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Einleitung
Lieber Ernst,
ich möchte Dir dieses Buch widmen. Ich habe mich oft meines treuen und dankbaren Gedächtnisses gerühmt. Darf ich Dich heute an ein Erlebnis erinnern, das etwas mehr als 50 Jahre zurückliegt? Alt genug für solche Erinnerungsfeste sind wir ja geworden. Ich war etwa 8 Jahre alt, Du 13. In unserem Kinderzimmer saßen wir fünf Brüder eines Abends, ein jeder an seinem kleinen Tischchen bei einer Talgkerze, mit unseren Schularbeiten beschäftigt. Ich hatte für den Prüfungstag, für den morgenden Tag also, in ein Heft die Gedichte abzuschreiben, die wir im Laufe des Semesters auswendig gelernt hatten. Eben hatte ich den letzten Vers abgeschrieben, als ich so ungeschickt war, das Tintenfaß anstatt der Streusandbüchse zu ergreifen und es über das Heft auszuleeren. Ich heulte jämmerlich; ich war wohl wehleidig. Der Schaden war freilich kaum wieder gut zu machen, weil meine Schreibfertigkeit damals noch kaum ausreichte, 32 Seiten in einer Nacht zu leisten. Für den Spott brauchte ich nicht zu sorgen. Du aber kamst an mich heran, überblicktest das Unheil prüfend und sagtest dann: »Leg' dich nur ruhig schlafen; ich werde dir die paar Seiten abschreiben.« Ich tröstete mich schnell, schlief wirklich bald ein, und des Morgens fand ich das dumme Heft in Deiner schönen Handschrift auf meinem Tischchen, neben der herabgebrannten Kerze. Die Menschen ändern sich nicht. Ich habe noch mehr als einmal vom Tintenfasse unratsamen Gebrauch gemacht; und Du hast noch mehr als einmal gearbeitet, und mich schlafen geschickt. Ich weiß, ich stehe nicht allein mit solchen Erinnerungen an Deinen Charakter. Mit treuem und dankbarem Gedächtnis möchte ich Dir dieses Buch widmen; die Ruhe, die mir eine Bedingung für meine Arbeit war, verdanke ich Dir und den beiden andern, die Du kennst. Man könnte die Stille, welche Bedingung und Ziel zugleich einer solchen Arbeit ist, noch mit andern Namen rufen: ich verdanke Euch meine Unabhängigkeit, meine Freiheit. Die äußere Freiheit, die innere zu suchen. Man könnte anstatt von Freiheit auch von Lebensmöglichkeit sprechen. Aber wir beide lieben die überlauten Worte nicht, nicht wahr? Ich möchte Dir noch etwas sagen. Man spricht darüber nicht jeden Tag. Als ich vor kurzem 60 Jahre alt wurde, brachte mir die Post allerlei Zeitungsblätter ins Haus, in denen meiner ganzen Tätigkeit mit Achtung und Liebe gedacht war. Auch sonst kommt das mitunter vor. Dann hat mir immer etwas gefehlt: daß ich solche Zeichen guter Meinung nicht mehr unserer Mutter vorlegen kann. Ihr unbestechliches Urteil hätte sich durch keinen Zeitungskram irre machen lassen; aber es wäre ihr doch lieb gewesen, auch von diesem Kinde etwas Freundliches zu hören. Ich glaube fast, mir ist nicht ganz klar, was ich Dir damit eigentlich noch sagen wollte. So ungefähr: ich gedenke auch der Mutter, wenn ich just Dir dieses ungefüge Buch widme.
Meersburg a. Bodensee, im Mai 1910.
I.
»Das Wörterbuch der Philosophie«, so sollte dieses Buch nach meinem Wunsche heißen. Das Wörterbuch. Freunde, zu deren Charakter nicht eben Ängstlichkeit gehört, rieten ab. Ich sollte den bestimmten Artikel weglassen; ich sollte den Schein der Eitelkeit vermeiden, als lebte ich in dem Glauben, das einzig richtige, das einzig wertvolle Wörterbuch der philosophischen Begriffe gegeben zu haben. Der bestimmte Artikel in der Überschrift meines Buches hatte aber einen ganz andern Sinn: Resignation, ein Bescheiden sollte das Wörtchen wie ein Auftakt ausdrücken. Diese wenigen hundert Wörter, deren Bedeutung im Laufe der Zeiten gewechselt hat, an Kraft und Inhalt bald zugenommen, bald nachgelassen hat, nicht selten in ihr Gegenteil umgeschlagen ist, über deren Bedeutung nicht einmal die Philosophen der Gegenwart einig sind, diese paar hundert Wörter, mit deren Hilfe wir eine Erkenntnis der Wirklichkeit noch weniger fassen und erreichen können als mit Hilfe minder abstrakter Wörter: das ist das Wörterbuch unserer Philosophie. Ich fügte mich; nicht um dem Vorwurfe der Eitelkeit zu entgehen, sondern nur deshalb, weil ein stilgerechter Titel zu verlangen scheint, daß ein wissenschaftliches Buch die persönliche Note des Verfassers nicht schon in der Überschrift anklingen lasse, weil ich vom Leser nicht verlangen kann, daß er den schlichten Titel oder gar sein erstes Wörtchen schon als eine melancholische Äußerung verstehe. Ich muß schon zufrieden sein, wenn mein guter Leser mir auf allen schwierigen Wegen und Seitenwegen dieser Untersuchungen gefolgt ist, und dann mit der stolzen Enttäuschung einer erworbenen docta ignorantia ausruft: »Das also ist das Wörterbuch der Philosophie.« Und werde froh sein, wenn ein ganz guter Leser am Ende des Weges sich sagen muß: die skeptische Resignation, die Einsicht in die Unerkennbarkeit der Wirklichkeitswelt, ist keine bloße Negation, ist unser bestes Wissen; die Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie ist Sprachkritik; Sprachkritik aber ist die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprachen und mit den Worten ihrer Philosophien niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinaus gelangen können. So sind diese Wortgeschichten und Begriffskritiken neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache geworden. Nicht nur darum, weil ich so in diesem Wörterbuche die Ideen meiner Kritik der Sprache weiter ausbaue, und weil ich die leitenden Sätze des grundlegenden Werkes öfters zitieren mußte, da ich sie doch als bekannt voraussetzen nicht konnte und nicht wollte, – nicht darum ist dieses Wörterbuch ein persönliches Unternehmen geworden, persönlicher, als sonst Wörterbücher sein dürfen. Persönlich ist die Auswahl der Wörter oder Begriffe geworden, deren Geschichte und Kritik ich vorlege; auf annähernde Vollständigkeit, auf dieses Ideal eines Nachschlagebuchs und Fremdwörterbuchs der Philosophie, mußte ich ja von vornherein verzichten, wenn ich mein Alter und die nachlassende Kraft erwog und dennoch herausbringen wollte, was mir für die Vorschule einer sprachkritischen Erkenntnistheorie wichtig schien; da konnte es nicht ausbleiben, daß unter den Abstraktionen der philosophischen Disziplinen mich die einen zu einer genaueren Behandlung anregten als die andern. Persönlich ist hoffentlich auch die Weltanschauung, wenn ich mich einer solchen rühmen darf, oder meinetwegen die Seelensituation, die mich seit so vielen Jahren einen Kampf zweier Fronten führen läßt: einen Kampf gegen jede Form des Aberglaubens und Dogmatismus, der mich immer wieder in die Nachbarschaft der Aufklärer bringt; nur daß ich die schlimmste Form des Aberglaubens, den Wortaberglauben, den Wortfetischismus, auch dort finde, wo die Schlagworte von religiöser und politischer Freiheit geprägt worden sind. Den andern Kampf also gegen den metaphysischen Materialismus, der nur ein antikirchlicher Dogmatismus ist, übrigens aber geistloser, ärmer als der Dogmatismus der alten Scholastik. Persönlich, ein subjektives Bedürfnis war mir durch Jahre die Tätigkeit an diesem Buche; ich bin aber nicht so skeptisch zu meinen, daß darum Methode und Ergebnisse der Untersuchungen nur einen subjektiven Wert haben. Ich lebe des Glaubens und dem Glauben, daß der skeptische Nominalismus, mit welchem ich die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache überhaupt aufgezeigt habe, ganz besonders die philosophischen Begriffe trifft, und unter ihnen am stärksten die allgemeinsten Begriffe. Ich habe an den Stücken meiner Arbeit zwischen der Geschichte der Worte und der Kritik der Begriffe unterschieden; da habe ich mich aber noch der gebräuchlichen Terminologie bedient und mit verzeihlicher Schwachheit zwischen dem Äußern und dem Innern eines einzigen Gedankendings eine Scheidewand gesehen, die es im Leben der Sprache nicht gibt. Ich hätte ebenso gut von einer Geschichte der Begriffe und von einer Kritik der Worte reden können. Für die Methode meiner Untersuchungen ist diese bewußte und einseitige Gleichsetzung von Wort und Begriff, wie sonst meine Gleichsetzung von Sprechen und Denken, von entscheidender Bedeutung. Der gegenwärtige Inhalt eines Begriffs oder Worts, sein ungefährer und unbestimmt flimmernder Inhalt ist ja gar nichts anderes als der Niederschlag der Wort- oder Begriffsgeschichte; wer vergessene Ereignisse einer Wortgeschichte besser kennen lernt, versteht auch die Nuancen des gegenwärtigen Gebrauchs besser; die Geschichte ist die wahre Kritik jedes Worts. So ist die wirkliche Erdrinde mit allen ihren ausgestorbenen Lebewesen und allen lebenden Pflanzen und Tieren der Niederschlag der Erdgeschichte. So ist die Gestalt und der Bau eines heute lebenden Tieres (wenn die Entwicklungslehre recht hat) das Ergebnis einer besondern Artgeschichte: und die Vergleichungsmöglichkeit zwischen einem Tiere und einem Worte wird noch größer, wenn wir anstatt an den morphologischen Bau an die biologische Zweckmäßigkeit der Organe denken; auch da üben wir etwas wie Kritik, vom beschränkten Menschenstandpunkte aus, und die Dogmatiker des Darwinismus sind geneigt, nützlich zu finden, was ist, d. h. was sie sehen. Hier aber hört die Vergleichungsmöglichkeit zwischen Tiergeschichte und Wortgeschichte doch am Ende auf, und nur etwa eine ähnliche Aufgabe bleibt übrig: da und dort uns von dogmatischem Wortaberglauben zu befreien. Diese Befreiung habe ich in der Wortgeschichte und in der Begriffskritik in zwei Richtungen angebahnt; über beide Richtungslinien möchte ich in dieser Einleitung einige Rechenschaft geben. Das kann in bezug auf die Begriffskritik mit wenigen Worten geschehen, weil ich da nur den naiven Glauben bekämpfe: es müsse ein scheinbar lebendes Wort auch einen philosophischen Nutzen haben, es müsse ein Begriff bei den Worten sein. In bezug auf die Wortgeschichte muß ich aber meine Prinzipien ausführlich darlegen, weil sie in Widerspruch stehen zu der herrschenden Lehre, die immer noch, trotz der Mahnungen der besten Forscher, im Banne der vergleichenden Sprachwissenschaft eine immanente Bedeutung an den Wörtern sucht und so eine gemütliche Freude daran hat, wandernden Fremdlingen allzu gefällig ein Heimatsrecht zu gewähren. Entlehnung und Lehnübersetzung ist schon früher häufig genug herangezogen worden, um die Herkunft einzelner philosophischer Begriffe zu erklären. Aber das Dogma der vergleichenden Sprachwissenschaft hat gerade die führenden Fachleute bis heute verhindert, zu erkennen, eine wie beherrschende Rolle Entlehnung und Lehnübersetzung in der Geistesgeschichte der Menschheit gespielt haben. Ich habe auf diese beiden Mächte schon (Kr. d. Spr. II, 621 ff. und »Die Sprache«, S. 45 ff.) hingewiesen; ich möchte hier meine Überzeugung so überzeugend wie möglich darstellen; beinahe jeder Artikel dieses Wörterbuchs wird zu einer Stütze dieser Überzeugung dienen können. [Fußnote]
II.
Man wird sich daran gewöhnen müssen, in jeder Wortgeschichte eine Monographie zur Kulturgeschichte der Menschheit zu erblicken. Sprachgeschichte, Wortgeschichte ist immer Kulturgeschichte, wenn wir den Stoff betrachten; eine besondere Sprach- oder Wortgeschichte gibt es nur für die Form. Ich will in den folgenden neuen Beiträgen zu meiner Kritik der Sprache die Form nur herbeiziehen, wo sie den Stoff deutlicher macht, den Körper der Worte nur befragen, wo der Geist ihn bauen geholfen hat. Und bemerke gleich, daß in diesem Satze Form und Körper einander entsprechen, Körper wiederum und Geist. Es gehört zu den Reizen und zu den Gefahren sprachkritischer Untersuchungen, daß so gut wie jeder Satz ein Beispiel oder ein Probierstein der Lehre werden kann und werden möchte. Die Geschichte einer Anzahl wichtiger oder wertgeschätzter Wörter will ich bieten, ihre äußere und innere Geschichte und so ein Stück geistiger Kulturgeschichte. Bescheidener geworden will ich nur einige Bruchstücke bieten und bin dabei doch treu geblieben dem alten verwogenen Plane, eine Revision (nicht Restauration) der Grundbegriffe aller Wissenschaften zu vollbringen. Denn Sprachkritik oder Denkkritik oder Erkenntniskritik wäre nicht die Wissenschaft der Wissenschaften oder das Wissen vom Wissen, wenn sie die Resignation, die sie allen Wissenschaften auflegt, nicht auch von sich selbst verlangen würde. Wieder komme ich auf das Verhältnis von Denken und Sprechen, das ich so oft in der »Kritik der Sprache« behandelt und gestreift habe, zu frei und zu ehrlich für die Gegner. Und ich werde von diesem Verhältnis nicht loskommen, wenn ich nicht etwa auf Denken oder Sprechen verzichten will. Denken oder Sprechen habe ich das Gedächtnis der Menschheit genannt. Denken und Gedächtnis ist in der deutschen Sprache schon in den Wortzeichen nahe aneinander gerückt; nichts ist im Denken, dessen nicht gedacht werden kann, dessen die Menschen (Menschheit ist bislang ein Wortschall für die Menschen) sich nicht erinnern. Und die Worte der menschlichen Sprachen sind die Erinnerungszeichen oder die Namen für die namenlos vielen, ohne Worte zu vielen und namenlosen, menschlichen Erfahrungen. Was nun die Erinnerungszeichen der Menschen zu einer Einheit bindet oder zu einer scheinbaren Einheit, das ist – weil es in der Wirklichkeitswelt nur Individualsprachen gibt und weil die Individuen erst wieder durch das rätselhafte Gedächtnis zu der Täuschung des Ichgefühls kommen – die Übertragung oder Nachahmung oder Entlehnung der Worte und Zeichen zwischen den Genossen einer Familie, eines Stammes, eines Volkes. Und was die Geschichte der Menschen allein zu einer Einheit binden konnte, das ist die Übertragung oder Nachahmung oder Entlehnung von stofflichen und geistigen Werten, für welche Kultur der einigende Wortschall ist, zwischen den Menschengruppen, die man Völker und Staaten nennt. Man sollte öfter von Wert- und Wortwanderungen reden als von Völkerwanderungen. Und das ist der Fluch, »der bisher auf der Wort- und Sprachgeschichte gelastet hat, daß bald beschränkter Chauvinismus, bald verstiegener Kosmopolitismus (der erste uralt mit seinem Barbarenbegriff, der zweite durch die hübsche christliche Vorstellung von der gemeinsamen Gotteskindschaft in die Welt gesetzt) die einfache Tatsache der unnennbar vielen Nachahmungen und Entlehnungen in den Sprachen nicht Wort haben wollte. Der Kosmopolitismus, oder wie man es nennen will, führt nicht zu Geschichte oder Sprachgeschichte, weil alle historischen Undinge in ihm begründet sind, wie: Abstammung von Adam und Eva, die eben so fabelhafte philosophische Grammatik und die Universalsprache der Zukunft. Wenn Kosmopolitismus anders als etwa in christlichem Sinne ein Ideal wäre, so wäre er für Vergangenheit und Zukunft ein zutiefst unwahres Ideal. Der Chauvinismus aber in Geschichte und Sprachgeschichte ist gerade seit 100 Jahren, seit dem Aufkommen der Nationalitätsidee als Gegensatz gegen den geträumten Kosmopolitismus von Napoleons Weltmonarchie, wirklich und mächtig geworden, doch zum Schaden der Wissenschaft; denn chauvinistisch ist im Grunde auch die Tendenz der genau ebenso alten modernen Sprachwissenschaft, welche die Ursprünglichkeit z. B. der deutschen Sprache dadurch zu retten sucht, daß sie Sprach- und Völkerverwandtschaft annimmt, wo Wanderungen von Wortwerten vorliegen, daß sie den Entlehnungen von Worten wie Diebstählen in der Familie einen gemütlichen Charakter gibt. Chauvinistisch ist ihrem Ursprunge nach die Annahme eines arischen Volksstammes; kein Wunder, daß die Hypothese chauvinistische Folgen hatte. Daß die Nationalitätsidee der politischen Phantasie Napoleons selbst entsprungen war und von seinen Todfeinden seinem Ideenvorrat entlehnt wurde, ist nur ein Beispiel für geschichtliches Geschehen und widerspricht dem Gesagten nicht. Da wir es nun bei wortgeschichtlichen Untersuchungen mit einem historischen Probleme zu tun haben, so gilt hier alles, was ich an anderer Stelle über das unwissenschaftliche Wesen der Geschichte, über den Unbegriff »historische Gesetze« und über den Zufall in der Geschichte gesagt habe. Doch in einem einzigen Punkte könnte man, und nicht ganz im Scherze, in der Geschichte den Dualismus entdecken, den der Welt aufzudrücken menschliches Denken seit Jahrtausenden versucht hat. Der Dualismus, der am deutlichsten in der Doppelung Objekt-Subjekt auftritt, der immer wieder zweimal setzt, was nur einmal ist, der Kant verleitete, das überflüssige Ding-an-sich wirkend hinter das Ding zu stellen, dieser Dualismus versteckt sich ganz einfach in dem Begriffe Geschichte. Geschichte als Wirklichkeit ist, was geschehen ist und was noch geschieht; Geschichte als Erkenntnis ist unser Wissen von der geschehenen Wirklichkeit. Prähistorisch nennen wir darum mit Recht die Geschichte im ersten Sinne, von der wir im zweiten Sinne nichts wissen. Was gegenwärtig geschieht, nennen wir mit Auswahl historisch, wenn es Aussicht hat, später einmal noch gewußt zu werden. Weil die Eitelkeit diese Auswahl trifft, darum wird soviel für historisch, für einen »Markstein« erklärt, wird soviel photographiert und phonographiert, was doch der Vergessenheit geweiht ist. Beide Tatsachen, die Existenz eines interessanten Geschehens und die Existenz eines Wissens vom Geschehenen, haben nun gemeinsam eine Eigentümlichkeit, die besonders für Sprach- und Wortgeschichte bedeutungsvoll ist: Nachahmung, Entlehnung von Stoffen und Formen, von Worten und Werten, ist alltäglich in der wirklichen Geschichte wie in der Geschichtsschreibung. Weil diese ganze Untersuchung der internationalen Wortentlehnung gewidmet ist, will ich hier nur wenige Beispiele für die beiden Arten der eigentlichen Geschichtsentlehnung geben. Der Ruhm Alexanders hat mehr als einmal zur Nachahmung gereizt. Die Tat des Kolumbus hat eine Periode verwegener Seefahrten eingeleitet. Ältere Tyrannenmörder waren Vorbilder für neuere. Die englische Revolution war ein Vorbild für die französische. Und gar die Taten und Erfolge Cäsars sind für den so ganz anders gearteten Napoleon zum Vorbilde geworden, wobei nicht zu übersehen, daß der Enthusiasmus für römische Tugend, Tapferkeit usw. dem neuen Cäsar die Wege gewiesen hatte. Das Empire ist in Wort, in Geschmack, in Politik und nach Möglichkeit im Kriege eine Übersetzung des römischen Imperiums; es ist bezeichnend für die Schwäche und untüchtige Nachahmung des dritten Napoleon, daß er nur ein Buch über Julius Cäsar zustande brachte. Denn das versteht sich am Rande, daß Worte fast von jedermann, Taten nur von Helden nachgeahmt werden können. (Vgl. Art. Geschichte.) »Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt« (Goethe). In historischen Charakteren wird Enthusiasmus zur Nachahmung oder Entlehnung. Auch wer in der Geschichte nur Erlebnisse und Taten der Masse sieht, frei von Heldenverehrung, der müßte auf die Nachahmung achten; denn unausdenkbar groß ist bei der Volksmasse, außer dem Reize und dem Bewußtsein ihrer Massenhaftigkeit, die Gewalt der unbewußten Nachahmungsform, die wir Suggestion zu nennen pflegen. Ohne Nachahmung oder Entlehnung von Werten und Worten keine Völkerpsychologie, kein soziales Interesse in der Geschichte. Die Entlehnung in der Geschichtsschreibung durch Anpassung von Sagen, Anekdoten, geflügelten Worten, biographischen Einzelheiten und biographischen Porträts, die Anpassung alter Züge auf neue Bilder geschieht heute nicht mehr so naiv wie im Altertum und im Mittelalter, weil die Forscher exakt sind, größtenteils nur Material sammeln und erst zum Zwecke künstlerischer Darstellung kopieren. Das Mittelalter war die Blütezeit ahnungsloser Geschichtsfälschungen durch Entlehnung fremder Züge. Der Grund lag zunächst in der allgemeinen Gläubigkeit und Kritiklosigkeit; sodann aber fehlte dem Mittelalter und wohl allen Zeiten vor dem Aufkommen des Historismus jeder Sinn für das, was man historisches Kostüm nennt. Noch im 17. Jahrhundert spielte man zu Paris Römertragödien im Kostüm, das just Mode war. Es machte mittelalterlichen Stammbaumfabrikanten kein Unbehagen, etwa die Welfen, weil man den Namen mit catuli übersetzen konnte, auf die Familie der Catonen zurückzuführen. Geschichte und Geschichtsschreibung werden kopiert, wenn Karl d. Gr. die Fiktion, römischer Kaiser zu sein, sein Handeln beeinflussen läßt, und wenn dann Einhard in seiner Biographie Karls Suetons Biographie des Augustus zum Muster nimmt. Es werden also Porträts entlehnt; aber sogar Selbstbiographien können durch Nachbildung eines entlehnten Ideals gefälscht werden. Es gibt ein türkisches Volksbuch, die Schwänke Nassr Eddins, der etwas wie ein Hofnarr Timurlenks oder eines anderen Sultans um 1400 gewesen sein mag. Köhler (Kl. Schr. I, 481 f.) hat gezeigt, wie diesem Nassr Eddin ältere Schwänke angedichtet wurden und wie diese Streiche dann wieder abendländischen Fürstenhöfen zugeschoben wurden. Nicht nur der internationale Scherz vom Abschneiden des Astes, auf dem man sitzt, geht auf Nassr Eddin zurück. Zur Charakterisierung der Zeit von Timurlenk hat man das Buch benützt und da vielleicht uralte Züge auf die Zeit von Timurlenk übertragen. Und wieder einer von Nassr Eddins Schwänken wird in Mecklenburg von Wallenstein erzählt. Goethe, der im Westöstlichen Diwan Timur auftreten läßt und die Absicht andeutet, die Gestalt der Gottesgeißel, nicht ohne Anspielungen auf Napoleon, breit auszuführen, wobei die Tragödie erheitert werden könnte, »wenn man des fürchterlichen Weltverwüsters Zug- und Zeltgefährten Nassreddin Chodcha von Zeit zu Zeit auftreten zu lassen sich entschlösse« – Goethe hat erstaunlicherweise schon den Charakter dieser Wandersagen durchschaut. Er ließ sich die starken Geschichten von einem frommen Prälaten übersetzen: »woraus dann abermals hervorging, daß gar manche verfängliche Märchen, welche die Westländer nach ihrer Weise behandelt, sich vom Orient herschreiben, jedoch die eigentliche Farbe, den wahren, angenommenen Ton bei der Umbildung meistenteils verloren«. Das Mittelalter ist durch seine naive Unexaktheit am besten geeignet, uns die tausendfachen Entlehnungen in Geschichte und Geschichtsschreibung nachzuweisen. Es mag kein Zufall (und darum in meinem Ausdrucke kein Wortspiel) sein, daß vor der Herrschaft des historischen Sinnes es kein Verständnis gab für das Eigentümliche in Kostüm, Sprache, Charakter einer bestimmten Zeit, und daß zur selben Frist auch der Begriff des geistigen Eigentums, der heute bis zur Karrikatur ausgebildet ist, nicht vorhanden war. Und noch eins: das Mittelalter konnte in Kunst und Leben Stil haben, weil es alle Motive unbewußt nachahmte und entlehnte; unsere Zeit hat keinen Stil, weil ihrem fürchterlichen Wissen jede Nachahmung und Entlehnung sofort zum Bewußtsein kommt. Ob wir es aber wissen oder nicht, die zahllosen Wogen- und Wellenkreuzungen der Nachahmung und Entlehnung tragen uns dennoch. »Alles Gescheite ist schon gedacht worden; man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.« So steht es an der Spitze von Goethes Sprüchen in Prosa, die sich selbst »Eigenes und Angeeignetes« im Untertitel nennen, und deren Herausgeber schwerlich ahnte, daß auch das Eigene selbst eines Goethe am letzten Ende aller Enden ein Angeeignetes ist, wenn man von der Nüance absieht, die die große Persönlichkeit etwa hinzufügt. So wenig die Wogen- und Wellenkreuzungen des Meeres zu überschauen sind, die nie aus sich selbst entstehen, immer von irgendwoher kommen, sich verstärken und abschwächen, und zusammen das Meer heißen, ebensowenig kann ein Mensch die zahllosen Wogen- und Wellenkreuzungen der Entlehnung überschauen, die zusammen die Kultur heißen. Worte und Gedanken, Motive der Architektur und des Handelns, Hausrat und Heilige, Titel und Novellenstoffe, Waffen und Liebesschwüre, die ganze unentwirrbare Buntheit unserer Welt setzt sich für solche Betrachtung aus einigen, wenigen farbigen Steinchen zusammen, die im Kaleidoskop bald so bald so durcheinander geordnet werden und dem armen menschlichen Auge, weil der Mensch kaleidoskopisch sehen will und muß, den schönen Anblick des bunten Weltalls bieten. Was immer wir herausgreifen, um es so zu betrachten, verwandelt sich in seiner ganzen Geschichte zu ein paar bunten Steinchen im Kaleidoskop, das eine Generation der andern zuschiebt. Vor Jahrtausenden gab es, über unbekannte Jahrtausende hinweg, die Lampe; jedes Geschlecht glaubte einen anderen Geschmack zu haben und hatte anderes Brennmaterial und jedes Geschlecht entlehnte die Lampenform vom früheren, bosselte da und besserte dort, formte den Docht um, goß (in meiner Jugend) in die Öllampe Petroleum hinein, behielt lange Jahre das Petroleumbecken für die Gaskronen bei, und zog die Drähte des elektrischen Lichts an Gasarmen entlang. Jetzt freilich ist man sich bewußt, daß das stofflose Leuchtmaterial neuer Stilformen bedarf; und bewußt sind Architekten daran gegangen, den neuen Stil zu erfinden. Und in der prunkvollen Vorhalle der Kaiserloge des Wiener Burgtheaters steht als Lichtträger eine griechische Statue, die Elektra heißt. Die Architekten, die den neuen Stil erfinden sollen, arbeiten seit Jahrtausenden mit einem Dutzend von Motiven, die eine Zeit der andern entlehnt und es nur bis zu unserer Zeit nicht gewußt hat. Wenn unrecht Gut da nicht gediehe, wenn nachgemachte Motive nicht stehen bleiben könnten, alle Fassaden aller Gebäude der Welt müßten zusammenstürzen. Der Einsicht, daß es um die Geschichte wissenschaftlicher oder gar philosophischer Begriffe nicht anders stehe, als um die Geschichte von Waffen und Hausgeräten, von Architektur- und Märchenmotiven, stand nun seit jeher der menschliche Geisteshochmut im Wege, der das, was ihn vom Tiere unterschied, die Sprache nämlich, durch die tausend Jahre des Christentums für ein göttliches Gnadengeschenk an den Menschen hielt, nachher immer noch unter christlichem Einflusse für etwas Übermenschliches, Übernatürliches; man wagte nicht zu glauben, daß nichts in den Worten der Sprache enthalten wäre, was nicht Menschen (immer haben nur einzelne Menschen gesprochen, nicht Völker) in die Worte hineingelegt hätten. Man redete von den Wundern der Sprache, nicht nur in rhetorischer Übertreibung. Und etwas von dem Glauben an ein übernatürliches Wunder, ein heimlichchristelnder Wortaberglaube, steckt auch noch in dem Dogma von der vergleichenden Sprachwissenschaft, das die ungeheure Bedeutung der Entlehnung und Nachahmung für die Geistesgeschichte, insbesondere für die Wortgeschichten der Sprache nicht zugeben will. Die Zurückschiebung der Sprachentstehung, die Erklärung der Ähnlichkeiten aus Sprachmischung und Entlehnung, das Bekenntnis, von der Urschöpfung einer Ursprache ganz und gar nichts zu wissen, scheint irgendwie gegen irgend eine übertrieben hohe Meinung von der Sprache zu verstoßen; überläßt man auch die alte Legende von der gemeinsamen Abstammung aller Sprachen einigen Pastoren und einem Scheinphilologen wie Trombetti, so wird doch die neuere Legende von der gemeinsamen Ursprache der sog. indo-germanischen Sprachen mühsam aufrecht erhalten. Selbst der ausgezeichnete Forscher Johannes Schmidt, der auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachwissenschaft die Vorstellungen von einer Verwandtschaft und von einem Stammbaume meisterlich kritisiert hat, der die indo-germanische Ursprache tapfer eine wissenschaftliche Fiktion genannt hat, macht vor dieser Ursprache doch wieder (»Die Verwandtschaftsverhältnisse der indo-germanischen Sprachen«, S. 29) eine verlegene Verbeugung: »Daß eine einheitliche indo-germanische Ursprache einmal vorhanden gewesen sei, ist höchst wahrscheinlich, ja ganz sicher, wenn sich erweisen läßt, daß das Menschengeschlecht von einigen wenigen Individuen seinen Anfang genommen hat.« Sollte dieses wenn ironisch gemeint sein? Wenn die Abstammung von einem einzigen Menschenpaare erweisbar wäre, dann wäre die Autorität der jüdischen Bibel und des Christentums wieder einmal ein bißchen gefestigt, und die Abstammung aller Sprachen von einer einzigen wäre a priori bewiesen. Die Vorstellung, daß das Sanskrit die Mutter oder die Großmutter aller sogenannten arischen Sprachen sei, ist freilich nur ein unklares Gerede. Als wissenschaftliche Hypothese ist diese Vorstellung bald nach Friedrich Schlegel aufgegeben worden. Schon Bopp ließ diese Orthodoxie fallen, und schon in seiner Erstlingsschrift. Man half sich mit einer anderen scheinbar viel gründlicheren Vorstellung: allen arischen Sprachen liege eine gemeinschaftliche Ursprache zugrunde, die man zwar ebensowenig kannte wie das Urvolk, die man aber in ihrem Wortschatz und in ihrer Grammatik zu rekonstruieren hoffte. Ein Deutscher, Schleicher, war der erste, der die ideale Forderung einer Ursprache aufstellte, wenn er auch von der historischen Realität der Ursprache nicht ganz überzeugt war. Ihm war (ich zitiere hier und im Folgenden Paul Kretschmers vorzügliche Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache) die Aufstellung von Urformen nur ein bequemes Mittel, die jeweiligen Ansichten der Sprachwissenschaft von dem ältesten Zustande auf die kürzeste Formel zu bringen. Seitdem hat man seine Vorsicht außer acht gelassen, wie der pedantische deutsche Darwinismus bei seinen Konstruktionen und Rekonstruktionen die Vorsicht Darwins außer acht gelassen hat. Müßte man der offiziellen deutschen Wissenschaft glauben, so besäßen wir von der Ursprache, vom Urvolk und seiner Urheimat, seiner Urkultur und seiner Urmythologie so sichere Kenntnisse wie etwa von der Sprache, der Kultur, der Topographie und der Religion Roms. Nur daß die gelehrten Arbeiten über die Ursprache, die Urheimat und die Urkultur das gleiche Schicksal haben: jeder geistreiche und fleißige Gelehrte auf diesem Gebiete wird vom nächsten geistreichen und fleißigen Gelehrten widerlegt; in der Zwischenzeit sprechen die Fachmänner, die nicht geistreich und gelehrt sind, die noch nicht widerlegten Behauptungen nach, die langsamen Herren wohl auch die schon widerlegten Ansichten. Nach dem Trägheitsgesetze. Niemand kann sagen, ob die Ursprache, wenn sie überhaupt historische Wahrheit ist, einheitlich war oder in Dialekte zerfiel, ob diese Dialektunterschiede groß oder klein waren, ob das Urvolk dieser Ursprache in Asien oder in Europa zu Hause war, auf einer russischen Steppe oder auf dem beliebten Hindukusch, ob das Volk klein oder groß war, ob seine wieder so beliebten Wanderungen besonders nach Osten oder besonders nach Westen gerichtet waren. Niemand kann sagen, ob dieses Urvolk seine Ursprache einige tausend Jahre früher oder später irgendwo gesprochen habe. Kretschmer macht sehr gut darauf aufmerksam, daß im Begriffe urindogermanisch nicht weniger als drei verschiedene Begriffe zusammenfallen: gemein-indogermanisch, altindogermanisch und ursprachlich; das ließe sich so ausdrücken, daß die Wissenschaft für die Übereinstimmungen drei mögliche Ursachen unklar zusammenwerfe, übrigens einige andere Möglichkeiten übersehe. Die Anwendung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs auf solche Fragen gebe ich in anderem Zusammenhang. Die Zeitbestimmung bei den Vorstellungen Ursprache und Urvolk enthält eine neue Unklarheit, eigentlich eine Sinnlosigkeit. Jeder einzelne Forscher nagelt sich selbst und seine Assoziationen auf eine völlig unbestimmte Zeit fest, von der nur eins gewiß ist, daß sie nämlich unbestimmt ist. Die einzelnen arischen Sprachen kann man zurückverfolgen bis zu Zeiten, die gegen 2000 Jahre auseinanderliegen. Die slawische Ursprache, die germanische Ursprache, die griechische Ursprache sind lauter unwahrscheinliche Konstruktionen. Die Tendenz gegenwärtiger Wissenschaft würde sogar dahin zielen, keine besonderen Ursprachen, sondern ein Gewimmel von Mundarten an den Anfang zu setzen, d. h. in jede vorhistorische Zeit. Und da redet man von einer gemeinsamen arischen Ursprache. Ebenso steht es um die Konstruktion des Urvolks. Es hätte eine gemeinsame arische Ursprache gegeben haben können ohne ein ethnologisch einheitliches Urvolk, oder ein einheitliches Urvolk ohne eine gemeinsame Ursprache. Man wird sich bequemen müssen, Wortgleichungen in den arischen Sprachen auch in vorhistorischer Zeit öfter und öfter durch Entlehnung zu erklären. Die vorhistorische Ausbreitung der Gleichung Joch kann ebenso auf Entlehnung beruhen wie die Ausbreitung der Gleichung Pfeffer, die sich historisch vom 4. Jahrhundert v. Chr. an aus Indien ( pippeli) über Griechenland (πεπερι), Rom ( piper) zu den Germanen, Slawen und Lithauern vollzogen hat. »Nur die verhängnisvolle Neigung, Prähistorisches mit anderen Augen anzusehen als Historisches kann zwischen den beiden Vorgängen einen grundsätzlichen Unterschied erkennen wollen ... es ist aber von Wichtigkeit festzuhalten, daß auch die sog. urverwandten Wörter nur auf dem Wege der Entlehnung gemein-indogermanisch geworden sind, denn in anderer Weise verbreiten sich Sprachneuerungen überhaupt nicht, als daß sie von einer oder wenigen Personen ausgehend, von Individuum zu Individuum, von Volk zu Volk weitergegeben werden« (S. 21 bis 23). Kretschmer leugnet auch nicht die Möglichkeit, daß Sprachneuerungen von nicht rein lexikalischer Art sich in ähnlicher Weise verbreiten. »Etwas anders.« Hat man aber erst die Bedeutung der Entlehnungsmöglichkeit für die partiellen Sprachgleichungen eingesehen, dann ist für so alte Zeiten die Frage nach einem einheitlichen Urvolke wirklich kindisch geworden. Auch die bekannte Tatsache, daß die Sprachwissenschaft in keinem einzigen Falle im Zweifel darüber scheint, ob eine Sprache arisch sei oder nicht, scheint mir der Skepsis nicht zu widersprechen. Das ist eine Frage der Klassifikation, also menschlicher Übereinkunft. Denken wir an ein jüngeres Sprachengeschlecht, das besser bekannt ist. Das Zünglein an der Wage schwankte, ob Spanisch, ob Französisch eine romanische oder germanische Sprache werden sollte; Deutsch hätte leicht eine Mischsprache werden können wie Englisch. Die Klassifikation schwankt nicht, Spanisch eine romanische, Englisch eine germanische Sprache zu nennen. Es wäre gut, diese Lehre auf den Stammbaum der arischen Sprachen und der arischen Völker, auf die Hypothese von der Ursprache und von dem Urvolke anzuwenden. Und dabei bietet die Sprachwissenschaft für solche prähistorische Fragen wenn keine Ergebnisse, so doch Ausgangspunkte und daraus Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Was die Anthropologie durch Schädelmessungen, durch Beachtung der beobachteten und der vermuteten Haarfarbe hinzugebracht hat, das ist nach jahrzehntelangen endlosen Untersuchungen wohl doch endlich der Posse preiszugeben. Von der Einteilung in Dolichokephalen und Brachykephalen ist wirklich weiter nichts übrig geblieben, als die Übereinkunft über die Grundlage von Schädelmessungen, eine Grundlage, die ganz willkürlich und unnatürlich ist, dafür aber auch nicht das kleinste Ergebnis für die Ethnologie geliefert hat. Retzius hat das Maß der Schädellänge in 100 Einheiten geteilt, wie sein Landsmann Celsius den Abschnitt des Quecksilberfadens in 100 Grade; nur daß beim Thermometer die besseren Forscher nicht vergessen, daß es sich um eine Konvention handelt. Die Unnatürlichkeit der Grundlage hat dann zu natürlicheren Einteilungen geführt, die das menschliche Gesicht zu messen unternahmen; man teilte ein in Prognaten und Orthognaten, in Leptoprosopen und Chamäprosopen, man verlangte größere Präzision und schrieb endlich für jede einzelne Schädelmessung Tausende von Daten vor. Die Disziplin schuf Bücher über Bücher, aber das menschheitliche Wissen ist nicht um einen Punkt vermehrt worden, die menschliche Erkenntnis nicht einmal um eine Hypothese. Geistreiche Gelehrte, die freilich auf dem Gebiete der Kraniologie »Dilettanten« waren, Ihering und Virchow, hatten zuerst erkannt, daß all die Schädelmesserei nur bequeme Schlagwörter bot zum Zwecke einer vorläufigen Orientierung. Und seitdem gar die Stabilität der Schädelmerkmale mit guten Gründen bezweifelt worden ist, fällt vollends jede Möglichkeit fort, ethnologische Verwandtschaft auf Schädelmessungen aufzubauen. Wenn schon zu einer Eiszeit in Europa Dolichokephalen und Brachykephalen durcheinandergemischt waren, dann darf man jetzt fragen, ob Länge und Breite des Schädels überhaupt irgendwelche Beachtung verdient hatten. Der Versuch, die Stammtafel der Völker nach heller und dunkler Haarfarbe aufzustellen, hat noch rascher Fiasko gemacht. Nun sind Hypothesen über die Ursprache und das Urvolk die Prämissen, auf deren Grund wieder eine andere Gruppe von Forschern zu Schlüssen auf die gemeinsame Urkultur jenes legendären Urvolkes gekommen ist. Daher die absolute Wertlosigkeit aller dieser Schlüsse. Ich leugne ja nicht den Reiz, den solche Untersuchungen gewähren, wenn sie so gut geschrieben sind wie das berühmte Buch von Hehn. Aber es kommt wirklich nichts dabei heraus, was man ein Recht hätte, der Kulturgeschichte als festen Besitz einzufügen. So oft ein Zusammenhang historisch belegt ist oder doch vernünftigerweise vermutet werden kann, handelt es sich um Entlehnung (got. alē v, lat. oleum); wo die Sprachwissenschaft allein den Zusammenhang erschlossen hat, da wird das Steckenpferd der Urverwandtschaft geritten. Denn die Macht der Entlehnung anzuerkennen, davor haben alle diese Disziplinen eine rätselhafte Scheu; es gibt bereits neben den lokaleren Chauvinismen noch einen neuen arischen Chauvinismus, der es als Schande empfindet, von nicht-arischen Völkern Sachen oder Worte entlehnt zu haben. Fast wie manche Ansteckung zunächst als Schande empfunden wird. Wüßte man mehr von der Geschichte uralter Handelsbeziehungen, so könnte man manches über die Entlehnung von Sachen und Worten daraus folgern; wüßte man mehr von den alten Wegen der Worte, man könnte mancherlei über die alten Handelswege erfahren. Wir wissen aber so gut wie nichts und müssen uns mit amüsanter Polyhistorie begnügen. Ebenso falsch wie die falschen Schlüsse aus falschen Prämissen auf die Urkultur mußten die falschen Schlüsse auf die Urheimat des Urvolkes ausfallen. Ich bedaure, bei Abfassung meiner Kritik dieser Begriffe (Kr. d. Spr. II, S. 632 f.) Kretschmers Buch noch nicht gekannt zu haben; ich hatte den Skeptiker, trotzdem er Fachmann ist, nicht zitiert gefunden. Kretschmer sagt (S. 59): »Wer die Schwierigkeiten ermißt, auch nur die Urheimat der Einzelvölker zu bestimmen, wird vorläufig davon Abstand nehmen, die Heimat des hypothetischen Urvolkes feststellen zu wollen.« Es ist mir versagt, die allerliebsten Verstandesübungen, die die verschiedenen arischen Worte für Salz, für Meer untersuchen und so zu einer geographischen Bestimmung der Urheimat gelangen, nach jahrelanger Beschäftigung noch ernst zu nehmen. Selbst der strenge Kretschmer hat über solchen Arbeiten das Lachen gelernt; er sagt (S. 67): »Wenn man aus dem Fehlen seines westindogermanischen Namens bei den Indoiraniern schließen wollte, daß diese das Salz nicht gekannt haben, dann müßte man auch aus dem Fehlen einer gemein-indogermanischen Bezeichnung der Milch folgern, daß die alten Indogermanen nicht mit Muttermilch gesäugt wurden.« Die Hypothese einer gemeinsamen Urreligion – ich will es nur gestehen – möchte ich gern aufrecht gehalten wissen, weil die Disziplin der vergleichenden Mythologie sich doch so oder so auch gegen die Ausschließlichkeit der neueren Mythologien richtet, die noch Religionen heißen. Aber es geht nicht an. Die vergleichende Religionswissenschaft ist ebenso kurzlebig wie die Hypothese vom Urvolk. Wo die Übereinstimmung auf der Hand liegt wie bei der Verwandlung des griechischen Ήραϰλης in den italischen Hercules, da weiß alle Welt, daß es sich um Entlehnung handelt; ebenso beim Übergang des Christentums ins Abendland, beim Übergang des Buddhismus in den Fohismus. Wo aber vedische Götternamen an griechische oder germanische anklingen, da fabelt man zuversichtlich von einem gemeinsamen Ursprung, trotz Pischel, der den Veden ihr nationales Recht gegeben hat, und trotz Bremer, der die heilige Identität von Ziu und Ζευς bestritten hat. Nicht einmal die Gleichung Dyaus, Ζευς, Jovis scheint zu stimmen, weil dyaus in den Veden noch Himmel, Tag heißt und nur poetisch, metaphorisch als Personifikation des Himmels gebraucht wird. Einige religiöse Ausdrücke, die heute etymologisch verbunden werden ( Brahman = flamen, victima = got. veihs) werden wohl nicht immer etymologisch verbunden bleiben. Wären aber auch die Namensgleichungen sicherer als sie es sind, so wäre damit nichts bewiesen für die Identität der Göttergestalten. Man wird sich daran gewöhnen müssen, Gleichungen wie die der Paare Perseus – Andromeda und Siegfried – Brunhild etwa so aufzufassen, wie den Übergang von Märchenmotiven, deren Wanderungen durch Zeit und Raum man ja genugsam studiert hat. Hat man erst Entlehnungen von Märchenprinzen und von Halbgöttern zugegeben, so wird man auch Entlehnungen von Göttern leichter begreifen lernen. »Wanderungen von Kulten und Sagen brauchten sich nicht auf das indogermanische Gebiet zu beschränken, sie konnten auch über die Sprachgrenze hinweggreifen« (Kretschmer S. 89). Wie bei der Urheimat: man will eine arische Urreligion konstruieren und kennt doch nicht einmal eine gemeingermanische oder gemeingriechische Religion. Ganz abgesehen davon, daß Furcht vor der Nacht, Furcht vor Donner und Blitz, Furcht vor der Sintflut den armen Menschen wohl gemeinsam war und die ähnliche Furcht wohl ähnliche Götter bilden konnte. Linguistisch, ethnologisch, geographisch und mythologisch hat die Lehre von der Urverwandtschaft Fiasko gemacht. Selbst wie eine alte Religion schleppt diese Lehre ihr Dasein nur noch bei der niederen Gelehrsamkeit fort; sie ist wie einst das Heidentum auf die Dörfer gegangen, will sagen in die Kompendien, in populäre Vorlesungen und auf die Gymnasien. Trotzdem schon vor mehr als 30 Jahren Schuchardt den Stammbaum der romanischen Sprachen, Johannes Schmidt den Stammbaum der arischen Sprachen zu Falle gebracht hat. Und war das Bild vom Stammbaum falsch, so ist das Bild von einer Verwandtschaft nicht aufrecht zu erhalten; nur daß den älteren Sprachwissenschaftlern immer noch nicht ganz klar geworden ist, daß Verwandtschaft der Sprachen bestenfalls ein bildlicher Ausdruck sei. Niemand wird behaupten wollen, daß die Ähnlichkeiten der romanischen Sprachen, von deren Entwicklung man so viel weiß, die gleiche Geschichte gehabt haben wie die Ähnlichkeiten der arischen Sprachen, von deren Entwicklung man wenig weiß. Aber als Beispiel, wie es einmal wenigstens passiert ist, und wie es ungefähr auch anderswo passieren konnte, ist das Verhältnis der romanischen Sprachen, das die Vorstellung von einem Stammbaum ausschließt, unschätzbar. Der große Kritiker der Verwandtschaftslehre war Johannes Schmidt, auch wenn von seiner Wellentheorie oder seiner Stufentheorie einst nicht viel übrig bleiben sollte; er hat dem verstiegenen Gerede von einer Art physiologischer Sprachspaltung ein Ende gemacht und der langsamen Anerkennung der Sprachmischung den Boden bereitet. Man glaubt kaum mehr an die partiellen Einheiten benachbarter Sprachen, noch weniger etwa an eine einstige italo-keltische Spracheinheit, die von einer Zufallsstatistik aufgestellt wurde, weil Keltisch und Italisch einige Gleichungen mehr aufzuweisen schien als z. B. Germanisch und Slawisch. Und wieder: man hat trotz Mommsen und den beiden Curtius seit Johannes Schmidt kein Recht mehr, eine einstige greko-italische Spracheinheit zu behaupten, da man doch weder eine griechische noch eine italische Einheit konstruieren konnte. Vielleicht findet es einmal ein Forscher der Mühe wert, die Fälle greko-italischer Spracheinheit daraufhin zu untersuchen, was auf Entlehnung, was auf Lehnübersetzung ( senatus = γερουσια) zurückzuführen sei. Kretschmer kommt zu dem ketzerischen Schlusse, daß nicht einmal eine gemeingriechische Ursprache zu rekonstruieren sei, daß sie nach Analogie nicht einmal als einstens vorhanden angenommen werden könne. »Die Spracheinheit liegt nicht am Anfang der Dialektentwicklung, sondern an ihrem Ende« (S. 410). So war es auch bei unserer hochdeutschen Sprache. Und da liegt der Grundirrtum bei den Versuchen, eine arische Ursprache zu erschließen: »Man hält alle sprachlichen Übereinstimmungen für alt, alle Differenzen für jung« (S. 413). So würden Germanisten, wenn zwischen ihnen und ihrem Stoffe eine verschüttete Kultur von Jahrtausenden läge, vielleicht dazu kommen, die Sprache Goethes sehr nahe an eine gemeingermanische Ursprache heranzurücken, und Gotisch, Angelsächsisch, Althochdeutsch, Altnordisch historisch aus der Sprache Goethes hervorgehen zu lassen.
III.
Ich will in dieser Einleitung die entscheidende Rolle durch zahlreiche Beispiele belegen, die die Entlehnung oder die Nachahmung bei der Einführung der Begriffe aus allen Kulturgebieten, aus allen Geisteswissenschaften gespielt hat. Ich will die Wanderungen insbesondere der philosophischen Begriffe aufzeigen und habe darum keinen Raum, auf die Wichtigkeit der Nachahmung für das soziale Leben einzugehen. Ich verweise dafür auf G. Tarde's »Les Lois de l'imitation«, wo (S. 12) gesagt wird: »que l'être social, en tant que social, est imitateur par essence, et que l'imitation joue dans les sociétés un rôle analogue à celui de l'hérédité dans les organismes ou de l'ondulation dans les corps bruts.« Ich werde selbst vielleicht später einmal noch weiter ausholen und die Bedeutung klar zu legen suchen, welche die Nachahmung (die Nachahmung von Sprachbewegungen, nicht die Klangnachahmung) bei der Entstehung der Sprache gespielt haben muß. Den leitenden Gedanken will ich gleich hier mitteilen. Das Sprechen gehört zu den Bewegungen der Menschen; es ist trotz der äußersten Kompliziertheit eine so leichte Bewegung, daß es (wenn man von den Berufssprechern absieht) gar nicht als eine Anstrengung empfunden wird. Es ist leicht wie eine Reflexbewegung oder wie eine Instinkthandlung. Es kann aber doch nicht eine bewußte, jedesmal neugewollte Bewegung sein. Bewußte, neukoordinierte Bewegungen sind immer schwer oder anstrengend. Nun weiß man aber, daß auch schwierige Bewegungen durch häufige Einübung beinahe zu Reflexbewegungen werden können. Ein Klaviervirtuose kann die eingeübte Sonate im halben Schlafe noch zu Ende spielen. Nun sind neue Worte, heute wie in Urzeiten, gewiß erst durch den Willen einzelner Sprachgenies erfunden, geprägt, gebaut und koordiniert worden; Freiheit des Willens der Sprache gegenüber – wenn man überhaupt von einer solchen relativen Willensfreiheit reden darf – ist immer nur bei Sprachgenies gewesen. Die große Masse, die ihre Muttersprache nur so eben weiter redet, wie sie ihr vorgeredet worden ist, mit ganz leisen und allmählichen Änderungen, hat keinen freien Willen beim Sprechen. Jeder Mensch ist im Gebrauche seiner Muttersprache ein kleiner Virtuose, dem die komplizierten Bewegungen seiner Sprachwerkzeuge zu Reflexbewegungen geworden sind, zu Instinkthandlungen, wenn man lieber will. Das muß schon ebenso gewesen sein, in wie alte Zeit immer man die Entstehung der Sprache zurückversetzen mag. Und da achte man auf einen entscheidenden Umstand: auch in jener Urzeit konnten die Zeichen der Mitteilung unter den Menschen erst dann unserem Begriffe Sprache entsprechen, als sie durch Nachahmung der neuerfundenen Zeichen und durch Einübung, durch gemeinsame Einübung einer Familie oder eines Stammes, beinahe zu Reflexbewegungen dieser kleineren oder größeren Gruppe geworden waren. Wie wir uns die Ähnlichkeit unzähliger Kulturworte nicht ohne Entlehnung erklären können, so können wir uns, wie man jetzt einsehen wird, auch die Entstehung irgendeiner noch so primitiven Sprache der Urwelt gar nicht ohne Nachahmung und Einübung vorstellen. Nachahmung oder Entlehnung ist also durchaus nicht irgendein seltenes Vorkommnis unter den Kultursprachen, sondern gehört urzeitlich dem Wesen der Sprache an. Ich habe in diesem Zusammenhange das Wort Nachahmung gebraucht, und werde dann wieder, wo von der Herleitung einzelner Wörter die Rede ist, von Entlehnung und Lehnübersetzung reden; das ist aber wirklich kein Wechseln mit den Begriffen. Nachahmung ist nur der allgemeinere Begriff, den man gern auf die Wiederholung von Kunstprodukten und von Bewegungen jeder Art verwendet; für die Wiederholung oder Nachahmung derjenigen Bewegungen, die das Sprechen ausmachen, ist nur die Bezeichnung Entlehnung schon eingebürgert, als terminus technicus, wahrscheinlich darum, weil die Sprachwissenschaft Wert darauf legte, das Entlehnen oder Ausborgen als eine unschickliche, tadelnswerte, der Würde einer Hauptsprache nicht geziemende Handlung darzustellen. Man muß sich aber, wenn man von Entlehnungen spricht, womöglich immer bewußt bleiben, daß man einen bildlichen Ausdruck gebraucht hat; die Sprache ist nicht arm und nicht reich, hat keine Bedürfnisse und keinen Überfluß, leiht nicht aus und entlehnt nicht. Auch gibt es nur Individualpsychologie; und in der psychologischen Wirklichkeit gibt es nur sprechende Individuen, die nachahmen, nicht Sprachen und Völker, die entlehnen. Das Bild vom armen Manne, der beim reichen Nachbar ein Werkzeug borgt, paßt höchstens auf den Erfinder oder Entdecker, der eine neue Sache bei seinen Volksgenossen einführen will, und nun die Idee oder eine einzelne Form, die Sache oder ihren Namen von dort herübernimmt, wo Idee oder Form, Sache oder Name zu finden war. Die Geschichte kennt den Begriff der Völkerwanderung; man hat ihn auf die Volksbewegungen eines verhältnismäßig kleinen Zeitraums eingeschränkt. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, daß die Wanderung von Sachen und von Namen für die Kulturgeschichte von ungleich größerer Bedeutung war als die Völkerwanderung, die ein Historiker dem anderen nachschreibt, und von der wir uns heute fast ebenso phantastische Vorstellungen machen, wie die Bilder phantastisch sind, mit denen der alte Wolfgang Lazius seine Bücher De Gentium Aliquot Migrationibus geschmückt hat, – daß die Wanderung von Gebrauchsgegenständen und ihren Namen, von Kenntnissen und ihren Begriffen, von Formen und Motiven der Kunst und der Poesie, von Spruchweisheit und von Philosophie zu allen Zeiten das materielle und geistige Leben der Völker in beinahe unerforschlich mächtiger Weise beeinflußt hat.
IV.
Für die Wanderungen von realen Dingen würden die Forschungen der neueren Kulturgeschichte Beispiele genug bieten, um ein ganzes Buch mit ihnen zu füllen. Nahrungsmittel und Kleidungsstücke, Krankheiten und Heilungsmittel, Pflanzen und Tiere, Waffen und Spielgeräte sind oft über die halbe und über die ganze Erde gewandert. Diese Wanderungen bilden den Untergrund für die Wanderungen von Worten. Ich werde mich auf einige der bekanntesten Gebrauchsgegenstände beschränken und nur am Ende einen kurzen Hinweis wagen auf die Fälle, in denen nicht nur handgreifliche Realien aus der substantivischen Welt, sondern sogar scheinbar unabweisliche Wahrnehmungen aus der adjektivischen Welt von einem Volke zu dem anderen hinüberwanderten. Ich fürchte aber, das Wandern der Realien wird zwar weniger überraschen, aber doch mehr überzeugen. Man könnte unter dieser Gruppe die Neuigkeiten verstehen, die Handel und Verkehr von einem Volke zum andern trugen und die in den allermeisten Fällen, zu Beginn der Einführung wenigstens, mitsamt der fremden Bezeichnung in ihre neue Heimat kamen. Ein Auszug aus der Kulturgeschichte gäbe eine endlose Beispielsammlung. Man kann auch wohl sagen, daß das Tempo dieser Einführungen sich mit dem Tempo der Verkehrsmöglichkeiten gesteigert hat. Heute kommt wohl jedes Jahr einigemal ein neues bisher unbekanntes Ding mit dem neuen Namen in unseren Bereich, um zu bleiben oder um wieder zu verschwinden, und wenn es bleibt, bald nur als technischer Ausdruck eines bestimmten Arbeitsgebiets, bald als ein neues Wort der Gemeinsprache. Früher waren solche Entdeckungen und Erfindungen natürlich seltener; aber Pataten, Gummi, Kaffee, Tee sind fast Teile einer Universalsprache geworden. Die Forschung wird dadurch erschwert, daß die Wortgeschichte auf Kenntnis der Kulturgeschichte beruht und die Kulturgeschichte wieder durch Wortgeschichte begründet wird. Trotz aller Unsicherheit lassen sich in Sprachen, deren Ursprünglichkeit einst für ein Evangelium galt, im Griechischen und Hebräischen, viele Dingentlehnungen mit Bestimmtheit annehmen. Ich denke bei den entlehnten Realien aber auch an die endlose Zahl von Fällen, wo nicht ein bisher unbekanntes Kunst- oder Naturprodukt aus der Fremde herübergenommen wurde, sondern irgendein Ding, eine Tätigkeit oder auch nur eine Farbe oder sonst eine Eigenschaft, mitsamt einer neuen Vorstellung, die in der Fremde an das Ding, die Tätigkeit oder die Eigenschaft geknüpft war. Es ist dann für unseren Gesichtspunkt fast gleichgültig, ob das Neue mit dem Fremdwort, mit einer Lehnübersetzung oder mit einer Umschreibung bezeichnet wurde. Kaffee ist Lehnwort oder eigentlich Fremdwort geblieben; im Deutschen wenigstens ist weder Schreibung noch Aussprache einheitlich geworden. Patate ist im Englischen Lehnwort aus irgendeiner Indianersprache, in Kartoffel haben wir entweder Lehnübersetzung oder bastardierten Bedeutungswandel, in Erdapfel und Grum-, Bodebirn liegt Umschreibung oder Beschreibung vor. Die Römer übernahmen von den Griechen die Sitte, dem Sieger beim Wettkampf oder beim Gelage eine corona, d. h. einen Kranz aufzusetzen. Blumenkränze wand man auch wohl anderswo. Aber erst durch die Renaissance wurde Substantiv und Verbum wieder eingeführt, es gab Dichterkronen und gekrönte Dichter, wo dann Krone wie im Lateinischen Kranz bedeutete. Ja sogar die Pflanzenart, die bei den Griechen einheimisch war, wenigstens in historischer Zeit, wurde sprachlich und real importiert, der Lorbeer (eigentlich doch der laurus und nicht die Beere; der baccalaureus gehörte dann wieder als Symbol zu einem bestimmten Titel, zum Baccalaureat, franz. bachelier, um im englischen bachelor sich zu einer wieder neuen Bedeutung zu wandeln) wurde nach Speidels witzigem Wort das Gemüse des Ruhms, und der gekrönte Dichter hieß von Petrarca bis auf Tennyson poeta laureatus. Der wohlfeile Lorbeer brauchte keinen Ersatz. Der Myrthenkranz, der irgendwo im Orient nach irgendeiner falschen Beobachtung oder nach einer noch falscheren Volksetymologie zum Symbol des Geschlechtslebens und sodann just der Keuschheit wurde, war in Deutschland als Kraut leichter zu beschaffen denn als Blüte, und so gehen unsere deutschen Bräute unter einem Kranze oder einer Krone von echten Blättern und falschen Blüten. Ganz allgemein wird bei uns zur Osterzeit die Palme durch das einzig Grüne der Jahreszeit, das Weidenkätzchen, ersetzt; und weil Palme, im Orient der natürliche Pflanzenschmuck, in den Worten Palmsonntag, Palmwoche usw. zu einem Präfix geworden ist, welches gerade diese Festzeit bezeichnet, so werden die ersetzenden grünen Weidenzweige Palmzweige, Palmkätzchen genannt. Unerschöpflich für solche Realentlehnungen, auch für Verben ist der Übergang des Christentums zu den abendländischen Völkern. Man mag die Wanderung der Realien des christlichen Kultus und die Wanderung der christlichen Gedankendinge im Buche selbst nachlesen (Vgl. Art. Christentum). Etwas genauer muß man hinhören, um auch die Realentlehnung von Eigenschaftswörtern zu erkennen. Es ist zwar längst bemerkt worden, daß die Bezeichnungen für unsere Farbenskala in den homerischen Schriften, in der Bibel und auch in den heiligen Schriften der Inder zum größeren Teile noch fehlten, daß insbesondere die Farben grün, blau, violett, grau und schwarz sprachlich nicht genau unterschieden wurden; man hatte zunächst den Schluß gezogen, daß der Farbensinn der Menschen sich zum Wahrnehmen der sogenannten sieben Regenbogenfarben erst allmählich entwickelt hätte; neuere Untersuchungen nun haben gelehrt, daß die noch heute lebenden Naturvölker zwar keine Namen für alle uns bekannten Farben haben, die Farben selbst jedoch sehr gut zu unterscheiden vermögen. Wir brauchen den Verfassern der Ilias, der Bibel und der Veden kaum einen geringeren Farbensinn zuzuschreiben, als den heutigen Wilden. Die Wahrheit wird wohl sein, daß Homeros nicht farbenblind war, daß er den Himmel doch wohl blau und die Wiese grün gesehen hat, wenn seine Aufmerksamkeit auf den Unterschied gelenkt wurde. Noch im Mittelalter nannte man den Regenbogen dreifarbig; und für seine siebente Farbennuance fehlt heute noch ein den anderen Farben gleichwertiges Farbenwort, weil doch violett, veilchenfarben, offenbar ganz neu die Farbenempfindung durch den Hinweis auf ein besonders gefärbtes Objekt bezeichnet. Wie wir denn auch für die Modefarben unserer Putzgeschäfte fast ausnahmslos solche gegenständliche Bezeichnungen haben wie fraise-écrasée, taubengrau, crêmefarben usw.; weshalb auch eine Modedame im Gebrauche solcher Worte jeden Philologen übertrifft und mir Beispiele aus den Erfahrungen der letzten Saison schenken könnte. Wir können annehmen, daß die Entwicklung des Farbensinns in alter Zeit keine anderen Wege einschlug als heute. Wanderten da die Realien nicht unmittelbar von Volk zu Volk, so wanderte doch die Regung der Aufmerksamkeit auf ihre Eigenschaften; so wie heute die Modedame in Berlin und Petersburg auf die besondere Farbe des Erdbeersaftes aufmerksam geworden ist und ihn benennen kann, nachdem die Nuance in Paris bemerkt und benannt worden ist.
V.
Bei den Wanderungen der Spiele mischen sich Entlehnungen oder Nachahmungen von Sachen, Worten und Bewegungen. Man denke nur an das Ballspiel und seine vielen Formen, man erinnere sich, wie Spielgeräte, bestimmte Bewegungen und außer dem Namen des Spiels auch die herkömmlichen Zurufe während des Spiels aus der Fremde eingewandert sind, oft genug die Zurufe unverändert in französischer oder englischer Sprache. Man denke an die Tänze, die vielleicht ursprünglich in Polen ( Polka, nicht von polacca, sondern wahrscheinlich soviel wie pulka, Halbschritt) oder Ungarn ( Csardas, soviel wie Kneipentanz) zuhause waren, dann aber mit französischen Regeln ihren Eroberungszug um die Welt antraten. Von Volk zu Volk wandern die Reize des Spiels und mit ihnen sogar die symbolischen Deutungen der Spielmöglichkeiten; die Spielregeln wandern von Volk zu Volk und mit ihnen die Namen der Spielgeräte und der spielerischen Tätigkeiten, in Entlehnungen oder Lehnübersetzungen. Das berühmteste Beispiel einer solchen Wanderung bietet die Geschichte des Schachspiels, aus der ich noch einige Beispiele gebe. (Nach der Dissertation »Die mittelalterliche Schachterminologie des Deutschen« von Ewald Eiserhardt und anderen allgemeinern Darstellungen.) Die Erfindung des Schachspiels läßt sich bis nach dem alten Indien zurückverfolgen; ich kann nicht glauben, daß der indische Name Tschaturanga, das Vierteilige, wirklich auf die 4 Waffen des indischen Heeres und auf die nach ihnen genannten 4 Figuren (Fußsoldat, Pferd, Wagen und Elefant) sich bezogen habe; eine Beziehung auf die Vierecke des Feldes würde mir mehr einleuchten. Der indische Name ging als Tschatrang zu den Persern, als Shatrandsch zu den Arabern über. Unser Name Schach ist persisch, nach der Hauptfigur, dem König. Die Spielausdrücke wurden von den Persern, den Arabern, dann über Spanien oder Italien von den abendländischen Völkern bald als Lehnworte übernommen, bald übersetzt. Shah heißt im Persischen König. Alle abendländischen Sprachen übersetzten den Namen der Hauptfigur in ihrer Weise, so daß das ursprüngliche Wort ( Schach, sp. xaque, frz. échec, it. scacco) für alle Figuren verwendbar wurde und das ganze Spiel neulateinisch ludus scachorum heißen konnte, das Schachspiel. Nicht so einfach liegt die Sache bei der Königin, die ja in ältester Zeit viel geringere Bewegungsfreiheit hatte, für die Spieler also nicht die gleiche Wichtigkeit wie heute. Im Persischen hieß die Figur fersan, der Ratgeber, Feldherr, Wessir. Die Araber übernahmen das Lehnwort, und die Spanier sagten, mit Beibehaltung des semitischen Artikels: alferza. Daß dieses Fremdwort, wie man behauptet hat, über fierge zu franz. vierge geworden, nun weibliches Geschlecht angenommen habe, als die Königin, ist eine hübsche Hypothese. Unser Läufer bietet in seiner Wortgeschichte ein wunderliches Gemisch von Volksetymologien und Lehnübersetzungen. Die Figur hieß auf Neupersisch pil, der Elefant, auf Arabisch danach alfil, das in neulat. alphilus, sp. alfil, it. alfino, altfrz. aufin wiederzufinden ist. Durch Mißverständnis oder durch einen witzigen Einfall (oder durch beides) kam es zu it. delfino, frz. dauphin; der Kronprinz schien ja der Nächste beim Könige und der Königin. Später hieß unser Läufer franz. fou; Littré scheint zu glauben, daß dieser Name frei verliehen wurde, weil der Narr dem Könige nahe stände; er zitiert aus Régnier (Sat. 14): »Elle (la fortune) avance un chacun sans raison et sans choix, les fous sont aux échecs les plus proches des rois«. Wahrscheinlicher ist wohl, daß vom sp. alfil die erste Silbe, der Artikel, fortfiel und aus fil (vielleicht nicht ohne Bewußtsein des Scherzes) fou wurde; Littré bemerkt trotz seiner Ablehnung der Möglichkeit eines solchen Vokalwandels, daß auch aus filix fougère (Farn) geworden sei. Jedenfalls ist die andere Erklärung, die beiden Elefantenzähne, die die Figur in der Zeichnung darstellten, hätten an eine Narrenkappe erinnert, nicht ganz so gewagt, wie die, die gleiche Zeichnung hätte in England an eine Bischofsmütze erinnert und so zu der englischen Bezeichnung bishop für diese Schachfigur geführt. Sollte wirklich der frühere deutsche Name für diesen schwächsten aller Schach-Offiziere umgekehrt so entstanden sein, daß unsere Form von alfil, altvil, die zweite Silbe eingebüßt hätte? Schwer glaublich. Aber der Läufer hieß lange Zeit der Alte; und im Scherze wenigstens steht dafür (Carmina Burana 246) die lateinische Lehnübersetzung senex. Ganz einfach liegt die Sache bei unserem Rössel; im Persischen (und Arabischen) hieß die Figur faras, das Pferd; die abendländischen Sprachen, anthropomorphischer, nahmen für das Pferd einen Reiter und sagten lat. eques (oder miles), frz. chevalier, it. cavaliere, deutsch: Ritter (einst gleichbedeutend mit Reiter); nur die Spanier hätten wörtlich cavallo übersetzt, sagt die Dissertation. (Das stimmt nicht; erstens heißt das Wort caballo; und zweitens nennt der Spanier auch den Reiter caballo, in militärischer Sprache: c. coraza heißt Kürassier, c. ligero heißt soviel wie chevauléger.) Für den vierten Offizier, den roch, ist die persische Etymologie nicht mit Sicherheit erschlossen; daß rokh ein mit Bogenschützen besetztes Kamel bedeutet habe und so zum Namen der Figur geworden sei, muß ich auf die Autorität von Diez hersetzen. War aber dieser Glaube zu der Zeit der neuen Namengebung schon vorhanden, so konnte die geschnitzte Spielfigur gar wohl für einen von Schützen besetzten Turm gehalten werden; wir haben jetzt den Namen engl. tower, frz. tour, deutsch: Turm; zwei davon sind jedenfalls Lehnübersetzungen desjenigen von den drei Worten, das zuerst aufkam. Interessant ist, daß der unschuldige roch zu einem Fluchworte werden konnte. Wie der Ruf Schach mißverständlich zu einer Warnung geworden war (worauf gleich zurückzukommen), so gab es auch den Warnruf Schachroch, sobald der Turm, früher der wichtigste Offizier, bedroht war. (Die Deutung, daß es »Schach dem König durch den Turm« bedeutete, ist offenbar falsch; auch die Deutung, gleichzeitige Bedrohung des Königs und Turmes, scheint mir sprachwidrig; als ich Schach spielen lernte, vor 50 Jahren, wurde ich noch gelehrt: Schach dem König, Schach der Königin, Schach dem Turm zu sagen.) Es scheint wirklich, als ob der Ruf schachroch zu roch verkürzt, ein Fluchwort geworden wäre; anders lassen sich Stellen wie »das unschuldige Blut Jhesu des Herrn wirt aber nun roch rufen ewiglich« (Passionsspiel vom Ende des 14. Jahrh.) schwer deuten, man wollte sie denn sehr einfach von Rache herleiten. (Das D. W. notiert für »Rache« die Änderung a in o.) Was wir heute Bauer, etwas altmodisch Pion, nennen, das kommt durch Lehnübersetzung aus dem Persischen; dort heißt die Figur zum Unterschied von den hochtrabenden Offizieren baidak, Fußsoldat; dies ist genau übersetzt im lat. pedes, im sp. und frz. peon, im it. pedona und im mittelalterlich Deutschen vende, Fußsoldat, Kerl; woraus dann, weil man das alte Wort nicht mehr verstand, durch Übersetzung unser Bauer geworden ist. Häufig ist in jener Zeit die Redensart »ein roch um ein venden« geben (der Wolf gar gibt beim Schachzabel, d. i. beim Schachspiel »beidiu roch umb einen venden«, da er ein Lamm zerreißen will) im Sinne von »einen schlechten Tausch machen«. Bei vende darf noch erwähnt werden, daß diese »kleinen Steine« das gemeine Volk, populares, das Povelî, einst (bei dem Schachgelehrten Cessoles vom Ende des 13. Jahrh.) verschiedene Namen hatten, jeder Bauer – wie vielfach noch heute – nach seiner Stellung vor seinem Offizier; so hieß der Bauer vor dem rechten Turm agricola, was dann mit Ackermann oder Baumann übersetzt wurde. Nur die Hypothese, daß von diesem rechten Eckbauern der Name auf die andern Bauern überging, ist überflüssig (trotz v. d. Linde), weil – wie gesagt – die Lehnübersetzung aus dem persischen baidak zur Erklärung vollkommen genügt. Unübersetzt blieb in allen abendländischen Sprachen der Name des Spiels selbst und sein Ziel: den König, den Schah, matt zu setzen. Beide Worte sind international, Schach mit nationalen Umformungen, matt ganz unverändert. Es ist schon bemerkt worden, daß Schach, der Name der Hauptfigur, nachdem er mit König usw. übersetzt wurde, für die Bezeichnung aller Steine frei wurde; scacchi hießen die Schachfiguren; das Brett, worauf gespielt wurde, hieß deutsch Schachzabel ( tabula), wohl auch verdorben zu Schafzabel. ( Zabel bedeutet überhaupt das Spielbrett, wie Wurfzabel das ausruhsame und doch leidenschaftlich getriebene Trictrac; daß Zabel außerdem, wohl unter slawischem Einfluß, auch eine der vielen Formen des Wortes diabolus war, kommt dabei doch höchstens für Predigerwortspiele in Betracht.) International ist Schach auch geblieben als Warnungsruf dessen, der den König bedroht, wobei just der alte Sinn des Wortes, König, offenbar völlig vergessen war, da man auch Schach der Königin, dem Turm zu »tun, sagen, sprechen« sich gewöhnte. Unklar ist der Zusammenhang mit einem angeblich alten deutschen Worte Schach. [Fußnote] Unklar ist es auch (mir wenigstens), ob das Wort matt direkt aus dem Persischen oder indirekt aus dem Arabischen stamme. Einerlei, das Wort hat Glück gehabt. Bei der Beliebtheit des Schachspiels wurde es ein ganz geläufiges Bild, vom Mattmachen des Gegners zu reden; noch bei Luther finden wir die Redensart so gebraucht, daß die Beziehung auf das Schachspiel mehr oder weniger deutlich mit verstanden wurde; als die Anschaulichkeit des Bildes verblaßte, vielleicht weil das Schachspiel weniger gepflegt wurde, blieb das Wort, schon im 16. Jahrhundert, für geschlagene Krieger, und heute hört das feinste Sprachgehör nicht mehr, wenn Menschen und Tiere, ja Pflanzen und Kräfte matt genannt werden, ein Lehnwort aus dem Persischen oder Arabischen, oder gar eine Metapher aus den Redensarten der Schachspieler heraus. Der Ruf mât aus Schach mât (der König ist tot) ist ebenso in alle romanischen Sprachen übergegangen, wobei freilich da und dort noch andere Einflüsse mitgewirkt haben mögen; so hat man versucht, das ital. matto, das außer schachmatt auch unser matt (z. B. oro matto, mattes Gold) bedeuten kann, das aber im Sinne von töricht, verrückt am gebräuchlichsten ist, auf madidus (naß, betrunken) zurückzuführen. Ich kann es mir nicht versagen, aus der Dissertation von Eiserhardt noch eine Stelle anzuführen. Der fleißige Verfasser unterscheidet ganz gut zwischen Übersetzungen und Entlehnungen; aber so fremd ist ihm und seinen Lehrern die Bedeutung der Lehnübersetzung für die Sprachgeschichte, daß er (S. 40) ausdrücklich erklärt: »nur die Entlehnungen haben eigene Bedeutung für unsere Sprache.«
VI.
Man könnte die unveränderliche Übernahme technischer Erfindungen und ihre Anpassung an den Geschmack oder das Bedürfnis recht gut mit Entlehnung und Lehnübersetzung der Bezeichnungen vergleichen, weniger höflich mit Diebstahl und Hehlerei. Und da ist es zu beachten, daß die Kulturgeschichte mit der Zeit ehrlich geworden ist und jetzt ohne Rücksicht auf Nationaleitelkeit dem wahren Erfinder sein Recht zu geben sucht, daß aber die Sprachwissenschaft in unzähligen Fällen sich gegen die Erkenntnis sträubt, mit der Sache sei auch der Name entlehnt oder angepaßt worden. Nur wo die Wortgeschichte ein Ausweichen nicht gestattet, wird Entlehnung oder Lehnübersetzung zugestanden. Und doch ist der Vorgang, den wir heutzutage unaufhörlich beobachten können, keine Eigentümlichkeit unseres Zeitalters der Technik und des Verkehrs; zu allen Zeiten muß es so gewesen sein, ist es so gewesen. Ich gebe ein paar Beispiele aus den verschiedensten Gebieten der technischen Künste. Die Architektur gebraucht fast ausschließlich Worte, die entlehnt sind: aus dem Lateinischen, dem Griechischen, dem Italienischen, dem Französischen, dem Arabischen. Sonst unerklärliche Wörter verraten ihre Herkunft, wenn man den Begriff der Lehnübersetzung zu Hilfe nimmt. Unser altes Kemenate kommt vom Spätlateinischen caminata und bedeutete (nach caminus, Feuerstätte, cheminée) ein geheiztes Zimmer; davon ist Stube (ital. stufa, Badestube) offenbar eine Lehnübersetzung; überraschenderweise hat franz. poêle eine parallele Wortgeschichte: es bezeichnete ursprünglich einen heizbaren Raum, wahrscheinlich von lat. pensile. Die Küche hat eine große Menge ihrer gegenwärtigen Namen (für gute Küche) aus dem verdorbenen Latein der mittelalterlichen Klöster, aus dem Küchenlatein. Ich setze die Unzahl von Entlehnungen als bekannt voraus und erinnere nur an wenige Übersetzungen. Aus ital. cavolifiori, franz. choux-fleur (süddeutsch Karfiol) wurde Blumenkohl, das dem Österreicher fremd und geziert erscheint. Ganz eingedeutscht ist Rührei, doch aber Übersetzung von lat. ova misculata, franz. omelette. Was die Franzosen pets de nonne nennen, heißt am benachbarten Rhein Nonnenfürzchen. Ich möchte zwei Vermutungen hinzufügen. Das schwed. sexa wird häufig als die Sechsuhrmahlzeit erklärt; daß die Zeit nicht stimmt, würde allerdings nicht stören, da sich die Namen der Mahlzeiten, die von der Zeit hergenommen sind, leicht verrücken. Könnte aber sexa nicht eine schlechte Aussprache von russ. zakuska ( Imbiß) sein, dieses wieder eine Lehnübersetzung von franz. goûter? Sehr wahrscheinlich ist es, daß franz. assiette (von lat. situs) ursprünglich das bedeutete, was wir jetzt für eine schwer zu erklärende abgeleitete Bedeutung halten: die Lage; sodann die Lage, den Platz bei Tische; als es auf Umwegen, die noch nicht ganz aufgeklärt sind, zu der Bedeutung Teller kam, wurde für den Platz bei Tische das neue Wort couvert herangezogen, für den gedeckten Platz mit allem Zubehör; und dieses couvert haben wir peinlich genau mit Gedeck übersetzt. Die Wortgeschichte des Kriegswesens erzählt von unzähligen Entlehnungen, denen man die Geschichte des Kriegswesens selbst ablesen oder abhören kann. Die Namen der Waffen ( fusil und Flinte, couleuvrine und Feldschlange), die Namen der Rangtitel ( Kapitän und Hauptmann), die Namen der Befestigungen ( forteresse und Festung, parapet, ital. parapetto und Brustwehr) deuten gut darauf hin, welche Nation zur Zeit der Entlehnung oder Übersetzung gerade die besten Heereseinrichtungen hatte. Besonders interessant ist das Wort laden in seiner militärischen Bedeutung. Man kann nach dem Sprachgebrauche die Ware laden (Steine, Säcke), aber auch das Gerüste, das zur Fortbewegung der Ware bestimmt ist (den Wagen, das Schiff). Das Gefäß, der Behälter wird gefüllt beim Laden: der Raum der Kelter, des Hochofens, des Schmelztiegels, der Kanone. Das Füllen der Waffe, das zunächst bei den Geschützen von großem Kaliber (Lehnwort aus dem Arabischen, qalib = Modell) ein wirkliches Beladen war, machte die Waffe schußbereit; und diesen Sinn hat auch ital. caricare, franz. charger. Man achte darauf, daß die kriegerischen Italiener schon vor Einführung der Feuerwaffen sagten: caricare la balestra, l'arco, den Bogen spannen; das alte technische Wort der Soldaten ging unverändert oder in Übersetzung auf die neue Waffe über. (Man vergleiche für einen ähnlichen Übergang des militärischen intendere auf die Feuerwaffe den Art. Absicht.) Vielleicht besteht zwischen caricare und laden eine noch viel ältere Beziehung. Wenn eine Last auf ein Vehikel geladen wird, so denkt man immer an den Zweck der Fortbewegung; nun könnte laden mit leiden, ursprünglich soviel wie leiten, reisen oder reisen machen zusammenhängen, wenn auch nicht so eng wie caricare mit carrus. Von den Worten der Landwirtschaft sei nur eines angeführt, das vielleicht noch althochdeutsche Lehnübersetzung ist: Getreide; trotzdem das Wort im heutigen Sinne zur Lutherzeit noch so neu war, daß oberdeutsche Bibelglossare Luthers Getreide durch Korn, Frucht (lat. fructus) erklären zu müssen glaubten. Getreide wird allgemein als das aufgefaßt, was der Boden getragen hat, der Ertrag. Die häufige Anwendbarkeit des Begriffs der Lehnübersetzung läßt mich nun vermuten, daß alle andern Erklärungsversuche für franz. blé, altfr. bled, verfehlt waren, daß Diez vollkommen im Rechte war, als er franz. blé, ital. biada von spätlat. ablatum oder dem Plural ablata herleitete; es wäre dann blé eine unverständlich gewordene Verstümmlung, Getreide eine heute noch verständliche Übersetzung des lateinischen Wortes. Ich darf wohl, ohne Widerspruch zu befürchten, auch die Medizin unter die technischen Künste rechnen; wem das nicht gefällt, der mag die Beispiele unter eine vornehmere Rubrik einordnen. Und ich will mich mit der Aufzählung von Übersetzungen aus dem Arabischen begnügen, weil es dafür eine übersichtliche Vorarbeit gibt, die von Hyrtl. Seitdem Hyrtl, der berühmte Anatom und gewissenhafte Philologe, seine wortgeschichtlichen Untersuchungen veröffentlicht hat, kennt man im einzelnen den Einfluß der arabischen Ärzte auf das Medizinerlatein des spätern Mittelalters. Für Hyrtl, dem ich natürlich nur folgen kann, waren fast nur die latinisierten arabischen Ausdrücke von Interesse und nur gelegentlich erfahren wir von Lehnübersetzungen aus dem Arabischen oder dem Hebräischen. Er gibt (S. 43 d. Einleitung) überdies eine ganze Reihe deutscher Ausdrücke aus dem 16. Jahrh., die wieder Lehnübersetzungen der lateinischen Lehnübersetzungen aus dem Arabischen waren. Ich setze aus dieser Sammlung deutscher Übersetzungen, von denen viele heute noch üblich sind, vorläufig einiges her: Hirn schale und Hirn kasten, nach testa, theca oder olla cerebri (prov. noch oulle), Mandeln, Magen mund, Speise röhre, Pfeilnaht ( suttura sagittalis), Herzgrube ( scrobiculus cordis), Herzbeutel ( marsupium cordis), Hoden sack ( bursa), Blasen hals, Mutter mund ( os vulvae), Nasen flügel, Zahnfleisch ( caro dentium), Gaumenvorhang ( velum palati, jetzt genauer Segel), Kehl deckel ( coperculum laryngis), Stimm ritze ( rima glottidis), Schamspalte (rima pudendi), Hirn balken ( trabs) usw. Wäre nun auch ein Teil der Wortgeschichten Hyrtls durch die Forschungen der neuesten Arabisten korrigiert worden, so bliebe doch die Invasion dieser semitischen Ausdrücke und Vorstellungen ein unvergleichliches Beispiel für die internationale Entlehnung ganzer Disziplinen. Besäßen wir nicht so genau die Brücken, die da zu den lateinschreibenden Ärzten des Abendlandes herüberführen, so wäre uns ein großer Teil ihrer Sprache ebenso unerklärlich, wie uns altgriechische Ausdrücke für Tiere, Pflanzen usw. unerklärlich sind, deren Wortbrücken nach Asien vor der historischen Zeit zerstört worden sind. Und wiederum: wenn in der Seeschlacht von Lepanto die Türken gesiegt hätten und dann vielleicht Europa nach Gottes Ratschluß türkisch geworden wäre, so wären heute vielleicht die Brücken nach Griechenland zerstört, unsere naturwissenschaftliche Literatur würde arabisch gedeutet und kaum eine dunkle Sage wüßte von einer Anlehnung an ein altes Volk der Griechen zu erzählen. Ich will an Bekanntes nur kurz erinnern. Die arabischen Ärzte des 12. und 13. Jahrh. (die in der Geschichte der Philosophie ebenso philosophische Zwischenhändler waren) lasen die klassischen Schriften der griechischen Ärzte nicht in den Originalen, auch ihren vergötterten Galenos nicht; sie mußten sich bei dem Zufallsgange ihrer Kultur an Übersetzungen halten, die von syrischen und alexandrinischen Juden und von nestorianischen Christen hergestellt worden waren und die dann erst auf Befehl bildungsfroher Kalifen ins Arabische übersetzt wurden. Als nun die arabischen Schriften in die Gelehrtensprache des Abendlandes übersetzt wurden, verstanden die Übersetzer gewöhnlich kein Griechisch, das Arabische nicht immer gut und schrieben ein barbarisches Latein. Dazu kommt, daß in Spanien und dann zu Anfang des 13. Jahrh. in Montpellier jüdische Ärzte die Vermittlung übernahmen, und daß die Folgezeit also manches für arabisch hielt, was hebräisch war. Aus diesen historischen Tatsachen ergibt sich die Verhunzung so vieler technischer Ausdrücke, über welche zu klagen Hyrtl nicht müde wird. Für meine Absicht sind die oft abenteuerlichen Wortverstümmlungen ganz unwesentlich. Dagegen möchte ich noch auf zwei Tatsachen hinweisen, die in unserer Sprache an die Zeit gemahnen, da Araber, die Lehrmeister des christlichen Abendlandes waren. Materiell ist nicht nur die spanische Sprache, sondern auch die deutsche voll von arabischen Worten aus jener Zeit. Besonders Astronomie, Botanik und Chemie: Zucker, Zibeben, Sirup, Ambra, Elixier, Amalgam, Naphta, Kampfer, Ingwer, Bezoar, Tarif, Alchemie, Alkohol, Alkali, Almagest, Admiral, Algebra, Almanach, Aldebaran, Azimuth, Zenith und Nadir (?), Alambic usw. Geistig ist viel von der eigentümlichen Phantastik der Araber wie versteinert zu uns herübergekommen. Die Araber bildeten gern neue Begriffe mit Hilfe der Vorstellungen von Vater ( ab), Mutter ( mum) und Sohn ( ibn): der Ehemann hieß Vater der Frau, der Hahn Vater des Wachens, die Nacht Mutter der Sterne, der Pfeil Sohn des Bogens, so werden wir weiter finden Fieber als Mutter der Wärme, Pupille als Tochter des Auges und Hirnhaut als Mutter des Gehirns. Und nun einige beachtenswerte Worte aus der Fülle, die Hyrtl bietet. Schon bei den Römern hieß die Haube, mit der Kinder bei rasch verlaufenden Kopfgeburten mitunter auf die Welt kommen: galea, bei Mädchen vitta. Aus dem Orient stammt diesmal nicht das Wort, wohl aber der Aberglaube an diese Glückshaube oder das Wunschhütel. Ein caput galeatum war ein Glückskind; heute noch im Französischen: né coiffé. Die Namen der Schädelnähte sind Übersetzungen bald aus dem Griechischen, bald aus dem Arabischen. Sogar der Name des griechischen Buchstaben Lambda hat sich in der Lambdanaht erhalten, wurde aber von Unkundigen wohl auch suttura lande genannt. Anus heißt lateinisch sowohl After als altes Weib; auf den möglichen Zusammenhang möchte ich nicht eingehen. Es fanden sich dann barbarische Lateiner, welche vetula für anus setzten und auch das os ani die vetula nannten. Retina ist kein lateinisches Wort, sondern von dem lateinischen Arabisten Gerardus, dem Übersetzer des Canon Avicennae, für den Teil des Sehnervs eingeführt worden, der den Glaskörper wie ein Netz umschließt; und wir haben es mit Netzhaut übersetzt. Auch die Linse (des Auges), die jetzt aus der Anatomie in die Optik übergegangen ist, ist kein sehr altes Wort. Sie wurde im Altertum oft recht poetisch: Seele des Auges, von Galenos auch das Göttliche des Auges genannt, noch bei Vesal, dann humor glacialis oder auch grando, das Hagelkorn. Am häufigsten wurde sie gutta genannt, der Tropfen; der graue Staar hieß gutta opaca, der schwarze Staar, bei dem die Linse ungetrübt bleibt, gutta serena. Linse φαϰος, φαϰωδης), im Deutschen eher Lehnwort als Lehnübersetzung nach dem lateinischen lens, findet sich schon im Griechischen; ist aber noch bei Hippokrates die Bezeichnung für Sommersprossen. Die Frucht Linse ist also lateinisches Lehnwort; die Übertragung auf die Augenlinse Lehnübersetzung. (Die Bezeichnungen für die Teile des Gehörgangs sind Lehnübersetzungen aus dem Griechischen.) Für die Achselvene, wie für die empfindliche, unter einer feinen Haut gelegene Hüftvene haben die Arabisten Ausdrücke wie vena titillaris, titillicum; vom Kitzeln heißt die Achselgrube jetzt noch im Französischen chatouilloire. Der Ausdruck Röhre kommt bei den Alten nicht vor. Die Araber nannten die beiden Stücke des Vorderarms Röhrenknochen, alsaid oder asseyd; die ältern Arabisten übersetzten Ulna und Radius mit Canna oder Arundo major und Canna oder Arundo minor. Canna ist wohl gewiß ein semitisches Wort, hebräisch qanch; was nicht hinderte, daß canna in den abendländischen Sprachen eine reiche Wortfamilie gründete. (Kanehl, Kanone.) Auch die Knochen des Unterschenkels haben im Hebräischen und im lateinischen Avicenna die Namen großes Rohr (Schienbein) und kleines Rohr (Wadenbein); aber doch schon griechisch (wann?) αὐλος, Flöte, für Röhrenknochen, so αὐλοι ποδων für Schien- und Wadenbein. Wahre und falsche Rippen ist neuere Lehnübersetzung. Hippokrates nannte die sieben obern Rippen, die sich ans Brustbein anschließen, συναπτας; Galenos erst nennt sie γνησιας, für γενεσιας, von γενος, was dann durch ἀληϑης, ψευδης ersetzt und mit wahr, falsch übersetzt wurde, mittelalterlich costæ verae, perfectae, completae, legitimae, germanae, und non veræ, imperfectæ, spuriæ, illegitimæ, adulterinæ, nothæ, mendosæ (eigentlich imperfectæ, fehlerhafte, dann wohl mit mendaces verwechselt). Auf dura und pia mater, als von der arabischen Metapherart herstammend, ist schon hingewiesen; die Hirnhaut wurde Mutter des Gehirns genannt. Noch merkwürdiger ist pia mater. Man kannte zur Zeit des Galenos nur zwei Hirnhäute, die μηνιγξ σϰληρα oder παχεια (dura, crassa) und die innere zartere μηνιγξ ληπτη ( tenuis). Arabisch heißt tenuis raqiq. Der Mönch, der den Haly Abbas übersetzte, fand im Wörterbuch für raqiq die mönchisch bequemere Erklärung fromm, milde und so stand und steht für μηνιγξ λεπτη über das Arabische hinweg die falsche Lehnübersetzung pia mater. Wie denn überhaupt die seltsamen Namen der organisch auch heute noch nicht deutbaren Formen der Gehirnteile, gleich den Namen der zufällig sich dem Auge aufdrängenden Sternbilder, alte Lehnübersetzungen sind. Ein altes vermis (im Gehirn) ist lateinische Übersetzung von dudah; Hirn- wie Herzkammern wurden thalami genannt; die Sehhügel wurden bald nach den Hoden, bald nach den Hinterbacken benannt. Als nun die Sehhügel ihren alten Namen thalami wiedererlangten und den Schimpfnamen nates an das vordere Vierhügelpaar abgaben, lag auf ihnen die Zirbeldrüse, von den Testes aus gerechnet, die glandula oder der penis cerebri. Mit drolligem Purismus, weil ihm das Aufliegen des Penis auf den Nates unziemlich schien, hat Vesal die Teile umgetauft. Nicht für immer. Die Alten nannten die helleren Teile des Gekröses lactes, auch die Hoden der Fische; wir sprechen da noch heute von Milch. Schlüsselbein ist eine unverständlich gewordene Lehnübersetzung von ϰληις, was ursprünglich Querbalken, Riegel hieß, und nicht Schlüssel, mit dem ja das Schlüsselbein auch verzweifelt wenig Ähnlichkeit besitzt. Wir haben das Wort auf dem Umwege über Araber und lateinische Arabisten: clavicula. Der Darm wurde von den Arabern in die bekannten sechs Abteilungen geschieden; die Anatomen des 14. Jahrh. zählten aber, nach dem Vorgange von Hippokrates, von unten an; wie eben schon Hippokrates den Mastdarm ἀρχος, principium intestinorum genannt hatte; woher vielleicht Arsch. Gut lateinisch ist für das rectum der Name longanon, von Schylhans mit Arsdarm und Schlechtdarm (glatter Darm) übersetzt; dieses Stück des Schweinsdarms diente schon bei den Römern zum Wurstmachen; heute noch ist im Spanischen longaniza (Wurst) erhalten. Das Stück des Duodenums, das jejunum heißt, hat seinen Namen (angeblich) davon, daß es nunquam continet, quod accipit, also immer fastet; ist aber schon richtige oder falsche Lehnübersetzung von νηστις, was von νη ἐσϑιειν hergeleitet wird. Auch das Duodenum selbst übersetzt das griechische δωδεϰαδαϰτυλος, womit freilich früher etwas anderes bezeichnet worden war. Erst Galenos stellte im Pylorus genau die Grenze zwischen Magen und Darm fest, von πυλη und ὠρεω; es wurde von den Neulateinern und den Italienern mit portanarius und ähnlich wiedergegeben, woher unser Pförtner. Der Ringknorpel hatte bis auf Galenos keinen Namen, und das fiel so auf, daß er cartilago innominata (ἀνωνυμος), der anonyme Knorpel genannt wurde. Galenos Benennung ϰριϰοειδης (von ϰριϰος oder ϰιρϰος) ist die Unterlage für die Lehnübersetzung Ringknorpel. Die Araber, die eine sehr ungenaue Kenntnis des Kehlkopfs hatten, übersetzten ἀνωνυμος mit lā isma lahon, was nach F. Müllers Vermutung (des orientalistischen Helfers von Hyrtl) zu Galsamach verhunzt wurde, welches Wort viele Teile der Larynxgegend vom Gaumensegel bis zum Ringknorpel bedeutete. Bekannt ist, daß der Adamsapfel seinen Namen von der hebräischen Legende hat, ein Stück vom verbotenen Apfel sei dem ersten Menschen vor Schreck stecken geblieben und als der sog. Adamsapfel zur Erinnerung und zum Zeichen des Sündenfalls zu sehen. Die Griechen nannten das Ding nach dem Vogelkropf, bei Haly Abbas findet sich der Ausdruck pomum granatum. Der hebräische Ausdruck tappuach ha-adam, pomum viri rührt daher, daß der Vorsprung beim Manne viel stärker wahrnehmbar ist. Nach Hyrtls ansprechender Vermutung erklärt sich die eben erwähnte Legende daraus, daß adam Mann bedeutet, aber zugleich den Namen des ersten Menschen. Die alten Namen der Zähne haben wir aus dem Arabischen: die Schneidezähne, die Lachzähne ( risorii, γελασινοι), die Weisheitszähne. Allerdings kannten schon die Alten die letzte Bezeichnung: σωφρονιστηρες, dentes sapientiae (die übrigen Zähne im Gegensatz dazu recht albern dentes stultitiae); aber die arabische Lehnübersetzung erhielt sich in der arabischen Form Neguegil oder ähnlich lange bei den lateinischen Arabisten. Im Mittelalter unterschied man venae pulsatiles und quietae für Arterien und Venen; die Aorta, als die Haupt- Schlagader (Lehnüb. für v. pulsatilis) hieß auch vena elevabilis, womit eine Lehnübersetzung von ἀορτα (ἀειρειν, erheben) versucht worden war. Die Carotiden haben ihren griechischen Namen von ϰαρος, sopor, tiefer Schlaf; die Araber übersetzten sopor oder das gleichbedeutende hebräische tardemah mit subat; die Arabisten nannten also die Carotiden arteriae oder venae subethales; Vesal, in seiner Weise ein Purist, d. h. ein Gegner des barbarischen Arabisten-Latein führte die Bezeichnung soporalis ein. Sehr wahrscheinlich nun, daß von dieser alten Bezeichnung her der Zweig der Arteria soporalis, dessen Pulsschlag in regione temporali besonders leicht fühlbar und sichtbar wird, oder die Gegend den deutschen Namen Schlaf oder Schläfe erhielt; denn an die schlafbringende Wirkung einer Kompression der Carotiden glaubte man fest, eine schmerzstillende kennt man noch immer. In einer lateinischen Übersetzung des Averroës heißen sie geradezu arteriae somni. Die Bezeichnung subethales ist wieder verschwunden, aber doch nicht ganz; in der Provence nennt man eine Kinderkrankheit, die rasch zu völliger Bewußtlosigkeit führt, subé oder subeth puerorum, wohl von der Sarazenenzeit her. Brust korb scheint Lehnübersetzung eines crates oder cratis costarum (zuerst bei Lactantius); crates war ein Weidengeflecht, ein Korb; die Wortgeschichte ist unsicher, weil die Ähnlichkeit mit einem Korbgeflecht doch wohl erst beim Anblick eines Skeletts erscheint. Im Deutschen, Französischen, Englischen und Niederländischen finden wir ein entsprechendes Wort ( Rute, verge, roede) für das männliche Glied, die germanischen Worte Lehnübersetzungen von virga, das im Altlateinischen nur Zweig heißt und erst als Lehnübersetzung des arabischen al-kamarah Penis bedeutete, aber in diesem Sinne selbst in die modernen Sprachen nicht überging. Schamteile usw. ist natürlich Lehnübersetzung des bereits homerischen αἰδως (τα αἰδοια). Unzählige Spitznamen für den Penis gehen in Lehnübersetzungen, Falschübersetzungen und lasziven Späßen von Volk zu Volk. Veretrum, doch wohl von vereri, also Schamteil; bei lateinischen Spaßmachern finden wir dafür veru, Bratspieß. So wanderten richtige und falsche Beobachtungen der Anatomen und Mediziner auf dem zufälligen Umwege über die Araber zu uns, wissenschaftliche Kenntnis und Aberglaube durcheinander; wir werden noch erfahren, daß Wahrheit und Glaube (Vgl. Art. Wahrheit) eigentlich gar nicht widersprechende Begriffe sind, wir werden also sagen können: die Gegenstände des Glaubens sind es, die mit ihren Namen von Volk zu Volk wandern. Ich könnte nicht enden mit solchen Belegen, wenn ich nun auch die Wanderungen und besonders die Lehnübersetzungen von Wörtern der Mythologie und Religion, der Mathematik und der Astronomie, also nur der wichtigsten Gebiete des Glaubens und des Wissens aufzählen wollte, wenn ich gar die Entlehnungen und Lehnübersetzungen der Naturgeschichte (wo die Beispiele von Tier- und Pflanzennamen nicht zu zählen sind) sammeln wollte. Mir ist es ja besonders darum zu tun, die Macht der Entlehnung in den Nationalsprachen überhaupt nachzuweisen, besonders aber die Macht der Entlehnung bei den Ausdrücken der Geisteswissenschaften, vor allem die Bedeutung der Entlehnung für die philosophischen Begriffe. Vorher sei noch der Fälle gedacht, wo nicht einzelne Wörter, sondern gleich ganze Wortfolgen entlehnt wurden, Kunstprodukte der Sprache: politische Schlagworte, Sprichwörter, Scherze, Anekdoten, Novellen usw. Es handelt sich um die unabsehbare Reihe von wandernden Motiven.
VII.
Reinhold Köhlers unermüdliche Sammelarbeit hat uns eine Fülle von wandernden Märchen, Sagen, Fabeln, Novellen und auch Redensarten geboten. Man könnte einen stattlichen Band aus den Arbeiten Köhlers ausschreiben. Die Wanderlust von Sagen und geflügelten Worten ließe aufs neue an der Zuverlässigkeit geschichtlicher Überlieferung zweifeln; hier aber, wo uns die Internationalität der Kulturgeschichte, das endlose Entlehnen von Sachen und Worten allein interessiert, sollen nur einige allgemeine Gesichtspunkte und wenige frappante Beispiele aus dem Lebenswerke des prächtigen Köhler entlehnt werden, der wie kein anderer die junge Wissenschaft des Folklore gefördert hat, diese schrecklich gelehrte Bezeichnung für Volkskunde aber ablehnte. Die allgemeinen Sätze nehme ich aus einer der seltenen Niederschriften Köhlers, in denen dieser bescheidene Forscher einmal das Mikroskop beiseite legte und den Blick in die Weite schweifen ließ: aus der Abhandlung »Über die europäischen Volksmärchen«. Man werde bald gewahr, »daß die Märchen, die nur in Einem Lande, bei Einem Volke vorkommen, verhältnismäßig selten sind, daß dagegen Märchen in weit voneinander gelegenen Räumen in wesentlich gleicher Gestalt sich finden, vielleicht eines in Schottland und in Siebenbürgen, ein anderes in Littauen und in Neapel ... die Zahl der nur an zwei oder drei weit entlegenen Punkten gefundenen gleichen Märchen ist verhältnismäßig gering und würde noch weit geringer sein, wenn überall gleich eifrig gesammelt wäre. Bei weitem die Mehrzahl aber der bisher gesammelten Märchen sind solche, die in den meisten, ja zuweilen in allen Ländern, woher wir Sammlungen haben, sich finden.« Man habe, sonst kluge Leute haben es getan, die Übereinstimmung entweder Folge der Einheit des Menschengeistes oder des Zufalls sein lassen. »Aber diese Annahme ist in den meisten Fällen unmöglich, da die Gleichheiten meist so eigentümlicher Art sind und in einem so eigentümlichen Zusammenhange, in einer so eigentümlichen Mischung wiederkehren, daß man mit Bestimmtheit sagen kann, daß sie schon an und für sich nicht, am wenigsten aber in dem Zusammenhang, in dem sie regelmäßig erscheinen, zwei oder mehrere Male unabhängig voneinander sich gestalten konnten; sie können vielmehr nur einmal an Einem Ort und zu Einer Zeit erfunden und müssen das andere oder die andern Male durch Überlieferung oder Übertragung fortgepflanzt sein.« Besonders wichtig ist die nachgewiesene Wanderung indischer Märchen nach dem Abendlande. Schon vor der Zeit des Islam wurde eine Bearbeitung der Buddhalegende zu einem weitverbreiteten christlichen Volksroman; die eigentlichen Märchen kamen zu uns durch persische und arabische Übersetzungen. Die Zukunft wird vielleicht die meisten abendländischen Märchen auf eine indische Grundlage zurückführen. »Diese Resultate sind abzuwarten, jedenfalls sind aber schon jetzt soviele Märchen auf indische Quellen sicher zurückgeführt, daß wir auch bei den übrigen sehr vorsichtig mit der Annahme sein müssen, sie seien autochthonischen Ursprungs. Ganz besonders aber wird man sich hüten müssen, in jedem deutschen Märchen einen verblaßten und entstellten uralten heidnischen Mythus zu suchen und natürlich auch zu finden, wie dies bisher von vielen deutschen Mythologen nur zu gern geschah.« Ich berufe mich auf diese Ketzereien Köhlers um so lieber, als es doch Freiheit gibt, wenn so z. B. eins der schönsten deutschen Märchen, das vom treuen Johannes, in Böhmen, im neuen Griechenland, in Italien, in Katalonien und endlich auch in Indien nachgewiesen wird. Es ist dem Chauvinismus gar gesund, zu erfahren, daß die tiefsinnigsten und nationalsten Geschichten eher eingeheimst als heimisch sind. Eine süddeutsche Form der Geschichte von Griseldis gibt gar eine Volksetymologie des Namens: sie heißt Griseldis, von dem griselten (graulichen) Kittel, den sie als armes Maidli trug; da sie verstoßen wird, sagt der Vater zu ihr:
Leg nur an das griselte Kittele
Und iß mit mir ein Überschüttele.
Die Matrone von Ephesus, ein wahrer Globetrotter unter den Novellen, ist jüdisch, russisch, italienisch und sonst fast überall naturalisiert worden. Selbst eine so einfache Redeformel wie »und wenn der Himmel wär Papier« ist von Köhler über den Talmud und Arabien zu den Neugriechen, den Serben, den Italienern, den Franzosen, Deutschen und Engländern begleitet worden; die Originalstelle im Talmud heißt: »Wenn alle Meere Tinte und alle Binsen Schreibfedern und der ganze Himmel Pergament und alle Söhne der Menschen Schreiber wären, sie reichten nicht aus zu beschreiben usw.« Die Wendung gegen den kulturwissenschaftlichen Chauvinismus findet sich schon bei Köhler (Kleinere Schriften III. 355): »Ohne irgendwie Gewicht auf meine eigene Ansicht legen zu wollen, nach der allerdings verschiedene Nationen, deren Volkslieder ich einigermaßen zu kennen glaube, uns darin ebenbürtig sind, möchte ich nur fragen, ob der Herausgeber, ob überhaupt irgendjemand die Volkslieder aller anderen Nationen genau genug kennt, um sich erlauben zu dürfen, so kurzweg über alle zugunsten von uns Deutschen abzuurteilen.« Auch die alte Weisheit, daß der Charakter eines Volkes aus seinen Sprichwörtern erkannt werden könne, ist nicht mehr wahr. Aus zwei Gründen nicht. Erstens weil Sprichwörter ebensowenig wie Volkssagen vom Volke geschaffen worden sind; zweitens weil Sprichwörter fast immer international sind, von einem Volk zum andern wandern und, richtig oder unrichtig, wie andere Wissenschaft um so gläubiger nachgesprochen werden, je bekannter sie sind. Es wäre übrigens nicht übel, gehört aber nicht zu meiner Absicht, an ein paar hundert der beliebtesten Sprichwörter nachzuweisen, daß ihre Weisheit der Erfahrung schnurstracks widerspricht. Daß Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten, daß also geformte Weisheit ebenso Kunstprodukte sind wie die sog. Volksepen, demnach nur von individuellen Wortkünstlern in die Welt gesetzt werden können, dafür braucht ein Beweis nicht erst erbracht zu werden; die ganze Rederei über die künstlerische Tätigkeit von Volkseinheiten entstand nach Rousseau und Herder vor etwa 100 Jahren, als der Begriff des Volkstums entdeckt worden war und mit natürlicher Entdeckerfreude maßlos überschätzt wurde. Nicht die vaterlose Entstehung im Volke ist für das Sprichwort wesentlich, sondern die Adoption durch das Volk, durch die Vielen. Der Einzelne spricht den Satz aus, selten aus eigener Kraft, gewöhnlich als Nachsprecher, als Plagiator oder als Übersetzer; und weil die Vielen den Satz gemeinsam hören und so gemeinsam erfahren, wie stark der Eindruck durch Prägnanz oder Reim oder durch ein keckes Bild auf alle war, darum können sie von jetzt ab den Satz einander wie andere Worte zuwerfen. Diese gemeinsame und gleichzeitige Adoption war immer eine Bedingung für die Verbreitung von Sprichwörtern. Ich erinnere daran, daß für das 16. Jahrhundert, wo das Sprichwörtersammeln bei uns begann, populäre Predigten eine Hauptquelle sind; wir können bei dem Zustande der mittelalterlichen Kultur annehmen, daß die christlichen Prediger überall Verbreiter von Sprichwörtern waren. Man achte ferner darauf, daß es den Geistlichen darauf ankam, für die alte Spruchweisheit, die in dem großen Sammelbecken der lateinischen Sprache vereinigt war, eine hübsche Form in der Muttersprache oder in der Mundart zu finden, während es den ersten, humanistischen Sprichwortgelehrten, wie Erasmus und Bebel, umgekehrt darum zu tun war, die mundartlichen Sprichwörter, deren Herkunft sie selten kannten oder mit deren mönchslateinischer Fassung sie nicht zufrieden waren, in klassisches Latein zurückzuübersetzen. Neben den Predigern waren natürlich Spielleute und Theaterdichter Verbreiter von Sprichwörtern, meinetwegen auch deren Schöpfer. Und man achte darauf, wie heute noch, trotzdem so unendlich mehr gelesen wird als früher, Spruchweisheit so viel häufiger aus einem Theaterstück ins Volk dringt als aus einem Buche. Goethes köstliche »Sprüche in Prosa« werden nur von Gelehrten zitiert; der »Faust« hat hundert geflügelte Worte geschaffen. Die momentane gemeinsame Seelensituation, das gemeinsame Erlebnis eines starken Eindrucks durch ein gehörtes Wort ist in der Kirche und im Theater vorhanden; selbst in Volksversammlungen können neue sprichwörtliche Redensarten geprägt werden, wenn in erregten Zeiten anstatt der gewerbsmäßigen Schwätzer Redner aus neuen Schichten zu Worte kommen. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß die Begriffe Sprichwort und Redensart nicht scharf zu trennen sind. Der zweite Grund dafür, daß Sprichwörter den Charakter eines Volkes nicht erkennen lassen, der Wandertrieb der Sprichwörter, ist allen denen längst bekannt, die sich mit diesem Gegenstand ernstlich beschäftigt haben. Ich will diesen Wandertrieb, die internationale Entlehnung von sprichwörtlichen Redensarten hier nur an einigen Beispielen nachweisen, die auch ohne die Versicherung überzeugen dürften, daß sich die Zahl leicht verhundertfachen ließe. Zunächst einige Parallelen aus der deutschen und französischen Sprache (Sprichwörter gehören zum Sprachschatz); der Leser wird bei vielen an uralte Geschichtsanekdoten oder Fabeln erinnert werden, von denen sie herstammen; von der Bibel als gemeinsamer Sprichwortquelle gar nicht erst zu reden: durch seine Abwesenheit glänzen (briller par son absence); über die Achsel ansehen (regarder par dessus l'épaule); ein Stein des Anstoßes sein (être une pierre d'achoppement); teuer wie eine Apothekerrechnung (compte d'apothicaire); Ariadne-Faden; attisches Salz; die Augen größer als der Magen (les yeux plus grands que le ventre); Splitter und Balken (paille et poutre); mit dem linken Beine aufstehen (se lever du pied gauche); der Berg hat eine Maus geboren; er trinkt wie ein Loch (il boit comme un trou); Damokles-Schwert; Danaiden-Arbeit; dumm wie eine Gans (bête comme une oie); Ei des Columbus; geschwätzig wie eine Elster; das ist das Ende vom Lied (c'est la fin de la chanson); Esel in der Löwenhaut; den Faden verlieren; die letzte Feile (le dernier coup de lime); Öl ins Feuer gießen; mein kleiner Finger hat es mir gesagt; das fünfte Rad am Wagen; wie Hund und Katze leben; den Mond anbellen; der Punkt auf dem I; die Kastanien aus dem Feuer holen; sieht doch die Katze den Kaiser an (un chat regarde bien un evêque); der liebe Gott spielt Kegel (le bon Dieu joue aux boules); auf glühenden Kohlen sitzen; den Kopf verlieren, waschen, zerbrechen; Krokodilstränen weinen; Löwenanteil; gute Miene zum bösen Spiel machen; die Nase in alles stecken (fourrer son nez partout); aus der Not eine Tugend machen; die Ochsen hinter den Pflug spannen; nach der Palme ringen; eine Pferdearbeit; naß bis auf die Knochen; er hat das Pulver nicht erfunden; Ritter ohne Furcht und Tadel (chevalier sans peur et sans reproche); der Sandmann kommt (le marchand de sable qui passe); er folgt ihm wie sein Schatten; Schwanengesang; einen Stein auf jemand werfen; Tantalusqualen; von der Tarantel gestochen werden; etwas wie seine Tasche kennen; der Teufel soll dich holen; ein armer Teufel; die Trauben hängen zu hoch; unter zwei Übeln das kleinste; frei wie der Vogel; die nackte Wahrheit; die Wände haben Ohren; alle Wege führen nach Rom; der Wolf in der Fabel; mit den Wölfen heulen; aus den Wolken fallen; das letzte Wort haben; der Zahn der Zeit; zwischen den Zeilen; Zeitungsente (c'est un canard). Ich habe unter diese Stichproben sehr viele Redensarten aufgenommen, weil es mir scheinen will, als ob Redensarten sehr häufig abgekürzte Sprichwörter wären. Man schämt sich etwa, sehr bekannte Sprichwörter oder besonders Fabeln vollständig herzusagen und erinnert an die Weisheit durch ein Schlagwort, das dann durch diese Gewohnheit prägnant wird. So gewinnt schon bei den Griechen (ὀνος λυρας) der Esel die Bedeutung eines amusischen Menschen, der Fuchs international die Bedeutung eines Schlaukopfs; »die Brücke kommt« heißt soviel wie: du lügst. Redensarten sind oft abgekürzte Sprichwörter, Sprichwörter oft abgekürzte Fabeln. Die Männer, die am Ausgang des 15. und am Anfang des 16. Jahrh. Sprichwörter sammelten, verfolgten, wie gesagt, philologische Absichten, altphilologische. Was aus dem Altertum an Spruchweisheit mundartliche Form angenommen hatte, sollte den Gelehrten und den Schülern wieder in mustergültigem Latein, in anständiger Sprache also, zur Verfügung gestellt werden. Ein solches Schulbuch waren die zu Ende des 15. Jahrh. oft aufgelegten Proverbia Communia, aus denen Heinrich Bebel schöpfte, als er 1509 die Proverbia Germanica rein-lateinisch herausgab. Aus Bebels Buche (Ausgb. von Suringar) will ich nun einige Proben geben, ohne die Herkunft weiter zurückzuverfolgen; gründliche Belehrung findet man ja leicht in Wanders großem deutschen Sprichwörter-Lexikon. Mir ist es hier besonders darum zu tun, auf die individuell-künstlerische oder auch nur künstliche Form hinzuweisen, in welcher ein und dasselbe Sprichwort da und dort erscheint. Die Wortform in den französischen und deutschen Zitaten habe ich oft modernisiert, weil es mir auf die Orthographie nicht ankommt. Die niederländische Gestalt, die in unserer Ausgabe fast niemals fehlt, werde ich nur selten abschreiben. (2.) Wer viel redt, der lügt viel. Dyon. Cato: exigua his tribuenda fides, qui multa loquuntur. Beda: in multiloquio non deerit peccatum. Brant: viel schwätzen ist selten ohn' Sünd. Ferner: die Zunge, die man schwatzhaft fand, oft auch in Lügen ist gewandt usw. (12.) Jedem Narren gefällt seine Kappe; cuilibet fatuo placet sua clava; Boner: die bischaft sî geseit dem Toren, der sin Kolben treit, der im ist lieber denn ein Rîch; Brant: kein Gut dem Narren in der Welt baß denn sein Kolb und Pfiff gefällt; Locherus: nil magis usque placet fatuo, nil dulce videtur quam baculus crispus, quam rustica fistula stulto. (16.) Wenn der Schimpf (Spaß) am besten ist, soll man aufhören; il fait bon laisser le jeu quand il est beau; wann am besten gehet das Spiel, ist aufzuhören das rechte Ziel; wann das Spiel am lustigsten ist, alsdann ist aufzuhören das best; ebenso vielfach mit wechselnden Reimen niederländisch. (19.) Man soll das Eisen schmieden solang es heiß ist; dum ferrum ignitum, cudendum est; Boner: dieweil das Eisen Hitz ist voll, vielbald man es dann schmieden soll; Reinardus: tundatur ferrum, dum novus ignis inest; ferner: wenn heiß das Eisen muß man es schweißen; quand le fer est chaud on le doit battre; wann das Eisen gluhet sehr, so bringt der Schmied den Hammer her; ebenso oft niederdeutsch und niederländisch. (27.) Der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht; hydria tam diu ad fontem portatur, donec vel tandem frangatur; haurit aquas olla, sed frangit denique colla; zu Wasser ging so lang der Krug, bis daß er sich den Kopf zerschlug; tant va le pot à l'eau, qu'il brise; so lange gaet te water die cruuc dat si breect ende valt aen sticken (niederl. Reinaert de Vos); der Krug als lang zum Wasser geht, bis er zerbricht und nicht mehr steht usw. (36.) International die Sprichwörter, nach denen lange Leute selten weise, rothaarige nicht ehrlich sind; der durch Volksweisheit festgehaltene, durch die bildende Kunst (Judas) gepflegte Aberglaube von der Schlechtigkeit der Rothaarigen wurde meines Wissens erst durch die rothaarige Heldin eines Romans von Sue vernichtet; rotes Haar wurde Trumpf. (44.) Ein schlechter Vogel, der das eigene Nest beschmutzt; Werdea: Nemo suae patriae confingat scandala, nidum defoedans proprium, pessima fertur avis; welcher sein eigen Nest bescheißt, billig ein böser Vogel heißt; Klosterspiegel: es ist ein böser Vogel, der in sein Nest hofiert, und doch tragen's die Mönche nicht aus dem Kloster. (51.) Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist; Reimar: wir haben gehört viellange wohl, daß man den Mann bei seinen Gesellen dicke erkennen soll; kannst du einen nicht erraten, schau auf seinen Kameraden; willst du wissen, wer sei ein Mann, so siehe nur seine Gesellschaft an; dites-moi avec qui vous hantez, et je saurai comme vous vivez; niederl.: Seght ons met wie dat gy verkeert, So heb ik uwen aert geleert; Noscitur ex socio qui non cognoscitur ex se. (55.) Besser einen Sperling in der Hand als eine Taube auf dem Dache; Reinardus: Una avis in laqueo plus valet octo vagis; Est avis in dextra melior quam quatuor extra; besser ein Vöglein in der Hand, als vier die fliegen über Land; usw. (66.) Man soll den Dreck ungerührt lassen; jemehr man den Dreck rührt, je fester er stinkt; qui plus remue la merde plus puit; Stercus olet foetidum, quo plus vertendo movetur; ein Dreck je mehr er wird geschürt, je mehr er eim die Nasen rührt; und so häufig niederländisch. (71.) Fällt der Himmel ein, so bleibt nirgends kein Topf ganz; die Redensart »wenn der Himmel einfällt« uralt; neu: wenn der Himmel einfällt, kriegen wir alle blaue Nachtmützen. (82.) Alter schützt vor Torheit nicht; Menander: Ουχ αἱ τριχες ποιουσιν αἱ λευϰαι φρονειν; Alter hilft für Torheit nicht; die alten Toren die besten als man spricht. (85.) Das Gras wachsen hören; surgentem auscultare avenam; écouter les aveines lever; ita sapiens quod gramina audit crescere; er hört das Gras wachsen, den Klee besonders. (91.) Des Herrn Auge macht das Pferd fett ( feist); Werdea: Aristoteles fragt nicht ohn Sache (chose-cause), was ein Pferd sehr oder mehr fett mache. Er spricht: das Aug des Herrn, darumb seh der Herr selbst zu saim Pferde; Aristot. Oecon. L. I. c. 6.: Και το του Περσυν ἀποφϑεγμα εὐ ἀν ἐχοι. ὁ μεν γαρ ἐρωτηϑεις τι μαλιστα ἱππον πιαινει, Ὁ του δεσποτου ὀφϑαλμος, ἐφη; ex visu domini fit pulchritudo caballi; Ein Herr seh selber auf sein Pferd, Will er daß es wol gefüttert werd; später aufs Rindvieh übertragen. (133.) Das Alter ist auch eine Krankheit; findet sich bei Menander, Apollodoros, Terentius; schon bei Seneca sprichwörtlich: senectus insanabilis morbus est; Werdea: Pluribus ac variis morbis subjecta senectus cernitur, ac per se morbus et ipsa manet; Mancherlei und viel Krankheit dem Alter ist bereit, auch wird es nicht ohn Sach selber für ein Krankheit geacht; auch niederländisch. (140) Wer's Glück hat führt die Braut heim; bei Luther und Melanchthon; Cui fortuna favet sponsa petita manet; Cui sors arridet, sponsae concumbit amicae; Dempt gelucke gunt, de geyt myt des bruyt to bedde. (146.) Es ist bös, einem Hunde sein Bett zu machen (weil er sich, sagte die Magd, vor dem Niederlegen einigemal umdreht und man nicht weiß, wo der Kopf und wo der Schwanz liegen wird); Difficile est cani lectum sternere; Il est difficile de faire le lit d'un chien. (194.) Macht geht vor Recht; bei Menander: ὁπου βια παρεστιν, οὐδεν ἰσχυει νομος (oder ähnlich); Werdea: Juri ac justitiae praefertur saepe potestas; Gewalt geht oft für Recht; Gewalt geht vor Recht, das klagt manch armer Knecht. (200.) Langes Haar, kurzer Sinn; die Frauen haben langes Haar und kurz Gemüte, das ist wahr; Renner: Kurzen Mut und langes Haar haben die Maide sonderbar; Werdea: Vestibus oblongis et sensibus abbreviatis Uti pro libitu femina quaeque solet; Kurze Sinn und lange Kleide tragen die Frauen und die Maide; Ist auch lang der Weiber Schurz, ist doch ihr Sinn und Treiben kurz. (202.) Hunger ist der beste Koch; Werdea: Esuries stomachi fertur cocus optimus esse; der Hunger ist der best Koch geacht, dann von ihm wird kein Speis voracht; auch öfter niederländisch. (206.) Armut sucht neue Wege; schon oft bei Griechen und Römern; Petronius: Mirabile quidem paupertatis ingenium, singularumque rerum quasdam artes fames edocuit; Neu Fünd kommen von armen Leuten; De tout s'avise à qui pain faut; Noid maect nauwe listen, usw. (222.) Wenn man den Bogen zu hoch (straff) spannt, so bricht er; schon sprichwörtlich bei Lukianos und Phaidros; Durch Spannen allzu verwogen sprengt man den besten Bogen; Redditur invalidus, nimium si tenditur, arcus; Spannst du den Bogen zu straff, wird er allmählich ganz schlaff; L'arc toujours tendu se gâte. (226.) Unter Blinden ist der Einäugige König; Borgne est roy entre aveugles; Strabus regnat inte r cœcos; schon: Ἐν τοις τοποις των τυφλων ὁ λαμων βασιλευει. (233.) Durch Schaden wird man klug; Werdea: Damna solent homines data reddere providiores; Quae nocent docent; Après dommage chacun est sage; öfter niederländisch. (241.) Stolpert doch ein Pferd mit vier Füßen; Wenn stolpert ein Vierbein mitunter, ist Fallen von Zweibein kein Wunder; Quadrupes in plano quandoque cadit pede sano; Un cheval a quatre pieds et si chet bien. (252.) Wer gern tanzt, mag man leicht pfeifen; Sat facit indoctus fidicen saltare volenti; Ce qu'on faict de bon cœur, ne grève pas à l'heure; auch niederländisch. (274.) Es kommt selten was Besseres nach; sehr alt; Tout va pis que devant. (275.) Mit den Wölfen heulen; Franck: Wer bei den Wolfen sein will, der muß mit ihnen heulen; Consonus esto lupis, cum quibus esse cupis; Qui est avec les loups, il fault hurler; Willst du bei den Wölfen sein, stimm' in ihr Geheul mit ein. (282.) Den Mantel nach dem Winde hängen; seit Plautus bis auf die Gegenwart überall sehr häufig variiert; eine niederträchtige Weisheit. (286.) Das Hemd ist näher als der Rock; La chemise est plus près que le pourpoinct; auch niederländisch. (296.) Es flog ein Gans über den Rhein und kam als Gänserich wieder heim; die Tierspezies und Geographie wechseln; Bos bos dicetur, terris ubicunque videtur; Man treibt ein Farren gen Mompelier, kommt doch herwieder nur ein Stier; Führ noch so weit den Ochs herum, immer bleibt er Ochs und dumm; altfranzösisch: Qui chael vet à Rome, chin se revint; It catulus versus Romam, canis inde reversus; Parisios stolidum si quis transmittit asellum, si fuit hic asinus, non ibi fiet equus; Ein Esel schick wohin du wilt, kein Hengst wird draus, der etwas gilt; Schick den Esel nach Oxford, nimmer wird ein Pferd er dort; Gaet sent een esel naer Parijs, Gy krijght hem weder even wijs. (302.) Sich selbst eine Rute binden; Reinardus: Saepe sui dorsum caesoris virga cecidit; Mancher bindet selbs ein Rut, die seinem Ars bald schaden tut; Viele binden von euch, lieben Kindern, selber sich die Rute auf den Hintern; Saepe suis manibus virgam puer ipse paravit, postea quae natibus sit toleranda suis; Franck: Die Rut hat er ihm selbs auf sein Ars gemacht. (308.) Wer zu viel auf einmal will, erhält gar nichts (gewöhnlich französisch zitiert: Qui trop embrasse mal étreint); Qui tot concite tot pert; Amittit totum qui mittit ad omnia votum; Wer alles will gewinnen, dem alles wird entrinnen; auch niederländisch. (312.) Jeder Hund auf seinem Mist für ander drei geherzer ist; sehr alt, erst vom Hahn, dann vom Hunde; Dessus son fumier se tient le chien fier; In terra domini furit acrior ira catelli; auch dänisch und niederländisch. (317.) Gelegenheit macht Diebe; schon auf Menander zurückzuführen; Freidank: State machet manegen diep; Boner: Stund und Statt viel Diebe macht; altfranzösisch: Grant bandon (Gestaltung) fait grant larron; Zeit, Ort und Gelegenheit Diebstahl fördern allezeit. (323.) Ein Narr macht viel Narren; sehr verbreitet. (324.) Es ist nicht alles Gold, was glänzt (früher: was da gleißt); Alanus ab Ins.: Non teneas aurum totum, quod splendet ut aurum; Pf. Konrad: iz enist nicht alles gold, das da glizzit; Ce n'est pas or quant que reluit; Gar im Leben du erkennst, es ist nicht alles Gold, was glänzt; auch dänisch und niederländisch. (333.) Es weiß keiner, wo den andern der Schuh drückt; Franck: Ein jeder weiß, wo ihn der Schuh druckt; schon bei Hieronymus, nach Plutarchos: Et hic soccus quem videtis, videtur vobis novus et elegans, sed nemo scit praeter me ubi me premat; auch bei Luther; Quanam parte premat me calceus, indue, disces; Wer den Schuch trägt, der weiß sein Tuck, wo er ihn am ärgesten druck; Wo mich zwickt und zwackt der Schuh, selber ich doch wissen tu. (341.) Wer bauet an die Straßen, muß die Leute reden lassen; bei Luther und sonst sehr häufig: Wer an der Gassen bauet, der hat viel Meister; schon Sachsenspiegel: ich zimmere, so man säget, bei dem Wege, des muß ich manegen Meister han; Qui édifie en grand place, faict maison trop haute ou trop basse; Frischlin: Wenn einer an ein Straß bauen will, hat er der Widersacher viel; De Brune: Die aen den weghe bouwt of sticht, die wert van yder een bericht. (347.) Wer Pech angreift, der besudelt sich (Jes. Sir. 13, 1); Franck: Wer mit Pech oder Kohlen umgeht, der bescheißt leicht die Händ; Pix dum palpatur, palpando manus maculatur; Wer in dem Peche gern umprudelt, klag nicht, so er die Händ besudelt; Cats: Handelt gy't peck, Gy krijght een vleck; Van het peck, blijft een vleck. (348.) Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen; schon bei Cicero, aber noch nicht sprichwörtlich; Melanchthon: Wem nicht stehet zu sagen, dem stehet nicht zu helfen; Eim Mann, dem nicht zu raten ist, wird geholfen zu keiner Frist. (360.) Die Natur zieht stärker denn sieben Ochsen (sprach der Abt, als er mit der Ursel allein war); Plus tire nature que cent chevaux; niederl.: Natuyr treckt meer dan seven paerden. (363.) Wie gewonnen so zerronnen; Plautus: Male partum, male disperit; bei Cicero schon sprichwörtlich: Male parta, male dilabuntur; Übel gewunnen, übel verschlungen; Quod male lucratur, male perditur et nihilatur; Merke das und fasse es zu Ohren, übel gewonnen, übel verloren; Conquest à gripes et à grapes s'en va à bifes et à bafes; oft niederl. (367.) Unkraut vergeht nicht; ähnlich Erasmus: Malum vas non frangitur (nach: ϰαϰον ἀγγος οὐ ϰλαται); Unkraut siehst du selten verderben, da sonst viel guter Kräuter ersterben; oncruyt en vergaet niet lichtelick; Mauvaise herbe croist soudain; Freidank: Unkraut wächst ohne Saat. (373.) Ein Unglück kommt selten allein; schon Syrus: Fortuna obesse nulli contenta est semel; Burkhart Waldis und Luther: Ein Unglück will nicht allein sein; Nulla calamitas sola; Un mal ne vient pas seul; Après perdre, on perd bien; De Brune: Gheen ongheluck en komt alleen, het wilt gezelschap, groot of kleen. (380.) Soviel Köpfe, soviel Sinne; Franck: Wieviel Köpf, soviel Kröpf; bei Terentius, Persius, Quintilianus: Quot homines, tot sententiae; Tant de gens, tant de sens; De Brune: Zoo veel hoofden, zoo veel zinnen, ist niet buyten, 't is van binnen. (382.) Qui cito dat, bis dat; wird bei uns immer lateinisch zitiert, wenn auch Kirchhofer anführt: Wer bald gibt, gibt doppelt; bei den Römern schon sprichwörtlich: Gratia quae tarda est, ingrata est, gratia namque Quum fieri properat gratia grata magis (Ausonius); nach dem Epigramm: Ὠϰ ειαι χ αριτ ες γλυϰ ερωτ εραι· ἠν δε β ραδυνη, πασα χασ ις ϰ εν εη, μηδε λεγοιτο χαρις; Freidank: Die Gabe ist zweier Gaben wert, der schiere gibt, eh man ihr gehrt; Qui tost donne, deux fois donne. (390.) Eine Krähe hackt der andern kein Auge aus; bei Horatius, Seneca, Juvenalis als Gemeinplatz, noch nicht als Sprichwort; das Tier wechselt, früher häufig der Wolf: Quod lupus est lupulum, numquam prius est mihi visum; Es ist nie kommen in mein Wissen, daß ein Wolf den andern het gebissen; Daß ein Wolf das Wölflein frißt, nie gesehen worden ist; Kein Wolf vor einem Wolf erschrickt, kein Kräh der andern Aug auspickt; schwäbisch: Fürwahr ein seltsam Zeitung ist, wann ein Wolf den andern frißt. (395.) Aus den Augen, aus dem Sinn, uralter Erfahrungssatz: Non sunt amici, amici qui degunt procul; genau nach: Τηλου φιλοι ν αιοντες οὐϰ εἰσιν φι λοι (Athen.); Longue demeurée fait changer amy. (428.) Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen; uralter Erfahrungssatz, sonst noch schärfer gefaßt; schon bei Valer. Max. der Vergleich (nicht Sprichwort) der Gesetze mit einem Spinnennetz: die kleinen Tiere werden gefangen, die starken hindurchgelassen; geht auf Anacharsis zurück; auch bei Juvenalis und Seneca; Brant: Man henkt die kleinen Dieb allein, ein Brems nit in dem Spinnweb klebt, die kleinen Mücklein es behebt; Ce que truye forfaict, les pourceaux le comparent; Gros larron faict le petit prendre (pendre?); Kleine Diebe henkt man, vor großen zieht man den Hut ab! sagte der Bauer, als er vor dem Prälat das Kreuz machte. (453.) Eigner Herd ist Goldes wert; schon bei den Griechen die Redensart: οἰϰος φιλος, οἰϰος ἀριοτος; Privata domus valet aurum. (458.) Es fällt kein Baum auf den ersten Streich; früher: Beim ersten Streiche fällt keine Eiche; aber »Eiche« steht schon, ohne Reimnot, in der ältesten griechischen Fassung: Πολλαισι πληγαις δρυς στερα δαμαζεται; Au premier cop ne chiet pas l'arbre; on n' abat pas un chesne tout du premier coup; De Eyck, die vast ghewortelt staat, de eerste slagh niet neer en slaet. (463.) Rom war nicht in einem Tage gebaut; Sancta die sola non ipsa Colonia facta; Rome ne fut pas faicte en un jour; Rom ward in einem Jahre nicht erbauet. (475.) Ende gut, Alles gut; Freidank: Ich schelte nicht was jemand tut, und machet er das Ende gut; La fin fait tout; Finis palmam habet; Si finis bonus est, totum laudabile tunc est; Totum laudatur, si finis laude beatur; La fin loue l'œuvre; überall häufig. (480.) Es jagen nicht Alle Hasen, die Hörner blasen; von Erasmus auf Varro und direkt auf Seneca zurückgeführt, der sagt, noch nicht sprichwörtlich: Personam malle quam faciem; Non est venator, quivis per cornua flator; Wer das Jagdhorn blasen kann, ist drum noch kein Jägersmann. (485.) Gleich und gleich gesellt sich gern; so schon bei Franck; altgriech. Sprichwort; Jesus Sir. 13, 19; Cicero: Pares cum paribus veteri proverbio facillime congregantur; Macrobius: Similibus similia gaudent; Es ist nichts so gering und klein, es will bei seines gleichen sein; Gleich und gleich gesellt sich gern, sprach der Teufel zum Benediktiner. (491.) Ein gut Wort findet eine gute Statt; Pred. Salom. 15. 1; 25, 15; Bonne parole, bon lieu tient; Beda: Responsio mollis frangit iram; auch niederl. und skandinavisch; Gratum qui dat Ave, responsum ferto suave; Comme saluerez, resalué serez. (515.) Geschenktem Gaul (Franck: Roß, Pferd) schau nicht ins Maul ; A cheval donné, ne faut point regarder en la gueule. (540.) Viel Hunde sind des Hasen Tod; Burkh. Waldis: Zwen Hund sein stets des Hasen Tod. (543.) Den Stall zumachen, wenn die Kuh heraus ist; Juvenalis 13, 129; Quandoquidem accepto claudenda est janua damno; Atart est luis clos, quant li chival en est hors; Fermer l'estable quand les chevaux sont sortis; Wenn schon gestohlen ist das Roß, flickt man zu spät am Stall das Schloß. (551.) Messer (Scheere, Gabel, Licht) sollen Kinder haben nicht; schon bei den Griechen die Redensart: Μη παιδι την μαχαιραν; Ne puero gladium; Werdea: E manibus pueri cultrum sapiens pater aufert; A l'enfant, au fol, au vilain oste le cousteau de la main. (552.) Im Wein ist Wahrheit; schon griechisch: τον οἰνον οἰϰ ἐχειν πηδαλια; sodann häufig: ἐν οἰνῳ ἀληϑεια oder ähnlich; In vino veritas; Trunkener Mund redt aus Herzensgrund. (566.) Verbrennt Kind fürchtet das Feuer; Laesus ab igne puer timet illum postea semper; Immer scheut das Feuer die Katze, hat sie sich einst verbrannt die Tatze. (580.) Die Gänse gehen überall barfuß; Brant: Wer sorget ob die Gäns gehn blos, der hat kein Fried, Ruh, überall zu viel Sorg; Il est bien fol, qui veut les oyes ferrer; de Brune: Die zich met alle dingh wilt moeyen, die mach de gansen wel goen schoeyen. (587.) Zwischen zwei Stühlen niedersitzen; dänisch: Mellom two Sthoolae faller Artz paa Jordhe; Entre deux selles le cul à terre; Saepe inter geminas podex petit ima cathedras; niederl.: Tusschen twee stoelen in d'asschen. Ich brauche nicht noch einmal zu versichern, daß ich diese Liste, wollte ich Wanders »Deutsches Sprichwörter-Lexikon« zugrunde legen, ohne weitere Mühe verhundertfachen könnte. Auch Anekdoten, Sentenzen, historische Scherzworte wandern von Volk zu Volk, von Jahrhundert zu Jahrhundert; man könnte fast von Seelenwanderung sprechen. Dem bekannten Buche von Hertslet (»Treppenwitz der Weltgeschichte«, 7. Aufl.) entnehme ich einige Beispiele. Die Sage von Romulus, die schon Plutarchos verdächtig vorkam, weil sie sich so gut für die Bühne eigne, ist der von Kyros nachgebildet; daß Heroen von Tieren gesäugt worden sind, wird oft erzählt. Der Bericht von den drei Horatiern und Curiatiern ist ganz und gar einer griechischen Legende nacherzählt. (Die Fabel des Menenius Agrippa, die vom Magen und den Gliedern, ist wie so viele Fabeln altindisch, gehört also nicht in die historische Gruppe.) Die Geschichte von Curtius, den die Erde verschlang, stammt aus Phrygien. Die Kuhhaut der Königin Dido ist da und dort zu finden. Ebenso die Hirschkuh oder der Hirsch, der eine berühmte Quelle oder Furt gewiesen hat; man vergleiche die Gründung von Frankfurt a. M. durch Karl den Großen. Die Weiber von Weinsberg, das Rosenwunder der h. Elisabeth, der Graf von Gleichen, der Hund des Ritters Aubry de Montdidier, – lauter Wandersagen. Man erzählt von Heinrich IV., er habe zu einem Manne, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah, boshaft bemerkt: »Eh, compère, votre mère est-elle donc allée dans le Béarn?« (Wo Heinrichs Vater zu Hause war.) Der Mann habe geantwortet: »Non, Sire, c'est mon père qui y demeura.« Die überaus witzige Antwort wurde lange vorher (nach Macrobius) dem Kaiser Augustus schon gegeben; und lange nachher wieder dem Herzog Karl August. Ebenso wird die sarkastische Bemerkung von Talleyrands Ende (»Je souffre comme un damné!« worauf Einer erwidert »Déjà?«) von verschiedenen Kardinälen erzählt. Der Scherz vom Ei des Kolumbus wurde vorher dem Baumeister Brunellesco nacherzählt. Der Eroberer, der beim Betreten des Landes strauchelt und es so deutet, daß er den Boden ergriffen habe (Cäsar: »Teneo te, Africa!«), wandert durch die Jahrhunderte der Geschichte; durch die Jahrhunderte der Kunstgeschichte: der Maler oder Bildhauer, der einen Mord begeht, um ein Modell für den Gekreuzigten zu erhalten. Endlich ist sogar das kühne Pamphlet, das von Moses, Christus und Mohamed als de tribus impostoribus redet, ein Wanderschlagwort, das vielleicht von Averrhoes herstammt. Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten, Anekdoten, Fabeln und Legenden sind kleine Kunstformen der Sprache, deren Summe auch in unsern Kulturländern den einzigen geistigen Besitz der meisten Menschen ausmacht. Und diese kleinen Kunstformen wandern in ungleich größern Mengen als diese wenigen Stichproben erkennen lassen, seit Urzeiten von Volk zu Volk. Gibt es doch sogar Ammenlieder, deren Wortlaut sich in hohes Altertum und in alte Sprachen zurückverfolgen läßt. Dabei habe ich die Hauptquelle der Redensarten, die den abendländischen Völkern durch Übersetzung gemeinsam ist und die für Religion und schlagfertige Weisheit eine gemeinsame Seelensituation hergestellt hat, gar nicht erwähnt oder doch nur ganz wenige Proben mitschlüpfen lassen: die Bibel. Wie die christliche Religion, so ist auch die Spruchweisheit der Bibel das ungeheuerste Beispiel einer Wanderung von Wortfolgen durch Lehnübersetzung. Dabei ist das Ansehen der Bibel so groß, ihre Wortfolgen werden so allgemein gleich dem Sonnenlicht für Gemeingut gehalten, daß gerade in diesem Falle die Entlehnung dem Gläubigen gar nicht zum Bewußtsein kommt; Gottes Wort war ja nach Gottes Absicht auch für ihn bestimmt gewesen. Die Evangelisten hätten von ihren Übersetzern niemals eine Tantième verlangt. Die berufsethische Frage, in welchem Maße Kunstprodukte der Sprache, geformte Wortfolgen entlehnt werden dürfen, bekümmert uns hier auch ganz und gar nicht; auch in dieser Frage haben die Moden gewechselt, die wieder Nachahmungen waren wie alle Moden. Neuerdings herrscht die Sucht, Plagiate aufzuspüren, wieder sehr stark, was mit der Übertreibung des Begriffs vom geistigen Eigentum zusammenhängt. Frühere Zeiten dachten so unbefangen wie Molière: »Je prends mon bien où je le trouve«; der weise Goethe, der niemals zu schüchtern zum Entlehnen war, ließ an die Spitze einiger von ihm selbst noch herausgegebenen Maximen den Satz stellen: »Alles Gescheite ist schon gedacht worden; man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.« Und sogar dieser, schon erwähnte Satz ist nur eine Verfeinerung eines Zitates aus Terentius: »Nullum est jam dictum, quod non dictum sit prius.« Goethe lehnt darum (Sprüche in Prosa Nr. 538) das alte Räuberwort des schlechten Gewissens ab: »Pereant, qui ante nos nostra dixerunt;« er fügt hinzu: »So wunderlich könnte nur Derjenige sprechen, der sich einbildete, ein Autochthon zu sein.«
VIII.
Redensarten und Sprichwörter, Anekdoten und selbst historische Lebensläufe, Fabeln und Legenden, Volkslieder und Novellen, Religionen und Wissenschaften, unser gesamtes geistiges Eigentum ist nicht autochthon, ist nicht national, wandert durch die Jahrhunderte und die Jahrtausende von Volk zu Volk. Nur die Sprache eines Volkes, die doch nichts weiter ist als die Vorratskammer der wandernden Erbweisheit, soll national, soll autochthon sein. Ausnahmsweise, wenn Entlehnung oder Lehnübersetzung gar nicht zu übersehen ist, wird die Tatsache zugegeben; sonst aber redet die Wissenschaft, blind und taub, von einer Verwandtschaft, wo nur immer eine Ähnlichkeit vorliegt oder vorzuliegen scheint. Und doch würden in allen Wörtern einer Sprache, wenn man sie nur weit genug zurückverfolgen könnte, Niederschläge von Redensarten und Sprichwörtern, von Fabeln und Anekdoten nachzuweisen sein, und wo das nicht der Fall wäre, zum mindesten Rückstände von alten Kenntnissen und alten Religionen, von altem Glauben also. Und doch ist eine Sprache in der psychologischen Wirklichkeit des allein sprechenden Individuums nichts weiter als das bereite Gedächtnis für die zugewanderten Erfahrungen der Menschheit. Wie wandernde Menschen entweder ihr heimatliches Kleid in der Fremde beibehalten oder das fremde Kleid anlegen, so geht es auch den wandernden Worten; sie kommen in großen Scharen bald als Entlehnungen bald als Lehnübersetzungen von einem Volke zum andern. Die Entlehnungen lassen sich in drei Klassen einteilen; die erste Klasse umfaßt die Wörter, die zu der Wirtsprache ganz und gar übergegangen sind, so daß nur gelehrte Forschung die Herkunft noch erraten kann, übrigens, wie gesagt, lieber von Verwandtschaft redet als Entlehnung zugibt; als Lehnwörter anerkannt sind bei uns aus dieser Klasse z. B.: Kirsche, Pech, Ziegel. Der zweiten Klasse gehören die Worte an, die ganz volkstümlich geworden sind, aber irgendwie die ausländische Herkunft erkennen lassen, wie z. B.: Form, Chaussee, Sauce. Der dritten Klasse gehört die stattliche Zahl der technischen Ausdrücke an, die aus den Sprachen der Wissenschaften und Künste noch nicht in die Gemeinsprache übergegangen sind; die meisten philosophischen Lehnwörter gehören hierher. Überall gibt es Übergänge zwischen diesen drei Klassen; auch die Begriffe Fremdwort und Lehnwort sind nicht scharf zu unterscheiden. Wäre es mir um klassifikatorische Arbeit zu tun, so könnte ich auch unter den Lehnübersetzungen viele Gruppen unterscheiden, je nachdem das Modellwort Silbe für Silbe übersetzt worden ist oder mit geringerer, mit größerer Freiheit; es wäre nicht schwer, die Lehnübersetzungen der Philosophie zu solchen Gruppen zu ordnen. Mir aber handelt es sich darum, im bewußten Gegensatze zu der gegenwärtigen Sprachwissenschaft, die ungeheure Menge des Lehngutes vor Augen zu führen, und darum will ich jetzt daran gehen, eine kleine und beinahe flüchtige Sammlung von Lehnübersetzungen aus den beiden Kultursprachen vorzuführen, mit denen wir es in den Wortgeschichten der Philosophie zumeist zu tun haben werden: aus dem Lateinischen und aus dem Deutschen. Eine Aufzählung von Fremd- und Lehnwörtern beider Sprachen ist ja wohl nicht nötig; für die deutsche Sprache geben die Fremdwörterbücher eine genügende Vorstellung von der Masse des Lehngutes; und für die lateinische Sprache hat nach den Vorarbeiten von Curtius, Corssen und Saalfeld der fleißige Weise (in seiner Preisschrift »Die griechischen Wörter im Latein«) Fremd- und Lehnwörter gesammelt. Zu den Entlehnungen gehören aber auch die Lehnübersetzungen, und von diesen ist viel zu wenig die Rede; auch von ihnen jedoch gilt das Wort Hehns: »Viel entlehnt, viel gelernt.« Meine eigenen beiden kleinen Sammlungen sollen natürlich nur anregen, die Untersuchung weiter zu führen. Für das Latein soll auch hier der Satz des Horatius nicht fehlen, der immer zitiert wird, wenn von Entlehnungen die Rede ist: Graecia capta ferum victorem cepit et artes intulit agresti Latio. Weise hat, trotzdem auch er natürlich sehr viele Ähnlichkeiten aus Urverwandtschaft erklärt, gegen 4000 griechische Fremd- und Lehnwörter im Latein gefunden. Von der erstaunlichen Menge der Lehnübersetzungen wird man sich nun eine Vorstellung machen können, wenn ich mich nur auf den Buchstaben A beschränke, um von der Menge der Lehnübersetzungen aus dem Griechischen eine Probe zu geben; die methodische Arbeit eines Fachmannes würde kaum weniger als 4000 Lehnübersetzungen aus dem Griechischen nachweisen können. Bei einigen Beispielen habe ich gleich angedeutet, daß das entsprechende deutsche Wort wieder eine Lehnübersetzung aus dem Lateinischen ist. Hier meine Probe: abactio = ἐξελασις ἀπελασις (abactor, der Viehdieb, auch abigeus = ἀπελατης); abigere, partum = deutsch: abtreiben; abjunctum = (λεξις) διαλελυμενη, die knappe Redeweise; abludere = ἀπᾳδειν, nicht stimmen; abnormitas = ἀῤῥυϑμια, das Unverhältnismäßige; abnuere = ἀπονευειν, abwinken; abscondere = ἀποϰρυπτειν, in der Schiffersprache: aus dem Gesichte verlieren; abstractio = ἀφαι ρ εσις; (Cicero macht, ad. Att. 6.1, den Scherz: Cato ἐξ ἀφαιρεσεως provinciam curavit, C. behandelte die Provinz mit abstrakter Nahrung); abundantia = πλησμονη (Überfüllung des Magens); abusio = ϰαταχρησις = Mißbrauch, term. techn. der Rhetorik; accentus = προσῳδια (= Betonung) von accinere; auch das Zeichen der Betonung; acceptio = ὑποληψις, term. t. der Rhetorik: Annahme eines Satzes; accidens, frei nach συμβαινειν (aber beeinflußt von προσπιπτειν) = το συμβεβηϰος; Zufall; sodann genau = συμπτωμα, franz. accident, der Unfall, im 18. Jahrh. der Zufall; acclamatio, als term. techn. der Rhetorik, dann wohl auch gemeinsprachlich = ἐπιφωνημα; accubitum = ἀναϰλιντηριον, Ruhebank, Lehnstuhl; accusativus, casus = ἡ αἰτ ι ατ ι ϰη, scil. πτωσις, falsch oder volksetym. übersetzt; acer, metaphorisch oft als Übersetzung von ὀξυς; acervalis (von acervus) genau = σωρειτης (von σωρος), der Häufelschluß in der Logik, ein Trugschluß; acetabulum, frei nach ὀξυβαφον, die Sauciere (ein Essignäpfchen, zum Eintauchen der Bissen); sodann Lehnübersetzung 1. für ein Hohlmaß, 2. für ein Musikinstrument; acredula (von acer-cris) = ὀλολυγων, ein Tier mit einer scharfen Stimme; Käuzchen oder Grille? acroterium, Lehnwort aus ἀϰρωτηριν, in der Bedeutung Vorgebirge des Hafens, Landspitze, durch promunturium übersetzt (eig. von prominere, wovon engl. prominent), das wieder an mons angelehnt zu promontorium wurde (franz. promontoire), deutsche Lehnübersetzung Vorgebirge; acupedius, = ὀξυπους, schnellfüßig; acutiangulum = ὀξυγωνίον, spitzer Winkel; überhaupt acutus oft für ὀξυς; acyrologia, Fremdwort (ἀϰυρολογια); aber puristisch durch improprium (dictio impropria) wiedergegeben; die Genauigkeit der Übersetzung ergibt sich aus ϰυριως = proprie, ὀνομα ϰυρίον = nomen proprium = Eigenname; addubitatio frei = διαπορησις; adductor = προσαγωγευς, Kuppler, Zuführer; adiuventio = παρευρεσις, die Erfindung einer Notlüge, einer Ausflucht; adunatio = ἑνωσις; adurere, besonders von Frostschaden = ἀποϰαιειν; aequabilis (von aequare), im Sinne von gerecht, leutselig = griech. ϰοινος (deutsch mundartl. gemein), aequiclinatum = ὁμοιο π τωτον, in der Rhetor. Anwendung d. gleichen casus; aequidici (versus) = ἰσο λεϰ τοι; aequilibritas = ἰσονομ ια = Gleichgewicht; aequinoctium frei nach ἰσ η μ ερια; ὁ ἰσ η μ ερι νος = aequator; aequipollens = ἰσοδυν αμο ς; aerarius , lapis = (λι ϑος) χαλϰι τις; aeripes = χαλϰιπ ους; aesculator, frei nach χαλϰ ολ ογος, der Geldeinnehmer; aetiologia (αἰτιολογια), von Puristen mit causarum inquisitio übersetzt; affaber = ἐντεχνος, kunstreich; affabulatio = ἐπιμυϑιον, die Nutzanwendung oder Moral einer Fabel; agere, in der Redensart ferre et agere = dem uralten φερειν ϰαι ἀγειν, fortschaffen, bes. ausplündern; agglutinatio = προ σϰολλησις, die Anhänglichkeit; agnasci = ἐπιγιγνεσϑαι, geboren werden, nachdem schon ein Erbe da ist; davon agnatus = ἐπιγονος, sowohl Nachgeborener als Agnat; Epigone (despektierlich) nur deutsch seit Immermann; agnominatio = παρονομασια, jetzt ein Wortspiel, bei den Alten eine geachtete rhetor. Figur; aleatorium = ϰυβευτηριον, Spielhaus; algificus, genau = ψυχροποιος (vom Schrecken); alimenta = τροφεια oder ϑρεπτηρια, der Lohn der Amme für Nahrung und Auferziehung; der Bedeutungswandel ist lehrreich, nach dem jetzt die Amme den Vater des eigenen Kindes auf Alimente verklagt; alitudo = τροφη; aliquis, wie griech. τις für einen ungefähren und dann wieder für einen sehr hohen Wert (auch franz. il est quelqu'un); allocutio = παραμυϑια, Zuspruch; almities (von almus) frei = εὐπρεπεια, Holdseligkeit; alternatio = ἐπαλληλοτης, term. techn. der Rhetorik, Häufung gleicher Buchstaben; dann = παραλληλοτης, Häufung gleicher Ausdrücke; altitudo (animi) frei = βαϑυτης, etwa doch unser Hochmut; amarus = πιϰρος, von der reizbaren Gemütsart, bitter; amaritudo = πιϰρια, von widrigen Tönen; ambidexter = ἀμφιδεξιος, der beide Hände wie die Rechte geschickt brauchen kann (wobei ambi Lehnwort); ambifarius = διφασιος, doppelsinnig; ambiguitas = ἀμφιβολια; ambitus = περιοδος, in der Rhetorik; amicire = περιβαλλεσϑαι, Umwerfen des Obergewandes; amictorium = περιβολαιον, Umhang; amittere = ἀποβαλλειν, wegwerfen, verschleudern; amnenses = περιποταμιοι, die an Flüssen liegenden Städte; amare, φιλειν, lieben, in vielen Nuancen parallel; auch Ἐρως wurde mit Amor übersetzt; amplexatio, amplexio, mehrfach für ἐπιπλοϰη; amplitudo, frei nach πλατυτης; anastrophe = ἀναστροφη, die Umkehrung, wofür Puristen reversio sagten; Anguifer oder Anguitenens = Ὁφιουχος, der Schlangenträger der Astronomie; angulus, in vielen Doppelworten der Geometrie Übersetzung von γωνια; anhelatio, frei nach ἀσϑμα; davon anhelator = ἀσϑματιϰος, der Asthmatiker; animitus = ψυχοϑεν; animula – ψυχαριον, mein liebes Herz, Herzchen; annihilatio usw. = ἐξουϑενισμος; anomalia, Fremdwort (ἀνωμαλια), übersetzt mit inaequalitas; ante-canem, Versuch den Namen, Προϰυων, des Vorläufers des großen Hundes, zu übersetzen; ante häufig Übersetzung auch vor Adjektiven gebrauchten griech. πριν; anticipatio, antecepta (informatio) = προληψις; antelogium = προλογος; anteloquium, Vorwort, Vorrede; ante-passio = προπαϑεια, das Vorleiden, die Voranzeige einer Krankheit; ante-occupatio = προϰαταληψις, rhet. term. techn.; antidotum, Lehnwort; von dem gleichbedeutenden Lehnwort antipharmacon (αντιφαρμαϰον) wurde die Lehnübersetzung remedium gebildet; deutsch Gegengift scheint mir uralte Lehnübersetzung von antidotum; antonomasia (ἀντονομασαι), puristisch pronominatio; aparctias (ἀπαρϰτιας), der Nordwind, übersetzt mit septentrio; apeliotes (ἀπηλιωτης), Ostwind, puristisch subsolanus; apophasis (ἀποφασις), cataphasis (ϰαταφασις), Fremdworte, rein lateinisch negatio und affirmatio; aposiopesis ( ἀποσιωπησις) rhet. term. techn., puristisch: reticentia; apparatorium, ἐξαρτιστηριον, Zurüstungsanstalt für Leichenmahle; apparitio, ἐπιφανεια, die Erscheinung Christi; appetitio, appetitus, quae est ὁρμη graece (Cic.); noch Galilei quält sich vergebens nach einem wissenschaftlich brauchbaren Ausdruck für den Begriff Antrieb; und wir haben immer noch keinen; appositum = ἐπι ϑε τον; apprehensio, übersetzt ϰαταληψις, im Sinne von Krankheitsanfall, bes. Bewußtlosigkeit; aquam terramque petere = γην ϰαι ὑδωρ αἰτειν; die Redensart kam mit der Sitte, Unterwerfung zu fordern, aus Persien nach Griechenland; Aquarius, Ὑδροχοος, der Wassermann; aquiducus, ὑδραγωγος, wasserziehend; aquifuga, ὑδροφοβος wasserscheu; aquilex, frei nach ὑδρογνωμων, der Wasserfinder; schon im Altertum ein Rutengänger, Rhabdomant; armatura (die Waffengattung), armicustos (Waffenträger), armidoctor (Fechtmeister), armifactor (Waffenschmied), militärische Ausdrücke nach ὁπλισις, ὁπλοφυλαξ, διδασϰαλος, -ποιος; arsis (ἀρσις) in der Metrik; Übersetzungsversuche: sublatio, elatio, elevatio; wir haben uns auf Hebung geeinigt; articulus, Lehnwort aus ἀρϑρον, Knoten, Glied, sodann Lehn-Doublette für den grammat. Begriff; arti-, ars häufig = τεχνη, Geschicklichkeit, z. B. artificialis = ἐντεχνος; asinus, die Eselschelte in sprichwörtlichen Redensarten schon von den Römern aus griech. Fabeln entlehnt; assimilis, προσομοιο ς; assimile = π αρομοιον; assumentum, frei nach ἐπιῤῥαμμα; asteïsmus, das Fremdwort ἀστε ϊσμος, von ἀστυ, die Stadt, besonders Athen, davon ἀστειος, fein, höflich; genau entsprechend urbanitas, urbanus; atramentarium, μελανδο χειον, Sache und Name wohl aus dem Orient herübergekommen; Tintenfaß ist frei übersetzt; ital. calamajo (slaw. kalamar) von dem Schreibwerkzeug; atriensis, διαιταριος, διαιταρχης, Haushofmeister; attonitus, βλητος, vom Schlage gerührt; aber sohon attonare, ἐμβρονταν, betäuben; auctio, ursprünglich = αὐξησις; audientia = ἀϰροασις, das Anhören; auditorium = ἀϰροατηριον; vielfach in der Schulsprache; augurium, auspicium (von avi-) = οἰωνιστηριον, οἰωνοσϰοπειον; aurifodina = χρυσωρυχια, Goldgrube; aurilegulus = χρυσεϰλεϰτης. Zu den ungefähr 8000 Lehnwörtern und Lehnübersetzungen rechne man noch die Wörter, deren Entlehnung in altrömische Zeit zurückreicht und deren Herkunft darum nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden kann; dann wird man ein Bild haben von dem ziffermäßigen Verhältnisse des Lehngutes in der lateinischen Sprache; wird sich ein Bild machen können von der Entlehnung der Dinge und der Gedankendinge, die den Römern aus Griechenland gekommen waren; kein Gebiet der Kultur und der Sprache ist ohne diese Entlehnungen: Familienleben, Staatswesen, Religion und Kriegskunst, Kenntnis des Tier-, Pflanzen- und Mineralreichs, Wohnung, Kleidung und Nahrung, Handel und Verkehr, Wissenschaften und Künste, Spiele und Schulbetrieb, – die Bedeutung der Entlehnungen an Sachen und Worten ist immer unterschätzt worden, ist nicht zu überschätzen. Nicht ganz so eindeutig ist die innere Beziehung der lateinisch redenden Menschen zu der griechischen Sprache zu bestimmen. Eine kümmerliche Sprachwissenschaft und eine lächerliche Etymologie verhinderten auch nur eine klare Fragestellung; doch gab es schon im alten Rom zwei Parteien, von denen die eine die lateinische Sprache beinahe für eine griechische Mundart erklärte, von denen die andere wie mit modernem Nationalstolz alte Entlehnungen leugnete, neue Entlehnungen bekämpfte. Aus dieser zweiten Partei gingen die lateinischen Puristen hervor, deren bewußter Arbeit wir die meisten Lehnübersetzungen aus dem Griechischen verdanken. Diese puristischen Neigungen sind nicht zu allen Zeiten der Römer gleich stark gewesen. Wir werden gut daran tun, wenn wir die innere Beziehung des Römers zu der griechischen Gastsprache deuten wollen, uns nicht an eine einzige Parallele aus der neueren Zeit zu halten. Das Verhältnis des Latein zum Griechischen erinnert bald an die feindliche Invasion französischer Wörter in die deutsche und holländische Sprache, besonders im 17. Jahrhundert, bald doch wieder an die friedlichere, organischere Art, in der die englische Sprache (ihrem Wortschatze nach) halb französiert wurde. Ja sogar an das Verhältnis der altfranzösischen Sprache zum Vulgärlatein und dann wieder an das Verhältnis der neufranzösischen Sprache zum Gelehrten-Latein müßte erinnert werden. Diese psychologischen Beziehungen der Menschen, welche eine bestimmte Muttersprache reden, zu der Sprache eines anderen Volkes, aus der sie Sachen und Wörter entlehnen, sind den gegenwärtigen Sprachforschern ebenso bekannt wie mir, vielfach besser als mir, wo es sich gar z. B. um Entlehnungen des Neupersischen und Spanischen aus dem Arabischen, des Russischen aus dem Türkischen handelt. Aber niemand hat bisher aus diesen Beziehungen die Lehre gezogen, die grundstürzend wirken müßte auf unsere Auffassung vom Leben und von der Geschichte der Sprache. Man hat die Sprache einen Organismus genannt, und bildlich wenigstens hält man an dem Vergleiche mit einem Organismus fest; überall da, wo man immer noch von einer Verwandtschaft der Sprachen fabelt. Es gibt keine Verwandtschaft von Sprachen. Die Sprache ist kein Organismus. Wenn man vom Leben der Sprache spricht, soll man das Bewußtsein von der Kühnheit dieser Metapher nicht verlieren. Sprache ist eine Bewegung, die zum Zwecke der Mitteilung Zeichen hervorbringt. Die Teile der Sprache, die Wörter, gehören nur der psychologischen Wirklichkeit an, nicht der körperlichen. Nur bildlich darf man sagen, daß Wörter sich verbinden, daß ein Wort das andere erzeuge. Alle Wörter sind Bewegungen; man ahmt nur die Bewegungen der Volksgenossen lieber und leichter nach, als die Bewegungen der Fremden. Wörter sind keine Körper; weil aber die Wörter Zeichen für Sachen oder Sinneseindrücke sein sollen, darum sind die Menschen trotz ihres Widerwillens gegen die fremden Bewegungen, der sich Purismus nennt, immer wieder gezwungen gewesen, ihre Sprache durch Entlehnungen zu bereichern. Wie die Sprache nur zwischen den Menschen entstanden ist und besteht, so sind die Sprachen zwischen den Völkern entstanden. Es gibt keine autochthonen Sprachen. Die schöne Freude an dem blühenden Leben der eigenen Muttersprache, die nationale Selbsttäuschung hat seit alter Zeit zu den puristischen Bestrebungen geführt, die die eigene Sprache liebevoll wie ein Kind oder wie eine Blume vor schädlichen Einflüssen schützen wollen. In Rom gab es Puristen (Cäsar, Cicero) wie in dem Deutschland des dreißigjährigen Krieges. Die Puristen kämpften mitunter, wenn sie Politiker waren, auch gegen die Entlehnung fremder Sachen und fremder Sitten; zumeist aber wandte sich ihr Zorn gegen die fremden Wörter, und sie mühten sich ab, die fremden Sachen und Sitten und Gedanken wenigstens mit den Zeichen der Muttersprache auszudrücken. So entstanden zu allen Zeiten die Lehnübersetzungen, deren Bedeutung für die Wortgeschichte uns hier beschäftigt. Wer die Sprache ernstlich und wörtlich für einen Organismus hält, der mag bei den Lehnübersetzungen (alle Übersetzungen sind am letzten Ende Lehnübersetzungen) vielleicht gar an die Erscheinung des mimicry denken oder an den älteren Aberglauben, daß schwangere Frauen sich an fremden Männern versehen können.
IX.
Alle Völker haben in Zeiten schwerer Bedrängnis ihren Patriotismus zunächst und am bequemsten dadurch zu beweisen gesucht, daß sie die zudringlichen Fremden aus ihrer Muttersprache hinauswarfen; so befreiten sich die Neugriechen von türkischen, die Rumänen von slawischen, die Tschechen von deutschen Eindringlingen. In Deutschland war die puristische Bewegung niemals stärker als in den Zeiten der schwersten Not: um 1640 und um 1810. Die Bewegung zur Zeit des dreißigjährigen Krieges war übrigens selbst wieder eine Entlehnung; die Führer des damaligen deutschen Purismus hatten sich die Anregung aus den Niederlanden geholt; so Schottel und Harsdörffer, von denen manche kühne Neubildung herstammt (z. B. Anmerkung, Rechtschreibung, Umschreibung), die heute der vertrautesten Gemeinsprache angehört. Vom Standpunkte des Nationalgefühls kann die Tätigkeit dieser Männer nicht genug gerühmt werden; und die Liebe zur Muttersprache wird vielleicht die jetzt herrschende Nationalitätsidee noch überdauern. Auch die Bedeutung des Purismus für das, was unsere Liebe als Schönheit unserer Sprache empfindet und was der Sprache vielleicht immanent ist, soll nicht unterschätzt werden. Geschmacklose Übertreibungen des Purismus (Zesen im 17. Jahrhundert, Campe um 1800) haben dann mitunter unsere besten Männer und Schriftsteller gegen die Sprachreiniger aufgebracht. Ich nenne nur die beiden, deren Verdienst um die Reinheit und Schönheit der deutschen Sprache groß genug ist. Goethe hat einmal ärgerlich gemeint, Reinigung ohne Bereicherung sei oft geistlos; und der deutscheste Germanist, Jacob Grimm, wetterte einmal los (Klein. Schrift. I. 347): »Deutschland pflegt einen Schwarm von Puristen zu erzeugen, die sich gleich Fliegen an den Rand unserer Sprache setzen und mit dünnen Fühlhörnern sie betasten. Ginge es ihnen nach, die nichts von der Sprache gelernt haben und am wenigsten die Kraft und Keuschheit ihrer alten Ableitung kennen, so würde unsere Rede bald von schauderhaften Zusammensetzungen für einfache und natürliche fremde Wörter wimmeln.« Man würde aber irren mit dem Glauben, daß eine so klare Einsicht in die Gefahren eines übertriebenen Purismus erst nach dem glückhaften Gelingen einer deutschen Nationalliteratur möglich war, daß in den schlimmen Zeiten, da der deutschen Sprache, die wir lieben, Romanisierung oder Vernichtung drohte, nur in unbedingter Reinheit eine Rettung zu liegen schien. An der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, als das Literatendeutsch fast noch unschöner war als während des dreißigjährigen Krieges, sah Leibniz ebenso klar, was not tat, wie hundert Jahre später Goethe und Grimm. Leibniz hat in seinen »Unvorgreiflichen Gedanken« schöner als irgend jemand vor ihm die Bestrebungen der Fruchtbringenden Gesellschaft verteidigt; aber auch er ist ein Gegner des konsequenten Purismus. Er ist der Meinung nicht, »daß man in der Sprach zum Puritaner werde und mit einer abergläubischen Furcht ein fremdes aber bequemes Wort als eine Todsünde vermeide, dadurch sich selbst entkräfte, und seiner Rede den Nachdruck nehme; denn solche allzu große Scheinreinigkeit ist einer durchbrochenen Arbeit zu vergleichen, daran der Meister so lange feilet und bessert, bis er sie endlich gar verschwächt, welches denen geschieht, die an der Perfectie-Krankheit, wie es die Holländer nennen, darniederliegen.« Und er zitiert ein hübsches Wort der Pflegetochter von Montaigne: »Was diese Leute (die Rein-Dünkler) schrieben, wäre eine Suppe von klarem Wasser, un bouillon d'eau claire, nämlich ohne Unreinigkeit und ohne Kraft!« Bei allen Kämpfen für und wider den Purismus ist von den Fremdwörtern die Rede; bezüglich der eingebürgerten Lehnwörter besteht unter den besonnenen Streitern eine Art Waffenstillstand; die Lehnübersetzungen werden, wenn sie gelungen sind oder Glück gehabt haben, gar nicht als fremdes Lehngut betrachtet. Für die Wanderung der Begriffe sind aber die Lehnübersetzungen noch bedeutungsvoller als die Fremd- und Lehnwörter. Die wissenschaftlichen und besonders die philosophischen Begriffe werden um so schwerer als Scheinbegriffe erkannt, wenn sie in der Kleidung unseres Landes und unserer Zeit auftreten. Das Elend oder die Fremdheit der wissenschaftlichen, besonders der philosophischen Terminologie wird durch den äußeren Schein verhüllt; aber darüber soll nicht vergessen werden, daß unzählige brauchbare Begriffe erst durch die Übersetzung vertraut geworden sind, daß jedes Volk bei dem andern tief verschuldet ist. Auch für Deutschlands Verhältnis zu anderen Ländern, namentlich zu Rom und Frankreich, gilt das schon erwähnte Wort, das der Römer auf Griechenland geprägt hat: capta ferum victorem cepit. Die folgende Sammlung könnte gewiß leicht vielfach so groß gemacht werden; sie gibt noch keine genügende Vorstellung von dem durch Übersetzung eingewanderten Lehngut. Aber auch wenn ich bei einigen Wörtern, bei denen ich Lehnübersetzung annahm, geirrt haben sollte, von meinem leitenden Gedanken verführt, so bliebe noch genug übrig, um die Sprachwissenschaft zu zwingen, ihre Vorstellungen von den Prinzipien der Wortgeschichte zu revidieren. Im Wörterbuche selbst werde ich den Einfluß der Lehnübersetzung bei sehr vielen philosophischen Begriffen nachzuweisen suchen; die folgende Liste behandelt Wörter aus allen Gebieten der Sprache. (Vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch. 2)
X.
A b c; die Namen der Buchstaben dürfen in einer solchen Liste nicht fehlen; entlehnt ist bei vielen Buchstaben der Name, bei allen die äußere Form, und oft hat die Entlehnung der Form auf die Aussprache nachgewirkt (man denke besonders an u, v und w); entlehnt ist natürlich auch die Reihenfolge wie die Zahl der Buchstaben, entlehnt die Bezeichnung Alphabet; abberufen, in der ältern Rechtssprache = appellieren; wie heute noch allg. üblich Berufung; Abend, angelehnt an das spätlat. vigilia = Vorabend, weil bei den Juden der Festtag mit dem Sternenaufgang des Vorabends begann, daher Weihnachtsabend, heiliger Abend, nordd. das abscheuliche Sonnabend; Abendland frei nach Okzident (Gegensatz zu Morgenland = Orient); abgerissen = abrupte; Abgeschmack, früher = dégoût; Abgott, heute etwa soviel wie Götze, einst als Abgötter und schon im got. in Form und Bedeutung Übersetzung von ἀϑεος; abkürzen = abbreviare; ablehnen = décliner, une invitation; Abmessung, von Lessing und Kant für Dimension gebraucht; abordnen, genau = deputare; Abrede (in Abrede stellen) = dédire; abschätzig = déprécié; Abschlag = rabat; abstimmen, bei Goethe zuweilen ein Gegensatz zu beistimmen, nach dem untergegangenen déchanter; Absud, nach decoctum; Abteil, offiziell für coupé eingeführt, aber nicht durchgedrungen; abtreiben = abigere (fructum); abtun = défaire; abziehen, im 18. Jahrh. häufig für abstrahieren; Abzucht, Umdeutschung von aquaeductus, wobei vielleicht einiges Mißverständnis mitsprach; Adamsapfel, in vielen christlichen Sprachen nach gemeinsamer Legende der bekannte Teil des Kehlkopfs; albern, sicher aus al und wâr, ganz aufrichtig, schon mhd. = einfältig, das wieder vollkommen = simple; allmächtig = omnipotens, und viele andere Zusammensetzungen mit all; anbeißen, noch bei Luther im Sinne von einen Imbiß nehmen, ist in die slaw. Sprachen übersetzt worden, z. B. russ. zakuska (sollte das so schwer erklärliche schwed. sexa nicht dieses slaw. Wort sein?); anbeten,adorer; ander, im 18. Jahrh. häufig dem franz. nous autres nachgebildet, z. B. uns andere Laien; ändern, frei nach alterare; angehen,es geht an, wohl = ça va; Angelstern , früher, noch bei Schiller, Übersetzung von Polarstern; anhängig, vom Prozeß schon altlat.: judicio, causa pendente, reus pendet; Anhang = appendix; Anmerkung genau = adnotatio; Anpassung = adaptatio; anschauen usw. = intueri usw.; Ansicht, zuerst mhd. anesiht, dann im 18. Jahrh. wieder nach inspectio, inspicium gebildet; anspielen,Anspielung = allusio; Ansprache, Anspruch, wohl aus einer juristischen Bedeutung von indictio; Anstalt = institutio, institutum; Antlitz , doch wohl nicht ohne Anklang an προσωπον; antworten, von Leibniz und dann auch von Goethe im Sinne von entsprechen wie répondre; anwünschen, Versuch einer Übersetzung von adoptieren; anzeigen, vielfach im Sinne von indizieren: das ist nicht indiziert = es empfiehlt sich nicht; Anzeige, im 18. Jahrh. frei nach indicium, wofür jetzt aber Anzeichen; anziehend = franz. attirant, man vergleiche attrait; Apfelsine = pomme de Sine; Armutszeugnis = testimonium paupertatis; ärschlings, schon bei Hans Sachs, woher es Goethe übernahm; auch ärschen entsprechend franz. à recule, reculer; auch die durch Goethes Götz literarisch gewordene, sonst überaus gröbliche Aufforderung schon altfranz. je li ferai mon cul baisier; artig = gentil, von gentilis = von eben der Art; auffassen geht auf capere zurück; aufheben, in der Redensart: die Tafel aufheben wie in andern modernen Sprachen aus der Zeit, wo die Tischplatte wirklich nach dem Essen weggeräumt wurde. aufklären, mit seiner ganzen kleinen aber einflußreichen Sippe, entspricht dem franz. éclairer; la raison éclairée = Aufklärung; die deutsche Überschätzung des Wortes führte dann nur bei uns zu dem Hohnworte Aufkläricht; auflegen, veraltet steuern, eine Schuld auflegen; Auflage = impôt, russ. nalog; aufgelegt frei nach disponiert; Auflösung, von Sterbenden nach dissolutio = Abspannung der Seele; Aufnahme, im Sinne von Gedeihen doch wohl = inceptio, wobei der Gegensatz Abnahme mitwirkte; aufziehen, (eine Uhr) nach remonter, aus der Zeit, wo noch Gewichte wieder hinaufgezogen wurden; Auge, vielfach international für Augen des Würfels, der Pflanzen, auch Fettaugen der Suppe; Ausbruch = eruptio; Ausdruck, früher noch genauer Ausdrückung = expressio, ebenso Eindruck = impressio; Ausflucht = effugium; aushalten = entretenir; auslegen, genau = exponere; ausnehmend, genau = eximie; ausschließen = excludere; außerordentlich; genau = extraordinarius; Ausstellung = expositio, slaw. wystawka; Auswicklung, noch bei Kant für Entwicklung = evolutio; Auswurf = ejectamentum; Auszug, wie vieles in der Lotterie aus dem Italienischen = estratto; früher auch Verdeutschung für Extrakt im Sinne von Quintessenz: »du Auszug aller tötlich feinen Kräfte«;
Bahn, im Sinne eines breiten Tuch- oder Zeugstreifens (franz. pan, aus dem Dtsch.), wohl Übersetzung von Tapet: auf die Bahn bringen = auf das Tapet bringen; Bankbruch,bankbrüchig (das Adjektiv schon im 16. Jahrh., das Substantiv neuerdings zuerst von Campe vorgeschlagen) = ital. bancorotto; barmherzig, dessen erster Teil höchstwahrscheinlich auf biarmen zurückgeht, barmen = miserere ( arm = miser); jedenfalls gibt es schon ein got. armahairts, das genaue Übersetzung von misericors ist; Barte, neu über das ndl. = franz. les barbes de baleines, oder dtsch. und franz. aus dem Ndl.; ebenso Bart des Schlüssels = franz. barbe; befinden, sich = se trouver; befriedigen, eigentlich pacare = pagare; begehen, von kleinern Tieren, nach coire gebildet; begeistern, früher begeisten = inspirare; beglaubigen, früher beglauben von accredere, franz. accréditer; begnadigen, früher begnaden = gracier; begnügt, bei Goethe = satisfait; Genugtuung noch genauere Übersetzung von satisfactio; begreifen, seit Wolf eingebürgerte Übersetzung von concipere, mit der ganzen Sippe; Begriff = conceptus; begründen, häufig dem Sinne von fundare nachgebildet; Beichte, ursprünglich bijiht, aus be ( bi) und jehen, behaupten, bekennen, also Übersetzung von confessio; Beischläferin = concubina; beiseite = aparte; Beisitzer = assessor; belieben, in der Redensart wenn's beliebt u. dergl. = plaît-il; bequem, eigentlich = kömmlich, bekömmlich entspricht genau dem lat. conveniens; Beruf = vocatio; beschaulich übersetzt genau die vita contemplativa; Bescheid, früher jedes gerichtliche Urteil = resolutio; Beschluß = conclusio; Besitz = possessio; im 18. Jahrh. gern sich besitzen im Sinne von sich beherrschen, nach se posséder; besitzen wird zwar mit großem Scharfsinn für ein nationales Wort erklärt, ist aber doch wohl alte Lehnübersetzung von possidere, bisizzan schon in der ahd. Urkundensprache; beschränkt = borné; Besuch, im 18. Jahrh. einen Besuch geben nach früherem donner une visite; betagen, bis ins 18. Jahrh. = ajourner; beträchtlich, früher mit einer ganzen Sippe nach respectabilis; Beugung = flexio; bewegen, früher sehr häufig in der übertragenen Bedeutung von movere; Beweggrund = Motiv; man beachte auch in der Mechanik die Proportion: κινησις, motus, Bewegung; bewußt = conscius, dazu die Sippe; bißchen, von Bissen, franz. morceau vom spätlat. morsellus ( morsellus terrae = un morceau de terre); Blatt, in der Übertragung auf Papier u. dergl. dem lat. folium nachgebildet; blau, in mancherlei Bedeutung (blaues Wunder, auch wohl die blaue Blume der Romantik) dem franz. Gebrauche ( contes bleues) nachgebildet; Blaustrumpf, bas-bleu, blue stocking ist international; Blumenkohl = cavoli-fiori = choux-fleurs steht hier nur als Beispiel unzähliger Übersetzungen küchenlateinischer Neubildungen; Blumenlese = florilegium = ἀνϑολογια; Blut, die ganze Sippe aus der Humoralpathologie wie warmes, kaltes, leichtes, schweres, böses Blut ist aus dem Galenos übersetzt; Bock, noch bei Luther Übersetzung für lat. aries, wofür jetzt etwa Sturm bock; Ramme geht auf älteres Ramm (Schafbock) zurück; Bohemerweib bei Schiller für Zigeunerin = bohémienne; Brauch = usus; brennende Frage = question brûlante; Brief, bekanntlich eine kurze Urkunde, aus lat. breve; in der Bedeutung epistola herrschte lange die angelehnte Übersetzung Sendbrief, Sendschreiben; Bruch, in vielen Bedeutungen, bes. medizinisch Übersetzung von fractura; aber Bruchstück nach fragmentum; Bruder, nach der Mönchsanrede frater Titelübersetzung: von den Mönchsorden weiter und weiter auf Verbindungen ausgedehnt wie Freimaurer, Geistliche ( Amtsbruder), Soldaten ( Waffenbruder), Studenten ( Saufbruder, Korpsbruder); brüsten, sich = se rengorger; Bube, im Kartenspiel die gleichen Bezeichnungen: franz. valet, engl. knight; Bube = Knecht; seltsamerweise die Bedeutung Schurke ähnl. im engl. knave; Bürger macht als Übersetzung von civis alle Wandlungen des politischen Begriffs durch, von civis romanus bis citoyen; die ganze Sippe ist reich an Lehnübersetzungen: bürgerliches Recht = jus civile, Bürgerkrieg bellum civile usw.; Busen, in Meerbusen wohl an das lat. sinus angelehnt; Busen hängt wohl enge mit Bausch zusammen;
Credo; das Anfangswort des Bekenntnisses ist zu einem Substantiv für das Bekenntnis geworden und als Fremdwort von uns übernommen wie andere substantivierte Anfangsworte: Dies irae, doremi, Stabat mater, Paternoster (Vaterunser);
darlegen,darsetzen = exponere; Darre (Rückenmarks-), ital. seccatojo, lat. tabes; Dasein, seit Wolf für existentia, το τι εἰναι; Ding; die Proportion Ding (eigentlich Verhandlung): Sache = causa: chose ist offenbar; sehr merkwürdig die Ähnlichkeit von Dingsda und chose; Doppellaut = diphthongus; Dreieck, und ähnlich sehr viele andre Ausdrücke der Geometrie (» Erdmessung« ist aber ganz was andres geworden) aus triangulum (früher Dreiangel), das wieder τριγωνον übersetzt; Durchmesser = Diameter (διαμετρος sc. γραμμη
echt (von ehe = Gesetz) war ursprünglich eine genaue Übersetzung von legitimus, z. B. ein echter Sohn; Einbildung = imaginatio; Einfluß usw. = influxus usw.; einführen, einleiten = introducere; einhellig = consonans; Einherrschaft, von Goethe für Monarchie versucht; einscheiden, im 18. Jahrh. für engainer, »wieder in die Scheide stecken« gewagt; rengainer sagen die Franzosen bildlich für: ein Wort, das schon auf der Zungenspitze sitzt, unterdrücken; Eisenbahn = chemin de fer = ferrovia; Elend, sehr schön eigentlich die Fremde; und elend könnte recht gut eine uralte Übersetzung von captivus sein, das zu chétif genau den gleichen Bedeutungswandel durchgemacht hätte; aber captivus hat bei späteren Autoren schon die Bedeutung verkrüppelt, schlecht; empfangen für die Befruchtung des Weibes genau nach concipere gebildet; empfehlen = commendare von mandare, anvertrauen, befehlen; empfindsam, findet sich schon früher; ist aber zuerst mit Bewußtsein von Lessing für Bode's Übersetzung des Sterneschen sentimental (journey) vorgeschlagen und so eingebürgert: endlich hat mit Ende die Übertragungen des Begriffs vom Raume auf die Zeit (nicht umgekehrt) mitgemacht, übersetzt im 18. Jahrh. das Adjektiv finitum, fini (unendlich = infinitum); endlich = enfin; Endursache = causa finalis; entarten = degenerare, schon vor Darwin völlig in unserem Sinne; entdecken = découvrir; entfalten = explicare; entgegnen, von Goethe gern, wie sonst begegnen, nach franz. rencontrer, im Sinne von entgegengehen gebraucht; enthaupten = décapiter; entscheiden, von Goethe einmal für franz. dégaîner gewagt; entsetzen = destituere; entsprechen, uns ganz geläufig; aber Wieland wird von Lessing (im 14. Literaturbriefe) belobt, weil er diese schweizerische Übersetzung für respondere, répondre gebraucht (das spondere, in respondere, empfanden schon die Lateiner als sprechen, trotzdem die Ähnlichkeit mit versprechen natürlich nur deutsch ist; man beachte eine Stelle in den Briefen des Seneca: tibi non rescribam, sed respondeam, ich werde nicht schriftlich, sondern mündlich antworten); entstirnt, von Klopstock nach effronté gewagt, ohne Erfolg; eiserne Stirn; entwerfen, nach projicere (projeter) über projectare erst gebildet, als das Wort in der Geometrie den Sinn von projizieren angenommen hatte; entwickeln = evolvere; erfahren, nach experiri (natürlich nicht von perire, sondern aus dem griech. πειρα entstanden) in sehr alter Zeit gebildet, als fahren noch die allgemeine Bedeutung sich bewegen hatte; Erfindung = inventio (seit Opitz); Erfolg, doch wohl Übersetzung von successus, das schon lat. die zeitliche Aufeinander folge und den guten Fortgang bedeuten konnte; erhaben, erst im 18. Jahrh. nach excelsus gebildet, obgleich celsus den gleichen Sinn hatte; aber erheblich, unerheblich in der Kanzleisprache nach relevant, irrelevant übersetzt; erhören, unerhört = inauditum; erkennen, 1. im Sinne von beischlafen nach dem Hebräischen, 2. im Sinne von dankbar anerkennen, auch erkenntlich nach dem franz. reconnaître; erobern, man denke an superare und beachte die Gleichung ober = super; erörtern, hängt jedenfalls mit τοπος zusammen; Errungenschaft, ein 1848er Wort, nach acquisition; schon im lat. bezeichnete acquirere besonders ein mühevolles Erwerben; erscheinen usw. = apparere; erschöpfen, in wirklichem wie in figürlichem Sinne = exhaurire, épuiser; unerschütterlich = inébranlable; erst; man beachte, daß es von eins ebensowenig eine Ordnungszahl gibt als von unus; daß erst ebenso eine Art Superlativ von ehe ist, wie primus von einem alten Adverb pris; dann wird die Vorstellung nicht mehr befremden, daß erst eine sehr frühe Übersetzung von primus sein könnte; dazu halte man noch die Sippe: Fürst und princeps, Erstling und primitiae (engl. firstling), Erstgeborener und primogenitus usw.; erstrecken, sich = porrigere, extendere, s'étendre;ersuchen = requirere, engl. to request ; erteilen = impertire, von in-pars, engl. noch to impart; erübrigen = reliquum habere, facere; erwägen = perpendere; die ganze weit verzweigte Sippe ist in Erwägung zu ziehen: lat. pensare, wovon franz. penser, ponderare, wovon engl. to ponder; auch deliberare; erweichen, nach mollire, molliare (mouillé), besonders: Weichtier für molluscum; erzählen, entspricht dem ital. raccontare, franz. raconter, dessen conter von computare, zusammenzählen ( putare in putzen als Lehnwort erhalten), nur im Franz. als compter und conter getrennt, nicht in der Aussprache: man halte dazu zurechnen = imputare; erziehen = educare, von ducere, ziehen, wie auch Her zog = dux usw.; Eselsbrücke = pons asini, pont aux ânes, zu der Eselsschelte des mittelalterlichen Schulunterrichts gehörig; wenn wirklich zuerst ein Buch Buridans so genannt wurde, wäre es eine Bosheit der rückständigen Wortrealisten gegen den kühnen Schüler des Nominalisten Occam gewesen;
Fall, als Übersetzung von casus in der Grammatik; Falte;vervielfältigen = multiplicare; einfältig = simplex; Feder, international für Stahlfeder: plume, pen; Fegefeuer,purgatorium; fegen = reinigen, läutern; feien, erst vor etwa 100 Jahren gebildet nach it. fatare, franz. féer; Feige zeigen (man denke an Ohr feige), nach faire la figue; bekannter ist ital. far la fica; fein, im neueren Sprachgebrauch von franz. fin, ital. fino beeinflußt; fern, in Zusammensetzungen für tele-; Finsterling = Obscurant; Fliegengott = dem Baalsebub der Septuaginta; Flügel, als Seitenteil eines Gebäudes, eines Heeres durch Übersetzungen von ala international; Fluß, früher als Übersetzung von rheuma sehr verbreitet; jetzt noch in den sinnlos gewordenen Zusammensetzungen wie Schlag fluß; folgen, in vielen logischen Anwendungsweisen ( Folgesatz, folglich, folgerecht für konsequent, folgern) nach lat. sequi; Frau, vielfach angelehnt an dame, domina, weil das Wort ursprünglich den Sinn Herrin hatte; alte Übersetzung z. B. unsere (liebe) Frau = nôtre Dame; fromme Wünsche = pia desideria; Goethe gibt einmal pietas oder Pietät mit Frömmigkeit wieder; Fronleichnam genau = corpus Domini; Fruchtnießung,Nießbrauch = usus fructus; Füllhorn = cornu copiae; Fürwort = pronomen;
schwarz gallig = melancholisch; früher auch substantivisch: Schwarze Galle; gebrechlich; schon im Adjektiv mischen sich wenig bewußt die Bedeutungen: 1. zerbrechlich von brechen, fragilis, 2. mangelhaft, kränklich, unvollkommen, von Gebrechen. Gebrechlichkeit, fragilitas, zumeist im Sinne von Unvollkommenheit, schon bei Eckhart und Kaisersberg. Kant: gebrechliche Erkenntnis (der Menschen von der Gottheit), Gebrechlichkeit der menschlichen Natur. Wohl nach ihm Kleist: »um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen«. Rückert: »unserer Sprache Gebrechlichkeit machte gar oft mich stutzen«. Frailty, thy name is woman (Schlegel: Schwachheit, dein Nam' ist Weib), hatte Wieland übersetzt: Gebrechlichkeit, usw.; Gedeck = couvert; Gefahr laufen, nach courir risque gebildet; ist's gefällig? = plaît-il? Gefühl, in ganzen Gruppen nach sentiment gebildet; Gegend, wohl eher nach dem älteren contrada, als nach dem jüngeren contrée; Gegenfüßler = Antipode; Gegensatz, in der Musik ursprünglich = Antistrophe; Gegenstand, nach vielen besseren Versuchen ( Gegenwurf = objectum) Übersetzung eines obstantia; Gegner, ursprünglich im Prozeß, = adversarius; Gegenüber, unter dem Einfluß von franz. vis-à-vis, substantivisch gebraucht, auch grammatisch verändert; Gehör geben = Audienz geben; Geist; der Sprachgebrauch übersetzt nacheinander hebr. ruach, griech. πνευμα, lat. spiritus, franz. esprit; libre penseur wird zu Freigeist, bel-esprit zu Schöngeist; in Salmiak geist usw. wieder spätlat. spiritus im Sinne von Essenz; geläufig = couremment; Gelegenheit, ursprünglich = situation; dann, neuerdings, Übersetzung von franz. occasion im Sinne von Gelegenheitskauf; gemein, wohl nicht verwandt mit communis, sondern daraus entlehnt; später vielfach wieder als Übersetzung benutzt: gemein machen – veröffentlichen ( publizieren) = communizieren; Gemeinwesen = res publica; Gemeingeist = engl. public spirit; Gemeinspruch (früher Gemein ort) = locus communis; geneigt = inclinatus, penché; Genugtuung = satisfaction; Geschichte, die Einzahl unter dem Einfluß von historia; besonders aber Natur geschichte, jetzt sinnlos geworden, nach historia naturalis; Geschlecht, oft Übersetzung von genus; Geschmack, als term. techn. der Ästhetik Übersetzung von franz. goût; Geselle, wer mit dem andern den Saal (eigentlich: den Flur) teilt, also genaue Übersetzung von ital. camerata, franz. camarade, engl. comrade; es ist also von seinem Modellwort Kamerad verdrängt worden; Gesicht, vielfach mit vue übereinstimmend ( en vue); zweites Gesicht übersetzt second sight; Gesinde (von mhd. sint = Weg) hat eine überraschende Proportion zu comitatus; comes (der desselben Weges geht) hatte schon im Altertum ( comites) den Sinn, den wir durch die Lehnübersetzung suite, Gefolge hervorheben; daß der Bedeutungswandel comes zu comte, Graf, gemacht hat, stimmt gar nicht übel zum vornehmen Gebrauch der Lateiner: die comites sind das Gesinde der Könige; Gestirnung, Versuch einer Übersetzung von constellatio; Getreide, doch wohl Übersetzung eines alten ablata, Ertrag, wovon franz. blé herkommt; Gevatter = compater ( compère); geviert = quadratus; Gewalt, höhere = vis major = force majeure; Gewerbe, wohl in sehr alter Zeit gebildete Übersetzung von industria; gewerbig südwd. heute noch = betriebsam, industrieux; industrius, eigentlich indu-starius, inständig; Gewicht, schon im lat. pondus auch figürlich, wonach unser ein Mann von Gewicht; unwägbar = imponderabilis; für die Gewichtseinheit und (engl.) Münzeinheit direkt als Lehnwort übernommen: Pfund, pound; dann wieder Zehnpfünder = tenpounder; auf einem andern Wege engl. wie franz. livre; gewiß, früher auch sicher als Übersetzung von certus, franz. certain, eigentlich einer, dessen Identität mir nicht gewiß ist; Gewissen (mhd. diu gewizzene) nach lat. conscientia gebildet; es gibt = datur; glauben, ursprünglich = credere, kreditieren; in religiösem Sinne dann vielleicht an credo angelehnt; gleichgültig, eigentlich = aequivalent; gleitende Reime (z. B. fliehenden, ziehenden) = versi sdruccioli, aus der italienischen Poetik übersetzt; Glück, bei guten und schlechten Dichtern sehr oft zur Übersetzung der personifizierten Fortuna geworden; Gnadenstoß = coup de grâce; gotisch; bemerkenswerter Fall, daß ein deutsches Wort als Lehnwort in die romanischen Sprachen überging, um viel später als französisches Lehnwort ins Deutsche zurückzukehren; oder vielmehr: der deutsche Volksname erlitt im Romanischen einen Bedeutungswandel, der dann als bastardierter Bedeutungswandel zurückkehrte; die Goten waren dem italienischen Mittelalter die Zerstörer Roms; Gotico war barbarisch, roh; zur Renaissancezeit empfand man in Italien insbesondere den Spitzbogenstil, den man für deutsch hielt, als roh und barbarisch, gekünstelt, abgeschmackt, veraltet (im Gegensatz zur damals ganz modernen Nachahmung der Antike), und nannte ihn den gotischen Stil; die Frakturschrift, die eckige Mönchsschrift, die noch vor kurzem die Modeschrift des ganzen gelehrten Abendlandes gewesen war, hieß jetzt, nach Wiederaufnahme der Antiqua, die gotische Schrift, wohl gemerkt, ursprünglich nur bei den Romanen; Fischart beweist in seiner Bearbeitung des Gargantua, da er (1575) die Worte Rabelais »il lui apprenait à écrire gothiquement« mit »man habe ihn gothisch schreiben gelehrt« übersetzt, daß er unter gotisch ganz ehrlich die gotischen Schriftzeichen des Ulfilas versteht. In dieser tadelnden Bedeutung von barbarisch oder abgeschmackt war das Wort in der französischen und englischen Literatur üblich und Übersetzungen führten es so bis weit ins 18. Jahrhundert der deutschen Sprache zu; so wurde langsam im Deutschen der Name der Altvordern zum Schimpf; trotzdem bestand die Wortverbindung gotische Baukunst weiter fort, und wenn auch der Sinn ursprünglich: barbarische, geschmacklose Baukunst war, so kam der Bezeichnung doch allmählich die Änderung des Kunstideals zugute. Der junge Herder, unter dem Einflusse von Rousseau, empfand schon 1769 das gotische Große. Um dieselbe Zeit bewundert auch Möser das Kühne und Prächtige der gotischen Stücke. Und bald darauf schreibt der junge Goethe (1772) in Straßburg den flamboyanten Aufsatz: »Von deutscher Baukunst«. Zu beachten: Das Wort gotisch war durch den Bedeutungswandel so schimpflich geworden, daß Goethe den Terminus gotische Baukunst nicht glaubte brauchen zu können. Er ist sich dessen bewußt: »Unter die Rubrik gotisch, gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonymischen Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht gescheiter als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt, hieß alles gotisch, was nicht in mein System paßte.« Also dürfe das Werk des hl. Erwin nicht gotisch heißen: »Das ist Deutsche Baukunst, unsere Baukunst, da der Italiener sich keiner eigenen rühmen darf, viel weniger der Franzos.« So übersetzt Goethe mit deutsch das doppelt falsch gebrauchte gotisch, um seinen Sinn ins Gegenteil zu verkehren. Gott; ich glaube es überzeugend nachgewiesen zu haben, daß nicht Götze von Gott herkommt, sondern Gott ursprünglich den Sinn von Götze gehabt hat, welches Lehnübersetzung des biblischen conflatile, χωνευτον, hebr. pesel, das gegossene Bild ist (vgl. Art. Gott); groß, wo es einen mächtigen Eroberer fast wie ein Titel bezeichnet, eine Übersetzung des Brauchs, der im Abendlande bei Alexander dem Großen beginnt; Karl der Große ist genau nach Alexander Magnus gebildet, franz. Charlemagne wird zum Eigennamen; Alexander selbst erhielt den Eigennamen offenbar in Nachahmung orientalischer Sprache nach dem Titel des Perserkönigs, der griech. μεγας βασιλευς hieß; großherzig = magnanimus; großsprecherisch = magniloquens; Grund, vielfach an fundus angelehnt; gründen = fundare; von Grund aus – funditus; Großgrundbesitz = Latifundienbesitz; zugrunde gehen = andar a fondo; Grünspan = viride Hispanicum; Sauregurkenzeit, nach niederländ. komkommertijd; gut, im einzelnen schwer zu erkennen, in welcher Sprache das Modell zu suchen; bon (im Bankwesen), abonner, vergüten, Guthaben; Gutsele, bonbon; aber höchstes Gut = summum bonum;
Haar,auf ein Haar = to a hair, to a pile; Haarspalterei = hair-splitting; Haarstern = κομητης = stella crinita; haben; die Verwendung von haben und sein als sog. Hilfsverben, fast gleichmäßig in den romanischen und germanischen Sprachen, muß ein gemeinsames Modell haben; halb, in vielen Zusammensetzungen = ἡμι = semi = demi; Halle, neuerdings unter englischem Einfluß für einen geschlossenen Saal; Hals über Kopf, nicht ganz = head over heels; Halsberge = necklace; Hand, international für Handschrift; kurzerhand = brevi manu; Handstreich = coup de main; Handschrift = manuscriptum (seit Zesen); Hang = inclinatio = penchant; κλιμα, die Neigung des Himmels zur Erde, im lat. ebenfalls durch inclinatio wiedergegeben; harmlos, Nachbildung von engl. harmless; Haupt, wohl Lehnwort, nicht mit caput verwandt; Zählen nach Kopfzahl überall; Hauptgut = Kapital; Hauptstadt = Kapitale; Hauptort = chef-lieu; Hauptstück = Kapitel; Hauptstück (oberstes Stück der Säule) = Kapitell; Haus, von vornehmen Familien international; Oberhaus, Unterhaus, frei nach englischem Modell, mit der Sache der Name; heben, aus der Taufe, Entlehnung aus alter Zeit, wo noch untergetaucht und gehoben wurde; Heide, ursprüngl. adj. heiden, wohl trotz aller Einreden Lehnübersetzung von paganus, dies wieder vom hebr. am haerez; bezeichnete im späteren Mittelalter besonders die Mohammedaner; daher Heidekorn (früher Heidenkorn), Buchweizen = blé sarrazin; Heiland, uralt für salvator = σωτηρ; Heiltum für Sanktuarium, Reliquie, versucht; Heim, als Substantivum dem engl. home nachgebildet; Heischesatz, im 18. Jahrh. für Postulat üblich; es heißt, nicht alt für on dit, si dice; Heißsporn = Hotspur; Held, eines Romans, erst seit dem 18. Jahrh, nach dem Sprachgebrauch der französischen Poetik, die natürlich zunächst an die Heroen des Epos dachte; helldunkel, techn. Ausdruck der Maler = clair-obscur = chiaroscuro; Herkunft usw. = Provenienz; Herr, verrät sich durch alten Komparativ als Übersetzung von senior, seigneur; in Titulaturen vielfach entlehnt; herrjemine, wohl aus Herr Je(su Do)mine, wobei irgendein Scherz vergessen oder verloren ist; Herz, die Vorstellung, daß es der Sitz des Mutes ist, international entlehnt, wer weiß woher; Farbe im Kartenspiel = franz. cœur; cor meum (schon bei Plautus) = mein Herz; im Sinne des Innersten ( Herz der Salatstaude, des Salat kopfes) auch franz. ( cœur d'un choux = die Herzblätter) und engl. core; Herz übrigens wohl Lehnwort; heute, hiu tagu = hodie, hoc die; vgl. auch heuer, hiu jâru; Himmel, aus der antiken Vorstellung die völlig sinnlos gewordenen Redensarten vom dritten, vom siebenten Himmel entlehnt; himmelweit = toto coelo; himmelan = in coelum (meinetwegen cælum); in Hinsicht = au regard = in riguardo; Hintere = le derrière; Hinterwäldler = backwoodsman; Hintergedanke = arrière-pensée; Hirnschale = testa, theka cerebri; und so sind fast alle deutschen Wörter der Anatomie Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen, das einst aus dem Griechischen, später aus dem Arabischen übersetzt hatte (vgl. Einleitung S. XXXVII f.); hirnverbrannt, neu für cerveau brûlé; hoch, international und uralt für die Lage der Töne; neu international der Titel Hoheit, Altesse, Highness; Hof, mit der ganzen Sippe nach cour geformt: Hof halten, machen; Gerichts hof; höflich = courtois = ital. cortese, einst der Lieblingsausdruck der feinen Welt (aus höfisch wurde hübsch); Hofmann = courtisan, zu Höfling und im Femininum noch weiter heruntergekommen; hofieren (im Sinne: seine Notdurft verrichten) wohl ein derber deutscher Spaß: zu Hofe gehen; Hölle, da das Wort älter ist als das Christentum der Germanen, doch wohl eine Lehnübersetzung von infernum; Honigmonat = lune de miel; beides nach engl. honeymoon; hören; offenbar Hörensagen = hear-say = ouï-dire; hört eine läppische Entlehnung des hear im englischen Parlament; hörig = cliens, im lat. Lehnwort aus griech. κλυειν; Humor, Lehnwort aus dem Lat.; aber Betonung aus dem Franz., Bedeutung aus dem Engl. entlehnt; Hunds(stern)tage = dies caniculares; eine ganze Menge von Wörtern, die aus der Sternkunde in die Gemeinsprache eingedrungen sind ( Wagen, Bär, Tierkreis), sind ebensolche Übersetzungen; Hure; merere entspricht so gut dem nd. heuren, um Sold dienen, daß Hure recht gut eine Übersetzung von meretrix sein könnte;
Ich, Ichheit von den Mystikern und dann von Fichte für den erkenntnistheoretischen Egoismus gebraucht; Ichsucht von Jean Paul für den moralischen; ihr als Anrede; die gegenwärtige Höflichkeitsmode verlangt, daß die angeredete Person in der Mehrzahl anstatt in der Einzahl und in der dritten Person anstatt in der zweiten gedacht werde; die Anwendung der Mehrzahl ging im Deutschen, geht noch in andern modernen Sprachen auf einen spätlateinischen Gebrauch zurück, auf den Plural der Majestät, der vielleicht (weil mitunter mehrere Kaiser zugleich regierten) ursprünglich ein Plural der Bescheidenheit war und sich erst später zum byzantinischen Plural ausbildete; zwischen Privatpersonen kam die Mode erst viel später auf, das Ihrzen des Geistlichen z. B. läßt sich aus Beichtformeln erst im 12. Jahrhundert nachweisen; hinter der Anrede in der dritten Person steckt wohl das Mitverstehen eines Titels, wie im Italienischen; Fürstlichkeiten anzureden, ohne die Syntax gröblich zu verletzen, ist im Deutschen eine Kunst, die schwer zu lernen ist; inständig = instans; früher ebenso instehend im Sinne von bevorstehend; Irrsterne (bei Luther irrige Sterne), jetzt auch Wandelsterne = Planeten; irren hieß ursprünglich, man denke auch an franz. Juif errant, unstet umherschweifen;
Kammer, franz. der Gebrauch: Zimmer eines Fürsten und fürstliche Angelegenheiten: Kammermusik, Kammerherr usw.; franz. auch Kammer (erste und zweite) für das engl. Ober- und Unterhaus; Dunkelkammer neuerdings für camera obscura; keck, früher lebhaft, lebendig; Quecksilber (früher Kecksilber) = vivum argentum, franz. vif-argent; Lessing empfiehlt für Quecksilber die Neuerung Triebsilber, nach dem Muster von quick-sand = Triebsand; Kegel, ziemlich spät als Übersetzung von conus eingeführt; Kelch, Lehnwort aus lat. calix, aber im Sinne von Blütenkelch nach dem griech. Original καλυξ gewandelt; Kern, noch im 18. Jahrh. in Büchertiteln für compendium = nux; klein; meine Kleine = ma petite; Kleinigkeiten, im 18. Jahrh. = petite poésie als Buchtitel beliebt; zur selben Zeit Kleinmeister = petit-maître; Klemmer oder (süddeutsch) Zwicker, nordd. Kneifer oder Nasenquetscher, Übersetzungen zur Auswahl für pince-nez; Klinggedicht, im 17. Jahrh. eingeführt für Sonette; Knie; auf die Knie jemands legen, von Goethe genau nach Homeros gewagt, im Sinne: von jemand abhängig machen; Knüttelvers; nach der Bedeutung undenkbar, daß es Übersetzung von versus rhopalicus sei; ich glaube nachgewiesen zu haben, daß es vielmehr Übersetzung des maccaronischen Verses ist (vgl. Art. Poesie); Kohl; Blumenkohl = cavolo fiore, wofür man in Österreich und auch vielfach südwestdeutsch Karfiol sagt; kosten, bekanntlich zwei ganz verschiedene Worte von gustare und constare, goûter und coûter; cela coûte im 18. Jahrh. häufig übersetzt das kostet, ohne Preisangabe; zur selben Zeit kostbar = précieux, im Sinne von affektiert; Kranz, international für den Siegespreis mit der Sitte entlehnt; ähnlich das Lehn- und Modellwort Krone; Krebs, die Übertragung auf das Sternbild und auf die Krankheit aus dem lat. übernommen; Kreis, im Sinne einer geschlossenen Gesellschaft als Übersetzung wie als Lehnwort ( Zirkel) nach franz. cercle; Zirkelschluß frei nach circulus vitiosus; Wendekreis = circulus tropicus; Kuckuck; wenn man sich von der Suggestion nicht täuschen läßt, daß der Vogel diesen Ruf wirklich ausstoße, wirklich diese beiden Silben artikuliere, so entdeckt man, daß da sogar eine Klangnachahmung entlehnt worden ist; Kunde, nach den holl. Puristen für scientia ins Deutsche aufgenommen;
laden, ein Geschütz laden, später ohne Objekt, nach charger, caricare übersetzt; Langmut = longanimitas; läßlich, frei übersetzt nach venialis, péché véniel; Laune, beruht auf Entlehnung des Aberglaubens oder der geheimnisvollen Lehre, daß der Mond die Stimmung beeinflusse; unter dem Monde = sublunarisch; Läuterung, im 18. Jahrh. als Übersetzung von Katharsis versucht; Lebensbeschreibung = Biographie; Leber, in vielen volkstümlichen Wendungen (über die Leber kriechen) von der uralten Vorstellung entlehnt, die Leber sei der Sitz der Leidenschaft; leiden, vielfach direkt und indirekt Übersetzung von pati; der Leidende = der Patient; Leidenschaft = passion; Mitleid = compassion; leidlich = passable; Leiter, übertragen Tonleiter = scala; lesen, für das Lesen einer Schrift doch wohl keck nach legere übersetzt; der Abc-Schütz bei den Alten las wohl die Lettern wie gute Erbsen zusammen; Liebhaber, früher Übersetzung von amateur, Dilettant; Linie, im Militärwesen und in der Genealogie nach franz. ligne; links, jetzt linkisch = franz. gauche; Linse, Lehnwort nach lens, dann aber für die Linse im Auge, für die Wasser linse, für die optischen Gläser doch wieder Lehnübersetzung; Gott lob = laus deo; lösen, wirklich und figürlich einen Knoten auflösen, international nach solvere; dazu lösende Mittel = solventia; Löwenanteil = pars leonina (ebenso societas leonina, contrat-léonien) nach der international gewordenen Fabel des Aisopos; Löwenherz = engl. lionhearted; Löwenzahn = leontodon; in der populären Botanik unzählige Übersetzungen der offiziellen Pflanzennamen; Luchs, sein scharfes Gesicht international sprichwörtlich; Luder, ebenso wie Aas, internationales Schimpfwort ( charogne, Chaib); vielleicht hatte auch Aas wie Luder zuerst die Bedeutung Lockspeise; Luft, freie Luft wohl = air libre; lüften = aérer;
machen, Geld machen = make money; Mache, neue Bildung nach Façon; Macher = faiseur; gemachter Mann = (aber nicht ganz) homme fait; Macht, im politischen Sinne = puissance; malerisch = pittoresco; man, doch wohl wie franz. on ( Mann = homo = homme = on); Männin im Sinne von Weibchen bei Luther, nach dem virago der Vulgata gebildet; Maß, in vielfacher Verwendung = modus, moderare, moderation; Maus, als Bezeichnung des starken Muskels der Hand Neuübersetzung aus mus; Mehrzahl, freie Übersetzung von pluralis, Mehrheit von Majorität; Meister, Parallelbildung zu maître von magister, aber dann wieder für den Begriff der Meisterschaft teils dem ital. maestro, teils dem franz. maître nachgebildet; meisterhaft = franz. magistral; maîtriser = meistern; Milchstraße = via lactea; minderjährig = minorenn; Mißbündnis, öfter für Mißheirat = mésalliance; mißhellig = dissonans wie mitlautend = consonans; mitt, wohl Lehnwort nach medius; schon ahd. mittemo himile = in medio coelo; häufig für Zeitbezeichnungen, z. B. Mittag, eigentl. mittemtage, wie meridies eigentl. medidies; Mitte und Mittel häufig im Sinne von Zwischenstufe, Zwischenglied wie milieu ( medius locus); Mittel (zum Zweck) = remedium; moyen, mittelmäßig = mediocris; mittelländisch = (hie und da) für binnenländisch, wie lat. mediterraneus, wogegen mediterraneum mare bei uns (außer mittelländisches) auch Mittelmeer heißt; Mittelzeit, jetzt Mittelalter = medium aevum; Mutter, durch bastardierten Bedeutungswandel häufiger Ersatz für mater: Schrauben mutter, Gebär mutter, matrix;
Nabel, von Voss als Übersetzung des homerischen ὀμφαλος geradezu für Schildbuckel gebraucht; nach, im Sinne unmittelbar hinter, in vielen Sprachen entsprechend: Nachgeschmack = arrière-goût, after-taste; arrière-faix = afterbirth = Nachgeburt; Nachsaison = arrière-saison; oft durch hinter ersetzt: Hintergedanke = arrière-pensée; Nachtschatten = engl. night-shade; nackt, international etwa für nackte Wahrheit; Name, ursprünglich Lehnwort, dann Lehnübersetzung in besondern Bedeutungen: für ein Volk ( nomen Romanum = was Römer heißt), für den berühmten Namen (einen Namen machen, haben = nomen habere); Nase, in figürlicher Verwendung ( Nase hoch tragen usw.) international; Natur, als Lehnwort anerkannt, weil es, durch undeutsche Betonung, Fremdwort geblieben ist; trotzdem nachher vielfach an lat. und franz. Redensarten wieder neu angelehnt: Gegensatz von Kultur; nach der Natur zeichnen; Mutter Natur; natürlich als Adverbium international; natürlich = illegitim ( natürlicher Sohn) nach franz.; man könnte auch natürliche Ehe sagen; nehmen, eine Mahlzeit, ein Glas Wein, wohl nach franz. prendre; nervös, jetzt Fremdwort; in der alten Bedeutung ( sehnig, kräftig) wurde nerveux durch nervig, nervicht wiedergegeben; Nestel; einem die Nestel knüpfen = nouer l'aiguillette, einen zeugungsunfähig machen, nach entlehntem Aberglauben; neu, vielfach international: Testament, Zeit, in Büchertiteln ( nouvelle Héloïse), auch: ein neuer Horaz usw.; Neuerer = novator; neugierig = niederländ. niewsbegeerig; Neuheit = nouveauté; Neuling = homo novus; Neustadt, ursprünglich ein Appellativum, das dann bei vielen Wörtern zum übersetzten Eigennamen wird; Neapolis; Novohrad über Neuenburg aus Neufchâtel; nichts; die Übereinstimmung zwischen nicht ( nie wicht), nihil (ne filum) und ne pas (passum) ist so groß, daß man geneigt wird, an eine freie Lehnübersetzung zu denken; Niederlande = pays-bas; Nonnenfürzchen = pets-de-nonne; Nordsee, früher Nordersee; vom niederländischen Gesichtspunkte gesehen und so herübergekommen; Gegensatz: Zuidersee, Südsee; deutsch war: Westersee, Gegensatz: Ostersee, Ostsee; Nuß, Wissenschaft in einer Nuß = in nuce;
Ochsenauge, landschaftlich für Dachfenster = œil-de-bœuf; Offensünder; τελωναι, uns durch Luthers Übersetzung als Zöllner in der Bibelsprache so vertraut, war schon in der Itala, dann auch in der Vulgata durch publicani falsch wiedergegeben worden; die deutschen Theologen des Mittelalters sahen aus dem Zusammenhange, daß Sünder gemeint wären, beachteten außerdem das offenbar zugrunde liegende Wort publicus und kamen so für publicani zu der grausamen Lehnübersetzung offensuntari, die sich in der Form Offensünder noch in der anonymen deutschen Bibel findet, die unmittelbar vor dem Erscheinen von Luthers Übersetzung wieder neu aufgelegt wurde; öffentlich, in vielen Verbindungen langsam zu einer Lehnübersetzung von publicus geworden; oh mag eine gemeinmenschliche Interjektion sein, die Verbindung mit dem Genetiv (»oh des armen Papiers, das ich verschwenden muß«, Lessing) aber sicherlich gelehrte Lehnübersetzung aus dem Lateinischen; Orden, ursprünglich Lehnwort, dann zur Lehnübersetzung verwandt für die ganze Gruppe von ordo, ordre: Kloster-, aber auch Ritter-, Sprachverbesserer- (Palmen-). Freimaurer-Orden; Ort, eigentlich Spitze, später (jetzt längst nicht mehr) vielfach Übersetzung von τοπος, in Logik und Rhetorik; jetzt nur noch etwa in der Astronomie;
Pforte, die hohe, für den Hof des Sultans internationale Übersetzung aus dem Türk. (Arab.); Plan, im Sinne von Entwurf erst im 18. Jahrhundert aus dem Französischen übernommen, wo plan auch einen Grundriß (zur künftigen Ausführung) bedeutete; wird vom Sprachgefühl nicht als Fremdgut, sondern als Übersetzung empfunden, vielleicht wegen des Nasals im Franz.; Platz, ebenso Lehnwort aus franz. place, dann in vielen Bedeutungen wegen der ungleichen Aussprache und Länge als Übersetzung empfunden; Preis, zuerst aus franz. prix aufgenommen für ausgesetzten Preis, Lohn, Lob ( preisen); dann erst, seit dem 17. Jahrh. noch einmal und zwar jetzt als Übersetzung aufgenommen im üblichen Sinn der Prosa: Geldwert; ein hübscher Fall von Lehn-Doublette; Presse, ebenso eine Lehn-Doublette; wie lat. pressura (von premere) bedeutete franz. presse die Tätigkeit und das Ergebnis des Drückens, auch die Maschine, also Gedränge, Kelter; nachher besonders die Buchdruckmaschine, ihr Erzeugnis als Ganzes, die Presse als achte Großmacht; und wurde so in Deutschland rezipiert; Puls, international fast gleiche Übernahme des Bedeutungswandels von der Erscheinung des Blutschlages ( pulsare von pellere) zu der Körperstelle, an der sie leicht zu beobachten ist; Punkt, Lehnwort mit nachfolgender Anlehnung an besondere Redensarten: springender Punkt = punctum saliens; schon altlat. punctum (eigentlich: Stich) soviel wie Abschnitt, daher Punkt für Punkt; Puppe, mit seiner ganzen großen Sippe noch nicht klargestellt; nicht, wie es mit puer, wie mit pupa (Brustwarze) zusammenhängt; die Anwendung auf den Übergangszustand der Insekten aus franz. poupée; die Metapher Pupille (weil man in der Pupille des andern sich selbst wie ein Püppchen sieht) ist schon lateinisch, pupula eine Lehnübersetzung von κορη;
Quartier; im Franz. geht der Weg des Bedeutungswandels ganz genau nachweisbar von Viertel über Stadtviertel zu Wohnung, Unterkunft; wer in der Schlacht den Besiegten nicht erschlug, mußte ihm natürlich, als einem Gefangenen, Unterkunft bieten, daher donner quartier = das Leben schenken, Pardon geben ( Sans-Quartier = erbarmungslos); davon unser Quartier geben, um Quartier bitten halbe Lehnübersetzung, die unser Sprachgefühl, im Vergleiche mit Pardon, als eine ganze empfindet;
am Rande, sich verstehen; irgend eine alte Redensart der Kanzleisprache nannte in margine solche Erledigungen, die kurz am Rande der Eingabe mit zwei Worten notiert werden konnten; Rat, als Bezeichnung eines Kollegiums, das ratschlagt, und eines Titels aus lat. und franz. consilium (griech. βουλη), conseiller entlehnt; rauchen, wohl Übersetzung von fumare, da es zuerst hieß: Tabak trinken; Raum; es ist doch wohl auch Lehnübersetzung, wenn das deutsche Wort, das irgendetwas Unausgefülltes bedeutete (engl. room), am Ende herangezogen wurde, um den von Philosophen und Mathematikern seit tausend Jahren durchgearbeiteten Begriff spatium, franz. espace in allen Anwendungen wiederzugeben; Rechnung, seine Rechnung wobei finden = trouver son compte; recht, zuerst Entlehnung, dann aber wieder vielfach Übersetzung von rectus = ὀρϑος: rechter Winkel, Glaube: Recht-Schreibung; = jus (Doktor beider Rechte = utriusque juris); rein, 1. Übersetzung von hebr. koscher = fehlerfrei, also: zum Opfer, zur Speise geeignet; 2. nach lat. purus = nur (aus reiner, aus purer Bosheit); reiner Gewinn = gain pur; Ringelgedicht, Versuch einer Übersetzung von franz. rondeau, engl. roundel; rinnen, von der Zeit, aus der Technik der Wasser- und Sanduhr entlehnt; Roche ( Turm) vgl. Art. Schach; Rolle, Lehnwort aus rotula; nachher im Sinne von Register und in der Theatersprache als Doublette an franz. rôle angelehnt; romantisch, hat eine fast unentwirrbar verwickelte Geschichte; lehnt sich in der Bedeutung zunächst an den franz. Gebrauch ( romanhaft, und doch wieder volkstümlich), dann ( romantische Landschaft) an den englischen; den literarischen Begriff Romantik entlehnen später die Franzosen wieder von uns; Rose, in der Übertragung auf Architektur und auf die Windrose international; rot, in vielen Zusammensetzungen von Tiernamen international; die parallelen Zusammensetzungen mit deutsch rot, engl. red, franz. rouge könnten einen Bogen füllen; ruchbar wohl = famosus, ruchlos = infamis, und zwar alte Lehnübersetzungen; niederd. rucht = mhd. ruoft = fama; Voss sagt ruchtbare für berühmte Völker; jetzt noch Ruf = Ansehen = fama; weil unverständlich geworden, durch gut erklärt: er hat einen guten Ruf, früher: er hat Ruf; rühren, Grundbedeutung: in Bewegung setzen; es scheint sehr alte Übersetzung von movere, das schon altlat. ergreifen, rühren heißen konnte; Rückzug = ritirata (dies auch Euphemismus für Abort); rund, schon lat. ein Wort der Rhetorik, rotundus = wohl abgerundet, glatt; aber im Sinne einer ungefähren, bequemen Zahl ( runde Summe) und wieder im Sinne von sittlicher Offenheit ( runde Erklärung) dem Franz. nachgebildet: chiffre ronde, il est tout rond; auch der militärische Ausdruck Runde franz.; Rüsttag = παρασκευη;
Sache, sehr auffallend, daß die Bedeutung sich aus der ursprünglichen: gerichtlicher Streit parallel entwickelte mit franz. chose aus lat. causa, zuerst Ursache, dann Rechtsfall; sozusagen = pour ainsi dire; Salz, im Sinne geistiger Würze nach dem lat. ( urbani sales, humanitatis sal, Cic.), wo es schon Lehndoublette aus griech. ἁλς ist; sauer, in vielen botanischen Namen, Zusammensetzungen, international z. B. Sauerklee; Sauerampfer = rumex acetosa; Schamteile, uralter Euphemismus, schon bei Homeros αἰδοια; scharf, vielfach an acutus angelehnt; Schatten, im Sinne von Erscheinungen der Toten einfach gelehrte Übersetzung einer antiken Vorstellung; Schatz, im Sinne von Liebchen wohl aus ital. tesoro; Schiller übersetzt Diderots obszönes bijou mit Schätzchen; Sprachschatz = thesaurus; Anlehnung der altfriesischen Bedeutung Vieh ( schet) schwerlich an pecunia angelehnt; Scheide, vagina, Schwert scheide und cunnus; nur daß lat. die Beziehung auf das weibliche Glied offenbar eine grob scherzhafte Metapher; scheinbar, früher = sichtbar, dann, im 18. Jahrh. im Sinne von wahrscheinlich = verisimilis; scheitelrecht = vertikal; vom gleichen vertex lat. (über vertebra) vertebrata = Wirbeltiere; Schiff, international die Übersetzungen von navis für Schiff der Kirche; Schiffchen (des Webstuhls) = franz. navette; Schiffbruch = naufragium; schildern, nach niederl. malen, daraus: mit Worten beschreiben; Schlafwandel = Somnambulismus; Schläfe nach venae soporales; Schlag, häufig an franz. coup angelehnt, aber gewöhnlich frei übersetzt; so Schlagfluß nicht genau coup de sang; Schlaglicht = coup de jour, de lumière; Gegensatz: Schlagschatten; Schlange, ihre Falschheit internationales Bild, bei uns wohl biblisch; Schleier, nehmen, für Nonne werden, international; schließen, sehr oft an claudere, cludere angelehnt: besonders concludere usw. schließen in der Logik; excludere = ausschließen usw.; wohl auch Schlüssel, alte Übersetzung von clavis; dazu auch Schloß; Luft schlösser, früher auch spanische Schlösser = châteaux en Espagne; in der Musik Schlüssel = ital. chiave das Zeichen für die Tonart; Ohren schmaus, internation. Geschmacklosigkeit; Schmeißfliege = ital. smerdajuolo (ursprünglich schmeißen = scheißen); schmelzen, im 18. Jahrh. bei Dichtern sehr häufig für gerührt sein = franz. fondre (en larmes); schmerzhaft, früher = dolorosus (mater); schmieren, im Sinne von bestechen = graisser (la patte); Schnecke = helix für viele Schraubenlinien, besonders für Wendeltreppen; Scholle, an die Scholle gebunden = glebae ascriptus, attaché à la glèbe; schon, ursprünglich wohl Lehnübersetzung von lat. belle, hübsch; als Partikel gewann es einige Verwendungen von jam ( es ist gut), sofort und durch spätere Lehnübersetzung das ganze Bedeutungsgebiet; schön, sehr oft an franz. beau angelehnt: die schöne Welt = beau monde; eine Schöne = une belle; die schönen Künste = beaux arts; schöne Wissenschaften = belles lettres; Schöngeist = bel-esprit; schöne Seele (mit seiner Modesippe) = belle âme; eine Schönheit (schöne Frau) = une beauté; zu Hunden: mach' schön = fais le beau; Schopf; die Gelegenheit beim Schopfe fassen (bei den Vorderhaaren), international; Schoß, metaphorisch: Schoß der Erde, wohl an lat. gremium angelehnt; Schrift, internationales Lehnwort, dann Übersetzung nach scribere, γραφειν; mit ungeheurer Sippe; Entscheidung zwischen Entlehnung und Übersetzung oft schwer zu treffen: écrivailleur und Skribler (?); heilige Schrift = Sainte Ecriture; Handschrift = manuscriptum; umschreiben = circumscribere; Aufschrift = ἐπιγραμμα ( inscriptio); Vorschrift = praescriptum; unterschreiben = subscribere; schon gotisch bokareis frei = Schriftgelehrter; Schuld, von sollen; Bedeutungsentwicklung parallel mit faute ( falloir = sollen); anschuldigen = inculpare; entschuldigen = exculpare; meine Schuld = mea culpa; deutsch die Vorstellung der Ursache, so daß mhd. von minen Schulden heißen kann durch mein Verdienst; Schule, natürlich Lehnwort, nachher Übersetzung von Bezeichnungen für Systeme oder Richtungen der Philosophie, Kunst, Literatur; auch hohe Schule usw. der Reitkunst nach franz. haute, basse école; Schwanengesang, international, nach antikem Glauben; Schwanz, erst von schwänzen (»mit Schlepp und Steiß«, Goethe) abgeleitet, ursprüngl. Übersetzung von queue, Schleppe; erst spätmhd. = cauda, Schweif; gemeinsam in vielen sprichwörtlichen Redensarten: das Pferd beim Schwanze zäumen = brider son cheval par la queue, le venin est à la queue = das Gift sitzt im Schwanze usw.; in vielen naturhistorischen Namen: Rotschwänzchen = rouge-queue, queue de renard = Fuchsschwanz usw.; Schwarzwald = forêt noire; natürlich zuerst deutsch, weil es früher jeden Tannenwald bezeichnete; schon früh in silva nigra übersetzt; also: Übersetzung aus dem Deutschen; ebenso: die schwarzen Berge = cerna gora = Montenegro; in der Schwebe = in suspenso; Schwester, in übertragener Bedeutung internationale Lehnübersetzung: Nonne, Diakonissin; schwimmen, in der Theatersprache: seine Rolle nicht auswendig wissen = franz. nager, unsicher sein; Schwindel, im Sinne von: Betrug, keine Übersetzung, sondern das eingedeutschte engl. swindle; aber doch wohl Zusammenhang mit mhd. schwinden = ohnmächtig werden, tabescere; daher Schwindsucht = tabes; Geschworener usw., mit der Sache aus engl. juror, jury entlehnt; franz. juré; Schwulst, sachlich wie figürlich = enflure, Geschwulst; Seele, international nach anima in vielen nähern und weitern figürlichen Bedeutungen: seit Luther allgemein für älteres Mut oder Herz; Mittelpunkt eines Unternehmens ( âme); Einwohnerzahl (biblisch); Seele einer Kanone usw. = âme du canon, ital. anima della canna; Seelenverkäufer = nl. zielverkooper; sein, im Existenzialurteil (Gott ist) eine Lehnübersetzung aus lat. esse; Seite, in vielfacher Verwendung = franz. côté; selbst, in vielen gekoppelten Übersetzungen für αὐτος: Selbstbildung nach Autodidakt; Selbstquäler = Heautontimorumenos; Selbstherrscher = Autokrat; Selbstlauter, im Gegensatz zu consonans gebildet; setzen, mit seiner weitverzweigten Sippe an die Sippe von ponere angelehnt: composer, compose im Franz. und Engl. = setzen der Musiker und Buchdrucker; compositio = Zusammen setzung; exponere usw. = aus-, auseinandersetzen; opponere = entgegen setzen; postponere = nachsetzen; praepositus ( prévôt) = Vorgesetzter; propositus ( Propst) dasselbe; ad propositum = à propos; transponere = umsetzen usw.; in philosoph. Sprache bloß ponere = (den Fall) setzen, behaupten, z. B. posito = gesetzt den Fall; wird später als Übersetzung von franz. mettre empfunden und zu neuen Lehnübersetzungen verwandt; auch sitzen, Sitz = seoir; sied bien = sitzt gut; sicher, wie gewiß = franz. certain; früher Lehnwort aus lat. securus, dann wieder Sicherheit (kaufmännisch) nach ital. sicurtà gebildet; sichtbar (für Besuch) nach franz. visible; auf Sicht (kaufm.) = ital. a vista; Rücksicht = respectus; sieben, nicht nur biblisch die abergläubischen Vorstellungen, die sich an die Siebenzahl knüpfen; lat. septem miracula; griech. οἱ ἑπτα, die 7 Weisen; formelhaft: die sieben Sachen; ein Siebenschläfer, wegen der Formelhaftigkeit der Zahl vergessen, daß es ursprünglich 7 Jünglinge waren; so wagt Goethe: ein heil. Dreikönig mehr; dann: ein Buch mit sieben Siegeln, nach Off. 5. 1; Sinngrün, eigentlich Singrün (wie Sinflut, immerwährende, allgemeine Flut) = Immergrün = semperflorium oder sempervivum; dies puristisch für aizoon = ἀειζωον; Sinn, nicht mit sensus verwandt, sondern davon entlehnt; nachher oft zur Übersetzung von sensus und franz. sens benützt; also Lehn-Doublette; sittlich, langsam zum Ersatz von moralis geworden; früher Plural die Sitten = mores; sonder, neuerdings häufige Übersetzung von extra in Doppelworten: Sonderzug, Sonderdruck; Sonntag, mit der ganzen Gruppe der Wochentage altheidnische Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen, gegen die das Christentum nicht aufkommen konnte; Pfinztag (Donnerstag) Lehnwort nach dem griech. πεμπτη, wohl aus gotischer Zeit; Samstag Lehnwort aus dem Hebräischen; Sonnenwende in der Astronomie frei nach solstitium; in der Botanik genau = ἡλιοτροπιον; Spannkraft, neue, freie Übersetzung von vis elastica, welches schlechte Wort von ἐλαυνειν , ἐλατης, Antreiber, anspannen; Speckstein = pierre de lard; Spiegel, Lehnwort aus lat. speculum; nachher zur Übersetzung von speculum in Büchertiteln benützt: Sachsen spiegel, Fürsten spiegel, Dilettanten spiegel; Spiel, in Schauspiel usw. häufig als Übersetzung von ludus verwandt: spielen (nachahmen) = jouer; Wortspiel = jeu de mots; Spielraum, erklärende Übersetzung von jeu; Spielmann, wohl Übersetzung vom Lehnwort Gaukler = joculator = jongleur = engl. juggler; Spilling, eine Art gelber Pflaumen; da spenel, ahd. spënala (österr. Spennadel, Stecknadel) wohl ursprünglich Dorn hieß, ist Spilling Lehnübersetzung von (prunus) spinosa; wenn's nicht einfach Lehnwort ist, wie tschech. špendlik für die gleiche Frucht aus dem Deutschen oder dem Lateinischen; spinnen,spinnen der Parzen internationale Entlehnung; vom behaglichen Schnurren der Katze auch ital. filare; Spitze, für dentelle frei übersetzt; für dasselbe dentelle in Architektur, auch dentelure ( dentelle im Buchdruck), genauer Zahnschnitt; spitziger Winkel = angle aigu; spitzige Nase = nez pointu; spitzige Worte = paroles piquantes; Spitz (leichter Rausch) wie franz. être en point de vin; Sporn, allgemeine Entlehnung aus den Gebräuchen der Ritterzeit: den Sporn geben, donner de l'éperon; gestiefelt und gespornt = botté et éperonné; auch vom Hahn und von Pflanzen international; Sprache, in allen wissenschaftlichen Bedeutungen international; Sprecher, mit der Sache aus dem engl. Parlamentarismus übernommen ( speaker); Sprung, metaphor. parallel entwickelt: Gedanken sprung; natura non facit saltus; Staat, natürlich das lat. Status; nachher wieder von den parallel entwickelten ndl. und franz. Worten stark beeinflußt: die Staaten = die Stände; der Staat: état; conseil d'état = Staatsrat, homme d'état = Staatsmann, coup d'état = Staatsstreich; aber états généraux = Generalstaaten; im 18. Jahrh. noch Staat machen auf jemand = faire état de quelqu'un; den alten Staat und die alten Stände übersetzt das Lehnwort Staat und hat die Stände-Verfassung doch in mancher modernen Bedeutung überlebt: der dritte Stand = tiers état; wieder anders in Standpunkt = engl. standpoint; etwas anders franz. point de vue, das wir genau durch Gesichtspunkt wiedergeben; Stangenrecht, mundartlich soviel wie Gantrecht; schon Adelung vermutete eine wörtliche Übersetzung nach lat. jus subhastationis, von der alten Art, etwas bei einem aufgesteckten Spieße, sub hasta, zu versteigern; das D. W. ist wieder so ängstlich, nur eine Beeinflussung zuzugeben; Statt, eigentlich die bestimmte Stelle; statthaben = avoir lieu, stattgeben, schon lat. locum dare, wie locum habere; Statthalter = lieutenant = locum tenens (lieutenant du roi, Königsleutnant); anstatt, = au lieu;stechen, im Kartenspiel, in der Kupferstecherei manche Übersetzungen von pointer; man denke auch an Stichprobe; Steg, an der Geige = ital. ponticello; stehen, vielfach an ital. stare angelehnt: stehen lassen = lasciare stare; es steht mir zu = sta a me; bei jmd. stehen = stare con; wohl auch im Sinne von: zu verkaufen sein, jetzt noch: teuer zu stehen kommen; Steinöl = Petroleum; Stelldichein = rendez-vous, mit grammatischem Ersatz der Mehrzahl der Anrede durch die Einzahl; Stelle, die man aus einem Buche zitiert, schon lat. locus, wobei die loci communes der alten Rhetorik vorschwebten, die τοποι; Stern, im Sinne von Glück und Unglück internationale Entlehnung aus uraltem Sternaberglauben; franz. étoile im Sinne von Glanzpunkt der Gesellschaft geben wir durch engl. star wieder: Stil, in allen Übertragungen aus lat. stilus (Lehnwort aus dem Griech., Schreibgriffel) international; Stimme, im Sinne der einzelnen Meinungsäußerung bei Majoritätsbeschlüssen, internationale Lehnübersetzung; vox populi, vox Dei; Stoff, seit Aufkommen des Materialismus deutscher Ersatz für Materie, aber auch für Material; Materie bedeutete immer Material, wie denn auch in diesem Falle das Adjektiv ( materialis) einen verständlicheren Sinn gibt als das Substantiv; Strahl, Grundbedeutung: Pfeil (in den slawischen Sprachen noch das Verbum streliti, schießen, wovon Strelitzen, vielleicht Lehnübersetzung von sagittarii); nach antiker Vorstellung sandte der Donner, die Sonne Pfeile aus, davon Wetter strahl, Donner strahl, Blitz strahl, die in Emblemen unserer Elektrizitätsgesellschaften immer noch als Pfeile dargestellt werden; Luther empfand das entlehnte Bild noch, wenn er übersetzte: er schoß seine Strahlen (Vulg.: sagittas); Streich, neben Schlag Übersetzung von coup: Handstreich = coup de main, Staatsstreich = coup d'état; Stube, hängt natürlich aufs engste zusammen mit engl. stove, ital. stufa Ofen; eigentlich geheizte Stube, vielleicht Badestube, also wohl Lehnübersetzung von Kemenate, der Raum mit einem Kamin, franz. cheminée, was den Raum um den Herd bedeutete, wo man sich wärmen konnte; Stück, in Theater stück, Musik stück, und dgl. an franz. pièce angelehnt; Stuhl, in der metaphorischen Anwendung: heiliger Stuhl, Lehrstuhl, neben Sitz (Bischofssitz) nach franz. siège; Gerichts stuhl oder Land stuhl für Gerichtshof ist veraltet; vielleicht Gesäß Übersetzung eines veralteten siège, der Hintere; stumpf, Winkel = obtusi-angulus; auch stumpf in metaphorischer Bedeutung = obtus, Gegensatz zu aigu;
Tafel, natürlich Entlehnung aus lat. tabula, aber nachher doch Lehnübersetzung nach franz. table, im Sinne von Eßtisch, Mahlzeit usw., also: Lehn-Doublette; Tag, ursprünglich nur die helle Hälfte der Periode einer Erdumdrehung, so noch im Gegensatz zur Nacht wie natürlich überall; aber Ausdehnung auf die ganze Periode von 24 Stunden wohl gelehrte Anlehnung an dies; Tag im Sinne von Gegenwart ( Tagesgespräch, Held des Tages, Tagesbefehl) Anlehnung an den entsprechenden Gebrauch von franz. jour; Tapet, Tapete, Entlehnung aus lat. tapetum, tapete (griech. ταπης, wer weiß aus welchem Orient), Belag des Bodens, der Wand, des Tisches; aufs Tapet bringen, kommen, Lehn-Doublette nach franz. sur le tapis, wobei die Beibehaltung des Geschlechts (gegen die Tapete) zu beachten; Taugenichts = vaurien; tausend, international, schon lat., für unzählig: Tausendfuß = mille-pied; mille-feuille = millefolium (Schafgarbe); Teil, häufig zur Übersetzung von pars (Anteil) und parti (Partei) benutzt; teilnehmen = participare; franz. prendre part; Tier, ursprünglich: vierfüßiges wildes Tier wie engl. deer; dann langsam Übersetzung von animal; Tinte, Lehnwort, nach mlat. tincta von tingere, nachher als Terminus der Maler Lehn-Doublette für franz. teinte, it. tinta; tot, metaphorisch: totes Kapital nach ital. denaro morto: er ist ein toter Mann (dem Tode sicher verfallen) = c'est un homme mort; international: tote Sprachen; Trabant; hat eine schwer entwirrbare Geschichte; kommt zuerst im 15. Jahrhundert vor, als Bezeichnung für arge Söldner aus Böhmen; ich glaube, es liegt ein verwickeltes Gemisch von einer slawischen Lehnübersetzung und einer vermeintlichen Entlehnung aus dem Deutschen vor; tráva, Gras, bezeichnet im Polnischen ( strava) Viehfutter, in russischen Mundarten alles Eßbare; travanti konnte also in Böhmen recht gut die fouragierenden, verwüstenden Soldaten bedeuten; die Endsilbe ant mögen die Böhmen für deutsch gehalten haben, sie bildeten parchant nach Bankert, wie wir Marktfierant, Lieferant sagen; die weitere Geschichte von Trabant ist bekannt; getragen, technischer Ausdruck des musikalischen Vortrags, Lehnübersetzung von ital. portato; ich gebe bei dieser Gelegenheit das Beispiel einer Lehnübersetzung des Ital. aus dem Franz.: portafasci = porte-faix; portafoglio = portefeuille: portamonete = portemonnaie; portasigari = porte-cigares; portastendardo = porte-étandard (Fahnenjunker); portavoce = porte-voix usw. usw.; traurige Gestalt, Ritter von der, international, literarisch nach Cervantes; treu, metaphorisch seit dem 18. Jahrh., häufig nach franz. fidèle, aber memoria fidelis (festes, treues Gedächtnis) schon lat.; un miroir, une copie, une traduction fidèle; Trieb, wohl Lehnübersetzung von instinctus; Trommel, nach zufälliger Ähnlichkeit häufig Anlehnung an lat. tympanum (dessen wilden Bedeutungswandel bis zu timbre es nicht mitmacht) und franz. tambour: Trommelfell = tympan oder tambour; Tympanitis = Trommelsucht; Trotz, für mein Sprachgefühl identisch mit Trost, das schon gotisch und dann bei Luther als Übersetzung von fiducia und expectatio zu finden; wir könnten es mit dem nordd. die Traute verjüngen, womit das Vertrauen und mundartlich auch die Kühnheit ( sich getrauen) ausgedrückt werden kann; Tugend, lehnt sich an virtus nicht so genau an wie virtus an ἀρετη (wobei Ableitung von ἀρην , Ἀρης , ἀῤῥην doch wohl gelehrte Volksetymologie; Zusammenhang mit ἀρειν, rüsten, viel ansprechender); aber wenn lat. virtus eine falsche Lehnübersetzung war, so stammt die Bedeutung Kraft doch schon aus dem Lat. und ging im franz. vertu zu der weiten Bedeutung Eigenschaft über; les vertus des plantes, la vertu magnétique, wurde im 16. Jahrhundert durch die Tugenden wiedergegeben, so noch altertümelnd Goethe; tun, Tat; bei dem Alter und der Ausbreitung des Begriffs ist es sehr schwer, Anlehnung glaubhaft nachzuweisen; aber: in der Tat klingt eher mlat. oder franz. ( de fait) als deutsch; Tatsache ist so neu, daß es recht gut nach dem Modewort factum gebildet sein könnte; man vergleiche auch die Übersetzungen mit machen;
Übeltat, genaue Übersetzung von malefactum; dazu die entsprechenden Übersetzungen von malefacere, malefactor und die von benefacere, beneficium usw.; man achte darauf, daß Wohltat ebensowenig ein reiner Gegensatz zu Übeltat ist, wie beneficium zu malefactum; über, ist in Lehnübersetzungen leicht zu übersehen, weil nicht immer super zugrunde liegt oder trans; wir werden es auch als Übersetzung von griech. ἐπι, lat. per und circum, finden, und von allen wieder andere deutsche Übersetzungen; überflüssig usw. = superfluus; übergehen oft = transire; Oberfläche frei nach superficies; überschreiten = supergrediri; Übertreibung frei nach superlatio = ὑπερβολη; überzählig = supernumerarius; übrig sein = super esse; sehr häufig sind im Lat. Zusammensetzungen mit super Lehnübersetzungen griech. Idiotismen, z. B. superquartus, superquintus = ἐπιτεταρτος , ἐπιπεμπτος, d. h. 1¼, 1⅕; übertragen = traducere; übersetzen = transferre; Umformung = transfiguratio; Überläufer = transfuga; Übergang = transitio; Übersendung = transmissio; Übersiedelung = transportatio; überrheinisch usw. = transrhenanus usw.; surcharger = überladen; surcroît = Zuwachs; surmesure = Übermaß; surveiller = überwachen; Überschrift = superscriptio = ἐπιγραμμα; Umstand, genaue Übersetzung des spätlat. circumstantia (franz. circonstance) = griech. περιστασις; Unbill, doch wohl nur im neuen Sprachgefühl an billig angelehnt, in Wirklichkeit Negation von Bild und mhd. oft im Sinne von ungeheuer, unerhört (Wolfram, Parzival IX, 176), also doch wohl alte genaue Lehnübersetzung von informis; übrigens würden die deutschen Lehnübersetzungen mit un- ein ganzes Buch füllen; usw., früher u. dg.; bei Harsdörfer wird ausdrücklich erwähnt, es seien die Anfangsbuchstaben von und dergleichen, »ist gesetzet anstatt des etc.«; also selbst der Gebrauch der Anfangsbuchstaben wird entlehnt; et cetera ist wieder eine Lehnübersetzung von ϰαι τα λοιπα; ebenso viele andere Abkürzungen durch Anfangsbuchstaben; d. i. gleich i. e.; a. a. O. gleich l. c.; w. S. g. u. gleich t. s. v. p. usw.; unterbrechen = interrumpere; unterhalten, in bestimmtem Sinne = entretenir; unterliegen = succumbere; unternehmen = entreprendre (erst seit dem 18. Jahrh.); untersagen = interdicere; unterwerfen = subicere (die eigenen Wege des Bedeutungswandels von subjectum und sujet an anderer Stelle); Urständ, alte Lehnübersetzung von ἀναστασις, die, als sie der Gemeinsprache unverständlich geworden war, durch Auferstehung verjüngt wurde; Urteil, ursprünglich nur der Richterspruch; wurde später zur Übersetzung aller Bedeutungen von judicium mitverwandt; Etymologie nicht sicher und nicht klar; mir kommt es gar sehr wie eine uralte Übersetzung von διαϰρισις vor, nur daß mir (trotz discernere, unterscheiden) das beweisende lat. Zwischenglied fehlt;
Vater, in sehr vielen Verwendungen an lat. pater und patria angelehnt: Erzväter = Patriarchen; Stadtväter, wohl eine scherzhafte Übersetzung, oder ursprünglich eine schulmeisterlich ernste, von patres ( conscripti); Vaterland frei nach patria; Vaterunser, buchstäblich erhalten = paternoster; Vater für Gott international abendländisch; verbinden usw. = franz. obliger usw.; verbrechen, doch wohl an lat. corrumpere, corruptor angelehnt; Verfall, kaufmännisch = ital. scadenza; vergegenwärtigen, genau gleich lat. representare; vergleichen, sowohl im Sinne von begleichen als gegeneinander abwägen, dann = lat. comparare ( par = gleich); verkennen = méconnaître; einverleiben, Lehnübersetzung von spätlat. incorporare; Lehn-Doublette von dem alten Lehnwort Körper: verkörpern; verlieren, in vielen Redensarten an franz. perdre angelehnt, wenn nicht manchmal umgekehrt: den Kopf, Zeit, eine Wette, einen Prozeß, eine Schlacht verlieren; im Spiele verlieren schon lat.; ebenso verloren = perdu = perditus; vergehen = perire; Vertauschung = permutatio; verfolgen, vielfach = persequi; vergeben = pardonner; viel; vervielfältigen genau nach multiplicare; Lessing tritt für das ältere vervielen ein: »Wasser vermehrt sich; alle Blumen vervielen sich; einige Blumen vervielfältigen sich«; vier, in manchen Anwendungen, die freilich auch ohne Entlehnung erklärt werden können, internationale Redensart: alle Viere von sich strecken, unter vier Augen, zwischen seinen vier Wänden; Vierfürst = griech. τετραρχης; Vierung, Versuch einer Übersetzung von Quadrat; mehr Glück hatte Geviert; Volk, doch wohl Lehnwort aus vulgus; während aber das Fremdwort ( vulgär) mehr und mehr die große Menge, den Pöbel, bezeichnete, wandelte Volk seine Bedeutung, ursprünglich Kriegerschar, zu der von populus, einer durch gemeinsame Sprache oder politischen Verband geeinigten Nation; so haben sich die beiden lateinischen Worte im Wandel gekreuzt: vulgus wird in Volk aus Pöbel zu einem hohen Begriff, der gerade jetzt fast ein Ideal ausdrückt; populus wird in Pöbel, was einst vulgus war; voll, Lehnübersetzung in Doppelworten: Vollmond = plenilunium; Vollmacht = mlat. plenipotentia; vor, sehr oft Übersetzung des lat. prae: Vorhaut, erst von Luther frei gebildet, nach lat. praeputium (er wußte, daß es ein lat. putium oder putis nicht gab, daß griech. ποσϑιον schon Vorhaut hieß. Demin. von ποσϑη = penis); die figürliche Anwendung auf moralische Unreinlichkeit (arges Wippchen: praeputium cordis vestri) ist nur biblisch; Vorsitz = praesidium; Vorsehung = providentia; Vorschritt, im 18. Jahrh, öfter für unser Fortschritt = progressus; vornehm, ausnehmend = eximius; Vorwurf, alter Versuch, objectum zu übersetzen; unvorgreiflich, direkt nach dem griech. ἀπροληπτος, vom term. techn. προληψις;
wahrscheinlich, seit dem 17. Jahrh. dem lat. verisimilis nachgebildet; übrigens wahrscheinlich ähnlich über einlich Lehnübersetzung von similis; Wald, seit dem 17. Jahrh. gern als Buchtitel (Poetische, kritische Wälder) dem mlat. silva nachgebildet; wälzen, rollen machen; Umwälzung = Revolution; Wandelstern = planetes; Wasser, in Verbindungen wie gebranntes Wasser, kölnisch Wasser dem lat. aqua, dem franz. eau entsprechend; Wasserleitung = aquae ductus; Wechsel, kaufmännisch = ital. cambio; Welt, uralt, dann vom Christentum als Zeitlichkeit herabgesetzt; aber in den Redensarten ein Mann von Welt, große Welt, viel Welt haben, Übersetzung des franz. Modeworts monde; Weltbürger, im 18. Jahrh. Modewort = Kosmopolit; Weltweisheit, ist vielleicht erst später als die sieben Weltweisen entstanden; die sieben Weltweisen vielleicht Parallelbildung zu die sieben Weltwunder = septem miracula mundi; Wendung; ich habe keinen Beleg, aber gewiß direkte Übersetzung aus dem griech. τροπος, im Sinne des lat. tropus, Redefigur; Wenigkeit, im Zeitalter der deutschen Nachahmungen des roi soleil erst häufig aufgekommene Lehnübersetzung (meine Wenigkeit) des spätröm. mea parvitas; werfen, häufig lat. jacere, franz. jeter nachgebildet: jeter à la tête fast gleich: an den Hals werfen; einst jeter le faucon, den Falken werfen; jeter une draperie, Falten werfen; verworfen = abjectus; Gegenwurf, von Meister Eckhart für objectum gebraucht; Auswurf = ejectio; Entwurf muß irgendwie mit Gegenwurf ( objectum) und dann wieder mit projectum (lat. oft = objectum) zusammenhängen; Wesen, noch auffallender Wesenheit, gelehrter und trotzdem geglückter Versuch (von Schottel), griech. οὐσια, lat. essentia durch den alten Infinitiv von sein wiederzugeben; wesentlich = essentialis, die Sache, im Gegensatze zu ihren zufälligen Eigenschaften; Wesen erhält so, parallel mit dem franz. un être, die Bedeutung einer Sache, eines Dings und kann nun zur Übersetzung von res benützt werden: das gemeine Wesen (heute: das Gemeinwesen) = res publica; wider, für und wider = pro und contra = le pour et le contre; wieder, das gleiche Wort: auf Wiedersehen = au revoir; Widerchrist, bei Luther für Antichrist; Widerspruch = contradiction; Widerpart, im Franz. nur Terminus der Musik contre-partie, Gegenstimme; widerrufen = revozieren; Widerschlag, nicht (nach Paul) Übersetzung von Reflex, sondern von contre-coup; Widersinn = contre-sens; widerstehen = resistere; wissen; die Proportion wissen – gesehen haben könnte an eine vorhistorische Lehnübersetzung oder Lehndoublette denken lassen; die franz. Redensart: je ne sais quoi scheint zweimal ins Deutsche übersetzt worden zu sein, einmal vor 700 Jahren mit neizwer ( ni weiz wer), dann neuerdings mit ich weiß nicht wer, was; Wiss-Künstler, ein erfolgloser Versuch von Leibniz, das Wort Mathematiker genau zu übersetzen, nach der Holländer Beispiel; schon Schottel hatte (1663) weiskünstlich für mathematice vorgeschlagen; Witz; früher die Witze = scientia; erst im 18. Jahrh. wird Witz zur Übersetzung von franz. esprit benützt, um gegenwärtig sich zu einer Äußerung des esprit zu spezialisieren, wohl über witzig hinweg; wohl, häufig für bene, bien, z. B. wohlgemerkt = nota bene; wohlwollend = benevolens, aber böswillig, malevolus, beides buchstabengetreu; Wort; international für das gegebene Wort: Wort halten, geben, Ehrenwort ( tenir parole, donner, parole d'honneur); Würde = dignitas: würdigen, ursprünglich soviel wie werten, im 18. Jahrh. gern intransitiv gebraucht = franz. daigner; herabwürdigen mitunter = dédaigner; Wurzel, übersetzt in der Anatomie, in der Mathematik, neuerdings auch in der Sprachwissenschaft lat. radix;
Zacke; Dreizack = tridens; Zankapfel = Apfel der Eris; Zauber, wahrscheinlich zuerst Geheimschrift; sicherer die Entsprechung franz. charme ( carmen) und ital. incanto; in allen drei Sprachen die Bedeutung von übernatürlicher Beschwörung zu natürlichem Reiz gewandelt; zeichnen, häufig gibt es signare wieder; zeichnen kaufmännisch = signer; ausgezeichnet frei nach insignis; Zeit, als abstrakter Begriff wie Raum der internationalen Philosophensprache angehörig; Zeit = Welt als Gegensatz zur seligen Ewigkeit ist christlich; Zeit (z. B. mitteleuropäische) als Zeitmaßstab modern astronomisch; international auch durch Übersetzung der Gebrauch in der Grammatik; Zelle, internationale Bezeichnung für das kleinste noch organische Gebilde; zerstreut = distrait; Zerknirschung = contritio; anzetteln, genau = tramer; Ziffer, bekanntlich die arabische Bezeichnung für Null, woraus dann Bezeichnung für die arabischen Zahlzeichen wurde; im Franz. wurde die Form mehr geändert, die Bedeutung beibehalten ( zéro); im 18. Jahrh. wurde versucht, zéro mit Ziffer zu übersetzen, ein besonders komplizierter Fall einer Lehn-Doublette; Zirkel, Lehnwort aus lat. circulus, früher allgemein für Kreis, wie jetzt noch in Zirkelschluß; nur der vornehmste Kreis von Personen um den Fürsten herum, bei Hoffestlichkeiten, verlangt das Fremdwort cercle; Zufall, von Paul nicht ganz richtig auf casus zurückgeführt; zugrunde liegt offenbar das scholastische accidens (dem Sinne nach ganz genau, der Form nach etwas frei nach συμβεβηϰος) von accidere ( vorfallen, zustoßen), eigentlich: was an einer Sache nicht notwendig, nicht wesentlich ist; ganz scharf: eine Abschwächung des Existenzbegriffs; im 18. Jahrhundert häufig (durch Lehnübersetzung von franz. accident) im Sinne von Unfall; seltsam die Reihe: per accidens, par accident, perhaps (von happen = accidere), per Zufall; Zwieback = biscuit .
XI.
Die großen Beispiele von Übersetzungen ganzer Kulturen, von der Völkerwanderung der Kulturen, bieten Gelegenheit genug, den Vorgang zu studieren; aber die Wissenschaft hat gegenüber dem Vorgang immer wieder die Augen geschlossen, hat auch in neuer Zeit entweder Kulturgeschichte getrieben und sich dann zu wenig um die Wanderung der Begriffe gekümmert, oder hat Sprachwissenschaft getrieben und sich dann mit einseitiger Entdeckerfreude auf den Lautwandel in der Wortgeschichte geworfen. Wie aber, oft genug bis ins kleinste nachweisbar, die Begriffe übernommen werden, bald in der Form von Fremdwörtern, bald in der Form von Lehnübersetzungen, das wurde von den Einen gar nicht gesehen, von den Andern aber zu wenig beachtet. [Fußnote] Zwei Arten solcher Kulturwanderungen gilt es besonders zu unterscheiden: die Wanderung von Realbegriffen und die Wanderung von ganz abstrakten, religiösen oder philosophischen, Vorstellungen. Für die erste Art bietet die Aufnahme des antiken Naturwissens durch die Araber ein frappantes Beispiel. Das größte Beispiel der zweiten Art von Wanderung ist die Aufnahme der christlichen Lehren und der aristotelischen Philosophie durch das Abendland. Man stelle sich nur lebhaft die Seelensituation des Bischofs Ulfilas vor, da er seinen Goten die Kulturmasse des Christentums in ihrer Sprache zu übermitteln beschlossen hatte. Ihm war beides geläufig: die griechische Sprache des Neuen Testaments und die Mundart seines Volkes, die wir ja erst durch ihn und nur durch ihn als eine Schriftsprache kennen gelernt haben. Wenn wir heute eine wahre oder erfundene Erzählung, etwa aus dem Französischen, ins Deutsche übersetzen wollen, so ist die Aufgabe einfach die: die geläufigen Vorstellungen aus der einen Sprache so wiederzugeben, daß durch die deutschen Worte beim Leser die genau entsprechenden Vorstellungen wieder erweckt werden; und das ist möglich, ja leicht, weil die beiden Gemeinsprachen durch Herkunft aus gemeinsamen Kulturquellen, durch ein Jahrtausend lange gegenseitige Beeinflussung allmählich bei den gleich gebildeten Individuen beider Völker fast die gleiche Seelensituation hervorgerufen haben. Das französische Original und die deutsche Nachbildung unterscheiden sich am Ende nur durch die sprachliche Form, fast gar nicht durch den Vorstellungsinhalt; kennt der deutsche Leser überdies auch noch z. B. das Pariser Leben, in dessen Milieu die Erzählung spielt, so kann er aus der Übersetzung die Vorstellungen des Originals fast ohne Rest aufnehmen. So war das Verhältnis zwischen dem gotischen Bischof und der Bibel nicht. Schon die einfache Erzählung der historischen Vorgänge verschob sich absichtslos, weil der gotische Barbar eine andere Seelensituation hatte als der jüdische Barbar, und weil beide den Hintergrund der römischen Kultur, vor dem in der Provinz Judäa die Ereignisse des N. T. sich abspielten, anders sahen. Es ist bekannt, wie noch viel später im Heliand Jesus zu einem deutschen Lehnsherrn, einem ritterlichen, umgeformt wurde. Immerhin konnte Ulfilas bei der Wiedergabe der Erzählungen in unserem Sinne zu übersetzen glauben. Handelte es sich aber um Wiedergabe eigentlicher Glaubenssätze, selbst in der wenig dogmatischen Form der Evangelien, so fand Ulfilas in seiner gotischen Mundart die entsprechende Seelensituation nicht vor und war gezwungen, Wort mit Wort, Silbe mit Silbe wiederzugeben. Genau so wie hundert Jahre später das Christentum den Franken und Alemannen in Lehnübersetzungen gepredigt wurde. Ich brauche die Bibel nur aufzuschlagen. Jesus spricht zu Martha (Ev. Joh. 11, 25): Εγω εἰμι ἡ ἀναστασις ϰαι ἡ ζωη, ὁ πιστευων εἰς ἐμε, ϰἀν ἀποϑανῃ, ζησεται. (Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich gläubet, der wird leben, ob er gleich stürbe.) Auferstehung, Leben, Glauben wird übersetzt. Die Vorstellung Auferstehung war aber ganz gewiß nicht in der Seele eines Goten, bevor die Lehnübersetzung us-stass (Urständ) für ἀναστασις nicht gebildet und den Goten gepredigt worden war. Zur Karrikatur wird ganz gewiß die Lehnübersetzung religiöser Formeln da, wo neuerdings Missionare das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis in Sprachen übersetzen, die der Originalsprache noch ferner stehen als die gotische Mundart der griechischen Sprache stand; wo diese Missionare mit ein paar Brocken der betreffenden »Wildensprache« die Lehnübersetzung der abstrusesten Vorstellungen vornehmen. Adelung hat in seinem Mithridates gegen 500 solcher Lehnübersetzungen des Vaterunsers gesammelt; man hat seitdem tapfer weiter darauf los übersetzt. Ich zweifele nicht daran, daß nur wenige Missionare die erforderlichen Sprachkenntnisse hatten, und daß eine Kritik dieser Übersetzungen Greuel zutage fördern würde. Einerlei: verknüpften die »Wilden« mit den gepredigten Formeln ungefähr die hergebrachten Vorstellungen, so war ja das Christentum bei ihnen eingeführt. Nicht viel anders konnte es um die Übersetzung philosophischer Sätze stehen, wie sie um das Jahr Tausend herum Notker Labeo, der gelehrte Benediktiner von St. Gallen, versuchte. Zwar die Übersetzung eines feinen Traktätleins, wie es die fünf Bücher des Boëthius De consolatione philosophiae darstellen, ließe sich noch mit den erzählenden Stücken der Evangelien vergleichen; es ist nicht die gleiche Seelensituation bei dem Minister aus dem 5. und bei dem Mönch aus dem 10. Jahrh., aber doch die Möglichkeit, mit den entsprechenden Worten ähnliche moralische Vorstellungen zu verbinden. Und gleiche Menschlichkeiten. Wie aber eine unüberbrückbare Kluft zwischen der, wenn ich so sagen darf, geistigen Grundstellung der gotischen Sprache und der Seelensituation im Denken und Sprechen der Evangelisten war, so auch zwischen der althochdeutschen Sprache des Notker und der geistigen Grundstellung des Metaphysikers Aristoteles. Notker Labeo muß ein genialer Übersetzer gewesen sein; ich erwähne nur skidunga für differentia, selbwaltigi für liberum arbitrium, geskiht für casus ( wehsal für den grammatischen casus), anderlichi für alteratio, machunga für causa, unspaltig für individuum, widerwartig (noch bei Goethe widerwärtig in diesem Sinne), widarchetig, gagenstalt für contrarium und oppositum, wist für substantia (οὐσια), daz kemeina für genus, daz sunderiga für species, stupf für punctum. Gelangt er aber in seiner Übersetzung der Kategorienlehre zu Abstrusitäten, die seit zweitausend Jahren bis heute noch niemand eigentlich verstanden hat, so ist die althochdeutsche Sprache wohl ebenso hilflos, wie es die gotische gegenüber den Dogmen war. Ich wähle zur Illustration eine Stelle aus dem 2. Kap. der Kategorien: eorum quae sunt, alia de subjecto quodam dicuntur, in subjecto vero nullo sunt. Ut homo de subjecto quidem aliquo homine dicitur, in subjecto vero nullo est. (Nach Kirchmann: »Von dem Seienden wird manches von einem Unterliegenden ausgesagt, aber ohne daß es in einem Unterliegenden ist; so wird z. B. der Mensch von einem unterliegenden einzelnen Menschen ausgesagt, aber er ist in keinem unterliegenden Menschen.«) Notker, der ja den lateinischen Aristoteles vor sich hatte, übersetzt silbengetreu: Sunelichin dero wesenton dingo werdent kesprochen fone demo underin, tiu doh ne sint an demo underin, noh in demo underin. Also mennisko gesprochen wirdit fone demo underin, etelichemo menniskin, an demo er doh ne ist. Zwölfhundert Jahre nach Ulfilas geht Luther daran, dem deutschen Volke eine deutsche Bibel zu schenken. Sehen wir einmal ab von der unvergleichlichen Bedeutung, die seine Arbeit für die Sprache und das Leben der Deutschen gewann; betrachten wir einmal nur die Seelensituation des Übersetzers Luther bei seiner Arbeit. Die christlichen Begriffe waren dem Volke durch eine Einübung von tausend Jahren geläufig geworden, auch die Scheinbegriffe. Verstanden oder unverstanden, als Fremdwörter, als Lehnwörter oder als Lehnübersetzungen gehörten die Begriffe der deutschen Sprache an. Luther konnte glauben aus dem Hebräischen und dem Griechischen übersetzen zu können, wie man etwa heute ein wertvolles französisches Buch ins Deutsche übersetzt. Und weil er mit seiner Arbeit eine Tendenz verknüpfte, den Kampf gegen die alten und oft fälschenden Übersetzungen im lateinischen Texte, so konnte er an entscheidenden Stellen die Übersetzungsworte so wählen, wie es seiner Tendenz entsprach. Sehen wir auch davon ab, daß seine Übersetzung so mitunter ein heimlicher Kommentar wurde, eine Paraphrase anstatt einer Metaphrase. Im ganzen und großen wurde seine Bibelübersetzung eine traductio, während die Übersetzung des Ulfilas eine versio gewesen war. Wir werden gleich sehen, warum auch zwischen diesen beiden Begriffen nur ein relativer Unterschied besteht. Uns genüge es für jetzt, bemerkt zu haben, daß Ulfilas neue Begriffe durch Lehnübersetzung einführen mußte, seine Sprachkraft für die Prägung neuer Wörter einsetzen, daß Luther seine Sprachkraft viel freier der Verbindung eingedeutschter, bereiter Wörter zuwenden konnte. Ganz ähnlich dürfte das Verhältnis sein zwischen einem Notker, der die philosophischen Begriffe der Antike mühsam und silbengetreu in eine Barbarensprache übersetzte, und den Männern, welche, wieder gegen 800 Jahre später, eine deutsche Terminologie für die Philosophie schufen: etwa Thomasius und Wolf. Wieder waren die Begriffe der Philosophie durch tausendjährige Einübung Gemeingut wenigstens der Gelehrten geworden, in der lateinischen Gelehrtensprache, verstanden oder unverstanden, auch die Scheinbegriffe; und für viele der lateinischen Ausdrücke hatte die Technik des gelehrten Unterrichts langsam deutsche Ersatzwörter gefunden; man erklärte, schon zur Zeit des lateinischen Vortrags, den jungen Leuten schwierige Termini durch Wörter der Muttersprache, man verdeutlichte oder verdeutschte sie ihnen, – wie nachher Wolf und noch Kant die deutschen Ausdrücke häufig durch Beifügung der lateinischen verdeutlichten, fast hätte ich gesagt: verdeutschten. Namentlich Wolfs Tätigkeit ist sehr beachtenswert. Die ganze Bedeutung Wolfs für die Wortgeschichte in der deutschen Philosophie zu erkennen, hindert uns der Umstand, daß die Wörterbücher zumeist nur die Gemeinsprache im Auge haben und sich namentlich um die Lehnübersetzungen der alten technischen Ausdrücke früher nur wenig gekümmert haben. Dazu kam, daß Wolf, dessen Ansehen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum seinesgleichen hatte, zur Zeit der Abfassung unserer großen Wörterbücher nicht mehr für voll angesehen wurde; trotz seiner häufigen Anstrengungen, sich Leibniz gegenüber als einen selbständigen Philosophen durchzusetzen, galt er allgemein, und im ganzen mit Recht, für einen unfreien Schüler von Leibniz. Wie groß sein Einfluß auf die deutschen Popularphilosophen und dann auf Kant gewesen war, das wurde übersehen. Noch Jacob Grimm mußte sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er in den von ihm selbst noch herausgegebenen Bänden des D. W. den Mann kaum zitiert hatte, dem die wissenschaftliche Sprache der Deutschen mehr verdankte als irgend einem andern; im ersten Quellenverzeichnisse fehlt der Name Wolf völlig, im zweiten findet sich nur eine der kleineren deutschen Schriften. Erst die Nachfolger Grimms haben mit so ungleichem Erfolge, wie sie ungleich waren an Fähigkeiten, den Versuch gemacht, das Hinüber und Herüber der philosophischen Begriffe, die schwankenden Beziehungen zwischen der Gemeinsprache und der Philosophensprache mitunter an Wolf anzuknüpfen. Und Wolf selbst, der doch selbstbewußt genug auch von den sprachlichen Vorzügen seiner Bücher spricht, glaubt noch, fast hundert Jahre nach den französischen Schriften des Descartes, den Gebrauch der deutschen Sprache in der Weltweisheit fast entschuldigen zu müssen. Für sein bewußtes Verhältnis zu der ältern Terminologie gibt die wichtigsten Aufschlüsse seine »Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache herausgegeben« (1726). In der Vorrede verspricht er viel. »Man findet z. E. die Ursachen, warum ich Deutsch, und zwar rein Deutsch, geschrieben; man findet die Regeln, nach welchen ich mich in den deutschen Kunst-Wörtern geachtet; man findet erwiesen, daß ich dadurch meine Schriften nicht dunkel gemacht, noch auch den Wörtern eine andere, als die gewöhnliche, obwohl eine abgemessene Bedeutung beigeleget.« Die Erwartungen des heutigen Lesers werden so gespannt, aber nicht ganz befriedigt; daß seine Feinde ihren Schülern nur lac ignorantiae gespendet hätten, er aber die wahre Weisheit, das mag gern geglaubt werden; aber die Prinzipien seiner Übersetzungskunst werden nicht deutlich vorgetragen, weil sie ihm selbst nicht deutlich sein konnten. Er habe von der Weltweisheit in deutscher Sprache geschrieben, weil auf seiner Universität auch der Vortrag in den Collegiis in deutscher Sprache geschah; weil die Studenten, was lateinisch vorgetragen wird, nicht so wohl verstehen, als wenn es ihnen in ihrer Muttersprache vorgetragen würde; diejenigen müßten auch berücksichtigt werden, die das Unglück gehabt »in ihren Schuljahren in der Latinität versäumet zu werden« (S. 25); auch Unstudierte sollten sich aus diesen deutschen Schriften erbauen können. Wolf wollte reines Deutsch schreiben. »Ich habe mich nicht allein von ausländischen Wörtern enthalten, die man heute zu Tage in unsere deutsche Sprache häufig mit einzumengen pfleget, sondern auch alle Redensarten vermieden, die unserer deutschen Mundart nicht gemäß und bloß Übersetzungen von Redensarten sind, die man aus fremden Sprachen entlehnet.« Unsere deutsche Sprache sei nicht arm. »Ich habe gefunden, daß unsere Sprache zu Wissenschaften sich viel besser schickt als die lateinische, und daß man in der reinen deutschen Sprache vortragen kann, was im Lateinischen sehr barbarisch klinget« (S. 27). Er habe zum ersten Male deutsche Kunstwörter in die Philosophie eingeführt, aber die ältern Kunstwörter, wo sie zufällig vorhanden waren, habe er beibehalten. So gedenken für concipere. Er habe nicht aus dem Lateinischen übersetzt, sondern die Worte gebraucht, als ob es gar keine lateinischen Kunstwörter gegeben hätte. Die Ontologie nenne er nicht die Dinger-Lehre, sondern die Grund-Wissenschaft; die propositio identica nenne er einen leeren Satz. Besondern Wert habe er auf die Gleichförmigkeit im Gebrauche der Wörter gelegt. Es ist auch Wolf nicht erspart geblieben, daß er der idealen Forderung, seine Kunstwörter immer nur im Sinne seiner eigenen Definition zu gebrauchen, nicht treu geblieben ist; in seinen lateinischen wie in seinen deutschen Schriften gebraucht er manche Ausdrücke recht ungenau. Aber sein Bestreben, keine buchstäblichen Lehnübersetzungen zu bieten, also frei zu übersetzen, sind doch sehr merkwürdig und müssen auffallen, wenn man erst durch seine eigene Regel auf die Mühe aufmerksam geworden ist, die er sich gegeben hat. Für definitio sagt er Erklärung, für analysis Zergliederung, für principium Quelle. Vom Standpunkte des Patriotismus und der Sprachästhetik können die deutschen Schriften Wolfs kaum hoch genug eingeschätzt werden; wem es eine Notwendigkeit war, philosophisch zu denken und dabei deutsch zu denken, der konnte es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erst von Wolf lernen. Aber Wolfs Arbeiten in deutscher Sprache sind nur die praktische Ausführung eines viel weiter gehenden Programms, welches sein ungleich größerer Lehrer Leibniz als ein Arbeitsprogramm für die zu begründende Berliner Akademie der Wissenschaften (wahrscheinlich zu Beginn des Jahres 1698 oder Ende 1697) rasch hingeworfen hatte, welches erst nach Leibnizens Tode als die erste seiner deutschen Schriften veröffentlicht wurde, zuerst von Gottsched, der ein ebenso wackerer magister Germaniae war wie Wolf, nach Gebühr gewürdigt; natürlich meine ich die schon erwähnte Schrift: » Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache«. In einem Briefe nennt Leibniz diese Schrift viel hübscher: Dissertatiuncula extemporanea de Linguae Germanicae cura. Ich halte mich nun lieber an Leibniz als an Wolf, um, mit bewußter Außerachtlassung des patriotischen und des ästhetischen Standpunktes, einmal an die Frage heranzutreten, ob das philosophische Denken durch Übersetzung der Wörter in die Muttersprache wirklich soviel gewinne, wie seit einigen hundert Jahren geglaubt wird. Um die Frage zu untersuchen: worin besteht das Wesen der Übersetzung, insbesondere der Übersetzung philosophischer Ausdrücke? In den Paragraphen 10 und 11 behauptet Leibniz, daß die deutsche Sprache für die Ausdrückung der psychologischen, ethischen, politischen, logischen und metaphysischen Begriffe sich mindestens so gut eigne wie die lateinische; »weil alles, was der gemeine Mann treibet, wohl in Teutsch gegeben, so ist kein Zweifel, daß dasjenige, so vornehmen und gelehrten Leuten mehr fürkommt von diesen, wenn sie gewollt, auch sehr wohl, wo nicht besser in reinem Teutsch gegeben werden können. Nun wäre zwar dieser Mangel bei denen logischen und metaphysischen Kunstwörtern noch in etwas zu verschmerzen, ja ich habe es zu Zeiten unser ansehnlichen Haupt-Sprache zum Lobe angezogen, daß sie nichts als rechtschaffene Dinge sage, und ungegründete Grillen nicht einmal nenne (ignorat inepta). Daher ich bei denen Italienern und Franzosen zu rühmen gepfleget: Wir Teutschen hätten einen sonderbaren Probierstein der Gedanken, der andern unbekannt; und wann sie denn begierig gewesen etwas davon zu wissen, so habe ich ihnen bedeutet, daß es unsere Sprache selbst sei; denn was sich darin ohne entlehnte und ungebräuchliche Worte vernehmlich sagen lasse, das seie würklich was Rechtschaffenes; aber leere Worte, da nichts hinter, und gleichsam nur ein leichter Schaum müssiger Gedanken, nehme die reine teutsche Sprache nicht an.« Es wäre Sache einer besonderen Untersuchung, die Stimmung zu ergründen, aus der heraus der internationale Mann die prächtige Schrift schrieb; hier handelt es sich nur darum, die Richtigkeit des Glaubens zu prüfen, daß die modernen Nationalsprachen für die Behandlung philosophischer Gegenstände geeigneter seien, als die lateinische Gelehrtensprache es war. Es versteht sich von selbst, daß uns der Gebrauch der Muttersprache auch für die Wissenschaften als der einzig mögliche erscheint; eine Unzahl von Dingen und Gedankendingen läßt sich ja in klassischem Latein gar nicht ohne Paraphrase oder Umschreibung bezeichnen. Und noch einmal: der patriotische und der ästhetische Standpunkt bekümmert uns hier nicht. Aber just die Begriffe der Philosophie scheinen mir um nichts rechtschaffener zu werden dadurch, daß wir sie aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzen, wie die Lateiner sie aus dem Griechischen übersetzt hatten. Die Franzosen haben in ihrer Sprache den alten Begriffsunterschied von version und traduction beibehalten (Vgl. den lesenswerten Artikel Traduction der »Encyclopédie«); version bezeichnet die silbengetreue Wiedergabe eines Textes, die authentische Übersetzung einer heiligen Schrift so gut wie eine Schulübersetzung, die auf Schönheit keinen Anspruch macht; traduction soll ein fremdes Literaturprodukt zwar genau, aber im Geiste der Muttersprache wiedergeben. Im Deutschen haben wir diesen Begriffsunterschied kaum (es ist nicht üblich, zwischen Übersetzung und Übertragung zu scheiden); auch beschäftigen sich die Schriften über Übersetzungskunst fast ausschließlich mit ästhetischen Fragen und solchen der Poetik; kaum daß Schopenhauer (Parerga II. S. 602) auf die Ungleichheit der Assoziationssphären als auf den Grund der Mangelhaftigkeit aller Übersetzungen hingewiesen hat, die nach ihm nur wie Kopien eines Gemäldes wirken, nach einem strengeren Urteile wie die Rückseite einer Stickerei. Ich möchte aber zeigen, daß die Lehnübersetzungen philosophischer Begriffe immer nur Versionen sind, niemals Traduktionen sein können, daß also diese Lehnübersetzungen ihren Erfindern selbst nur durch die Modellwörter verständlich sind, den Schülern und der Nachwelt jedoch durch häufige Einübung zwar geläufiger werden können als die Modellwörter, aber um nichts verständlicher. Die Lehnübersetzung gehörte entweder schon vorher der Gemeinsprache an, oder sie wurde aus Wörtern der Gemeinsprache neu zusammengesetzt; auf diese beiden Möglichkeiten (Ausnahmen sind äußerst selten) lassen sich auch die Fälle zurückführen, in denen die Übersetzung mehr eine Erklärung, eine Umschreibung, eine Interpretation ist, wie die Übersetzungsarbeit von Wolf nach seiner eigenen Meinung. Ist das Wort neu gebildet worden (z. B. Gegenstand), so ist das Wort doch offenbar nur durch sein Modellwort zu erklären; die Einübung kann es zu einem Worte der Gemeinsprache machen, aber niemals kann dieses Wort nur darum vorstellbar werden, weil seine Silben schon vorher der Gemeinsprache angehörten. Ist aber ein sinnfälliges Wort der Gemeinsprache zur Übersetzung benützt worden (z. B. Zweck), so muß sich der philosophische Schriftsteller, der es technisch gebraucht, zu den alten Bedeutungen des Worts die neue bildliche Bedeutung hinzumerken, und muß sich wohl hüten, das Bild für eine Definition zu halten, aus einer Metapher Schlüsse zu ziehen. Auch der Begriff der Gemeinsprache ist ja relativ. Es gibt keine Sprache, die zwischen allen Menschen eines Volkes geläufig wäre; und Sprache ist ja nur zwischen den Menschen. Die philosophischen Begriffe gar nicht einmal immer zwischen allen philosophierenden Menschen, sie sind oft nur zwischen den Philosophen einer bestimmten Schule. So glaube ich in Kürze angedeutet zu haben, warum die Lehnübersetzungen der philosophischen Begriffe der Erkenntnis weniger nützlich waren als sonst die Einführung der modernen Nationalsprachen in die Wissenschaften. Durch den Gebrauch von Lehnübersetzungen wurden die schwierigen Begriffe nicht leichter, die verschwommenen nicht schärfer, die Scheinbegriffe erhielten keinen Wirklichkeitswert. Nur eins wurde gewonnen: Sprachkritik konnte einer lebenden Sprache gegenüber erfolgreicher einsetzen als einer toten Sprache gegenüber. Und Sprachkritik konnte es endlich zum Bewußtsein bringen, daß wir immer noch ahnungslos scholastisch sind, wenn wir die überlieferten Termini, einerlei ob im Original oder in Übersetzungen, im Vertrauen darauf gebrauchen, daß immer ein Begriff bei dem Worte sein müsse, bei einem Worte der Philosophie erst recht.
XII.
So viel über die Prinzipien, die bei der Wortgeschichte überhaupt und besonders bei der Geschichte philosophischer Begriffe eingehalten werden müssen. Wäre die Geschichte eines philosophischen Begriffs in jeder seiner Anwendungen, im Sprachgebrauch jedes philosophischen Schriftstellers, genau zu übersehen, von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, so wäre die Kritik des gegenwärtigen Wortinhalts in der Geschichte des Begriffs schon mitenthalten. Eine solche vollständige Wortgeschichte müßte natürlich außer den sichtbaren Erscheinungen des Laut- und Bedeutungswandels auch bei jedem Schriftsteller den bewußten Willen im Gebrauche des Wortes buchen können. Wir werden aber (vgl. Artikel Geschichte) erfahren, daß die Ergebnisse der Disziplin, welche sich Geschichtswissenschaft nennt, um so unsicherer, ja unwahrscheinlicher werden, je mehr sich der Bericht von einer bloßen Chronik äußerer Veränderungen entfernt, je mehr der Bericht sich einem Verständnisse der Helden der Geschichte, einem Eindringen in ihren psychologischen Willen zu nähern sucht; selbst wenn Eroberer oder Staatslenker ihre Motive einmal ausdrücklich ausgesprochen haben, ist dieser Äußerung nicht zu trauen, weil Lüge oder Fälschung gar wohl zu ihren Motiven oder Handlungen gehören konnte. Bei den Helden der Philosophiegeschichte läge die Sache an sich günstiger, weil Lüge oder Fälschung wohl der Beherrschung der Menschen dienen kann, niemals aber dem eigenen Fortschreiten in der Erkenntnis. Der psychologische Wille beim Wortgebrauch der großen Philosophen ist also in den Fällen mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erschließen, wo der Schriftsteller den Gebrauch eines bestimmten Wortes mit Bewußtsein geändert und seine Motive klar und bestimmt angegeben bat. Diese Fälle sind aber seltener, als man zu glauben geneigt ist. Ein scharfsinniger Universalkopf wie Leibniz konnte die Begriffe vieler Wissenschaften untersuchen, weil seine wertvolle Lebensarbeit gerade in der höheren Kritik der Vorstellungen und Begriffe bestand, die zu seiner Zeit Geltung hatten; der Begründer aller Sprachkritik, Locke, konnte grundsätzlich die Grenzen der Wortmacht aufzeigen, weil er als Engländer vom Nominalismus herkam und die Psychologie der Sprache zum Mittelpunkte seiner Lebensarbeit gemacht hatte. Horne Tooke, der Tapfere, dem von Einigen sogar die Autorschaft der Junius-Briefe zugeschrieben wurde, hat nicht mit Unrecht gesagt, Locke hätte seinen Essay on human Understanding besser nennen können: A Grammatical Essay or a Treatise on Words, on Language. Aber die eigentlichen großen Philosophen, die den Menschen ein neues Weltbild schenkten, indem sie ihre ganze Geisteskraft einer besonderen Gruppe von Erscheinungen oder Begriffen zuwandten, ihr ganzes inneres Licht in diesem einen Brennpunkte sammelten, – diese außerordentlichen Männer hatten gar keine Zeit, den Stall des Augias zu reinigen, den gesamten Wortvorrat der Sprache, in der sie schrieben, vorher auf seine Brauchbarkeit zu prüfen. Sie nahmen das Erbteil ihres Volkes und der Menschheit, die Sprache, einfach cum beneficio inventarii an und bestritten die Kosten ihres Denkens von diesem Erbe, ohne sich viel um die Herkunft und um die Prägung und um die Schönheit der Wortmünzen zu bekümmern. Spinoza, Hume, Kant waren keine Historiker der Sprache; keine menschliche Geisteskraft ist groß genug, um zugleich die Architektur eines neuen Weltsystems zu schaffen und daneben die Kleinarbeit der Wortkritik zu leisten. Erwin von Steinbach hat die Steine für sein Münster nicht selbst behauen können. Ich weiß, was man mir entgegenhalten kann. So haben uns gerade die stärksten Philosophen, die Helden der Gedankengeschichte, der Mühe nicht enthoben, die Begriffe zu untersuchen, die sie unbesehen in ihren Sprachgebrauch aufgenommen und dem gegenwärtigen Sprachgebrauch überliefert haben. Die Arbeit muß immer wieder aufgenommen werden: zwischen brauchbaren Begriffen und Scheinbegriffen zu unterscheiden. Was ist das: ein Scheinbegriff? Dieses Wörterbuch wird viele Begriffe, die in allgemeinem Ansehen stehen, als Scheinbegriffe denunzieren. An Beispielen fehlt es mir also nicht. Dennoch ist es nicht leicht, allgemein auszusprechen, wodurch sich ein brauchbarer Begriff von einem Scheinbegriffe, ein richtiger Begriff von einem falschen, ein lebendiger Begriff von einem toten unterscheide. Mit diesen Gegensatzpaaren habe ich schon einige Gründe der Schwierigkeit genannt. Der bloße Schein der Brauchbarkeit ist eben nicht immer aus der gleichen Ursache zu erklären. Und auch die Falschheit oder der Tod eines Begriffs ist jedesmal nicht so einfach festzustellen. Die Falschheit kann dem Begriffe von Anfang an angehaftet haben, kann aber auch im Verlaufe der Wortgeschichte entstanden sein, braucht nicht erst von einem wissenschaftlich und kritisch fortgeschrittenen Geschlechte erkannt worden sein; ein Begriff kann tot gewesen sein von Anfang, der Tod kann aber auch nach kürzerem oder längerem Leben des Wortes eingetreten sein, unbemerkt für den Sprachgebrauch. Ganz scharf sind die Grenzen nicht zu ziehen, weil alle diese Begriffe relativ sind. Die Begriffe absolut und Phlogiston waren von Anfang falsch, weil eine genaue Aufmerksamkeit den Widerspruch mit den Tatsachen der Erfahrung von jeher hätte aufdecken können. Der Begriff Hexe wurde erst falsch, als der Begriff Teufel gestorben war; mit dem Scheinbegriff Teufel konnte das gottlose Weib keine fleischliche Verbindung mehr eingehen. Der Begriff Teufel wiederum war lange genug lebendig und starb erst, als die menschliche Erkenntnis sich überzeugt hatte, daß weder ein Teufel noch irgendwelche seiner Wirkungen in der Wirklichkeitswelt zu beobachten wären. Dem Tode verfallen sind aber noch ganz andere Begriffe als so ein Fabelwesen mit Hörnern und Klauen; die obersten Begriffe der Physik sind gezeichnet wie Bäume im Wald, die dem Beile des Holzhauers verfallen sind. Ein totgeborener Begriff scheint mir der der Imponderabilien gewesen zu sein. Man hüte sich davor, Abstraktionen, besonders die dünnen Abstraktionen im Verdachte zu haben, daß sie Scheinbegriffe seien. Dieser Versuchung unterliegen nicht nur Banausen; selbst Leibniz hat in der nominalistischen Stimmung, in der er die berühmte Vorrede zu seinem Nizolius schrieb, allzu schnell scholastische und abstrakte Worte zugleich verurteilt. »Ein Philosoph nehme selten andere Dinge wahr als die übrigen Menschen; man solle beim genauen Philosophieren lieber konkrete Wörter gebrauchen als abstrakte; nur im exoterischen Vortrage haben abstrakte Wörter ihren Nutzen. Metaphysische Kunstwörter muß man wie Schlangen und Ottern fliehen. Lieber Popular- als Kunstworte! Sie sind wie das Rotwelsch.« Ich glaube, daß Leibniz wohl nur die bildkräftige Sprache empfehlen und vor den verblaßten Metaphern der philosophischen Kunstsprache warnen wollte. Der verblaßteste und leerste aller philosophischen Begriffe, der Begriff des Seins, ist darum noch lange kein Scheinbegriff. Ich muß nun aber den Hinweis etwas korrigieren, der besonders tote und falsche Begriffe für Scheinbegriffe erklärte. Es bedarf keines Wortes um klar zu machen, daß der Tod oder das Sterben von Begriffen ein bildlicher Ausdruck sei, hergenommen von der Vorstellung, die Sprache sei ein Organismus; es ist eigentlich ein schlechtes Bild, ganz schlecht die Anwendung auf die philosophischen Begriffe; auch darum schlecht, weil Begriffe (wie Teufel) für die Wissenschaft und für die gebildeten Kreise schon tot sein können, die in der Sprache weiter Volkskreise, die in der Gemeinsprache noch lustig fortleben; Begriffe gar wie Stoff und Ursache leben noch in der Sprache der Wissenschaft fort und tragen das Zeichen des Todes erst für kleine Denkergruppen. Und was nun die falschen Begriffe anbelangt, so werden wir lernen (vgl. Art. falsch), daß die Sprache mit feiner Unterscheidung nur Urteile gern falsch nennt, Begriffe also nur darum falsch nennen kann, weil in allen Begriffen Urteile versteckt sind; daß die Sprache dagegen das Wort Schein am liebsten auf täuschende Sinnesempfindungen anwendet. Deshalb hatte Herbart ganz recht, da er einmal sagte: »Dieser Schein, als Schein, hat Wahrheit; das Scheinen ist wahr. Nun liegt es im Begriff des Scheins, daß er nicht in Wahrheit das sei, was er scheint.« Man muß sich schon bewußt werden, daß auch Wörter und Worte nur Zeichen sein sollen, wie Sinnesempfindungen Zeichen von etwas Seiendem sind, um jetzt zu verstehen, daß Begriffe nur falsch genannt werden, insofern sie ein unrichtiges Urteil mitenthalten, daß aber diese Begriffe Scheinbegriffe sind, falsche Vorstellungen erwecken, aber bei alledem doch sind. Wenn nun der Ausdruck tote Begriffe bildlich ist und die Unbrauchbarkeit solcher Wörter im sogenannten Organismus der Sprache bedeutet, wenn also alle toten Begriffe im Grunde falsche Begriffe sind, wenn man den Ausdruck Schein gut nur auf Sinnesempfindungen anwendet, wenn die adjektivische Welt die Welt der ehrlichen, d. h. nur normal täuschenden Sinneseindrücke ist, wenn wir diese normalen Täuschungen (wie das Wahrnehmen von Tönen und Farben) niemals einen bloßen Schein zu nennen berechtigt sind: so gelangen wir auf diesem Gedankenwege zu einer neuen Auffassung der Scheinbegriffe. Wir werden erfahren und es oft einprägen müssen, in immer neuer Form, daß unsere allezeit materialistische Sprache nur eine adjektivische Welt kennt, daß die substantivische Welt der Dinge eigentlich ganz und gar auf Hypothesen aufgebaut ist. Wir können diese dinglichen Hypothesen vorläufig, solange wir unsere Sprache sprechen, gar nicht entbehren; wir nennen die Realbegriffe, deren Individuen uns mit ihren adjektivischen Wirkungen umgeben, deren Individuen unsere Sinne wahrzunehmen scheinen, niemals Scheinbegriffe. Der Artbegriff Pferd läßt sich so wenig verifizieren wie der Artbegriff oder der Individualbegriff Teufel; doch die Wirkungen des angenommenen Dings Pferd, ja sogar die Wirkungen des Artbegriffs Pferd lassen sich verifizieren. Und so gehen auch von den höheren Begriffen, die darum keine Scheinbegriffe sind (Säugetier, Tier, Organismus, Körper), Wirkungen auf die unserer Sprache allein zugängliche adjektivische Welt aus. Scheinbegriffe sind also substantivische Begriffe, von denen irgendwelche adjektivische Wirkungen nicht ausgehen. Unsere Begriffskritik wird nachzuweisen haben, daß viele unserer philosophischen Begriffe solche Scheinbegriffe sind. Substantivische Begriffe also, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht, (um es richtiger auszudrücken): wovon adjektivische Wirkungen nicht ausgehen; denn das ist ja eben die Gefahr der Scheinbegriffe, daß sie von keiner Realität abstrahiert sind, und dennoch sind, in der Sprache oder im Denken der Menschen sind, als Vorstellungen, und so, als Vorstellungen, Motive des Handelns werden können, sehr häufig zu Mord und Totschlag geführt haben (Religionskriege, Hexenverbrennungen), mitunter auch zu erfreulichen und nützlichen Handlungen. Die Zerstörung von Scheinbegriffen, die Aufdeckung ihrer Falschheit ist also nicht nur ein theoretisches Bedürfnis für die menschliche Erkenntnis, sondern in sehr vielen Fällen auch ein praktischer Vorteil, weshalb der Sprachkritiker es sich gefallen lassen muß und mag, zu den Aufklärern gerechnet zu werden. Bei seinem großen Geschäfte, das die Erlösung von dem Glauben an die Sprache heißen kann, ist die Befreiung vom Aberglauben an die Scheinbegriffe immerhin ein guter Nebenerfolg. Schopenhauer hat den Begriff der Scholastik auf die ganze Zeit von Augustinus bis Kant ausgedehnt wissen wollen (W. a. W. u. V. I. S. 500); wobei er freilich die antischolastischen Engländer rein vergessen hat. Seine Ausdehnung der scholastischen Zeit ist aber sonst nicht unberechtigt, wenn man alle Philosophie, die sich zur Theologie in das Verhältnis einer Magd stellt, Scholastik nennen will. Sieht man jedoch das Wesen der Scholastik in ihrer Knechtschaft unter den Worten des Aristoteles, in ihrem Wortaberglauben, der allen Scharfsinn ihrer besten Männer zu einer unfruchtbaren Begriffsspalterei verurteilte, der zwischen den höchsten Ideen, den abstraktesten Begriffen und Scheinbegriffen keinen eigentlichen Wertunterschied wahrnehmen ließ, – dann gibt es heute noch, auch unter den materialistischen Naturforschern und unter ihren energetischen Gegnern, lebendige Scholastiker, dann gibt es heute noch scholastische Begriffe ( Stoff, Atom, Energie, Kraft, Form, Ursache usw.); und die Sprachkritik darf nicht müde werden, immer wieder die neuesten Scheinbegriffe zu bekämpfen, denen in der Wirklichkeitswelt nichts entspricht, von denen adjektivische Wirkungen nicht ausgehen, die aber trotzdem auf die psychologische Wirklichkeit des Denkens Einfluß haben. Die Sprachkritik darf nicht ermüden, trotzdem sie erkannt hat, daß die psychologische Macht der Scheinbegriffe nicht nur möglich, sondern notwendig ist durch das Wesen der Sprache: daß die Begriffe der Philosophie – weil die Philosophie dort anfängt, wo das Erfahrungswissen aufhört – in den höchsten Regionen oft schwanken müssen zwischen der Gefahr des Scheins und der Gefahr der Mystik.