem letzten Lustrum fast kein Jahr vergangen, ohne daß eine neue Zinstheorie das Licht der Welt erbhckt hätte ^). Soweit dieselben wenigstens gewisse Grundlagen älterer Erklärungen beibehielten, und die letzteren nur in der genaueren Durchführung originell nuancierten, habe ich sie den herrschen- den Hauptrichtungen einzuordnen gesucht, und im Vereine mit diesen bereits in den vorangegangenen Abschnitten zur Darstellung gebracht. Einige neue Versuche schlagen aber ganz aparte Wege ein. Zwei derselben scheinen mir merkwürdig genug, um eine genauere Vorführung zu rechtfertigen. Die eine, welche im Grundgedanken einige Ähnlichkeit mit TuRGOTS Fruktifikationstheorie zeigt und die ich daher als „jüngere Fruktifikationstheorie" bezeichnen will, rührt vom Amerikaner Henry George, die andere, eine modifizierte Abstinenztheorie, vom Deutschen Robert Schellwien her. a) Georges jüngere Fruktifikationstheorie. George 2) entwickelt seine Zinstheorie im Flusse einer Polemik gegen Bastiat und dessen bekanntes Beispiel von der Verleihung eines Hobels. Ein Zimmermann Jakob hat sich einen Hobel angefertigt, den er einem anderen Zimmermann Wilhelm auf ein Jahr verleiht. Er begnügt sich ^) 1884 geschrieben; über die neueste Entwicklung siehe noch den Anhang zu diesem Bande. *) Fortschritt und Armut, deutsch von Gütschow, Berlin 1881, S. 163ff. und Jena 1920. Georges Lehre. 431 nicht mit der Eückgabe eines gleich guten Hobels, weil er sonst für den Verlust des Vorteiles, welchen der Gebrauch des Hobels während des Jahres geben würde, nicht entschädigt würde, und begehrt darüber hinaus, als Zins, noch ein neues Brett. Bastiat hatte die Zahlung des Brettes damit erklärt und gerechtfertigt, daß Wilhelm „die dem Werkzeuge inne- wohnende Kraft erlangt, die Produktivität der Arbeit zu vermehren" i). Diese Erklärung aus der Produktivität des Kapitales läßt George aus verschiedenen inneren und äußeren Gründen, (üe uns hier nicht weiter interessieren, nicht gelten, und fährt dann folgendermaßen fort: „Und ich möchte glauben, daß, wenn alle Güter aus solchen Dingen wie Hobeln beständen, und alle Produktion eine ähnliche wäre, wie die der Zimmerleute, d. h. wenn die Güter nur aus den unfertigen Stoffen der Erde und die Produktion nur darin bestände, dieselben in verschiedenste Formen umzugestalten, der Zins nur ein Raub an der Erwerbs- tätigkeit wäre und nicht lange bestehen könnte. . . . Indes, alle Güter sind nicht von der Natur der Hobel, der Bretter oder des Geldes, noch ist alle 1 roduktion bloß eine Umarbeitung der Stoffe der Erde in andere Formen. Wahr ist, daß, wenn ich Geld weg- stecke, es sich nicht vermehren kann. Nehmen wir jedoch statt dessen an, daß ich Wein weglege. Mit Ende des Jahres werde ich eine Wert- vermehrung haben, denn der Wein wird an Qualität gewonnen haben. Oder nehmen wir an, daß ich in einer dazu geeigneten Gegend Bienen halte; am Ende des Jahres werde ich mehr Schwärme haben, sowie den Honig, welchen sie gesammelt haben. Oder nehmen wir an, daß ich Schafe, Rinder oder Schweine auf eine Weide treibe; am Ende des Jahres werde ich, im Durchschnitt, ebenfalls mehr haben. Was in diesen Fällen die Vermehrung zuwege bringt, erfordert zwar in der Regel zur Nutzbar- machung Arbeit, ist abei doch etwas von der Arbeit verschiedenes und trennbares, nämlich die tätige Kraft der Natur, das Prinzip des Wachstumes, der Reproduktion, das überall alle Formen jenes geheimnisvollen Zustandes oder Dinges, das wir Leben nennen, charakterisiert. Und dies scheint mir die Ursache des Zinses zu sein, d. h. der Kapitalvermehrung über das hinaus, was der Arbeit zu verdanken ist." Der Umstand, daß auch zur Verwertung der reproduktiven Natur- kräfte Arbeit notwendig, und daß daher z. B. auch das Produkt des Acker- baues in gewissem Sinne ein Produkt der Arbeit ist, ist nicht imstande, den wesentlichen Unterschied zu verwischen, der nach George zwischen den verschiedenen Produktionsarten besteht. Bei solchen Produktions- arten, „die nur in Form- oder Ortsveränderung des Stoffes bestehen, wie das Bretterhobeln oder Kohlengraben", ist nämlich die Arbeit allein ^) Capital et Rente; siehe oben S. 259. 432 XIV. Zwei neuere Versuche, a) Creorges jüngere Fruktifikationstheorie. die wirkende Ursache. „Hört die Arbeit auf, so hört auch die Produktion auf. Legt der Zimmermann mit Sonnenuntergang seinen Hobel hin, so hört die Wertvermehrung auf, die er mit demselben schafft, bis er seine Arbeit am nächsten Morgen wieder beginnt. . . . Die Zwischenzeit könnte, so weit die Produktion in Betracht kommt, ebensogut ausgelöscht werden. Das Verstreichen der Tage, der Wechsel der Jahreszeiten ist kein Element der Produktion, die allein von der Summe der aufgewendeten Arbeit abhängt." In den anderen Produktionsarten jedoch, „die sich die repro- duktiven Naturkräfte zu Nutze machen", ist die Zeit ein Element. „Die Aussaat keimt und sproßt im Boden, ob der Landmann schläft, oder neue Felder pflügt"^). Bis jetzt hat George erklärt, wieso gewisse natürlich fruchtbare Kapitalsarten einen Kapitalzins tragen. Bekanntlich bringen aber alle Kapitalsarten, auch die natürlich unfruchtbaren, einen solchen ein. George erklärt dies einfach aus der Wirksamkeit des Gesetzes der Gewinnaus- gleichung. „Niemand würde Kapital in einer Form behalten wollen, wenn es für eine vorteilhaftere Form vertauscht werden könnte. . . . Und so muß in jedem Austauschkreise die Kraft der Vermehrung, welche die Erzeugungs- oder Lebenskraft der Natur einigen Arten des Kapitals ver- leiht, sich mit allen übrigen ausgleichen; und wer Geld, Hobel, Bretter oder Kleider ausleiht oder zum Austausche verwendet, vermag ebensowohl ein Mehr zu erzielen, als wenn er so viel Kapital zu reproduktiven Zwecken in einer der Vermehrung fähigen Form verliehen oder angelegt hätte". Auf Bastiats Beispiel angewendet: Der Grund, warum Wilhelm am Schlüsse des Jahres an Jakob mehr als einen gleich guten Hobel zurück- geben muß, liegt nicht in der durch den Hobel verliehenen größeren Macht; „denn dies ist kein Element"; sondern derselbe entspringt aus dem Ele- mente der Zeit — dem Unterschiede eines Jahres zwischen dem Leihen und Zurückgeben des Hobels. Beschränkt man zwar die Betrachtung auf dies eine Beispiel, „so zeigt nichts darin die Wirkung dieses Elementes, denn ein Hobel hat am Ende eines Jahres keinen größeren Wert als zu Anfang desselben. Denken wir uns aber an Stelle des Hobels ein Kalb, so ist klar ersichtlich, daß. um Jakob ebenso gut zu stellen, als wenn er nicht dargeliehen hätte, Wühelm ihm am Ende des Jahres kein Kalb, sondern eine Kuh zurückgeben muß. Oder nehmen wir an, daß die zehn- tägige Arbeit dem Getreidebau gewidmet gewesen wäre, so ist es augen- ^) Parallel mit den ,, vitalen Kräften der Natur" wirkt nach George auch ,,die Nutzbarmachung der Unterschiede in den Kräften der Natur und des Menschen durch den Tausch". Auch sie führt zu einer Zunahme, „die einigermaßen der durch die vitalen Kräfte der Natur hervorgebrachten gleicht" (S. 161f.). Auf eine genauere Er- klärung dieses etwas dunkeln Elementes brauche ich hier wohl nicht einzugehen, da George selbst ihm nur eine sekundäre Rolle bei der Entstehung des Kapitalzinses zuschreibt. Greorges Lehre. Kritik. 433 scheinlich, daß Jakob nicht seinen vollen Ersatz erhalten würde, falls er nach Ablauf des Jahres nur die Aussaat zurückerhielte, denn während desselben würde das Korn gekeimt haben, gewachsen sein und sich ver- vielfältigt haben; und ebenso könnte der Hobel, wenn er zum Tausch bestimmt worden wäre, während des Jahres mehrere Male umgesetzt werden und bei jedem Tausche ein Mehr für Jakob ergeben. ... In letzter Instanz entspringt der Vorteil, der durch den Zeitverfluß gewonnen wird, der schaffenden Kraft derNatur und den wechseln- den Fähigkeiten der Natur und des Menschen." — Diese Lehre weist eine sichtliche Ähnlichkeit mit der Fruktifikations- theorie Turgots auf. Beide gehen davon aus, daß gewissen Güterarten die Fähigkeit, einen Wertzuwachs hervorzubringen, als eine natürliche Gabe innewohnt; und beide demonstrieren, daß diese Gabe unter dem Einflüsse des Tauschverkehres und des Bestrebens der wirtschaftenden Menschen, ihr Besitztum der lohnendsten Fruktifikation zuzuführen, eine künstliche Verallgemeinerung auf alle Güterarten erfahren müsse. Sie differieren nur darin, daß Turgot den Stammsitz des Wertzuwachses ganz außerhalb des Kapitales, in den rentetragenden Grund und Boden verlegt, während ihn George innerhalb des Kapitalgebietes in gewissen natürlich fruchtbaren Güterarten sucht. Der wichtigsten Einwendung, die wir gegen Turgot zu erheben hatten, ist George durch diese Nuance ausgewichen. Turgot hatte unerklärt gelassen, warum man die Grundstücke, die successive eine unendliche Rentensumme einbringen, schon um einen relativ niedrigen Kapitalpreis erkaufen, und damit dem unfruchtbaren Kapitale den Vorteil einer immer- währenden Fruktifikation verschaffen kann. Bei George versteht es sich dagegen von selbst, daß man unfruchtbare Güter im gleichen Ver- hältnisse gegen fruchtbare austauscht. Denn da letztere durch Produktion in beliebiger Menge hervorgebracht werden können, so duldet die Möglich- keit, ihr Angebot zu vermehren, nicht, daß sie einen höheren Preisstand als unfruchtbare Güter von gleichen Produktionskosten genießen. Dagegen ist Georges Theorie zwei anderen, und, wie ich glaube, entscheidenden Ausstellungen ausgesetzt. Erstlich ist die Sonderung der Produktionszweige in zwei Gruppen, in deren einer die lebendigen Kräfte der Natur ein besonderes Element neben der Arbeit bilden soUen, in der anderen nicht, gänzlich unhaltbar. George wiederholt hier in etwas geänderter Form den alten Irrtum der Physiokraten, die eine Beihilfe der Natur am Produktionswerke auch nur für einen einzigen Produktionszweig, die Landwirtschaft, zugestehen wollten. Die Naturwissenschaften haben uns seither längst überwiesen, daß die Mithüfe der Natur eine universelle ist. Alle unsere Produktion beruht darauf, daß wir durch Anwendung der Naturkräfte den unvergang- Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 28 434 XIV. Zwei neuere Versuche, a) Georges jüngere Fruktifikationstheorie. liehen Stoff in nützliche Formen zu bringen wissen. Ob die Naturkraft, deren wir uns hiebei bedienen, eine vegetative, oder aber eine unorganische, mechanische oder chemische ist, ändert am Verhältnisse, in dem die Natur- kraft zu unserer Arbeit steht, gar nichts. Es ist ganz unwissenschaftlich zu sagen, bei der Produktion mittels eines Hobels sei „die Arbeit allein die wirkende Ursache"; die Muskelbewegung des Hobelnden würde sehr wenig nützen, wenn ihr nicht die natürlichen Kräfte und Eigenschaften der Stahlschneide des Hobels zu Hilfe kämen. Und ist es denn auch nur wahr, daß wegen des Charakters des Bretterhobeins als bloßer „Form- oder Ortsveränderung des Stoffes" die Natur hier nichts ohne Arbeit aus- richten kann? Kann man den Hobel nicht in ein automatisches Trieb- werk einschalten, das man von der Kraft eines Flusses treiben läßt, und das seine Produktion unermüdet fortsetzt, auch wenn der Zimmermann schläft? Was tut die Natur im Getreidebau mehr? Und dennoch soll die Mitwirkung der Natur hier ein Element sein, dort nicht? Zweitens aber hat George jene Urerscheinung des Zinses, mit der er alle andern Zinserscheinungen erklären wül, selbst nicht erklärt. Er sagt, alle Güterarten müssen Zins tragen, weil man sie gegen Saatgetreide, Vieh oder Wein vertäuschen kann, und diese einen Zins tragen. Aber warum tragen diese einen Zins? Mancher Leser wird vielleicht auf den ersten Blick meinen, wie offen- bar George selbst gemeint hat, das sei selbstverständlich. Es sei selbst- verständlich, daß zehn Weizenkörner, auf die sich das gesäete eine Weizen- korn vermehrt, mehr wert sind als das gesäete eine Korn; und daß die herangewachsene Kuh mehr wert ist als das Kalb, aus dem sie heran- gewachsen ist. Allein man bedenke wohl: die zehn Weizenkörner sind nicht einfach aus einem Korn herausgewachsen, sondern daran nahm auch die Leistung des Ackerbodens und ein gewisser Aufwand an Arbeit teil. Daß aber zehn Weizenkörner mehr wert sind als ein Korn + der auf- gewendeten Bodenleistung + der aufgewendeten Arbeit, ist offenbar nicht mehr selbstverständlich. Ebensowenig ist es einfach selbst- verständlich, daß die Kuh mehr wert ist als das Kalb, mehr dem Futter, das es während des Wachstums verzehrt, mehr derArbeit, die seine Wartung erheischt. Und doch kann nur unter dieser Bedingung ein auf den Anteil des Weizenkorns oder Kalbes fallender Kapitalzins erübrigen. Ja sogar im Falle des Weines, der sich durch Abliegen verbessert, ist es nicht schlechthin selbstverständlich, daß der besser abgelegene Wein mehr wert ist, als der minder gute unreife Wein. Denn bei unserer Art, die Güter, die wir besitzen, abzuschätzen, befolgen wir unzweifelhaft das Prinzip der Antizipation des Zukunftsnutzens ^). Wir schätzen unsere Güter nicht, oder doch nicht nur nach dem Nutzen, den sie uns im Augen- ^) Vgl. die Ausführungen über „Vennögenskomputation" in meinen „Rechten und Verhältnissen» S. 80ff. Kritik. 435 blicke bringen, sondern auch nach jenem Nutzen, den sie uns in Zukunft bringen werden. Wir legen dem Acker, der im Augenblicke nutzlos brach liegt, einen Weri; bei mit Rücksicht auf die Ernten, die er uns einst bringen wird; wir messen den zerstreuten Ziegeln, Balken, Nägeln, Klammern, die uns in diesem Zustande gar keinen Nutzen bringen, dennoch schon jetzt einen Wert bei mit Rücksicht auf den Nutzen, den sie zu einem Hause vereinigt in der Zukunft stiften werden; wir schätzen den gärenden Most, den wir in diesem Zustande gar nicht gebrauchen können, weil wir wissen, daß er einst zum brauchbaren Weine werden wird- Und so könnten wir auch den unreifen Wein, von dem wir wissen, daß er durch Abliegen ein vorzüglicher Wein werden wird, nach dem Maße des künftigen Nutzens schätzen, den er als abgelegener Wein uns bringen wird. Legen wir ihm aber einen dem entsprechenden Wert schon jetzt bei, so bleibt für eine Wertzunahme und für einen Zins kein Spielraum- Und warum sollen wir es nicht tun? Und wenn wir es nicht, oder nicht vollends tun, so kann die Ursache davon gewiß nicht, wie George meint, in der Rücksicht auf die produktiven Naturkräfte hegen, die der Wein besitzt. Denn daß im gärenden Moste, der an sich sogar schädlich ist, oder im unreifen Weine, der an sich nur erst wenig Nutzen bringt, noch lebendige Naturkräfte liegen, die zur Ent- stehung köstlicher Produkte führen, könnte die Natur der Sache nach nur einen Grund abgeben, die Träger jener köstlichen Kräfte hoch, nicht aber niedrig zu schätzen. Schätzen wir sie dennoch relativ niedrig, so tun wir es nicht weil, sondern ob schon sie Träger nützlicher Natur- kräfte sind. — Einfach selbstverständlich ist also der Mehrwert der von George berufenen Naturprodukte gewiß nicht. George macht nun freilich einen leisen Versuch, diesen Mehrwert zu erklären. Dadurch, daß er sagt, die Zeit ma^he bei ihrer Erzeugung neben der Arbeit ein selbständiges Element aus. Aber ist das wirklich eine Erklärung und nicht vielmehr eine Umgehung der Erklärung? Wie kommt derjenige, der ein Saatkorn in die Erde wirft, dazu, sich im Werte des Produktes nicht bloß seine Arbeit, sondern auch die „Zeit" vergüten zu lassen, während der das Saatkorn in der Erde gelegen und gewachsen ist? Ist denn die Zeit der Gegenstand eines Monopoles? Fast wäre man versucht, gegenüber einer solchen Begründung sich auf die naiven Worte des alten Kanonisten zu berufen, daß die Zeit ein Gemeingut aller, des Schuldners sowohl wie des Gläubigers, des Produzenten so gut wie des Konsumenten ist! George meinte daher wohl statt der Zeit eigentlich die in der Zeit nützlich wirkenden vegetativen Naturkräfte. Aber wie soll der Produzent dazu kommeUj sich diese vegetativen Naturkräfte durch einen besonderen Mehrwert des Produktes honorieren zu lassen? Sind denn diese Natur- kräfte Gegenstand eines Monopoles, oder sind sie nicht vielmehr jedermann 28* 436 XIV. Zwei neuere Versuche, a) Goorges jüngere Fruktifikationstheorie. zugänglich, der ein Saatkorn besitzt? Und kann sich nicht jedermann in den Besitz eines solchen setzen? Würde, da Saatgetreide durch Arbeit in beliebiger Menge produziert werden kann, die Masse desselben nicht immerfort vermehrt werden, so lange ein daran haftendes Monopol von Naturkräften seinen Besitz besonders vorteilhaft erscheinen ließe? Und müßte darum nicht das Angebot so lange wachsen, bis jener daran hängende Extragewinn verwischt, und die Erzeugung von Saatgetreide nicht lohnen- der als jede andere Produktionsart ist? Der aufmerksame Leser wird bemerken, daß wir hier in dasselbe Gedankengeleise eingelenkt sind, in dem sich unsere Kritik der Pro- duktivitätstheorie Strasbubgers bewegt hat^). George hat in diesem Stücke seiner Theorie in ähnlicher Art wie Strasburger, nur in noch höherem Grade und mit noch größerer Naivität das Zinsproblem unter- schätzt. Beide sehen voreüig die Naturkräfte für die Ursache des Zinses an. Strasbüger hatte aber wenigstens das Bestreben, den angeblichen Kausalzusammenhang zwischen beiden genau zu ergründen und bis ins einzelne zu motivieren, George hingegen hat nichts als die präsumierende Phrase, daß in gewissen Produktionen die Zeit ein „Element" sei. So wohlfeil war nun freilich die Lösung des mächtigen Problems nicht zu gewinnen. b) Schellwiens modifizierte Abstinenztheorie. S CHELL WIENS ^) Ansichteu gehen ein Stück weit mit der sozialistischen Theorie von Marx parallel. Der Wert der Güter erscheint im Preise, dessen „Inneres", dessen „Substanz" er ist. Die Faktoren des Preises sind Angebot und Nachfrage, beziehungsweise Produktion und Konsumtion, die jenen zu Grunde liegen. Die beiden letztgenannten Faktoren beeinflussen aber den Wert in ver- schiedener Weise. Die Konsumtion ist allerdings insoferne ein Faktor des Wertes, als man kein Gut schätzt, das nicht konsumierbar oder brauch- bar ist; sie ist also eine Bedingung des Wertes. Allein, da die Bedürfnisse und Annehmlichkeiten an sich irrational und darum auch die Brauchbar- keiten itikommensurabel sind, so kann die Brauchbarkeit nicht Maßstab des Wertes werden. Der Maßstab des Wertes findet sich ausschließlich im zweiten Hauptgebiete, dem der Produktion oder der Arbeit, und zwar liegt er in der Arbeitszeit. Vernünftigerweise können die einzelnen Werte nur geschätzt werden nach der Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung er- forderlich ist, und zwar nach der einfachen Arbeit, auf welche alle kom- pliziertere Arbeit zu reduzieren ist 3), 1) Siehe oben Abschnitt VII S. 167f. '') Die Arbeit und ihr Recht, Berlin 188C, S. 195ff. 3) a. a. 0. S. 195—201. Kritik. 437 Von hier an trennt sich Schellwien von Marx, Et findet, daß Marx eine eigentümliche Modifikation des Arbeitsresultates, die zur Ursache des Kapitalzinses wird, nicht gehörig gewürdigt hat. Es ist nämlich nicht bloß die Konsumierbarkeit oder Brauchbarkeit, sondern auch die wirkliche Konsumtion für den Wert von wesentlicher Bedeutung. Der Wert aller Güter wird durch die Konsumtion, auf die er immer hin- zielt, erst verwirklicht; das Gut wird durch sie, wie unsere Sprache treffend sagt, erst verwertet. Tritt das Gut dagegen gar nicht, oder verspätet in die Konsumtion ein, so wird es entwertet. Die entwertende Nichtkonsumtion hat bisweilen einen pathologischen wertzerstörenden Charakter; daneben spielt sie aber auch in der Oekonomie eine durchaus regelmäßige Rolle, „in der sie den Wert nicht zerstört, sondern erhöht". Das geschieht in zwei Gruppen von Fällen. Erstlich dort, wo die temporäre Nichtkonsumtion eines Produktes nötig ist, damit dasselbe überhaupt oder mit einer gewissen Qualität aus- gestattet in die Konsumtion eintreten könne. So muß man den Feld- früchten Zeit zur Reife, dem Weine Zeit zu einer mehrjährigen Lagerung lassen. Insoferne ein solcher Zwischenraum zwischen der Vollendung eines Produktes und seiner Verwertung notwendig ist, muß er zu einer Erhöhung des Wertes desselben führen; denn die temporäre Nichtkon- sumtion bedingt eine „Minderung des Arbeitsresultates", und das bedeutet für den Preis gerade so viel wie eine Erhöhung der notwendigen Arbeitszeit : die „notwendige Nichtkonsumtionszeit" bildet daher ebensogut wie die eigentliche Arbeitszeit einen Bestandteil der wertbestimmenden „gesell- schaftichen Produktionszeit" ^). Die zweite Gruppe umfaßt jene Fälle, in denen die Herstellung eines Produktes erfordert, daß andere Produkte nicht konsumiert werden. Das trifft überall dort zu, wo Kapital die Voraussetzung der Produktion bildet, also in aller Regel. Hiebei ereignet sich folgendes: „Das Kapital wird nicht konsumiert, wenigstens nicht seinem Art- bestande nach. Die einzelnen Stücke des Kapitales werden allerdings bei der Produktion konsumiert und gehen auf diese Weise in den Wert des Produktes ein, eben weil sie konsumiert werden. Für dieses konsumierte Kapital gewährt das Produkt Ersatz, in dessen Werte der W^ert des konsu- mierten Kapitales wiedererscheint. Aber das konsumierte Kapital muß auch wirklich ersetzt, das wirtschaftlich notwendige Kapital muß fort- dauernd erhalten, es darf nicht konsumiert werden. Indem somit das Kapital im Dienste der Produktion schlechthin nicht konsumiert wird, muß das Produkt auch Ersatz für diese Nichtkonsumtion gewähren und dies bedingt eine entsprechende Erhöhung des Wertes des Produktes. Wenn das Produkt in seinem Werte nur das Äquivalent für den durch ') S. 203f. 438 XIV. Zwei neuere Versuche, b) Sciiellwlens modifizierte Abstinenztheorie. Konsumtion von Kapital in dasselbe eingegangenen Wert und für die neue, zu seiner Herstellung erforderliche Arbeit enthielte, so bliebe das Kapital für seine Nichtkonsumtion unentschädigt, und dies ist wirtschaft- lich undenkbar, planmäßige Nichtkonsumtion kann in der Ökonomie nur in dem Sinne geschehen, daß die Verwertung der nichtkonsumierten und dadurch an sich wertlos gemachten Güter indirekt durch Verwertung neuer Produkte vollzogen wird"^). Dieser für die Nichtkonsumtion des Kapitales entschädigende Wertteil ist der Kapitalzins. Es kostet weniger Mühe einen Knäuel zu verwirren, als den verwirrten wieder aufzulösen. Und so, fürchte ich, werde auch ich mehr Worte brauchen, um das arg verworrene Gespinst von Irrtümern und Wider- sprüchen, das in obigen Worten liegt, klärlich auseinander zu legen, als Schellwien bedurfte, um es zusammen zu weben. Der Hauptfehler, den Schellwien begeht, ist ein fast ans Komische streifendes Doppelspiel mit dem Begriffe „Konsumtion des Kapitales", und eine nicht weniger ans Komische streifende Doppelrechnung mit dem Ersätze für konsumiertes und nichtkonsumiertes Kapital. Schellwien geht von dem Gedanken aus, daß auch bloß temporäre Nichtkonsumtion die Güter „an sich wertlos" macht, und, falls sie zur Produktion anderer Güter notwendig war, vom Käufer der letzteren ver- gütet werden muß. Schon diese Voraussetzung ist sehr anfechtbar; wenn nicht ein natürlicher Verderb oder ein Modewechsel eintritt, pflegt im Gegenteile ein Gut durch temporäre Nichtkonsumtion nicht entwertet zu werden. Allein lassen wir diese Voraussetzung immerhin gelten. In der Produktion werden Kapitalstücke konsumiert; z. B. in der Tuchproduktion wird Wolle konsumiert. Allein um die Produktion regel- mäßig fortsetzen zu können, ersetzt der Unternehmer die konsumierten Kapitalstücke sofort durch gleichartige neue; an Stelle der verbrauchten Wolle kauft der Tucbfabrikant andere Wolle wieder ein. Diese sehr ein- fache Tatsache bringt Schellwien unter einen doppelten Gesichtspunkt: einerseits sieht er auf die konkreten Kapitalstücke; insoferne diese unzweifelhaft konsumiert werden, sagt er,dasKapital wird konsumiert. Andererseits sieht er, von den Stücken abstrahierend, bloß auf die Art: und da er durch den Ersatz der verbrauchten Stücke durch andere die Art erhalten findet, sagt er, das Kapital wird nicht konsumiert. — Die letztere Anschauungsweise hat wieder ihr Bedenkliches; sie scheint mir mehr mit den Worten zu spielen, als das Wesen des Vorganges zu bezeichnen; allein ich will auch sie ohne Einwand gelten lassen. — Nun folgt der entscheidende Coup. Statt sich für eine der beiden Anschauungsweisen definitiv zu ent- 1) S. 203f. Schellwiens Lehre. 439 scheiden, kehrt Schellwien wie ein Taschenspieler abwechselnd bald die eine, bald die andere heraus, um schließlich unter beiden entgegen- gesetzten Titeln zugleich für den Kapitalisten eine Entschädigung in Anspruch zu nehmen. Zuerst sieht er das Kapital als konsumiert an, damit „für dieses konsumierte Kapital" das Produkt Ersatz gewähren, beziehungsweise der Käufer seinen vollen Wert bezahlen muß; und im nächsten Augenblicke sieht er dasselbe Kapital als »schlechthin nicht konsumiert" an, damit das Produkt auch Ersatz für „diese Nichtkon- sumtion" leisten, beziehungsweise der Käufer einen Preiszuschuß als Prämie für Mchtkonsumtion entrichten muß! Was würde Schell wiek wohl zu folgendem JIxempel sagen? Ich habe einen alten treuen Diener, der indes die Untugend hat, stark zu trinken. Ich will ihm das Trinken abgewöhnen und schließe mit ihm folgenden Pakt. Setzt er das Trinken fort, so will ich ihm den wirklich getrunkenen Wein allerdings bezahlen, allein nur bis zum Maximalbetrage von einem Liter Wein täglich. Trinkt er dagegen nicht, so erhält er für jeden Tag der Enthaltsamkeit den Geldwert von zwei Litern als Prämie. Der Pakt ist abgeschlossen. Der Diener trinkt einen Liter Wein, kauft einen zweiten Liter, ohne ihn auszutrinken, und begehrt von mir auf Grund des Vertrages den Geldwert von drei Litern; den Wert von einem Liter, weil ich ihm versprochen habe, den wirklich getrunkenen Wein zu bezahlen, und dem konkreten „Stücke" nach hat er einen Liter wirklich getrunken; und den Wert von zwei Litern; denn da er den ausgetrunkenen Liter sofort durch einen neuen ersetzt und diesen nicht ausgetrunken hat, 80 hat er der Art nach den Wein nicht konsumiert: folglich gebühre ihm auch die Belohnung für die Nichtkonsumtion! — Ich fürchte sehr, Schell- wien wird die vollkommene Analogie dieses Beispieles mit seiner Lehre nicht verleugnen können! Um übrigens eine so wichtige Frage nicht durch bloße Analogien, sondern auch an der Sache selbst mit Gründlichkeit zu erledigen, wollen wir uns einen konkreten Fall im Sinne der ScHELLwiENSchen Theorie vorstellen. Nehmen wir an, ein Tuchfabrikant verarbeite für 100000 fl. Wolle zu Tuch, und der Produktionsprozeß dauere ein Jahr. Abstrahieren wir dabei von den anderweitigen Produktionskosten für Maschinen, Arbeitslöhne u. dgl.j und konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit auf die Frage: wie viel muß das Tuch wert sein, um den Unternehmer für die, Mitwirkung seines Wollkapitales gebührend zu entschädigen? ScHELLwiEN Sagt, dem Stücke nach wird die Wolle konsumiert, der Art nach nicht. Nun kann nur eines von zwei Dingen geschehen: entweder wird die Wolle durch den Umstand, daß sie einer temporären Nicht- konsumtion unterliegt, entwertet oder nicht. Nehmen wir mit Schellwien an, die Entwertung finde wirklich statt, und veranschlagen wir ihre Größe 440 XIV. Zwei neuere Versuche, b) Schellwienö modifizierte Abstinenztheorie. auf 5 % = 5000 fl. Ich gestehe unter dieser Voraussetzung ohne weiteres zu, daß der Produktwert für diese Entwertung Ersatz leisten muß: es muß wirklich ein Wertzuschlag von 5000 fl. stattfinden. Aber ein Zuschlag wozu? Zum Werte der dem Stücke nach verbrauchten Wolle. Ist diese aber „wegen temporärer Mchtkonsumtion" um 5000 fl. entwertet gewesen, so ist sie offenbar nur mehr 95000 fl. wert, und die Gesamtentschädigung, die der Produktwert zu leisten hat, beträgt trotz des Zuschlages von 5000 fl. nur 100000 fl. Ein Mehrwert über das Anfangskapital von 100000 fl. ist also offenbar nicht motiviert. Oder, die temporäre Mchtkonsumtion vermag die Wolle nicht zu entwerten: dann wird allerdings die WoUe mit vollen 100000 fl. in den Wert des Produktes eingehen, aber dann liegt auch gar kein Grund vor, warum diese Summe einen Zuschlag für die Mchtkonsumtion erfahren sollte; denn Schellwien begehrt ihn lediglich deshalb, weil die Mcht- konsumtion eine „Entwertung", eine ..Minderung des Arbeitsresultates" nach sich ziehe ^). Mag man also die Voraussetzung wenden wie man will, in keinem Falle wird man einen Mehrwert über den Anfangs wert des verbrauchten Kapitales erklärt finden. Man kann dies nach der ganzen Struktur des ScHELLwiENSchen Gedankenganges füglich auch gar nicht erwarten. Denn nach Schellwien soll die Entschädigung für Mchtkonsumtion lediglich die Deckung einer Einbuße sein, die das Arbeitsprodukt durch Entwertung erleidet; eine Deckung, „ohne die die Rechnung nicht stimmen würde". Wie aber soll die Deckung einer Einbuße je zu einem Über- schusse werden? Wenn ich von 100 Äpfeln 5 verliere und zur Deckung der Einbuße ebensoviele Äpfel hinzufüge als verloren gegangen sind, so gibt 100 — 5 + 5 doch immer nur 100 und nie 105!! Daß eine so unklare Theorie nicht klar vorgetragen werden konnte, versteht sich von selbst. Hätte Schellwien sie präzise gefaßt, so wären ja ihre Widersprüche handgreiflich aufeinander gestoßen. Schellwien ^) Man könnte vielleicht die Sache noch folgendermaßen wenden: Die ins Tuch verwobene Wolle wird wirklich verzehrt, muß also mit ihrem vollen Werte unter die Kosten eingestellt werden; die nachgeschaffte Wolle wird unter die Kosten ein- gestelltwerden; die nachgeschaffte Wolle wird aber temporär nicht konsumiert, „ent- wertet-', und hat daher Anspruch auf Entschädigung wegen Nichtkonsumtion. Allein auch mit dieser Wendung kommt man offenbar nicht zum gewünschten Ziele; man hat, um den Fehler aufzudecken, nur nötig, die Betrachtung noch auf die nächstfolgende Produktionsperiode auszudehnen. Die jetzt nachgeschaffte WoUe wird in der nächsten Produktionsperiode „dem Stücke nach" komsumiert. War sie entwertet, so darf sie in der nächsten Periode nur mit dem verminderten Werte unter die Kosten eingestellt werden, und wir gelangen dann zu dem im Texte aufgestellten Ergebnis. War sie es aber nicht, so brauchte sie in der vorausgegangenen Periode keine Entschädigung für Entwertung. Kritik. Gefahren falscher Idealisierungen. 441 ist freilich ausführlich, ja sogar sehr ausführlich. Allein seine Ausführ- lichkeit besteht nicht darin, daß er seinen Gedanken einmal eingehend sagt, sondern darin, daß er ihn oftmals in gleicher Verschwommenheit und Zweideutigkeit wiederholt. Dabei täuscht er sich in eigentümlicher Weise über das Verhältnis, in dem er zur Arbeitswerttheorie steht. Obwohl er neben der wirklich verwendeten Arbeitszeit die Nichtkonsumtion für ein zweites selbständiges Element des Güterwertes erklärt, meint er dennoch eine Theorie gegeben zu haben, die „aus dem Wesen der Arbeit und des Wertes fließt" und „die aus der auf die Arbeit gegründeten Werttheorie notwendig folgt". Gerade durch ihre Fehler wird aber Schellwiens Theorie ungemein lehrreich. Sie ergänzt in drastischer Weise die Einsicht, wie hilflos die Arbeitswerttheorie der Erklärung des Kapitalzinses gegenüber steht. RoDBERTus und Marx hatten es versucht, unverbrüchlich an dem Grund- satze festzuhalten, daß die Arbeitsmenge das einzige gesetzmäßige Prinzip ist, das den Wert aller Güter regelt. Sie konnten es aber nur um den Preis und insolange, als sie das wichtigste Gebiet des Kapitalzinses, den Mehr- wert jener Produkte, die bei gleichem Arbeitsauf wände eine längere Pro- duktionszeit erfordern, einfach ignorierten. Schellwien war unbefangen genug um einzusehen, daß das Ignorieren nicht hilft, und gab sich redliche Mühe, jene Tatsachen aus der Arbeitswerttheorie heraus wirklich zu erklären. Aber das Unvereinbare läßt sich nicht zusammenreimen. Mit all den gekünstelten Wendungen und Windungen vom konsumierten Kapital, das zugleich nicht konsumiert ist, von der „ Nichtkonsumtion s- zeit", die einen Teil der Produktionszeit, und von der „Ausgleichung", die ein Überschuß ist, erreichte er nichts, als daß er schließKch seinem theo- retischen Ausgangspunkte untreu wurde, statt daß er von ihm eine er- klärende Brücke zu der Tatsache des Kapitalzinses zu schlagen vermocht hätte. Von Grund aus falsch, wie sie ist, wird die Arbeitswerttheorie durch die Tatsachen des Wirtschaftslebens eben allezeit Lügen gestraft. Und noch eine Lehre möchte ich aus der Theorie Schellwiens ziehen. Wir National-Ökonomen lieben es so sehr, unsere wissenschaftlichen Kategorien von der gemein materiellen Grundlage, an der sie zunächst zur Erscheinung kommen, abzulösen und zum Range freierer selbständiger Idealwesen emporzuheben. Der „Wert" der Güter z. B. dünkt uns zu vornehm, um immer am materiellen Gute, das sein Träger ist, haften zu bleiben. Wir befreien ihn aus dieser unwürdigen Verbindung: wir machen ihn zu einem selbständigen Wesen, das seine eigenen Wege geht, unabhängig, ja entgegengesetzt mit dem Schicksale seines niedrigen Trägers. Wir lassen den „Wert" verkaufen, ohne daß das Gut, und das Gut verkaufen, ohne daß sein „Wert" veräußert wird; wir lassen Güter zerstören, indeß ihr „Wert" fortlebt und „Werte" vergehen, indeß ihre Träger unversehrt bestehen. Ebenso dünkt es uns viel zu einfach, die 442 XIV. Zwei neuere Versuche, b) Schellwiens modifirierte Abstinenztheorie. Kategorie des Kapitales auf einen materiellen Güterhaufen anzuwenden. Wir lösen sie davon los; das Kapital ist etwas, das über den Gütern schwebt, und das fortlebt, mögen auch die Stücke, die es zusammensetzten, zu gründe gehen. „Vor allem", wie Hermann sagt, „muß man den Gegen- stand, worin sich ein Kapitel darstellt, vom Kapital selbst unterscheiden"*). Und eine „Metapher" nennt es McLeod, wenn man den Namen des Kapitales auf Güter anwendet''). Ehre, dem Ehre gebührt. Wohl einer Wissenschaft, welche die wahr- haft idealen Potenzen, die in unser Leben hereinwirken, nicht in das Pro- krustesbett einer mechanisch-materialistischen Anschauungsweise zu zwingen versucht. Aber man sollte doch zu unterscheiden wissen. Unsere Sachgüter und ihr Nutzen, unsere Sachkapitalien und ihre produktive Wirkung gehören wirklich der materiellen Sphäre an — wenn sie auch nicht in ihr aufgehen. Sie idealisieren, heißt nicht das Verständnis erhöhen, sondern verfälschen. Es heißt sich eine gefährliche Selbstdispens erteilen, Dinge, die sich im Materiellen und nach den Gesetzen des Materiellen zutragen, ohne Rücksicht auf diese Gesetze, ja gegen dieselben zu erklären. Und man erteilt sich diese Dispens nicht, wenn man sie nicht aus- zunützen gedenkt. Wer schlicht und treu das Natürliche natürlich deutet, den fördert die idealisierende Phrase nicht, sondern den stört sie. Wer aber in der Erklärung des Natürlichen der Natur untreu werden will, dem bietet sie einen köstlichen Vorwand: was man nicht nach der Natur erklären kann, das stellt man erst außer die Natur, um es dann gegen sie zu erklären. Ich habe mich seit langem daran gewöhnt, falsche Idealisierungen, denen ich begegne, wie Warnungssignale zu betrachten. Und ich habe mich selten getäuscht. Wo immer einer unserer einfachen, bürgerlichen Begriffe, wie Gut, Vermögen, Kapital, Ertrag, Nutzung, Produkt u. dgl., die tief im Sinnlichen wurzeln, durch eine idealisierende Deutung von seiner sinnlichen Grundlage losgelöst und wohl gar in Gegensatz zu ihr gestellt wird, da ist selten der Trugschluß weit, dem jene Deutung den Fußpunkt bereiten mußte. Ich wiU den Abschluß unserer Betrachtungen nicht dadurch hemmen, daß ich, wie ich wohl könnte, zum Belege ein M Staatsw. Unters., 2. Aufl., S. 605. *) Auch der Begriff des ,,true capital", den Prof. J. B. Clark im Gegensatze zu den „concrete capital goods" aufstellt (The Genesis of capital. Yale Review, Nov. 1893, S. 302ff.) scheint mir in dieselbe Kategorie mystischer Begriffsbildungen zu gehören. Vgl. hierüber meinen Aufsatz über „The positive Theorie of capital and its Critics" I im Quarterly Journal of Economics Vol. IX, Jänner 1895, S. llSff. und neuerdings die zwischen Prof. Clark und mir gewechselten Artikel im 15. und 16. Bande der Zeit- schrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung (1906 und 1907); dann auch meine „Positive Theorie" 4. A. S. 75ff. Gefahren falscher Idealisierangen. 443 langes Sündenregister aus der Literatur unserer Wissenschaft zusammen- trage. Der Leser, der darauf aufmerksam ist, wird auch ohne mein Zutun die Bestätigung finden. Nur das eine Beispiel wiU ich ausdrücklich nennen, das zu diesem Exkurse den unmittelbaren Anstoß gegeben hat, das Beispiel Schellwiens: kaum, daß Schell wien das „Kapital" von den „Stücken", aus denen es ja doch besteht, in Gedanken getrennt und in Gegensatz zu ihnen gestellt hat, so beginnt das Spiel mit dem Kapitale, das zugleich konsumiert und nicht konsumiert, zugleich mit seinem vollen Werte ver- wertet und entwertet, und dessen Entwertung dadurch, daß sie wieder ergänzt wird, zum Überschusse wird! XV. Schlußbetrachtungen. Wenden wir den Blick, der schon allzulange durch das Einzelne fest- gehalten worden, zum Schlüsse auf das Ganze. Wir haben eine bunte Menge von Theorien des Kapitalzinses entstehen gesehen. Wir haben sie alle mit Sorgfalt betrachtet und reiflich geprüft. Keine enthielt die volle Wahrheit. Waren sie deshalb ganz fruchtlos? Bilden sie in ihrer Summe nichts als ein Chaos von Widerspruch und Irrtum, an dessen Ausgang man der Wahrheit nicht näher ist als an seinem Anfange? Oder geht durch das Gewirre der widersprechenden Lehren nicht doch ein Zug der Entwicklung, der, wenn er auch noch nicht zur Wahrheit selbst geführt hat, doch wenigstens auf den Weg gewiesen hat, der zu ihr hinführt? Und wie läuft die Linie dieser Entwicklung? Ich kann die Beantwortung dieser Schlußfrage nicht besser einleiten, als indem ich meine Leser bitte, sich den Inhalt unseres Problemes noch einmal klar vor Augen zu stellen. Was soll und wiU das Zinsproblem? Es soll die Ursachen erforschen und darlegen, welche einen Arm des Güterstromes, der jährlich aus der nationalen Produktion eines Volkes quillt, in die Hände der Kapitalisten leiten. Es ist also, darüber besteht kein Zweifel, ein Problem der Güter- verteilung. Aber in welchem Teile des Stromlaufes wird über die Abzweigung jenes Stromarmes entschieden? — Darüber hat die dogmengeschichtliche Entwicklung drei wesentlich verschiedene Meinungen zu Tage gefördert, die zu drei ebenso verschiedenen Grundauffassungen des ganzen Zins- problemes geführt haben. Bleiben wir dem Bilde vom Strome noch einen Augenblick treu; es schickt sich gut, die Sache zu verdeutlichen. Die QueUe versinnlicht uns die Produktion der Güter; die Mündung die endgiltige Zuteilung in das Einkommen, um in ihm zur Bedürfnisbefriedigung 2u dienen, und der mittlere Lauf des Stromes jenes Zwischenstadium zwischen Entstehung und endgiitiger Zuteilung der Güter, in dem diese im wirtschaftlichen Verkehre von Hand zu Hand gehen und durch die Schätzung der Menschen ihren Wert empfangen. Die drei Grundauffassungen des Problemes. .445 Die drei Meinungen sind* aber die folgenden: Eine Meinung findet den Kapitalistenanteü schon an der Quelle aus- gesondert. Drei gesonderte Quellen, Natur, Arbeit und Kapital, bringen Jede vermöge der ihr innewohnenden produktiven Kraft eine bestimmte Menge von Gütern mit einer bestimmten Menge von Wert hervor; und gerade so viel Wert, als aus jeder Quelle geflossen ist, mündet in das Ein- kommen derjenigen Personen ein, welche das Eigentum an der Quelle besitzen. Es ist nicht So sehr ein Strom, als drei Ströme, die zwar im Mittellaufe eine Zeit lang in demselben Bette fließen, aber ohne sich zu vermischen, und die in der Mündung sich in demselben Verhältjiisse teilen, in dem sie aus den einzelnen Quellen hervorgegangen sind. — Diese Meinung verlegt die ganze Erklärung an die Quelle, in die Produktion der Güter; sie behandeln das Zinsproblem als ein Produktionsproblem. Es ist die Meinung der naiven Produktivitätstheorien. Eine zweite Meinung ist der ersten gerade entgegengesetzt. Sie sucht die Trennung erst und ausschließlich an der Mündung. Es gibt nur eine Quelle, aus der der ganze Güterstrom ungeteilt hervorbricht — die Arbeit; auch der Mittellauf ist einig und ungeteilt: im Werte der Güter liegt nichts, was eine Teilung derselben unter verschiedene Teilnehmer vorbereiten würde, denn aller Wert bemißt sich einzig nach der Arbeit. Erst knapp an der Mündung, da sich eben der Güterstrom in das Einkommen der Arbeiter, die ihn geschaffen, ergießen will und soll, stemmen von zwei Seiten die Grundeigentümer und die Kapitalisten die Barre ihres Monopols in den Strom, und drängen gewaltsam einen Teil des Ablaufes auf ihr Gebiet. — Dies ist die Meinung der sozialistischen Ausbeutungstheorie. Sie spricht dem Zins eine Vorgeschichte in den früheren Stadien des Güter- schicksales ab, sie betrachtet ihn lediglich als das Ergebnis eines un- organischen, zufälligen, gewaltsamen Nehmens, sie behandelt das Zins- problem als ein reines Verteilungsproblem im schroffsten Sinne dieses Wortes. Die dritte Meinung liegt in der Mitte. Nach ihr fließen die Güter aus zwei, wie Manche sagen, auch aus drei verschiedenen Quelladem hervor, um alsbald in einen ungeteilten Strom zusammenzulaufen. Hier treten sie aber unter den Einfluß der Wertbildung, unter dem sich der Stromlauf sofort von neuem zu verästeln und zu vernetzen beginnt. Indem nämlich die Menschen das Interesse, das sie mit Rücksicht auf die Masse und Intensität ihrer Bedürfnisse einerseits, und auf die vorhandene Menge der Befriedigungsmittel andererseits an den verschiedenen Gütern und Güterarten zu nehmen haben, durch den Anschlag ihres Gebrauchs- und des darauf basierenden Tauschwertes würdigen, setzen sie Unterschiede zwischen die Gütermasse; sie erheben einen Teil und erniedrigen einen anderen. Es entstehen verwickelte Niveaudifferenzen, verwickelte Span- nungen und Anziehungen, unter deren Einwirkung die Massen des Güter- 446 XV. Schlußbetrachtangei). Stromes allmählich in drei Arme auseinandergedrängt werden, von denen jeder seine besondere Mündung hat: der eine mündet in das Einkommen der Grundeigentümer, der andere in das der Arbeiter, der dritte in jenes der Kapitalisten. Diese drei Arme sind aber mit den zwei oder drei Quellen weder identisch, noch auch in ihrer Mächtigkeit mit jenen harmonierend. Nicht wie stark jede Quelle geflossen ist, sondern wie viel vom vereinigten Strome die Wertbildung jedem der drei Läufe zugedrängt hat, das ent- scheidet über die Mächtigkeit derselben an der Mündung. In dieser Meinung finden sich alle übrigen Zinstheorien zusammen. Indem sie die schließliche Verteilung schon im Stadium der Wertbildung vorge- zeichnet finden, erachten sie es für ihre Pflicht, auch mit der theoretischen Erklärung auf dieses Gebiet zurückzugreifen: sie ergänzen und erweitern das Verteilungsproblem des Zinses zu einem Wertproblem. Welche dieser drei Grundauffassungen war die richtige? — Für einen nüchternen und unbefangenen Beobachter konnte die Entscheidung nicht zweifelhaft bleiben. Die erste Meinung war es gewiß nicht. Nicht allein daß das Kapital gar keine originäre Quelle von Gütern ist, da es selbst allemal die Frucht von Natur und Arbeit ist, so gibt es auch, wie wir uns sattsam überzeugt haben, keine Macht was immer für eines Produktionsfaktors, seinen physischen Erzeugnissen aus eigener Kraft auch schon ihren bestimmten Wert mitzugeben. So wenig als der Wert überhaupt, so wenig als der Mehrwert insbesondere, ebensowenig kommt der Kapitalzins schon in der Produktion der Güter fertig auf die Welt: das Zinsproblem ist kein reines Produktionsproblem. Aber auch die zweite Auffassung konnte die richtige nicht sein. Die Tatsachen verleugnen sie. Nicht erst in der Verteilung, sondern schon in der Wertbildung schiebt sich ein fremdes Element neben die Arbeit. Ein hundertjähriger Eichenstamm, der während seines langen Wachs- tumes einen einzigen Tag pflegender Arbeit erheischte, hat einen hundert- fach höheren Wert, als der Stuhl, den ebenfalls eines Tages Arbeit aus ein paar Brettern formte. Dabei ist der Eichenstamm, der das Produkt von eines Tages Arbeit ist, nicht mit einem Schlage hundertmal wertvoller geworden als das Geräte, das eines Tages Arbeit kostet. Sondern Tag für Tag, Jahr für Jahr, entfernte sich sein wachsender Wert von dem des Gerätes. Und wie es mit dem Werte des Eichenstammes ist, so ist es mit dem Wert aller Produkte, die zu ihrer Erzeugung nicht bloß Arbeit, sondern auch Zeit kosten. Dieselben still und stetig wirkenden Kräfte nun, welche Schritt für Schritt den Wert des Eichenstammes von dem des Gerätes abdrängten, haben eben damit auch schon dem Kapitalzinse seinen Ursprung gegeben. Längst wirksam, ehe die Güter zur Verteilung kommen, haben sie die künftige Grenzlinie zwischen Arbeitslohn und Kapitalzins im voraus ein- Das Vonurteil der wertschaffenden Kräfte. 447 gezeichnet. Denn die Arbeit kann nach keinem anderen Grundsatze belohnt werden als „gleicher Lohn für gleiches Werk". Ist aber der Wert der Güter, welche gleiche Arbeit hervorbringt, durch die Spannung jener Kräfte ungleich geworden, so kann sich das gleiche Niveau des Arbeitslohnes mit der ungleichen Erhebung des Güterwertes nicht überall decken: nur der Wert der nicht begünstigten Güter fällt in das Niveau, und wird vom universellen Lohnsatze, den er bestimmt, auch erschöpft; alle begünstigten Güter überragen es in dem Maße, als sie von der Wertbildung begünstigt waren, und können vom universellen Lohnsatze nicht erschöpft werden. Kommen sie dann zur endgiltigen Verteilung, so müssen sie, nachdem alle Arbeiter für gleiches Werk gleichen Lohn empfangen haben, von selbst noch etwas übrig lassen, das sich der Kapitalist aneignen kann und mag. Sie lassen dies übrig, nicht weil in der letzten Stunde der Kapitalist durch seinen plötzlichen Beutegriff das Niveau des Lohnes künstlich unter das Niveau des Güterwertes herabgepreßt hat, sondern weil längst zuvor die Tendenzen der Wertbildung den Wert jener Güter, deren Erzeugung Arbeit und Zeit kostet, über den Wert jener andern Güter gehoben haben, deren Erzeugung nur momentan lohnende Arbeit kostet, und deren Wert, da er ja ausreichen muß, seine Erzeugungsarbeit zu befriedigen, zugleich die Richtlinie des universellen Lohnsatzes angibt. So sprechen die Tatsachen. Die Folgerungen, zu denen sie zwingen, sind deutlich. Das Zinsproblem ist ein Verteilungsproblem. Aber die Verteilung hat ihre Vorgeschichte, und aus dieser muß sie erklärt werden. Die Gütersummen fahren in der Verteilung nicht Knall und FaU ausein- ander; sondern die Teilungslinien, nach denen sie auseinander fallen, waren schon in früheren Stadien des Güterschicksales langsam und allmählich eingeritzt. Wer die Verteilung wirklich verstehen und wahrhaft erklären will, der muß dem Ursprünge dieser leisen aber deutlichen Teilungsritzen nachgehen. Dieser Weg führt auf das Gebiet des Güterwertes. Hier ist der Hauptteil der Zinserklärung zu leisten. Wer das Zinsproblem als reines Produktionsproblem behandelt, bricht seine Erklärung vor der Hauptsache ab; wer es als Verteilungsproblem und nur als solches behandelt, fängt sie erst nach der Hauptsache an. Nur wer jene merkwürdigen Hebungen und Senkungen des Güterwertes aufzuklären unternimmt, deren Höhen- abstände zum „Mehrwert" werden, kann hoffen, in ihnen den Zins in echt wissenschaftlicher Weise erklärt zu haben: das Zinsproblem ist im letzten Grunde ein Wertproblem. Halten wir daran fest, so ergibt sich leicht die Rangordnung, welche den verschiedenen Theoriengruppen zukommt, und die Lage der Linie, welche die aufsteigende Entwicklung anzeigt. Zwei Theorien haben den Charakter des Zinsproblemes völlig ver- kannt; sie nehmen, eine das Gegenstück der andern bildend, gemeinsam die niedrigste Stufe der Entwicklung ein. Diese beiden Theorien sind die 448 XV. Schlußbetrachtungen. naive Produktivitätstheorie und die sozialistische Ausbeutungstheorie. Diese Zusammenstellung mag befremden. Wie weit gehen beide Theorien in ihren Resultaten auseinander! Wie hoch erhaben dünken sich die Anhänger der Ausbeutungstheorie über die naiven Präsumtionen der Produktivitätstheoretiker! Wie stolz sagen sie von sich eine vorgeschrittene kritische Richtung aus! Die Zusammenstellung ist dennoch berechtigt. Zuerst kommen beide Theorien im Negativen überein: keine rührt an das eigentliche Problem; keine verliert ein Wort zur Erklärung jener eigentümlichen Wellen, die der Güterwert wirft und aus denen der Mehrwert kommt. Die Produk- tivitätstheorie begnügt sich über die Wertschwellungen zu sagen, sie seien eben produziert worden, während die Ausbeutungstheorie — fast noch schümmer — von ihnen nicht einmal Notiz nimmt: sie existieren für sie gar nicht; für sie fällt, wie immer die Tatsachen der Wirtschaftswelt sich dagegen erheben mögen, das Niveau des Güterwertes glatt und platt mit dem Niveau des Arbeitsaufwandes zusammen^). Aber nicht bloß die Negation, auch der positive Gedanke verbindet beide Theorien näher als man wohl glauben möchte. Sie sind in Wahrheit Früchte eines und desselben Zweiges, Kinder eines und desselben naiven Vorurteiles: daß der Wert aus der Produktion hervorwächst, wie der Halm aus dem Acker. Dieses Vorurteil hat seine große Geschichte in der Literatur unserer Wissenschaft. Unter immer wechselnden Gestalten hat es seit 130 Jahren unsere Wissenschaft beherrscht und da es die Erklärung des Grundphä- nomens in eine falsche Richtung drängte, den Fortschritt unserer Wissen- schaft gehemmt. Zuerst taucht es in der physiokratischen Lehre auf, daß der Grund und Boden allen Wertüberschuß durch seine Fruchtbarkeit erzeuge. Smith brach ihm die Spitze ab, Ricardo rottete es gänzlich aus. Allein noch ehe es in seiner ersten Erscheinungsform völlig verschwunden war, führte es Say in einer neuen, erweiterten Gestalt zum zweiten Male in die Wissenschaft ein : statt der einen produktiven Kraft der Physiokraten sind es jetzt drei produktive Kräfte, welche die Werte und Wertüberschüsse geradeso schaffen, wie einst die Physiokraten den „produit net" hatten schaffen lassen. In dieser Gestalt hielt das Vorurteil die Wissenschaft ^) 1884, vor dem Erscheinen des dritten Bandes des MARXschen Kapitales ge- schrieben. Die neueste Phase des Marxismus macht die Sache nicht besser, sondern schlechter, indem sie die anfängliche Verleugnung der maßgebenden Wertdifferenzen mit einer verspäteten Anerkennung derselben verquickt. Denn die Ignorierung wird so lange fortgeführt, bis die entscheidenden falschen Schlüsse, die nur durch jene Iguotierung gewonnen werden konnten, alle gezogen sind; die geflissentlich so lange hinausgeschobene Beachtung der tatsächlichen Wertbildungen komint dann zu spät, um die unter ihrer Mißachtung gewonnenen Grundlagen zu berichtigen, freilich aber früh genug, um ihnen zu widersprechen. Das System wird so nicht richtiger, sondern nur auch noch widerspruchsvoll. Vgl. oben Abschn. XII S. 392ff. Die Rangstufen der Entwicklung. 449 durch lange Jahrzehnte in seinem Banne. Endlich wurde es abermals entlarvt, zumeist durch die leidenschaftlichen aber verdienstvollen Kritiken der sozialistischen Theoretiker. Aber auch jetzt bewies sich wieder seine zähe Lebenskraft; nur die Form, nicht das Wesen preisgebend, wußte es sich abermals in eine neue Gestalt hinüber zu retten, und eine sonderbare Laune des Schicksals fügte es, daß es seine neue Heimstätte gerade in den Schriften derjenigen fand, die es in seiner vorjüngsten Erscheinungsform am bittersten bekämpft hatten: in den Schriften der Sozialisten. Die wertschaffenden Kräfte waren gegangen, die wertschaffende Kraft der Arbeit blieb, und mit ihr der alte Schaden, daß man für die wunderbar feinen Zusammenhänge der Wertbildung, die zu entwirren die Aufgabe und der Stolz unserer Wissenschaft sein sollte, nichts übrig hatte, als entweder eine derbe Präsumtion, oder sofeme sie zur Präsumtion nicht passen wollten, eine noch derbere Verleugnung. So sind denn in der Tat die naive Theorie von der Produktivität des Kapitales und die emanzipierte Lehre der Sozialisten theoretische Zwillinge. Mag sich die letztere immerhin als eine kritische Lehre geben: sie ist es wirklich; sie ist aber auch, wie sich herausstellt, eine naive Lehre. Sie kritisiert ein naives Extrem, um in das nicht minder naive entgegengesetzte EIxtrem zu verfallen. Sie ist nichts als das zeitlich verspätete Gegenstück der naiven Produktivitätstheorie. Dem gegenüber können die übrigen Zinstheorien für sich das Lob in Anspruch nehmen, um eine Stufe höher zu stehen. Sie suchen die Lösung des Zinsproblemes bereits auf demjenigen Boden, auf dem es wirklich zu lösen ist; auf dem Boden des Güterwerts. Mit verschiedenen Graden des Verdienstes. Jene Theorien, welche den Zins mit den äußeren Mitteln der Kosten- theorie zu erklären suchen, haben noch schwer am Ballast des Vorurteils zu tragen, daß der Wert aus der Produktion stammt. Ihre Erklärung kann nicht ohne Rest aufgehen. So gewiß es ist, daß die Grundkräfte, welche alle wirtschaftlichen Bestrebungen der Menschen in Bewegung setzen, ihre — egoistischen oder altruistischen — Wohlfahrtsinteressen sind, ebenso gewiß ist es auch, daß keine Erklärung der wirtschaftlichen Phänomene befriedigen kann, deren Erklärungsfäden nicht in lückenlosem Zusammenhange bis auf jene unbezweifelten Grundkräfte zurückreichen. Und dagegen versündigen sich die Kostentheorien. Indem sie das Prinzip des Wertes, dieses Kompasses und universellen Zwischenmotivs der mensch- lichen Wirtschaftshandlungen, nicht in einer Beziehung auf die mensch- liche Wohlfahrt, sondern in einer trockenen Tatsache der äußeren Ent- stehungsgeschichte der Güter, in den technischen Bedingungen ihrer Produktion zu finden glauben, lenken sie den Faden der Gesamterklärung auf ein abseitiges, blindes Geleise, von dem er den Durchweg zu dem psychologischen Interessenmotiv, in das jede befriedigende Erklärung Böbm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 29 460 ^^- Schlußbetrachtungen. ausmünden muß, nicht mehr finden kann. — Dieses Urteil trifft — bei aller Verschiedenheit im einzelnen — den zahlreichsten Teil der von uns betrachteten Zinstheorien. Abermals um eine Stufe höher stehen endlich jene Theorien, welche sich von dem alten Aberglauben, daß der Wert der Güter aus ihrer Ver- gangenheit statt aus ihrer Zukunft stammt, völlig losgesagt haben. Diese Lehren wissen, was sie erklären wollen, und in welcher Richtung es zu erklären ist. Wenn sie dennoch die volle Wahrheit nicht gefunden haben, so lag es mehr nur an Zufälligkeiten, während ihre Vorgänger die Wahrheit nicht finden konnten, weil sie sie, durch die Mauer des Vorurteils abge- schieden, in falscher Richtung suchten. — Die höhere Stufe der Ent- wicklung wird bezeichnet durch einzelne Formulierungen der Abstinenz- theorie, namentlich aber durch die späteren Nutzungstheorien; und hier ist es wieder die Theorie Mengers, die mir als der Gipfelpunkt der bis- herigen Entwicklung erscheint: nicht weil seine positive Lösung, sondern weil seine Stellung des Probleihs die vollkommenste war — zwei Dinge, von denen, wie oft so auch hier, das zweite wohl wichtiger und schwieriger sein mag als das erste. Auf so vorbereitetem Boden will ich nun versuchen, für das viel- umworbene Problem eine Lösung zu finden, die nichts fingiert und nichts präsumiert, sondern schlicht und treu die Erscheinung des Kapitalzinses durch die Erscheinungen der Wertbildung hindurch aus den einfachsten natürlichen und psychologischen Grundlagen unserer Wirtschaft abzu- leiten strebt. Das Element, das mir die volle Wahrheit zu vermitteln scheint, sei hier noch kurz genannt: es ist der Einfluß der Zeit auf die menschliche Wertschätzung der Güter. Diesem Schlagwort seinen Inhalt zu geben, soll die Aufgabe des zweiten, positiven Teiles meiner Arbeit sein. Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart (1884-1914). I. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Werkes ist das Zins- problem unausgesetzt der Gegenstand lebhajfter und vielseitiger Erörte- rungen gewesen. Die Zinsliteratur der letzten Dezennien ist im Verhältnis weit reichhaltiger als die irgend eines früheren Zeitabschnittes von gleicher Dauer. Eine dem Streit entrückte Erledigung des großen Problems hat uns freilich — ich möchte sagen: selbstverständlicher Weise — auch diese letzte Zeit nicht gebracht. Immerhin ist auf dem literarischen Kampfplatz eine gewisse Verschiebung in den streitenden Kräften wahrzunehmen, die mir auf ein vorgeschritteneres, der Entscheidung sich näherndes Stadium der Fehde zu deuten scheint. Die Fehde ist weniger zerfahren als sie es ein Menschenalter zuvor gewesen war. Zwar sind noch neue Meinungen auf den Plan getreten; dafür sind jedoch manche der älteren Meinungen ganz oder fast ganz außer Kurs gesetzt, und es konzentriert sich heute der Kampf nur noch um einige wenige ernsthaft verteidigte Positionen, zwischen denen die Entscheidung schwebt. Und auch bezüglich ihrer scheint mir die Entscheidung wesentlich näher gebracht. Man plänkelt nicht mehr von weitem, man kämpft nicht mehr um vorgeschobene Posten, sondern die vorbereitenden Aktionen haben ihre Schuldigkeit so weit getan, Prämissen und Konsequenzen der streitenden Theorien, gleichsam ihr theoretisches Milieu, sind so weit durchleuchtet, daß der Streit kaum mehr auf Nebensächlichkeiten abirren kann und die fallende Entscheidung schon den innersten Kern der Sache wird treffen müssen. Geschichtsschreiber der Gegenwart zu sein, ist aus bekannten Gründen immer eine mißliche Sache. Wer selbst mitten im Walde steht, kann nicht leicht einen guten Überblick über den Wald haben. In meinem Falle treten noch zwei spezielle Gründe hinzu, die mir die Aufgabe erschweren, ein guter Darsteller des gegenwärtigen Zustandes der Zinsliteratur zu sein. 29* 452 Anhang. Die Zinsliteratar in der Qegenw^. Daß ich selbst der Autor einer der konkurrierenden Zinstheorien bin, macht mich, auch beim besten Willen zur Unbefangenheit, unvermeidlich befangen, und zumal das richtige Augenmaß für die Größe der trennenden Differenzen zu bewahren ist, wenn zur Nähe des Standpunktes noch eine persönliche Vorliebe des Beobachters kommt, eine doppelt schwierige Sache. Außerdem ist aber die lebende Generation von Nationalökonomen unzweifelhaft in einer Umbüdung ihrer Ansichten über das Zinsproblem begriffen. Welche Theorie immer endgiltig das Feld behaupten mag, gewiß ist, daß das, was wir der nächsten Generation als die Ansicht unserer Zeit übermitteln werden, sich ganz wesentlich von dem unterscheiden wird, was wir in den Lehrbüchern unserer Jugend vorgefunden und in uns auf- genommen haben. Wir alle wandeln diese uns überlieferteo Ansichten um, auch die Konservativsten unter uns. Eine gerade in solcher Wandlung begriffene Literatur mit richtigem historischem Blick zu beurteilen, ist aber wiederum eine Sache von ganz eigenartiger ausnahmsweiser Schwierig- keit. Man trifft massenhaft Übergangsansichten an, unter denen sich ebensowohl — und zwar wahrscheinlich der Zahl nach überwiegend — bedeutungslose Variationen absterbender Theorien, als hoffnungsvolle Zwischenglieder auf dem Wege fortschrittlicher Entwicklung befinden mögen — wobei es oft eines geradezu prophetischen Blickes bedürfte, um mit Sicherheit zu entscheiden, ob ein konkretes theoretisches Gebilde in die eine oder in die andere der beiden Kategorien zu reihen ist. Trotzdem würde ich glauben, in der Erfüllung der Aufgabe dieses Werkes eine empfindliche Lücke zu lassen, wenn ich mich durch diese Erwägungen abschrecken ließe, eine kritische Orientierung meiner Leser über den gegenwärtigen Zustand der Zinsliteratur auch nur zu versuchen: man schreibt ja eine kritische Dogmengeschichte überhaupt nur, um den Pfad für die künftige Forschung zu erhellen, und es wäre hiefür offenbar im höchsten Grade zweckwidrig, wenn man gerade das jüngst zurück- gelegte Wegstück und den Punkt, von dem man weiter schreiten soll, in einem geflissentlichen Dunkel ließe. Wohl aber darf ich an diesen Teil meiner Aufgabe nicht ohne den ausdrücklichsten Vorbehalt der Fehlbarkeit und des Unzureichens schreiten. Gegenüber der weit überwiegenden Masse der heutigen Literatur werde ich mich von vornherein auf den Versuch einer summarischen Orientierung beschränken. Insbesondere werde ich in der Regel grund- sätzlich unterlassen, Lehren, die sich als bloße Nuancierungen einer Haupt- tbeorie darstellen, im Detail vorzuführen und zu erörtern, und zwar ohne etwa durch eine solche Unterlassung andeuten zu wollen, daß ich die Nuancierung für eine belanglose, oder die betreffende Lehre für eine un- wichtige hielte. Einer ausführlicheren Darstellung und Kritik will ich dagegen nur ganz wenige der neuesten Theorien, und zwar nur diejenigen unterziehen, welche entweder von so offenbarer Eigenart sind, daß sie n. Die Agiotheorie. 453 sich von jeder der bisher besprochenen Theorietypen durch ganz wesent- liche Züge unterscheiden, oder welche, falls sie bloße Nuancierungen oder Kombinierungen sind, so bestimmt formuliert und zugleich so erschöpfend ausgearbeitet sind, daß sich die Tragw^te der angebrachten Nuance vollkommen sicher überblicken läßt. IL Ich erwähnte schon, daß in der jüngsten Zeit zu den alten Rivalen auch noch neue Meinungen hinzugetreten sind. Den einflußreichsten Zuwachs dieser Art repräsentiert wohl jene Theorie, welche den Zins aus einer Wertdifferenz zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern erklärt. Entfernte Hindeutungen auf diesen Oedanken hatten in alter Zeit schon Petty und Vaüghan, etwas später Galiani und Turgot gebracht*). Bentham beginnt ihn psychologisch zu begründen. Rae gibt ihm ein halbes Jahrhundert später eine sehr bemerkenswerte Ausgestaltung, mit welcher es ihm aber nicht beschieden war, irgend einen Einfluß auf die fernere literarische Entwicklung zu nehmen. Wiederum vierzig Jahre später hat Jevons, auf Bentham weiterbauend, den größeren Teil der Prämissen, auf denen jene Theorie ruht, in mustergiltiger und meisterhafter Weise herausgearbeitet, es aber versäumt, auch die vermittelnden Ge- dankenfäden auszuspinnen, die von jenen Prämissen zur Zinserscheinung leiten, hierin hinter dem verschollenen Vorläufer Rae zurückstehend, welchem er in der Entwicklung des psychologischen Teiles der Prämissen ungefähr gleichsteht, und in der Erkenntnis der produktionstechnischen Prämissen unzweifelhaft überlegen ist ^) Der Vollständigkeit halber sei hier auch der viel spätere Cebncschi angereiht, der in seiner MScaniqne de Töchange (1866) zunächst an dieselbe bekannte Parallele, die schon jene alten SehriftsteUer zwischen dem durch eine Differenz des Ortes begrün- deten Wechselanfgeld und dem durch eine Differenz in der Zeit begründeten Zinse gezogen hatten, anknüpft, dann aber für die letztere, zeitliche Wertdifferenz noch eine spezielle B^Tündnng anfügt, die allerdings etwas kraus und scholastisch geraten ist. Geb- Nuscm geht nämlich davon aus, daß die Kapitalien sich in ihrem Werte immer wieder regenerieren und daher „immerwährend" seien. Bei den gegenwärtigen Kapitalien beginne nun ihre „Ewigkeit'- schon heute, bei den künftigen Kapitalien aber natür- lidi erst später, darum sei die „Ewigkeit" künftiger Kapitalien „kürzer" (sie!), ihre Nutzdauer also kleiner, damit auch das Quantum ihres Nutzens und damit endlidi auch ihr durch den Nutzen begründeter Wert kleiner als der Wert gegenwärtiger Kapi- talien. An diese Ausführungen CEBircscHis wurde ich auch in neuester Zeit wieder durch einzelne Äußerungen Oswalts („Beiträge zur Theorie des KapitalziDses" in der 2ieitschrift für Sozialwissenschaft 1910 S. 100) einigermaßen erinnert. 454 Anhang. Die Zinsliterator in der Gegenwart. Im unmittelbaren Anschluß an Jevons sind Launhardt^) und Emil Sax^) zu nennen. Beide gehen über Jevons nur insoferne hinaus, als sie den bei diesem inhaltlich vorbereiteten, aber formell unausgesprochen gebliebenen — in der Zwischenzeit (1884) allerdings auch schon von mir als Programm meiner Zinstheorie verkündigten — Gedanken, daß der Zins in derauf psychologischen Gründen beruhenden Wertdifferenz zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern wurzle, ausdrücklich zur Ausspräche brachten ä). Aber eben auch nur zur Aussprache, und nicht zur Ausführung. Der Mangel jeder Detailausführung hinderte die genannten Autoren ins- besondere auch daran, auf die Probe zu stellen, ob die psychologischen Ursachen einer Minderschätzung künftiger Güter überhaupt eine genügend breite Basis für die volle Erklärung des Zinsphänomens zu bieten imstande sind, oder ob nicht vielmehr auch gewisse — , von ihnen beiseite gelassene — produktionstechnische Tatsachen in den Erklärungsgang hineinverwoben werden müßten. Die Arbeiten von Launhardt und Sax fallen der Zeit nach zwischen das Erscheinen des ersten (1884) und des zweiten Bandes (1889) des vom Verfasser veröffentlichten Werkes über „Kapital und Kapitalzins". Die im zweiten Bande niedergelegte „Positive Theorie des Kapitales" enthielt einen Versuch, alle Formen der Zinserscheinung aus einer Wertdifferenz zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern, diese selbst aber aus dem Zusammenwirken einer Reihe teils psychologischer, teils produktions- technischer Ursachen abzuleiten. Dieser Versuch fand vielfache Gegner- schaft, aber auch vielfache Zustimmung und Unterstützung. Verwandte Ideen waren, wenn auch in minder erschöpfender Ausführung und zunächst noch ohne bewußte Trennung vom Ideengeleise der älteren Abstine^- theorie, fast gleichzeitig auch bei amerikanischen Denkern, insbesondere ') Mathematische Begründung der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1885; siehe besonders S. 6—7, 67ff., 129. 2) Grundlegung der theoretischen Staatswirtschaft. Wien 1887, S. 178 ff., 313ff. ') Der „beanspruchte Zinsfuß beruht auf einer Schätzung des Minderwertea, welchen der zukünftige Genuß im Vergleich mit einem gleich großen in der Gregenwart dargebotenen Genüsse hat" (Launhardt, S. 129). „Der Wert des Kapitalgutes ist . . in seinem Maße abgeleitet vom Werte des Gebrauchsgutes, welches aus jenem hervor- geht. Da nun das Bedürfnis, welchem das Kapitalgut indirekt dient, ein zukünftiges Bedürfnis ist, so muß dieser übertragene Wert geringer sein als der Wert, welchen das Wirtschaftssubjekt einem gleichen Gebrauchsgute gegenwärtig beilegt, oder, was das- selbe ist, geringer als der Wert, welchen für dasselbe das konkrete Gebrauchsgut, nach- dem es existent geworden ist, seinerzeit gemäß dem dann präsent gewordenen Bedürf- nisse haben wird. Denn der Wert des künftigen Gebrauchsgutes, von welchem der Kapitalwert abgeleitet ist, deriviert von dem künftigen Bedürfnisse, welches als vor- empfundenes (gegenwärtiges) Bedürfnis schwächer ist als jenes" . . . „In der Wert- differenz zwischen dem Kapitalgute und dem daraus hervorgehenden Gebrauchsgute . . . liegt die sogenannte ..Produktivität" des Kapitalos" (Sax, S. 317 u. S. 321, vgl. auch 178f.). II. Die Agiotheorie. 455 bei Simon N. Patten i), bei S. M. Macvane^) und bei J. B. Clark 3), aufgetaucht. Nicht minder wirkten die Impulse weiter, welche von Jevons' glänzender, in immer zunehmendem Maße von den Theoretikern der ver- schiedensten Nationen gewürdigter Arbeit ausgegangen waren. Tatsache ist, daß, an die eine oder die andere der gegebenen Anregungen anknüpfend, die Theorie von der Wertdifferemz zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern — ich möchte sie, wenn sie schon mittelst eines kurzen Schlag- wortes bezeichnet werden soll, am liebsten die „Agio-Theorie" nennen *) — in der Literatur aller Kultur-Nationen Wurzel gefaßt und in mancher selbst schon das Übergewicht erlangt hat. Ohne irgendwie auf Vollständigkeit Anspruch zu erheben, seien aus der englisch-amerikanischen Literatur der Neunziger Jahre als Ver- treter mehr oder weniger verwandter Anschauungen außer den schon oben genannten Schriftstellern noch beispielsweise genannt J. Bonar (Quarterly Journal of Economics, April und Oktober 1889, April 1890), W. Smart (Introduction to the theory of value, London 1891; The new theory of interest, Economic Journal 1891); F. Y. Edge Worte (Economic Journal, *) „The fundamental idea of capital" im Quarterly Journal of Economics, Januar 1889. -) Siehe dessen ganz kurzen, aber sehr bemerkenswerten Aufsatz „Analysis of cost of production" im Quarterly Journal of Economics, Juli 1887, dann eihige spätere Aufsätze, ebenda Oktober 1890 und Januar 1892. ^) Die zahlreiche Serie von Aufsätzen, in welcher dieser scharfsinnige und un- ermüdliche Theoretiker schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Theorie vom Kapitale und Kapitalzinse durchforscht hat, beginnt mit der Schrift ,, Capital and its Earnings", 1888. Die meisten seiner späteren Aufsätze finden sich im Quarterly Journal of Economics, einzelne auch in den Annais of the American Academy ( July 1890) und in der Yale Review (November 1893). *) Macfarlane (Value and distribution, p. XXII, dann 230f.) will sie, wohl in Anlehnung an eine gewisse von mir selbst in meiner Positiven Theorie S. 489, 4. Aufl. S. 363 gemacht« Äußerung, als „Tauschtheorie" („Exchange theory") bezeichnen, eine Bezeichnung, die seither auch bei einigen anderen Schriftstellern, z. B. bei Seageb, Principles of Economics 1913, S. 293, Eingang gefunden hat. Meine Äußerung hatto sich aber gar nicht auf die Materie des Zinses, sondern ausschließlich auf die Natur des Darlehens bezogen, in welchem Punkte ich meine Ansicht, daß das Darlehen ein echter Tausch gegenwärtiger gegen künftige Güter sei, als „Tausch theorie" der von Knies vertretenen ,, Nutzungstheorie" gegenübergestellt hatte. Für meine Zinstheorie im ganzen scheint mir dagegen jener Name recht wenig bezeichnend und darum auch wenig passend lu sein. Und noch weniger charakteristisch ist wohl der von Bort- KiEwicz (Schmollers Jahrbuch Bd. XXXI S. 1289) gebrauchte Name „Zeitdifferenz- theorie": denn in welcher Zinstheorie würde die , .Zeitdifferenz" keine RoUe spielen? Man denke nur z. B. an die Abstinenz- oder Waiting-Theorien 1 — Vermöge eines seltsamen Mißverständnisses sieht Zaleski (Lehre vom Kapital, Kazan 1898) den Titel „Positive Theorie des Kapitales", den ich dem zweiten, die positive dogma- tische Darstellung enthaltenden Teile meines Werkes im Gegensatz zu dem ersten kritisch-historischen Teile vorgesetzt hatte, für ein charakterisierendes Attribut an, las ich für den Inhalt meiner Theorie in Anspruch genommen hätte. 466 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Juni 1892), E. B. Andrews (Institutes of Economics, Boston 1889), LoWREY (Annais of the American Academy, März 1892), Ely (Outlines of Economics, New- York 1893), Carver (Quarterly Journal of Economics, Oktober 1893), Taussig (Wages and capital, New- York 1896), Irving FisHER (Economic Journal, Dezember 1896, Juni und Dezember 1897), MixTER (A forerunner of Boehm-B-awerk, Quarterly Journ. of Ec. Januar 1897); Macfarlane (Value and distribution, Philadelphia 1899); im wesentlichen wohl auch Hobson (Evolution of modern Capitalism, London 1894) und Hadley (Economics, New- York 1896, und Annais of the American Academy, November 1893). Teilweise zustimmend hat sich auch GiDDiNGS geäußert. Derselbe glaubt jedoch zur Ergänzung und Vertiefung der Theorie noch eine Hinzufügung machen zu müssen, in der er das stete Zurückbleiben des Angebotes an Gegenwartsgütern oder Kapital dadurch erklären will, daß der Kapitalbildung grundsätzlich die letzten mit immer zunehmender Unlust und Plage verbundenen Arbeitsstunden dienen. Dieses Plus an Arbeitsbeschwerde bilde die Extrakosten der Kapitalbildung — im Vergleich zu den Kosten der Erzeugung der unmittelbaren Genuß- güter — welche Extrakosten im Zins ihre Vergütung finden müssen. Ich vermag mich jedoch weder von dem Vorhandensein aller tatsächlichen Voraussetzungen dieser Theorie, noch auch davon zu überzeugen, daß, wenn diese tatsächlichen Voraussetzungen gegeben wären, sie ihre Wirkung in der Hervorruf ung des Kapitalzinses zu äußern vermöchten *). In der letztverflossenen Zeit waren es sodann namentlich die beiden bekannten, ebenso hervorragenden als einflußreichen Werke von J.B. Clark über „The distribution of Wealth" (1899) und Irving Fisher über „The rate of Interest" (1907), welche der Diskussion desselben Ideenkreises in der englisch-amerikanischen Literatur neue Nahrung und Belebung gaben. Obwohl Clark seinen Ideen über den Ursprung des Kapitalzinses unter dem Einfluß seines vielbesprochenen Begriffes des „true capital'* eine Einkleidung gegeben hat, die uns nötigt, sie formell unter die Pro- duktivitätstheorien, und zwar unter die motivierten Produktivitätstheorien zu reihen, kommt ein wesentlicher Teil seiner sachlichen Erklärung den Gedanken der Agiotheorie so nahe, daß uns in der Hauptsache vielleicht doch mehr nur die Form als das Wesen trennt. Auf einen starken gemein- samen Teil unserer Überzeugungen hat ja auch Clark selbst einmal mit der Bemerkung hingedeutet, daß „jede vollständige Theorie der Ver- teilung sich in Hinkunft einen wesentlichen Teil meiner (Böhm-Bawerks) Lehre von der Zeit als einem ökonomischen Element werde inkorporieren müssen" % und ähnlich scheinen über das Verhältnis unserer beiderseitigen *) Siehe hierüber die ausführliche, im Quarterly Journal of Economics vom Juli 1889 bis April 1891 geführte Diskussion, an der sich außer Giddinos selbst noch Bonab, der Verfasser, David J. Green und H. Biloram beteiligten. «) Political Science Quarterly Vol. IV N. 2 (Juni 1889) S. 342. II. Die Ägioiheorie. 467 Lehren auch andere Clark nahestehende Theoretiker zu denken^). Fisheb aber steht soweit auf dem Boden der Agiotheorie, daß er dieselbe mehr nur zu verbessern als zu bestreiten meint, und seine eigene, von ihm selbst als „Impatience-theory" betitelte Lehre nur als eine in einigen Punkten abweichende „Form" oder als eine „Modifikation" meiner Agiotheorie bezeichnet*). Ich habe an anderer Stelle sowohl Clarks als auch Fishers Zinstheorie schon so eingehend dargestellt und Verbindendes wie Trennen- des schon in so deutlicher kritischer Beleuchtung hervorgehoben^), daß ich mich hier mit der bloßen Nennung dieser zwei wichtigen Werke be- fDügen kann. Die auf verwandter Grundlage stehenden Schriften oder ußerungen englisch schreibender Autoren sind aber heute so zahlreich geworden, daß ich von der Registrierung einzelner Namen ganz absehen und mich auf das Zitat eines Gegners beschränken kann, welcher die weite Verbreitung der Agiotheorie mit den Worten beklagt, daß dieselbe „eine allgemeinere Annahme als jede andere Erklärung der von ihr behandelten Tatsachen gefunden habe", wiewohl sie auch zahlreicher gegnerischer Kritik begegnet und weit davon entfernt sei, als abschließende Lösung des Problems betrachtet zu werden*). In der italienischen Literatur finden sich frühzeitige Spuren der *) So kann z. B. Seageb (Principles of Economics, 1913, S. 296f{.) zwischen einer im Gleiste Clarks gehaltenen Produktivitäts- und meiner „Exchange"-Theorie „keinen tatsächlichen Gregensatz" finden, während Brown in einem kürzlich erschienenen, gegen J. Fisher polemisierenden Artikel „The marginal productivity versus the im- patience theory of interest" (Quarterly Journal of Economics Vol. 27 N. 4, August 1913) eine Produktivitätstheorie vorträgt, die „im wesentlichen" auch die Theorie Clarks, Cabvers, Seagbrs, Taussigs, Cassels und anderer sei, die aber tatsächlich zugleich auch eine weitgehende materielle Übereinstimmung mit meiner Lehre zeigt, von welcher Brown bei eben dieser Gielegenheit bemerken zu dürfen glaubt, daß sie eigentlich ebenfalls eine Produktivitätstheorie sei (a. a. 0. S. 631). Siehe hierüber noch unten. *) Rate of Interest S. 87ff . ; The impatience theory of interest, Abdruck aus der Zeitschrift „Scientia", Vol. IX, 1911, S. 386. *) Bezüglich Clabks siehe meine Pos. Th. S. lOlff., 4. Aufl. S. 75ff. und die daselbst (S. 102, 4. Aufl. S. 76 in der Note 1) zitierte Artikelserie, bezüglich Fishebs namentlich den Exkurs XII desselben Werkes. *) BiLGBAH, Analysis of the nature of capital and interest, im Journal of Pol. Ec. Vol. XVI N. 3, März 1908, S. 130. Vgl. auch Fabnams Bemerkung in seinem Über- blick über „die deutsch-amerikanischen Beziehungen in der Volkswirtschaftslehre" im 1. Band des Schmollerschen Jubiläumswerkes Abschnitt XVIII S. 16. — Eine äußerst gründliche und instruktive Erörterung der verschiedenen subtilen Nuancen, die bei dieser Gielegenheit innerhalb der neuesten amerikanischen Literatur zutage traten, bringt soeben Fetteb in einem Aufsatze über „Interest theories, old and new' - im Bd. IV, Nr. 1, März 1914, der American Economic Reviwe S. 68ff. Fetteb selbst stellt sich hiebei mit seiner eigenen, von ihm als „capitalization theory" bezeichneten Variante auf den äußersten Flügel der rein „psychologischen" (im Glegensatz zu den „technologischen") Zinstheorien — noch weit jenseits des von mir und selbst von J. FisHER eingenommenen Standpunktes. 458 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Aufnahmp derselben Ideenrichtung bei Ricca-Salerno (Teoria del Valore Rom 1894), Montemartini (II risparmio nell' economia pura, Mailand 1896), Crocini (Di alcune questioni relative all' utilitä finale, Turin 1896), Graziani (Studi sulla teoria dell' Interesse, Turin 1898); ferner im wesent- lichen wohl auch bei Barone (Sopra un libro di Wicksell, Giomale degli Ecönomisti, November 1895, und Studi sulla distributione, ebenda Februar und März 1896), und teilweise wenigstens bei Benini (II valore e la sua attribuzione ai beni strumentali, Bari 1893). Pareto, den ich selbst eher den Nutzungstheoretikern zuzählen möchte, hat daneben doch so viele der Agiotheorie verwandte Gedanken aufgenommen, daß sein Landsmann Graziani sich zu der Bemerkung veranlaßt sah, daß Pareto in Bezug auf die Begründung des Zinses ihre Prinzipien angenommen habe^). In der jüngsten Zeit hat Natoli, der sichtlich unter dem Einflüsse von Ricca-Salerno und Graziani steht und gleich diesen hervorragenden Schriftstellern die Agiotheorie für wesentlich richtig, aber verbesserungsbedürftig hält, einen eigenartigen Versuch ge- macht, eine solche verbesserte Zinstheorie zu präsentieren (II principio del valore e la misura quantitativa del lavoro, 1906). Ihr hervorstechendster Zug liegt in einer starken, aber, wie ich glaube, verfehlten Annäherung an die Arbeitswerttheorie, weshalb mir auch die von Natoli vorgeschlagenen Änderungen keineswegs als Verbesserungen erscheinen können 2). 1) Studi S. 51. *) Siehe auch oben S. 391, Note). Nicht ganz leicht zu erklären ist, wieso die oben genannten drei Schriftsteller einmütig zu dem an meine Adresse gerichteten Vor- wurf gelangen, daß ich meine Zinstheorie angeblich nur auf die zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern bestehenden „absoluten" Wertdifferenzen (d. i. auf die bei einem und demselben Subjekt bestehenden Differenzen in der Wertschätzung gegenwärtiger und künftiger Güter) gestützt, dagegen die für das Entstehen des Zinses ebenfalls wesentlichen, ja sogar noch wesentlicheren „relativen" Wertdifferenzen, die im Grade der Unterschätzung der künftigen Güter bei den beiden Tauschparteien, also zumal bei den Arbeitern und Kapitalisten, eintreten, übersehen oder vernachlässigt hätte. Vgl. z. B. Natoli a. a. 0. S. 262—267, 311; Graziani, Studi S. 29ff.; Ricca-Salerno, Teoria del Valore S. 111. Tatsächlich habe ich, wie ein Blick in mein Buch zeigt, nicht bloß jenes generelle Erfordernis jedes Tausches schon in meiner allgemeinen Tausch- theorie mit der größten Ausdrücklichkeit hervorgehoben (Pos. Theorie 3. A. S. 368f., 4. Aufl. S. 267f.), sondern ich habe mit eben so großer Ausdrücklichkeit auch im Kon- texte meiner Zinstheorie die spezielle Anwendung davon auf den Fall des Austausches zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern und auf die Entstehung des Zinses ge- zogen: siehe meine Pos. Theorie 3. A. S. 482f., 618ff. und 538ff., 4. Aufl. S. 359, 386ff . und 401ff. Insbesondere glaube ich bei diesen Gelegenheiten mit vollkommen aus- reichender Deutlichkeit gezeigt zu haben, daß und warum die besitzlosen Lohnarbeiter den Gegenwartsgütern stets eine stärkere Bevorzugung zuzuwenden pflegen, als die Kapitalisten. Sollte jenem einmütigen und mit so ähnlichen Worten wiederholten Vor- wurf nicht vielleicht ein Flüchtigkeitsversehen Ricca-Salebnos zugrunde liegen, das, durch dessen große Autorität gedeckt, dann ohne genauere Prüfung auch in die Schriften anderer, sonst so sehr durch Sorgfalt und Genauigkeit ausgezeichneter Schriftsteller überging ? II. Die Agiotheorie. 459 Aus der — bonst überwiegend recht konservativen — französischen Literatur sei die bedeutende Monographie Landrys über „l'lDtörßt du capital", 1904 hervorgehoben, die trotz recht erheblicher Meinungs- verschiedenheiten als ein Versuch aufgefaßt werden kann, gewisse auch der Agiotheorie zugrunde liegende Gedanken in verbesserter Formulierung und Systematik zur Geltung zu bringen. Über das Maß von Abweichung und Übereinstimmung habe ich mich schon in der eingehenden kritischei^ Würdigung ausgesprochen, die ich Landbys Theorie an einer anderen Stelle meines Werkes (Exkurs XIII) zuteil werden ließ. Noch näher als Landry scheint unserem Ideenkreise Aftalion zu stehen^). Aus der holländischen Literatur ist vor allen N. G. Pierson zu nennen mit seinem klassischen und auch noch auf den heutigen Stand der Lehrmeinungen tief nachwirkenden Leerboek der Staathuishoudkunde (3. von Prof. Verrun Stuart besorgte Auflage, Harlem 1912—1913) und mit einem älteren Aufsatz in „de Economist" (März 1889, S. 193ff.). ■ Zu ausgebreiteter Geltung sind die hier besprochenen Ansichten auch in der skandinavischen Literatur gelangt. Am ausführlichsten und selbständigsten hat Knut Wioksell die Zinstheorie behandelt*). Als Vertreter verwandter Anschauungen können u. a. femer gelten aus der schwedischen Gelehrtenwelt Graf Hamilton, Davidsohn, Leffler und Brock 3); aus Norwegen Aschehoug, Morgenstierne, Jaeger, Aarum, Einarsen; aus Dänemark Westergaard, Falbe-Hansen und Bibck; in seinen späteren Arbeiten vielleicht auch der änfarigs sicherlich gegne^ fische SCHARLING*). Die deutsche Literatur, in der der theoriefeindliche Geist der histo- rischen Schule die Teilnahme an der modernen Entwicklung der Theorie überhaupt lange verzögert und speziell den von der österreichischen Schule ausgehenden theoretischen Neuerungen ein besonders hartnäckiges Wider- ^) Les trois notions de la productivit6 et les revenus; Revue d'Ec. Politique 191L *) In den beiden bekannten und geschätzten Monographien über Wert, Kapital und Rente, Jona 1893, und Finanztheoretische Untersuchungen, Jena 1896; seither »uch in seinen in schwedischer Sprache veröffentlichten „Vorlesungen über National- ökonomie", Lund 1901 (deutsche Ausgabe Jena 1913). •) Bis zu einem gewissen Grade vielleicht sogar Cassei. mit seinen Anhängern; ich muß zwar Cassel formell sicherlich zu den Gegnern der Agiotheorie und als einen Vertreter der Nutzungs- und Abstinenztheorie zählen, wie ich dies ausführlich in meinem Exkurs XIII auseinandergesetzt habe ; aber wir haben doch so viele und wichtige sach- liche Erkenntnisse gemeinsam, daß ich es verstehen kann, wenn andere seine Theorie doch nur als eine Spielart der auch von mir vertretenen theoretischen Anschauungen auffassen wollen. Vgl. auch Bonabs objektive und gehaltvolle Besprechung der Gassel- schen Theorie im Economic Journal, Juni 1904, S» 280ff. *) Da ich die skandinavischen Sprachen leider nicht beherrsche, habe ich mich in der oben gegebenen Übersicht größtenteils auf private Mitteilungen aufstützen müssen, welche ich der Güte der Herren Professoren Wicksell in Lund und Jaboer in Ghristiania verdanke. 460 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. streben entgegengesetzt hatte, weist dem entsprechend auch nur einen verhältnismäßig geringen Anteil an der jüngsten Entwicklungsphase der Zinstheorie auf. An etwas älteren originellen Arbeiten der deutschen Literatur, die sich in ähnlicher Gedankenrichtung bewegen, möchte ich das fast gleich- zeitig mit meiner Positiven Theorie erschienene Werk von Effertz (Arbeit und Boden, Berlin 1889) und das gedankenreiche Werk des Schweizers Georg Sulzer (Die wirtschaftlichen Grundgesetze in der Gegenwarts- phase ihrer Entwicklung, Zürich 1895) besonders nennen. Effertz bringt den Gedanken, daß der Zins einer Zeitdifferenz seine Entstehung verdanke, in der eigenartigen Wendung zum Ausdruck, daß auch das „Alter" der Arbeit und des Bodens „ein Element des Tauschwertes", und der Zins „das Entgelt für die Altersqualität der Arbeit und des Bodens sei" (S. 190ff., 198 f., 278). Die Notwendigkeit eines „Aufschlages" für das „Alter" der Produktionselemente wird in freilich sehr unzureichender, wenn nicht unzutreffender Weise lediglich damit erklärt, daß die alte Arbeit und der alte Boden „seltener" seien als präsente Arbeit und präsenter Boden (190, 195, 198. Vgl. auch noch S. 218, 221, 354). Die grundsätzliche Ver- meidung von Literaturbeziehungen läßt nicht erkennen, ob und in welchem Grade das 1889 erschienene Werk von Effertz durch die mehr- fachen vorausgegangenen Erörterungen desselben Grundgedankens be- einflußt war. — SuLZERs Behandlung des Stoffes scheint sich mir im ganzen auf einer Mittellinie zwischen Jevons' und meiner Theorie zu bewegen. Über die im Wesen entgegenkommende, aber von Schwankungen nicht ganz freie Haltung des Nestors der deutschen Theorie, Adolf Wagner, habe ich schon oben berichtet^). Die Behandlung, welche Phi- LippovTCH dem Zinsproblem in den letzten Auflagen seines „Grundrisses" — wohl des derzeit meist benützten und einflußreichsten Lehrbuches der deutschen Literatur — zuteil werden ließ, scheint mir zwar nicht auf völlige Übereinstimmung, aber doch auf sachlich recht weit gehende Annäherung an die in der Agiotheorie vertretenen Erklärungsgedanken zu deuten*). In der jüngeren Generation, die bei der Theorielosigkeit der voran- gegangenen Moderichtung zusehends nicht mehr ihr Genügen findet, wirken die Gedanken der Agiotheorie im Augenblick jedenfalls als ein starkes Ferment; die wiedererwachenden theoretischen Bestrebungen finden sie in ihrem Wege und fühlen sich zu einer Auseinandersetzung mit ihr gedrängt. Als Produkte dieser Auseinandersetzung finden wir auf der einen Seite eine Menge meist kleinerer Schriften und Aufsätze polemischen Inhaltes, von denen viele ihren Ursprung aus theoretischen Seminarien 1) S. 272. *) Grundriß der Polit. Ökonomie, Erster Band, 10. Aufl., Tübingen 1913, § 107—110. II. Die Agiotheorie. 461 nicht verkennen lassen; daß das Ferment aber auch schon begonnen hat, die Entwicklung im positiven Sinne zu befruchten, dafür mag statt jedes anderen Beleges das große Sammelwerk zitiert werden, in welchem unlängst aus einem zur Ehrung Gustav Schmollees bestimmten Anlasse „die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert" geschildert wurde i). Eine etwas aparte Stellung nehmen endlich Oswalt*) und Schum- PETER^) mit ausführlich entwickelten Theorien ein, die zwar einen großen Teil der Erklärungsgrundlage mit der Agiotheorie gemeinsam haben, aber mit wesentlichen Abänderungen über dieselbe hinausstreben. Über OswALTS Theorie, die ich wegen gewisser von ihm selbst freilich nur für eine Nuance in der Formulierung des Probleme» gehaltener Einschaltungen als eine eigenartige Variante der Nutzungstheorie ansehen muß, werde ich in dem dieser Auffassung entsprechenden Zusammenhange noch unten zu sprechen haben. Schumpeter unterscheidet sich, bei sonst sehr weit- gehender sachlicher Übereinstimmung, von meiner Auffassung haupt- sächlich dadurch, daß er im Kapitalzinse nicht, wie ich, ein statisches, sondern ein dynamisches, ausschließlich aus der Entwicklung entspringen- des Phänomen erblicken wül. Eine genauere Darstellung seiner Theorie sowie der Gründe, aus denen ich ihr nicht beipflichten kann, habe ich kürzlich an anderer Stelle gegeben, auf die ich wohl verweisen darf*). Einen viel geringeren Einfluß als die Agiotheorie gewannen einige andere in der neuesten Zeit aufgetauchte Erklärungsversuche, die sich ebenfalls nicht gut in eine der herkömmlichen Kategorien einreihen lassen und die daher von mir, wenn auch nur mit wenigen Worten, als „neue" Zinstheorien registriert werden müssen. Recht eigenartig, aber auch recht wenig erklärungskräftig erscheint mir die Theorie Georgievskys, der den Kapitalzins und überhaupt alle Arten von „reinem Einkommen" als ein Entgelt auffaßt, welches für die „Generalunkosten der Volkswirtschaft" bezahlt werden muß, im Gegen- satze zu den speziellen Kosten der konkreten Produktion'). Die Bedenken, ^) Vgl. insbesondere die einschlägigen Artikel über die Lehren vom Kapital (Spiethoff), vom Zins (Wuttke) und vom Arbeitslohn (Bernhard). *) „Beiträge zur Theorie des Kapitalzinses" in der Zeitschrift für Sozialwissen- schaft N. F. I. Bd. 1910. ») Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Leipzig 1912. *) Siehe meinen Artikel „Eine dynamische Theorie des Kapitalzinses" in der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung Bd. XXII 1913, S. Iff,; dann Schukfeters Entgegnung ebenda S. d99ff. und meine Schlußbemerkungen S. 640ff. *) Nouvelle th6orie sur l'origine des revenus nets (Extrait du Cours d'§conomie poütique 1896, 2. 6dit., T. II, Livr. 2). 462 Anhang. Die Zinsliteratox in der Gregenwart. welche gegen diese Auffassung sprechen, liegen so sehr auf der Hand, daß eine kritische Ausführung derselben wohl entbehrlich ist. Eine ebenfalls eigenartige und dabei nicht leicht in eine der großen Theoriengruppen einzureihende Erklärung hat sich Emilio Cossa zureciit- gelegt. Indem der Kapitalist (?) eine „gegebene Kombination von In- strumentalgütern ins Werk setzt", läßt er aus letzteren, die für die un- mittelbaren Bedürfnisse der Konsumenten „weniger nützlich" und daher minderwertig sind, „andere vorher bestimmte Formen" hervorgehen, die für jene .Bedürfnisse nützlicher sind, und erlangt auf diesem Wege einen „Mehrwert", der für ihn zum Kapitalgewinn (profitto) wird^). Es genügt wohl, die Doppelfrage aufzuwerfen, ob denn wirklich der „Kapitalist" und nicht vielmehr der Unternehmer die produktiven Kombinationen ins Werk setzt, und sodann, welche Theorie über den Wert der Instru- mentalgüter CossA eigentlich vertreten wiU. Wenn er, wie es- scheint, diesen Wert aus der, wenn auch geringeren, Nützlichkeit ableiten wiU, die die Instrumentalgüter für die „unmittelbaren Bedürfnisse" der Konsumenten haben, so ist zu bemerken, daß für die unmittelbaren Bedürfnisse die Instrumentalgüter in ihrem ursprünglichen Zustande nicht nur eine geringere, sondern zumeist gar keine Brauchbarkeit besitzen (eine Pflugschar für die Hungerstillung!) und daß daher die Wertdifferenz zwischen dem unbrauchbaren Produktionsinstrument und dem brauch- baren Genußgut, wenn sie aus dieser Quelle stammen sollte, wohl viel größer sein müßte als der Prozentsatz des Zinses. Leitet aber Cossa den Wert der Produktivgüter aus der indirekten Nützlichkeit derselben für die Bedürfnisbefriedigung ab, was für einen Anhänger der Theorie des Grenznutzens, der Cossa ja doch ist (S. 15), nahe liegen würde, dann enthält seine Theorie wieder keinen Zug, der ein Zurückbleiben der Nütz- lichkeit der Instrumentalgüter hinter der Nützlichkeit und dem Werte der Produkte erklärlich machen würde: gerade die Hauptsache bleibt unerklärt. Eine Theorie, in der Otto Conrad den Kapitalzins aus einem zu- gunsten der Kapitalisten bestehenden „Monopole" erklären will 2), scheint mir und anderen^) aus dem alten Moment der „Kapitalknappheit", welches beinahe in jeder Zinstheorie eine Rolle spielt, den Kapitalzins mittelst einer allzu genügsamen Schluß weise abzuleiten, welche die eigentlichen Schwierig- keiten des Problems gar. nicht berührt. Und wahrscheinlich wird auch Liefmann den Anspruch erheben, im ^) „L'inesistenza di plus-valore nel lavoro e la fönte del profitto" im Giornale degli Economisti, Vol. XXXII, Serie 2, Jänner 1907. *) „Lohn und Rente", Leipzig und Wien, 1909; zuvor schon in einem Artikel „Kapitalzins" im Märzheft der Conradschen Jahrbücher 3. F. Bd. 36 S. 326ff. ') z. B. Verrijn Stuart in De Economist 1908 S. 476ff. und Oswalt, Beiträge zur Theorie des Kapitalzinses S. 9. Emilio Cossa, G. Conrad, läefmann, Gesell, Bilgram, Hoag. 463 Rahmen seiner auf eine Erneuerung der gesamten ökonomischen Theorie abzielenden Bestrebungen auch eine neue und beachtenswerte Erklärung des Kapitalzinses geboten zu haben, welche, hierin der Theorie Emilio GossAs ähnelnd, in der Wertschätzung der Konsumenten ihren Angel- punkt sucht ^). Auf genauere Details glaube ich nicht eingehen zu sollen. Denn einerseits kann ich des Autors eigene Meinung über die epoche- machende Bedeutung seiner theoretischen Konstruktionen leider gar nicht teilen, und andererseits halte ich die Aufgabe, speziell seine Äußerungen über das Zinsproblem aus einer theoretischen Umgebung herauszulösen, in der mir fast jedes Wort zu einer Berichtigung herauszufordern scheint, für allzu undankbar, als daß ich sie mir und meinen Lesern auflegen möchte. Ebenso wenig möchte ich auf die Ideen Silvio Gesells genauer ein- gehen, welcher in seinen zahlreichen auf die Propagierung neo-physio- kratischer Anschauungen gerichteten Schriften eine Art naiver Aus- beutungstheorie vorträgt, in welcher deT Zins als eine Erpressung aufgefaßt wird, die von den Geldbesitzern gegenüber den Warenbesitzern ausgeübt wird; und derselben Auffassung scheint mir, mit demselben Zurückgreifen auf Vorstellungen, die schon seit den Tagen Hümes als endgiltig berichtigt angesehen werden durften, auch Bilgram ganz nahe zu kommen, wenn er in seinem soeben (1914) veröffentlichten Werke über „The cause of business depressions" eine „Monopoltheorie des Zinses" vorträgt, in welcher er Kapital und Geld scharf kontrastiert, vom reellen Kapital behauptet, daß es in vollem Überfluß vorhanden sei, dagegen eine monopolartige Knappheit des Geldumlaufes dafür verantwortlich macht, daß die Eigner von Geld und indirekt dann auch die Eigner von Kapital immerfort „un- verdiente" (uneamed) Einkommen beziehen können (§ 236ff., besonders 261 und 266)2). *) Ertrag und Einkommen, Jena 1907, S. 12ff.; Die Entstehung des Preises aus subjektiven Wertschätzungen. Grundlagen einer neuen Preistheorie (Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. XXXIV). ') Während des Druckes kam mir auch noch Hoags Theory of interest, New- York 1914, in die Hand, die ihr Autor ebenfalls für eine neue Zinstheorie ansieht und für die er den Namen „nominal value theory" vorschlägt (Vorrede S. IX u. X). Ich glaube, daß sie inhaltlich die größte Verwandtschaft mit den Theorien Cabveks und FiSHEKS besitzt. Ihr Vortrag unterscheidet sich von älteren Vorbildern hauptsächlich durch die eigenartige Auffassung vom Wesen des „Hauptstammes" (principal) und durch die damit zusammenhängende Einführung des Begriöes „nominal value". Unter „Hauptstamm" verstehe man zwei in irgend einem Sinne gleiche Gütermengen in ver- schiedenen Zeitpunkten. Die Gleichheit sei aber nicht eine Gleichheit in Art und Zahl, wie ich irrtümlich gemeint hätte, sondern eine Gleichheit im Werte ; aber wieder nicht im Wert auf einem und demselben Markt eines Zeitpunktes, sondern im Wert, den die beiden verglichenen Gütermengen jeweils auf dem (wechselnden) Markte ihrer eigenen Zeitschicht erlangen; und diesen Wert auf dem wechselnden Markte neiint HoAG ,, nominal value". Die den j,Hauptstamm" bildenden gegenwärtigen und künf- tigen Gütersummen müssen also jede auf dem Markt ihrer Zeit gleich viel wert sein 464 Anhang. Die Zinsliterator in der (Gegenwart, IIL Von den zahlreichen Meinungen, welche schon in der vorangegangenen Zeit wider einander im Felde gestanden waren, haben in der jüngsten Beobachtungsperiode einige gar keinen, und andere nur einen ganz ver- einzelten Zuzug erhalten. Ersteres Schicksal hat vorwiegend solche Theoriengruppen getroffen, welche entweder mit allzugroßer Naivität, oder umgekehrt mit allzu großein, offenbar verkünsteltem Raffinement dem Probleme zu Leibe gingen. Aus dem ersten Grunde blieben die „farb- oder gleichen „nominellen Wert" haben (S. 7f. und 17ff.). Der Autor sieht diese Auf- fassung als den Schlüssel zur richtigen Erklärung des Zinses an. Ich fürchte im Gregen- teil, daß sie weit eher die Verwirrungsgefahren vermehrt. Denn der Tatbestand, aus dem der Zins entspringt, ist ja doch zugestandenermaßen die reelle Ungleichheit des Wertes, den gegenwärtige und künftige Güter auf demjenigen Markte erzielen, auf dem sie gegeneinander vertauscht werden. Ich kann es darum nur für eine Ver- dunkelung des richtigen Erklärungsprinzips halten, wenn man die für die Entstehung des Zinses notwendige Wertungleichheit, sei es auch nur dialektisch durch die Schaffung einer neuen Nomenklatur, in eine vermeintlich notwendige Wertgleichheit umdeutet. Übrigens trifft es auch tatsächlich gar nicht zu, daß die als Hauptstamm hinzugebenden und rückzuempfangenden Gütersummen jede auf dem Markt ihrer Zeit gleich viel gelten müßten. Wenn man an Darlehen in anderen vertretbaren Gütern als Geld, z. B. in Getreide oder Baumwolle, oder in Stücken vertretbarer Wertpapiere, oder endlich in solchen Geldsorten denkt, die ihren Kurs gegenüber dem Standard- Geld ändern können, wie Geldsorten eines anderen Währungssystems oder Papiergeld, dann kann der seinerzeit zurückgestellte Hauptstamm auch für seine Zeit einen ganz anderen Weirt haben, als der hingegebene Hauptstamm auf dem Markte seiner Zeit gehabt hatte. — Im übrigen sei noch kurz erwähnt, daß Hoao seine Zinstheorie in eine Wert- und Preistheorie einschaltet, die auf dem Prinzip der „final disutility" aufgebaut ist, daß er den Zins als den Preis für ein „Ding" erklärt, dem er den Namen „Vorschuß" (advance) gibt (S. 49) und das im „Austausch frtiherer gegen spätere Dienste" (S. 82) bestehe und auch mit investment (S. 104) oder waiting (S. 167) gleichbedeutend sei. Das „Vorschießen" rufe „Kosten" hervor, die im Aufopfern des gegenwärtigen Genusses der vorgeschossenen für den künftigen Crenuß der später dafür zu erlangenden Güter oder Dienste bestehen (S. 69), und der Schnittpunkt der „Kosten" mit dem „Wertfe" der angebotenen Vorschüsse bestimme die Höhe des Preises, der für das Ding „Vor- schuß" gezahlt werde, oder die Höhe des Zinses. Diese Credanken scheinen mir, wie schon angedeutet, der von Carver ausgebildeten Variante der Abstinenz- oder richtiger Waiting-Theorie (siehe noch unten) am nächsten zu kommen, ohne durch die angewendete neue Nomenklatur an Klarheit oder Richtigkeit gewonnen zu haben. Persönlich be- dauere ich, daß Hoao sich viel mit meiner „Positiven Theorie" beschäftigt, ohne sich mit der doch schon seit mehreren Jahren vorliegenden neuen Auflage dieses Werkes und mit den derselben beigegebenen Exkursen bekannt gemacht zu haben. Ich glaube, er hätte manche Partien seines Buches und insbesondere diejenige, in der er die Rolle der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege in meiner Zinstheorie bespricht, ganz unmöglich so schreiben können, wie er sie geschrieben hat, wenn ihm nicht meine neuerlichen, gerade solchen Anlässen auf den Leib geschriebenen Kommentare zu diesem Thema unbekannt geblieben wären. Und an demselben Thema scheint sich mir auch besonders deutlich zu erweisen, daß der neue Begriff des „nominal value" audi für den Autor selbst nicht ohne Verwirrungsgefahr geblieben ist. Unter seinem Einfluß III. Natzungstheorien. 465 losen Theorien"*), die „naive" Produktivitätstheorie und die „Frukti- fikationstheorien" Türgots und Henry Georges ohne neue Bekenner, aus dem zweiten Grunde Theorien vom Schlage jener Schellwiens. Zu den Theorien, welchen nur noch vereinzelter Zuzug beschieden schien, gehörte durch längere Zeit die interessante Nutzungstiieorie. Von ihrem hervorragendsten Vertreter, Karl Menger, lag keine neuer- liche Äußerung zur Sache vor. Zwar hatte derselbe in der Zwischenzeit in einem äußerst schätzbaren Beitrage „Zur Theorie des Kapitales"*) dem Begriffe des Kapitales eine eingehende und fruchtbare Untersuchung gewidmet, dieselbe jedoch nicht auf die strittige Frage des Zinsproblems ausgedehnt. Walras, der schon vordem eine an J. B. Say erinnernde Formulierung der Nutzungstheorie vorgetragen hatte, hielt an derselben auch späterhin fest'). An neueren Arbeiten, welche sich klar und ent- schieden auf den Standpunkt der Nutzungstheorie stellen (gelegentliche, zumal eklektische Anklänge an dieselbe finden sich öfters*), ist mir jedoch belrarhtet er nämlich auch die rein technischen Verhältnisse der verschiedenen Er- giebigkeit längerer und kürzerer Produktionsprozesse vorgreifend durch die Wert- brille; und wenn er bei dieser Betrachtungsart dazu gelangt, den „wahren Grund'* der größeren Produktivität längerer Produktionsprozesse darin zu erblicken, daß gegen- wärtige Arbeit in längere Prozesse investiert ein „Prämium", bestehend in einem Über- schuß von nominal value, verschaffen kann (S. 126, 129, 145 — 148), so scheint mir dies auf einen Versuch hinauszulaufen, die technische Produktivität aus einer Wertproduk- tivität abzuleiten, während wohl nur sehr wenige daran zweifeln werden, daß eine logisch aufrechte Erklärung hier den umgekehrten Weg gehen muß — was freilich HoAO wieder von seinem Standpunkte aus für eine „Zirkelerklärung" hältl (S. 129). ^) Fast möchte ich indes auch aus der neuesten Zeit die Zinstheorie Lehrs (Grund- begriffe und Grundlagen der Volkswirtschaft, Leipzig 1893, VII. Abschnitt 6. Kapitel) eine farblose nennen; wenigstens ist es mir nicht gelungen, seinen ziemlich wortreichen Auseinandersetzungen über das Zinsproblem eine charakteristische Pointe abzusehen. Er negiert seine Zustimmung zu den meisten sonst üblichen Zinstheorien, bringt aber seinerseits nur Äußerungen vor, die entweder eine Berufung auf die Tatsächlichkeit, oder aber auf die Angemessenheit, Gerechtigkeit und Billigkeit gewisser Vorgänge zum Inhalt haben, oder endlich nur gewisse ganz allgemeine Motive anklingen lassen (wie das SniTHsche Motiv, daß man ohne die Aussicht auf Zins Kapitale nicht sammeln, beziehungsweise zur Produktion anwenden oder als Darlehen geben würde, S. 332), aber m. E. keine eigentliche Erklärung enthalten. •) Conrads Jahrbücher, N. F. Bd. XVII (1888). ') Elements d'Economie politique pure 1. Aufl. Lausanne 1874, 2. Aufl. 1889. Walkas sieht den Kapitalzins als Vergütung für den „service producteur" des Kapi- tales, welcher ein besonderes immaterielles Gut sei, an (z. B. S. 201, 211 und XIII der 2. Aufl.). Der Auffassung Walras' schließt sich im wesentlichen auch Pareto an (Cours d'Economie politique I 40 ff.), jedoch nicht ohne einige gelegentliche Hin- deutungen auf den zwischen „gegenwärtigen und künftigen Gütern" bestehenden Wert- unterschied (z. B. S. 50). *) Z. B. bei Conrad, Grundriß zum Studium der politischen Ökonomie, I. Teil, Jena 1896, § 67; bei Dietzel in dem unten noch ausfülirlicher zu erwähnenden Auf- satze in den Göttinger gelehrten Anzeigen; bei Dtehl (Proudhon, seine Lehre und sein Leben, II. Abth. Jena 1890, S. 204ff.); M. Block, Progrds de la science Economique Böhm-Bftwerk, Eapitalzins. 4. Aufl. 80 466 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. in der verhältnismäßig langenPeriode von 1884 bis 1900 nur die in russischer Sprache erschienene „Lehre vom Kapital" von Ladislas Zaleski^) be- kannt geworden. Da meine Kenntnis von diesem Werke sich auf einige mir von sprachkundiger Seite zur Verfügung gestellte Excerpte beschränkt, kann ich lediglich die Tatsache registrieren, daß Zaleski sich ausdrücklich zur Nutzungstheorie bekennt, und ihr eine naturwissenschaftliche Be- gründung aus der Lehre „von der Einheit der Materie und der Erhaltung der Energie'* zu unterlegen versucht. Wie weit durch diese Neuerung sich Zaleskis Nutzungstheorie von jener Mengers entfernt und etwa der motivierten Produktivitätstheorie annähert, entzieht sich meiner Be- urteilung. Seit etwa 1900 scheint jedoch die Zahl derjenigen Schriftsteller, welche bei den Gedankengängen oder vielleicht auch nur bei den Redensarten der Nutzungstheorie ihr theoretisches Genügen finden zu können glauben, wieder etwas anwachsen zu wollen. Unter diesen neueren Bekennern der, wie einer ihrer Wortführer sagt, „doch so natürlichen Auffassung, der Zins werde für die Benützung des Kapitales gezahlt", mögen beispielsweise genannt werden Cassel (Nature and necessity of interest, 1903), Margolin (Kapital und Kapitalzins, 1904), Berolzheimer („Das Vermögen" in den Annalen'des deutschen Reiches Jil904, § 11, S. 595 ff.), Brentano (Theorie der Bedürfnisse, 1908, S. 11) und Oswalt („Vorträge über wirtschaftliche Grundbegriffe" 1905 und namentlich „Beiträge zur Theorie des Kapital zinses" in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft N. F. L Band 1910); auch KoMORZYNSKi ist vielleicht mit seiner etwas dunklen Theorie der „Vermögensnutzung" (Die nat.-ök. Lehre vom Kredit, 1903 S. 26 ff.) in diesem Zusammenhange zu nennen. Die Mehrzahl dieser Bekenntnisse zur Nutzungstheorie ist in ihrer Motivierung so genügsam — wenn auch einzelne von ihnen ih ihrem Ton recht anspruchsvoll sind — daß ein genaueres Eingehen auf sie kaum eine entsprechende wissenschaftliche Ausbeute liefern würde. Am meisten theoretisches Interesse scheinen mir die Varianten von Cassel und Oswalt zu bieten. Über des ersteren, die Gedanken der Nutzungs- und Abstinenz- theorie in ebenso eigenartiger als unbefriedigender Weise mit einander verwebende Lehre habe ich mich schon an einer andern Stelle meines Werkes ausgesprochen 2). Hier mögen noch einige kritische Glossen über Oswalts Präsentierung der Nutzungstheorie Platz finden''). depuis Adam Smith, Paris 1890, IL Chap. XXIX; Ch. Gide (Principes d'Economie poiitique, 5. Aufl., Paris 1896, S. 461), und bei manchen anderen. 1) Kazan 1898. «) Im Exkurs XIII zur 3. Aufl. meiner Positiven Theorie S. 438—450, 4. Aufl. S. 322-331. ') Die im folgenden zitierten Seitenzahlen beziehen sich, wenn nichts andere» ausdrücklich bemerkt wird, stets auf Oswalts ,, Beiträge", bezw. auf den Jahrgang 1910 der 2^itsch. für Sozialwissenschaft. III. Nutzungstheorien. Oswalt. 4{g7 OswALT hält von vorueherein das Zinsproblem für ganz „leicht" (103) und „einfach" (2); es sei auch schon längst gelöst (445). Man dürfe sich nur von der „doch so natürlichen Auffassung", daß der Zins für die Be- nützung des Kapitales gezahlt werde (26), nicht durch allerlei „unnötiger- weise hineingetragene" und „künstlich aufgeworfene" Zweifel und Schwie- rigkeiten „scholastischen" Ursprungs (2) abbringen lassen. Zu diesen unnötigen scholastischen Schwierigkeiten rechnet er offenbar ganz vorzugs- weise meine gegen die Existenz und Realität einer selbständigen Kapital- nutzung vorgebrachten Bedenken. Aber dieselben sind doch nicht ganz ohne Eindruck auf ihn geblieben. Das zeigt sich einerseits darin, daß er einzelnen der von mir der Nutzungstheorie entgegengehaltenen Thesen doch auch seine eigene Zustimmung nicht versagen kann (auf S. 98 z. ß. finden wir das ausdrückliche Zugeständnis, daß „eine Nutzung als etwas körperliches oder sachliches neben dem Gute selbst nicht besteht"). Ganz vornehmlich zeigt sich aber jener Eindruck in der außerordentlich großen Vorsicht und Bescheidenheit, mit welcher Oswalt bei der Ein- führung seines Begriffes der Kapitalnutzung zu Werke geht: er entwaffnet gewissermaßen im Voraus jede Kritik durch die gänzüche Harmlosigkeit und Anspruchslosigkeit der theoretischen Voraussetzungen, von denen er seinen Ausgang nimmt. Die „Nutzung", von der er sprechen will, sei gar nicht als eine „Tatsache, die zur Erklärung des Zinses herangezogen werde", oder als eine „Ursache" des Zinses gemeint, sondern ein bloßer „Name", der ihm zur „Bezeichnung" gewisser tatsächhcher Vorgänge diene; und zwar ein völlig unpräjudizierlicher Name, der nichts mit der Lösung, sondern nur mit der Formulierung des Problems zu tun habe. Das Problem sei, warum für ein so oder so zu bezeichnendes Etwas ein Preis, genannt Zins, bezahlt werde; unpräjudizierliche Formulierung sei es, ob man dieses Etwas mit ihm als die Nutzung des Kapitales oder mit mir als den Mehrwert gegenwärtiger gegenüber künftigen Gütern benennen wolle (15). Auf einer folgenden Stufe seiner Ausführungen betont Oswalt die völlige Anspruchslosigkeit seines Nutzungsbegriffes wo mgölich noch schärfer. Er hat auf S. 88 ff. zwei recht verschiedene und auch zu recht verschiedenen praktischen Konsequenzen führende Varianten im Ver- halten kapitalbesitzender Personen einander gegenübergestellt. Der Besitz eines „schon im Anfang vorhandenen" Vorrates an Gütern oder eines Kapitales ist nämlich, wie Oswalt hier in völliger Übereinstimmung mit meiner Lehre ausführt, eine unentbehrliche Voraussetzung für die Ein- schlagung der technisch ergiebigeren, zeitraubenden oder kapitalistischen Produktionsmethoden. Dieser Vorrat muß während der Dauer des kapita- listischen Produktionsprozesses notwendig und naturgemäß aufgebraucht werden. Aber er kann entweder ersatzlos aufgebraucht werden — dann steht sein bisheriger Besitzer am Schlüsse der betreffenden Produktions- 30* 468 AnTiang. Die Zinsliterator in der Gegenwart. periode ohne Kapital da und kann die ergiebige kapitalistische Produktions- methode mangels des dazu nötigen Anfangsvorrats nicht ständig fortsetzen; oder aber, es können während der Zeit, in welcher die Kapitalgüter durch den Gebrauch untergehen, Ersatzgüter hergestellt und so das Kapital bei allem Wechsel der Güter, aus denen es sich zusammensetzt, im selben quantitativen Bestände erhalten werden; dann kann natürlich auch nach Ablauf der ersten Produktionsperiode die kapitalistische Methode mit allen ihren Vorteilen der größeren Ergiebigkeit weiterhin und ständig fortgesetzt werden. Hier öffnet nun Oswalt ganz vorsichtig die Pforte für das Auf- treten der Kapitalnutzung: er sagt, „man" pflege diese zweite Vorgangs- weise so „auszudrücken", daß man das Kapital nicht „verzehre", sondern bloß „benütze" (beide Worte "werden von Oswalt selbst unter Anführungs- zeichen gestellt). Aber Oswalt säumt nicht, diese „Ausdrucks weise" sofort mit allerhand noch vorsichtiget'en Vorbehalten zu kommentieren. Es sei ohne weiters zuzugeben, daß es nur ein „bildlicher Ausdruck" ist, wenn wir vom bloßen Benutzen des Kapitales sprechen. Solche bildliche Ausdrücke dürfe man indes „im Interesse der sprachlichen Bequemlich- keit" immerhin gebrauchen, vorausgesetzt nur, daß man sich darüber verständigt hat, „was, ohne Bild gesprochen, damit gemeint ist". Und hier bestätigt Oswalt mit aller wünscheils werten Ausdrücklichkeit und Korrektheit, daß die zwei Personen, von denen die eine ihr Kapital „verzehrt", die andere ein ebensolches Kapital „nur benützt", mit diesem ihrem Kapital in Wahrheit nicht verschieden verfahren: „im Gegenteil, beide haben es in gleicher Weise, rascher oder langsamer, je nach seiner körperlichen Beschaffenheit, verbraucht, also vernichtet. Der Unter- schied ihres Verhaltens betrifft vielmehr andere Güter, die sie hätten konsumieren können", (oder wie Oswalt ausführt, noch genauer die Güterelemente, aus denen diese anderen Güter aufgebaut sind) „. . . und er besteht darin, daß der eine diese andern Güter wirklich konsumiert, der Andere sie eine Zeit lang unkonsumiert läßt". Der praktische Unter- schied sei, daß, wenn das ursprüngliche Kapitalgut untergegangen ist, der eine kein Kapital mehr hat, der andere dagegen ein dem untergegan- genen gleichwertiges Kapital besitzt. Und nach diesem Unterschiede im praktischen Effekte sei der bildliche Ausdruck (von Oswalt unter- strichen!) geprägt, der Zweite habe sein Kapital „bloß benutzt". Es sei eine Sache des persönlichen Geschmackes, ob man das Bild für treffend hält; den sachlichen Unterschied zwischen den zwei Tatbeständen werde niemand bestreiten können. Soweit ist ersichtlich alles in vollständiger Ordnung: Daß wirklich ein erheblicher sachlicher Unterschied zwischen den beiden Tatbeständen besteht, entspricht natürlich durchaus auch meiner Meinung. Worin er, „ohne Bild gesprochen", besteht, das hat Oswalt ganz richtig dargestellt: das Kapital wird in beiden Fällen gleichmäßig „verbraucht, also ver- III, Natsongstheorien. Oswalt. 469 nichtet"; der Unterschied betrifft nur das Verhalten gegenüber ganz andern Gütern oder Güterelementen. Daß die Floskel vom „bloßen Benützen*' des Kapitales daher nicht dem Wesen der Sache entspricht, sondern nur ein der „sprachlichen Bequemlichkeit" dienendes „Bild" ist, ist ausdrücklich zugestanden. Und den „persönlichen Geschmack" habe ich, auch wenn ich ihn nicht teile, jefenfalls nicht als Theoretiker der Nationalökonomie zu kritisieren.« Aber nach dieser tadellosen Introduktion beginnt Oswalt imversehens zu Gunsten seiner Kapitalnutzung anspruchsvoller zu werden. "Wer seine Ausführungen daraufhin im Zusammenhange liest, wird nicht ohne humor- voUes Ergötzen bemerken, wie die anfangs immer gewissenhaft zum bild- haften „bloßen Benützen" des Kapitales gesetzten Anführungszeichen allmählich seltener werden, und schließlich ganz ausbleiben, und er wird femer bemerken, wie Zug um Zug das „Bild" oder der „Name" oder auch die „Hilfsvorstellung", wie Oswalt ein anderes Mal (26) sagt, sich immer mehr zu einer Realität, zu einem Wesen verdichtet. Bald heißt es schon, daß wir „gesehen haben" (90) oder daß „feststeht" (103), daß die Kapital- nutzung etwas nützliches, dann auch, daß sie wegen ihrer Nützlichkeit und relativen Knappheit etwas wertvolles ist — womit sich unwillkürlich nach Analogie des ÜEscARTEsschen „CogUo ergo sum''- dem Leser der Gedanke suggerieren muß, daß etwas, was nützlich und wertvoll ist, natürlich vor allem sein, also Existenz und Realität haben müsse. Weiter- hin ist aus der bildlichen „Hilfsvorstellung" bereits etwas so konkretes wie ein „Produktionsmittel" geworden (10) und zwar, wie Oswalt jetzt ganz präzise zu berichten weiß, ein elementares Produktionsmittel, ein drittes „Güterelement" (10, 151) oder „Elementargut" (244, 439), das neben der Arbeit und der Bodennutzung selbständige Existenz hat. Gerade diese letztere, so sicher auftretende Behauptung muß besonders befremden, da Oswalt die entgegengesetzte, unter andern von mir vorgetragene Ansicht, daß es nur zwei Güterelemente, nämlich Arbeit und Boden- nutzungen gebe, indem das Kapital nichts als ein Zwischenprodiikt von Natur und Arbeit sei, ausdrücklich ebenfalls für „gewiß richtig" und dem- gemäß auch die Aussage für begründet erklärt, „daß der ganze Ertrag der Wirtschaft in letzter Instanz auf diese zwei Elemente zurückzuführen sei" (91). Oswalt versucht sich freüich eine Brücke zur Mißachtung dieser „Erkenntnis" dadurch zu bauen, daß er sie für „praktisch wie theoretisch unfruchtbar" erklärt. Aber dürfte man, selbst wenn dies so wäre, jemals das Gegenteil der Wahrheit, und sei es auch einer „unfruchtbaren" Wahr- heit, lehren? Und dann: zeigt nicht gerade die Beflissenheit, mit welcher Oswalt um jene Erkenntnis herumzusteuem und von ihr abzulenken bemüht ist, daß sie seine theoretisch e'n Zirkel empfindlich stört, daß sie also für die theoretische Auffassung unseres Problems keineswegs ohne erheblichen Belang, mit andern Worten, nicht ohne das sein kann, was 470 Anhang. Die Zinsliteratur in der Cregenwart. man theoretische Fruchtbarkeit nennt? Oswalts darauffolgendes Plai- doyer für die praktische Unfruchtbarkeit — daß es nichts nützen wüirde, im praktischen Leben auf jene Erkenntnis gestützt die Zahlung des Zinses zu verweigern — trägt so deutlich das Kennzeichen einer petitio principii, eines Versuches an sich, die Existenz des Zinses als Beweismittel zugunsten einer bestimmten, von ihm bevorzugten Zinstheorie zu monopolisieren, daß ich wohl nichts weiteres darüber zu bemerken brauche^). Nachdem die Kapitalnutzung so zu einem selbständigen Elementar- gut vorgerückt ist, kann sie endlich auch als der von der Nutzungstheorie so emsig gesuchte dritte „Kostenfaktor" präsentiert werden, der ebenso wie die Kostenelemente Arbeit und Bodennutzung in den Wert und Preis der Produkte eingeht (103, 291) und eine Vergütung beansprucht und findet, die eben der Zins darstellt. Hiemit hat Oswalt, der so bescheiden mit einem ganz unpräjudizierlichen bloßen „Namen" und „Bilde" begonnen, die Nutzung Schritt für Schritt in alle die sachlichen Positionen eingeführt, die sie sonst in der herkömmlichen Nutzungstheorie einzunehmen pflegt. Noch ein Schritt war zu tun übrig: Oswalt mußte sich irgendwie über die Beziehungen der „Nutzung" zu den Gütern selbst aussprechen. Er tut es so, daß er die Nutzung in die Güter hineinverlegt; sie sei zwar, wie er einmal sagt, nichts „Körperliches oder Sachliches neben dem Gute selbst" (98), wohl aber sind die Nutzungen laut S. 103 in den betreffenden Gütern „inbegriffen". Man bemerke wohl: auf S. 90 hatte Oswalt wort- deutlich erklärt, daß diejenigen Vorgänge, die zur Redensart von dem „bloßen Benutzen" im Gegensatze zum „Verzehren" überhaupt den Anlaß geben, sich in Wahrheit gar nicht an denjenigen Gütern zutragen, von deren „bloßer Benutzung" man durch eine Redeblume spricht, sondern an ganz anderen Gütern oder Güterelementen; und nun soll etwas, was zugestandenermaßen in Wahrheit mit jenen ersteren Gütern gar nichts ^) Die Auflösung der in den verschiedenen Produktionsperioden verbrauchten oder vernutzten Elapitalgüter in ihre letzten Elemente Arbeit und Bodennutzung muß sich ebenso wie der darauf gebaute Begriff der „durchschnittlichen Produktionsperiode" auch sonst noch zu wiederholtenmalen von Oswalt die Bezeichnung als „theoretisch und praktisch interesselos" gefallen lassen (z. B. S. 292, 296). Oswalt wird dabei nicht gewahr, daß er hiemit einem Kardinalsatz seiner eigenen Theorie den Boden abgräbt. Denn sein eigener Begriff der , .kapitalistischen Methode" behauptet eine durch diese herbeigeführte „Ertragssteigerung" in dem Sinne, daß ,,ein quantitatives oder quali- tatives Mehr an Bedürfnisbefriedigung auf die Einheit direkt und indirekt aufgewendeter Arbeit und Bodennutzung" zuwege gebracht wird. Wie könnte aber Oswalt überhaupt zu einer solchen Repartierung des schließlichen Ertrages auf die Einheit der direkt und indirekt aufgewendeten Arbeit gelangen, ohne wenigstens in Gedanken, also „theoretisch", eben jene verpönte Auflösung vorzunehmen? Dabei schreibt OswALTauf S. 85 auch noch selbst: ,,Aber eine theoretische Betrachtung, die der Sache wirklich auf den Grund gehen will, . . . muß jedes Gut an- sehen als den Inbegriff der Güterelemente, aus denen solche Güter zusammengesetzt werden". Und dennoch „theoretisch interesselos"?! III. Nutzungstheorien. Oswalt. 471 ZU tun hat, gleichwohl als reales Elementargut in ihnen — Gott weiß wie! — eingeschlossen oder inbegriffen sein! Und Oswalt nimmt es mit diesem Inbegriffensein so ernst, daß er mir ungezählte Male als meinen entscheiden- den Kardinalfehler den „Beobachtungsfehler" vorwirft, daß ich die in den Preisgütern ebenfalls inkorporierten oder inbegriffenen Nutzungen über- sehen hätte! ^) Derselbe Oswalt endlich, der auf S. 15 die Nutzung aus- drücklich von den Tatsachen, die zur Erklärung des Zinses herangezogen werden, ausgeschlossen hatte, läßt auf S. 443 seine Lehre in die resümieren- den Worte ausklingen: „Meine Erklärung des Kapitalzinses geht dahin, daß er der im Tauschverkehr sich herausbildende Preis der Kapital- nutzung s«i," in welchem Preise sich der Wert der Kapitalnutzung aus- drücke, der seinerseits aus dem Zusammentreffen von Nützlichkeit und relativer Knappheit eben dieser Kapitalnutzung hervorgehe. Hand aufs Herz: soll in dieser Kette erklärender Gedanken die Kapital- nutzung immer noch nichts anderes als hur ein leerer, unvorgreiflicher, gar nichts erklärender Name sein, oder ist nicht vielmehr die von Oswalt behauptete Existenz eines von ihm mit jenem Namen ausgestatteten realen, selbständigen „Elementargutes" ein indispensables sachliches Zwischengüed seines Erklärungsganges ? Und wann und wo hätte er auch nur ein beweisendes Wort zu Gunsten der realen Existenz eines solchen Elementargutes vorgebracht? Lassen wir uns nicht täuschen: damit hat ja Oswalt natürlich voll- kommen recht, daß der Zins für etwas gezahlt wird und daß dieses „etwas", um einen Wert und Preis erlangen zu können, auch nützlich und relativ knapp sein muß. Aber das Problem liegt ja doch darin, die Natur jenes „Etwas" richtig* zu bestimmen. Und über die Natur dieses Etwas hat Oswalt, solange er ihm nur in wirklich unvorgreiflicher, nichts erschleichen- der Weise den Namen der Kapitalnutzung gibt, natürlich noch gar nicht das mindeste ausgesagt; gerade so wenig, als wenn er ihm — ich entlehne dieses Beispiel von Knies — den Namen Hoho! oder Sasa! gegeben, oder wenn er den in der Mathematik für erst zu erforschende Unbekannte üblichen Ausdruck x dafür eingesetzt hätte. Im besonderen leuchtet ein, daß damit, daß man jenem Etwas einen selbständigen Namen gibt, auch darüber noch nicht das mindeste ausgesagt oder entschieden sein kann, daß jenes Etwas ein nach irgend einer Richtung selbständiges Etwas sein müsse. Ganz konkret gesprochen: an sich bleibt auch die entgegengesetzte Möglichkeit zum allermindesten noch offen, daß die zum Darlehen gegebenen gegenwärtigen Güter selbst das wegen ihrer über- ragenden Nützlichkeit und relativen Knappheit Höherwertige wären, wobei ^) Einmal wirft Oswalt mir sogar das Übersehen der Zinsen selbst vor (S. 6 und 7); für den Urheber einer Zinstheorie, der gewissermaßen das Objekt seiner Er- klärung übersehen hätte, gewiß ein recht kompromittierendes „Übersehen" — freilich nur, wenn er es begangen hätte! 472 Anhang. Die Zinsliterator in der Gegenwart. dann der Zins nicht ein Preis für ein besonderes, selbständiges Etwas, sondern nur ein ergänzendes Teüäquivalent wäre, das zu den rückzu- erstattenden minderwertigen künftigen Gütern hinzutreten und gleich diesen für die empfangenen höherwertigen Gegenwartsgüter selbst geleistet werden müßte. Oswalt kann sogar nicht umhin, diese Auffassung — die meine Auffassung von der Sache ist — bei verschiedenen Gelegenheiten selbst ausdrücklich als eine „Beschreibung*'^) oder „Formulierung" anzu- erkennen, welche „den tatsächlichen Vorgängen" ebenfalls „gerecht wird" (S. 16 u. 100); und dieselbe hat überdies zweifellos den Vorzug, daß sie in keinem Stück etwas zu fingieren braucht, sondern dem von Oswalt dort, wo er „ohne Bild spricht" (S.90 u. 98), geschilderten Tatbestande (Empfang, in der „Vernichtung" bestehende Benutzung des empfangenen und Rück- erstattung eines anderen Gutes) ganz buchstäblich entspricht. Unter diesen Umständen steht jedenfalls soviel fest: Daß von dem Nutzen oder Vorteil, der zweifellos durch den Besitz eines gegenwärtigen Gütervorrates oder Kapitales erreicht werden kann, irgend ein Teü auf die SpezialWirkung eines Sonderelementes, eines besonderen „Elementar- gutes" neben Arbeit und Bodennutzung zurückzuführen sein soll, das folgt weder von selbst schon aus dem bloßen Dasein jenes Nutzens und das kann noch weniger natürlich aus der — zumal unpräjudizierlichenl — Einführung eines Sonder na mens für seine erst zu suchende Ursache (oder TeUursache) gefolgert werden; sondern das ist klipp und klar die Behaup- tung eines sachlichen Novums, das darum auch irgendwie speziell und sachlich hätte bewiesen werden müssen. Von dem Versuche eines solchen sachlichen Beweises finde ich aber bei Oswalt nicht einmal eine Spur. So hat denn wohl auch Oswalt die Nutzungstheorie auf keine trag- fähigere Grundlage gestellt als seine Vorgänger. Im Gegenteile, er hat nur noch auffälliger als diese seine Sache aus bloßen Kedensarten empor- ^) Oswalt will, ähnlich wie vor ihm schon Cassel (Nature and necessity of interest S. 62), darauf bestehen, daß dies nur eine noch gar nichts erklärende „Be- schreibung" der das Problem bildenden Erscheinung sei (8, 100). Ich kann mich dieser Meinung nicht ganz anschließen. Ich glaube vielmehr, daß der Satz vom Mehrwert gegenwärtiger gegenüber künftigen Gütern bereits eine erste und gar nicht unwichtige Station auf dem Wege der Erklärung des Zinses darstellt, eine Station, deren An- nahme bereits eine Absage an die Erklärungsgedanken der meisten, wo nicht aller anderen Zinstheorien bedeutet; so z. B. sicherlich der Ausbeutungs-, der Abstinenz-, der Arbeits- und auch der Nutzungstheorie. Sie präjudiziert • nämlich bereits darüber, daß der Zins ein Teiläquivalent für die gegenwärtigen Güter selbst und nicht ein Sonder- äquivalent für irgend ein postuliertes Sonderelement ist. Auch Cassel hat offenbar nicht durchdacht, wie sehr er sich damit widerspricht, daß er den Mehrwert der gegen- wärtigen Güter als (wenn auch erst zu erklärende) Tatsache anerkennt, also anerkennt, daß z. B. nicht 100, sondern erst 105 nächstjährige Güter das Äquivalent von 100 gegen- wärtigen Güterstücken bilden, dann aber gleichwohl den Teilbetrag von 6, der als Zins gezahlt wird, als ein Extraäquivalent für ein besonderes, neben den dargeliehenen Gütern übertragenes Element „Kapitalnutzung" erklären willl III. Natzimgsthcorien. Oswalt. 4^ gebaut. Es liegt geradezu die unterscheidende persönliche Note Oswalts gegenüber allen vorangegangenen Nutzungstheoretikern in dem unum- wunden und ausdrücklich an die Spitze gestellten Bekenntm*s, daß seine „Nutzung" nur eine Redensart, nur ein „Name'', ein mit der Sache sich keineswegs deckender „bildlicher Ausdruck" sei Indem er selbst offen für den bloß rhetorischen Charakter seines Grundbegriffes plaidiert, ent- rückt er diesen vorerst allen den kritischen Ansprüchen, die gegenüber einem ernstgemeinten sachlichen Träger erhoben werden müßten, deren Erfüllung aber natürlich niemand von einer luftigen bloßen Redefigur verlangt; nachdem er aber sein und unser kritisches Gewissen hiemit ein- geschläfert hat, läßt er hinter dem deckenden Mantel des bloßen Namens doch wieder Zug um Zug eine recht anspruchsvolle, mit recht wesenhaften Attributen ausgestattete Sache auftauchen, und zwar ohne irgend eine der Pflichten zu erfüllen, die die offene Behauptung einer solchen Sache auf- erlegt hätte. Natürlich bleiben unter diesen Umständen gegenüber seiner Präsen- tation der Nutzungstheorie alle diejem'gen kritischen Einwendungen in vollem Umfange aufrecht, die ich im VIII. Abschnitt dieses Werkes der Nutzungstheorie überhaupt entgegengestellt habe und mit deren speziell auf OswALT zugespitzter Wiederholung ich den Leser nicht mehr ermüden zu dürfen glaube. Nur die eine Bemerkung sei hinzugefügt, daß aus den von mir der Nutzungstheorie entgegengestellten kritischen Dilemmas jedenfalls auch der von Margolin ersonnene und von Oswalt beifäUig übernommene Einwurf nicht herauszuhelfen vermag, welcher auf das paritätische Vorhandensein von Ewignutzungen auf beiden Seiten jedes Güteraustausches, beim Kaufgut und beim Preisgut, hinweist^). Denn folgerichtig ausgedacht verstricken auch diese Künsteleien überall wieder in Widersprüche und sind daher ein nicht weniger nutzloses als gekünsteltes Auskunftsmittel — ganz abgesehen davon, daß sie auch eine offenbare petitio principii enthalten: denn während ja die Frage ist, ob solche „Nutzungen" als ein reelles, selbständiges Etwas überhaupt existieren und existieren können, setzt der Hinweis auf die auch auf der Gegenseite existierenden Nutzungen die zu beweisende Existenz solcher Nutzungen bereits als feststehend voraus 1 — Während ich in der Frage, ob und welche Rolle der Begriff der Kapital- nutzung in der Erklärung des Zinses zu spielen hat, zu Oswalt in dem denkbar schärfsten und durch nichts zu überbrückenden Gegensatze stehe, kommen wir uns in vielen anderen Fragen, die ebenfalls in die Erklärung der Zinserscheinung hineinspielen, erheblich näher; insbesondere trennen uns in der Auffassung vom Wesen und von den Folgew^kungen der zeit- ») Siehe oben S. 239f, und Oswalt S. 6ff., insbesondere S. 8. Er konstruiert daraus den oben (S. 471) besprochenen „Beobachtungsfehler", den er mir zum Vor- wurfe macht. 474 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. raubenden kapitalistischen Produktionsmethoden fast nur Verschieden- heiten im Ausdrucke^). Da Oswalt selbst weit weniger Wert auf die von ihm als bloße Formulierungssache behandelte Vertretung des Nutzungs- gedankens als auf sein Arrangement derjenigen reellen Tatsachen legt, ^e ihm den Wert und Preis der Nutzung zu begründen scheinen, so würde er wahrscheinlich meine Darstellung seiner Theorie für ungebührlich lückenhaft halten, wenn ich nicht zum Schlüsse auch noch auf diesen ihm am wichtigsten erscheinenden Teil seiner Lehre wenigstens in Kürze einginge. Oswalt sieht als die „zinsbegründenden Tatsachen" an 1. eine „tech- nische Tatsache", die in der Mehrergiebigkeit der zeitraubenden kapita- listischen Methoden der Produktion und Konsumtion besteht; 2. eine „subjektive Tatsache", die er bündig auch als „die Anforde- rungen des laufenden Konsums" bezeichnet und die ein Hindernis bilden kann, die Vorteile der ersten, technischen Tatsache voll auszunützen; und 3. eine „historische Tatsache", ob es nämlich den Menschen tatsächlich gelungen ist, die Anforderungen des laufenden Konsums in einer solchen Weise einzuschränken, daß diese kein Hindernis mehr dafür bilden, daß überall die im Sinne der ersten Tatsache technisch ergiebigste, oder, was dasselbe ist, billigste Methode angewendet werden kann. Die technische Tatsache begründet in diesem Zusammenhange die Nützlichkeit des Elementargutes Kapitalnutzung, die subjektive Tat- sache kann dadurch, daß sie die existierende Menge von Kapital und Kapitalnutzung knapp hält, ihren Wert begründen, und von der dritten, historischen Tatsache hängt es ab, ob diese relative Knappheit und der aus ihr entspringende Wert der Kapitalnutzungen tatsächlich eintritt, in welchem Falle der Zins entsteht. Die Entstehung des letzteren setzt daher nach Oswalt stets das gleichzeitige Zusammenwirken aller drei Gründe voraus, welchen Ausspruch Oswalt mit einer lebhaften Polemik gegen meine Theorie begleitet, insoferne ich gelegentlich ausgesprochen hatte, daß von meinen (freilich . mit Oswalts drei Gründen nicht iden- tischen!) drei Gründen der Zinsentstehung jeder auch für sich allein, wenn ^) Wie Oswalt S. 434 in der Note erzählt, ist er deshalb von Eulenburg schlecht- weg als mein ,, Interpret" bezeichnet worden — eine Bezeichnung, gegen die sich mir Oswalt mit vollem Recht zu verwahren scheint und die auch ich von meinem Stand- punkte nicht gut gelten lassen könnte. Ich habe mich darum auch in die weitläufigen Kontroversen, die Oswalt mit v. Bortkiewicz über meine Zinstheorie geführt hat (in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung usw. Bd. XXXI, und neuerdings auch in seinen ,, Beiträgen zur Theorie des Kapitalzinses"), absichtlich mit keinem Worte ein- gemischt; denn ich hätte sonst gegen manche wohlgemeinte , .Verteidigung" meiner Theorie mich selbst wieder verteidigen müssen! III. Nutzungstheorien. Oswalt. 475 auch nur in schwächerem Grade, das Zinsphänomen hervorzurufen im Stande wäre^). Trotz dieser Polemik scheint mir im Inhalt unserer beiderseitigen Lehren — wenn man von der Einschaltung des angeblichen Elementar- gutes Kapitalnutzung in die Erklärungskette absieht — sehr wenig Unter- schied zu bestehen. Die Unterschiede betreffen mehr nur die äußere An- ordnung. Um diese richtig beurteilen zu können, sei vorweg bemerkt, daß OswALTs „technische Tatsache" im wesentlichen mit meinem „dritten Grunde" identisch ist, während Oswalts „Anforderungen des laufenden Konsums" mir ein etwas weitmaschiger Sammelname zu sein scheint, der mehrere recht heterogene Tatsachengruppen ohne genauere Unter- scheidung zusammenmischt. Die „Anforderungen des laufenden Konsums" schließen nämlich in sich 1. meinen ganzen „ersten Grund", d. i. jene Fälle, in denen eine erhöhte Wichtigkeit gegenwärtiger Bedürfnisse durch ganz konkrete, zu Ungunsten der Gegenwart liegende Versorgungsverhält- nisse begründet wird; 2. meinen „zweiten Grund", welcher Ursachen und Fälle vorsieht, in welchen objektiv gleich intensiven Bedürfnisseh der Gegenwart ein Vorzug vor künftigen Bedürfnissen des gleichen Intensitäts- grades eingeräumt wird; darüber hinaus aber auch noch 3. eine Tatsache ganz allgemeiner Natur, welche gar keinen speziellen Grund für eine Bevor- zugung von gegenwärtigen Gütern namhaft macht, sondern nichts anderes, als eine der elementarsten Voraussetzungen jeder rationellen Wirtschafts- führung, nämlich das Handeln nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit zum Inhalt hat. Oswalt weist näjolich den „Anforderungen des laufenden Konsums" bei der Entstehung des Zinses die Funktion zu, zu hindern, daß die ^originären Produktivkräfte auf der ganzen Linie in die technisch ergiebigsten, zeitraubendsten Produktionsmethoden investiert werden können. Ganz richtig. Aber an der Erfüllung dieser Funktion ist unter anderm auch und zwar mit dem weitaus stärksten Anteil die überaus simple Tatsache beteiligt, daß wir bei der Befriedigung unserer Bedürfnisse regulärer Weise vermöge des Prinzips der Wirtschaftlichkeit nach der Rangordnung ihrer Wichtigkeit vorgehen. Wenn nun von unseren Be- dürfnissen ein Teil der Zukunft, ein anderer Teil aber natürlich jeweüs schon der Gegenwart angehört, so versteht es sich von selbst, daß auch ohne jede prinzipielle Bevorzugung -der gegenwärtigen Bedürfnisse diese, soweit sie schon an sich die wichtigeren sind, vor minder wichtigen Be- dürfnissen der Zukunft zur Deckung gebracht werden müssen. Und diese simple Tatsache führt nun weiter zu der von Oswalt ganz zutreffend behaupteten „Hinderung" auf folgendem, auch schon von mir in meiner positiven Theorie auf S. 348 ganz ausdrücklich geschilderten Wege: Würde man, was mit einer un gemessenen kapitalbildenden Ersparung verbunden ' 1) Oswalt a. a. 0. S. 82ff., 90ff., 235ff., 443f. 476 Anhang. Die Zinsliterator in der Gegenwart. wäre, die originären Produktivmittel der Gegenwart ausscUießlich oder vorzugsweise in den technisch ergiebigsten Methoden auf Produktionsziele einer weit entlegenen Zukunft richten, so würde dies dazu führen, daß für die Bedürfnisse einer ferneren Zukunft überreichlich, für die Bedürfnisse der Gegenwart und näheren Zukunft aber unverhältnismäßig knapp vor- gesorgt würde, mit anderen Worten, daß wichtigere Bedürfnisse der näheren Zukunft ungedeckt blieben, während minder wichtige Bedürfnisse einer ferneren Zukunft schon vor ihnen zur Deckung kämen, was ganz einfach dem elementaren Grundsatz jeder rationellen Wirtschaft, die Bedürfnisse in der Rangordnung ihrer Wichtigkeit zur Befriedigung zu bringen, wider- spräche. Daß also jene simplen und allgemeinen Tatsachen indirekt — durch Herbeiführung einer „Kapitalknappheit" — auch an der Entstehung des Zinses beteiligt sind, darüber besteht zwischen Oswalt und mir keinerlei Meinungsverschiedenheit und von einem „Übersehen" meinerseits kann hier keine Rede sein^). Der Unterschied besteht nur darin, daß Oswalt der Meinung war, durch eine geflissenthch erweiterte Fassung seiner „subjektiven Tatsache" auch noch solche Tatsachen, die zu den allge- meinsten Voraussetzungen jeder menschlichen Wirtschaftsführung ge- hören, unter die speziellen „Zinsentstehungsgründe" einbeziehen zu sollen, während ich der abweichenden Meinung war und bin, daß als spezielle Zinsentstehungsgründe eben nur spezielle Gründe einer Bevorzugung der gegenwärtigen Güter namhaft zu machen, die allgemeinen Grundtat- sachen jeder rationellen Wirtschaftsführung aber nur in das Räsonnement am gehörigen Platze jedesmal dort einzuflechten seien, wo die Ableitung des Zinsphänomens aus den namhaft gemachten speziellen Zinsentstehungs- gründen dies erfordert. Mit andern Worten: obwohl ich voUkommen davon überzeugt bin, daß es eine Zinserscheinung — freilich auch eine menschliche Wirtschaft — überhaupt nicht geben könnte, wenn es keine Bedürfnisse gäbe oder wenn ihre Nichtbefriedigung dem Menschen keinerlei Unbehagen verursachte, so halte ich es dennoch weder für notwendig noch für passend, deshalb meinen drei Zinsentstehungsgründen als einen besonderen 4. Grund „die Existenz menschlicher Bedürfnisse" und als einen 5. die „nachteiligen Folgen ihrer Nichtbefriedigung" anzureihen; ich müßte ja dann mit ebenso- viel Fug und Recht z. B. auch noch 6. die Existenz von Gütern, 7. spezieü die Existenz von wirtschaftlichen Gütern, 8. die Befolgung des Prinzips *) Motiviere ich ja doch im Verlaufe meines ganzen Buches die Existenz einer das Angebot überflügelnden und dadurch zinserzeugenden Nachfrage nach gegen- wärtigen Gütern immerfort geradezu mit der Notwendigkeit, für die Subsistena der Zwischenzeit vorzusorgen, die während der langdauernden Produktionsumwege verstreichen muß, also mit eben dem, was Oswalt die „Anforderungen des laufenden Konsums" nennt 1 III. Natzungstheorien. Oswalt. 477 der Wirtschaftlichkeit, 9. die Schätzung der Güter nach ihrem Grenznutzen u. dgl. als ebenso viele weitere besondere „Zinsentstehungsgründe" auf- zählen, da ja auch von diesen allgemeinen Tatsachen keine einzige bei der Vollerklärung des Zinsphänomens entbehrt werden kann. Das was OswALT über meine beiden ersten Gründe hinaus in seine zinsbegründende „subjektive Tatsache" aufnimmt, besagt aber in Wirklichkeit nicht mehr and nicht weniger, als was eben jene unter 4. und 5. aufgezählten allge- meinen Selbstverständlichkeiten besagen. Denn der Hinweis, daß es laufende, gegenwärtige Bedürfnisse zu versorgen gibt, ist nur scheinbar inhaltsreicher als die ganz allgemeine Aussage, daß es überhaupt mensch- liche Bedürfnisse gibt: denn wenn solche überhaupt existieren, versteht es sich ja doch von selbst, daß sie nicht immer nur in der Zukunft schweben, sondern auch in der jeweiligen Gegenwart existieren müssen; und wenn OswALT (S. 85) davon spricht, daß ein Versuch, die Befriedigung dieser Bedürfnisse „über ein gewisses Maß hinaus auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben", den „physischen Untergang des Menschen" oder doch „eine Beeinträchtigung des materiellen Wohlbefindens" zur Folge haben ¥rürde, so ist dies in anderer sprachlicher Einkleidung doch nur ein Hin- weis auf die nachteiligen Folgen jeder Nichtbefriedigung von Bedürfnissen: denn ein „noch nicht Befriedigen" ist eben auch ein „Nicht-Befriedigen" der gegenwärtig gefühlten Bedürfnisse, und ein „Verschieben" ist ein mit der Absicht eines künftigen Befriedigungsaktes verbrämtes, aber doch ein Unterlassen eines gegenwärtigen Befriedigungsaktes, wobei jene Absicht natürlich weder an der Schwere der Unterlassungsfolgen irgend etwas ändern oder müdem, noch auch bewirken kann, daß der künftige Befriedigungsakt, falls er überhaupt zustande kommt, jemals zu einer Befriedigung des gegenwärtigen Bedürfnisses, zu einer Stillung der gegenwärtig empfundenen Mängel oder Leiden werden kann; er kommt vielmehr, wenn überhaupt, einer anderen als der definitiv ungestillten gegenwärtigen Bedürfnisregung zu Gute. Wenn ich die Befriedigung meines heutigen Frühstückshungers auf morgen „verschiebe", so habe ich heute definitiv gehungert, nicht mehr und nicht weniger, als wenn ich von vorneherein beschlossen hätte, mein heutiges Frühstück definitiv „ausfallen" zu lassen; und wenn ich dann morge^ frühstücke, so wendet dies nur andere, neue Leiden ab, die ich sonst morgen wiederum hätte erdulden müssen. Die schweren Folgen der Nichtbefriedigung gegenwärtiger Bedürfnisse, auf die Oswalt hinweist, können allerdings wirklich und sogar direkt einen Einfluß auf die Bevorzugung gegenwärtiger gegenüber künftigen Gütern ausüben; aber soweit sie dies tun, geht dieser Einfluß eben durch die Motive und Tatbestände entweder meines „ersten" oder meines „zweiten Grandes" hindurch: dringende Not der Gegenwart verschafft im Sinne meines ersten Grundes einer gegenwärtigen Gütersumme den Vorzug vor 478 Anhang, Die Zinsliteratur in der Gegenwart. einer gleich großen Gütersumme in einer voraussichtlich weniger bedrängten Zukunft; und selbst wenn die voraussichtliche Bedrängnis in Gegenwart und Zukunft gleich groß wäre, so würde, soferne wirkliche Existenz- Bedürfnisse in Frage kommen, die Deckung der momentanen Lebensfristijng im Sinne meines zweiten Grundes den Vorrang vor der Deckung einer künftigen Lebensfristung erhalten müssen, und zwar unter der Stichmarke „Kürze und Unsicherheit unseres Lebens": denn wenn die momentane Lebensfristung nicht gedeckt werden kann, dann unterliegt eben die Fort- dauer der Existenz und mit ihr natürlich auch der Nutzen, der von einer erst in einem künftigen Zeitpunkt verfügbaren Gütersumme gezogen werden kann, einer diese letztere Gütersumme entwertenden Unsicherheit. Was aber nach Ausscheidung der in meinen beiden ersten Gründen berücksichtigten speziellen Kombinationen von Oswalts „Anforderungen des laufenden Konsums" noch erübrigt — und Oswalt hat diese ja ge- flissentlich über meine beiden „Gründe" hinaus ausdehnen zu wollen erklärt — scheint mir nach dem Gesagten wirklich lediglich auf die Tri- vialität hinauszulaufen, daß es menschliche Bedürfnisse — und zwar natürlich nicht immer nur in der Zukunft, sondern auch schon in der Gegenwart — überhaupt gibt, und daß diese gegenwärtigen Bedürfnisse, bei Vermeidung der, auf ihre Nichtbefriedigung gesetzten nachteiligen Folgen, natürlich auch irgend welche Ansprüche auf Befriedigung machen müssen. Gewiß ist es weiterhin völlig wahr und zutreffend, daß durch die konkurrierenden Anforderungen der gergenwärtigen Bedürfnisse die Deckung für die künftigen Bedürfnisse knapper wird als sie es sonst gewesen wäre: aber aus diesem Gedanken einen besonderen Zinsentstehungstitel zu for- mulieren, käme mir ebenso vor, als wenn man bei der Erklärung des Wertes irgend einer beliebigen Güterart als einen besonderen, just dieser Güterart zu Gute kommenden „Wertentstehungs"- oder „Werterhöhungs- grund" geltend machen wollte, daß dasjenige Bedürfnis, dem jene Güter- art dient, nicht das einzige menschliche Bedürfnis ist, und daß die An- forderungen, welche die anderen Bedürfniszweige ebenfalls für ihre Deckung stellen, es hindern, daß alle unsere Arbeitskräfte und Bodennutzungen ausschließlich zur Erzeugung jener einzigen Güterart verwendet werden können, in welchem Falle diese freilich viel massenhafter verfügbar, viel niedriger bewertet und vielleicht gar noch ein wertloses, freies Gut sein könnte! Natürlich gibt es Gelegenheiten, bei denen man auch auf so allgemeine und triviale Wahrheiten sich stützen muß — wie z. B. in dem oben zitierten, der Tragweite meines „drittelt Grundes" gewidmeten Räsonnement auf S. 348 meiner Positiven Theorie, oder in noch weiterem Umfange in der ganzen Theorie der Ersparung und der Kapitalbildung i) — aber ich hielt es aus den geschilderten Gründen weder für notwendig, noch 1) Siehe meine Positive Theorie z. B. 183ff. und besonders 636ff., 4. Aufl. S. 137 ff. und besonders 474 ff. III. Nutzungstheorien. Oswalt. 479 auch für angemessen, sie unter jene speziellen Tatsachen zu stellen, welche einen Vorrang der gegenwärtigen über die künftigen Güter be- gründen. Und ähnliches gilt wohl auch vom dritten „historischen" Grund OswALTS. Im Tatsächlichen stimme ich dem Erfordernis „relativer Knappheit" — natürlich nicht der imaginären Kapitalnutzungen, sondern der gegenwärtigen Güter — durchaus zu und habe dieses Moment in meiner Lehre auch oftmals und höchst ausdrücklich betont^). Ich halte aber seine selbständige und paritätische Einreihung unter die Gründe einer Höherschätzung der gegenwärtigen Güter für pleonastisch, weil die „Kapitalknappheit", wo sie auftritt, eine durch die anderen „Gründe" der Zinsentstehung erzeugte Zwischen Wirkung und nicht ein besonderer Grund neben ihnen ist. Dieser Sachverhalt wird eigentlich auch von Oswalt selbst ganz deutlich erkannt und sogar ausdrücklich ausgesprochen, wenn er (S. 82) den Zins aus dem Zusammentreffen von nur zwei Tat- sachen, der „technischen" und der „subjektiven" Tatsache entstehen läßt, und die als dritte Post aufgezählte „historische" Tatsache, welche die durch die beiden ersten Tatsachen zunächst geschaffene „Mög- lichkeit" des Zinses zur „Wirklichkeit" mache (S. 86), „genauer" als den „Wirkungsgrad der genannten zwei Faktoren" definiert. So viel zur Beurteilung, ob Oswalts verändertes Arrangement der von uns gleichmäßig erkannten allgemeinen und speziellen zinsbegründen- den Tatsachen ein verbessertes Arrangement ist. Und nun noch ein paar Worte über die von ihm in scharfer Polemik hervorgekehrte Meinung, daß nicht, wie ich geäußert hatte, jeder meiner drei Gründe der Zins- entstehung auch für sich allein, sondern nur die technische und die sub- jektive Tatsache in ihrem Zusammenwirken die Zinserscheinung zu Stande bringen können. Ich glaube, daß diese Polemik zur Hälfte auf einem Mißverständnis und zur anderen Hälfte auf einem sachlichen Irrtum beruht. Sachlich irrig scheint mir Oswalts Behauptung zu sein, daß ohne die Mitwirkung seines ersten (meines „dritten") Grundes, d. i. ohne größere technische Ergiebigkeit der kapitaJistischen Methoden ein Zins überhaupt ein existieren könnte. Ich habe im Gegenteile gar keinen Zweifel, daß auch ohne jede Mitwirkung dieses Grundes, z. B. bei einem von ganz unkapitalistischem Früchtesammeln lebenden Volksstamme Konsumtiv- darlehen mit „Konsumtivzins" ganz wohl auftreten könnten. Als mißverständlich aber läßt sich nach dem früher Gesagten leicht der polemische Einwurf erkennen, daß mein dritter Grund nicht für sich „allein", sondern nur in Verbindung mit Oswalts „subjektiver Tatsache" den Zins hervorrufen könne. Natürlich kann er es nicht ohne denjenigen 1) Z. B. Pos. Theorie S. 540f., 4. Aufl. S. 402f. und Exkurs XII S. 350f.. 4. Aufl. S. 257. 480 Anhang. Die Zinsliteratoi in der Gegenwart. Teil von Oswalts „subjektiver Tatsache", um den diese gegenüber meinen beiden ersten Gründen in das Selbstverständliche hinüber ausgebaucht ist; natürlich könnte er es nämlich nicht, wenn gar keine gegenwärtigen Bedürfnisse existieren oder wenn diese entgegen dem Prinzip der Wirt- schaftlichkeit grundsätzlich hintangesetzt werden würden. Wohl aber kann er es in dem Sinne „für sich allein", in dem ich dies behauptet hatte, nämlich ohne die Mitwirkung eines von meinen beideo ersten Gründen der Zinsentstehung ^). Ich möchte die Besprechung Oswalts nicht ohne die ausdrückliche Wiederholung einer Bemerkung schließen, die ich schon bezüglich mehrerer Autoren vorzubringen die Pflicht fühlte: daß mich nämlich meine kritische Aufgabe leider zwingt, in einseitiger Weise gerade auf die Fehler und Mängel einer Lehre hinzuweisen, die außerhalb der strittigen Punkte eine Fülle glänzender Proben tiefer theoretischer Einsicht verbunden mit hoher Kunst wissenschaftlicher Darstellung aufweist. IV. Die Abstinenztheorie ist während der letzten drei Dezennien der Gegenstand lebhafter, fast möchte ich sagen, unerwartet lebhafter theo- retischer Bemühungen gewesen. Sie hat, um vorerst mit einigen Einzelheiten zu beginnen, einen inter- essanten Sukkurs dadurch erhalten, daß sie von einigen Schriftstellern wirksam gegen denjenigen Einwand verteidigt wurde, welcher in der agitatorischen, zumal von sozialistischer Seite gegen sie gerichteten Polemik die lärmendste Rolle gespielt hatte. Es war dies der Einwand gewesen, daß gerade die größten Kapitalisten am wenigsten „Abstinenz" zu üben Anlaß haben, und sohin eine offenbare Disharmonie zwischen der Größe der prätendierten Ursache — der geübten Abstinenz — und ihrer vermeint- lichen Wirkung — der bezogenen Zinssumme — bestehe. In Anwendung eines der Ricardianischen und der Grenznutzenth«orie gemeinsamen Gedankens wurde indes nunmehr von verschiedenen Seiten nicht mit Unrecht darauf hingewiesen daß jene Disharmonie bei nüchterner Überlegung noch keinen zwingenden Grund gegen die Richtigkeit der Abstinenztheorie abgeben könne. Denn €S sei zu erwägen, daß ja grund- sätzlich die Vergütung, mit welcher der Marktpreis der Produkte die zu ihrer Erzeugung gebrachten Opfer belohnt, bei verschiedener Größe dieser Opfer sich mit den höchsten noch erforderlichen Opfern ins Gleichgewicht zu stellen strebt. Es sei darum nicht verwunderlich, wenn die gleiche, *) Durch die seitherigen, noch detaillierteren Erläuterungen in meinem Exkurs XII (der OswALT noch nicht vorlag) dürfte diesem und ähnlichen Mißverständnissen der Boden wohl völlig entzogen sein. lY. Abstüxenztheorien. Macvane. 4g]^ für die höchsten Abstinenzopfer noch ausreichende Zinsrate für jene Personen, welchen die Kapitalbildung und Kapitalerhaltung ein verhältnis- mäßig geringeres Abstinenzopfer auferlegt, eine überschwengliche Be- lohnung dieses ihres Opfers (Marshalls „savers surplus") enthält i). — Aber hiemit war freilich doch nur ein, und zwar nur der oberflächlichste Einwand, gegen die Abstinenztheorie entkräftet; der tiefgehendere, aus inneren logischen Gründen abgeleitete Einwand, auf den ich meine Ab- lehnung der Abstinenztheorie gestützt hatte, wird durch jene Erwägung nicht berührt 2). Sodann wurde eine nicht unwichtige terminologische Neuerung durch Macvane angebahnt, welcher den zu mehrfachen Bedenken Anlaß gebenden Ausdruck „Abstinenz" durch den schwächeren und zutreffenderen Namen „Warten" (waiting) ersetzte 3), Hierin lag eine gewisse Annäherung an den Standpunkt derjenigen Theorie, welche auf das Vorwalten der Zeit- differenz zwischen gegenwärtigen und künftigen Genüssen und Gütern das Hauptgewicht bei ihrer Erklärung des Zinses legt; und es ist be- zeichnend, daß seither nicht wenige der neuesten Vertreter der Abstinenz- theorie diese und die „Agio- Theorie" geradezu für inhaltlich identisch halten*). Allein der Verschmelzung beider Theorien stand und steht doch auch weiterhin das wesentliche Hindernis im Wege, daß der zum „Warten" gemilderten Abstinenz auch von Macvane und seinen Nachfolgern noch die Stellung eines selbständigen, neben der Arbeit besonders zu zählenden Opfers vindiciert wird. Die schon in der früheren Periode bemerklich gewesene Neigung der Abstinenztheoretiker, in eklektischer Weise Erwägungen, die anderen Ideenkreisen angehören, in ihre Erörterung des Zinsproblems einzubeziehen, ^) Am nachdrücklichsten wurde dieser Gedankengang zur Apologie der Ab- stinenztheorie verwertet von Macfaklane, Value and distribution, Philadelphia 1899, S. 175 — 177. Inhaltlich übereinstimmend schon Lokia (la rendita fondiaria, Mailand 1880, S. 619{f.), Marshall mit seiner Theorie vom „savers surplus" (Principles 3. Aufl., London 1895, S. 606); weiter Cabver, Barone und wohl überhaupt alle die ,, Grenz- werttheorie" anerkennenden Forscher, welche gleichzeitig der Abstinenztheorie zu- geneigt sind; siehe auch oben Abschn. IX S. 247f. *) Eine auch hierauf sich ausdehnende Bemerkung Mä.cfarlanes a. a. 0. S. 179 scheint mir doch nicht bis zum Kern der Sache vorzudringen, und mehr eine bloße Gregenbehauptung, als einen Versuch, den Einwand mit Gründen zu erledigen, zu enthalten. ») Analysis of cost of production, Quart. Journ. of Ec, Juli 1887; siehe auch oben S. 455. *) Macfarlanb z. B. ist der Meinung, die von ihm im wesentlichen approbierte ,,Exchange-theory", wie er sie nennt (siehe oben S. 455 Anm. 4), nur in einer ver- besserten und ausgebildeten Form vorzutragen („The theory here proposed is, after all, but an extension of Böhm-Bawerks analysis", a. a. 0. p. 231), für welche verbesserte Form er als ebenfalls verbesserte Bezeichnung den Namen ,, Normal Value theory" vorschlägt. — Ähnlich denkt Carver über das Verhältnis beider Theorien (siehe unten), und vielleicht selbst Prof. Marshall. Böhm- Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 31 482 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. ist auch in der neuesten Zeit wahrzunehmen. Naheliegend und nach dem unmittelbar zuvor Gesagten leicht erklärlich ist die öfters vorkommende Vermischung mit Elementen der „Agio-Theorie". Aber auch andere eklektische Kombinationen sind zu beobachten; bei Loria z. B. eine Kom- bination mit Elementen der Ausbeutungstheorie ^). Aus der Reihe zusammenhängender positiver Darstellungen, welche unserer Theoriengruppe zugehören, glaube ich zwei noch einer speziellen Erörterung unterziehen zu sollen. Eine deshalb, weil sie gleichsam die Musterdarstellung einer zeitgemäß lortgebildeten Abstinenztheorie ist, getragen von der Autorität eines der hervorragendsten Gelehrten, welcher, im Vollbesitz aller Gaben der Forschung und Darstellung stehend, sichtlich bemüht war, eine völlig geschlossene, und dabei doch alle einflußreichen letzten Tatsachen in umfassender Weise berücksichtigende Erklärung zu bieten. Eine zweite Lehre erheischt sodann Beachtung als ein origineller Versuch, dem „Abstinenzopfer" eine ganz neue Deutung unterzulegen. Die erste der beiden Lehren ist jene Alfred Marshalls. Prof. Marshall erkennt die grundlegenden Ursachen des Kapital- zinses in zwei Umständen, die er mit den Schlagworten „prospectiveness" und „produetiveness" des Kapitales bezeichnet. Die „Prospectiveness" liegt darin, daß das Kapital seinen Nutzen erst in der Zukunft bringt: um Kapital zu bilden, müssen die Leute einen Akt der Voraussicht üben (men must act prospectively); sie müssen „warten" und „sparen", sie müssen „die Gegenwart der Zukunft opfern" 2). Die „produetiveness" wird durch ^) Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich die mir allerdings nicht vollkommen deutliche Meinung Lorias in der Hauptsache der Abstinenztheorie zuzähle. Wenigstens, deuten die einläßlichsten Stellen seiner älteren Werke in diese Richtung (Rendita fon- diaria S. 610ff ., Analisi della proprietä capitalista, Turin 1889, passim), und in Über- einstimmung damit wird auch in dem neueren umfassenden Werke des Verfassers (La costituzione economica odierna^ Turin 1899) die ,,astensione" der Kapitalisten als ein bei der Distribution des Produktes eine wesentliche Rolle s^iielendes Element bezeichnet (z. B. S. 36f., 76). In dieselbe Richtung deuten auch die Äußerungen des Autors über die Motive und Grenzen der Accumulation (z. B. Costituzione 73ff., 98f.). Doch finden sich in allen Werken Lorias auch Äußerungen, welche auf die Meinung des Autors schließen lassen, daß an der Zinserscheinung, zum mindesten in ihrer heutigen Gestalt und Ausdehnung, auch das Moment der Ausbeutung einen wesentlichen Teil hat (z. B. Costituzione S. 34f., 821). Eine bekannte Spezialität Lorias ist es, daß er der Ap- propriation des Bodens einen eigentümlich entscheidenden und weitgehenden Einfluß auch auf die Bildung und Höhe des Kapitalgewinnes zuschreibt (z. B. Costituzione 36, 37, 67ff.). Ich halte diese Meinung (eine genauere Darlegung und Bekämpfung derselben findet sich in Graziakis scharfsinnigen Studi sulla teoria delU interesse, Turin 1898, S. 46 — 50) für vollkommen verfehlt, wie ich denn überhaupt die Bemerkung nicht unterdrücken kann, daß mir die theoretischen Spekulationen Lorias vielfach weit mehr phantasievoll als exakt, und häufig mit recht oberflächlichen Mißverständ- nissen der Meinungen anderer durchsetzt zu sein scheinen. *) Principles of Economics, 3. Aufl. S. 142, 662. Die inzwischen erschienene vierte und fünfte Auflage ist in allem wesentlichen mit der dritten übereinstimmend. IV. Abstinenztbeorien. Loria, Marshall. 483 die produktiven Vorteile begründet, weiche die Hilfe des Kapitales bietet: es macht die Produktion leichter und ergiebiger i). Seine Produktivität macht nun das Kapital zum Gegenstand des Begehrs (demand); das Angebot daran wird aber wegen des mit seiner „prospectiveness" ver- bundenen Opfers so niedrig gehalten, daß der Gebrauch des Kapitales einen Preis erlangt und zur Quelle eines Gewinnes wird 2), Alles Genauere ergibt sich dann aus dem allgemeinen Gesetze des Tausches, als dessen bloßen Spezialfall Marshall das Zinsproblem be- trachtet. Nach jenem allgemeinen Gesetze stellt sich der „normale" Wert der Waren auf die Dauer auf demjenigen Niveau fest, in welchem die Nachfrage sich mit den Kosten der Produktion ins Gleichgewicht setzt, wobei Marshall die koordinierte Stellung dieser beiden Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen, besonders betont. Die reellen Kosten werden nun durch die Gesamtheit der „Anstrengungen und Opfer" dargestellt, welche man zur Hervorbringung des Gutes auf sich nehmen muß. Die- selben umfassen außer der Arbeit auch das mit dem „Warten", mit dem von jeder Kapitalbildung und Kapitalanwendung unzertrennlichen Genuß- aufschub (putting off consumption, postponement of enjoyment) ver- bundene „Opfer" (sacrifice)»). Minder passend und zu Mißverständnissen einladend sei es, wenn m,an, wie es seitens der älteren Ökonomisten vielfach geschehen ist, dieses Opfer als „Abstinenz" bezeichnet: denn die stärkste Kapitalanhäufung erfolgt durch sehr reiche Leute, die sicherlich keine „Abstinenz" in dem Sinne von Enthaltsamkeit üben; richtiger sei es viel- mehr, nach dem Vorgang MacVanes, als Inhalt des Opfers einen bloßen Aufschub des Genusses, ein „Warten" (waiting) zu bezeichnen. Immerhin begründet dieses ein echtes, neben der aufgewendeten Arbeit separat zu rechnendes Opfer (668). Dasselbe muß nun, ebenso wie die Arbeit, durch die Dauerpreise der Waren seine Vergütung finden, und zwar nach seiner „marginal rate" (607), d. h., die Vergütung muß groß genug sein, um auch noch für den am un- liebsten, am widerwilligsten dargebrachten Teil des Opfers, dessen Dar- bringung zur Hervorrufung des Angebotes noch notwendig war, ange- messen zu entschädigen (217). Diese Vergütung ist der Kapitalzins, der ^) 142, 622, 751. Prof. Marshali faßt in diesen und überhaupt in allen Stellen, in welchen er die ,,productiveness'' erläutert, dieselbe vollkommen zutreffend als eine technische Produktivität auf, die sich in eintm Mehr an Produktion, die mit dem gleichen Aufwand an originären Produktivkräften erzielt werden können, äußert; also ganz so, wie auch ich die physische oder technische Produktivität in meiner Zinstheorie ver- stehe. Es scheint, daß Prof. Marshall auch darin mit mir übereinstimmt, daß er die kapitalistische Produktion als eine Produktion auf „Umwegen", als „round aboute methods" ansieht (vgr. z. B. Principles 3. 612 aber auch die eher einen Dissens andeutende Note auf S. 664). ^) S. 662. ») a. a. 0. S. 216, 315. 31* 484 Anhang. Die Zinslitcratur in der Gegenwart. sonach zutreffend als ein Lohn für das mit dem Warten verbundene Opfer (reward of the sacrifice involved in the waiting, 314) zu erklären ist. Zwar würden manche Leute auch ohne einen solchen Lohn sparen, wie ja manche auch ohne jeden Lohn arbeiten würden; und viele Teile des Kapitales würden jedenfalls auch bei einem geringeren als dem herrschenden Zins- satze gebildet werden: dies führt indes nur dazu, daß dann eben die be- treffenden Sparer infolge des Grundsatzes, daß der Preis den opfervollsten Teil des Angebotes noch angemessen vergüten muß, eine ihr geringeres Opfer übersteigende Vergütung empfangen, die Marshall als „savers" oder „waiters surplus" bezeichnet. Allein da wenige Leute ohne den im Zinse liegenden Lohn erhebliche Ersparungen machen würden, ist es gleich- wohl gerechtfertigt, den Zins als „reward of waiting" zu erklären (314). Und gegen die Sozialisten sich wendend, welche behaupten, daß der Wert der Waren bloß von der zu ihrer Erzeugung aufgewendeten Menge von Ai'beit abhänge, spricht Marshall mit Emphase aus, daß die Ansicht der Sozialisten dann, aber auch nur dann richtig wäre, wenn der vom Kapitale geleistete Dienst als „freies Gut" ohne Opfer dargeboten werden würde (669); sie sei aber unrichtig, wenn und weil der Aufschub von Be- friedigungen im allgemeinen ein Opfer von Seite des Aufschiebenden erfordert (the postponement of gratifications involves in general a sacrifice on the part of him who postpones; 668). Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich diese von Prof. Marshall vorgetragene Meinung im wesentlichen als eine vorsichtig formulierte und in der Terminologie verbesserte Abstinenztheorie bezeichne. In ihren Grundgedanken trifft sie mit der Lehre Seniors völlig zusammen. Die Kapitalbildung erfordert von Seite des Kapitalisten ein reelles, in der Hinausschiebung des Genußerfolges liegendes Opfer, welches neben der Arbeit einen selbständigen Bestandteil der Produktionskosten bildet, und daher auch im Preise der Güter eine selbständige Vergütung in der Art und nach denjenigen (von Marshall allerdings sorgfältiger formulierten) Gesetzen finden muß, nach welchen überhaupt die Kosten den Preis der Güter beeinflussen^). Begreiflicher Weise kann unter diesen Umständen meine Ansicht über die Zinstheorie Prof. Marshalls nicht weit von derjenigen differieren, die ich in einem früheren Teile dieses Buches über die Abstinenztheorie im allgemeinen ausgesprochen habe. Wenn ich auch vollkommen mit Prof. Marshall darüber einverstanden bin, daß sowohl die „prospecti- veness" als die „productiveness" des Kapitales mit der Erklärung des Zinses etwas zu tun hat, so glaube ich doch, daß die verknüpfende Zwischen- erklärung von ihm ebenso wie von den sonstigen Abstinenztheoretikern in eine Gestalt gebracht wird, in welcher sie einerseits mit den Tatsachen *■) Vgl. die Darstellung der Theorie Seniors oben S. 243ff. IV. Abstinenztheorien. Marshall. 485 nicht im Einklang steht, und andererseits sogar einen Konflikt mit den Denkgesetzen unvermeidlich macht. Vor allem halte ich es für unrichtig, in dem Genußaufschub, der mit der "Widmung von Arbeit für ein zeitlich entferntes Genußziel verbunden ist, ein separates neben der Arbeit selbst zu berechnendes Opfer zu er- blicken. Die Gründe dieser meiner Meinung habe ich oben^) bereits aus- führlich auseinandergesetzt. Allerdings scheinen sie für Prof. Marshall, der ja in voller Kenntnis von ihnen an seiner mit der Abstinenztheorie wesentlich identischen Lehre festhält, nicht ausreichend überzeugend gewesen zu sein. Ich will daher den Versuch machen, sie noch durch einige weitere aufklärende Darlegungen zu unterstützen, und zwar wird mir eine willkommene Anknüpfung für dieselben durch einige Bemerkungen geboten, die sich in der Lehre Marshalls selbst finden. Ähnlich wie Jevons^) hat nämlich auch Marshall in seine Lehre einige psychologische Bemerkungen über das Thema der Schätzung künftiger Leiden und Freuden eingeschaltet. So wie die menschliche Natur tatsächlich beschaffen ist, schätzen die meisten Menschen eine künftige Freude, auch wenn ihre Erlangung vollkonmien sicher wäre, nicht ganz so hoch, als eine gleichartige gegenwärtige Freude, sondern sie schätzen sie, ihre Größe gleichsam „diskontierend", mit einem Abzug, dessen Höhe bei den einzelnen Personen sehr ungleich ist, und mit dem verschiedenen Grade von Geduld und Selbstbeherrschung zusammenhängt, über den dieselben verfügen 3). Der gegenwärtige Wert einer künftigen Freude und daher auch der gegenwärtige Grenznutzen einer zeitlich entfernten Quelle eines Genusses (the present marginal utility of a distant source of pleasure) ist daher geringer als der Wert einer gleichen gegen- wärtigen Freude, oder auch als der Wert derselben künftigen Freude in demjenigen Zeitpunkte sein wird, in welchem sie tatsächlich eintreten wird. Diskontiert jemand z. B. nach seinem Temperament überhaupt künftige Freuden nach dem Satze von 10%, so wird er den gegenwärtigen Wert einer Freude, die noch ein Jahr entfernt ist und dann eine faktische 1) Im Abschnitt IX. *) Siehe oben S. 421f. ') Principles 196 — 197; ähnlich 794 und öfters. Marshall unterscheidet dabei diese Minderschätzung künftiger Freuden ebenso klar als richtig von anderen Schätzungs- differenzen, die aus Anlaß einer zeitlichen Differenz vorkommen können, aber anderen Ursprungs sind: nämlich einerseits von Minderschätzungen künftiger Freuden und Güter, die aus der Unsicherheit ihrer Erlangung stammen, und andererseits von Schätzungsdifferenzen, die daher stammen, daß durch eine Änderung in den sonstigen Umständen der Charakter oder die Größe der künftigen Freude selbst sich ändert; z. B. wegen einer voraussichtlichen Änderung in der Genußfähigkeit (Alpenturen in vorgerückten Jahren!) oder wegen einer den Grenznutzen beeinflussenden Änderimg in der Reichlichkeit des Vorrates (Eier, die auf den Winter aufgespart werden). 486 Anhang. Die Zinsliteratur in def Gegenwart. Größe von 11 haben wird, grob gerechnet^), heute auf 10 schätzen. Aus zahlreichen Äußerungen Marshalls geht nun hervor, daß die psycho- logische Tatsache, daß die große Masse der Menschheit den gegenwärtigen Befriedigungen einen Vorzug vor künftigen gibt, eben dieselbe ist, auf welche sich seine Annahme gründet, daß das Warten ein Opfer involviert*). Daß wir gegenwärtigen Freuden vor künftigen gleich großen Freuden im allgemeinen den Vorzug geben und daß wir das Warten auf künftige Genüsse ebenfalls im allgemeinen als ein den Erlangungsaufwand er- höhendes Opfer empfinden, sind in Marshalls Lehre nur zwei verschiedene Ausdrucksweisen für eine und dieselbe psychologische Tatsache. Tatsächlich sind es aber nicht verschiedene Ausdrucks-, sondern verschiedene Auffassungsweisen und zwar, was für unsere Frage von Interesse ist, zwei widerstreitende, zwei miteinander unvereinbare Auf- fassungsweisen, von denen die eine richtig, die andere falsch ist, die aber jedenfalls unmöglich beide nebeneinander vertreten werden können. Die Sache liegt nämlich folgendermaßen. Von keiner Seite bezweifelte Erfahrung ist es, daß jene psychologische Tatsache, um deren richtige Deutung es sich handelt, sich unter anderem darin wirksam zeigt, daß wir für sonst gleichstehende, aber verschieden entfernte Genußziele ungleich große Arbeits- oder Geldopfer zu bringen geneigt sind. Ist z. B. der objektive Betrag eines Genußzieles 10, so werden wir, wenn dieses Genußziel im Augenblick zu erreichen ist, geneigt sein, für seine Erlangung ein Arbeitsopfer bis zu dem gleichen Belaufe von 10, oder ein äquivalentes Geldopfer, z. B. bis zu 10 fl, auf uns zu nehmen. Steht dagegen dasselbe Genußziel im Betrage von 10 um ein Jahr ab, so werden wir, wenn jene psychologische Tatsache nach unseren speziellen Verhältnissen bei uns mit einer Kraft wirksam ist, die eine Diskontierungs- rate von 10% erfordert, zu seiner Erlangung eine gegenwärtige Arbeits- mühe von höchstens etwas mehr als 9 (genau 9,09), oder ein Geldopfer von höchstens etwas mehr als 9 fl. (genau 9 fl. 9 kr.) aufzuwenden geneigt sein. Stünde dasselbe Genußziel fünf Jahre ab, so würde unsere Bereit- willigkeit, dasselbe durch ein gegenwärtiges Opfer an Arbeit öder Geld zu erlangen, schon bei einer Arbeitsmühe von etwa 6 (genau 6,21) oder einem Geldopfer von 6 fl. 21 kr. ihre Grenze finden 3), ^) Nämlich mit Vernachlässigung des Zinseszinses; Marshall selbst entwickelt dafür in der mathematischen Note V des Anhanges zu seinen Principles eine genaue algebraische Formel. «) 331ff., 429 Note 1, 662, 663 Note 1, 668: indirekt auch ^794 Note V, insofern das „interest", welfches anderwärts als ,, reward of waiting" erklärt wird, mit dem „dis- counting" der „future pleasures" in Verbindung gebracht wird. *) Ich setze hier und im folgenden der Einfachheit halber immer voraus, daß das ganze Arbeits- oder Geldopfer auf einmal, also in einem einzigen, und zwar dem gegen- wärtigen Zeitpunkte gebracht wird. IV. Abstinenztheorien. Marshall. 487 Diese Tatsache, über deren Tatsächlichkeit, wie gesagt, zwischen Marshall und mir keinerlei Meinungsverschiedenheit besteht^), könnte an sich zwei Auslegungen zulassen. Eine mögliche Auslegung würde dahin gehen, daß der zeitliche Abstand die Größe des Genußzieles in unseren Augen Verkleinert: wir schlagen einen künftigen Nutzen, weil er künftig ist, niedriger an, als wenn er gegenwärtig wäre. Dies ist diejenige Aus- legung, welche in den oben erwähnten psychologischen Bemerkungen Marshalls über die Schätzung künftiger Freuden zum Ausdruck kommt. Der gegenwärtige Wert der künftigen Freude ist kleiner als 10, er ist bei einem zeitlichen Abstand von einem Jahre nur ungefähr 9, bei einem Abstand von fünf Jahren nur ungefähr 6: und weil uns das nicht mehr wert ist als 9, beziehungsweise 6, nehmen wir eben auch für seine Erlangung kein größeres Opfer auf uns, als durch die Ziffern 9 und 6 angezeigt wird. Es liegt nun klar auf der Hand, daß bei dieser Auffassung die Ziffern 9 und 6 nicht bloß die Größe eines aus Arbeit oder Geld bestehenden Opfer- teiles, sondern daß sie die Größe des Gesamtopfers bezeichnen und begrenzen müssen, das wir überhaupt für die Erlangung des künftigen Genusses auf uns zu nehmen geneigt sind; mit anderen Worten, daß bei dieser Auslegung für ein additionelles Opfer an „waiting", welches neben dem Arbeits- oder Geldopfer gebracht würde, kein Raum ist: denn es liegt nicht minder auf der Hand, daß es allen Grundsätzen des ökono- mischen Handelns widersprechen würde, daß wir für eine Freude, die wir nur auf 9 oder 6 schätzen, eine Summe von Opfern auf uns nehmen sollten, die aus Arbeit und waiting oder Geld und waiting sich zusammensetzend, einen den Wert des Zieles selbst übersteigenden Belauf, z. B. den Belauf von 10 erreichen würde. Umgekehrt leitet die zweite an sich denkbare Auslegung gerade auf die Annahme eines Opfers von solchem größeren Belaufe hin. Es ist diejenige Auslegung, welche in den Äußerungen Marshalls über die Existenz eines neben der Arbeit separat darzubringenden Opfers an „waiting" zum Ausdruck kommt. Sie legt sich den kritischen Tatbestand folgendermaßen zurecht: Die Aussicht auf ein künftiges Genußziel, welches nach einem oder nach fünf Jahren einen Wert von 10 haben wird, bestimmt uns, eine Summe von Opfern auf uns zu nehmen, die sich auf Arbeit und Warten zusammensetzt, und die von uns, und zwar unter Berücksichtigung des Grades der Lästigkeit, die uns das Warten bereitet, und der mutmaß- lichen Dauer dieses Wartens, zusammengenommen auf 1 veranschlagt wird. ^) Marshall registriert sie z. B. in einem Beispiele vom Bau eiiies Hauses, dessen Utility „when finished" die „efforts required for building" nebst einem „amount in- creasing in geometrical proportion (a sort of Compound interest) i'or the period that would elapse between each effort and the time when the house would be ready for his use" bedecken muß (429). 488 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Ich glaube, es liegt wiederum auf der Hand, daß diese Auslegung des Sachverhaltes voraussetzt, daß die Aussicht auf den zu erlangenden künftigen Genuß auf unsere gegenwärtige Entschließung mit der vollen, unverminderten Größe jenes Genusses einwirkt: nur wenn wir das künftige Genußziel mit seiner unverminderten Größe von 10 anschlagen, können wir uns vernünftiger und wirtschaftlicher Weise dazu entschließen, für seine Erlangung ein Gesamtopfer in der Größe von 10 auf uns zu nehmen. Die Abstinenztheorie pointiert diesen Gedanken sogar besonders nach- drücklich aus. Sie lehrt ja, daß der Wert der künftigen Produktions- und Genußziele eben deshalb nicht unter die (beispielsmäßig angenommene Ziffer) von 10 herunternivelliert werden könne, weil das Hinzutreten des Warteopfers den Belauf der Gesamtkosten auf jene Summe erhöht und der Produzent bei einem geringeren Werte des Zieles sich für diese Opfer- größe nicht ausreichend entschädigt fühlen würde — ein Gedankengang, der auf das ausdrücklichste voraussetzt, daß der Wert des künftigen Zieles im Kalkül des Produzenten mit der unverminderten Größe von 10 figuriert. Es liegt daher, mit andern Worten, auf der Hand, daß wir uns der zweiten Auslegung nur dann zuwenden können, wenn wir der ersten den Rücken kehren. Wir mögen entweder annehmen, daß der zeitliche Abstand den Nutzen eines erwarteten künftigen Zieles in unserer Schätzung verkleinert, oder, daß derselbe die in unserer Schätzung zu berücksichtigen- den Opfer um das „Warteopfer" vergrößert: aber so viel ist gewiß, daß wir unmöglich beides zugleich annehmen können. Es wäre ein wirtschaft- liches und mathematisches Nonsens, daß im Kalkül des Produzenten der künftige Nutzen von 10 auf 6 verkleinert, das Opfer aber gleichzeitig vermöge der Zurechnung des Warteopfers von 6 auf 10 vergrößert ange- nommen und die Produktion dennoch lohnend befunden werden sollte! Um jeder möglichen Abirrung auf ein falsches Geleise von vornherein den Weg zu verlegen, will ich sofort einem gewissen denkbaren Gegen- einwand entgegentreten. Bei oberflächlicher Beobachtung könnte man nämlich vielleicht noch versucht sein, die Sache sich folgendermaßen zurecht zu legen. Der künftige, erst nach 5 Jahren zu erlangende Nutzen von 10 werde in der gegenwärtigen Schätzung in der Tat nur perspek- tivisch verkleinert, also nur mit 6,21 angeschlagen. Aber diesem gegen- wärtigen Werte des Zieles stehe eben auch nur ein gegenwärtiges (Arbeits- oder Geld-) Opfer von 6,21 gegenüber; das Warteopfer liege dagegen erst in der Zukunft und werde in dieser seine Kompensation durch den ein- stigen vollen Zukunftswert des Zieles — im Betrage von 10 — finden. Es stehe daher einerseits gegenwärtiger Wert und gegenwärtiges Opfer, andererseits künftiger Wert mit der auch die künftigen Opfer umschließen- den gesamten Opfergröße im erforderlichen Einklang. — Bei diesem Ge- lY. Abstinenztheorien. Marshall. 489 dankengang würde man aber übersehen, daß jeder rationelle wirtschaft- liche Kalkül die nicht fälligen Opier oder Opferraten ebensowohl und zwar sofort in die Rechnung stellen muß, wie die fälligen. Wenn ich kalkuliere, ob ich ein mir gegen Zahlung von 20 Jahresraten ä 1000 fl. angebotenes Wohnhaus kaufen soll oder nicht, so darf ich nicht den gegenwärtigen Wert des Hauses mit dem Werte der gegenwärtig fäUigen Rate der Opfer, das ist mit der ersten sofort zu erlegenden Kaufschülingsrate von 1000 fl. allein in Vergleich bringen, sondern ich muß selbstverständlich dem Werte des Hauses sofort den Wert aller, gegenwärtig und künftig fälligen 20 Kauf- schülingsraten zusammengenommen gegenüberstellen, wobei nur die noch nicht fälligen Raten mit einem gewissen, sie auf ihren gegenwärtigen Wert reduzierenden Abzüge in Anschlag kommen werden. Analog setzt sich im Sinne der Abstinenztheorie das gesamte für ein entferntes Genuß- ziel auszulegende Opfer aus einer sofort fälligen, aus Arbeit oder Geld bestehenden ersten Opferrate und aus einer Reihe weiterer, über den ganzen zwischenliegenden Zeitraum sich echellonnierenden Raten von „Warteopfern" zusammen. Letztere mögen nun in den gegenwärtigen Kalkül ebenfalls — sowie die später fälligen Kauf Schillingsraten des Hauses — nur mit einem gewissen, dem Grade ihrer zeitlichen Entlegenheit ent- sprechenden Abzüge eingestellt werden, aber sie müssen jedenfalls über- haupt eingestellt werden, zumal ja, wie wir wissen, im Sinne der Abstinenz- theorie gerade der Bedacht auf sie die Produzenten abhalten soll, die Produktion auf minderwertige künftige Ziele zu richten. In unserem Beispiele würde diese Auffassung sich in folgender Ziffergruppierung aus- prägen : das sofort zu leistende Arbeits- (oder Geld-) Opfer beträgt 6,21. Die Summe der fünfjährigen Warteopfer, durch welche das Gesamtopfer successive bis auf 10 aufgefüllt wird, beträgt demnach 3,79. Da aber diese Warteopfer noch in der Zukunft liegen und zwar im Durchschnitt erst nach 2^ Jahren zu „erdulden" sind, ist ihr Gegenwartswert entsprechend geringer anzuschlagen und zwar würde er sich unter Annahme des Re- duktionsmaßstabes von 10% ungefähr auf 2,96 stellen. Hiernach wäre der Gegenwartswert aller zu berücksichtigenden Opfer 6,21 + 2,96 = 9,17, der Gegenwartswert des anzustrebenden Zieles aber nur 6,21 — ein Größen- verhältnis, das einer vernünftigen Handlungsweise offenbar nicht zu Grunde liegen kann. — Ich bin aufrichtig erstaunt darüber, daß Prof. Marshall sich bei seiner mathematischen Behandlung der ganzen Frage durch solche, doch unvermeidlich auch ziffermäßig hervortretende In- kongruenzen nicht gestört gefühlt hat. Ich selbst bin allerdings zu wenig Mathematiker, um im Detail beurteilen zu können, ob und wie es Prof. Marshall in den verwickelten mathematischen Formeln, in welchen er sowohl die diskontierende Verkleinerung des künftigen Genußnutzens, als auch das in geometrischer Progression anschwellende Opfer des Wartens zu rechnungsmäßigem Ausdruck bringt (Note XIII und XIV des mathe- 490 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. matischen Anhanges), möglich geworden ist, den sachlich doch zweifellos vorhandenen Fehler sich zu verbergen oder zu verschleiern^). ^) Ich vermute — Mathematiker mögen die Richtigkeit dieser Vermutung nach- prüfen — daß Marshall einem offenen rechnungsmäßigen Konflikt dadurch ausgewichen ist, daß er, statt den Stand seiner Ansichten in einer Formel zu illustrieren, in der mathematischen Note XIII zwei Alternativformeln aufstellt, die sich vermeintlich nur durch den verschiedenen zeitlichen „Ausgangspunkt", auf den sie sich beziehen, in Wahrheit aber auch durch eine entgegengesetzte Auffassung voneinander unterscheiden; Marshall bringt nämlich in jeder derselben eine andere der beiden kollidierenden Auffassungen zur Anwendung. Die erste Formel, welche das Datum des Beginnes des Hausbaues zum Ausgangspunkt nimmt, führt, wenn ich mich nicht täusche, glatt und rein die Auffassung der Agiotheorie durch, indem der Wert des künftigen Genußzieles mit einem verminderten Betrage, dafür aber keinerlei Warteopfer in Rechnung gestellt wird. Die zweite Formel, welche das Datum der Vollendung des Hauses zum Aus- gangspunkte nimmt, rechnet dagegen umgekehrt den Wert des Produktionszieles, des fertigen Hauses, voll, und stellt dafür unter die Produktionsopfer neben den Arbeits- opfern auch die Warteopfer ein. Dieser Wechsel im Berechnungsprinzip wird aber durch eine gewisse Komplikation weniger auffällig gemacht, die das von Marshall gewählte Beispiel vom Hausbau an sich trägt. Im Falle eines lange dauernden Genußobjektes, wie ein Haus es ist, trifft nämlich die Erreichung des Produktionszieles, die Fertig- stellung des Hauses, mit der Erreichung des Genußzieles, der Bedürfnisbefriedigung durch Bewohnung des Hauses, nicht zusammen, und an die erste Wartezeit, die vom Beginne des Hausbaues bis zur Vollendung desselben reicht, knüpft sich noch eine zweite, abgestufte Wartezeit an, die von der Vollendung des Hausbaues bis zum fak- tischen Empfang der durch viele Jahre sich hinziehenden Nutzungsraten des dauer- haften Gutes Wohnhaus reicht. Für diesen zweiten Teil der Wartezeit rechnet nun Marshall auch in der Formel II ganz so wie in der Formel I. Er berechnet nämlich den Gegenwartswert des fertigen Hauses aus dem diskontierten Wert seiner künftigen Nutzleistungen, und sieht dafür von der Einstellung von Warteopfern in die Opfer- rechnung für die der Vollendung des Hauses nachfolgende Zeit wieder ab. Er biegt so gewissermaßen mitten in der Formel II in der Auffassungsweise um : bis zur Fertig- stellung des Hauses rechnet er als Abstinenztheoretiker, für die weitere Zukunft wie ein Agiotheoretiker. Dadurch nun, daß auch in der Formel II ein Teil ebenso gerechnet wird wie in der Formel I, entsteht der Anschein, als ob dasselbe Rechnungsprinzip durch beide Formeln unverändert hindurchginge und als ob der Unterschied im rest- lidien Teil der Rechnung wirklich in nichts anderem als in der Verschiebung des zeit- lichen Ausgangspunktes der Rechnung seinen Grund hätte. Tatsächlich liegt aber ein Bruch im Prinzip vor. Denn wenn auch im Moment der Fertigstellung des Hauses der Genuß desselben beginnt, so kann doch natürlich nicht die Rede davon sein, daß durch den Genuß der ersten Stunde schon die ganze Erzeugungsarbeit des Hauses ihren Lohn gefunden hätte, sondern der weitaus überwiegende Teil der Erzeugungs- arbeit muß noch weiter auf seinen Genußlohn warten. Wenn nun, wie Marshall im Geiste seiner Abstinenztheorie in der Note 1 zu Buch V Ch. IV § 1 ausdrücklich sagt, durch das Warten auf spätere Genüsse „das Übel oder die Unannehmlichkeit" der Erzeugungsanstrengungen sich in geometrischer Proportion zur Wartezeit steigert, so müßte ja dieselbe Steigerung des Opfers rücksichtlich des durch Wohnüngsgenüsse jeweils noch nicht gelohnten Teiles der Erzeugungsarbeit auch nach der Fertigstellung des Hauses noch andauern, und es ist daher eine inkonsequente Verleugnung dieses Teiles seiner Lehre, wenn Marshall im zweiten Teile seiner Formel II diese Steigerung der Opfer nicht in Ansatz bringt. Und es ist dieselbe inkonsequente Verleugnung auch schon gewesen, wenn Marshall in seiner ganzen ersten Formel jene Steigerung nicht IV. AbstinenBtheorien. Marshall. 491 Muß aber einmal anerkannt werden, daß zwischen den beiden Auf- fassungen, die Prof. Marshall in seiner Lehre kumuliert hat, gewählt werden muß, dann kann die Wahl, und zwar, wie ich glaube, auch für den ausgezeichneten Gelehrten selbst, dessen Meinung ich hier zu be- kämpfen gezwungen bin, nicht einen Augenblick zweifelhaft sein. Auf der einen Seite ist die Erfahrung, daß die Leute, und zumal die sorglosen Leute, die Aussicht auf entfernte Genüsse niedriger taxieren als einen gegenwärtigen Genuß von gleicher Größe, doch allzudeutlich ausgeprägt, um sich leugnen zu lassen; und auf der anderen Seite werden diejenigen Bedenken, die gegen die Existenz eines selbständigen Abstinenz- oder Warteopfers sprechen, und die ich im IX. Hauptstücke dieses Buches ausführlich auseinandergesetzt habe, angesichts der Notwendigkeit einer Wahl wohl auch in den Augen jener an Gewicht gewinnen, die sich bisher ihrem Eindrucke entzogen hatten. Ich glaube, man wird sich bei erneuter sorgfältiger Prüfung doch wohl kaum auf die Dauer z. B. der Überzeugung entziehen können, daß das Nicht- Genießen noch kein Leiden ist, und daß eine erfolglose Arbeit kein unendlich großes, d. i. aus einer begrenzten in Ansatz gebracht hat: er hätte sie allenfalls, wie ich oben in meinem Texte aufführte, mit einem abgestuften Diskontoabzuge, aber er hätte sie überhaupt in Ansatz bringen müssen, was er nicht getan hat. Denn das, was er dort auf der Opferseite diskontiert, sind nicht die Warteopfer, sondern der „Wert" der in seinem konkreten* Beispiel vom (langwierigen!) Hausbau ebenfalls zeitlich gestuften Arbeitsopfer. Hätte Marshall statt des Hausbaues ein Beispiel gewählt, in welchem Arbeitsaufwand einerseits und GütergQnuß andererseits sich in je einem (unter feinander natürlich verschiedenen!) Zeitpunkt konzentriert hätten, so wäre die ganze Rechnung viel einfacher, viel durch- sichtiger und auch das Schlußdilemma viel deutlicher geworden: entweder inkonsequent, mit verschiedenem Ansatz, oder falsch zu rechnen. — Zum Schluß noch zwei Bemer- kungen. Zunächst möchte ich glauben, daß der Ausgangspunkt der Formel II, den Marshall für den , natürlicheren vom Standpunkt des gewöhnlichen Geschäftes" hält, überhaupt nicht geeignet ist, das zur Anschauung zu bringen, was nach dem Inhalt des zugehörigen Textparagraphen und nach dem ganzen Erklärungsgange der Ab- stinenztheorie zur Anschauung zu bringen war: nämlich den den Produktions- entschluß beeinflussenden und lenkenden Kalkül von Nutzen und Opfern. Dieser muß ja doch naturgemäß Nutzen und Opfer so einstellen, wie sie dem Produktions- lustigen vor Beginn des Produktionsaktes (also im Ausgangspunkte der Formel I) vor Augen stehen, und nicht nach seinem Abschluß! Ferner hat inzwischen Prof, Marshall in einer seiner 5. Auflage neu hinzugefügten Note (Note 3 auf S. 352) den Vorwurf einer „Doppelrechnung" des Zinses, den er in den Ausführungen meines Textes zu erblicken glaubte, ausdrücklich von sich abgelehnt. Die Sache steht indes nach meinen obigen Darlegungen doch wohl so, daß Marshall zwar den Zins nicht faktisch doppelt gerechnet hat — was ja natürlich durch ein falsches Rechnungsresultat auf den ersten Blick hätte auffallen müssen — daß er ihn aber nach dem Stande seiner theoretischen Prämissen hätte doppelt rechnen müssen, und daß er sich der faktischen Doppelrechnung nur durch eine inkonsequent hin- und herspringende Auswahl zwischen seinen beiden unvereinbaren Prämissen entzogen hat; und in dieser Auffassung kann mich gerade der vermeintlich aufklärende Kommentar, mit dem Marshall seine neueste Äußerung begleitete, nur vollends bestärken. 492 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Quantität Arbeitsmühe und einem unbegrenzten, in alle Ewigkeit sich fortsetzenden Warten sich zusammensetzendes Opfer darstellen kann, u. dgl. mehr. Für den Fall aber, daß bei besonders skeptischen Lesern immer noch ein Rest des Zweifels zurückbleiben sollte, möchte ich endlich noch folgende Erwägungen unterbreiten. Wer das Warten in der der Abstinenztheorie eigentümlichen Weise für ein selbständiges Opfer hält, muß sich zu der Folgerung bequemen, daß auch sorglose, auf die Zukunft nicht bedachte Personen für die Er- langung eines wenn auch noch so entfernten Genusses ein ebenso großes Opfer zu bringen geneigt sind, als für einen im Moment lockenden Genuß: die gleiche Opfersumme würde sich nur verschieden zusammensetzen; im Falle des gegenwärtigen Genusses aus Arbeit allein, im Falle des künftigen Genusses aus etwas weniger Arbeit und einem die gesamte Opfergröße doch bis zu demselben Niveau auffüllenden Belaufe an „Waiting"! Und noch eines. Ohne allen Zweifel und auch nach Marshall selbst, erstreckt sich das in Diskussion stehende psychische Phänomen nicht nur auf die Würdigung künftiger Freuden, sondern auch auf jene künftiger Leiden 1), Nehmen wir nun an, es ist jemand durch ein Leid bedroht, welches, wenn nicht jetzt Vorsorge getroffen wird, in einem Jahre sich einstellen und die Stärke von 10 besitzen wird. Sicher ist, daß der Be- treffende, wenn er künftige Ereignisse nach dem Fuße von 10% diskontiert, zur Abwehr jenes Leides kein größeres Arbeitsopfer als ein solches von 9 auf sich zu nehmen geneigt sein wird. Ich könnte mir nun allenfalls noch zur Not vorstellen, daß, wenn es sich um die Vorbereitung irgend eines positiven Genusses handeln würde, das Warten auf den Genuß als ein Opfer empfunden würde, welches das Gesamtopfer successive auf 10 an- schwellen macht. Aber ich kann mir in gar keiner Weise vorstellen, welches Opfer darin gelegen sein soU, daß ich in der Zwischenzeit, in der das drohende Leid mich nicht drückt, es auch noch nicht zu beseitigen in der Lage bin. Welches schmerzliche in der ,, Fortdauer des Bedürfniszustandes" 2) ge- legene Dulden soll z. B. darin gelegen sein, daß ich mitten im Hochsommer den unterdessen auf Spinnrocken oder Webstühlen in Vorbereitung be- griffenen Winterrock noch nicht besitze? oder daß ein Dreißigjähriger, der einst als Fünfzigjähriger eine gegen Weitsichtigkeit wirkende Brille benötigen wird, einstweilen noch durch zwanzig Jahre auf die Fertig- stellung dieser Brille ,, warten" muß, für deren Herstellung die entfernten Vorbereitungsarbeiten, im Bergbau, der Maschinenfabrikation u. dgl., inzwischen schon begonnen haben? Ich glaube, für den unbefangen Zu- sehenden ist der Zusammenhang sonnenklar: nicht die Wagschale des ^) S. 769 bezieht Prof. Marshall ausdrücklich die Wirkung der ,,telescopic faculty" auf eine entsprechend hohe Schätzung von „future ills and benefits". «) „endurance of want", Jevons, Theory of Pol. Ec, 2, Auflage, S. 254. IV. Abstinenztheorica. Maishall. 493 Opfers wird über das anfangs eingelegte Arbeitsopfer immerfort weiter durch ein schmerzliches Warten auf die Beseitigung eines gar nicht vor- handenen Übels beschwert, bis sie endlich der vollen Nutzensgröße von 10 gleich wichtig wird; sondern das Gleichgewicht beider Wagschalen war schon zu allem Anfang in dem allein entscheidenden Augenblick des wirt- schaftlichen Kalküls und Entschlusses auf dem Wege hergestellt, daß die Schätzung des zeitüch entlegenen, drohenden Leides perspektivisch ver- kleinert, seine Abwendung daher nur als ein entsprechend geringerer Nutzen angesehen, und in weiterer Folge ihm deshalb auch nur ein Arbeits- opfer von entsprechend geringerer Größe gleich wiegend gehalten wurde !^) Die Abstinenztheorie irrt somit gi-undsätzMch darin, daß sie jene unsere Wohlfahrtsbilanz abträglich beeinflussenden Differenzen, die durch den zeitlichen Abstand unzweifelhaft geschaffen werden, auf der falschen Seite der Bilanz bucht; daß sie, wo tatsächlich ein Minus an Nutzen vor- liegt, statt dessen ein größeres Opfer verzeichnen will, daß sie also zwischen den beiden denkbaren Auffassungen des Sachverhaltes falsch wählt. Prof. Marshall aber — und mit ihm alle jene Gelehrten, welche die seit Rae und Jevons in die Wissenschaft eingeführte psychologische Tatsache einer geringeren Schätzung künftiger Freuden und Leiden mit der An- erkennung der Abstinenztheorie amalgamieren wollen^) — irrt überdies auch noch darin, daß er gar nicht sieht, daß hier eine Wahl getroffen ^) Wenn jemand hier vielleicht einwenden wollte, daß man die Arbeit, die man vorsorglich auf die Stillung eines künftigen Leides verwendet, auch auf die Be- reitung eines anderen, und zwar gegenwärtigen positiven Grenusses hätte verwenden können, und daß das ,, Vermissen" dieses anderen Genusses den Inhalt des Warteopfers begründet, so glaube ich erstens, daß man durch solches Hinüber-herüberschieben der grundsätzlichen Frage nur ausweicht, aber sie nicht löst; und übrigens läßt sich zweitens jede Weiterung damit abschneiden, daß man den konkreten Tatbestand so annimmt, daß für ein solches Ausweichen kein Spielraum ist. Nehmen wir z. B. an, das Subjekt unseres Beispieles sei ein Arrestant, welcher keine Winterkleider besitzt, welcher weiß, daß seine Freilassung in einem Jahre und zwar zur Zeit der strengsten Winterkälte erfolgen wird, und welcher nach der Hausordnung seines Gefängnisses die Gestattung, nicht aber die Nötigung hat, sich durch Gefängnisarbeit einen zur An- schaffung von Winterkleidern ausreichenden Betrag zu verdienen, über welchen er aber wieder während der Dauer seiner Haft in keiner Weise, also auch nicht zur Bereitung irgend eines früheren Genusses, verfügen könnte. Hier bleibt für die Konstruktion eines Warteopfers, welches ihm durch die Widmung seiner Arbeit für die Erwerbung warmer Winterkleider neben dem Opfer der Arbeit selbst auferlegt würde, absolut kein denkbarer Inhalt, und wer die Tatsache nicht ganz leugnen will, daß auch bei einem in solcher Lage befindlichen Subjekt der Bedacht auf die Zukunft minder wirksam sein kann als der auf die Gegenwart, wird wohl gezwungen sein, die durch so viele andere Gründe sich empfehlende zweite Auslegung als die einzig zulässige zu erklären: daß nämlich der zeitliche Abstand die Größe künftiger Freuden und Leiden in unserer gegenwärtigen Schätzung verkleinert! *) Wie z. B. in älterer Zeit J. St. Mill und Jevons, in unseren Tagen Macfablank and wohl auch Carver: bezüglich des letzteren siehe noch unten. 494 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. werden muß zwischen zwei Aulfassungen, die unmöglich nebeneinander bestehen können. — Das sind die wesentlichsten — nicht alle — Gründe, welche mich außer Stand setzen, in Prof. Marshalls Behandlung des Zinsproblems eine befriedigende Lösung desselben zu erblicken. Wie wir von einer früheren Gelegenheit her wissen i), ist Prof. Mark all geneigt, bloßen Ver- schiedenheiten oder Unvollkommenheiten in der Ausdrucksweise eines Gedankens ein sehr geringes Gewicht beizulegen, und zugleich den Begriff einer bloßen Variante in der Form des Ausdrucks sehr weit auszudehnen. Hier liegt aber doch wohl zweifellos mehr vor, als bloß eine minder emp- fehlenswerte Ausdrucksform eines richtigen Gedankens: es handelt sich um ein wesentliches und charakteristisches Glied der logischen Kette, welche die Erklärung des Kapitalzinses vermitteln soll. Daß Prof. Mar- shall selbst gerade dieses kritische Glied für ein sehr wesentliches ansieht, geht daraus hervor, daß er ja — wenn auch, wie ich glaube irrtümlich — die ganze Entscheidung zwischen seiner und der Auffassung der Sozialisten davon abhängen läßt, ob sich neben der Arbeit ein "Warteopfer als selb- ständiges Opfer konstruieren lasse oder nicht ^). Und daß jedenfalls zwischen seiner und meiner Auffassung auch ein materieller Unterschied besteht, wird daran klar, daß nach seiner Auffassung der Wegfall jener psychologischen Tatsache, welche sich in der Bevorzugung der gegen- wärtigen vor den künftigen Genüssen äußert, auch das Verschwinden des Zinses zur Folge haben müßte ^), während nach meiner Meinung in jedem ^) Siehe mein Vorwort zur zweiten Auflage. ■') 489ff. ^) Marshall selbst betrachtet eine derartige Änderung unserer physischen und moralischen Disposition keineswegs als etwas undenkbares, und gibt — in ganz logischer Folge seiner Erklärung des Zinses als ,, reward of the sacrif ice involved in the waiting" — seine Meinung deutlich dahin zu erkennen, daß in einem solchen Falle „interest would bc negative all along the line". Er erwartet nämlich dieses Ergebnis sogar schon für den Fall, daß — ohne ein gänzliches Verschwinden jeder Bevorzugung gleich großer gegenwärtiger Genüsse — die wirksame Vorsorge für das Alter und die Familie bei MO vielen Menschen so stark gesteigert wird, daß die aus dieser Rücksicht jedenfalls zur Ersparung gelangenden Summen den Bedarf für die neu zu eröffnenden vorteil- haften Investitionsgelegenheiten (new openings for the advantageous use of accumulated wealth) übertreffen (485 Note 3). — Für subtil Untersuchende füge ich bei, daß durch diese letztere, auf vorteilhafte Produktionsgelegenheiten Bezug nehmende Klausel keineswegs etwa eine volle materielle Übereinstimmung unserer Meinungen hergestellt wird. Denn einerseits würde nach meiner Meinung auch in einem völlig stationären Zustande, also bei einem gänzlichen Fehlen ,,neuer" kapitalistischer Verwendungs- arton, die größere Ergiebigkeit der zeitraubenden Produktionswege für sich -allein für jeden absehbaren Zeitraum den Zins aufrecht zu halten imstande sein (siehe hierüber insbesonaere meine Abhandlung über „Einige strittige Fragen der Kapitalstheorie", Wien 1900); und andererseits sieht in der zitierten Stelle Prof. Marshall das zahl- reiche Auftauchen neuer Investitionsgelegenheiten augenscheinlich nur unter der Voraus- setzung als Hindernis eines völligen Verschwindens des Zinses an, daß doch noch irgend IV. Abstinenztheorien. Marshall. 495 FaUe nur gleichsam einer von mehreren Quellflüssen des Zinsphänomens versiegen, dieses selbst aber, wenn auch in verminderter Stärke, fort- bestehen würde, indem auch ohne jede parteiische Unterschätzung der Zukunft die Tatsache, daß längere Produktionsumwege ergiebiger sind, den die Einschlagung solcher Umwege ermöglichenden gegenwärtigen Gütersummen eine W'ertüberlegenheit über künftige Gütersummen sichern müßte ^) — und zwar nicht bloß für den Augenblick, sondern für Zeit- räume, die auch nach dem strengsten Maßstabe gemessen den längsten, „säkularen Perioden" 2) beigezählt werden müßten. Schließlich möchte ich bemerken, daß sich bei Marshall auch noch eine Gruppe von Äußerungen findet, in welchen in ziemlich nachdrück- licher Weise eine Beziehung des Kapitalzinses speziell zum Gebrauche des Kapitales hervorgehoben wird, und welche, wenn sie die einzigen das Zinsthema betreffenden wären, wohl die Vermutung begründen könnten, daß Marshall auch die für die Nutzungstheorie charakteristische Vor- eine Schätzungsdifferenz zwischen sonst gleichen gegenwärtigen und künftigen Ge- nüssen bestehen bleibt. Man muß nämlich, wie Prof. Marshall selbst auf S. 197 Note 1 seines Werkes mit unübertrefflicher Klarheit auseinandergesetzt hat, genau zwischen der differenzierenden Schätzung gleich großer gegenwärtiger und künftiger Genüsse, und zwischen einer verschiedenen Schätzung gleich großer gegenwärtiger und künftiger Gütersummen unterscheiden. Bei letzterer Schätzung kann nämlich auch der Umstand eine einflußreiche Rolle spielen, daß dieselbe Summe in verschiedenen Zeiträumen einen verschieden großen objektiven Grenznutzen stiftet. Daher kann eine Person, welche an und für sich einen gegenwärtigen Genuß vor einem gleich großen künftigen Grenuß bevorzugen würde, sich dennoch zu einer Erpressung auch ohne Aus- sicht auf einen Zinsenzuwachs entschließen, falls die zu ersparende Summe auf die Zu- kunft, z. B. auf den Zeitpunkt des bedürftigen Alters, übertragen, hier einen ent- sprechend größeren Grenznutzen stiftet, als sie im Falle ihrer momentanen Verausgabung gestiftet hätte. Offenbar nimmt das Argument Prof. Marshalls auf diese Erwägung Bezug. So lange der Bedarf für neue Kapitalinvestitionen schon durch die Ersparungen jener gedeckt wird, bei welchen die Minderschätzung gleicher künftiger Genüsse durch die Vergrößerung des objektiven Grenznutzens der in die Zukunft übertragenen Güter- summen kompensiert wird, liegt in der Bilanz kein vergütungsbedürftiges Abstinenz- opfer vor, und der Zins kann fehlen. Geht aber der Kapitalbetrag für neue Investitionen über dieses Maß hinaus, dann wird die Minderschätzung künftiger Genüsse nicht mehr durch den Zuwachs an objektivem Grenznutzen der gleichen Güterquantität gedeckt, und muß daher durch einen Zins vergütet werden. Ist nun dies die wahre Meinung Prof. Marshalls — und ich zweifle nicht, daß sie es ist — dann ist in seinem Sinne die Fortexistenz einen verschiedenen Schätzung gegenwärtiger und künftiger Genüsse, als Grundlage des im Zinse zu vergütenden Abstinenzopfers, eine conditio sine qua non für die Existenz eines Zinses. Nach meiner Meinung dagegen ist sie es nicht, weil die für den Zins allerdings nötige verschiedene Schätzung gegenwärtiger und künftiger Güter auch durch die größere Ergiebigkeit der zeitraubenden Produktionsumwege allein herbeigeführt werden könnte und würde (siehe die in der nächstfolgenden Note bezeichnete Stelle meiner Positiven Theorie). ^) Das Grenauere siehe in meiner Positiven Theorie, in der ersten Auflage S. 284— 286, in der dritten S. 466—468, in der vierten S. 347—349. *) Vgl. Marshall S. 450. 496 Anhang. Die Zinsliteratur in der Cregenwart. stellungsweise sich angeeignet hat^). Angesichts des Umstandes jedoch, daß Marshall sogar darein Zweifel setzt, ob die ausgesprochensten Ver- treter der Nutzungstheorie die der letzteren eigentümlichen Gedanken in ihrer vollen Strenge hätten lehren wollen 2), darf ich umsoweniger an- nehmen, daß Marshall selbst dies zu tun geneigt war und muß vielmehr zur Vermutung gelangen, daß der Gebrauch jener sonst für die Nutzungs- theorie charakteristischen Redewendungen nur auf eine gewisse Freiheit oder Sorglosigkeit des Ausdrucks zurückzuführen ist, welche Marshall auf dem Gebiete der Zinstheorie für sich und andere in Anspruch zu nehmen scheint, ungeachtet Unklarheiten und Zweideutigkeiten des Ausdrucks gerade auf diesem Gebiete schon so viele Irrungen und Irrtümer ver- schuldet haben, und ungeachtet derselbe ausgezeichnete Gelehrte sonst — und wohl kaum mit Unrecht — einen so großen Wert auf klare Prägung und zutreffende Formulierung der Gedanken zu legen pflegt. — Wie schon bemerkt, ist aus der neueren Zeit endlich auch noch ein interessanter Versuch zu registrieren, der alten Abstinenztheorie eine neue Deutung unterzulegen. Der Versuch ist von dem Amerikaner Carver 3) mit viel Scharfsinn und einer bemerkenswerten Kombinationskraft unter- nommen worden, geht aber, wie ich glaube, wegen eines Mißverständnisses über die Hauptsache fehl. Sein etwas subtiler, von ihm selbst durch eine Anzahl geometrischer Diagramme der Anschauung näher gerückter Gedankengang ist, in kurzem Auszug frei dargestellt, etwa der folgende*): Carver geht von der voll- kommen zutreffenden Anschauung aus, daß große Summen gegenwärtiger Güter von ihren Eigentümern auch dann für die Zukunft aufgespart ^) 662, 663, 665, 666ff., Note. Marshall bezeichnet in diesen Äußerungen wieder- holt den Gebrauch oder die Dienste (use, Services) des Kapitales als den Gegenstand, für den der Zins gezahlt wird, legt ausführlich dar, daß in dieser Beziehung kein wesent- licher Unterschied (,,no substantialdifference") zwischen der Miete eines ausdauernden Gutes (z. B. eines Pferdes) und dem Darlehen an einer verbrauchlichen beziehungsweise vertretbaren Geldsumme bestehe, und fügt bei, daß die von älteren Schriftstellern gezogene Unterscheidung zwischen der Miete und dem Darlehen zwar „from an analytical point of view interesting" sei, aber „sehr wenig praktische Bedeutung" besitze. — Eine ganz ähnliche — und wohl auch ähnlich zu beurteilende — Mischung von Äuße- rungen, in denen die Abstinenztheorie vertreten wird, mit Redewendungen, die sich auch auf die Nutzungstheorie deuten ließen, findet sich auch bei Sidgwick, Prineiples of Political Economy, 2. Auflage (1887), S. 255f., dann 167f. und 264. *) z. B. 142 Note 1. Siehe auch oben das Vorwort zur zweiten Auflage. *) ,,The place of abstinence in the theory of interest", Quarterly Journal of Economics Oktober 1893, SS. 40—61. *) Wie der aufmerksame Leser bald bemerken wird, geht Carvers Gedankengang ein Stück weit mit gewissen subtilen Erwägungen parallel, denen wir soeben auch bei Prof. Marshall begegnet sind (siehe oben S. 494 Note 3). Ich möchte sogar die Ver- mutung wagen, daß Carver aus jenen Äußerungen Marshalls die erste Anregung zu seiner Theorie geschöpft hat, die dann allerdings, von einem gewissen Punkte an, eine ganz andere Wendung nimmt. rV. Abstinenztheorien. Carver. 497 würden, wenn die Eigentümer keinen Zins erhielten, ja sogar noch Spesen für die Aufbewahrung des Ersparten auslegen müßten. Er bezeichnet auch die Grenzen für die zinslose Ersparnis in vollkommen zutreffender Weise. Ein rationeller Wirt wird von seinem gegenwärtigen Gütervorrat so viel für die Zukunft übersparen, bis der Nutzen (Grenznutzen), den das letzte übergesparte Teilchen, z. B. der letzte aufgesparte Gulden, für die Zukunft bringt, geradeso groß ist, als der Nutzen, den der letzte zur Aus- gabe bestimmte Gulden in der Gegenwart bringt. Wer z, B. ein Vermögen von 100000 fl. hat, wird, auch wenn es gar keinen Zins gäbe, als rationeller Wirt sicherhch nicht die ganzen., und nicht einmal einen sehr beträcht- lichen Teil dieser 100000 fl. zur gegenwärtigen Verzehrung widmen, weil er in diesem Falle sich in der Gegenwart die Befriedigung ganz unwichtiger Luxusbedürfnissfe verschaffen, dafür aber in der Zukunft selbst für wichtige Bedürfnisse keine Deckung übrig behalten würde. Er würde vielmehr korrekter Weise seinen gegenwärtigen Verzehr bei dem sovielten Tausend abbrechen, daß — unter Berücksichtigung der sonstigen für die Zukunft zu gewärtigenden Güterzuflüsse — der Grenznutzen des letzten aus- zugebenden Guldens sich ins Gleichgewicht setzt mit dem künftigen Grenz- nutzen des letzten übergesparten Guldens. Mit einer sehr wichtigen und auch von Carver in seinen Diagrammen ganz korrekt registrierten Klausel. Die meisten Menschen pflegen nämlich je nach ihrer Geistesanlage und ihrem Temperament künftige Freuden und Leiden, und daher auch den künftigen Güternutzen zu unterschätzen. Ein sorgloser oder verschwenderischer Mann z. B. wird einen erst in einem Jahre zu erwartenden Genuß oder Nutzen, der im Augenblick seines tat- sächlichen Eintritts eine durch die Verhältniszahl 15 zu veranschaulichende Größe haben wird, im Augenblick vielleicht nicht höher als auf 10' zu schätzen geneigt sein. Da nun die gegenwärtigen wirtschaftlichen Ent- schlüsse natürlich auch nur durch die gegenwärtigen Schätzungen der in Auswahl kommenden Bedürfnisbefriedigungen beeinflußt werden, so ist die obige Richtschnur für die Grenze des zinslosen Ersparens dahin zu modifizieren, daß die Ersparung soweit geführt wird, bis der Grenznutzen des letzten gegenwärtig auszugebenden Guldens ins Gleichgewicht tritt mit der gegenwärtigen Schätzung des künftigen Grenznutzens des letzten übergesparten Guldens. In unserem Beispielsfalle wird diese Grenze erreicht sein, wenn der Grenznutzen des letzten ausgegebenen Guldens 10, der künftige Grenznutzeu des letzten übergesparten Gulden aber 15 be- trägt, welche 15 in der heutigen Schätzung eben auch nur einem gegen- wärtigen Nutzen von 10 gleichgesetzt werden. Um Carvers Neuerung besser ins Licht zu setzen, will ich hier sofort eine Feststellung einschalten. Alle früheren Vertreter der Abstinenz- theorie hatten, ausdrücklich oder stillschweigend, das Abstinenzopfer mit Böhm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aufl. 32 498 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. eben dieser letzteren Differenz in Verbindung gebracht^). Die Bevor- zugung der gegenwärtigen Genüsse ist in ihren Augen der Hauptgrund, warum die Enthaltung von gegenwärtigen Genüssen oder das Warten auf dieselben überhaupt als ein „Opfer" empfunden wird. Je größer jene Bevorzugung ist — siehe die berühmte Stufenleiter von den Indianer- stämmen, die für eine Kation , -Feuerwasser" das Land ihrer Väter ver- kaufen, bis zu den nüchternen und vorsorglichen gebildeten Klassen unserer Kulturnationen — desto größere Hindernisse setzt dieselbe der Ersparung und Kapitalbildung entgegen, die nur dadurch und iu dem Maße über- wunden werden können, als das mit ihrer Überwindung verbundene „Opfer" durch den Zins angemessen vergütet wird. Es wird daher auch die Höhe des Zinses mit der Stärke jener Bevorzugung in Verbindung gebracht. Im Sinne der älteren Abstinenztheorie erscheint somit als die eigentlich treibende Kraft jene Größe, welche in unserem — absichtlich grell gewählten — Beispiele durch die Differenz 15—10, wahre Größe eines künftigen Nutzens mitius unterschätzender gegenwärtiger Anschlag desselben, bezeichnet wird. Hier lenkt nun Carver in ein ganz anderes Geleise Die Existenz jener psychologischen Tatsache wird, wie schon oben erwähnt, von ihm gleichfalls anerkannt und ausdrücklich bemerkt. Aber er erblickt den Inhalt der vergütungsbedürftigen Abstinenz nicht in ihr, sondern in etwas ganz anderem. Solange die Ersparung die Wirkung hat, daß die in die Zukunft übertragenen gegenwärtigen Güter in der Zukunft einen Nutzen stiften, der schon in seiner gegenwärtigen Schätzung bedeutender ist, als jener Nutzen, den die ersparten Güter im Falle ihrer momentanen V^rzehrung hätten stiften können, ist das Ersparen überhaupt mit keinem wahren Opfer verbunden. Dieser Teil der Kapitalbildung erfolgt ,, kosten- los" und erfordert daher auch keinen Zins als Opfervergütung (S. 49). Ein wirkliches Opfer beginnt erst, wenn die Ersparung über jene Grenze hinaus ausgedehnt werden soll oder muß. Sollen nämlich in unserem Beispiele noch mehr Güter dem gegenwärtigen Genüsse entzogen und der Zukunft überwiesen werden, so kann dies nur um den Preis geschehen, daß in der Gegenwart die Befriedigung schon bei Bedürfnissen abgebrochen wird, welche eine die Ziffer 10 noch überragende Wichtigkeit besitzen, und daß z. B. auch noch die Bedürfnisschichte, deren Wichtigkeit zwischen den Ziffern 10 und 11 liegt, um ihre Befriedigung kommt. Werden nun aber eben diese der Gegenwart entzogenen Güter dem Deckungsvorrat der Zukunft angestückelt, welcher schon durch die vorausgegangene „kostenlose" Ersparung bis zur Befriedigung von Bedürfnissen im gegen- wärtigen Anschlag von 10 reichte, so kann jener neue Zuwachs natürlich ^) Recht ausdrücklich z. B. J. St. Mill, Principles, Buch 11 Kap. XV § 2 und Buch I Kap. XI. 2) a. a. 0. S. 49. rV. Abstinenitheorien. Carver. 499 nur in der Befriedigung von noch weniger wichtigen Bedürfnissen, z. B. der Bedürfnisschicht, deren Wichtigkeit zwischen den Ziffern 10 und 9 liegt, Verwendung finden. Die Fortsetzung der Ersparungsoperation hat daher zur Folge, daß eine Anzahl von Gütern, die in gegenwärtiger Ver- wendung einen Grenznutzen von 10 bis 11 gestiftet hätten, in der Zidiunft nur einen im gegenwärtigen Anschlag zwischen 10 und 9 bewerteten, also kleineren Nutzen bringen. Die Differenz stellt einen durch die Ersparungs- operation bewirkten reinjen Verlust, ein wahres, durch die Abstinenz vom gegenwärtigen Genüsse verursachtes Opfer dar, welches nicht gebracht werden kann und wird, wenn es nicht angemessen vergütet wird, und dies geschieht durch den Kapitalzins. „Der Verlust an subjektivem Wert, der an diesen letzten Teilen der Ersparung eintritt, muß durch einen Zuwachs an der Menge der objektiven Güter, das ist durch einen Zins wettgemacht werden" ^). Würden die Bedürfnisse der Produktion schdn durch eine so geringe Kapitalmenge gesättigt werden, wie sie durch den opferlosen Teil der Ersparung allein gebildet v?erden kann, dann würde ein Kapitalzins über- haupt nicht existieren (49). Braucht man aber mehr Kapital — das will S2igen, kann bei stufenweiser Ausnützung aUer lukrativen Verwendungs- gelegenheiten mehr als das kostenlos ersparte Kapital untergebracht werden, ohne daß der Kapitalertrag bis auf NuU reduziert würde („if more is needed — i. e. if more can be used, and still afford profit at the margin"), dann muß sich der Zins einstellen; denn dann muß für die fernere Ersparung irgend jemand jenes oben geschilderte Opfer an sub- jektivem Wert des Ersparten auf sich nehmen, welches Opfer eine Ver- gütung erheischt. Und zwar entscheidet über die Höhe des Zinses „the marginal sacrifice of saving", das ist, die Größe des Opfers bei dem letzten, kostspieligsten (mit dem größten Verlust an subjektivem Wert verbun- denen) Teil der Erspanmg, den man für die Bedürfnisse der Produktion noch braucht (53) 2). — Man sieht wohl leicht, daß der Inhalt des Abstinenzopfers, welches eine Vergütung durch den Zins erheischt, von Carver in der Tat ganz anders erklärt wird als von den sonstigen Abstinenztheoretikem. Letztere legen darauf das Gewicht, daß den Menschen, wie sie einmal beschaffen sind, das Warten auf Genüsse an sich lästig fällt. Carver dagegen leitet das Opfer nicht aus der Verspätung des Genusses an sich, sondern aus dem damit bedingungsweise verknüpften weiteren Umstände ab, daß ^) ,,The loss in the subjective valuation of this last increment must be compensated for by an increase in objective goods or interest"; a. a. 0. S. 53. *) Carvers Theorie ist seither in der Hauptsache von Landry, in einzelnen Zügen auch von J. Fisheb übernommen worden. Siehe hierüber bezüglich des ersteren meinen Exkurs XIII S. 454 Note 1; 4. Aufl. S. 834 Note 1, bezüglich Fishers Ex- kurs XII zur Pos. Theorie S. 425f., 4. Aufl. S. 312 f. 32» 500 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. durch die Spardispositionen die Verhältnisse von Bedarf und Deckung so verschoben werden, daß die gleiche Gütermenge in der Zukunft einen geringeren Grenznutzen und Wert hat als in der Gegenwart. Nicht darin, daß der Genuß später eintritt, sondern darin, daß er kleiner ist, als der mit ihm rivalisierende gegenwärtige Genuß, liegt bei Carver der Inhalt des Opfers. Die Verschiedenheit dieses Inhalts läßt sich auch an den Ziffern unseres Beispieles leicht veranschauüchen. Während sich die Stärke des ersteren Momentes, wie wir schon bemerkt haben, in unserem Beispiele in der Differenz 15—10, in der Differenz zwischen der wahren Größe eines künftigen Genusses und der gegenwärtigen Schätzung des- selben, registrieren würde, bemißt sich die Größe des CARVERschen Ab- stinenzopfers an der hievon vollkommen verschiedenen und auch aus ganz anderen Ursachen eintretenden Differenz 11—9, an der Differenz zwischen dem letzten in der Gegenwart zur KeaUsierung gelangenden, und dem gegenwärtigen Anschlag des letzten in der Zukunft zur Realisierung gelangenden Nutzens. Es ist aber wohl auch noch etwas anderes leicht zu sehen: daß nämlich Carver mißverständlich einen Umstand, der eine reine Wirk^Mag des Zinses ist, für dessen Ursache angesehen hat. Alles Tatsächliche, was Carver vorbringt, ist ja ganz richtig, auch die Sache mit der Abnahme | des Grenznutzens ^), falls man eine zukünftige Periode mit Deckungs- ^ mittein besser dotiert als die Gegenwart. Nur verwechselt Carver Ursache und Wirkung. Nicht weil man, und in dem Maße, als man die Zukunft besser dotiert, stellt sich überhaupt ein Zins und ein zunehmend höherer Zins ein, sondern gerade umgekehrt: es muß der Zins als Tatsache schon gegeben sein, damit man eine ökonomische Veranlassung haben kann, die Zukunft stärker zu dotieren; und je höher der Zins ist, desto weiter kann und wird man in dieser Verstärkung der Zukunftsdotation gehen. Wenn und weil der Zins auf 5% steht, wird man die Zukunftsdotation mit vernünftigem Grunde soweit verstärken können, daß 105 Güterstücke des nächsten Jahres erst den gleichen Nutzen stiften wie 100 Güterstücke im Augenblick; wenn und weil der Zins auf 20% steht, wird man die Zukunftsdotation noch weiter verstärken dürfen, soweit, bis 120 Güter- stücke des nächsten Jahres erst den gleichen Nutzen stiften wie 100 gegen- wärtige Güterstücke (immer alles auf die gegenwärtige Schätzung zurück bezogen), usf. An der Her vor ruf ung des Zinses ist dagegen offenbar und zweiffellos jenes andere, psychologische Moment beteiligt, in dem die übrigen Ab- stinenztheoretiker den Inhalt des Abstinenzopfers erblicken. Wenn die Leute den Augenblicksgenuß den künftigen Befriedigungen soweit vor- ziehen, daß sie in ihrer gegen,wärtigen Schätzung einen künftigen Genuß ^) Ich habe auf eben diese Erscheinung auch schon selbst aufmerksam gemacht (siehe meine „Positive Theorie" 1. Aufl. S. 446, 3. Aufl. S. 639, 4. Aufl. S. 476f.). IV. Abstinenztheorien. Carver. ÖOl von der effektiven Größe von 15 nur einem gegenwärtigen Genuß von der Große 10 gleichsetzen, so ist diese Disposition allerdings geeignet, zur wirklichen Ursache dafür zu werden, daß die für die Zukunft erzeugten Produkte einen ihre Kosten übersteigenden Wert erlangen und auch behaupten. Bei jener Disposition können nämlich die Produzenten nicht geneigt sein, für die Erlangung eines Produktes, welches seinerzeit einen Wert von 15 haben wird, der jedoch von ihnen in ihrer gegenwärtigen Schätzung nur auf 10 angeschlagen wird, Kosten in einem größeren Betrage als dem Betrage von 10 aufzuwenden. Die Durchführung der Produktion ergibt aber dann nach Ablauf eines Jahres ein Produkt im nunmehrigen Werte von 15, dem nur Produktionskosten von 10 gegenüber stehen, woraus von selbst ein Wertüberschuß oder Zins von 5 resultiert; und zwar wohlgemerkt, auch dann resultiert, wenn noch gar kein CARVERsches Abstinenzopfer ins Spiel kommt, wenn nämlich der Zukunft nur so viele Mittel überwiesen werden, daß die Gütereinheit, nach der gegen- wärtigen Schätzung, in der Gegenwart und in der Zukunft einem gleichen Grenznutzen von 10 gewidmet wird. Und auch die Hinwegnivellierung jenes Wertüberschusses durch die Konkurrenz würde unter den gegebenen Umständen offenbar durch dasselbe Motiv, das ihn hervorgerufen hat, wirksam verhindert werden, ohne daß es dazu irgendwie des Eintretens der Wirksamkeit des Carver- schen Abstinenzopfers bedürfte. Denn würde z. B. durch eine momentane Verstärkung der Produktion der objektive Wert des betreffenden Pro- duktes von 15 auf 14 vermindert, so würden, so lange der Unterschätzungs- coefficient der Zukunft der gleiche bleibt, diese 14 in der gegenwärtigen Schätzung einem geringeren Betrage als 10, nämlich nur etwa 9,3 gleich- gehalten werden. Reicht nun, wie angenommen, die Versorgung des gegenwärtigen Verzehrs nur bis zum Grundnutzen von 10 herab, so er- scheint offenbar die Disposition von Mitteln auf ein nur mit 9,3 bewertetes Genußziel unökonomisch; es müßte vorerst jene weitere Schicht gegen- wärtiger Bedürfnisse, deren Wichtigkeit unter der Ziffer 10, aber noch über der Ziffer 9,3 hegt, der weniger lohnenden Verwendung für die Zu- kunft vorgezogen, dadurch weniger Mittel für die Zukunft disponiert, dadurch die Erzeugung zeitlich entfernter Güter vermindert, und dadurch endlich deren Wert wieder gesteigert werden, so lange bis sich das frühere Verhältnis — objektiver Zukunftswert von 15, der in der gegen- wärtigen Schätzung einem gegenwärtigen Grenznutzen von 10 gleichsteht — und damit auch der Wertüberschuß von 5 wieder hergestellt hat. — Ist freihch durch diese wahrhaft treibenden Kräfte der Zins einmal ins Leben gerufen, dann wird sich auch die Folgeerscheinung einstellen, daß die Leute die Zukunft etwas stärker dotieren, als sie sie ohne Zins dotiert haben würden; und das wird auch zu dem von Carver bemerkten Herab- sinken des gegenwärtig geschätzten künftigen Grenznutzens unter den 502 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. gegenwärtigen Grenznutzen der Güterreinheit — , welches aber freilich durchaus nicht mit einem Herabsinken des wirklichen, vorläufig eben unterschätzten Grenznutzens gleichbedeutend ist — den Anlaß geben. Allein all dies ist ganz und gar eine Folgeerscheinung des Zinses. Mag sein, daß von dieser sodann eine sekundäre Rückwirkung auf die Höhe des Zinses selbst ausgehen wird. Allein es ist wohl zu beachten, daß diese Bück Wirkung in der Richtung einer Verminderung des Zinses ausgeübt werden wird; und die Rolle der wirkenden Zwischenursache wird fiiebei ohne Zweifel der verstärkten Ersparung, keineswegs aber dem CARVERschen Abstinenzopfer zufallen, das ja im gerade entgegengesetzten Sinne sich bewegen, nämlich bei einer verstärkten Ersparung, welche die Zukunft recht reichlich dotiert und daher den Grenznutzen des Ersparten recht tief herabdrückt, anwachsen müßte! Dies bringt mich auf den Punkt, aus dem der Mißgriff Carvers viel- leicht am einleuchtendsten illustriert werden kann. Ohne Frage ent- stammt der Zins der Knappheit des Kapitales, was gleichbedeutend ist mit der Knappheit der der Zukunft gewidmeten Befriedigungsmittel: Carver gelangt aber dazu, ihn umgekehrt der Reichlichkeit dieser Befriedigungsmittel, den Folgen einer Art Ersparungs-Plethora entstammen zu lassen! Der wahre Platz, den die von Carver ganz richtig beobachteten Tatsachen in der Kausalkette einnehmen, wird vielmehr durch folgende Parallele am zutreffendsten bezeichnet. Geradeso wie eine durch Geld- knappheit veranlaßte Steigerung des Geldwertes eine sekundäre Strömung hervorzurufen pflegt, die ihre eigene Intensität abzuschwächen tendiert, indem bekanntlich eine hohe Kaufkraft des Geldes manche Edelmetall- mengen, die bisher als Schmuckgegenstände, Tafelgeschirr u. dgl. in Ver- wendung standen, in die Münze lockt und dadurch ein gesteigertes Geld- angebot hervorruft, geradeso löst der durch Kapitalknappheit entstandene Zins durch die Tatsache seiner Existenz eine sekundäre Strömung aus, die die Tendenz hat, sein eigenes Ausmaß zu mildern, indem die Existenz des Zinses Veranlassung bietet, die Ersparung über jenen Punkt hinaus auszudehnen, an welchem sie ohne die Existenz des Zinses Halt gemacht hätte. Geradeso wenig aber, als man in der verstärkten Ausmünzung von Gold- und Silbergegenst,änden die wirkende Ursache der Geldwertsteigerung erblicken kann oder darf, geradeso wenig kann und darf man in der durch die Existenz des Zinses hervorgerufenen Mehrersparung und in der nur als Begleiterscheinung derselben auftretenden Herabdrückung des Grenz- nutzens der Ersparnisse die Hauptkraft erblicken, welche den Zins hervor- ruft und seine Höhe bestimmt! i) Soweit also überhaupt das Thema der „Abstinenz" bei der Erklärung ^) Vgl. jetzt auch meinen Exkurs XII S. 312f., wo eine Parallele mit einer ganz nahe verwandten Irrung Fishers gezogen wird. V. Arbeitstheorien. 603 des Zinses in Frage kommt, glaube ich der älteren Auffassung der Abstinenz- theorie vor der neueren Deutung Carvers den wenigstens relativen Vorzug geben zu müssen. Denn jene hatte wenigstens das richtige Grundphänomen im Auge, welches in der Tat an der Verursachung des Zinses als originäre Triebkraft mitwirkt, wenn auch die Art dieser Mitwirkung von der Ab- stinenztheorie mißverständlich aufgefaßt und vorgestellt wurde. Carver dagegen ist, durch eine geistreiche aber irrtümliche Kombination verleitet, auf eine ganz falsche Fährte übergesprungen, indem er eine reine Begleit- und Folgeerscheinung des Zinses statt seiner wirklichen Ursache verfolgte*). Von der Arbeitstheorie hatte ich in meiner „Geschichte und Kritik" drei von einander in wesentlichen Zügen abweichende Varianten unterschieden. Die erste derselben, die in älterer Zeit durch James Mill und McCuLLOcH vertreten worden war, hat meines Wissens in jüngster Zeit keinen Bekenner mehr gefunden, und darf daher als eine ausgestorbene Theorie betrachtet werden ^V Die zweite, „französiscne" Variante, welche den Zins als eine Ver- gütung für die moralische „Ersparungsarbeit" ansieht, hat, soviel ich wahrnehmen konnte, mindestens keinen neuen Zuzug mehr erhalten, wenn *) Interessant ist, daß auch Carvek, ähnlich wie Macfarlane, meine eigene Zinstheorie in ihrem Wesen für eine (mit Elementen der Produktivitätstheorie ver- knüpfte) Abstinenztheorie hält, derselben im Wesentlichen zustimmt, und nur der Meinung ist, sie in einer teilweise berichtigten, namentlich aber leichter verständlichen Version vorzutragen. ,,With certain corrections, which will be noticed later," — sagt er von meiner Theorie — ,,his theory may be regarded as correct; bat it is to be hoped that the interest problem can be explained upon principles more easily understood by the average ireader" (a. a. 0. S. 44). Sein und Macfarlanes Beispiel, hinzugehalten zu den hervorragend scharfsinnigen und dabei doch nicht befriedigten Ausführungen hervorragendster Gelehrter wie Jevons und Marshall, gibt eine äußerst lehrreiche Illustration dafür, wie vieler Verästelungen die Auffassung von dem scheinbar so ein- fachen Verhältnis von Gegenwart und Zukunft fähig ist, und wohl auch dafür, daß es keine überflüssige Pedanterie meinerseits ist, wenn ich mich, in Kritik und in positiver Theorie, nicht mit beiläufigen Hindeutungen auf die „prospectiveness" und „productiveness" des Kapitales zufriedengebe, sondern darauf dringe, daß diese Ideen eine ganz be- stimmte und zwar diejenige Prägung erhalten, in welcher allein sie sich zu einer wirklich schlüssigen, sachlich und logisch korrekten Erklärung unseres Phänomens zusammen- fügen. *) Am ehesten würde eine gewisse Verwandtschaft mit dieser Variante der Arbeits- theorie noch die von uns bei einer früheren Gelegenheit schon kurz berührte Theorie von GiDDiNGS aufweisen (siehe oben S. 456). Dieselbe steht jedoch in Bezug auf die sonstigen theoretischen Voraussetzungen auf einem so verschiedenartigen, und zwar um so vieles vorgeschritteneren Standpunkt, da£ ich sie in meiner Übersicht richtiger in eine andere, modernere Theoriengruppe einreihen zu sollen glaubte. 504 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. sie auch innerhalb des recht engen Kreises, innerhalb dessen sie überhaupt Geltung erlangt hatte, dieselbe noch nicht eingebüßt haben mag. Hinsichtlich der dritten Variante, die den Zins als eine Art Amts- einkommen des mit der gesellschaftlichen Funktion der Kapitalbildung und Produktionsleitung betrauten Kapitalistenstandes erklären will, ist als literarisch bemerkenswert aus der neuesten Zeit zu verzeichnen, daß Adolf Wagner, den ich bedingungsweise dieser Gruppe zugezählt hatte, sich nach einem anfänglichen Schwanken dahin entschieden hat, die Gedanken der Arbeitstheorie nicht nur für die Rechtfertigung, sondern auch für die theoretische Erklärung des Zinses soweit aufrecht zu halten, daß aus ihnen die noch erforderliche Vervollständigung der von meiner Theorie gebotenen „im ganzen gelungenen" aber „ergänzungsbedürftigen" Zinserklärung zu schöpfen sei^). Inzwischen wurde dieselbe Variante der Arbeitstheorie auch von Stolzmann 2) aufgenommen und ausführlich begründet. Da Stolzmanns Theorie manche originelle Züge aufweist und zugleich jedenfalls die sorg- fältigste und geschlossenste Durchführung darstellt, welche der Gedanke der Arbeitstheorie bisher gefunden hat, dürfte ihr gegenüber eine etwas eingehendere Darstellung und Würdigung am Platze sein. Stolzmann nimmt seinen Ausgangspunkt von der Werttheorie. Er vertritt eine eigentümlich modifizierte, von ihm selbst so genannte „Arbeits- kostentheorie"*). Der Tauschwert der Güter wird durchgreifend durch ^) Siehe oben S. 273 Note. •) Die soziale Kategorie der Volkswirtschaftslehre, Berlin 1896. Seither hat Stolzmann diesem ersten ein zweites Buch — von fast 800 Seiten — unter dem Titel „Der Zweck in der Volkswirtschaft" (1909) folgen lassen, welches im wesentlichen eine polemische Verteidigung des ersten und zwar insbesondere auch gegen meine inzwischen veröffentlichte Kritik desselben bezweckt. Da Stolzmann im zweiten Werke alle wesent- lichen Geundgedanken des ersten bestätigt, darf ich wohl auch jetzt noch meiner Kritik vorzugsweise den — systematisch viel geschlosseneren — Text der „Sozialen Kategorie" zugrunde legen unter bloß gelegentlicher Benützung einzelner wesentlicher im späteren Werke hinzugefügter Zusätze oder Erläuterungen. Auf Stolzmanns Polemik gehe ich nur ganz ausnahmsweise ein, teils wie sie schon durch ihre Massenhaftigkeit ein genaues Eingehen verbietet, teils auch, weil speziell die reichlich in sie eingestreuten Mißverständnisse eine allzu weitläufige Aufklärungsarbeit erfordert hätten. Vgl. auch meine Note auf S. 264 der 3. Aufl. und 4. Aufl. S. 197 meiner Positiven Theorie. *) Auf S. 234f. seines ,, Zweck" will Stolzmann gegen diese Einreihung seiner Werttheorie in das ,, Schubfach" der Arbeitskostentheorie deprezieren und bringt bei dieser Gelegenheit unter anderem die Bemerkung vor, daß er „nicht Anhänger, sondern Gegner jener Theorie" sei. Dem gegenüber muß ich ihm doch wohl in das Gedächtnis lurückrufen, daß er in seiner ,, Sozialen Kiitegorie" z. B. auf S. 364 den Satz, „daß sich der Wert der Güter — mit Ausnahme der Raritäten — nach der Produktionskosten- arbeit richtet", als „unumstößliche Wahrheit" bezeichnet, und ebenda S. 329 erklärt hat, daß „nur eine Reform, nicht eine Preisgebung der Arbeitskosten theorie" die rich- tigen Wege zu ebnen im Stande sei. Kann so ein Gegner der Arbeitskostentheorie sprechen — ganz abgesehen davon, daß der im Text weiter entwickelte detaillierte V. Arbeitstheorien- Stolzmann. 505 ihre Arbeitskosten bestimmt; aber nicht etwa, wie Ricardo und die Sozialisten lehren, durch die Quantität der in die Produkte verwendeten Arbeit an sich, auch nicht, wie manche andere Theoretiker lehrten und lehren, durch die Größe der mit der Arbeit verbundenen Unlust oder Plage, sondern bestimmend ist die Arbeit, „weil und soweit sie Vergeltung er- heischt", „also eigentlich nicht dieArbeit selbst", sondern ihr Lohn (S.33Ö). Der Lohn selbst aber — und dies ist eine zweite grundlegende Prämisse des SxoLZMANNschen Systemes — wird ebenso wie die gesamte Güter- verteilung überhaupt, durch soziale Machtverhältnisse bestimmt. Der Arbeiter muß leben. Er braucht für jede Zeitspanne seines Daseins irgend eine Summe von Nahrungsmitteln (dieses Wort im allerweitesten Sinne genommen), welche Summe Stolzmann seine „Nahrungseinheit" nennt. Ej" legt diesem Begriff eine außerordentlich große Wichtigkeit bei. Der- selbe erscheint ihm als indispensables Zwischenglied für die Bildung und Bestimmung des Güterwertes. Von der auch sonst mehrfach verbreiteten Meinung ausgehend, daß die einzelnen Bedürfnisse inkommensurabel seien ^), glaubt er, daß sich deshalb der Güterwert nicht von ihnen ableiten oder nach ihnen bestimmen könne, und daß vielmehr „hier wie überedl in der Wissenschaft der ganze Mensch mit all seinem Bedarf im ganzen als nächste faßbare Werteinheit genommen werden muß" (264). Die Wertbildung spielt sich dann folgendermaßen ab. Zunächst bestimmt sich, und zwar durch soziale Machtverhältnisse, die Größe der Nahrungseinheit, die der Arbeiter für sich erlangen kann. Dieselbe ist nicht etwa irgend eine physiologisch oder sonst naturgesetzUch feststehende Größe, sondern das Ergebnis eines sozialen Ringens, wobei nicht rein ökonomische, sondern Machtverhältnisse darüber entscheiden, welches Quantum von Nahrungs- mitteln der Arbeiter für sich erringen, welchen Lebensfuß er für sich durchsetzen kann. Von der Größe der als Lohn zu empfangenden Nahrungs- einheit leitet sich dann der Tauschwert der einzelnen Produkte nach dem einfachen Schlüssel ab, daß ein Produkt immer so viele Nahrungseinheiten wert ist, als seine Erzeugung korrespondierende Arbeitseinheiten (z. B. Arbeitstage), beziehungsweise aliquote Teile von Arbeitseinheiten ge- kostet hat. Inhalt seiner Lehre eine unzweifelhafte, echte Arbeitskosten theorie auch wirklich ist? Sollte aber — was allerdings weder nach dem Wortlaut, noch nach dem ganzen Kontext anzunehmen ist — Stolzmanns Ablehnung sich nur auf die RiCARDO-MARXsche Variante der Arbeitskost<;n theorie beziehen, dann wäre der polemische Protest erst recht grundlos, weil ich ja, wie die oben folgenden Worte meines Textes zeigen, die Verschiedenheit der SjOLZMANNSchen von der RiCARDO-MABXschen Arbeitskostentheorie selbst schon mit der größten Ausdrücklichkeit betont hatte. ^) Ich habe mich über diese Meinung an einem anderen Orte eingehend geäußert (Conrads Jahrbücher N. F. Bd. XIII S. 46ff. und neuerdings in meiner „Positiven Theorie" 3. Aufl. S. 331ff., 4. Aufl. S. 247ff. und Exkurs X); hier will ich grund- sätzlich jede Antikritik vermeiden und daher auch auf diesen Punkt nicht weiter eingehen. 506 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Stolzmann entwickelt dieses Arbeitskostengesetz zunächst für einen vorgestellten primitiven Urtypus. Er nimmt an, daß eine soziale Gruppe von zehn Personen sich ihre zehn menschlichen Gesamtbedarfe oder Nahrungseinheiten arbeitsteilig nach einem einheitlichen Wirtschaftsplan beschaffe. Jeder der — gleich fleißigen und geschickten — Genossen ver- legt sich auf die Erzeugung einer der zehn Güterarten, aus welchen der Gesamtbedarf sich zusammensetzt, und fertigt davon, die Erzeugung von Anfang bis zu Ende fertig stellend, während desselben gleichen Zeitraumes je zehn Stücke an. Unter diesen Umständen — führt Stolzmann aus — kann und wird keine andere Verteilung des Gesamtproduktes unter die einzelnen Genossen platzgreifen, als daß jeder Genosse für die volle Arbeits- einheit, die er in die Produktion eingeworfen hat, eine volle gleiche Nah- rungseinheit, bestehend aus zehn Güterstücken, aus je einem Stück von jeder der zehn Güterarten empfängt; und die einzelnen Güterstücke, die, durch eine gleiche Quote der Arbeitseinheit geschaffen, auch eine gleiche Quote der Nahrungseinheit repräsentieren, würden sich, wenn es über- haupt zu einem förmlichen Austausch kommt, untereinander auf gleichem Fuße vertauschen. Warum? Weil unter den geschilderten Verhältnissen alle zehn Genossen gleich mächtig, keiner einem ,, Zwangsverhältnis" unterworfen, vielmehr jeder von ihnen imstande ist, einem allfälligen Versuche seiner Genossen, ihn auf eine kleinere Nahrungseinheit zu be- schränken, beziehungsweise die von ihm gefertigten Güterstücke nach einem schlechteren Maßstabe zu vergüten, durch die Drohung mit dem „Davonlaufen" wirksam zu begegnen^). Das auf diese Weise für den „Urtypus" plausibel gemachte Arbeits- kostengesetz überträgt Stolzmann sodann, unter gewissen, nunmehr ein- tretenden Modifikationen, auch auf die entwickelte Volkswirtschaft. Hier ist die Verteilung um vieles verwickelter: teils, weil die Nahrungseinheiten nicht so einfach aus ihren Bestandteilen bloß ,, zusammenzuholen", sondern verwickelte Tauschprozesse inmitten liegend sind; teils weil die Arbeiter nicht mehr als alleinige Partizipanten, sondern neben ihnen auch die Kapitalisten und Grundeigentümer als Beteilungswerber auftreten. Aber das Wesen des Verteilungsprozesses bleibt das gleiche. Stolzmann lehnt den Gedanken, als ob etwa jeder der zusammenwirkenden Produktions- faktoren in dem Verhältnisse am Gesamtprodukte Anteil erhielte, in welchem er zur Entstehung desselben beigetragen hat, und als ob somit produktionstechnische oder ökonomische Momente über die Zumessung der Verteilungsquoten entschieden, wiederholt mit dem größtmöglichen Nachdruck ab — wie denn ja sein ganzes, nicht umsonst mit dem Titel „Die soziale Kategorie" überschriebenes Werk dem Nachweis gewidmet ist, daß nicht rein ökonomische, sondern in ausschlaggebender Weise ») a. a. 0. S. 31—36; vgl. auch S. 304. V. Arbeitstheorien. Stolzmann. 507 soziale Machtverhältnisse die heutige Güterverteilung beherrschen. „Die Macht allein, die Verteilungsgesetze, schreiben die Größe des Anteils vor" (41). „Die technische Beitragszurechnung des Naturfaktors geht durchaus andere Wege als seine soziale Zurechnung und Ertrags- abfindung" (341 f.). „Nicht was ein Faktor im Dienste der technischen Herstellung der Produkte leistet, sondern was dem Menschen, in dessen Eigentum der Faktor steht, für die Hergabe desselben als Ertragsdividende herausgegeben werden kann und muß, ist für den Umfang jener Zurechnung entscheidend" (338). Der Wert des Gesamtproduktes wird nicht etwa nach einem ziffermäßig bestimmten Teil, den die Produktionsfaktoren an der Hervorbringung des Gesamtproduktes hätten, sondern nach „ander- weitigen Prinzipien, nämlich nach sozialen Machtverhältnissen, unter die Besitzer der drei Faktoren verteilt" 61). Und zwar in folgender Weise. Der Arbeiter will und braucht seine „Arbeiternahrungseinheit". Wie groß diese ausfällt, das hängt nicht, wie andere Theoretiker lehren, von dem produktiven Effekt der Arbeit, sondern wesentlich von den „jeweiligen sozialen Klassenverhältnissen" ab: „die bisherige Lebensart der Arbeiter, ihre Macht, ihre Begehrlichkeit und die Achtung, die man ihnen jeweilig als Mitmenschen nach den Auffassungen über Menschenwürde und nach den Geboten der Ethik und der Religion entgegenbringt", entscheidet über die Höhe des zu erringenden Lohnes (334). Aber auch der Kapitalist will leben. Auch er braucht und will eine „Kapitalisten-Nahrungseinheit", deren Größe ebenso wie die der Arbeiter- Nahrungseinheit durch soziale Bildungs- und Machtverhältnisse bestimmt wird, als welche z. B. die Höhe der Kultur, der Umfang der modemäßigen Bedürfnisse, die Vorbildung der Kapitalistenklasse, ihr Zusammenschluß zu Verbänden, Koalitionen, Syndikaten, dann auch staatliche Einwirkungen u. dgl. namhaft gemacht werden (371 ff.). Und zwar ist für die Höhe des Kapitalgewinnes der nach solchen sozialen Rücksichten zugemessene Lebensbedarf des „letzten", kleinsten Kapitalisten entscheidend; mit anderen Worten, das Kapital muß so viele Prozente als Gewinn abwerfen, daß für den kleinsten unter den heutigen Besitz- und Produktionsverhält- nissen noch an der Grenze der Konkurrenzfähigkeit stehenden und für die produktive Versorgung der Gesellschaft unentbehrlichen Unternehmer- kapitalisten, bei dem durchschnittlich bestehenden Verhältnis zwischen dem eigenen und dem entlehnten Kapitale, die standesmäßige Kapitalisten- Nahrungseinheit resultiert. Hiemit sind die Elemente bestimmt, aus denen sich in der entwickelten Volkswirtschaft der Tauschwert der Produkte aufbaut. Der Tauschwert der Waren setzt sich auf demjenigen Niveau fest, welches erfordert wird, um die in der Erzeugung verwendete Arbeit nach dem von den Arbeitern durchgesetzten Lohnsatze, und das mitwirkende Kapital nach dem zur Deckung der Kapitalisten-Nahrungseinheit nötigen Gewinnsatze zu remu- 508 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. nerieren. Der Giundeigner erscheint dagegen in der Rolle des „residual claimant"; er empfängt als Grundrente den an ihn „abzuführenden und auf die Geltendmachung seines Grundeigentums basierten Anteil vom Ertrage, der nach Abzug der beiden ersteren festen Abfindungsbeträge vom Gesamtwertertrage übrig bleibt" (411). Wieso kann man aber die dargestellte Werttheorie, die doch neben Arbeit und Arbeitslöhnen ein wertbildendes Element auch in den zu honorierenden Kapitaldiensten erblickt, gleichwohl eine „Arbeits- kostentheorie" nennen? — Indem man auch die Funktion der Kapitalisten, die durch den Kapitalzins honoriert wird, für eine Art von Arbeit erklärt. Dies tut Stolzmann, wenn er ganz am Schluß seiner systematischen Darstellung seine Auffassung vom Kapitalgewinne als einer „sozialnot- wendigen Vergeltung der sozialnotwendigen Kapitalbildungs- und Kapital- verwendungsfunktionen" als eine „nicht neue" und in ihrem Kern mit derjenigen Auffassung zusammentreffende erklärt, welche wir oben als die deutsche Variante der Arbeitstheorie bezeichnet haben. Stolzmann zitiert beifällig eine Äußerung A. Wagners, wonach die „Arbeit", welche die Produkte kosten, auch die notwendigen Leistungen des Privatkapi- talisten und Privatunternehmers mit umfasse, und erklärt ausdrücklich, daß er auf diesen Gedanken nicht bloß, wie A. Wagner, eine sozialpolitische Rechtfertigung, sondern eine eigentliche Erklärung des Zinses aufstützen wolle ^). Diese systematisch notwendige Schlußwendung seiner Theorie scheint Stolzmann allerdings nicht während des ganzen Verlaufes seines Werkes stetig vor Augen gestanden zu sein; es finden sich Äußerungen, in welchen er die wertbestimmenden Arbeitskosten sich in den für die Arbeiter im engeren Sinne zu entrichtenden Quoten von „Arbeiter-Nahrungs- einheiten" erschöpfen läßt 2). Seine wahre Meinung scheint mir indes nicht durch diese — bei ihm prinzipwidrigen — Äußerungen, sondern durch die Erhebung der Kapitalistenfunktion zu einer lohnbedürftigen Arbeitsart repräsentiert zu werden. Ich glaube, daß Stolzmanns Lehre auf der ganzen Linie zahlreichen 1) a. a. 0. S. 421ff. ^) z. B. S. 330, wo er sagt: „das Kapital ist in seinem Werte zusammenfallend mit den in demselben verwendeten Arbeitskosten, die Arbeitskosten sind identisch mit den an die Arbeiter als Lohn gezahlten Arbeiter-Nahrungseinheiten". Ähn- lich S. 372, dann auch — aad hier sogar mit einer rechnungsmäßigen Durchführung — S. 378. Ich bemerke noch, daß diese Äußerungen nicht etwa einen nicht-kapitalistischen Urzustand, sondern die Existenz des Kapitales in der entwickelten Gesellschaft bereits zur Voraussetzung haben. Stellen wie diese veranlaßten mich, in einer Besprechung des STOLZMANNschen Buches in der Zeitschr. für Volksw., Sozialpolitik u. Verwaltung VII. Bd. S. 424 Stolzmann eine Ignorierung des Einflusses ungleichen Zeitaufwandes auf die Wertbildung zum Vorwurf zu machen. Bei nochmaliger Überlegung glaube ich aber, daß vom Standpunkt Stolzmanns diese Äußerungen ein bloßes Versehen, und seine wahre Meinung die im Texte dargestellte war. V. Arbeitstheorien. Stolzmann. 509 Einwendungen unterliegt. Was von mir an der gehörigen Stelle schon gegen die Arbeitstheorien im allgemeinen eingewendet worden ist und natüriich die STOLZMANNSche Arbeitstheorie nicht weniger als die andern trifft, will ich nicht nochmals weitläufig wiederholen. Ich begnüge mich daher, einige der auffälligsten Schwächen zu bezeichnen, die speziell der STOLZMANNschen Formulierung der Arbeitstheorie anhaften. Vor allem ist schon das werttheoretische Fundament seiner ganzen Lehre, das Arbeitskostengesetz, ohne Halt. Stolzmann bemüht sich, dasselbe als einleuchtende, sozusagen einzig mögliche Grundleige der Wertbildung an einem von ihm entworfenen, den „Urtypus" repräsen- tierenden Beispiel plausibel zu machen. Er begeht jedoch dabei einen durch seine Nebenumstände interessanten Fehler. Er hatte nämlich soeben Ricardo, der sein abweichendes Arbeitsmengengesetz beiläufig aus demselben, willkürlich konstruierten Urtypus-Beispiel abgeleitet hatte, mit Recht dafür getadelt, daß derselbe übersehen habe, daß das Zusammen- stimmen des Wertes mit den Quantitäten verwendeter Arbeit nur durch die zufälligen Umstände des willkürlich gewählten Beispieles herbeigeführt werde (34 f.). In demselben Atem begeht aber Stolzmann genau den gleichen Fehler. Mit der dreifachen Voraussetzung, daß alle Genossen des Urtypus gleich fleißig, gleich geschickt sind und unter Anwendung von genau der gleichen Produktionsperiode arbeiten^), hat nämlich auc^ er aus den Beispielsumständen alle Momente eliminiert, welche den Wert der Produkte von dem Parallelismus nicht nur mit den Arbeitsmengen Ricardos, sondern auch mit den Arbeitskosten Stolzmanns hätten ab-, und einem von diesen sichtlich abweichenden „Standard" hätten zudrängen können. Und aus eben diesem Grund ist auch Stolzmanns Verteilungs- schlüssel nur „zufällige Eigentümlichkeit dieser besonderen Hypothese", aber keine allgemeingiltige theoretische Erkenntnis. Hätte Stolzmann ungleich geschickte oder ungleich fleißige Genossen in die Hypothese eingeführt, so hätte er sich rasch und sicher davon überzeugen können, daß auch bei Abwesenheit von Zwangsverhältnissen volle, gleiche Arbeiter- NahruDgseinheiten nicht immer zu erzielen sind, und daß zum alier- mindesten ein sehr bedeutender Teil dessen, was Stolzmann unter dem Titel „Macht" abzuhandeln geneigt ist, sich von nichts anderem als von der ökonomischen Wirksamkeit des betreffenden Produktionsfaktors her- leitet. Es ist sehr durchsichtig, daß und warum die Drohung eines faulen ^) Diese dritte Voraussetzung stellt Stolzmann nicht ganz wortwörtlich, wohl aber implicite mit voUer Bestimmtheit auf, indem er einerseits voraussetzt, daß jeder Crenosse die von ihm erzeugte Giitergattung „von Anfang bis zu Ende fertigstelle", also die ganze Produktionsperiode durchmesse, und andererseits „für jede Konsumtions- periode" von jeder Güterart gleich viele Stücke „zum Verbrauch daliegen" (31), so daß offenbar die Produktionsperioden aller Güter gleich der Konsumtionsperiode, und somit auch untereinander gleich sein müssen. Eine dieser Auffassung bestätigende Äußerung findet sich auch auf S. 32. 510 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. oder ungeschickten Arbeiters mit dem „Davonlaufen" einen weit weniger wirksamen „Zwang", ihm eine große Nahrungseinheit zuzugestehen, auf seine Genossen ausüben wird, als die gleiche Drohung eines geschickten und fleißigen Arbeiters! Und ganz ebenso steht es mit der verschiedenen Größe des Zeitinter- valls, welches zwischen dem Einsatz der Arbeit und der Erlangung ihrer genußreifen Frucht verstreicht und von irgend jemandem abgewartet werden muß. In Stolzmanns Urtypus kann die Rücksicht auf dieses Zeitintervall den von Stolzmann herausgefundenen Arbeitskostenschlüssel freilich ebenfalls nicht stören, weil ja Stolzmann jenes Intervall bei allen Arbeiten und allen Arten von Produkten als genau gleich, also sich wechsel- seitig kompensierend, vorausgesetzt hat. Aber Stolzmann kann und will doch offenbar nicht annehmen, daß jene Gleichheit des Intervalls auch im wirklichen Leben zutreffe, und zwar so durchgreifend zutreffe, daß man sie als typischen Normalfall auch der Ableitung allgemein giltiger Gesetze ohneweiters zu Grunde legen könnte; und ebensowenig durfte Stolzmann beweislos präsumieren, daß die Verschiedenheit des Intervalls, auch wo sie tatsächlich eintritt, für die Wertbildung belanglos sei. Tat- sächlich präsumiert er dies aber. Er berührt die Frage auf S. 303 seines Buches, wo er meint, die „vor- getane" und die ,, nachgetane" Arbeit sei ,, wesensgleich", der Unterschied sei ,,nur" ein zeitlicher, und aus demselben sei (in seinem Urtypus) „für den Wertansatz und die Verteilung kein Einfluß erfindbar" gewesen. Der „Einsatz" an Arbeit sei in beiden Fällen der gleiche, und daher müsse für die Verteilung die vorgetane Arbeit der nachgetanen gleichgesetzt- werden. Die Zeit könne bei der Wertbildung und Verteilung überhaupt nur als Arbeitszeit eine Rolle spielen in der Art, ,,daß sich die an die einzelnen Arbeiter zu verteilenden Werte als Vielfache oder Quoten von Nahrungseinheiten in Verhältnis setzen zur Länge der Zeit, welche mit den einzelnen Arbeiten ausgefüllt wird" — einerlei ob diese Arbeiten als vorgetane oder nachgetane geleistet werden. — Ich glaube, all das ist einfach eine tatsachenwidrige Präsumtion, die an die gleiche beweislose Verleugnung des Einflusses der Wartezeit bei Marx erinnert^) und die bei beiden Autoren in gleicher Weise eine pefitio prindpii zu Gunsten des von ihnen angerufenen Wertprinzips bedeutet *). — ^) Siehe oben S. 410ff. *) Seltsamer Weise will Stolzmann den Spieß umdrehen, und die von mir, wie ich glaube, mit einer ziemlich ausführlichen Begründung versehene Darlegung, daß nicht bloß die Arbeitszeit, sondern auch die Wartezeit ein für die Entlohnung und Wert- bildung nicht gleichgültiger Umstand sei, mir als eine petitio principii anrechnen. Ich beabsichtige hier nicht in eine ausführliche Antikritik einzugehen und bemerke nur, daß mir alle Versuche Stolzmanns, auch im Falle des Einschiagens längerer Pro- duktionsperioden ein , .Warten" als durch ein geschicktes Ineinanderklappen von Pro- duktionsstufen und Bedarf vermeidlich hinwegzudemonstrieren (Soziale Kategorie V. Arbeitstheorien. Stolzmann. 511 Welche Unnatur der von Stolzmann vorgezogenen Auffassung in der Richtung anhaftet, daß sie ein offenbares Besitzeinkommen zu einem Arbeitslohn stempelt, brauche ich nach dem, was ich hierüber schon den Arbeitstheorien im allgemeinen vorgehalten habe, hier nicht nochmals darzulegen. Gänzlich und offenliegend vergriffen scheint mir aber endlich Stolz- manns Versuch, der „Kapitalisten-Nahrungseinheit" eine bestimmende oder verursachende Rolle im Wertbildungs- und Verteüungsprozesse zu- zuweisen. Wenn es irgend etwas gibt, was auf der ganzen Linie nicht Ursache, sondern Wirkung der Existenz und Höhe des Kapitalzinses ist, so ist es der Lebensfuß der Kapitalistenexistenzen. Es gibt kein Besitz- minimum, bezüglich dessen eine prodiiktionstechnische oder sonstige sozialwirtschaftliche Notwendigkeit bestünde, daß es seinen Mann mit Kapitaleinkommen auf einem bestimmten Fuße ernähren müsse. Die Volkswirtschaft braucht Kapital; sie braucht auch, wenn und insolange die Kapitalbildung vorwiegend privatwirtschaftlich sich vollzieht, Kapi- talisten, aber sie ist ganz und gar nicht dessen bedürftig, daß irgend eine Person oder Personenklasse ausschließlich durch Kapitalgewinn auf einem bestimmten Fuße erhalten werde. Wer zu wenig eigenes Kapital hat, um aus dem Ertrag desselben in einer von ihm beanspruchten Weise standesgemäß zu leben, braucht deswegen noch durchaus nicht notwendiger- weise aus seinem Stande auszuscheiden (man wollte denn den müßigen Rentier als einen besonderen „Stand" bezeichnen, nach dem dann aber sicherlich kein unentbehrlicher volkswirtschaftlicher Bedarf bestünde!), oder als ökonomische Existenz zugrunde zu gehen, sondern er kann sehr wohl das auf seine Ansprüche fehlende auch durch die Aufbietung oder Steigerung seiner persönlichen Tätigkeit hinzuerwerben. Das tut der Inhaber eines kleinen Kapitales, der gleichzeitig einen Erwerb als Beamter, Arzt, Dienstbote sucht, das tut aber auch der Unternehmer, der sich nicht auf die summarische Oberleitung seiner Unternehmung beschränkt, sondern in ihr selbst Hand ans Werk legt, die tatsächlichen Leistungen eines Direktors oder Vorarbeiters, oder einfachen Gehilfen verrichtet, und sich S. 304ff., besonders 307, 308, 313), trügerisch und aussichtslos zu sein scheinen. Auch die geschickteste Einteilung kann eine Decke nicht länger machen als sie ist, und wenn Stolzmann getrost voraussetzen zu können meint, daß dann eben „jederzeit genügende Gregenwartsgüter zum unmittelbaren Verzehr parat liegen" werden (313), welche die Gesellschaft jedes lästigen Wartens überheben, so spielen diese „genügenden Gregen- wartsgüter" in seinem Gedankengang doch wohl die Rolle eines deus ex machina: ihr „Paratliegen" würde freilich alle Schwierigkeiten lösen, aber erklärt ist es nicht, und zumal auch ihr zuversichtliches „Genügen" nicht! — Ausführlicheres über dieselbe schon früher von Clarx und neuestens auch von Schumpeter berührte Frage siehe in der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik u. Verwaltung Bd. 16 (1907) S. 19ff., 437f. und 455f. (gegenüber Clark) und in Bd. 22 (1913) S. 23f. (gegenüber Schum- peter). 512 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gregenwart. daher in seiner eigenen Unternehmung gleichsam auch einen Gehalt oder Lohn verdient. Stolzmann hat sich denn auch eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, die seinej- Lehre von der ausschlaggebenden Nahrungseinheit des letzten Kapitalisten gegenüberstehen, selbst vor Augen gehalten: daß Kapitalisten und zwar gerade die kleinsten Kapitalisten, auch Leute sind, die nicht vom Kapitalertrag zu leben brauchen, wie kleine Handwerker, Arbeiter oder Beamte; daß der Kapitalist mit dem Unternehmer nicht zusammen- fällt; daß der müßige Geldkapitalist keine soziale Notwendigkeit ist; daß wenn man nicht den Geldkapitalisten, sondern den das Kapital produktiv anwendenden Unternehmer als die entscheidende Persönlichkeit ansieht, der Unternehmer wieder keineswegs bloß mit eigenem Kapital zu arbeiten pflegt, so daß der Kapitalbesitz des letzten Unternehmers nicht mit der Kapitalgröße der letzten Unternehmung zusammenfällt, u. dgl. mehr. Er begleitet auch die Revue dieser selbstaufgewiesenen Schwierigkeiten mit einer recht lebhaften Anerkennung ihrer Größe. Es entringt sich ihm das Bekenntnis, daß beim Anblick der vollen Wirklichkeit sich seiner Auf- fassung „ganz unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzen", und daß insbesondere die seiner Theorie zu Grunde liegende Beziehung des sachlichen zum persönlichen Faktor zwischen dem Produktionsfaktor Kapital und dem persönlichen Inhaber desselben, dem Kapitalisten, „gar nicht vorhanden oder doch nur eine sehr nebensächliche und lockere zu sein scheine" (380). Im einzelnen findet er eine von den entgegenstehenden Schwierigkeiten „recht ernsthaft", ja auf den ersten Anblick „beinahe vernichtend"; eine andere ließe an der Richtigkeit seiner Auffassung „bei- nahe verzweifeln", abermals eine andere dieselbe sogar „widersinnig" erscheinen, u. dgl. mehr. Trotz alledem glaubt aber Stolzmann zwischen diesen massenhaft sich auftürmenden Schwierigkeiten mittelst eines ganzen Systemes von gewundenen Erklärungen und gewagten Deduktionen seine liieorie hindurchsteuern zu können; Darlegungen, von denen ich indes glaube, daß nur jemand, der eine so große Voreingenommenheit für den von Stolzmann verteidigten Standpunkt besitzt wie dieser Autor selbst, sich mit ihnen zufriedenzustellen geneigt sein wird. Ich halte daher eine fortlaufende Detailkritik ihnen gegenüber für entbehrlich und möchte nur, durch neuere Ausführungen Stolzmanns veranlaßt, einen einzigen Punkt zu genauerer Beleuchtung herausgreifen. In der zweiten Auflage dieses meines Werkes hatte ich irriger Weise vermutet, daß in Stolzmanns Sinne die Rolle des letzten, d. i. „kleinsten" konkurrenzfähigen Unternehmerkapitalisten doch auch Handwerkern oder anderen nicht bloß von Kapitalertrag, sondern von gemischtem Kapital- und Arbeitsertrag lebenden, also wirklich „kleinen" Unternehmern zufallen könne, und hatte hieraus gewisse Argumente gegen Stolzmann abgeleitet. Stolzmann trat dem durch eine authentische Interpretation entgegen, V. Arbeitstheorien. Stolzmann. 513 in welcher er die Handwerker und überhaupt die Leute, die „auch mit Kapital arbeiten", klipp und klar aus seinem Begriff des „letzten Kapi- talisten" ausschließt; es kämen vielmehr in seinem Sinne nur jene Unter- nehraerkapitalisten in Betracht, für deren Unternehmungen die Anwendung des Kapitales die ,, wesentliche Grundlage" büdet, die als Inhaber „rein kapitalistischer" Unternehmungen „machtvoll" und „ausschlaggebend" auf dem Markte in Wirksamkeit treten können, die ferner höchstens „aus- nahmsweise in schlechter Zeit nach Ablehnung ihres Direktors ihren eigenen Minister machen", gewöhnlich aber gar keine Arbeit in ihrer eigenen Unter- nehmung leisten; denn ein „Kapitalist" „arbeite" nicht und beziehe keinen „Lohn", ein im eigenen Betriebe gezahlter Lohn sei eine contradictio in ctdjecto, ein „Unding"^). Im Sinne dieser authentischen Interpretation ist es also, um es mit eixiem von Stolzmann nicht gebrauchten Ausdruck vielleicht bizarr, aber deutlich zu sagen, der ,, kleinste unter den ganz Großen", dessen Lebensansprüche die Höhe des Kapitalzinsfußes andiktieren: das Kapital muß so viel an Prozenten abwerfen, daß der geschilderte „kleinste" Unter- nehmerkapitalist ohne jene Zubuße von selbstverdientem Arbeitslohn, der bei ihm begrifflich ausgeschlossen ist, „ausschließlich durch Kapital- gewinn" 2) auf standesgemäßem Fuße leben kann. Ich glaube, ein Gegner, der Stolzmanns Lehre ad absurdum führen wollte, hätte sie für diesen Zweck nicht besser zuspitzen können, als Stolz- mann es in diesen nachdrücklichen Erläuterungen selbst getan hat. Klingt es ja doch schon wie eine Ironie auf den aus der Begriffswelt der Grenz- werttheoretiker entlehnten Begriff des „letzten, kleinsten Kapitalisten", wenn wir diesen in den Reihen der Großkapitalisten zu suchen angewiesen werden! Aber die Hauptsache ist, daß durch diese Zuspitzung so ganz deutlich wird, wie sehr Stolzmanns Theorie den von mir erhobenen Vor- wurf verdient, daß sie Ursachen und Wirkungen verwechsle. Schon der Grundgedanke der STOLZMANNSchen Verteilungstheorie, der Gedanke von der „sozialnotwendigen Nahrungseinheit" scheint mir, und zwar auf der ganzen Linie, den natürlichen Zusammenhang der Dinge auf den Kopf zu stellen. Daß die Leute auf einem bestimmten Fuße leben, ist das Er- gebnis des Verteilungsprozesses und nicht seine erklärende Ursache. Nicht weil die Leute auf einem bestimmten Fuße „sozialnotwendig" leben müssen, tragen die ihnen zugehörigen Produktionsfaktoren so viel, daß sie auf diesem Fuße leben können, sondern weil die ihnen zugehörigen Produktionsfaktoren nach Gesetzen, in deren Aufhellung eben das Problem der Verteilung liegt, eine Vergütung von bestimmter Höhe erlangen, können die hinter den Faktoren stehenden Personen eine gewisse Lebenshaltung M „Zweck" S. 418, 419, 421. ») Diese Worte werden von Stolzmann selbst („Zweck" S. 422) durch gesperrte Lettern hervorgehoben. Böbm-Bawerk, Kapitalzins. 4. Aafl. 33 514 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. führen und als standesgemäß sich angewöhnen. Dies gilt, wie man immer deutlicher erkennt, selbst auch vom Arbeitslohn, bezüglich dessen noch am ehesten ein gegenteiliger Anschein hatte entstehen können. Aber auch bezüglich des Arbeitslohnes läßt sich die moderne Theorie an Kicardos Gesetz vom „natürlichen", Standes- und gewohnheitsmäßig notwendigen Arbeitslohn bekanntlich nicht mehr genügen, weil die inzwischen ge- sammelten Erfahrungen immer zwingender davon überzeugt haben, daß dieses Gesetz, soweit es überhaupt bezüglich des Tatsächlichen zutrifft, die kausale Relation verkehrt: der Lohn wird nicht hoch, wenn und weil die Arbeiter sich an einen höheren Lebensfuß gewöhnen, sondern sie ge- wöhnen sich an einen höheren Lebensfuß, wenn und weil der Lohn aus anderen, von der Lohntheorie eben aufzuklärenden Gründen für längere Dauer hoch geworden ist^). Ganz eklatant gilt dies aber vom Kapitaleinkommen. Es ist wohl ein ganz vergebliches Bemühen, uns einzureden, daß das Kapital einen Zins überhaupt und einen Kapitalzins von bestimmter Höhe insbesondere deshalb trägt, weil es „sozialnotwendigerweise" Leute geben müsse, die, an der Spitze von Unternehmungen stehend, sich besoldete Direktoren halten und trotzdem von Kapitalgewinn allein ein für einen Großkapi- talisten standesgemäßes Leben führen können. Denn es ist für jeden nicht völlig Befangenen allzu einleuchtend, daß es umgekehrt Leute dieser Art nur deshalb geben kann, weil das Kapital zuvor aus andern, von der Theorie eben aufzuklärenden Gründen ein Erträgnis bringt; und bei der Erforschung dieser Gründe wird wohl von gewissen Tatsachen natürlich -technischer Natur, die Stolzmann mit aller Gewalt in den Hintergrund drängen will, wie z. B. von der Mehrergiebigkeit der mit einem größeren Kapital arbeiten- den Produktionsmethoden u. dgl., erheblich mehr die Rede sein müssen als von der recht dubiosen „Sozialnotwendigkeit" gewisser „kleinster", ohne jede persönliche Mitarbeit nur von Kapitalgewinn lebender Groß- unternehmer! — Ich möchte zum Schlüsse die Erwähnung nicht unterlassen, daß mich Stolzmanns Ausführungen im einzelnen oft durch ihren frischen und originellen Zug, sowie durch die sichtliche Energie seines Forschungstriebes anmuten; ihre positiven theoretischen Ergebnisse muß ich jedoch nach dem Gesagten für so wenig befriedigend halten, daß dieselben kaum berufen sein dürften, in der Geschichte der Kapitalzinstheorien eine einflußreiche Rolle zu spielen. VL Nicht unerheblich ist die Zahl derjenigen Theoretiker, welche sich auch noch in der jüngsten Zeit — rein oder eklektisch — zu einer moti- ^) Vgl. hierüber jetzt auch die soeben erschienene Schrift Tugan-Baranowskys „Soziale Theorie der Verteilung", 1913, S. 20. VI. Prodiiktivitätstheorien. 515 vierten Produktivitätstheorie bekennen. Ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu erheben, verzeichne ich aus den romanischen Literaturen Maurice Block*), Pantaleoni^) und Landky^), aus der angloamerika- nischen Francis Walker*), J. B. Clark*) und Seager«), aus der deutschen wiederum Dietzel, der mit einer eigentümlichen methodischen Eklektik einen Teil der Zinsphänomenc aus der Ausbeutungstheorie, einen anderen aber gleichwohl aus der Produktivitätstheorie erklären möchte'), femer Philippovich.8), Diehl»), Julius Wolfio), Wieser *i), Gebauer«), Eng- LÄNDERJ3), Bundsmann"), und Karl Adler"). Von diesen SchriftsteUem scheinen mii- jene auf ein besonderes Blatt zu gehören, die ihre Theorie zwar mehr oder weniger ausdrücklich als eine „Produktivitätstheorie" bezeichnen, aber in den motivierenden Gredanken- gängen, durch welche hindurch sie den Zins aus der Produktivität des Kapitales ableiten, so viel Verwandtschaft mit dem moderneren Gedanken- kreise der Agiotheorie zeigen, daß sie sachlich dieser letzteren näher stehen als den Produktivitätstheorien alten Schlages. Das Vorkommen dieser Variante von Produktivitätstheorien darf auch gar nicht wunder nehmen, da ja diejenige Grundtatsache, die man als „Produktivität des Kapitales" zu bezeichnen pflegt, nändich die Mehrergiebigkeit der kapitalistischen Produktionsmethoden, bekanntlich von der Agiotheorie ebenfalls und zwar so ausgiebig verwertet wird, daß sie schon öfter als einmal u, z. sowohl von Anhängern wie von Gegnern geradezu selbst als eine Art von Pro- duktivijtätstheorie bezeichnet worden ist"). 1) Progrös de la science 6conomique depuis Adam Smith (Paris 1890) II 319ö., 328, 335f. *) Principii di Economia pura, Florenz 1899 (zweiter unveränderter Abdruck 1894) S. 301; Pantaleonis nur knapp angedeutete Auffassung scheint sich mir ganz im Fahrwasser der unten ausführlich zu besprechenden Theorie Wiesers zu bewegen. 3) L'int6ret du capital 1904. *) Quarterly Journal of Economics, Juli 1892; vgl. auch meinen Entgegnungs- artikel ebenda, April 1895. *) Distribution of wealth 1899; Essen tials of economic theory 1907. •) Principles of Economics 1913. ') Siehe unten, Abschn. VIII, «) Grundriß der Pol. Ökonomie I. Bd. 1893, § 119; 10. Aufl. 1913, § 108—110. ») P. J. Proudhon, Seine Lehre und sein Leben, II. Abt. (Jena 1890) S. 216—225. ") Sozialismus und kapitalistische Gresellschaftsordnung, Stuttgart 1892. ") Der natürliche Wert, Wien 1889. ^*) Das Wesen des Kapitalzinses und die Zinstheorie von Böhm-Bawebk, Bres- lau 1904. ") Zur Theorie des Produktivkapitalzinses. Halle 1908. ") Das Kapital, Innsbruck 1912. '') Kapitalzins und Preisbewegung, München 1913. ^•) Z. B. schon von Pierson in „de Economist" 1889 S.217f., dann von Wicksell, Über Wert, Kapital und Rente S. 86, von Diehl in den CoNRADSchen Jahrbüchern 3. F. Bd. 35 (1908) S. 551, und neuesteps wieder von Brown, The marginal productivity 33» gX6 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Aus der obigen Liste scheinen mir vorzugsweise die Werke jüngeren Erscheinungsdatums dieser Charakteristik zu entsprechen, wie insbesondere die Theorien von Clark, Seager, Landry, Bundsmann, Karl Adler und wohl auch von Philippovich, der wenigsten in den letzten Auflagen seines bekannten vielverbreiteten Lehrbuches eine nicht unbeträchtliche Annäherung an den Gedankenkreis der Agiotheorie gezeigt hat. Von den übrigen Darstellungen hält sich die Mehrzahl in dem für versus the impatience theory, im Quart. Journal of Economics, August 1913 S.631. Ich gelbst hatte mich schon vor vielen Jahren (imArt.Zins des Handwörterbuches der Staats- wissenschaften) dahin geäußert, daß ich gegen jene Bezeichnung, „vorausgesetzt, daß man sie nur frei von Jener verfänglichen Nebenbedeutung gebraucht, welche die alten Produktivitätstheoretiker in sie zu legen pflegten und welche leider auch heute noch häufig und gerne in sie gelegt wird, nicht viel einzuwenden haben würde, außer etwa, daß nach meiner Auffassung die Produktivität des Kapitales nie der unmittelbare und außerdem nicht der einzige Grund der Zinserscheinung ist". Das ist auch heute meine Meinung. Wenn man nur im Groben zum Ausdruck bringen will, daß auch die Agiotheorie einen Großteil ihrer Erklärung aus der (technischen!) Produktivität des Kapitales schöpft, so mag man sie immerhin eine motivierte Produktivifcätstheorie nennen. Vollkommen korrekt ist es aber nicht. Denn erstens unterdrückt diese Bezeich- nung völlig die durchaus koordinierte, wenn auch dem Grade nach schwächere Mit- wirkung, welche auch vom „ersten" und „zweiten Grund" meiner Theorie auf die Zins- entstehung ausgeübt wird, und zweitens unterdrückt sie gerade den charakteristischen, die Agiotheorie von allen stofflich verwandten Zinstheorien abhebenden Zug: die Durch- leitung der Wirkung aller drei entfernteren Zinsentstehungsgründe durch das gemein- same Zwischenglied eines Wertunterschiedes zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern. Ich weiß ganz gut, daß gerade dieser Zug für viele meinen Ansichten sonst nahe stehende Theoretiker eher einen Stein des Anstoßes bildet; ich muß ihn aber trotzdem, wie ich schon oben auf S. 301f. angedeutet habe, für den eigentlich entschei- denden Zug halten. Ich sehe wenigstens nicht, wie sich irgend eine Zinserklärung sonst mit dem heute doch schon fast allgemein in der Theorie angenommenen Gedanken zusammenreimen könnte, daß der Wert der Produktivmittel von dem Wert der aus ihnen hervorgehenden Produkte sich ableitet und mit ihm grundsätzlich gleich ist. Wer diesen Gedanken annimmt, kann, glaube ich, nicht mehr eine direkte Mehrwerts- wirkung der Produktivität des Kapitales behaupten. Versuche dazu, wie sie z. B. seinerzeit von Wteser und neuestens noch von Landry unternommen wurden, müssen notwendig scheitern (Siehe noch unten und im Exkurs XIII). Fisher hat nach der entgegengesetzten Seite gefehlt, als er annahm, daß die Produktivität des Kapitales nur durch die (von ihm als „impatience" zusammengefaßten) subjektiven Gründe hindurch wirken könne, also in der Erklärungskette noch um ein Glied weiter zurück hinter der „impatience" stehe. Ihm gegenüber ist Brown sicherlich im Recht, wenn er betont, daß Produktivität und „impatience" in gleicher Linie neben einander stehen, und die Produktivität also nicht weniger direkt als die ,, impatience" wirke: aber beide wirken auf den Zins doch nur durch das gemeinsame Zwischenglied des Mehrwerts der gegenwärtigen Güter, welches Zwischenglied mir' daher auch schon ein Glied der eigentlichen Erklärung, und kein bloß „beschreibender" Zug mehr zu sein scheint. Siehe auch oben S. 472 Note. An der hier dargelegten Auffassung glaube ich auch gegenüber der neuesten Äußerung Fetters in seinem höchst bemerkenswerten Aufsatz „über alte und neue Zinstheorien" (siehe oben S. 457 Note 4) unverrückt festhalten zu müssen. VI. Produktivitätstheorien. Wolf, Wieser. 517 die Produktivitätstheorie typischen Rahmen, oder tritt doch aus demselben nicht soweit heraus, daß ihre genauere Darstellung und Kritik ohne für den Leser lästige Wiederholungen schon l ekannter Gedankengänge durch- geführt werden könnte i). Einer besonderen Untersuchung scheint mir nur die durchaus eigenartige Theorie Wiesers zu bedürfen. Wieser hat sich die Wissenschaft zu dauerndem Dank verpflichtet ^) Dies gilt auch von den recht ausführlichen, aber nach meiner Empfindung auch recht ungeklärten Ausführungen Wolfs. Er behauptet eine ,, Wertproduktivität des Kapitales", stellt sich aber bei der ihm obliegenden Begründung dieser Behauptung mit Erwägungen zufrieden, welche ich auf der ganzen Linie nicht als wirkliche Be- gründungen oder Erklärungen, sondern nur als Paraphrasen des Problemes selbst an- sehen kann. Er erläutert die von ihm behauptete Wertproduktivität als „die Fähigkeit des Kapitales über das Maß 1. der eigenen Kosten, 2. der Kosten der technisch eventuell zum K^pitalersatz befähigten Produktionsfaktoren einen Ertrag zu liefern", und will diese These durch die „jedem zugängliche Wahrnehmung" „belegen", daß sich Über- schüsse der bezeichneten Art ergeben, wenn durch Vermittlung von Kapital die Vor- teile der Arbeitsteilung, des Großbetriebes, des Gebrauchs von Maschinen und von, einen „Einsatz" fordernden, Naturkräften gewonnen werden. Das Kapital sei sonach , .zweifellos ein objektiver Produktivitätsvermittler" (a. a. 0. 461ff.). — Nun, daß durch den Grebrauch von Kapital die Entstehung von Wertüberschüssen , .vermittelt" wird, ist allerdings zweifellos; das ist ja der Grund, warum man diese Wertüberschüsse theoretisch und praktisch überhaupt als Kapitalerträgnisse oder Kapitalzins und nicht z. B. als Arbeitslohn oder Unternehmergewinn auffaßt. Aber diese Tatsache ist ja eben der Gegenstand des Zinsproblems, das Erklärungsobjekt für alle Ziustheorien, und ganz und gar nicht ein Beweis oder Beleg für die Richtigkeit einer bestimmten, z. B. eine „Wertproduktivität" des Kapitales behauptenden Theorie. Im polemischen Teile seiner Ausführungen fühlt denn auch Wolf das Bedürfnis, zu seiner obigen , .Er- klärung" noch eine Ergänzung nachzutragen. Er meint nämlich, es sei nötig, daß der Konsument das durch die Kapitalverwendung, z. B. auf das Vierfache gesteigerte Quantum von Produkten auch höher als den Kapitalverbrauch selbst bewerte, wenn „der Erzeuger eine Veranlassung haben soll, sich eines Kapitales überhaupt zu be- dienen"; und der Konsument werde auch bereit sein, es höher zu werten, ..weil, wenn er es höher wertet, er der Werkleistung des Kapitales mit teilhaftig wird, ohne welche er für das vierfach vermehrte Produkt viermal so viel zahlen müßte, während er nun bloß das Drei- oder Zweifache zahlt. Derjenige also, der den Wert der Waren ent- scheidet (der Konsument), ist, um einen Grewinn aus der Kapitalsverwendung zu haben, gezwungen, und zwar mit dem Zwange des vernunftgemäßen Raisonnements, dem Kapitalisten mehr zu lassen, als den bloßen Wiederersatz seiner Aufwendungen, ihm also zu einem Kapitalzins zu verhelfen." Auf diese Weise gehe die bloße Güterproduktivi- tät des Kapitales in eine Wertproduktivität über (S. 466). — Aber sonst pflegt das „vernunftgemäße Raisonnement" doch bekaimtlich bei dem Bestände einer wirksamen Konkurrenz die Handlungen beider Marktparteien so zu lenken, daß der Preis der Produkte auf den Betrag der Kosten nivelliert wird : die Verbilligung der Kosten setzt sich in eine Verbilligung der Produkte um. Warum gerade hier nicht, oder doch nicht bis zur Neige? Das hätte doch etwas deutlicher aufgeklärt werden müssen als durch das schon von Adam Smith angeschlagene patriarchalische Motiv, daß der Kapitabst einen Zins haben muß, weil er sonst kein Interesse hätte, sein Kapital in der Produktion anzuwenden! — So viel sich erkeimen läßt, ist Wolf auch in seinem neueren Grundriß „Nationalökonomie als exakte Wissenschaft" 1908 auf dem Standpunkt der Produk- tivitätstheorie unverändert stehen geblieben. 518 Anhang. Die Zinsliteratur in der Cregenwart. durch seine tiefgehenden Forschungen über die allgemeinen Beziehungen zwischen dem Wert der Kostengüter und dem ihrer Produkte*), sowie durch seine unübertrefflich klaren Darlegungen darüber, daß es ein von der physikalischen Zurechnung des Anteils mehrerer zusammenwirkender Faktoren an einem gemeinsamen Produkte verschiedenes Problem der ökonomischen Zurechnung gibt und daß dieses Problem praktisch und theoretisch nicht unlösbar sein könne ^). Eine etwas weniger glückliche Hand scheint mir Wieser mit der positiven Ausgestaltung seines Lösungs- versuches und speziell mit der Anwendung seiner Zurechnungstheorie auf die Erklärung des Kapitalzinses bewiesen zu haben; wie ich glaube, größten- teils deshalb, weil er hier den eigenen theoretischen Voraussetzungen nicht völlig treu geblieben, und mit der Erklärung auf einen Gedanken übergesprungen ist, welcher an sich zur Lösung nicht geeignet ist und sich überdies mit den sonstigen Prämissen der Wiese Rschen Zurechnungs- theorie störend kreuzt. In seiner mustergiltigen Instruierung des Zurechnungsproblemes geht Wieser davon aus, daß der ökonomische Anteil, welchen jeder von mehreren zusammenwirkenden Faktoren an der Erzeugung eines gemein- samen Produktes nimmt (Wieser nennt ihn den „produktiven Beitrag"), sich ermitteln und ausscheiden läßt, sowie daß von der Größe dieses ihnen „zuzurechnenden" Ertragsanteils sich der Wert der Produktivgüter ab- leitet; letzteres in der Art, daß der Gesamtwert des im Sinne des „Grenz- gesetzes" maßgebenden 3) Produktes zur Aufteilung an die Gesamtheit der an seiner Erzeugung mitwirkenden Produktivgüter gelangt, wobei der Wertanteil jedes einzelnen Faktors sich auf die Größe seines „produktiven Beitrages" gründet, die Summe aller produktiven ^'eiträge aber genau den Wert des Produktes erschöpft*). Die Art und Weise, wie nach Anschauung Wiesers die Größe des produktiven Beitrages jedes einzelnen Faktors zu ermitteln ist, brauchen wir hier nicht zu erörtern 5): so wichtig diese Frage für andere Probleme sein mag, so spielt sie für die Lösung, die Wieser speziell dem Zinsproblem zu geben versucht, keine Rolle. Es genügt daran festzuhalten, daß im Sinne Wiesers die Produkte in der Regel durch das Zusammenwirken von Land, Kapital und Arbeit entsttehen, und daß jedem dieser drei Fak- toren, also auch dem Faktor Kapital, ein gewisser Teil des Ertrages als ^) Über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirtschaftlichen Wertes, Wien 1884, S. 139ff.; der natürliche Wert, Wien 1889, S. 67ff., 164ff. «) Der natürliche Wert, § 20. 3) Natürlicher Wert S. 96ff. *) Natürl. Wert, S. 85«.; besonders 87, 90, 91, 92. •) Siehe hierüber jetzt div ausführlichen Erörterungen in meinem Exkurse VII zur 3. Aufl. der Positiven Theorie, besonders S. 179ff. und 4. Aufl. S. 131ff. VI. Produktivitätstheorien. Wieser. 5X9 sein produktiver Beitrag zuzurechnen ist. Daß aus dem letzteren sich ein reiner Kapitalzins herausschält, hängt dann nach Wiesitrs — hierin sicherlich richtiger — Anschauung nicht davon ab, ob der produktive Beitrag des Kapitales gegenüber jenem von Land und Arbeit höher oder niedriger abgemessen wird, sondern ausschließlich von Vorgängen, die sich gewissermaßen innerhalb des dem Kapital zukommenden Ertrags- anteils zutragen. Und zwar in folgender Weise. „Jedes Kapital gibt zunächst und unmittelbar nur rohen Ertrag, d. h. solchen, der mit einer Verminderung der Kapitalsubstanz erkauft ist"^). Die Bedingungen, unter welchen dieser rohe Ertrag Quelle eines reinen Ertrages werden kann, formuliert Wies^r dahin, daß im Rohertrage alle verbrauchten Kapitalteile sich neu erzeugt wiederfinden, und außer- dem noch ein Überschuß vorhanden sein muß. Und zwar muß man be- züglich dieses Überschusses und der auf die Erzeugung desselben gerichteten »»Produktivität des Kapitales" wohl unterscheiden zwischep einem phy- sischen Überschuß und einer physischen Produktivität des Kapi- tales einerseits, und einem Wertüberschuß und einer Wertproduk- tivität des Kapitales andererseits. Wer das Kapitalzinsproblem lösen wolle, müsse in letzter Linie eine Wertproduktivität des Kapitales nachweisen und erklären. Aber für diesen Nachweis bildet der voraus- gehende Nachweis einer physischen Produktivität des Kapitales die notwendige Brücke^). Wieser führt demgemäß seineu Erklärungsgang in zwei Etappen durch: in der ersten Etappe will er die physische Pro- duktivität des Kapitales in dem Sinne erweisen und erklären, daß „die Menge der gewonnenen Rohertragsgüter größer ist als die Menge der zerstörten Kapitalgüter"; in der zweiten Etappe ist sodann zu erklären, daß „der Wert des Rohertrags größer ist als der Wert des Kapital- verbrauches". Dem Erweise des ersten Gedankengliedes ist folgende Ausführung gewidmet: „Unzweifelhaft ist der Gesamtertrag aller drei Produktionsfaktoreri Land, Kapital und Arbeit zusammen groß genug, um den Kapitalverbrauch zu ersetzen und Reinertrag zu geben. Das ist eine Tatsache, der Wirtschaft, welche notorisch ist und so wenig eines Beweises bedarf wie etwa die Tatsache, daß es Güter, oder daß es eine Produktion gibt. Zwar mißglückt M Natürl. Wert S. 123. *) ,J)ie Aufgabe der Theorie ist letzlich, die Wertproduktivität des Kapitales zu erweisen, zu diesem Zwecke muß aber erst die physische Produktivität nachgewiesen sein, die das Grerüste für jene ist. Die Wertproduktivität setzt bereits die Bestimmung des Kapitalwertes voraus, zur Bestimmung des Kapitalwertes kann man aber nur ge- langen, wenn vorerst die Frage der Zurechnung für den physischen Ertrag erledigt ist, weil der Wert des ELapitales auf dem zugerechneten Ertragsanteile beruht." A.a.O. S. 124. 520 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. ab und zu eine produktive Unternehmung und deckt ihren Aufwand nicht, manche Unternehmung liefert selbst gar kein brauchbares Erzeugnis, aber das sind Ausnahmen; die Regel ist, daß Reinerträge gewonnen werden, ja Reinerträge allergrößten Umfanges, so daß nicht bloß die mehr als eine Milliarde Menschen erhalten, sondern außerdem aus den Überschüssen noch fortwährend Kapitalvermehrungen gemacht werden können. Es kann sich daher nur um das eine fragen, ob auch dem Faktor Kapital ein Teil dieses unzweifelhaften Reinertrages zuzurechnen sei — aber auch das kann nicht ernstlich in Frage gezogen werden. Warum sollte gerade dem Kapitale kein solcher Anteil zukommen? Ist einmal verstanden und zugegeben, daß das Kapital em wirtschaftlicher Produktionsfaktor ist, dem der produktive Erfolg mit zugerechnet wird, so ist auch verstanden und zugegeben, daß ihm ein Anteil am Reinertrage gebührt, in dem erst der produktive Erfolg sich verkörpert. Sollte das Kapital immer nur etwas weniger als seinen eigenen Ersatz hervorzubringen imstande sein? Die Annahme wäre offenbar willkürlich. Sollte es immer gerade nur seinen eigenen Ersatz hervorzubringen imstande sein, wie verschieden auch die Produktionen gelingen mögen? Die Annahme wäre offenbar nicht minder willkürlich. Wer dem Kapitale Reinertrag abspricht, kann dies nur tun, wenn er ihm überhaupt den Ertrag abspricht"^). Hier hat, wie ich glaube, Wieser den ersten Schritt vom Wege getan. Mit der Annahme, daß man überhaupt im Wege der Zurechnung einem Faktor unmittelbar einen Reinertrag oder Reinertragsanteil zusprechen könne, hat Wieser der Operation der Zurechnung etwas zugemutet, was sie ihrer Natur nach gar nicht leisten kann. Sehen wir von allen ver- führerischen Worten ab und halten wir uns ganz trocken und nüchtern an die Sache. Was ist — nach Wieser selbst — Gegenstand und Amt der Zurechnung? Den produktiven Gesamterfolg auf die bei seiner Erzeugung mitwirkenden Faktoren zu verteilen. Also die Anteile dieser Faktoren an der Erzielung des Rohertrages zu ermitteln. So hat Wieser in wieder- holten, ganz unzweideutigen Äußerungen das Problem der Zurechnung gestellt, so hat er es in praktischen Beispielen erläutert und so mußte es auch verstanden werden, wenn das von ihm angegebene Verfahren zur Ermittlung der zuzurechnenden Anteile 2) sollte Anwendung finden können. Wenn Wieser z. B. den Wert eines zinnernen Gefäßes der Arbeit des Bildners und dem Stoffe, aus dem es gebildet wird, zurechnet^), wenn er bei der Ermittlung des Ertragsanteiles, der dem Grund und Boden zukommt, von dem Gesamtwert der Bodenfrüchte seinen Ausgangspunkt 1) a. a. 0. S. 124f. 2) a. a. 0. S. 87. ») S. 86. VI. Produktivitätstheorien. Wieser. 521 ninmit^), wenn er die Summe aller produktiven Beiträge genau den Wert des Gesamtertrages erschöpfen*) und jeden einzelnen Faktor seinen Wert von seinem produktiven Beitrag ableiten läßt, so ist vollkommen klar, daß das Objekt der Zurechnung der Rohertrag der Produktion, und daß speziell der produktive Beitrag des Faktors Kapital eine Quote dieses Rohertrages und nichts anderes ist und sein kann. Erzielt z. B. ein Land- wirt auf seinem Boden unter Mitwirkung von Arbeitern und eines aus Saatgut, landwirtschaftlichen Geräten, Dungmitteln, Viehstücken u. dgl. bestehenden Kapitales einen Gesamtertrag von 330 Metzen Getreide, so hat die Zurechnung zu entscheiden, welche Quote dieser 330 Metzen der Landwirt seinem Boden, welche er den mitwirkenden Arbeitern, und welche er jenem mitwirkenden und dabei sich zum Teile vernutzenden landwirtschaftlichen Kapitale verdankt. Ergeben zufällig jene Erwägungen, nach denen dies zu entscheiden ist, daß jedem der drei Faktoren der gleiche Anteil an der Erzielung jenes Ertrages zukommt, so wird der produktive Beitrag für jeden von ihnen mit 110 Metzen bestimmt werden, wobei es vollkommen klar ist, daß die der Mitwirkung des Kapitales zugesprochene Quote von 110 Metzen eine Rohertragsquote ist. Ob sich in dieser Roh- ertragsquote auch eine Reinertragsquote finden wird, desgleichen ob die dem Boden und der Arbeit zugesprochenen Rohertragsquoten von irgend einem Gesichtspunkt sich als Reinerträge darstellen oder nicht, das sind Fragen, die über das Problem der Zurechnung hinausgehen; Fragen, für deren Lösung die Größe der zugerechneten Rohertragsquoten vielleicht ein belangreiches, oder sogar hervorragend wichtiges Element, aber doch immer nur ein einzelnes Element bilden kann, neben welchem auch noch andere Tatsachen und Erwägungen Einfluß erlangen, die mit der Operation der Zurechnung nichts zu tun haben. Die Zurechnung endigt in unserem Beispielsfalle mit dem Ausspruche, daß der Produzent von dem Gesamt- ertrage von 330 Metzen je 110 Metzen der Mitwirkung des Bodens, der Arbeit und der Kapitalgüter verdankt: darüber hinaus sagt sie nicht das mindeste weiter. Nun meint aber Wieser dennoch plausibel machen zu können, daß im Wege der Zurechnung dem Kapital auch schon ein Anteü am Rein- ertrage zugesprochen werden müsse. Aber es ist ebenso interessant als bezeichnend, daß er die Anknüpfung für seine Darlegung nur dadurch finden konnte, daß er — natürlich unbewußt — den Ausdruck „Reinertrag" in irreführender Doppelsinnigkeit gebraucht. „Unzweifelhaft" — sagt er in der oben zitierten Stelle — „ist der Gesamtertrag aller drei Pro- duktionsfaktoren Land, Kapital und Arbeit zusammen groß genug, um den Kapitalverbrauch zu ersetzen und Reinertrag zu geben". Gewiß und auch sehr begreiflicher Weise. Denn was in dieser Redewendung ») S. 113. «) S. 87. 522 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. „Reinertrag" genannt wird, ist der Überschuß des Gesamtertrages Von Land, Kapital und Arbeit über den Wert des verbrauchten Kapitales allein, oder, mit anderen Worten, der Überschuß des Wertes des Erzeug- nisses von drei Faktoren über den Wert eines von ihnen. Daß aber drei Faktoren zusammengenommen mehr erzeugen können, ale was einer von ihnen wert ist, ist nicht nur an sich eine sehr plausible Sache, sondern wird geradezu zur Selbstverständlichkeit im Rahmen einer Lehre, welche, wie die WiESERSche, grundsätzlich den Wert des Produktes mit dem Werte der Summe seiner Faktoren zusammenfallen läßt: im Lichte einer solchen Auffassung ist die Existenz jenes „Reinertrages" in demselben Grade und aus demselben Grunde selbstverständlich, als es selbstverständ- lich ist, daß das Ganze größer sein muß als ein Teil, oder daß eine gefüllte Kiste nicht bloß ein „Bruttogewicht", sondern immer auch ein „Netto- gewicht" über das Gewicht der leeren Kiste hinaus besitzen muß! Dabei liegt es auf der Hand, daß die Gründe, warum man bei der Konstruktion jenes Reinertrages, den die Produktion im ganzen abwirft, von ihrem Rohertrage zwar den Wert des verbrauchten Kapitales, aber nicht auch den Wert der verbrauchten Bodennutzung und der konsumierten Arbeit in Abzug bringt, solche sind, welche mit der Frage der Zurechnung gar nichts zu tun haben. Diese Gründe sind vielmehr bekanntlich lediglich in der Beschaffenheit des Gesichtspunktes zu suchen, aus welchem der Beschauer den Erfolg der Produktion beurteilt. Ändert sich dieser Ge- sichtspunkt, so ändert sich auch das Verhalten in der Frage der Abrechnung oder Nichtabrcchnung des Wertes jener anderen Produktionsfaktoren. Der Unternehmer z. B., welcher fremde Arbeit kauft und bezahlt, wird sicherlich von seinem individualwirtschaftlichen Standpunkt aus, auch den Wert der verbrauchten Arbeit vom Rohertrage abrechnen müssen^). Stellt man sich dagegen auf den sogenannten volkswirtschaftlichen Stand- punkt, — wie es z. B. Wieser mit seinem Hinweis darauf tut, daß aus jenen „Reinerträgen allergrößten Urafanges" mehr als eine Milliarde Menschen erhalten werden — so hat die Abrechnung wieder zu unter- bleiben. Dabei ist aber wohl völlig klar, daß die Frage der Zurechnung mit der Wahl zwischen diesen verschiedenen möglichen Gesichtspunkten und mit den ihnen entsprechenden verschiedenen Methoden der Rein- ertragsberechnung nicht das Mindeste zu tun hat: wie viel Rohertrag dem Faktor Arbeit zugerechnet wird, ist eine Frage, und zwar die Frage der ^) Auch der Gesichtspunkt kann, zumal bei den auf eigene Rechnung Produ- zierenden, eingenommen werden, ob der Ertrag der Atbeit die Arbeitsplage erreicht oder übersteigt: ist der Nutzen, den der Arbeiter aus dem Arbeitserfolg zieht, kleiner als das mit der Arbeit verbundene Leid, so kann man aus einem gewissen, ebenfalls zulässigen und belangreichen Gesichtspunkt sagen, daß die Arbeit nicht lohnend war; umgekehrt kann man den Überschujß des Nutzens über das für seine Erlangung er- duldete Leid als einen ,, reinen Nutzen" auffassen (Marshalls ,,proBucer's surples": Principles, 3. Aufl. S, 217). VI. Produktivitätstheorien. Wieser. 523 Zurechnung; ob man aber sodann den auf dieser Zurechnung beruhenden Wert der Arbeit selbst vom Rohertrag abziehen soll oder nicht, das ist eine zweite, hievon vollkommen unabhängige und getrennte Frage. Nichts desto weniger wül Wieser die Existenz eines Reinertrages von der eben geschilderten Herkunft und Beschaffenheit als Erklärungs- brücke dafür benützen, daß speziell auch dem Kapitale ein Reinertrag zugerechnet werden müsse. Es könne sich — so drückt er sich in der oben 2dtierten Stelle aus — nur um das eine fragen, ob auch dem Faktor Kapital ein Teil jenes unzweifelhaften Reinertrages zuzurechnen sei: aber auch das könne nicht ernstlich in Frage gezogen werden. Denn „warum sollte gerade dem Kapital kein solcher Anteil zukommen?" Die Antwort ist sehr einfach: weil das, was man Reinertrag des Kapi- tales nennt, eben gar kein „solcher" Reinertrag, sondern eine ganz anders qualifizierte, in ihrer Existenz an ganz andere und zwar viel strengere Bedingungen geknüpfte Größe ist. Denn während ein Reinertrag der Produktion aus dem oben bezeichneten Gesichtspunkt schon vorliegt, wenn der ganze Rohertrag, den alle drei mitwirkenden Faktoren zusammen hervorbringen, größer ist als der Wert des verbrauchten Kapitales, liegt ein Reinertrag des Kapitales erst dann vor, wenn schon die dem Faktor Kapital zugerechnete einzelne Quote des Rohertrages größer ist als das vemutzte Kapital. Und das Zutreffen des ersten Verhältnisses läßt, eben wegen der völligen Verschiedenheit der Voraussetzungen, absolut keine Folgerung, auch nicht den leisesten Wahrscheinlichkeits- oder Analogieschluß darauf zu, daß auch das zweite Verhältnis zutreffen müsse oder werde. Daß drei Männer zusammengenommen mehr zu heben imstande sind, als das Gewicht eines von ihnen, mag vollkommen ausgemacht und erklärlich sein; aber daraus, daß drei Männer zusammen imstande sind, ein „Übergewicht" über das Gewicht eines von ihnen zu heben, folgt nicht das mindeste dafür, daß auch dieser eine allein imstande sein werde, ein Übergewicht über sein eigenes Gewicht zu heben. Es mag sein, daß er es kann; aber wer dies behaupten und zumal erklären will, wird dafür irgend einen speziellen, bei jener einen Person zutreffenden Grund vor- bringen müssen; ein solcher kann aber unmöglich aus der Tatsache her- geholt, oder durch sie auch nur verstärkt werden, daß drei Männer zu- sammen mehr als das Gewicht eines ihrer Grenossen zu heben imstande sind! Bricht man aber die trügerische EIrklärungsbrücke ab, die Wieser von dem Reinertrag in dem einen zum Reinertrag im anderen Sinne baut, dann bleibt in seiner Argumentation nichts übrig, worauf sich noch eine Erklärung des reinen Kapitalertrages stützen lassen könnte. Wenn er auf die Frage: „Sollte das Kapital immer nur etwas weniger als seinen eigenen Ersatz hervorzubringen imstande sein?" die Antwort erteilt: „die Annahme wäre offenbar willkürlich" — so ist er vollkommen im Rechte. 524 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Wenn er aber zu fragen fortfährt: „Sollte es immer gerade nur seinen eigenen Ersatz hervorzubringen imstande sein, wie verschieden auch die Produktionen gelingen mögen?" und darauf wiederum antwortet: „die Annahme wäre offenbar nicht minder willkürlich" — so ist dies schon nicht ohne Bedenken. Denn es könnte sehr wohl sein, daß zwar nach dem zufälligen Grade des Gelingens der Kapitalertrag vom Betrage des hiebei verbrauchten Kapitals bald nach aufwärts, bald nach abwärts abweichen, dabei aber dennoch die Tendenz durchgreifen könnte, daß im Durch- schnitt der Kapitalertrag gerade nur den Kapitalersatz deckt: und zumal im Zusammenhang einer Lehre, welche, wie die WiESERsche, grundsätzlich den Wert des Produktes auf seine Produktionsfaktoren übergehen läßt, dürfte eine solche Annahme kaum als eine ganz willkürliche erscheinen. Aber gesetzt auch, sie wäre es, so wäre aus der Willkürlichkeit der beiden ersten Annahmen noch immer kein Schluß darauf zu ziehen, daß die dritte Annahme, daß das Kapital regelmäßig mehr als seinen Ersatz hervor- bringen müsse, zutreffend und berechtigt, oder gar, daß sie damit erklärt sei. Wenn es gewiß willkürlich wäre anzunehmen, daß ein Mann immer nur weniger als sein eigenes Gewicht zu heben imstande ist, und wenn es gewiß ebenso willkürlich ist anzunehmen, daß er gerade sein eigenes Gewicht, nicht mehr und nicht weniger, zu heben imstande sein sollte, so ist es doch an sich und so lange nicht ein anderer positiver Grund hin- zutritt, gewiß ebenfalls nicht minder \\nllkürlich anzunehmen, daß jeder Mann mehr als sein eigenes Gewicht zu heben imstande sein soll. Wenn von drei möglichen Regeln zwei sich nicht erweisen lassen, so ist damit keineswegs ausgemacht, daß die dritte Regel zutreffe, sondern es kann auch die Existenz einer Regelmäßigkeit überhaupt in der Schwebe ge- blieben sein. Und wenn wir auch in unserem Falle aus einer andern Er- kenntnisquelle als aus solchen Syllogismen, nämlich wenn wir aus der Erfahrung wissen, daß regelmäßig der dem Kapitale zuzurechnende Ertragsteil den Kapitalverbrauch übersteigt, so fällt auf diese Tatsache von jenen, schon an sich nicht schlüssigen Syllogismen her doch gewiß kein Strahl einer Erklärung, wie sie eine Zinstheorie zu bringen berufen und gehalten ist. Und auch im Folgenden geschieht nichts derart. Wieser will an einem konkreten Fall seinen allgemeinen Lehrsatz recht einleuchtend machen und wählt dazu das Beispiel einer Maschine, welche Handarbeit verdrängt. „Überall, wo durch das Kapital Arbeit verdrängt wird, wo z. B. eine Maschine die Leistung übernimmt, die bisher die menschliehe Hand ausführte, muß das Kapital, muß die Maschine zum mindesten den bisherigen Ertrag der Arbeit zugerechnet erhalten. Dieser aber war ein Reinertrag, also muß auch das Kapitalgut Reinertrag zugerechnet erhalten"^). Daß auch dieser Syllogismus keine andere ») S. 125. VI. Produkt! vi tätstheorien. Wieser. 526 Stütze hat, als den oben gerügten zweideutigen Gebrauch des Wortes Reinertrag, brauche ich dem einmal aufmerksam gewordenen Leser kaum mehr auseinanderzusetzen. Der Trugschluß ist ja hier noch auffälliger. Denn einen Reinertrag im ersten Sinne — wobei man den Wert der Arbeit selbst von ihrem Ertrage nicht abrechnet — gibt ja selbst eine ganz un- ergiebige, unökonomische, die Arbeitskosten nicht deckende und daher für den Unternehmer \erlustbringende Verwendung der Arbeit, eine Ver- wendung z. B., in welcher Arbeit im Werte von 100 fl. konsumiert, dem bearbeiteten Rohstoff aber dadurch nur ein Wert von 50 fl. zugesetzt wird. Wer aber möchte im Rahmen der WiESERschen Schlußform sich zu der Folgerung verstehen, daß auch ein Kapital, welches eine solche Arbeit mit gleichem oder selbst etwas günstigerem Erfolge ersetzt, not- wendigerweise nicht bloß einen Rohertrag, sondern auch einen Reinertrag zugerechnet erhalten müsse, da es ja mindestens denselben Ertrag zuge- rechnet erhalten müsse, welcher der verdrängten Arbeit zugesprochen worden war, und dieser ein „Reinertrag" gewesen sei? Wenn weiterhin Wieser sich in längeren, an Thünen anknüpfenden Auseinandersetzungen^) beinüht, es technisch plausibel zu machen, daß ein Kapital zur Erzeugung eines seine eigene Substanz übersteigenden Produktes verhelfen müsse, so stößt er genau auf dieselbe Kuppe, auf die seinerzeit Thünen gestoßen ist. Ein Kapital erzeugt nämlich nicht buch- stäblich sich selbst wieder und noch etwas anderes dazu. Sondern es erzeugt irgend welche andersartigen Produkte und diese sind mit ihm nicht anders kommensurabel als unter dem Gesichtspunkt des Wertes. Bogen und Pfeile liefern ihr Produkt nicht wieder in Bogen und Pfeilen, sondern im erlegten Wild; daß aber dieses erlegte Wild mehr wert ist, als die bei seiner Erlegung vernutzten Bogen und Pfeile, ist nicht eine technische Tatsache, mit welcher man den Reinertrag des Kapitales, das ist den Gegenstand des Zinsproblems erklären könnte, sondern es ist die den Gegenstand dieses Problems bildende, also die zu erklärende Tatsache selbst 2). Wieser sieht auch die Klippe ganz gut: er merkt ausdrücklich an, daß der Ertrag der Bogen und Pfeile „ein Rohertrag in fremdartigen Dingen ist, aus denen sie sich nicht ersetzen, mit denen sie wohl im Werte, aber nicht der Menge nach verglichen werden können"^). Aber er glaubt über die Schwierigkeit mit der etwas vagen Auskunft einer „mittelbaren Wirksamkeit des Kapitales" herumzukommen. „Der einmal gewonnene Besitz von Pfeilen, Bogen und Netzen erleichtert die Bedingungen der Wiedererzeugung, wenn er auch an derselben nicht mitwirkt: er erleichtert sie durch die außerordentliche Steigerung des Rohertrages an Wild und Fischen, in Folge deren nun weit mehr Arbeit als früher für die Kapital- 1) §§ 36 u. 37. 2) Siehe oben löOff. 8) S. 130. ' 526 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. beschaffung frei ist. Daher kommt diesen Kapitalgütern schließlich im Gesamtergebnisse ein Reinertrag zuzurechnen, geradeso als ob sie sich selber unmittelbar mit einem Überschusse wiedererzeugten". Ich glaube, daß einige Zweifel schon darüber möglich wären, ob dieser „mittelbare" Zusammenhang fest und lückenlos genug ist, um eine exakte Zurechnung auf ihn gründen zu können. Man könnte insbesondere zweifel- haft sein, ob die technische Kommensurabüität zwischen Produkten, die der Arbeiter genießt, und solchen, die er wieder erzeugen wird, durch die Einschaltung des Zwischengliedes „Person des Arbeiters" nicht eher unterbrochen als vermittelt wird, da ja das arbeitende Wirtschaftssubjekt — außer dem Fall der Sklaverei, vom rüdesten Sklavenhälterstandpunkt betrachtet — einerseits als Produktionsfaktor zweifellos eine originäre Produktivkraft und andererseits als Konsument den endgütigen Destinatar, den Ziel- und Endpunkt für die Bemühungen der vorausgegangenen Pro- duktion darstellt, so daß seine Dazwischenkunft eher eine Cäsur im pro- duktionstechnischen Prozesse, einen Abschluß der bisherigen, in seinen Konsum einmündenden, und den Beginn einer neuen Produktion, als ein Fortspinnen eines und desselben Produktionsprozesses zu bedeuten scheint. Ich will indes diese ebenso heikle als schwierige Frage ganz dahin- gestellt sein lassen. Auch wenn man sich an den mancherlei Bedenken, auf die sie führt, nicht stoßen wollte, so würde die von Wieser versuchte Erklärung immer noch an dem zweiten Teile ihres Programmes scheitern, an jenem Teile, welcher die Aufgabe hat, aus der physischen eine Wert- produktivität des Kapitales abzuleiten. Gesetzt, es wäre wirklich gelungen nachzuweisen, daß dem Kapitale eine physische Menge von Produkt zuzu- rechnen kommt, die größer ist als die vom verbrauchten Kapital selbst repräsentierte Menge, so bleibt nämlich noch nachzuweisen und zu er- klären, daß jene größere Menge von Produkt auch einen größeren Wert haben muß als das Kapital, aus dem sie hervorgegangen ist. Das ist nun wiederum nicht allein gar nicht selbstverständlich, sondern geradezu gegen die allgemeinen Voraussetzungen der WißSERschen Zurechnungstheorie. Wiesers ganze Wert- und Zurechnungstheorie fußt ja auf dem Gedanken, daß der Wert der Güter von dem ihnen zuzurechnenden (Grenz-)Nutzen stammt. Dies gut für die Produktivgüter so gut wie für die Genußgüter. Nun bringen die Produktivgüter ihren Nutzen durch ihre Produkte: es ist daher der Nutzen, den man einem Produktivgut verdankt, grundsätzlich genau derselbe, den man ihren Produkten verdankt. Und darum muß auch das Produktivgut, weil es von derselben Nutzgröße seinen Wert ableitet, grundsätzlich genau denselben Wert haben, wie das ihm zuzu- rechnende Produkt; es ist also — falls nicht von anderswoher irgend ein ganz neuer, spezieller Einfluß sich einmischt — ein Wertüberschuß des Produktes über sein korrespondierendes Produktivgut, oder eine Wert- produktivität des Kapitales geradezu ausgeschlossen. VI. Produktivitätstheorien. Wieser. 527 Wieser sieht auch diese Klippe, auf welche ich der älteren Pro- duktivitätstheorie gegenüber aufmerksam gemacht hatte ^), ganz gut und führt sie sich und seinen Lesern auch ausdrücklich vor Augen. „Das Kapital" — sagt er — „empfängt seinen Wert von seinen Früchten; wenn man daher . . . vom Werte dieser Früchte den Kapitalverbrauch mit seinem Werte in Abzug bringt, so muß . . . sich die Rechnung auf Null stellen — es muß immer so viel abgezogen werden als der Wert der Früchte beträgt, der ja das Maß für die Bewertung der Abzugsgröße gibt; folglich läßt die Wertrechnung keinen Reinertrag übrig, der Kapitalzius ist nicht nur nicht erklärt, sondern geradezu ausgeschlossen" 2), Wieser glaubt aber diese „Bedenken" mit Hilfe derjenigen Unterstützung „auflösen" zu können, die durch die Ergebnisse seiner Untersuchungen über die Zu- rechnung geliefert werde. Seine Zurechnungstheorie berechtige ihn, dem Kapital nicht bloß einen Rohertrag, sondern auch einen physischen Rein- ertrag zuzurechnen. „Im Rohertrage erzeugt sich das Kapital mit einem physischen Überschusse, dem Reinertrag, wieder; hieraus folgt, daß der Kapital wert nicht .. . mit dem ganzen Werte des Rohertrages angeschlagen werden kann. Das Kapital stellt sich bei der Wiedererzeugung nur als ein Teil seines eigenen Rohertrages dar, folglich kann es auch nur einen Teil von dem Werte desselben in sich aufnehmen." Ist der Rohertrag 105 wert, und geht der Teilbetrag von 5 auf Früchte ab, welche verzehrt werden können, ohne daß die volle Wiederherstellung des Kapitales gestört wird, „so kann nur der Rest 100 als Kapitalwert gerechnet werden"^). Ich glaube, daß diesem Gedankengange zweierlei entgegengehalten werden kann. Zuvörderst kann man, wie ich mich oben darzulegen be- mühte, schon die Prämisse bestreiten, daß die Zurechnungsregeln über- haupt zu der Zurechnung eines physischen Reinertrages des Kapitales führen*). Aber selbst wenn diese Prämisse richtig wäre, wäre der aus ihr gezogene Schluß nicht richtig. Gesetzt es wäre wirklich einem Kapital, das aus 100 Stücken besteht, ein Rohertrag von 105 gleichartigen Stücken, also ein „physischer Reinertrag" von 5 Stücken zuzurechnen, so wäre der einzige korrekte Schluß, der sich aus diesem Tatbestande innerhalb des allgemeinen Grundsatzes von der Identität des Wertes der Produktions- mittel und ihrer Produkte ziehen üeße, der, daß der Wert des einzelnen 1) Siehe oben S. 169. *) A. a. 0. S. 134«. ») A. a. 0. S. 136; vgl. auch 134ff. *) Zur Vermeidung eines Mißverständnisses möchte ich ausdrücklich bemerken, daß Wieser eine physische Produktivität des Kapitales in einem Sinne behauptet, welcher sich von allen den sehr zahlreichen Bedeutungen des Wortes „Produktivität des Kapitales", die ich im VII. Abschnitte dieses Werkes S. 97ff. aufgezählt und er- läutert hatte, und auch von derjenigen unterscheidet, in welcher ich in meiner eigenen positiven Theorie eine solche physische Produktivität anerkannt und zur Stütze eines Teiles meiner Darlegungen gemacht habe; siehe „Positive Theorie" 3. Aufl. S. 164f., 4. Aufl. S. 115f. 528 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Stückes eben nicht in beiden Generationen des Kapitales gleicii groß sein kann, sondern daß 100 Stück der früheren Kapitalgeneration so viel wert sein müssen, als 105 Stück der nächsten, z. B. nächstjährigen Generation, wobei offenbar die Gleichwertigkeit des Kapitales mit seinem ganzen Rohertrage gewahrt bliebe. Wieser kann denn auch zu seinem entgegengesetzten Resultate, daß der Wert des Kapitales nur mit einem kleineren Betrage als dem seines Rohertrages angeschlagen werden dürfe, nur vermittelst eines weiteren, durch eine trügerische dialektische Wendung verschuldeten logischen Ver- stoßes gelangen. Er wiederholt hier einen in der Geschichte der Zinstheorie schon berühmt gewordenen Fehler. Geradeso wie einst die alten Kano- nisten, samt ihren damaligen Gegnern^), und wie jungt noch Knies**), fingiert nämlich Wieser ebenfalls die Identität des ursprünglichen Kapi- tales mit einer Gleichzahl gleicher Güterstücke in einer folgenden Periode. Er führt diese Fiktion dialektisch ein. Den — mit Recht oder Unrecht — vorausgesetzten Tatbestand, daß einem Kapital eine größere Stückzahl von Produkten zugerechnet wird, als woraus es selbst besteht, bringt er mit den verfänglichen Worten zum Ausdruck: „im Rohertrag erzeugt das Kapital sich mit einem physischen Überschusse wieder"; von dieser Basis folgert er dann schrittweise weiter: ,,das Kapital stellt sich bei der Wiedererzeugung nur als ein Teil seines eigenen Rohertrages dar" und folglich kann „es" (das Kapital) auch nur einen Teil vom Werte des Roh- ertrages in sich aufnehmen. Korrekter Weise hätte dagegen Wieser im ersten Satze nur sagen dürfen: „Im Rohertrag erzeugt das Kapital eine unter andern Zeitumständen verfügbare Gleichzahl gleichartiger Stücke und über diese hinaus noch eine Überzahl an solchen"; der zweite Satz hätte dann korrekt nur lauten können: „jene Gleichzahl stellt sich nur als ein Teil des Rohertrages dar" und der Schluß hätte endlich nur dahin gehen können, daß jene Gleichzahl auch nur einen Teil vom Werte des Rohertrages in sich aufnehmen könne. Kurz, anschaulich und bewiesen ist, daß 100 Stücke oder Einheiten der zweiten Kapital- generation weniger wert sind als 105 Stücke dieser zweiten Generation; aber da das ursprüngliche Kapital von 100 Stücken mit den 100 Stücken der zweiten Generation ganz und gar nicht identisch ist, so besteht auch keinerlei Berechtigung, jenes Wertverhältnis zum Rohertrage auf das ursprüngliche Kapital umzudeuten. Die Wahrheit ist vielmehr, wie ja auch die allgemeinen Grundlagen der WiESERschen Theorie, welchen der Verfasser nur nicht völlig treu geblieben ist, postulieren, daß das Kapital mit seinem ganzen, wenn auch möglicherweise aus mehr Stücken bestehenden Rohertrage gleichwertig M Siehe oben S. 226 ff. u. bes. 231. *) Siehe oben S. 217 ff., dann auch meine „Positive Theorie" 3. A. S..491, 4. Aufl. S. 366. VI. Produktivitätstheorien. Wieser. 529 ist. Wie sich trotz dieser anfänglichen Gleichwertigkeit ein Wertzuwachs, der den Stoff für den Kapitalzins liefert, ergeben kann, das ist der sprin- gende Punkt des Zinsproblemes; für welchen sich, wie ich glaube, eine Erklärung durch den Einfluß der zeitlichen Entfernung auf die Wert- schätzung der Güter, beziehungsweise durch das Hineinreifen der anfangs minderwertigen Zukunftsgüter in den Vollwert gegenwärtiger Güter dar- bietet^); welcher aber keine befriedigende Erklärung durch die prinzip- widrige Annahme findet, daß, im Unterschied zu allen andern Gütern, die Kapitalgüter ihren Wert nur von einem Teile des Nutzens, dessen Entstehung ihnen zuzurechnen ist, ableiten sollen! Eigentümlicher Weise gelangt auch W^ieser im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen dazu, den im Mittelpunkt meiner Zinstheorie stehenden Satz, daß gegenwärtige Güter in der Regel mehr wert sind als künftige, anzuerkennen; nur will er ihn nicht als Ausgangspunkt, sondern als Folgeerscheinung der von ihm demonstrierten Zusammenhänge, nicht als Ursache der Zinserscheinung, sondern als ihre Wirkung gelten lassen 2). Wenn ich mich indessen nicht vollständig täusche, so ist jener Satz auch nicht als Konsequenz aus den WiESERschen Anschauungen abzuleiten, sondern mit ihnen einfach unvereinbar. Wenn ein Kapital von 100 Stücken in einem Jahre einen Rohertrag von 105 Stücken bringt, so kann es un- möglich gleichzeitig wahr sein, daß das aus 100 gegenwärtigen Stücken bestehende Kapital einen um 5% kleineren Wert als sein aus 105 Stücken bestehender Rohertrag besitzt, und daß dennoch jene 100 gegenwärtigen Stücke ebensoviel wert sind als 105 nächstjährige Stücke! Wieser konnte zu dem letzteren — vollständig richtigen — Ausspruche^) nur dadurch gelangen, daß er hier die unzulässige Fiktion der Identität des gegenwärtigen Kapitales mit einer gleichen Stückzahl seines Ertrages fallen ließ; er hätte nur freilich eben dieselbe Fiktion schon in seinen vorausgehenden Räsonnements gar nicht aufstellen dürfen! — Wiesers mit großer Beredsamkeit und vielen geistvollen Wendungen vorgetragene Zinstheorie zieht dadurch ein besonderes Interesse auf sich, daß sie einen eigenartigen Versuch darstellt, in ein durch und durch modernes System gleichsam einen Einbau aus alten Gedankenstoffen ein- zufügen: aus der schon in so vielen Spielarten auf die Szene getretenen „Produktivität des Kapitales" und aus der altehrwürdigen Fiktion der Identität des ursprünglichen Kapitales mit der in einer künftigen Periode 1) Das Genauere siehe in der II. Abteilung dieses Werkes. ") A. a. 0. S. 138. „Dennoch ist es nicht gleichgültig, ob man es (ein Kapital) von heute an oder erst übers Jahr besitzt, weil der heutige Besitz einen Zins- ertrag mehr verbürgt . . . Eine gegenwärtige Summe ist immer mehr wert als die gleich bezifferte Summe später." 3) Er findet sich a. a. 0. S. 138 in der materiell identischen Form, daß „100, die ich erst nach einem Jahre erhalten soll, heute nur beiläufig 95 wert sind". Böhm -Ba werk, Kapitalzius. 4. Aufl. 34 530 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. zvt seiner „Elrstattung" dienenden „Hauptsurame". Der Versuch ist, wie ich glaube, nicht glücklich ausgefallen. Die alten und die neuen Ge- danken streiten wider einander. Nur Dank der dialektischen Nachgiebig- keit des Verfassers ließ sich an den kritischen Stellen der Widerstreit des Neuen, um dessen Feststellung sich gerade AVieser unvergängliche Ver- dienste erworben hat, mit dem Alten notdürftig verhüllen; aber eine innere Verbindung konnten die widerstreitenden Elemente nicht eingehen. Daß aber auch ein im Besitz solcher theoretischer Mittel und Kräfte unter- nommener Versuch, die Produktivitätstheorie noch einmal zu beleben, scheiterte, scheint mir die beste Probe dafür, daß auf den der Produk- tivitätstheorie eigentümlichen Gedankenwegen die Lösung des Zins- problems nun und nimmer zu gewinnen ist^). VII. Die Ausbeutungstheorie hat während der ganzen Beobachtungs- periode einen breiten Raum in der literarischen Diskussion eingenommen. Diese war hier sogar besonders bewegt und belebt durch einen eigentümlich persönlichen Zug, den sie annahm, und selbst durch eine Art dramatischer Spannung. Von allen sozialistischen Schriftstellern hatte — vielleicht unter ungerechter Unterschätzung Anderer, und zumal des wissenschaftlich hochstehenden Rodbertus — Karl Marx weitaus den größten Einfluß auf die Gesinnungsgenossen gewonnen. Sein Werk repräsentierte gleichsam die offizielle Lehrmeinung des zeitgenössischen Sozialismus. Es stand aaher auch im Mittelpunkt des Angriffs und der Abwehr: die polemit^che Literatur des Zeitraums wurde zur MARX-Literatur. Und zwar unter besonders spannenden Umständen. Marx war ^) Der Druck dieses Buclu-s war nahezu vollendet, als mir das soeben erschienene neueste Werk Wiesers („Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft" als Teil des „Grund- risses der Sozialökonomik" Tübingen 1914) in die Hand kam. Ich konnte demselben nur noch in aller Eile eine flüchtige Durchsicht widmen. Ich glaube aus derselben zu erkennen, daß Wieser im großen Ganzen den zinstheoretischen Ansichten seiner älteren Werke treu geblieben ist, ohne aber, da er auf eine genauere polemische Aus- einandersetzung nicht eingehen zu können erklärt, die konkreten Gegengründe, mit welchen er die mehrfachen, gegen seine Zurechnungs- und Zinstheorie erhobenen Ein- wendungen glaubt abwehren zu können, mit Deutlichkeit erkennen zu lassen: wir er- fahren aus einer im wesentlichen ungeänderten Wiederholung seiner alten Theorien mehr nur, daß Wieser durch die ihm entgegengehaltenen Einwendungen unüberzeugt geblieben ist, als daß wir einen Einblick in die Gründe dieser Unüberzeugtheit erlangen könnten. Unter diesen Umständen kann ich leider nur die Tatsache der Fortdauer einer Meinungsverschiedenheit feststellen, die mich in einigen der wichtigsten theore- tischen Fragen von dem mir persönlich und wissenschaftlich so überaus nahe stehenden hervorragenden Forscher trennt, ohne daß ich zur Bereinigung dieser Meinungsver- schiedenheit im Augenblick ein Weiteres zu tun vermöchte. VII. Die Ausbeutungstheorie. 531 gestorben, ehe er sein Werk über das Kapital zu Ende gebracht hatte. Die noch ausständigen Teile fanden sich jedoch nahezu vollständig im Manuskript in seinem Nachlasse vor. Sie sollten insbesondere die Auf- klärung über ein Thema bringen, welches im Zentrum der Angriffe gegen die Ausbeutungstheorie gestanden war, und an welchem nach der Er- wartung beider Streitteile die entscheidende Probe auf die Haltbarkeit — wie die Einen erwarteten — oder die Unhaltbarkeit — wie die Anderen gewärtigten — des MARxschen Systemes abgelegt werden sollte: nämlich über die Frage, wie die erfahrungsmäßige gleiche Kapitalgewinnrate mit dem im ersten Bande des MARxschen Werkes entwickelten Wertgesetz und der Ausbeutungstheorie zusammenzureimen sei ^). Gerade die Heraus- gabe des dieses Thema behandelnden dritten Bandes verzögerte sich aber noch durch 11 Jahre nach dem Tode Marx', bis zum Jahre 1894. Die Spannung darüber, was wohl Marx selbst über jenen heikelsten Punkt seiner Lehre zu sagen haben werde, machte sich in einer Art prophetischer Literatur Luft, welche sich zum Ziele setzte, die mutmaßliche Meinung Marx' über das Thema der „Durchschnittsprofitrate" aus den im ersten Bande seines Werkes gegebenen Prämissen zu entwickeln. Diese pro- phetische Literatur füllt das Dezennium von 1885 bis 1894 und weist eine stattliche Reihe kleinerer und größerer Schriften auf 2). Den zweiten Akt und zugleich den Höhepunkt der dramatischen Entwicklung bildet die in das Jahr 1894 fallende Publikation des nachgelassenen dritten Bandes durch Engels. Und hieran schließt sich als dritter Akt eine äußerst lebhafte literarische Diskussion, welche die kritische Würdigung dieses dritten Bandes, sein Verhältnis zum systematischen Ausgangspunkte und die ferneren Aussichten des Marxismus zum Gegenstande hat und kaum so bald zum Abschluß gelangen dürfte^). 1) Siehe oben Abschn. XII S. 393«, •) Ich habe eine Zusammenstellung derselben schon bei einer anderen Gelegenheit (in einer Schrift „Zum Abschluß des Marxschen Systems" in den „Festgaben für Karl Knies" 1896 S. 6) gegeben. Sie umfaßt: Lexis, Jahrbücher für Nationalökonomie, 1885, N. F. Bd. XI S. 462—65; Schmidt, Die Durchschnittsprofitrate auf Grund des Marxschen Wertgesetzes, Stuttgart 1889; eine Erörterung letzterer Schrift durch den Verfasser in der Tübinger Zeitschrift f. d. ges. Staatsw., 1890, S. 590ff.; durch LoRiA in den Jahrbüchern für Nationalökonomie, N. F. Bd. 20 (1890), S. 272ff.; Stib- BEUKG, Das Wertgesetz und die Profitrate, New-York 1890; Wolf, Das Rätsel der Durchschnittsprofitrate bei Marx, Jahrb. für Nationalök. III. F. Bd. 2 (1891, S. 352ff.; abermals Schmidt, Neue Zeit 1892/3 Nr. 4 und 6; La»d6, ebenda Nr. 19 u. 20; Fikeman, Kritik der Marxschen Werttheorie, Jahrb. f. Nationalök. III. F. Bd. 3 (1892) S. 793ff.; endlich Lafaboue, Soidi, Coletti und Graziadei in der Critica Sociale vom Juli bis November 1894. *) An bisher vorli^enden Schriften dieses C3iarakters sind zu nennen: zahlreiche Aufsätze in der Neuen Zeit, vornehmlich von Engels (XIV. Jahrgang Bd. I Nr. 1 u. 2), Bernstein und Kautsky; sodann Loria, l'opera postuma di Carlo Marx (Nuova Anto- logiaFebruarl895);SoHBART, Zur Kritik des ökonomischen Systems von K. Marx (Archiv 34* 532 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gregenwaft. Ich kann mich hier mit der bloßen Registrierung dieser Geschehnisse begnügen, weil ich ihren wissenschaftlichen Inhalt schon an einer früheren Stelle dieses Werkes zur Darstellung und auch schon zur kritischen Wür- digung gebracht habe. Ich habe auch mit meiner Meinung darüber nicht zurückgehalten, daß mir die große Probe entschieden gegen die MAKXsche Wert- und Mehrwertlehre ausgefallen, und für diese der Anfang vom Ende gekommen zu sein scheint. Aber unsere Beobachtungsperiode weist noch ein anderes, ganz eigen- tümliches theoretisches Gebilde auf, welches in diesem Zusammenhange erwähnt werden muß und das ich an einem andern Orte als „vulgär- ökonomischen Ableger der sozialistischen Ausbeutungstheorie" bezeichnet habe^). Es ist nämlich die eigentümliche Erscheinung zu beobachten, daß verschiedene hervorragende Theoretiker nichtsozialistischer Richtung, welche auch die werttheoretischen Prämissen der sozialistischen Aus- beutungstheorie nicht anerkennen, sich gleichwohl zu einer Gesamt- anschauung über den Kapitalzins bekannt haben, welche von der sozia- listischen Ausbeutungstheorie sich zwar durch eine weitaus mildere oder zurückhaltendere, oder minder konsequente Form, aber eigentlich nicht im Wesen unterscheidet. Die markantesten Äußerungen dieser Art rühren von Dietzel und Lexis her. Dietzel bekennt sich zu der Meinung, daß „seiner Ansicht nach die Ausbeutungstheorie in ihrem Kern unleugbar" sei, und er erklärt, daran festhalten zu müssen, „daß der Zinsbezug eine „historische", in dem Verkehrsrecht der Gegenwart wurzelnde Kategorie und zwar eine der Einkommensarten ist, an deren Wesen mit Recht „gescholten" wird, daß sie, in einer Gesellschaftsordnung wie der heutigen, notwendigerweise mit der Norm des ,suum cuique' sich stoßen" 2). Lexis hinwieder gibt die Meinung kund, daß der normale Kapitalgewinn mit den durch den Kapital- besitz und die Besitzlosigkeit bedingten wirtschaftlichen Machtverhält- nissen „zusammenhänge". Die Quelle des Gewinnes des Sklavenbesitzers für soz. Gesetzgebupg u. Statistik Bd. VII Heft 4); der oben genannte Aufsatz des Verfassers, Zum Abschluß des Marxschen Systems, 1896; Komorzynski, der dritte Band von Karl Marx' „das Kapital" (in der Zeitschr. für Volksw., Sozialpol. u. Ver- waltung Bd. VI S. 242ff.); Wenckstern „Marx", Leipzig 1896; Diehl, Über das Verhältnis von Wert und Preis im ökonomischen System von Karl Marx (in der Fest- schrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des staatsw. Seminars in Halle, Jena 1898); Labriola, la teoria del Valore di C. Marx, Mailand 1899; Graziadei, la produzione capitalistica, Turin 1899; Bernstein, die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899; Masaryk, die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus, Wien 1899; Weisengrün, das Ende des Marxismus, Leipzig 1899. Siehe auch das Literaturverzeichnis oben S. 367. ^) Einige strittige Fragen der Kapitalstheorie, Wien 1900, S. Ulf f. (auch im VIII. Band der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung zum Abdruck gelangt). *) Göttinger Gelehrte Anzeigen Nr. 23, 1891, S. 936 u. 943. VII. Die Ausbentimgstheorie. Dietzel, Lezis. 533 sei nicht zu verkennen, und dasselbe gelte auch wohl noch in Betreff des „Sweaters". In dem normalen Verhältnis des Unternehmers zum Arbeiter bestehe zwar keine „derartige Ausbeutung", wohl aber eine wirtschaft- liche Abhängigkeit des Arbeiters, die unzweifelhaft auf die Verteilung des Arbeitsertrages einwirke. Der Anteil des Arbeiters an dem Produktions- ertrag werde durch den für ihn ungünstigen Umstand bedingt, daß er seine Arbeitskraft nicht selbständig ausnützen kann, sondern gezwungen ist, sie unter Verzicht auf ihr Produkt gegen einen mehr oder weniger genügenden Lebensunterhalt zu verkaufen^). Und bei einer anderen Gelegenheit erläutert Lexis diese seine Anschauung über den Ursprung des Kapitalgewinnes noch genauer dahin, daß die „kapitalistischen Ver- käufe»*, der Rohstoffproduzent, der Fabrikant, der Großhändler, der Klein- händler bei ihren Geschäften Gewinn machen, indem jeder teurer verkauft, als er kauft, also den Selbstkostenpreis seiner Ware um einen gewissen Prozentsatz erhöht. Nur der Arbeiter ist nicht imstande, einen ähnlichen Wertzuschlag durchzusetzen, er ist vermöge seiner ungünstigen Lage dem Kapitalisten gegenüber genötigt, seine Arbeit für den Preis zu verkaufen, den sie ihm selbst kostet, nämlich für den notwendigen Lebensunterhalt Wenn also auch die Kapitalisten, soferne sie ihrerseits Waren zu erhöhten Preisen kaufen, wieder einen Teil dessen verlieren mögen, was sie als Verkäufer mittels ihres Preiszuschlages gewinnen, so behalten diese Preis- zuschläge den kaufenden Lohnarbeitern gegenüber ihre voUe Bedeutung und bewirken die Übertragung eines Teils des Wertes des Gesamtprodukts auf die Kapitalistenklasse" *). In allen diesen Äußerungen kommt unverkennbar der Gedanke zum Ausdruck, daß der Kapitalgewinn — und zwar, wohl gemerkt, nicht etwa nur irgend ein exzessiver, unter besonders gravierenden Umständen erworbener Teil desselben, sondern der gewöhnliche, „normale" Kapital- gewinn als solcher — dem Druck entspringt, welchen die besitzenden Klassen unter Ausnutzung ihrer stärkeren Position im Preiskampfe auf die nichtbesitzenden Klassen ausüben — also im Wesentlichen derselbe. Gedanke, welcher den Inhalt der sozialistischen Ausbeutungstheorie ausmacht. Zur objektiven Charakterisierung dieser Äußerungen muß noch auf zwei Umstände hingewiesen werden, welche in einem gewissen Zusammen- hange mit einander stehen mögen. Erstens darauf, daß diese Äußerungen bisher nur als Gelegenheitsäußerungen vorgebracht wurden, und zwar bei Gelegenheiten, welche die Verfasser zwar zum Bekenntnis ihrer eigenen Meinung über das Zinsproblem herausforderten, ihnen aber nicht auch die Nötigung einer zusammenhängenden Begründung ihrer Meinungen auferlegten; nämlich bei Gelegenheit kritischer Besprechungen fremder ^) Schmollers Jahrbuch Bd. XIX S. 335ff. ^) Conrads Jahrbücher N. F. Bd. XI (1885) S. 453. 534 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. (von Marx und dem Verfasser herrührender) Zinstheorien. Und zweitens muß darauf hingewiesen werden, daß jene Äußerungen sich bisher eben nur als einfache Meinungsäußerungen, als Glaubensbekenntnisse ihrer Autoren präsentieren, für welche eine geschlossene, theoretisch haltbare Begründung von diesen weder gegeben, noch auch nur versucht wurde. Dietzel fügt seiner einschlägigen Äußerung überhaupt kein Wort einer Begründung bei, und auch die knappen Bemerkungen, mit denen Lexis seine Meinungs- äußerung begleitet, sind so vag und lassen zudem den Kernpunkt des Problems so sichtlich unerklärt^), daß wohl auch ihr Autor für sie kaum in Anspruch nehmen wird, daß sie eine den theoretischen Anforderungen entsprechende wirkliche Erklärung auch nur in den allgemeinsten Umrissen enthalten. Angesichts des Umstandes, daß jene theoretische Begründung, auf welche die Anschauungen der Ausbeutungstheorie sonst gestützt zu werden pflegten, nämlich die sozialistische Wert- und Mehrwerttheorie, vod den jetz«? in Rede stehenden Autoren ihrer verwandten Zinstheorie jedenfalls nicht unterlegt wird, eine andere stichhältige Begründung ihr aber bis jetzt auch nicht unterlegt wurde, habe ich als Dogmenhistoriker lediglich die Tatsache zu registrieren, daß jene Meinungen tatsächlich existieren und zwar vorläufig als unerwiesene, sozusagen theorielose Behauptungen existieren, wobei abzuwarten bleibt, ob vielleicht ein ernsthafter Versuch nachfolgen wird, jene Glaubensbekenntnisse zu wirklichen, eine Begründung versuchenden Theorien zu erheben, oder ob sie als ein bloßer Ausdruck von Stimmungen verhallen werden, denen die jetzige Zeitrichtung zuge- neigt ist, für die sich aber eine Anknüpfung an standhaltende wissenschaft- liche Prämissen nicht darbietet 2). ^) Daß nämlich die kapitalistischen Verkäufer auch unter dem vollen Druck der Konkurrenz, welcher ja doch für die Nivellierung des Kapitalgewinnes auf den ,, normalen" Satz Voraussetzung ist, dauernd einen ,, Wertzuschlag" über ihre Selbst- kosten behaupten körinen, ist ja die eigentlich erklärungsbedürftige Tatsache, welche jedenfalls mit den Wert- und Preisgesetzen zusammengereimt, beziehungsweise aus ihnen heraus in plausibler Weise erklärt werden müßte — wozu sich jedoch in Lexis' Äußerungen noch kein erkennbarer Ansatz findet. Vgl. meine eingehende Besprechung dieses Gegenstandes in meiner schon erwähnten Schrift ,, Einige strittige Fragen der Kapitalstheorie", Wien 1900, S. llOff. — Bemerkenswert ist, daß Lexis in seiner seither erschienenen „Allgemeinen Volkswirtschaftslehre" (2. Aufl. 1913) das Thema des Kapitalzinses mit so großer Zurückhaltung bespricht, daß darin eine ausgeprägte Ziiistheorie kaum zu erkennen ist; jedenfalls hat auch dieses systematische Werk keine • genauere Ausführung des in ihm fast noch knapper als in den vorausgegangenen Ge- legenheitsäußerungen angedeuteten Gedankens •gebracht. ^) Ausführlicher habe ich mich über diesen eigenartigen Ableger der Ausbeutungs- theorie in meinem mehrgenannten Aufsatze über ,, Einige strittige Fragen der Kapitals- theorie" ausgesprochen. Ein etwas älterer Versuch, die Ausbeutungstheorie in Ver- bindung mit einer anderen als der sozialistischen Werttheorie vorzutragen, liegt in den interessanten, aber nach meiner Empfindung die kritische Frage eben auch nicht approfundierenden „Untersuchungen über das Kapital" von Wittelshöfer (Tü- bingen 1890) vor. VIII. Eklektiker. 535 Eine starke innere Verwandtschaft mit den soeben besprochenen Anschauungen scheinen mir endlich die in jüngster Zeit veröffentlichten Verteilungstheorien von Oppenheimer i) und Tügan-Baranowsky^) zu haben. Beide betonen den Ausbeutungsgedanken und zwar noch erheblieh schärfer als Dietzel oder Lexis es getan hatten. Beide sagen der Marx- schen Werttheorie als Stütze der Ausbeutungstheorie ausdrücklich ab: Oppenheimer bekennt sich zu einem Gemisch von Grenznutzen- und Kostentheorie, Tugan-Baranowsky voU zur Theorie des Grenznutzens; und bei beiden entsteht durch die Preisgebung der alten Zwischenmoti- vierung naturgemäß dieselbe Erklärungslücke, die vor ihnen schon Dietzel und Lexis unausgefüUt gelassen hatten und deren befriedigende Ausfüllung nach meinem Empfinden jetzt auch ihnen selbst nicht gelungen ist. Tugan- Baranowsky schließt aus der „ökonomischen" oder „sozialen Macht" der besitzenden Klassen unmittelbar auf ihre ausbeutende Aneignung fremden Arbeitsprodulttes, ohne die Erklärung durch die dazwischen- liegenden Details der Wert- und Preisbildung hindurchzuleiten, und sucht diesen, die eigentlichen Schwierigkeiten des Problems umgehenden logischen Sprung durch die Behauptung zu rechtfertigen, daß das Verteilungsproblem überhaupt nicht, wie man sonst allgemein und wohl auch mit vollem Recht annimmt, ein spezieller Anwendungsfall des allgemeinen Wert- und Preisproblems auf die als „Produktionsfaktoren" auftretenden Güter, sondern ein völlig außerhalb des Wert- und Preisproblems stehendes Problem sui generis sei 3). Und Oppenheimer glaubt die Erklärungslücke vermittels des Schlagwortes von einem „Monopol" überbrücken zu können, welches die besitzenden Klassen inne hätten; wobei ich es für eine besonders wenig befriedigende Nuance halte, daß Oppenheimer in letzter Linie das Bodenmonopol auch für die Entstehung des Kapitalzinses verantwortlich machen will*). vm. Nicht unerheblich ist endlich auch in der neuesten Zeit die Zahl und nicht unbeträchtlich das Gewicht derjenigen Theoretiker, welche ihre Erklärung des Kapitalzinses in eklektischer Weise auf ^ Elemente ver- schiedener Theorien stützen. Es ist dies, wie ich schon bei einer früheren Gelegenheit hervorgehoben habe^), nicht zu verwundern. Es ist kaum zu verkennen und gerade auch durch die neuesten Forschungen auf unserem ^) Theorie der reinen und politischen Ökonomie, Berlin 1910, 2. A. 1911. *) Soziale Theorie der Verteilung, Berlin 1913. 3) A. a. 0. S. 5f., llf.. 81f. *) Z. B. a. a. 0. S. 273f. und 415ff. ») Siehe oben Abschn. XIII S. 414. 536 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gregenwart. Gebiete immer deutlicher zur Anschauung gebraucht worden, daß zu der Kapitalzinserscheinung mehr als eine Tatsachengruppe in ursächlicher Beziehung steht; insbesondere gilt dies von der größeren Ergiebigkeit der kapitalistischen Produktion einerseits, und von dem mit jeder Kapital- investition verbundenen zeitlichen Aufschub im Gütergenusse andererseits. Auf jedes dieser Momente waren selbständige Theorien gegründet worden, und so lange sich nicht ein lösender Ausweg zeigte oder als solcher erkannt wurde, welcher das Ineinanderwirken dieser heterogenen Teilursachen aus einem einheitlichen Gesichtspunkt zu begreifen gestattete, lag und liegt gerade für umsichtige, keiner Erfahrungstatsache sich verschließende Autoren die Versuchung nahe, eklektisch zu mischen. LoRiAs, welcher Elemente der Abstinenztheorie mit solchen der Aus- beutungstheorie kombiniert, habe ich schon oben gedacht^). Diehl ver- knüpft eine Art motivierter Produktivitätstheorie mit Erwägungen und Ausdrücken der Nutzungstheorie 2), Redewendungen, die ebenfalls für die letztere Theorie charakteristisch zu sein pflegen, finden sich bei Sidgwick neben Ausführungen, welche die Abstinenztheorie lehren und verteidigen^); wobei ich es übrigens für ganz wohl möglich halte, daß die im Geiste der Nutzungstheorie gehaltenen Redewendungen mehr nur zufällig gebraucht, und die wahre Meinung jenes ausgezeichneten Schriftstellers lediglich durch die Abstinenztheorie repräsentiert wird. Neuraths etwas verschwommene Äußerungen lassen keinen klar ausgeprägten Kern, wohl aber eine partielle Zustimmung oder Zuneigung zu einer ganzen Reihe der herkömmlichen Erklärungsarten erkennen *). Und ich glaube auch nicht anzustoßen, wenn ich den gelehrten und geistreichen Verfasser der „Progres de la Science Economique depuis Adam Smith", Maurice Block, den Eklektikern beizähle. Überzeugter Anhänger der vollen Berechtigung des Kapitalzinses hat er sich nicht entschließen können, eine von mehreren Auffassungen, die ihm in gleicher Weise plausibel und dem Kapitalzins günstig schienen, preiszugeben. Ich finde in seinen reichhaltigen Äußerungen über den Stoff sowohl die Pro- duktivitätstheorie, als die Abstinenztheorie, als auch die Nutzungstheorie vertreten s); und daß für den hervorragenden Gelehrten selbst der Gedanke, als Eklektiker angesehen zu werden, nichts abschreckendes hatte, beweist 1) Siehe Anhang, Abschn. IV S. 482. *) P. J. Proudhon, Seine Lehre und sein Leben, II. Abt., Jena 1890, S. 217—225 und S. 204. 3) Principles of Pol. Economy, 2. Aufl., London ]887, S. 167, 168, 264; dann 255ff. *) Elemente der Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl., Wien 1892, S. 282ff., 3l3ff., 324ff. *) Siehe Progrös (Paris 1890), II. Bd., S. 319, 320, 328, 335ff.; dann 321, 326, 339; endlich 310—322, 348. VIII. Eklektiker. Dietzel. 537 ein ausdrückliches, und wohl auch mit als oratio 'pro domo gemeintes Plaidoyer, das er einmal zugunsten des Eklektizismus hält^). Ch. Gides' Äußerungen scheinen sich mir zum Teü an die Nutzungs-, zum Teil an die Agiotheorie 2), die Darlegungen Nicholsons und Va lentis ebenfalls zum Teil an die Agiotheorie, zum anderen Teüe aber an die Abstinenztheorie anzulehnen 3). Letztere Kombination tritt überhaupt neuestens ziemlich häufig auf, wie ich schon in den Abschnitten II und IV dieses Anhanges darzulegen Gelegenheit hatte. Eine ganz eigenartige Stellung unter den zum Eklektizismus hin- neigenden Autoren nimmt endlich Dietzel ein. Dieser immer geistreiche, aber nicht immer kühl überlegende Autor hat anläßlich einer 'hingehenden Besprechung meiner Kapitalzinstheorie sich als methodischen Eklektiker in dem Sinne bekannt, daß er die verschiedenen gangbaren Zinstheorien, insbesondere die Ausbeutungs- und die Produktivitätstheorie nebenein- ander, und zwar jede für einen Teü der Zinserscheinungen als zutreffend und anwendbar erklärte. Er meint, es seien „im Gebiete der Zinstheorie für die verschiedenen Kategorien der sozialwirtschaftlichen Erscheinungen verschiedene durch die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Position und Relation der Individuen bedingte Erklärungsgründe zu formulieren." Besitzt z. B. der Mieter eine? Klaviers oder eines Wohnhauses ein Kapital, welches auch zum Ankauf des Klavieres oder des Hauses ausreichen würde, das aber der Mieter in einer produktiven Anlage zu investieren oder zu belassen vorzieht, so sei der Zinsbezug des Haus- oder Klaviereigentümers zutreffend aus der Produktivität des Kapitales zu erklären. Besitzt da- gegen der Mieter ein zum Ankauf des Mietobjektes ausreichendes Kapital nicht, dann sei der Zinsbezug nur durch eine Ausbeutung des Mieters zu erklären, es „greife die („in ihrem Kern unleugbare") Ausbeutungstheorie zur Erklärung des Zinses ein"*). Daneben verteidigt Dietzel auch die Nutzungstheorie 5), und gesteht endlich, wenn ich ihn recht verstehe, auch meiner Kapitalzinstheorie eine Berechtigung für eine gewisse Gruppe von Zinserscheinungen, nämlich für die Erklärung des Zinses im Konsumtiv- kredit zu«). 1) A. a. 0. S. 344; vgl. auch S. 349. *) Principes d'Economie politique, 5. Aufl., S. 451 in der Note. ') Nicholson, Principles of Pol. Economy, London 1893 — 1897, vgl. besonders I 388 und II 217 u. 219; Valenti, Principii di Scienza Economica 1906 S. 384f. In der wiederholten nachdrücklichen Hervorhebung der vom Kapital ausgehenden „servigi produttivi" klingt bei Valenti allerdings auch noch ein Element der Nutzungstheorie mit, in ähnlicher Art wie bei Pareto. «) Göttinger Gelehrte Anzeigen, 1891, Nr. 23, S. 930ff., besonders 932—935. *) a. a. 0. S. 933. *) a. a. 0. S. 932ff. 638 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. Wie ich inzwischen an einem anderen Orte^) ausrührlicb entwickelt habe, halte ich Dietzels methodischen Standpunkt für einen äußert unglücklichen und vollkommen unhaltbaren. Es wird sich zwar gegen jeden Eklektizismus etwas einwenden lassen. Es besteht aber immer noch ein großer Unterschied, ob man, wie dies sonst die Eklektiker zu tun pflegen, zur Elrklärung eines Phänomens eine Theorie ersinnt, in der man Elemente verschiedener Theorien, die sich innerlich nicht recht durchdringen, zu einer äußeren Einheit zusammenmengt, oder ob man, wie dies Dietzel will, für jede Gruppe von Fällen eines und desselben Phänomens grund- sätzlich eine ganz andere, und zwar bis in die Wurzel verschiedene Theorie ausarbeitet oder anerkennt. Hat diejenige Einkommensform, welche die Nationalökonomen im Gegensatz zu der Grundrente, dem Arbeitslohn und dem Unternehmergewinn als Kapitalzins oder Kapitalrente zusammen- zufassen gewöhnt sind, überhaupt irgend etwas charakteristisches, was die ihr zugehörigen Fälle untereinander verbindet und von den anderen Einkommensarten trennt, so, kann dieses charakteristische doch nicht für jeden ihr zugehörigen Fall etwas anderes, und zwar bis zum Grund verschiedenes und sogar entgegengesetztes sein. Wer dennoch mit Dietzel versucht, Fälle desselben Grundphänomens aus kontrastierenden Theorien zu erklären, kann erstens nicht vermeiden, sich in absurde Konsequenzen zu verstricken — wer möchte z. B. Dietzel die Konsequenz nachsprechen, daß ein Hauseigentümer, der eine und dieselbe Luxuswohnung in zwei aufeinanderfolgenden Jahren um den gleichen Preis von 2000 fl. einmal an einen Bankdirektor mit 15000 fl. Gehalteinkommen und das anderemal an einen Fabriksbesitzer mit 15000 fl. Vermögensrente vermietet, das erstemal seinen Zinsbezug einer von ihm geübten Ausbeutung, und das zweitemal der Produktivität des Kapitales verdankt haben soU? — und er kann zweitens nicht vermeiden, sich in die offenbarsten Widersprüche zu verstricken: denn jede der kontrastierenden Theorien enthält Prämissen, die man anerkennen muß, wenn man auch nur einen einzigen FaU im Geiste dieser Theorie erklären will, und die im ausschüeßendsten Wider- streit zu Prämissen der anderen Theorien stehen, die man zu gleicher Zeit bekennen muß, um die Erklärung anderer Fälle nach der Anweisung Dietzels durchführen zu können. Wer, der die Ausbeutungstheorie in ihrem Kern für richtig erklärt, kann daneben irgend einen Fall des Zins- bezuges im Geiste der Produktivitätstheorie erklären, und umgekehrt?! Diesen krassen Inkonvenienzen konnte Dietzel wohl nur deshalb entgehen, weil er seine, wie ich glaube, etwas leichthin verkündigte methodische Maxime in der Rolle des Ejitikers, und nicht in der des Systematikers zum Besten gab, und daher selbst keinen Versuch zu machen brauchte, ihre Anwendbarkeit praktisch auf die Probe zu stellen. ^) Einige strittige Fragen der Kapitalsthecrie, Wien 1900, S. 84ff. IX Heatjger Stand der Memnngen. 539 IX. So viele und vielgestaltige Meinungen ringen also noch bis heute wider einander. Der letzte Ausgang dieses Ringens ist sicherlich noch nicht entschieden. Aber der Kampf ist auch nicht auf demselben Flecke stehen geblieben. Über das weite Kampffeld hin hat es doch manche zweifellose Erfolge und ebenso zweifellose Schlappen gegeben. Gewisse Anschauungen sind sichtlich im Aufschwung und Vordringen, andere im Zurückweichen oder in bedrängter Verteidigung einer ungünstigen und zurückgeschobenen Position, deren stärkste Vorwerke schon gefallen sind, begriffen. Wenn ich den Versuch wagen darf, ein Bild von dem momentanen Stande des Kampfes, wie er sich mir darstellt, zu entwerfen, sa möchte ich es mit folgenden Zügen tun. Auf einer Hauptfront der vielverzweigten Kampfstellung wurde zwischen der Ausbeutungstheorie einerseits, und den verschiedenen zinsfreundlichen Theorien andererseits gekämpft. Hier scheint mir der Ausgang in der Tat zweiffeUos geworden, die Überwindung der Aus- beutu^^^theorie besiegelt zu sein. Durch die notgedrungene Preisgebung ihres werttheoretischen Fundamentes ist sie in eine nicht mehr haltbare Position gedrängt worden. Gewiß wird von ihren Anhängern das Gefecht noch einige Zeit hingehalten werden, und zumal aus dem agitatorischen Teil der Parteikundgebungen wird das Ausbeutungsdogma schwerlich so rasch verschwinden; aber von der Wissenschaft wird dasselbe wohl bald und für immer in die Reihe der endgültig überwundenen Irrtümer gestellt werden. Und auch der „vulgär-ökonomische Ableger" der Ausbeutungs- theorie, dessen wir oben gedacht haben, dürfte schwerlich eine derartige Triebkraft besitzen, als daß von ihm aus die im Hauptstamme absterbende Lehre eine verjüngende Wiedergeburt und fruchtbare Weiterentwicklung zu gewärügen hätte. Aber auch das Ringen, in welchem gleichzeitig die rivalisierenden „zinsfreundlichen" Theorien — wenn ich mich dieses kurzen, aber für parteilose Theorien eigentlich nicht ganz passenden Namens bedienen darf — unter und gegen einander begriffen waren, ist nicht ohne gewisse bleibende Ergebnisse verlaufen. Ich glaube, es kann heute als so ziemlich ins Reine gebrachte Erkenntnis gelten, daß die Zinserscheinung einerseits mit gewissen Tatsachen der Produktionstechnik, andererseits mit der Tatsache eines zeitlichen Genußaufschubes als ihren letzten Ursachen zu tun hat — ganz so, oder wenigstens beiläufig so, wie es Prof. Marshall mit seinen populären Schlagworten von der „productiveness" und „pro- spectivenesg" des Kapitales zum Ausdruck gebracht hat. Diejenigen Theoriezweige nun, welche außerhalb dieser Erkenntnis stehen, oder sich wenigstens in ihrem Erklärungsgang durch dieselbe nicht berührt zeigen, scheinen mir keine Aussicht mehr zu besitzen, daß eine rückläufige Be- 540 Anhang. Die Zinsliteratur in der Gegenwart. wegung die Entwicklung in ihre heute abseits gelassenen Bahnen zurück- leiten könnte. Dies gilt, wie ich glaube, einerseits von einzelnen Spielarten der „Arbeitstheorien", andererseits von den echten, ausgesprochenen Produktivitätstheorien. Diese letzteren zumal, die einst einen so breiten Raum in der ökonomischen Theorie eingenommen, weisen für unsere moderne Anschauungsweise zwei Kardinalgebrechen auf, die heute immer allgemeiner als solche erkannt und anerkannt werden: daß sie aus ihren Prämissen heraus ihr positives Erklärungsziel auf logischen Bahnen, gleichsam ohne einen logischen Purzelbaum zu schlagen, nicht erreichen können; und daß sie überdies eine volle Hälfte der tatsächlichen Ursachen der Zinserscheinung ganz außeracht lassen. Für die hoffnungslose Lage dieser echten Produktivitätstheorien scheint es mir ein bezeichnendes Symptom zu sein, daß man — wie ich glaube, hierin gegen den tatsächlichen Stand der Dinge und gegen die historische Treue verstoßend — neuerdings anfängt, sogar die Existenz solcher wahrer Produktivitätstheorien ganz in Abrede zu stellen, und ihren Vertretern andere, den heute herrschenden Auffassungen des Problems näher kommende Ansichten beizulegen^). Der lebenskräftige Teil der Entwicklung drängt dagegen überein- stimmend einem Ziele zu, von dem heute wohl nur wenige noch zweifeln, daß es wenigstens als Zielpunkt des Erkenntnisstrebens richtig gewählt ist, und welches, mag man auch heute über die Wahl der richtigsten zu ihm hinleitenden Bahn noch zögernd schwanken, früher oder später sicherlich auch erreicht werden wird. Das Ziel ist, eine Erklärung zu finden, welche beiden Ursachengruppen, den produktionstechnischen und den mit dem Genußaufschub verbundenen psychologischen Tatsachen, in einer Weise gerecht wird, daß nicht bloß jeder Erklärungsteil für sich sachlich und logisch unanstößig ist, sondern daß auch beide Erklärungshälften sich zu einem sachlich und logisch untadeligen Ganzen zusammenfügen. Von den verschiedenen, im Streben nach diesem Ziele rivalisierenden Theorien muß der Nutzungstheorie zugestanden werden, daß sie, richtig* und voll verstanden, an beide Ursachengruppen anknüpft, also ausreichend umfassend ist: aber sie stößt in der Durchführung ihres Erklärungsganges auf schwere sachliche und logische Bedenken, welche auch, wie es scheint, heute in immer weiteren wissenschaftlichen Kreisen als solche empfunden und gewürdigt werden. Die Abstinenztheorie findet ebenfalls in dem von ihr gewählten Erklärungswege Schwierigkeiten sachlicher und logischer Art, auf welche ich in den vorstehenden Blättern noch deutlicher als bisher hinzuweisen bemüht war; und überdies scheint mir die Art, in welcher sie der „pro- ductiveness" neben der — ihrer Erklärung das charakteristische Gepräge aufdrückenden — ,,prospectiveness" gerecht zu werden sucht, nicht zu ^) Siehe oben mein Vorwort zur zweiten Auflage. IX. Heutiger Stand der Meinungen. 541 einer glücklichen Verschmelzung in eine wirklich einheitliche Theorie zu führen. Die Eklektiker wieder haben natürlich sowohl mit den speziellen Schwächen zu kämpfen, die jeder einzelnen in die eklektische Kombination einbezogenen Theorie anhaften, als auch mit dem Widerstreben der dis- paraten Elemente gegen die Verschmelzung in ein harmonisches Ganzes. Seit Rae war das Moment des zeitlichen Genußaufschubes in einer Auffassungsweise berücksichtigt worden, welche sich von den bedenk- lichen Deutungszutaten der Abstinenztheorie freihielt. Dagegen war Rae mit dem zweiten Ast der Erklärung in den den Produktivitätstheoretikern eigentümlichen Denk- und Vorstellungsfehlern befangen geblieben. Jevons wieder ist mit diesem zweiten Ast etwas glücklicher, dafür mit der in die Bahnen der Abstinenztheorie zurücklenkenden Behandlung der „pro- spectiveness" etwas weniger glücklich, und läßt jedenfalls das Requisit einer in logischer Harmonie ausklingenden Zusammenfassung der ver- schiedenen Erklärungsgründe vermissen. Dem gegenüber hat endlich das jüngste Glied in der Reihe der riva- lisierenden Zinstheorien, die „Agiotheorie", einen Versuch gemacht, welcher, wie immer sein Erfolg beurteilt werden mag, zum mindesten das anzustrebende Ziel klar und bewußt vor Augen gehabt hat: aus einer umfassenden Berücksichtigung aller einflußreichen letzten Ursachen eine dennoch in sich zusammenhängende, einheitliche Erklärung des Zins- phänomens abzuleiten. Daß sie dem ersten Teil dieses Programmes in der Ausführung treu geblieben ist, wird kaum von irgend einer Seite in "Zweifel gezogen werden: für die umfassende Berücksichtigung sowohl der „productiveness" als der ,,prospectiveness" ist es ein bezeichnendes Zeugnis, daß einzelne ihrer Freunde ihre Zustimmung mit der Bemerkung begleitet und motiviert haben, daß sie inhaltlich eigentlich eine Produktivitätstheorie, andere wieder damit, daß sie eigentlich eine Abstinenztheorie sei^). Und vielleicht noch bezeichnender leuchtet diese Anerkennung in einem gewissen Vor- wurf eines meiner hervorragendsten Gegner durch. Wenn mir von Prof. Marshall eine Überschätzung der Meinungsdifferenzen gegenüber meinen Vorgängern in der Zinstheorie vorgeworfen, und zur Erhärtung dieses Vorwurfes darauf hingewiesen wird, daß ja auch schon in den Meinungen meiner Vorgänger eine paritätische Berücksichtigung der „productiveness" und der „prospectiveness" zu finden gewesen sei, so wird diese paritätische Berücksichtigung offenbar als ein gemeinsames Bestandstück unserer Lehr- ^) Pierson sagt in seiner ausführlichen Besprechung meiner Positiven Theorie in The Economist, Märzl889, S.127: „Unser Verfasser steht mit beiden Füßen auf dem Boden der Produktivitätstheorie"; Macfarlane hinwiederum widmet dem Nach- weise, daß „abstinence is recognised in the exchange theory", einen eigenen Paragraph (107) seines Werkes über „Value and distribution". 542 Anhang. Die Snsliteratar in der Gegenwart. meinungen angesehen und somit jedenfalls auch meiner Agiotheorie nicht abgesprochen. Ob die Agiotheorie auch in der Erfüllung des zweiten Programm- punktes glücklich, oder doch glücklicher als ihre Rivalen war, das wird die fortgesetzte Diskussion herausstellen. Je knapper durch die Ergebnisse der bisherigen Forschung und Kritik der Raum eingeengt ist, innerhalb dessen die zum Ziele führenden Erklärungsbahnen gelegen sein müssen und zu suchen sind, desto sorgfältiger kann und wird innerhalb dieses Bezirkes in Hinkunft gesucht und geprüft werden. Die beiläufige Richtung wissen wir. Oder, wie sich einmal J. B. Clark in einem geistvollen Aus- blick auf die „Zukunft der ökonomischen Theorie" vielleicht etwas opti- mistisch, aber kaum ganz unrichtig ausdrückte: „Explanations of interest that cannot be far from the truth have been offered"^). Von nun an wird es sich darum handeln, innerhalb jenes Bezirkes die verschiedenen Pfade, zu deren Betretung wir von den heute noch rivalisierenden Theorien eingeladen werden, Schritt für Schritt auf ihre ununterbrochene und ziel- richtige Gangbarkeit zu prüfen. Noch anspruchsvoller, noch strenger, noch wählerischer als bisher, weil wir an beiläufiger Orientierung heute genug besitzen, als daß ebenfalls nur beiläufig, aber nicht genau zutreffende Wegweisungen uns heute überhaupt noch fördern könnten. Wie immer aber das Schlußergebnis dieser künftigen kritisch-dogmatischen Ent- wicklung sich gestalten mag, eines scheint mir heute schon sicher zu sein: daß der einmal erweckte kritische Geist sich mit keiner anderen als einer auch den strengsten wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Lösung zufrieden geben wird, und daß die Gefahr — und zwar für immer — vor- über ist, daß die Beruhigung jemals bei einer jener flachen Scheinlösungen gefunden werden könnte, welche leicht in bequeme Schlagworte zu fassen, aber in geordneter Denkfolge nicht zu Ende zu denken sind. ^) Qoarterly Journal of Economics, Oktober 1898, S. 1. Autoren-Kegister. Die den Autoruamen beigesetzten Ziffern bedeuten Seitenzahlen. Wo einem Namen mehrere Zahlen beigesetzt sind, sind die Hanptstellen durch fetten Druck hervor- gehoben. Aarum 459. Adler Georg 367, 368, 384. Adler Karl 515, 516. Aftalion 459. Ambrosius 15. Andrews 456. Aquin, Thomas von 17, 18, 19,. 25. Aristoteles 11, 12, 41. Aschehoug 459. Augustinus 15. liacon 28, 36. Barbeyrac 34. Barbon 40, 369, 382. Barone 458, 481. Bastiat 230, 257 If., 333, 413, 424, 432. Bauer 40. Beccaria 43 f. Benini 458. Bentham 41f., 44, 232, 299f., 421, 453. Bernhard 461. Bemhardi 84, 188. Bernstein 406 W., 531. Berolzheimer 466. Besold 27 f., 34. Bilgram 456, 457. 463. Birck 469. Bischof 418. Block 465, 616, 636. Bodinns 44. Böhmer 10, 34. Bonar 455, 456, 459. Bortkiewicz v. 367, 466, 474. Bomitz 27. Boxhorn 33. Brentano 466. Brock 459. Broedersen 42. Brown 457, 516. Busch 320. Bundsmann 515, 516. Caimes 256. Calvin 23ff., 56. Camerarius 27. Canard 92ff. Cancrin 71, Cannan 64, 89, 264. Caramuel 18. Carey 135«., 143, 145, 151, 161. 261, 274. Carver 456, 457, 464f., 481 f., 493, 496 IL Cassel 38, 56, 109, 457, 459, 466, 472. Cato 11. Cauwös 115, 268 L, 424. Cernnschi 453. Chalmers 90. Cherbuliez 256, 269 ChiW 37. Chrysostomus 15. Cicero 11. Clark 442, 455, 467, 611, 615, 616, 642. Coletti 533. Coneina, Fra Daniello 41. Conrad J. 465. Conrad Otto 462. Contzeu 34. Cossa Emilio 462 f. Cossa Luigi 42, 278, 418. CourceUe-Seneuil 222, 265 L, 272. Covarruvias 16, 17. Crocini 458. Cahel 300. Culpeper 37. 544 Autoren-Register. Davidsohn 459. Diehl 326, 367, 465, 515, 532, 536. Dietzel Heinrich 331, 465, 515, 532, 634f . 537 f. Dietzel Karl 257. Droz 92, 94 f. Dühring 328. Dumoulin siehe Molinaeus. Edgeworth 455. Effertz 460. Einarsen 459. Eiselen 75. Ely 456. Endemann 11, 14, 16, 16, 19, 20, 21, 24, 26, 29, 31, 34, 51. Engels 367, 399, 531. Engländer 515. Eulenburg 474. Falbe-Hansen 459. Farnam 457. Fetter 457, 516. Fireman 531. Fisher 201, 456 f., 463, 499, 502, 516. Forbonnais 35, 42. Fulda 75. Funk 11, 49, 51. Gajus 228. Galiani 38, 41 ff., 44, 48, 191, 232, 299, 300, 453. Garnier G. 92. Garnier J. 115, 256, 269, 424. Gebauer 615. Genovesi 43. George 67, 430 ff., 465. Georgievsky 461. Gerstner 265, 423. Gesell 463. Giddings 456, 503. Gide 466, 537. Glaser 153ff. Godwin 242, 320, 423. Goldschmidt 228. Graziadei 531. Graziani 458f., 482. Grasnvinckel 33. Green 456. Groß 367. Grotius 27, 28f. Guth 327. Hadley 456. Hall 320. Hamilton 459. Heimann 396. Held 321. Hermann 1, 133, 172, 178 ff., 188, 189, 190, 191, 192, 193, 197f., 199, 210, 211 ff., 221, 329, 442. Hilferding 396. Hoag 464f. Hobson 456. Hodgskin 321. Hoffmann 276, 426. Hufeland 71. Huhn 418. Hume 40, 42, 60, 52, 463. Jaeger 459. Jakob 75. Jevons 256, 277, 278, 300ff., 316, 41»ft, 453, 455, 460, 485, 492f., 603, 641. Jones 90. Justi 35, 36, 60. Kautsky 531. Kleinwächter 118 ff., 117, 118. Kloppenburg 33. Knies 11, 13, 166, 191 f., 198, 203, 206, 210, 216 ff., 228, 232, 281, 330, 331, 339, 343, 344, 367, 374, 380, 384, 388. 455, 528. Komorzynski 367, 466, 632. Kraus, Christian Jakob 71. Kraus Oskar 301. Labriola 532. Lactantius 15. Lafargue 531. Land6 531. Landry 260, 459, 499, 616, 616. Laspeyres 11, 29, 33, 34. LassaUe 163, 246, 247f., 326 f., 378, 412. Lauderdale 96, 109, 126 ft, 131, 136, 137, 151, 168, 241, 246, 311. Launbardt 301, 302, 454. Law 45, 60. Leffler 469. Leibnitz 34. Lehr 465. Leroy-Beaulieu 116, 125, 418. Lexis 367, 531, 532 ff. Autoren-Register. 545 Defmann 462. Lifschitz 368. Locke 38 ff., 42, 50, 51, 126, 242, 319, 322. Loria 248, 482, 531, 636. Lotz 72 ff., 319. Lowrey 456. Lueder 71. Luther 22. Mac CuUoch 86 ff., 241, 243, 246, 262, 264, 413, 423, 503. Macfarlane 248, 255, 455f., 481, 493, 503, 541. Mac Leod 90 ff., 442. Macvane 455, 481, 483. Maffei 41, 42. Malthus 84, 181 ff., 242, 245, 246, 301, 416, 426. Mangoldt 188f. Maresius 33. Margolin 239f., 466, 473. Mario 177 f. Marshall XI ff., 245, 248, 255, 481, 482 ff., 503, 522, 541. Marx 112, 163, 164, 321f., 327, 329, 330, 367 ff., 403, 404, 405, 406, 407, 408, 410, 411, 412, 441, 510, 530f. Masaryk 367, 532. Massalia, Alexius a, 29, 31 Mataja 195. Melanchthon 22. MeloQ 45. Menger Anton 320f. Menger Karl 172, 183, 192 ff., 197, 232 ff., 450, 465. Mercier de la Rivilre 54. Meyer R. 353. Mill James 241, 243, 246, 262 ff., 324, 423, 503. Mill J. St. 256, 277, 278, 328, 425 ff., 493, 498. Mirabeau 45 ff., 54. Mithoff 189. Mixter 277ff. 281f., 284, 303, 314ff., 456. Molinaeus 16, 23, 24 ff., 31, 44, 50, 52. Molinari 49, 115, 256, 418. Montemartini 458. Montesquieu 42, 45. Morgenstieme 459. Murhard 71. Böhm- Bawerk, Kapitalzius. 4. Aufl. ^Jagcp 191 Natoli 84, 356f., 391, 458 L Nebenius 176 f., 243. Neumann 11, 22, 29, 34. Neurath 536. Nicholson 537. Noodt 34. North 37. Oppenheimer 535. Oswalt 240, 453, 461, 462, 466 ff. Pantaleoni 515. Pareto 458, 465, 537. Patten 455. Petty 37, 42, 384, 453. Philippovich 460, 515, 516. Pierson 459, 515, 541. Pierstorff 8, 62, 80, 122. 133, 135, 246, 259, 418. Plato 11. Platter 62, 64. Plautus 11. Pölitz 71. Pothier 45 f., 48, 49. Proudhon 115, 325 f., 328, 329. Pufendorf 34. Quesnay 53. Rae 201, 232, 277 ff., 422, 453, 493, 641. Rau 76. Read 135, 265, 321, 422 f. Ricardo 76 ff., 91, 108, 126, 132, 134, 135, 185, 241 f., 246, 262, 276, 301, 308, 319f., 324f., 338, 355f., 374f., 377f., 386, 387, 390, 391, 395, 425, 448, 505, 509, 514. Ricca-Salerno 458f. Riedel 110 f., 117, 118, 124, 193. Rizy 11, 45. Rodbertus 163, 259, 269 ff., 321f., 326f., 329, 330 ff., 367, 374, 378, 390, 392, 409, 412, 441, 530. Roesler 155 ff., 185. Röscher 11, 27, 34, 37, 39, 51, 98, 111 ff., 117, 124, 185, 193, 222, 223, 256, 413, 418. Rossi 115, 256, 416ff. Salmasius 18, 27, 29 ff., 35, 37, 42, 43, 44, 47, 50, 51, 52, 197, 222, 223, 229, 230ff., 258. 35 546 Antoren-Register. Salz 323. Sartorius 71. Sex 301, 302, 464. Say 72, 76, 76, 92, 94, 96, 10811., 116, 117, 118, 124, 133, 163, 172 IL, 183, 193, 197 f., 199, 203, 207, 210, 221, 222, 224, 329, 448, 466. Schäffle 18» ff., 19Sf., 201, 206, 207, 210, 222, 224, 271 ff., 276, 328, 337, 428 ff. Schanz 36. Scharling 469. Schellwien 430, 48« ff., 466. Schindler 18. Schmalz 71. Schmidt, K. 396f., 8Mff., 631. Schön 110. Schüz 266, 418. Schulze-Delitzsch 113, 418. Schumpeter 461, 611. Scialoja 116, 117. Scrope 243, 321. Seager 466, 467, 616, 616. O pn P P A, 1 '] Senior 62, 76, 91, 112, 133, 222, 241 ff., 267, 268, 269, 266, 329, 421, 423, 426, 484. Seutter 71. Sidgwick 496, 636. Sismondi 320, 322 ff., 378. Sivers 64. Smart 466. Smith Adam 33, 60, 61 fL, 73, 76, 76, 77, 79, 84, 90, 96, 107, 108, 110, 126, 132, 133, 166, 241, 242, 276, 279, 301, 319f., 322f., 324, 330, 338, 373, 374ff., 386, 396, 448, 617. Smith Peshine 136, 142 ff. Soden 72, 74, 319. Soldi 631. Sombart 367, 399f.; 406, 631. Sonnenfels 35 ff., 44, 60, 320. Spiethoff 461. Steuart 39, 60, 320. Stiebeling 631. Stolzmann 273, 362f., 604 ff. Storch 176f. Strasburger 164 ff., 311, 413, 4.36. Sulzer 460. Taussig 466, 467. Tellez 16, 17. Thompson 242, 820 f. Thünen 145 ff., 189, 286, 304, 317, 420, 626. Torrens 84f., 133, 246, 426. Tugan-Baranowsky 367, 614, 635. Turgot 33, 38, 47 ff., 68 ff., 68, 70, 94, 127, 232, 281, 299, 300, 430, 433, 463, 466. Ulpian 228. Vaconius a Vacuna 17. Valenti 637. Vasco 41, 43. Vaughan 37, 42, 463. Verrijn, Stuart 84, 374, 462. Wagner 222, 272 f., 322, 331, 367. 460, 604, 608. Walker XI ff., 616. Walras 466. Weisengrün 632. Wenckstern 367, 632. Westergaard 469. Whately 90. Wicksell 469f., 516. Wieser 616, 616, 617 ff. Wirth 266, 418. Wiskemann 11, 22. Wittelshöfer 634. Wolf 616, 617, 631. WoUemborg 132, 266. Wuttke 461. Zabarella 19. Zaleski 466, 466. Zwingli 22. fidlitr Usnar I ainvtn
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