Full text of "Das reisetagebuch eines philosophen .."
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'••■; iis< r-=i Wx*\i£Z&/* |V4/:M^ ü whi ti .^ F mh& "i ^v Digitized by the Internet Archive in 2009 with funding from ontario Council of University Libraries http://www.archive.org/details/dasreisetagebuchOOkeysuoft DAS REISETAGEBUCH EINES PHILOSOPHEN GRAF HERMANN KEYSERLING DAS REISETAGEBUCH EINES PHILOSOPHEN IIlIiMIIIIItlllllllllllllllllllllllllllllllllltlllMlIIIIIIIIIlllIlllIllltllllllllllllllllllllllllllllllllltlltlllllllllllllllllllltlllilllllllllllll Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum. ■■lllIllllllllllllltlllllllllltlllllllMlIlllllllllllllIllllIIllillllllllllSlIlllIfilflttlllilitlllltlllllllllllllllllllllllllllllltlltlllllllllllltll VERLAG VON DUNCKER & HUMBLOT MÜNCHEN UND LEIPZIG 1919 Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1919 by Duncker & Humblot in München und Leipzig. APR _4 1960 Druck von Dr. F. P. Dattcrer & Cie. (Arthur Sdller) München-Frtising. INHALT. Vorbemerkung XXVII I. Nach den Tropen. Vor der Abreise: Verschiedene Formen der Erfahrung; Wert und Unwert der Abgeschiedenheit; Schauspieler, Dichter und Metaphysiker; warum Philosophen Wanderer sein müssen; Wert und Unwert des Reisens 3 Im Mittelländischen Meer: Äußere und innere Freiheit; warum ich kein Schulhaupt sein will; das einzig Wesentliche; mechanische Befreiung; Apologie des Jesuitismus; die Seele als „Natur" 7 Im Suez-Kanal: Wüstenstimmung; der Wüstengott; wie Götter entstehen 9 Im Roten Meer: Phantasie des Körpers; Korrelation der Elemente jeder Welt; wie bestimmte Tiere a priori zu kon- struieren sind 11 Aden: Afrikas ungeheure Bildungskraft; die Natur künstlerischer als der Mensch; Überschätzung der Künstlerschaft; der Sinn der Schönheit; wie objektiv gültige Geschmacksurteile mög- lich sind; Schönheit für das Individuum nie symbolisch . . 12 Im Indischen Ozean: Warum die Anschauung großer Natur erhebt; Wirkung abhängig von äußeren Umständen (15). — Bedeutsamkeit der Kleidung; Apologie der Eitelkeit; Ver- kleidung als Mittel zur Selbstverwirklichung; Hadji Baba von Ispahan; verschiedene Auffassung der Form in Orient und Okzident (16). — Gleichgültigkeit aller Tatsachen; keiner kann alles; man scheide zwischen sich und dem ver- wandten Gehirn; Notwendigkeit der Selbstbeschränkung; spezifische Selbstlosigkeit des Schaffenden; keiner lebt sich selbst (18). — Macht des Milieus; Vorzug der Hauptstadt vor der Provinz; Wert und Unwert der „Welt"; der reprä- sentative Typus; die Französin des 18. Jahrhunderts; Cha- rakterdifferenzen zwischen Kind, Mann und Greis als Re- VI Inhalt flexwirkungen des Milieus; warum Mann und Weib mit verschiedenem Maßstabe zu messen sind; Träumerei über das Himmelreich 20 II. Ceylon. Colombo: Alles Leben in den Tropen ist Vegetation; psy- chische Phänomene eines Sinnes mit physischen; die Mäyä- lehre; Mäyälehre entspricht unserem Naturalismus; Buddha und Nietzsche 27 Kandy: Schönheit der Landschaft; Sehnsucht und Erfüllung; warum alle Großtaten des Geistes aus gemäßigten Zonen stammen; die Tropen kennen unsere Liebe nicht; die Sehn- sucht aus der Fülle hinaus als mächtigstes Motiv des Tropen- bewohners; das Nirwana (30). — Tropenflora; der Buddhismus als Theorie der Vegetation (33). — Physiologische Grundlagen des Buddhismus ; Acvagosha und Bergson ; phänomenologischer Relativismus als Religion ; Leichtigkeit in den Tropen, psychisches Geschehen objektiv zu beurteilen; das Werden als äußerste Instanz; Grundlagen des Nirwana-Gedankens; Befreiung und ewiges Leben (34). — Die buddhistische Kirche; der buddhi- stische Priester dem christlichen überlegen; Taktlosigkeit aller Weltverbesserer; Uninteressiertheit wertvoller als Wohl- tätigkeit; die buddhistische Carität; jeder Zustand notwendig und auf seiner Stufe gut; der Mensen will nicht bevormundet werden (38). — Gestaltungskraft des Buddhismus; Buddhis- mus, Katholizismus und Protestantismus; Vorzug dessen, daß Buddha einem Herrscherhause entstammte; absoluter Vor- zug edler Geburt; das Christentum ursprünglich eine Prole- tarierreligion; absoluter Vorzug des Buddhismus gegenüber diesem (40). — Der buddhistische Gottesdienst; Unwesent- lichkeit der Glaubensvorstellungen; warum dem Tropen- bewohner religiöser Tiefsinn näherliegt als dem Nordländer; der Weg des Westens führt durch die Erscheinung hindurch zum Sinn; Wesentlichkeit der Dogmen innerhalb des Christen- glaubens; ein buddhistischer Fanatiker (43). — Die Mönche; weshalb sie verehrt werden; Ursache der buddhistischen Freudigkeit; Buddhismus und Luthertum; Nachteil allzu billiger Ideale (45). — Christliche und buddhistische Näch- stenliebe; Attachement und Detachement als Ideale; der Buddhismus hat das spezifische Weisen-Ideal zum allgemeinen erhoben; absoluter Vorzug des Christentums (47). — Der Buddhismus als ideale Religion der Mittelmäßigkeit; die christliche Idealisierung der Niedrigkeit; Würdelosigkeit des Thomas a Kempis; Vorzug „wissender" Religionsstifter; wahre Bedeutung von Christi Lehren; der moderne Ma- terialismus als Enkelkind des Strebens nach dem Himmel- reich (49). — Verwandlung meines Körpers; Akklimatations- fähigkeit als Frage der Einbildungskraft; das Tier hat wenig Inhalt. VII freie Phantasie; Stoizismus und Proteustum (52). — Stärke aller Gegensätze in den Tropen (53). — Schwierigkeit, im Licht der Tropensonne zu sehen; der Tausendfuß und die Vollkommenheit; warum der Brite überall gelten gelassen wird, der Deutsche nicht 54 Dem bull: Buddha und die Vielgötterei; die Persönlichkeit als Oberflächliches 56 Durch den Dschungel nach Habarane: Armut des Auf- fassungsvermögens der Kulturmenschen gegenüber der Natur; Vielgestaltigkeit des Urwalds und des Ozeans; der Schematis- . mus des Menschengeistes 57 Am Minneri-See: Die Vollkommenheit des Tiers; Gebunden- heit wertvoller als Ungebundenheit; Tiere interessanter als Menschen; an der Wurzel alle Schöpfung eins (58). — An- schauungen und Einfälle auf einer geistigen Ebene belegen; verschiedene Formen des Auffassungsvermögens; Tolstoy hat ohne Tiefsinn doch Tiefstes zur Darstellung gebracht ... 62 Pollonaruwa: Vom Wesen der Ruine; der Dschungel und Griechenland 63 Anuradhapura: Die Tropenkönige als Tiger und Elephanten; die Tropenluft individualitätsfeindlich; der heilige Bodhi- Baum; rasende Hast der Lebensablösung; Möglichkeit der Saurier; Bedingtheit aller Größe; antinomisches Verhältnis zwischen hohem Niveau der Masse und einzelnen Riesen (64). — Ein Schlangenheim; Schlangenbändigung und Irrenbehand- lung; schöpferische Wirkung verstehender Behandlung; Mo- ralität und Angepaßtheit; der „moralische Instinkt"; ein Paradies auf Erden; wann göttliche Liebe sich äußern kann (67). — Poesie des Reliquiendienstes 70 III. Indien. Rameshvaram: Mannigfaltigkeit der indischen Menschheit; die spezifisch-indische Bewußtseinslage; unmittelbares Ver- ständnis des Symbolischen; Vorstellungen als selbständige Wesenheiten; verschiedene Wirkung religiöser Zeremonien; Verknüpfung zwischen Sinn und Laut; das Psychische ein ebenso Objektives wie das Materielle; Möglichkeit von Wun- derwirkungen; der indische Wirklichkeitsbegriff; Primat des Psychischen 73 Madura: Weshalb alle frühesten Gottesdienste furchtbar waren; die Extase des Fleisches; Rausch und Wollust als Wege zu Gott; Geschlechtsverkehr als Sakrament; die indischen Götter als Personifikationen der Grundtriebe; inwiefern es Dämonen gibt; mögliche Tiefe des Oberflächlichen (77). — Die indische Kunst als Höchstausdruck physischer Imagination; Animalität des Hinduismus; indische Übertreibung; unerreichte Aus- drucksfähigkeit für Irrationales; Shiva göttlicher als Zeus VIII Inhalt (80). — Der Geist des Polytheismus; Vorzüge der Viel- götterei; warum Kunst in seinem Bereiche am besten gedeiht; Obergang zum Monotheismus, damit zur Ordnung, aber auch zur Widerspruchsfülle ; Monotheismus züchtet Charakter; Mono-, Polytheismus und Mystik; inwiefern die abgeklärte indische Weisheit und der buntfarbige Volksglaube Gleiches lehren; der Irrtum als Ausdruck der Wahrheit (83). — Indischer Wortreichtum; Wert und Unwert der Allgemein- begriffe; Planlosigkeit aller indischen Gestaltung; Inder nie Rationalisten gewesen; richtige Einschätzung der Logik; sich widersprechende Lehren gelten als gleich orthodox; Grenzen der Vernunft (86). — Das indische Epos; den Indern gelten Mythen und historische Tatsachen als gleich wahr; wie der Mythos die Wirklichkeit verwandelt; Wahrheit und Bedeut- samkeit; der Sinn als Primäres; die Welt des reinen Sinns; die Wissenschaft als Mäyä ; Einbildungen besser als Tatsachen 89 Tanjore: Der indische Tanz 92 Conjeevaram: Psychologie des Kastensystems; Notwendigkeit der Vorurteile; Erkenntnis allein führt über sie hinaus; der Pragmatismus , 94 Mahabalipuram: Wert der Vergänglichkeit 96 Adyar: Verdienst der Theosophischen Gesellschaft; westlicher Charakter der Theosophie; Umdeutung der indischen Weis- heit; Wahrheitsgehalt des Okkultismus; Möglichkeit der Fernwirkung; Gedanken als materielle Erscheinungen; Er- kenntniskritische Grundlagen des Okkultismus; Möglichkeit höherer Welten; Möglichkeit des Gottschauens ; Sehertum; verschiedene Ebenen der Wirklichkeit; M rs Annie Besant (97). — Wesen der Yoga; Konzentration als technische Basis jedes Fortschritts; Stille der Seele; Meditation und Gebet; das Vitalisieren erwünschter Vorstellungsabläufe; Wunsch schafft Wirklichkeit; die geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola (104). — Der Jesuitenorden; okkulte Ausbildung und Spiritualisierung hängen nicht zusammen; psychistischer Fortschritt bedingt menschliche Rückbildung; Yoga .macht eindeutig; die Wurzel des moralischen Dualismus; das radi- kal-Böse; Erlösung durch Erkenntnis (108). — Okkulte Aus- bildung als biologischer Fortschritt; Fortschritts- und Voll- endungsstreben schließen sich aus; warum die geistlich Armen selig werden; Vollendung als Exponent der Spiritualität; ab- solute Werte; das Spirituelle ein Prinzip; Unsterblichkeit; spirituelle Bedeutung des Fortschreitens; der Geist gewinnt immer reichere Ausdrucksmittel; Erkennen und Sein; Vollen- dung zieht Fortschritt nach sich (111). — übersinnliche Wel- ten; Vorzüge des Aberglaubens; Spekulationen über das Jenseits; absoluter Vorzug des Erdenlebens; Erlösung durch Glauben (116). — Vorzüge des Krankseins; Sinn der Morti- Inhalt IX fikation; Vorzüge des Blindseins; Besitz höherer Fähigkeiten in abnormen Zuständen bedeutet nichts; minderwertige Hei- lige; Urteilsklarheit der Inder in diesen Dingen; der Yogi wesentlich gesund (120). — Dunkler Anfang aller Religions- gemeinschaften; bedeutende Menschen können nicht Jünger sein ; paradoxale Mechanik des religionsgeschichtlichen Werdens ; Religionsstifter keine starken Persönlichkeiten; Lehre Jesu nur ein Element des Christentums; die Juden als auserwähltes Volk; weltliche Ohnmacht geistlicher Riesen; geheimnisvolle Wirkungsart spiritueller Kräfte; die Meister der Theosophie (124). — Die Wiederverkörperungslehre ; kinematische und statische Auffassung des Lebensprozesses ; Glück des Westens, nicht an die Metempsychose geglaubt zu haben; Vorzug des Glaubens an das jüngste Gericht; Plato und die Theo- sophen (128). — Der Messias von Adyar; Vorzug unerreich- barer Ideale; Existenz eines Heilands religiös gleichgültig; warum die meisten Religionen Vermittler setzen; Sinn des Triebs, sich einem Höheren hinzugeben; wahrer Wert eines Heilands: er gibt der Menschheit ein Beispiel (130). — Kann die Menschheit noch einen Heiland brauchen ? Metamorphosen der Persönlichkeit Jesu; Sieg des protestantischen Geistes; Weltreligionen fortan unmöglich (135). — Die Theosophie hat keine Weltmission; die drei Haupteinwände gegen sie; religiöser Unwert okkulter Ausbildung; Sinn von Glaube und Aberglaube; Vorzüge des New Thought; Adela Curtis; Vor- zug der christlichen vor der indischen Mystik; neue Reli- gionen überflüssig; männliche und weibliche Tugenden; Weiblichkeit der indischen Ideale; die Idee der Autonomie als Macht; ihr unvermeidlicher Sieg (137). — Wesentliche Männlichkeit des Westens; Überwindung des Schicksals; Ur- sache der westlichen Effikazität; was der Westen eigentlich will; Glauben und Sein werden eins, die Selbstbestimmung siegt; die weibliche Menschheit als erkenntnistiefere; Mann und Weib; Wesen des Geschlechtsgegensatzes .... 145 Ellora: Brahmanismus, Dschainismus und Buddhismus; die Dürf- tigkeit des indischen Protestantismus; der Buddhismus als Entartungserscheinung; Religion und Volkscharakter; Wand- lungen des Buddhismus 150 Udaipur: Das indische Theater; indische cours d'amour; indische Liebeskunst; erotische Überlegenheit des Romanen vor dem Germanen; erotische Bildung; Grande Dame und Hetäre, Muse und Hausmutter; das Moralische kein möglicher General- nenner für ideales Streben; überhaupt kein Generalnenner denkbar; eine Art Vollendung gedeiht nur auf Kosten anderer 154 Tschitor: Indisches Heldentum; die Geschichte registriert nicht alles Geschehen; kein Zustand vergeht ganz, er tritt nur ab von der Bühne 160 X Inhalt Dschaipur: Indiens Mannigfaltigkeit; der Kastenbegriff; Vor- züge des Kastensystems (162). — Vorzug der Überschätzung der Vererbungsgesetze; die Rajputs als höchster Triumph der Menschenzüchtung; Rasse psychisch bedingt; Anlagen nie ein- deutig von Hause aus; warum Herrscherhäuser am lang- samsten entarten; indische Glaubenskraft 165 Lahore: Fluch der Gemütlichkeit; es gibt keine guten Gewohn- heiten; weshalb es der Geregeltheit im Leben bedarf; Ver- ständnislosigkeit als Macht 169 Peshawar: Die entgeistigende Luft Zentral- Asiens ; die Größe Dschengis-Khans (171). — Das Kabul-Tal einst und jetzt; was Geschichte bedeutet; es gibt keine Vorsehung (172). — Verfehltheit des Ursprünglichkeitsideals ; Kühe und Götter als Ideale; der Übermensch 173 Delhi: Der Geist des Imperiums; Delhi und Rom; die Groß- moguln als größte Herrschertypen; Akbars einzigartige Über- legenheit; sein Über-Nationales; die Vornehmheit des Muslim gegenüber der Unvornehmheit des Christen; islamische Tole- ranz; der Islam allein hat das Fraternitätsideal realisiert (175). — Gestaltungskraft des Islam; sein demokratischer Geist; Allah als Herr der Heerscharen; der Mohammedanerglaube als mili- tärische Disziplin; Gebet als Parademarsch; die Gehorsam- forderung in der Religion (179). — Der Islam eine Religion des einfachen Soldaten; islamischer und russischer Fatalis- mus; Vorzüge des Prädestinationsglaubens; Verwandtschaft von Calvinismus und Islam (181). — Vorzüge des Mono- theismus; Zucht auf Charakter (182). — Der Hof von Delhi; Gesetzmäßigkeit aller Kunstentwickelung; das Wachstum und die Ablösung der Formen Vorgänge von absoluter Notwendig- keit; Strauß-Musik a priori zu konstruieren (184). — West- licher Geist des Islam; Juden, Christen und Muselmänner als Brüder; Grundcharakter des Westens; Fortentwickelung von Islam und Christenheit 186 Agra: Der Taj Mahal; Verhältnis von Rationellem und Deko- rativem in der Architektur; Bedeutung und Ausschließlichkeit der Individualität (189). — Mogulkultur und Renaissance; Spekulationen über diese; geheimnisvolle Verknüpfung von Erscheinung und Sinn; irdisch-Zufälliges als Notwendigkeit vor Gott (191). — Die Arabeske ohne tiefere Bedeutung; Wert des Oberflächlichen 193 Benares: Heilige Stätten; die meisten erleben nur, was die Außenwelt in ihnen auslöst; Notwendigkeit der Anregung; Wert des Wallf ahrtens ; psychische Atmosphäre (194). — Tiefer Sinn des Sonnenkults (197). — Indische Frömmigkeit; Wesen von Glauben und Gebet; religiöse Kindererziehung; Konfessionsbeeinflussung als Sünde; die vielen" Götter als Manifestationen der einen Gottheit; Indien und Rußland; der Inhalt. XI Osten gefühlsreicher als der Westen ; Liebesglut der persischen Mystiker; warum Inder Europäer als seelisch roh beurteilen; der Europäer undevotionell veranlagt (1QQ). — Oottesglauben als Mittel zum Zweck; Hinduismus und Katholizismus; tech- nischer Unterschied zwischen! Katholizismus und Protestantis- mus; beide sind Wege zu Gott; respektive Vorzüge beider Religionsformen; alle Mystiker katholisch gesinnt; warum Riten immer weniger wirken; inwiefern der verstandesklare Europäer gegenüber den abergläubischen Hindu im Nachteil ist; die höchsten Offenbarungen sind geistig Unzulänglichen zuteil geworden (202). — Psychologische Suprematie des Hinduismus, Vorzug „wissender" Religionslehrer; alle Kon- fession nur vom Standpunkt des Pragmatismus zu bewerten; warum die Visionen aller Heiligen ihren Vorurteilen ent- sprachen; spirituelle Bedeutung der Abstinenz, drei Wege zu Gott; der Weg der Liebe der leichteste; Liebe an sich nichts Göttliches; Piatos Eros; Gemüt wertlos (208). — Sinn religiösen Glaubens; alle Erlösung besteht in Erkenntnis, aber der Glaube bereitet ihr den Weg; die Existenz Christi kein religiöses Problem; Intellektualisierung zersetzt den Glauben; das einzige Heilmittel (212). — Die Silbe om; Wert der Wiederholung; jedes Erbauungsmittel wird irgend einmal sinnlos; die unglückliche Formel der „Rechtfertigung durch den Glauben"; die Tragödie Luthers (215). — Ein Schau- heiliger; Metaphysik als Kompromiß; indische Auffassung von Menschenwert; Sein wichtiger als Tun; Sinn der Wohl- tätigkeit; jenseits von Ego- und Altruismus; Überschätzung der Arbeit; der Wohltätige nützt vor allem sich selbst; der Orient barmherziger als der Okzident (217). — Ein indisches Liebeswerk; Optimismus der indischen Weltanschauung; Unterschied der indischen von der christlichen Frömmigkeit; jene kennt kein Sündigkeitsbewußtsein ; der Mensch denke nicht möglichst schlecht sondern möglichst gut von sich; was Sünde ist; Sünde führt am schnellsten zur Erlösung; Apologie der Torheit; Pathos des Sündigkeitsbewußtseins (222). — Fa- kire als Rückbildungen dem Tiere zu; Versöhnung von Weis- heit und Aberglauben; indischer Exoterismus und Esoteris- mus; Versöhnung von Monismus und Dualismus; die Bhaga- rat-Gita; Philosophien sind nur Ausdrucksformen; keine Ge- staltung wesenhaft (225). — Warum die indische Weisheit noch kaum erkannt ist; indische Philosophie beruht nicht auf Denkarbeit; Denken führt nie aus seiner Sphäre hinaus; einziger Weg zur Wesenserkenntnis; nicht Denken sondern Vertiefung ; Unvergleichbarkeit der indischen und europäischen Methodik; indische und europäische Scholastik (229). — Indische Philosophie in keinem System restlos verkörpert; Advaita, Dvaita und Visishtadvaita ; in Indien gibt es keinen XII Inhalt Monismus, Dualismus und Pantheismus in unserem Sinn; die indischen Weisen als Pragmatisten ; was Wahrheit ist; das Vorbildliche der indischen Weisheit (232). — Yoga als Weg zur Weisheit; tiefste durch mittelmäßige Denker gewonnen; unsere Überschätzung der Begabung; Wesen des Yoga; alle Erkenntnis ist Perzeption; Wesen des Talentes; jenseits der Denknotwendigkeit; Inspiration ist festzuhalten; intellektuelle Anschauung; Piatos Ideenwelt; inwiefern die indischen Weisen unsere Größten übertrafen; Goethes Oberflächlichkeit (235). — Aller innere Fortschritt beruht auf Konzentration; Tiefsinn und Nervenkraft; weshalb das Alter das Bedeutendste leistet; nur der Oberflächliche kann irreligiös sein, den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht erkennen; Leidenschaft be- deutungslos; warum der verfeinertste Kulturmensch nicht mehr lieben kann; Sinnlichkeit als Ganzes der Liebe; einziger Weg zur Heilung der Zersplitterung; unsere mögliche große Zukunft (241). — Atemübungen; das Vorbildliche der indischen Kultur; englische und amerikanische Yoga (245). — Das orientalische Kunstschaffen; Kunst des Westens beruht auf Vernunftkonzentration; Künstler des Ostens als Yogis; Beispiele aus China; Rhythmik Dürerscher und chinesischer Handzeichnungen (248). — Das Herz des Yoga-Gedankens: es ist Bestimmung des Menschen, über das Menschentum als Naturbestimmtheit hinauszugelangen ; Erkenntnis ist Er- lösung; Überwindung des Übels; Eigenart der indischen Weis- heit (251). — Der Sinn als Primäres; Egoismus und Al- truismus gleich wertlos; jenseits von Gut und Böse; warum die Hindus im Leben versagen (254). — Die Hindus als Katholiken; Indien ohne Freidenker; Glauben und Wissen; Neuerungsfeindschaft; Wahrheit kann nur „geschenkt" wer- den; Unoriginalität, Autoritätsglauben, Spiritualität; Triviali- tät des Stils indischer Denker; Vitalitätsmangel ihrer Ideen (256). — Männer des Glaubens und der Tat originalitätsfeind- lich; warum die Inder Originalität geringschätzen; allzutiefe Einsicht lähmt die Kraft; Allwissenheit frommt nur Gott; Inder als Erkenner groß, als Menschen klein; indische Lehren haben auf das Leben kaum eingewirkt; nur der Leidenschaft- liche darf Sanftmut als Ideal bekennen; Fluch der Erkenntnis- tiefe; der Yogi kein höchster Mensch (262). — Ursache des indischen Quietismus; mögliche aktivistische Deutung indi- scher Lehren; der Verstehende typischerweise charakterlos; warum Kluge selten gut sind; antinomisches Verhältnis von Erkennen und Leben (266). — Die indischen Weisen ver- körpern nicht den höchsten Menschentypus; der „höchste Mensch" ein Unbegriff; alle konkretisierbaren Ideale stehen in Wechselbeziehung zu einer bestimmten Naturbasis; Ver- hängnis der Nachfolge Christi; Weise und Heilige als Grund- Inhalt. XIII töne der Lebenssymphonie; der Heilige widerlegt das Welt- kind nicht, sondern beide bedingen einander; Lösung des Problems der absoluten Werte; Buddha und Christus nicht als Typen, sondern als Vollendete vorbildlich (269). — Der Buddhismus als indische Götterdämmerung; das Nirväna . . 273 Buddha-Gaya: Der Schauplatz von Buddhas Erleuchtung; Buddha größer als Christus; Wesen der „Gnade"; Christus nicht Vater des Christentums; Buddha und Augustin; die Sünde als Weg zu Gott; das Wort muß Fleisch werden; Buddhas einzige Größe 274 In den Himalayas: Das Reich der Götter; das Licht Brahmas im Menschen; Lösung des Welträtsels ; als unbewußt-Wissende halten wir fest an den Paradoxien der Religion ; Shivas Para- dies (278). — Der Geist kann Berge versetzen; Grenzen seiner Macht; warum Egoismus vom Übel ist; die ganze Natur muß durchgeistet werden (282). — Die Mahatmas; un- bewußte Zielbewußtheit; Bedeutung von Beispiel und ge- sprochenem Wort; Übermenschentum (284). — Eigenart des Protisten nur von der Psyche her zu verstehen; Gebilde der Psyche als materielle Erscheinungen; Sinn der Antithese von Natur und Geist; Sphäre der Freiheit verringert sich im Fortschritt; in der Sphäre des Lebens gibt es wohl Höheres, aber nichts Höchstes; Sinn der Evolution; wovon bestimmte Gestaltung abhängt; feste Formen durch Trägheit bedingt (286). — Proteustum; Person mit Ich nicht identisch; Pro- teusideal unverwirklichbar; Intellektualität als Hindernis auf dem Weg zur Vollendung; Verstehen als Bewußtseinszentrale; die Zeiten des Autoritätenglaubens auf immer dahin ; der Weg der Zukunft; Persönlichkeit kein Höchstes; die neue Natur- stufe und ihr Ideal (291). — Hindernisse als Erleichterungen; einzig richtige Stellung des Lebensproblems; jedem sein Weg und sein Ziel; kein Mensch als Naturprodukt vorbildlich, aber jeder insoweit er seine spezifische Vollendung fand; Überwindung des Übels (295). — Die Weltschöpfung als Spiel; Shakespeares Komödien 298 Calcutta: Bei den Tagore's; indische Musiktheorie; Programm- musik; die indische Musik; Anschlag und Rhythmus; die Musik der Inder als Spiegel ihrer Metaphysik 299 IV. Nach dem fernen Osten. Im Meerbusen von Bengalen: Vorzüge von Krankheit und Rekonvaleszenz; das Glück des Kindes; eine Energiequelle speist Körper- und Geistesleben; Irrtum der Yogis . . . 309 Rangoon: Birma; Blindheit der Inder; Birma lebt ganz für die Sinne; die Birmanerin; die Schwee-Dagon-Pagode (311). — Das goldene Zeitalter; der birmanische Buddhismus; magische Kraft unverstandener Formeln 313 XIV Inhalt Penang: Die Tropennatur; Reiz des Pflanzendaseins; Pflanze und Frau 315 Singapore: Die Pflanzen als Idealwesen; die Flora als bisher vollkommenster Geistesausdruck; sie beantwortet sämtliche Lebensprobleme; Wesen der Freiheit, Sinn von Schönheit und Unsterblichkeit; Einseitigkeit jeder Entwicklungsrichtung 317 Hongkong: Aus den Tropen heraus: chinesische Kunst und Natur 320 V. China. C an ton: Revolution; Verhalten in Ausnahmesituationen bedeu- tungslos; Revolutionen als Kinderkrankheiten; öffentliches Leben überall uninteressant; Idealität des Geschäftsmanns; das Ameisenartige der Chinessen (323) t> — Schönheit 'alles Dekorativen; Form herrscht nur dort, wo sie bereits erstarb; Langatmigkeit der chinesischen Entwickelung (326). — Die chinesische Schrift; ihre außerordentliche Ausdrucksfähigkeit; der Dreiklang des Confuzianismus ; suggestive Ausdrucks- weise; algebraischer Charakter der chinesischen Schrift (328). — Der Hinrichtungsplatz; Liebeskunst und Folter; Schmerz- experimente ; Sinn der Tortur im Zuschauer begründet ; Strafe als Abschreckung; vom System auf den Menschen und um- gekehrt nie zu schließen möglich; die Schadenfreude als Elementarinstinkt; wird der Hang zur Grausamkeit je über- wunden werden? (332). — Chinesische Religiosität; Priester als Ingenieure; Glaube schafft Geister; Gebet kräftigt die Götter (335). — Der Wutstoff; Zusammenhang von Selbst- kontrolle und Nervenkrisen; physische Vitalität psychisch be- dingt 337 Macau: Eigenart der chinesischen Mystik; chinesische und grie- chische Weise; Übervölkerung und moralische Kultur (339). — Zusammenhang von Tun und Sein; der Russe als bester Psycholog (341). — Lautse; der Chinese kennt nichts ober- halb der Natur; die Natur als Vorbild; von allen Formulie- rungen des metaphysisch-Wirklichen die chinesischen allein unsterblich (343). — Chinesischer Humor; chinesische, grie- chische und romanische Form; Form muß ein-, nicht aus- schließen; zur Psychologie des Spielers 346 T singt au: Chinesische Große; der Confuzianismus keine Theorie, sondern eine Lebensform ; Moralität das Tiefste der Chinesen ; ihre politische Kultur beruht auf Ausbildung des Innerlichen; Moralität als vollendete Natur (348). — Der Confuzianismus macht reaktionär; jedes konkrete Ideal kann nur gelten für einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit; China allein hat die soziale Frage gelöst; das Glücksproblem (351). — Chinesische Courtoisie; tpyische Form der individuellen Aus- prägung am günstigsten; die Ehrfucht als Grundlage aller Tugend; tiefer Sinn der Höflichkeit; das Buch der Riten; Inhalt XV Courtoisie als Blüte des Confuzianismus ; Anmut als Weis- heitsausdruck; was besser ist, eine vollkommene äußere Zivi- lisation oder Kultur der Aufrichtigkeit (353). — Vorbildlich- keit der chinesischen Kultur; Dichter als Sprachrohre; es bedarf zufälliger Konstellationen, um einen ewigen Sinn der Erscheinung einzuverleiben; es gibt keinen allgemeinen und allseitigen Fortschritt (357). — Extremer Charakter der chinesischen Äußerlichkeit; Chinas Gesellschaftszustand a priori zu konstruieren; Rücksichtnahme bedingt Unaufrichtigkeit; Chinesen nicht exzentrisch, sondern extrem in der Typik; die mechanistische Weltanschauung der ritualistischen psycholo- gisch äquivalent; kein metaphysischer Unterschied zwischen Naturformen und Zeremonien 359 Durch Shantung: Die Größe Chinas; China und Rußland; die chinesische Tiefe als spiritualisierte Schwerkraft (363). — Der weite Hintergrund des Asiaten ; Asiens nicht anthropozentrische Weltanschauung; Goethe und Tolstoy 364 Tsi Nan Fu: Chinesisches Bauerntum; Moralität als Basis des Naturverlaufs; die Würde des Bauern 366 Peking: Das Drachensymbol; Bedeutung des Himmelsohns; der Kaiser als Schwungrad im Weltmechanismus; Zusammen- bestehen von Souveränität und absoluter Verantwortlichkeit; Primat des Moralischen;^ die chinesische Weltanschauung und Kant; das Ideal des Nicht-Regierens; Regiment auf Grund der Ehrfurcht; chinesische Regierungsidee die höchste (368). — Peking; der chinesische Demokratismus; Sinn der Revo- lution; die drei Grundnachteile republikanischer Staatsform: sie führt keine Herrschaft der Besten herbei, befreit nicht, sondern bedingt eine Tyrannis der Maschinerie und senkt das allgemeine Niveau; Interesse für Politik zieht herab; trüber Ausblick (372). — Die große Kaiserin; psychologische Intui- tion der Chinesen; warum sie Mißwirtschaft dulden, Respekt vor Ordnung, Mangel an Heroismus, Unadeligkeit (377). — Erneuerung Chinas nur aus confuzianischem Geist heraus denkbar; der Geist des Confuzianismus zur Erneuerung wenig geschickt; mögliche Metamorphose; Apologie der Geschichts- fälschung; Confuzianer und Alt-Lutheraner; Luthertum und Calivinismus (380). — Confuzianismus und Protestantismus (384). — Diät und Mentalität; der Koch als Schöpfer; alle Sinne ursprünglich gleichwertig; Weltanschauung des Gau- mens (387). — Chinesische Tafelfreuden ; chinesisches Kombi- nationsvermögen, Gefühls- und Liebesleben (389). — Indivi- dualistische Auffassung des Eheproblems ein Mißverständnis; die Fortpflanzung als Gattungsangelegenheit; nachteilige Wirkung des Ideals der vollkommenen Ehe; Oberflächlich- keit der europäischen Liebesauffassung; mögliche Göttlichkeit der Geschlechtsliebe; Liebe bezieht sich immer auf das XVI Inhalt Typische; die Ehe der Zukunft (391). — Der chinesische Klassif izismus ; chinesische Schulbildung; Bedeutung der klassischen Philologie; der Chinese ein Philister (395). — Ku Hung-Ming; europäische und chinesische Geschichte ver- glichen; warum alle Geschichte kurz ist; Kung Fu-Tse und Lautse als Antipoden (399). — Alle Chinesen physiologisch Confuzianer; der Taoismus; Chinesen extreme Ausdrucks- menschen; Lautse als Narr; taostische Heilige (402). — Ein chinesischer Religionstifter; Confuzianismus und Christen- tum (404). — Die Chinesen unkirchlich, aber nicht irreligiös; die Kirche als „Anstalt"; warum sie im Protestantismus fort- schreitend an Bedeutung verliert (406). — Weshalb der con- fuzianische Mensch so oft vollendet erscheint; Vorzug des Ideals der Norm; Kung Fu-Tse's Ablehnen des Außerordent- lichen i das chinesische Vollendungsideal dem Normalmenschen am förderlichsten; wird der Konfuzianismus den Westen er- obern? Vorzug unerreichbarer Ideale; Nachteile des Ideals der Norm; Goethe und Dr. Johnson (407). — Chinesisches Kaisertum; chinesische und amerikanische Selbstgewißheit . 412 Hankow: Chinesische Verachtung des Kriegshandwerks; der Traum vom ewigen Frieden; Vorzüge des Duells .... 414 Auf dem Yang-Tse: Chinesische Landwirtschaft; der Con- fuzianismus als sublimierte Bauernweisheit; naturhafte Tiefe noch so verfeinerter Chinesen; Moralität als gebildete Natur; die soziale Frage; die Tragödie des Fortschritts (416). — Moralität und Zweckmäßigkeit; moralische Bildung; Züch- tung auf Charakter schafft nur Rohmaterial (421). — Sturm auf dem Yang-Tse; Pfütze und Ozean 423 Shanghai: Shen Chi P'ei; allgemeine Bestimmung des Chinesen- tums; der Chinese wenig individualisiert, Intcllektualist, ist trotz niederer Naturstufe dem Kulturideal am nächsten ge- kommen; das Ideal der Konkretisierung; Chinas Kultur und das Zukunftsideal; die größere Originalität des Westens; Gedächtnis und Erinnerung als Pole des Geschehens (424). — Die Chinesen als menschlichste Menschen; Leichtverständ- lichkeit ihrer Zivilisation; Kultur und Ursprünglichkeit; Natur und Geist 429 VI. Japan. Durch Yamato: Reichtum der japanischen Natur; Einfluß der Natur auf die Kunstentwickelung; ostasiatische Maler als Yogis; der Mensch ist zugleich Pflanze, Felsen und Meer; japanische Forstwirtschaft; das Zwergen der Bäume (435). — Poesie des Hinterwäldlertums ; der Konzentrische wesen- hafter als der Exzentrische; Lafcadio Hearn; Höflichkeit des Herzens (437). — Japanische Kindererziehung;- Confuzianis- mus und japanische Rücksichtsnatur; ein bäuerlicher Weiser; Inhalt. XVII christlicher Charakter seiner Sympathie (439). — Japaner dem Europäer nahe verwandt; was aus uns unter chinesischem Einfluß geworden wäre 440 Im Kloster von Koya San: Christlich-mittelalterlicher Charak- ter dieses Wallfahrtsorts; die Geschichte des japanischen Bud- dhismus; parallele Fortentwickelung von Buddhismus und Christentum; Wandlungen dieses; sein beharrendes Wesen; wie spirituelle Kräfte ihre Verkörperung wechseln; eine be- stimmte Qualität der Liebe macht das Christentum; Kern des Buddhismus; inwiefern es eine Vorsehung gibt; Katholi- zismus tiefer als Urchristentum; die „wahre Lehre" als Zu- kunftsideal; Acvagosha; japanische Sekten (441). — Ver- wandtschaft der japanisch-buddhistischen mit der katholischen Kirche; katholische Gestaltung vernunft-, buddhistische ge- fühlsgeboren; Irreelles der buddhistischen Kirche (548). — Skepsis japanischer Pilger; Formensinn; japanische Religiosi- tät; japanisches Bewußtseinszentrum ruht im Empfinden (450). — Japanischer Patriotismus; was Tiefe ist; die Kriegsgefahr wandelt das Bewußtsein um; der Patriotismus als tiefstes des Japaners; dem politischen Idealzustand steht das Japan von gestern näher als unsere Zukunft . 452 Nara: Buddhistische und mittelalterlich-christliche Kunst; keine Kunst absolut bodenständig; buddhistische Kunst als Normal- ausdruck japanischer Religiosität; äußerster Ausdruck eines Spirituellen wird immer von Materialisten gefunden; warum die Meisterwerke buddhistischer Kunst aus Ost-Asien stam- men (455). — Einheitlichkeit des Zeitgeists während der ersten nachchristlichen Jahrhunderte; die Mahäyäna-Lehre tiefer als die christliche; Mahäyäna und Theosophie; Unüber- windlichkeit der Rassenanlage (459). — Japaner nicht ver- wandelbar; katholische und buddhistische Heilige (461). — Europäisches und japanisches Franziskanertum; Asiaten psy- chisch magerer als wir; je reicher der Körper, desto bessere Ausdrucksmittel hat der Geist; Chinas einzige Größe . . . 462 Kyoto: Das japanische Mittelalter; das Schicksal als Konvention; Konvention als Natur; das Ende des Ritters; Tierarten als Vorurteile; der Rittertypus unersetzlich; der universalisierte Gentleman als höchster Adelstypus; warum die Aristokraten heute entarten; Edelleute als unvornehme Geschäftsmänner (464). — Mannigfaltigkeit Alt-Japans; typische Vollendung besser als individuelle; Kyoto und Versailles; Hofschranzen und Pinguine (468). — Japanische Zimmereinrichtung; Wesen des Geschmacks; die allgemein-asiatische Weltanschauung; japanische Bau- und Gartenkunst; Genji Monogatari (470). — Bedeutung der harmonischen Proportion; Rhythmik in Natur und Kunst; „Harmonie" in China und Japan; abstrakte und lebendige Rücksichtnahme; das Menschheitsorchester II XVIII Inhalt. (472). — In Japan alles Sichtbare auf den Menschen zuge- schnitten; der Schlüssel zum Geheimnis japanischen Kunst- schaffens (475). — Die Welt des Sichtbaren eine Welt für sich; die Möglichkeit als spezifische Wirklichkeit des Meta- physikers; warum ich kein Gott bin (477). — Der japanische Tanz; die Geisha als Priesterin; was sie allein vermag; die Teezeremonie; Japan und England; Form schafft Inhalt; für die meisten kommt nur typische Vollendung in Frage (479). — Japan bei Nacht; Reinheit der Atmosphäre japa- nischer Freudenhäuser; Vorzug dessen, daß die Befriedigung des Geschlechtsbetriebs als selbstverständlich gilt; Japans Lösung des Prostitutionsproblems; ein Übel nur so zu be- seitigen, daß man ihm den Charakter eines Übels nimmt (483). — Das Keuschheitsideal als Exponent sinnlicher Bru- talität; das Sinnenreizende der europäischen Atmosphäre; der Orient unsinnlicher als der Okzident; ideale Lösung der sexuellen Frage in Indien; die künftige Freiheit der Frau (486). — Die Japanerin als vollendetster Frauentypus dieser Zeit; ein besseres System schafft nicht notwendig bessere Wirklichkeit; Vorzüge ein Positiveres als Gebrechen; japa- nische Laxheit; japanische Auffassung weiblicher Reinheit . 490 Ise: Japans bester Geist; die Ahnenverehrung; tiefer Sinn des Vorfahrenkults; Nahrhaftigkeit des Weibes und des Edel- manns; Wesen, Wert und Geschichte des Shintö; Japans Zukunft 494 Myanoshita: Warum Japan nicht großartig ist; der Mensch als Zentrum der Natur; kleines wirkt nie groß; Bedeutung des Quantitativen; inwiefern Gott mehr ist als der Blüten- zweig; Rainer Maria Rilke 497 Nikko: Die Größe der Tokugawas; Bild und Rahmen; Sinn des Legitimitätsgedankens; geborene Herrscher und Parvenüs . 500 Tokyo: Das Mikadotum; Vorzüge der Autokratie; der Glaube der Untertanen macht aus dem Herrscher einen höheren Men- schen; Nachteile der Republik (503). — Japanische Große; das demokratische Ideal bisher nur von Aristokratien ver- wirklicht (505). — Japaner ein fortschrittliches Volk, uns ähnlicher als den Chinesen; Bestimmung des Japanertums; der Jiujitsu sein Symbol; die chinesische Kultur ist Aus- drucks-, die japanische Einstellungskultur; die Japaner dürfen sich verwestlichen; Japans Hauptgefahren: es darf seinen Natursinn und seinen Patriotismus nie verlieren; nationale Höhepunkte; das Allzu-Ernste steht dem Japaner nicht an (506). — Die Mahäyäna -Lehre; Acvagosha und Bergson; Rehabilitierung der Geschichte; Sinn der Ähnlichkeit von Mahäyäna und Christentum; Mahäyäna-Lehre und Zukunfts- religion; japanische und europäische Religiosität; die Zen- Sekte; Zen und New Thought (511). — Psychologie unserer Inhalt. XIX! Indomanie; nur nicht-Gewohntes regt an; Segen der Nicht- Uniformität; indische und christliche Yoga; das Prinzip der Einmaligkeit; wahre Bedeutung unseres Interesses für die östlichen und des Orients für die westlichen Ideen; die Welt wird wieder einmal jung; Ähnlichkeit dieser Zeit mit den ersten Jahrhunderten nach Christo; der zu gewärtigende Erfolg der gegenseitigen Befruchtung von Ost und West; Übernahme des Fremden als kürzester Weg zur Selbstver- wirklichung; das Grundgebrechen der westlichen Zivilisation; symbolische Bedeutung von Japans Unzulänglichkeit ... 516 VII. Nach der Neuen Welt. Auf dem Stillen Ozean: Selbstüberschätzung des Menschen (523). — Glück der Einsamkeit; das Ich als Meer; die ge- fährlichen Elemente im Menschen; jedem ein bestimmtes Quantum Schuld zugemessen (524). — Wer bin ich? Das Unsterblichkeitsproblem ; mögliche Wiederverkörperung ; Fort- dauer nicht unvermeidlich; das Weltmeer regt buddhistische Gedankengänge an (526). — Der Albatros; wunderbare Fähig- keiten der Tiere; der Albatros als Ideal 528 Honolulu: Exzentrische Frische; Zweckmäßigkeit erklärt nicht alle* am Leben; Phantastik in Natur und Kunst; der Mensch als Barbar gegenüber den Fischen der Südsee; künstliche Tiere 530 Am Kilauea-Krater: Ein Feuermeer; das Feuer kein feind- liches Element; die Kratergöttin 533 Auf dem Lavafelde vor dem Kilanea: Morgenstimmung; der Uranfang der Dinge bleibt ein Wunder; der Mythos als letztes Wort; die Geologie als Erzieherin; die Uraufführung der Lebenssymphonie , . . . . 535 Nachts am Krater: Ich halte Wache bei der Weltschöpfung; Wahrscheinlichkeit der biblischen Darstellung; warum ich den Vulkan nicht auslöschen kann; Wesen des Lebens; Ge- danken der Nacht 537 An der Bai von Waikiki: Die elyseischen Gefilde; die ersten Menschen nicht primitiv, sondern Götterkinder; inwiefern Götter weniger als Menschen sind (540). — Die Insel der Seligen; Wellen als Reittiere; der amphibische Mensch (542). — Das Reich der reinen Subjektivität; über die Liebe; die Grenzen von Dichtung und Wirklichkeit verschwimmen; Un- behilflichkeit des Mannes auf dem Meer der Gefühle; Ne- reiden- und Tritonenliebe 543 Nach Amerika: Rückschwenkung nach dem Westen; Ameri- kaner als typischeste Westländer; größere Idealität des Westens; im Westen sind alle Formen flüssig geworden; Wesen des Gegensatzes zwischen Ost und West; Vollendung oder Erfolg? der Zug ins Quantitative; der Amerikaner als größter lebender Barbar; Apologie der Unzulänglichkeit; Zu- II* XX Inhalt kunftsversprechen (545). — Seltsame Beziehung zwischen Vollendung- und Fortschrittsstreben; wir sind mit unseren Institutionen unserem Wesen vorausgeeilt; bei uns erweist sich das Gute als immer praktischer; bei uns wirken die idealen Forderungen als reale Mächte; inwiefern Fortschrittsstreben der Vollendung zugute kommt; die Ari- stokratie der Zukunft (550). — Die Demokratie als Arbeits- hypothese; modern-westlicher und indischer Evolutionismus; Optimismus als Macht; er bewirkt ein geistiges Aufkreuzen der Masse; bald wird es keine ganz niederen Volks- schichten mehr geben (553). — Exzentrizität als Naturbasis erfinderischer Originalität; Neuerungsstreben macht ober- flächlich; Wesen unserer zeitweiligen Kultureinbuße; in uns werden, unter großen Kosten, neue Organe ausgebildet; fort- an wird die individuelle Form der Masse die gleiche Ver- tiefung ermöglichen, wie bisher nur die typische; der Fort- schrittsbegriff hat seinen Realgrund am Charakter des er- kennenden Bewußtseins; warum unsere Zukunft sich wirklich im Sinn des vorausgesetzten Fortschrittsideals gestaltet (555). — Bedenken gegen die Heidenmission; christliche und ba- haitische Missionare verglichen; die einzigartige formende Macht des Christentums ; dessen Geist einer der Praxis ; Christi Lehren kein Maximum philosophischen Tiefsinns; Recht- fertigung der Mission; die Missionare geben ein Beispiel hohen Opfermuts, schöpferischen Optimismus; dieser dem Orient fremd; Überschreitung der psychischen Wasserscheide; absoluter Vorzug der christlichen Religion; wie keine andere verkörpert sie den Geist der Freiheit; die zwei Wege, sich frei zu erweisen; die zwei christlichen Grundgebote; worin die Inder gefehlt; wir Westländer sind Gottes Hände . . 557 VIII. Amerika. San Francisco: Extrem westlicher Charakter dieser Welt; das „Sollen" als typisch-westlicher Begriff, dem Orient un- bekannt; die Erscheinung erhält 'einen absoluten Sinn; Vor- zug der westlichen Lebensmodalität für dieses Leben . . 563 Im Yosemite-Tal: Analyse des Westländer-Bewußtseins; Potenzierung des Ich; was Westländertum möglich macht; Bedeutung der Individualisierung; aller Geist erscheint im Körper gebannt; Jugendlichkeit dieser Welt; warum und inwiefern wir Materialisten sind (565). — Die Welt Leder- strumpfs; Rückblick auf meine Knabenjahre; die Amerikaner als Schulbuben; alle Westländer wesentlich jung; der De- mokratismus hat die gleiche Verjüngung eingeleitet, wie vor 2000 Jahren der Barbaren ansturm; der ganze Westen in den Flegeljahren; Alt-Europa wird bald ausgespielt- haben; das Ende des abendländischen Kulturmenschentums .... 568 % Inhalt XXI Im Mariposa-Hain: Die Riesenbäume; die Erde noch nicht altersschwach ; unerhörte Abhängigkeit der westlichen Mensch- heit von äußeren Verhältnissen; Ursache dessen; ihre Lebens- formel verlangt ewige Jugend; das Evangelium der Gesund- heit; in Amerika werden wir unsere Entwickelung vollenden; Tradition als Fessel; neue Kulturen wachsen nur auf neuem Boden; wir heben als geistige Wesen eben dort an, wo die Physis in der Trias anhub; warum der Orient nie das Gleich- heitsideal proklamiert hat; unsere Stellung des Lebens- problems bedingt ewigen Kampf 571 Am Gran Canon des Colorado: Wesen des Erhabenen; ungeheure Macht der schlichten Kräfte des Alltags ; Natur und Vernunft; die Gesetze des Verstandes als Normen der Welt- ordnung; Schönheit in der Natur und als Ideal« (574). — Die Natur ist nicht mehr unerreichbar in ihrem Schaffen; der heutige Mensch herrscht nicht als Gott sondern als Erdgeist; er läßt sich von der blinden Natur sein Streben diktieren; warum er überall zerstört; die Erfahrung macht zuletzt den Narren klug; Mißbrauch der Naturkräfte führt am schnellsten zu ihrer weisen Benutzung; die Natur der Dinge führt eben dahin, was der Weise antizipiert hatte ; hoffnungsvoller Ausblick 576 Durch Californien: Europäischer und asiatischer Natursinn; unser Verständnis dem des Schulmeisters vergleichbar; unser Verhältnis zur Natur braucht diese nicht zu verunzieren; Wissenschaft als Vorläuferin der Kunst; unser Ziel . . . 578 Im Yellowstone Park: Ausrottung des Büffels und Indianers; der „Fortschritt" verdürftigt die Erde; die Europäer als Allzerstörer; das Todbringende unserer Zivilisation; Hegels Irrtum; geschichtliche Bedeutsamkeit resümiert nicht alle Werte ; materieller Erfolg kein Gottesurteil ; der geschichtliche Prozeß eines Sinnes mit dem biologischen; verderbliche Fol- gen von Hegels Irrtum; Macht wesentlich böse; Funktion des Bösen in der Weltökonomie; Apologie der Zerstörung; Tod und Töten als normale Naturvorgänge; Schaffen und Zer- stören als korrelative Attribute der Gottheit; die Unabwend- barkeit des Sterbens rechtfertigt den Mörder nicht; die Selbst- regulierung der Natur und ihre Störung durch den Menschen; warum der Westländer jetzt vorherrschen muß; inwiefern es ein „Recht des Stärkeren" gibt (580). — Wir Abendländer sind wesentlich Kämpfer; unsere Tugenden sind Krieger- tugenden; warum der Weise Kampf abweist: weil er schon ausgekämpft hat; Kampf verwandelt die Seele; wie Buddha und Christus ihre Erleuchtung gewannen; in einer Kampfes- welt allein allgemeines Fortschreiten möglich; die Natur der Dinge bedingt, daß jeder Fehler sich irgend einmal rächt; die Dialektik des Geschehens beweist wenig im Einzelnen, führt jedoch im Großen planvoll vorwärts; das Mögliche wird ; XXII Inhalt. notwendig wirklich; jeder Einzelne soll nur aufrichtig sein; unsere Karma-Yoga die tiefste von allen; die Verbesserung der Welt; in einer Kampfeswelt führt Egoismus am schnellsten zum Ziel; aus Konkurrenz entsteht notwendig irgend einmal Colloboration (585). — Die Kultur des Westens als Kultur der Aufrichtigkeit; empirische Wahrhaftigkeit und Überzeugungs- treue als Ideale; Geschichte der Wissenschaft; stirb* und werde; der Weg zur absoluten Autonomie; Vorläufigkeit de9 amerikanischen Zustands; dennoch steht er der äußerstdenk- baren Vollendung näher als die indische Vollkommenheit; warum Tatsachen mehr als Einbildungen sind 589 Salt Lake City: Die Mormonen; psychologische Unbildung aller westlichen Religionsstifter; das Beispiel Luthers; die ungeheuerliche Dogfmatik Calvins; wir Westländer nicht Ver- steher sondern Täter; die bewundernswerte Kulturarbeit der Mormonen; kein notwendiger Zusammenhang zwischen dem philosophischen Wert einer Idee und ihrer Bedeutung für das Leben; Beispiele; keine Religion kann abgesehen von den empirischen Verhältnissen beurteilt werden, innerhalb derer sie wirken soll (592). — Das amerikanische Sekten wesen als Repräsentant westlicher Religiosität; diese vom principium individuationis bedingt; das Individuelle als. Wert; warum das Unterschiedliche bei uns Feindschaft bedingt, im Osten nicht; Vorzug unserer Auffassung vor der indischen; sie bezieht alle Werte auf das persönliche Leben; der normale • * Weg des Fortschreitens führt automatisch aus den Beschrän- kungen hinaus; wie Intoleranz sich in Toleranz umsetzt; außerordentliche Möglichkeiten der christlichen Entwicke- lung; christliche Liebe; was sie ist und werden kann; die freieste Stellung zum Tod; sein Überwinden; das göttliche Licht wird dereinst an der christlich gestimmten Seele ein vollkommenes Medium besitzen 595' Ostwärts: Amerika dem Idealzustande näher als Europa; die Überlegenheit des kleinen Manns; alle Arbeit gleich ehren- voll; indische und amerikanische Auffassung der Gleichgültig- keit des Äußerlichen; in Amerika bedingt die Demokratie nicht notwendig eine Herrschaft der Inkompetenz; warum das Erstarken der niederen Volksschichten in Europa unheil- schwanger ist; der Amerikaner setzt nicht voraus, daß andere für ihn zu sorgen hätten; individualistische Gesellschaftsord- nung undenkbar auf Grundlage von Mitleidsmoral; ihre mög- liche Vollendung in Amerika (600). — Amerikanische Land- wirtschaft; warum der Beruf des Landwirts als edelster gilt; chinesische, europäische ' und amerikanische Agrikultur; die letztere als Keim eines Höchsten; je freier ein Mensch, desto mehr naturhafte Schranken darf er verleugnen; weshalb aller äußere Fortschritt zunächst einen inneren Rückschritt bedingt; Inhalt XXIII Zukunftsausblicke (604). — Vorzüge des Kulturzustands, der in Hinnehmen und Erleiden wurzelt; Relativität aller Ge- staltung; Genese das Sündigkeitsbewußtseins ; Vorteile und Nachteile von Karma-Lehre und New Thought; es gibt ein Schicksal; Vorzug der neuen Stellung zum Leben; er bezieht das Dasein auf einen tieferen Grundton; Gott als Ich und als Du; Überwindung der Möglichkeit des Pessimismus (607). — Wie sehr der Fortschrittsbegriff dieser Welt gemäß ist; warum die Griechen ihn nicht hatten; unser Beruf auf Erden; bisher kaum die Vorarbeiten erledigt; Notwendigkeit blinder Kämpfer 610 Chicago: Alles Leben geht auf im maschinellen Betrieb; ab- soluter Vorzug der Mechanisierung; sie ersetzt das, was die Antike durch Sklaverei besaß; die amerikanischen Geschäfts- leute als Yogis; die amerikanische Lebensformel verdürftigt den Menschen, entwickelt ihn zum Tier zurück ; Ursache ihrer Werbekraft (612). — Der Schlachthof; die Fabel Dschuang Tses vom Fürsten und dem Metzger; der Amerikaner als Gegenpol des indischen Weisen; des Westens Gefahr (614). — Der künstliche Mensch als Ziel der neuesten Entwickelung ; Eve future; Automat oder Gott?; intellektuale Objektivatio- nen als Fesseln; der russische Bauer als Ideal; der Weg zur Allwissenheit 610 New York: Mensch und Ameise; Vorzüge der Großstadt; die bestmögliche Lösung des äußeren Lebensproblems; voll- kommene äußere Organisation schafft die Möglichkeit voll- kommener Freiheit; Fortschritt führt zur Vereinfachung; Komfort als Form der Askese (617). — Suprematie Amerikas in der Organisation des äußeren Lebens; die amerikanische Religion; irdischer Erfolg als Gradmesser göttlicher Gnade; Weltzugekehrtheit des amerikanischen Christentums ; keinerlei Animosität gegen den Besitz; Wohlstand als Normalzustand des Begnadeten; die Kopernikanische Tat des amerikanischen Christentums; zwei Wege, materielles und spirituelles Streben zu vereinen: Verzicht auf jenes oder dessen Heiligung; letz- teres allein kommt für den Westen in Frage; Verkörperung des spirituellen Ideals im temporellen Streben; nie wird das Christentum überwunden, es kann nur umgedeutet werden; , Wohlstand als Normalzustand; Armut als absolutes Übel; der Mensch soll nicht bedürfnislos sein: jeder Gewinn an empi- rischen Fähigkeiten bedeutet Zuwachs an Ausdrucksmitteln für den Geist; die Befriedigung der Bedürfnisse muß selbst- verständlich sein (620). — Die Kluft zwischen äußerem Vor- geschrittensein und innerer Vollendung in Amerika noch größer als in Europa; Gründe hierfür; das Fortschrittsideal muß überstiegen werden; es gilt Vollendung, nicht Erneue- [ rung; Bekehrung als Hilfskonstruktion; von einer neuen > XXIV Inhalt. Form wird das Heil nie mehr kommen; wir sind alle end- gültig über Name und Form hinaus; wie allein unser Fort- geschrittensein zum Ausdrucksmittel des „Einen, was wohl- tut" werden kann; unsere wahre Mission: der Idee der Uni- versalität zu vollendeter Verkörperung zu verhelfen; warum die Universalitätsbestrebungen früherer Zeiten fehlgehen muß- ten ; wir haben die einzig haltbare Brücke geschlagen zwischen Ideen- und Erscheinungswelt; die höchste Bewußtheitsstufe; fortan . werden Nationalgefühl und Weltbürgertum sich nicht mehr ausschließen; die künftige Solidarität der Menschheit; inwiefern wir die höchste Naturstufe verkörpern; Zukunfts- ausblicke; die Differenziation wird einmal umschlagen in Integration; ein dummer Zufall mag die Entwickelung plötz- lich abschneiden; die Erde eine Stätte der Ansätze, nicht der Erfüllungen; die Evolution des Geistes hat kein zuverlässiges Mittel an dieser Welt, sein eigentliches Ziel liegt überhaupt nicht in ihr; es kommt nicht auf Erreichen auf Erden an sondern auf Erreichen-wollen ; die Vollkommenheit der Erde nicht Selbstzweck; Fortschritt in der Idee ein wesentliches als realer Fortschritt (625). — Die Freiheitsstatue; Uner- freulichkeit des heutigen amerikanischen Zustands; nicht Freiheit, sondern Willkürherrschaft; jeder Mensch ist wesent- lich frei; die langsame Entwickelung seines freien Wesens; erst der Vollendete lebt wahrhaft aus seiner Freiheit heraus; die Entwickelung des Individuellen hat im Sozialen ihr Spiegelbild; sie läuft nicht geradlinig ab; was es gilt; Über- flüssigwerden aller Dogmen, Grundsätze, Vorurteile und Pflichtvorstellungen; das Ziel ist, unmittelbar aus sich zu leben; aufgezwungene Schranken sollen freigewählten Platz machen; die traditionellen Ordnungen drücken Wirklichkeiten aus; das Leben in Amerika nicht autonomer sondern ab- hängiger von äußeren Umständen; Überwindung des Demo- kratismus ; äußere Schrankenlosigkeit als bester Lebensrahmen einer innerlich höchst gebildeten Menschheit; die Idee des Demokratismus wird sich nicht allein als wahr im Prinzip, sondern als darstellbar in der Erscheinung erweisen; ihr letzter Sinn; der Geist ist mächtiger als die Natur; Über- - Windung aller Naturbestimmtheit 632 IX. Heimgekehrt. Rayküll: Rückblick; die neuen Aufgaben; jetzt gilt es stille- halten lernen; ich muß unabhängiger werden von meiner Unabhängigkeit; bin ich der Selbstverwirklichung näher heimgekehrt? Metaphysik und Musik (641). — Relativität der Zeit; alle Erinnerungsbilder verblassen, Neues entsteht; wieder kommt alles anders; ich spüre kein Bedürfnis mehr nach Metamorphosen; man verurteilt bei anderen am schärf- Inhalt XXV sten, was man in sich nicht liebt; Persönlichkeit kein Ideal; der Vollendete verleugnet nichts mehr; Dimensionswechsel in meinem Leben; mein Innerstes hat die Initiative ergriffen; dennoch erkenne ich mehr denn je, daß der Umweg um die Welt den kürzesten Weg zu sich selbst bezeichnet; Unmög- lichkeit, Erfahrungen vorweg zu nehmen; Wesenserkenntnis hebt das Menschsein nicht auf, sondern erfüllt dasselbe; vollkommene Freiheit beginnt erst jenseits der Wandelbar- keit; inwiefern die christliche Mystik tiefer als die indische blickt; Gott als Mensch von allen der menschlichste (644). — Der Weltkrieg; die Einheit des Menschengeschlechts be- steht dennoch fort; Übergang zur universelleren Welt von morgen durch Ausrottungskämpfe; die Erkenntnis wesent- licher Freiheit hat ihr Korrelat am Zusammenhangsgefühl; ich bin nichts aus mir selbst; ich kann die Welt, in der ich 1 lebe, ebensowenig verleugnen wie mich selbst; Pflicht, an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten; Bodhisatva und Weiser; jener, nicht dieser als Ziel des Menschenaufstiegs .... 647 VORBEMERKUNG. Vorliegendes Tagebuch bitte ich zu lesen, wie einen Roman. Wenngleich es sich zum großen Teil aus Elementen aufbaut, welche die äußeren Anregungen einer Weltreise in mir entstehen ließen, und viel objektive Darstellungen und abstrakte Betrachtungen ent- hält, welche selbständig für sich bestehen können, stellt es doch als Ganzes eine von innen heraus erschaffene, innerlich zusammen- hängende Dichtung dar, und nur wer es als solche auffaßt, wird seinen eigentlichen Sinn verstehen. Über diesen will ich nichts vorausbemerken. Er wird sich dem offenbaren, der dem Wanderer willig durch seine vielfachen Stimmungen und Wandlungen hin- durch Gefolgschaft leistet, nie vergessend derweil, daß das Faktische mir nirgends Selbstzweck, sondern überall nur ein Ausdrucksmittel ist für einen Sinn, welcher unabhängig von ihm besteht; der sich dementsprechend nicht daran stößt, daß Gedanken über fremde Kulturen mit Selbstbetrachtungen, exakte Darstellungen mit dichte- rischen Umbildungen abwechseln, daß viele, vielleicht die meisten Schilderungen mehr der Möglichkeit, als der Tatsächlichkeit gerecht werden; der sich vor allem auch durch die Widersprüche nicht beirren läßt, in die mich Standpunkt- und Stimmungswechsel mit Notwendigkeit häufig verstricken, und deren Auflösung ich nicht immer ausdrücklich mitteile. Wer mich in diesem Geiste liest, dem wird, so hoffe ich, noch ehe er ans Ende gelangt, die Ahnung weniger einer theoretisch-möglichen Weltanschauung, als einer praktisch-erreichbaren Bewußtseinslage aufgegangen sein, der so manches verhängnisschwere Problem von Hause aus gelöst erscheint, in der unüberbrückbare Gegensätze verschmelzen und vieles einen neuen, volleren Sinn erhält. — Auf daß nun auch der auf seine XXVIII Vorbemerkung. Rechnung komme, dem es vornehmlich um Einzelerkenntnisse zu tun ist, habe ich dem Buch ein ausführliches Register angehängt, das ihm das Zusammensuchen der verstreuten Stellen, die auf gleiche Probleme Bezug haben, erleichtern wird. Dies schrieb ich im Juni 1914, im Herbst jenes Jahres sollte das iWerk erscheinen. Da kam die Kriegserklärung; sie unterbrach, bis zur Besetzung Estlands durch deutsche Truppen, jede Verbindung zwischen dem Verlag und mir. In seinen Händen befand sich druckfertig der erste Band, in den meinen verblieben die Korrekturbogen zum zweiten. — Trotz der langen seither ver- strichenen Zeit gebe ich mein Reisetagebuch nun in der Haupt- masse nach unveränderter Gestalt heraus: soweit es einer orien- talisierenden Einstellung entspringt, gehört es durchaus meiner Schaffensperiode von 191 1 — 14 an, hätte daher durch Umarbeitung von einem neuen Zustand her allenfalls verlieren können. Nur die beiden letzten Teile — Amerika und Rayküll — habe ich während der Kriegsjahre nicht allein verändert, sondern beinahe vollständig neu verfaßt; dies erwies sich als notwendig, um mein Unternehmen wahrhaft zu vollenden. 1914 war ich vom Orient noch so sehr besessen, daß ich mich als Abendländer nicht un- befangen darstellen konnte, den entsprechenden Abschnitten ge- brach es daher an Klarheit und Überzeugungskraft. Und um dem Ganzen die Abrundung, den Abschluß zu geben, den seine Idee verlangte, um im Finale das lebendige Fazit meines Umweges um die Welt zu ziehen — dazu fehlte mir damals vollends die Distanz. Heute glaube ich soviel getan zu haben, wie meine Fähigkeiten mir gestatten. Die lange, lastende Schreckenszeit hätte somit einer Geistesschöpfung wenigstens zum Heil gereicht Rayküll i. Estland, im Frühjahr 1918. Hermann Keyserling. ) NACH DEN TROPEN. I Verschiedene Formen der Erfahrung. VOR DER ABREISE. Wozu gehe ich noch auf Reisen ? — Meine Wanderjahre liegen hinter mir. Vorüber sind die Zeiten, da Stoff auf nähme als solche mich innerlich bereicherte. Dazumal fiel inneres Wachstum mit Verbreiterung der Oberfläche zusammen ; ich stand geistig auf der Stufe des Kindes, das zunächst seinem körperlichen Um- fange nach zunehmen muß, ehe von andersartigem Vorwärtskommen die Rede sein kann. Allein kein Kind, so lebendig es sei, wächst ins Unbegrenzte hinaus; irgendeinmal ist bei jedem der kritische Punkt erreicht, wo es im bisherigen Sinne nicht mehr weitergeht, wo es heißt: ganz stehenbleiben, oder seine Entwicklung in eine andere Dimension hinüberverlegen. Und da das Leben, wo nicht erschöpft, nie stillesteht, so ereignet sich der erforderliche Dimensionswechsel in einem gewissen Alter von selbst. Jeder strebt als reiferer Mensch aus eben den Motiven nach Vertiefung und Potenzierung, die in jungen Jahren seinen Sinn auf Verbreiterung und Bereicherung ge- richtet hielten. — Wenn ich nun die Art und den Grad meines heutigen Erfahrenkönnens und -wollens mit dem von ehemals ver- gleiche, so fällt mir ein grundsätzlicher Unterschied auf. Damals ging, wie gesagt, jeder neue Eindruck, jede neue Tatsache als inte- grierender Bestandteil in mein wachsendes Individuum ein ; dieses wurde um so viel mehr, als es mehr aufnahm. An jedem neuen Ein- druck gewann ich ein neues Ausdrucksmittel, jede neue Anschauung verstärkte mein Selbstgefühl, so daß es nicht widersinnig war, wenn ich der Hoffnung lebte, von außen gleichsam zu erjagen, was mich im Innern trieb, sich mir aber noch nicht geoffenbart hatte. Wie nun meine Organe erstarkten, wie ich sie besser und besser zu nutzen verstand ; wie Neubildungen seltener wurden und die Seele des Wert und Unwert der Abgeschiedenheit. Ganzen andrerseits mehr und mehr jedes Einzelne zu durchdringen begann, da verblaßte in entsprechendem Tempo mein Interesse am Äußerlichen, das bei mir ja von je nur ein Vorläufiges, fast ein Vor- wand gewesen war. Heute bekümmert keine Tatsache als solche mich mehr. Ich lese ungern, bedarf der Menschen kaum und mehr und mehr zieht es mich hin zum Einsiedlerleben, in dessen Rahmen ich doch am besten meiner Bestimmung leben kann. Ich bin nun einmal Metaphysiker, kann nur dieses eine sein (so vieles andere ich auch, bald mit, bald ohne Erfolg, betreiben mag) ; welches be- deutet, daß ich mich wahrhaft und ernsthaft nur für die Möglichkeit der Welt, nicht für ihr Da- und Sosein interessiere. Aus alter Ge- wohnheit, zum Teil aus Selbstdisziplin, verfolge ich den Fortschritt der Naturwissenschaften, studiere ich die Eigenheiten der Menschen, die meinen Weg kreuzen, oder lese ich die Bücher, die deren Nieder- schlag bedeuten: angehen tut mich das alles nicht mehr. Wie kommt es unter diesen Umständen, daß ein tiefgewurzelter Instinkt mich eben jetzt eine Weltreise antreten heißt — ein Instinkt, nicht minder gebieterisch als der es war, der mich in früheren Zeiten, und stets in richtiger Reihenfolge, von Klima zu Klima trieb, um meine schwankende Gesundheit durch äußere Stützungen im Gleichgewicht zu erhalten? — Es ist nicht Neugierde; immer größer wird meine Abneigung gegen alles „Sehenswürdige", sofern es zu meinem inneren Streben in keiner notwendigen Beziehung steht. Es ist auch nicht Forschungstrieb, denn schon gibt es kein Spezialproblem mehr, das meine Natur von Grund aus ernst nehmen könnte. Was mich hinaustreibt in die weite Welt, ist eben das, was so viele ins Kloster getrieben hat: die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung. Als ich mich, vor einigen Jahren, zur Niederlassung in Rayküll entschloß, da wähnte ich, ich bedürfte der Welt nicht mehr. Ich hätte ihrer auch nicht mehr bedurft, wenn ich mein Ziel im Aus- tragen schon gekeimter Ideen gesehen hätte, denn solche entwickeln sich nirgends ungefährdeter als in anregungsarmer Abgeschiedenheit. Aber ich erwartete von Rayküll mehr : ich hoffte, ich würde in seiner Abgeschiedenheit zu jener äußersten Selbstverwirklichung gelangen, dank welcher die Gedanken, die mir kämen, als reiner Ausdruck des metaphysisch Wirklichen gelten dürften ; ich hoffte, ich würde in ihr hinauswachsen über alle zufälligen Bindungen von Zeit und Raum. In dieser Hoffnung sah ich mich getäuscht. Ich mußte erkennen, daß ich wohl immer mehr „ich selbst" würde in meiner Landeinsam- Dichter tmd Metaphysiker. keit, nicht aber im metaphysischen, sondern im empirischen Ver- stände ; und das war das genaue Gegenteil von dem, was ich er- strebte. Ich mußte erkennen, daß es noch zu früh war zum Ver- zichte auf die Welt. Den meisten Sterblichen mag Persönlichkeit das „höchste Glück" bedeuten : es ist die Tragödie der Tragödien des Metaphysikers, daß er das Individuum in sich nie völlig über- winden kann. Keats sagt vom Dichter : The poetical natare has no Seif — it is everything and nothing; it has no character . . . . A poet has no identity — he is continaally in for and filling some other body. Er hätte hinzufügen können, daß der Dichter vor allem in diesem Sinne selbstlos sein soll; daß er nur insoweit, als er es ist, seinen Beruf erfüllen kann. Das gleiche gilt in höherem Maße und in einem viel tieferen Sinne noch vom Metaphysiker. Der Meta- physiker verhält sich zum Dichter, wie dieser sich zum Schauspieler verhält. Der Komödiant stellt dar, der Dichter schafft, der Meta- physiker antizipiert im Sinn alle mögliche Darstellung und Schöp- fung. So darf er in keiner Gestaltung aufgehen, darf er mit keiner sich identisch fühlen ; sein Bewußtseinszentrum muß mit dem der Welt zusammenfallen, er muß jede einzelne Erscheinung vom Stand- punkte Gottes aus sehen. So vor allem seine eigene Individualität, seine eigene Philosophie. Zu dieser Vertiefung verhalf mir Rayküll nicht. Ich fing an, gleich so vielen, den Weltprozeß in einer be- stimmten individuellen Formel erschöpft zu wähnen, persönlich- zufällige Eigentümlichkeiten als notwendige Attribute des Wesens zu beurteilen. Ich fing an „Persönlichkeit" zu werden. Da er- kannte ich, wie weise Pythagoras und Plato daran getan, daß sie bis ins späte Mannesalter hinauf ihr Wanderleben fortsetzten : so- lange als irgendmöglich muß der unvermeidliche Kristallisations- prozeß aufgehalten werden ; solange es irgend geht, muß Proteus proteisch bleiben, denn nur Proteusnaturen sind berufen zum Priestertum der Metaphysik. So beschloß ich mich in die Welt zurückzubegeben. Inwiefern hilft nun die Welt zur Selbstverwirklichung, die ich meine? denn meistens heißt es doch, sie hindere sie. Sie hilft dem, der die entsprechende Naturanlage besitzt, indem sie seine Seele zu immer neuen Gestaltungen zwingt. Seit ich erwachsen bin, bedeuten Eindrücke als solche mir wohl nichts mehr; mein Geist gewinnt nicht mehr durch bloße Stoff aufnähme. Dafür reagiert er jetzt als Ganzes verschieden, je nach den Umständen, innerhalb derer er Sinn des Reisen s. sich befindet, und dies Verschiedenwerden erschließt mir Seiten der Wirklichkeit, zu denen mir früher jeder Zugang fehlte. Dem Unverwandelbaren kann die Welt, seit er erwachsen, allerdings nichts nützen. Je^mehr der sieht, erlebt, erfährt, desto oberfläch- licher wird er, weil er mit Organen, die nur auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit zugeschnitten sind, nun vielen gerecht werden will und so notwendig falsche Eindrücke gewinnt; dem ist es besser, er bleibt in seiner Sphäre. Der Plastische hingegen, den jedes neue Milieu, dessen Eigenart entsprechend, verwandelt, kann nimmer ge- nug erleben, denn er geht aus jeder Metamorphose vertieft hervor. Indem er am eigenen Leib erfährt, wie bedingt alle Gestaltung im allgemeinen ist, was jede einzelne im besonderen auslöst, wie die eine mit der anderen zusammenhängt, sinkt sein Bewußtseinszentrum langsam in jenen Grund hinab, wo das Wesen als solches lebt Ist es nun dort verankert, dann läuft er nicht mehr Gefahr, irgend- eine Einzelerscheinung zu überschätzen : alles Besondere versteht er vom Wesen her. Das tut der Gott von vornherein, kraft seiner bloßen Natur. Der Mensch gelangt auf die Dauer dahin, indem er alle Kreise durchläuft. So trete ich denn eine Weltreise an. Europa fördert mich nicht mehr. Zu vertraut ist mir schon diese Welt, um meine Seele zu neuen Gestaltungen zu zwingen. Und dann ist sie an sich auch zu beschränkt. Ganz Europa ist wesentlich eines Geistes. Ich will in Breiten hinaus, woselbst mein Leben ganz anders werden muß, um zu bestehen, wo das Verständnis eine radikale Erneuerung der Be- griffsmittel verlangt, wo ich möglichst viel von dem vergessen muß, was ich ehedem wußte und war. Ich will das Klima der Tropen, die indische Bewußtseinslage, die chinesische Daseinsform und viele andere Momente, die ich gar nicht vorausberechnen kann, um- schichtig auf mich einwirken lassen und zusehen, was aus mir wird. Wenn ich alle Koordinaten bestimmt habe, müßte ich auch den Mittelpunkt besitzen. Dann müßte ich hinausgelangt sein über die Zufälligkeiten von Zeit und Raum. Wenn irgendetwas, so wird der Umweg um die Welt mich zu mir selber führen. Äußere und innere Freiheit. IM MITTELLÄNDISCHEN MEER. Jetzt wäre aller äußere Zusammenhang mit dem, was mich sonst bindet, abgeschnitten ; kein Brief mehr wird mich erreichen, keine Nachricht. Das Gefühl der gewonnenen Freiheit beseligt mich. Gewiß: so, wie die Mehrheit es versteht, dürften wenige unab- hängiger dastehn als ich*; ich habe keinen äußeren Beruf, keine Familie, um die ich mich zu kümmern hätte, keine zeitraubenden Verpflichtungen ; ich kann tun und lassen was ich will. In meinem Sinne frei wäre ich erst dann, wenn ich auch psychisch ungebunden wäre, wenn ich jeden Morgen erwachen könnte als ein quasi- modogenitus, — und dies gelingt mir noch immer nicht, ohne ge- legentliche Gewaltmaßregeln. Die geistigen Zusammenhänge, inner- halb welcher ein Mensch lebt, bedingen ihn nicht allein von innen her, sie sind ihm zugleich eine stets gegenwärtige Außenwelt; und diese Außenwelt kann dermaßen aufdringlich werden, daß das Be- wußtsein dort, wo es Innerstes vorzustellen wähnt, tatsächlich nur diese reflektiert und so über die Widerspiegelung äußerer Verhält- nisse überhaupt nicht hinausgelangt. Diese Lage verschlimmert sich noch im Fall der scheinbar Bevorzugten durch die Schöpfungen, die sie selber in die Welt setzen. Aus den Wirkungen, welche diese auslösen, bilden sich neue Netze von Beziehungen, für die sie sich natürlich interessieren, die sie oft angenehm beschäftigen — jedoch notwendig vom Eigentlichen ablenken. Viele geistig lebendige Menschen scheinen seltsamerweise in dem, was ich als Verhäng- nis empfinde, ein erstrebenswertes Ziel zu sehen. Gleichviel wie sie sich ihr Verhalten deuten mögen: sie sind es zufrieden, Ex- ponenten oder Faktoren gegebener Beziehungen zu sein. Sie treibt es nicht hinan, über das fertig Gestaltete hinaus, in jene wesen- haftere Welt, wo der Sinn als Primäres lebt und alle Tatsachen zu Symbolen umgeboren werden. So gefallen sie sich als Schul- häupter und geistige Führer, und in ihrem Individuum oder ihrem System (was dem Prinzip nach auf eines hinausläuft) verehren sie ein höchstes Gut. Ich hingegen sehe in der höchstdenkbaren Idee nur den abstrakten Repräsentanten, im bestmöglichen System nur das erstarrte Skelett, in aller Tatsächlichkeit bloß den Niederschlag und in aller Individualität nur einen Ausdruck oder ein Ausdrucks- 8 ' Das Ich als Außenwelt. mittel dessen, was einzig unbedingten Wert besitzt. Deshalb kann ich mich dabei nicht bescheiden, Exponent oder Faktor zu sein, kann ich keinen Endzweck darin sehen, eine Idee zu vertreten oder fort- zuentwickeln. Im letzten gilt es ja nicht, neue Phänomene in die Welt zu setzen oder vorhandene zu erhalten und fortzuzüchten (so gut dies im Vorletzten sei) : es gilt im gegebenen Phänomen, ob er- funden oder vorgefunden, das zu erkennen oder darzustellen, was, selbst ungeformt, alle Form von innen her bedingt. Wie soll das dem gelingen, der ganz in der fertigen Gestaltung aufgegangen ist? — Nun, aufgegangen wäre ich in dieser wohl noch nie, auch in der eigenen nicht. Niemals, das ich wüßte, habe ich mich mit meinem Individuum oder mit meinem Werk im tiefsten identisch gefühlt; von Jugend auf habe ich mit dem Menschen von gestern fortschreitend gebrochen und jedes vollendete Werk augenblicklich abgestoßen, wie der Polypenstock die reifen Medusen abstößt. Aber so frei bin ich innerlich noch nicht, daß ich wie selbstverständlich von Äußer- lichkeiten absehen könnte. Immer wieder fängt sich mein Bewußt- sein in psychischen Bindungen, und es bedarf der Anstrengung, mich loszureißen, und immer reicht die Kraft dazu nicht hin. Und die erforderliche Anstrengung wird stetig größer, weil das Netz der Be- ziehungen täglich wächst, in das ich ideell hineingehöre, und immer dichter und verstrickter wird. Und manchmal überkommt mich so etwas wie Angst, ich möchte einmal doch eingefangen werden . . . Da wende ich denn, wenn es anders nicht mehr geht, ein mecha- nisches Mittel an : ich reise fort ; verlasse meine Welt, bis daß ich ihr so weit entfremdet bin, daß ich sie wieder übersehen und meistern kann. Ich weiß, gar viele, und nicht die schlechtesten, mißbilligen solchen Schritt ; man soll stark genug sein, predigen sie, um ohne Kunstgriffe bestehen zu können. Ja, man soll ; aber wenn man es nicht ist? Soll man verzichten auf ein erreichbares Ziel, weil man es auf dem kürzesten Wege nicht erreichen kann? Soll man das bischen Kraft, über das man verfügt, zur Erzwingung dessen verschwenden, was einem nicht Endzweck, sondern Mittel ist, und auf einem Umwege leicht gewonnen werden kann? Ich gestehe: in bezug auf meine Psyche bin ich aus tiefster Überzeugung Jesuit; oder genauer und weniger ärgerniserregend ausgedrückt: ich sehe ein Mißverständnis darin, seine psychischen Umstände irgendwie anders zu behandeln, mit mehr Respekt, Deferenz, als die der äußeren Natur. Sie ist doch Außenwelt, nicht Ich, diese unzuläng- Die Psyche als Natur; Wustenstimmung. liehe Anlage, und der Außenwelt schulde ich keine Ehrfurcht. Ja, anstatt verdrossen darüber zu sein, daß ich äußere Mittel anwenden muß, bin ich es im Gegenteil zufrieden, daß die Psyche einfältig genug ist, auf so simple Maßnahmen, wie mechanisches Ausschalten von Eindrücken u. dgl. so stark und so schnell zu reagieren. Frauen rechnen mit ihrer grundsätzlichen Verführbarkeit als mit einem Tatbestand, der sich von selbst versteht ; den Mann, der keine Liebe zu wecken weiß, beurteilen sie als ungeschickt, es sei denn daß ihm an Liebe nichts liege. Damit beweisen sie nicht allein bessere Menschenkenntnis, sondern auch tieferes Lebensverständnis, als die meisten Philosophen es besitzen. Die Psyche ist Natur, muß als solche behandelt und beurteilt werden ; von Hause aus sind ihre Prozesse auf keine geistigen Werte bezogen. Freilich läßt sich aus dieser Tatsache mehr denn eine Konsequenz für die Praxis ziehen: man braucht nicht den Bestimmungen zu entlaufen, man kann die höchsten geistigen Werte, wenn man will, einer beliebigen Natur- bestimmtheit einbilden. So ist die Lust in der Ehe, der Mord in der Richtergewalt geheiligt worden, und das war gut. Welche Alter- native man ergreift, hängt von den Zielen ab, die man sich vor- gesetzt hat. Mir nun verbieten die meinen bis auf weiteres, in irgendeiner Gestaltung zu verharren. Also darf ich auch keine ganz ernst nehmen. IM SUEZ-KANAL. Die Luft, die hier weht, regt meine Einbildungskraft gewaltsam an. . . . In der blaugrauen Mondnacht scheint die veilchen- farbene Wüste im Osten über alle Horizonte hinüberzu- greifen. Über mir, in schwindelerregender Höhe, weit höher als ich sie früher je gesehen, kreisen blinkend die Sterne, und hoch, hoch über diesen erst wölbt sich das Firmament. Unglaubwürdig weit erscheint der Raum, fast ins Unräumliche hinübergesteigert. Eine Art horror vacui überkommt mich. Mir ist, als schriee diese tote iWelt nach Leben ; krampfhaft drängt es mich, wie den Dschinn aus der Flasche, die ihn einschloß, aus meinem Körpergehäuse hinaus, zu wachsen, mich auszudehnen, bis daß die Leere ausgefüllt wäre. 1 Der Ursprung der Wüstengötter. Und siehe ! Aus meinen Wehen heraus verdichtet sich, vor mir, über mir, zwischen Himmel und Erde, begrenzt und doch allerfüllend, eine ungeheure Gestalt. Die Gestalt Eines, dessen Leib einer Ge- witterwolke gleicht, dessen Wesen die Gespanntheit verhaltener Ge- walttätigkeit ist. Noch kürzlich war Er gar nicht da ; und doch, so wie Er da ist, erscheint Er als Mittelpunkt der Welt. Er, der allzupersönliche, als Seele dieses unpersönlichen Alls. Also bedeutet das große Schweigen nur das Anhalten des Atems vor dem Sturm, diese tiefe, feierliche Stille nur das Aussetzen jähen Verhängnisses. Was geschieht, wenn Der da oben in Zorn entbrennt? — In der Wüste erhebt sich der Samum, fegt der Sandsturm die Dünen fort. . . . Das ist der Gott, zu dem die Wüstenvölker beten. Es ist nicht Allah, nicht Jahveh ; es ist keiner der historischen Götter, die aus dunklen Anfängen, dank sich häufenden Erbschaften, vom Duodez- fürsten zum Himmelsgebieter aufgerückt sind. Aber er liegt ihnen allen zugrunde, lebt in allen fort, gleich wie der Ahn in seinen fernen Enkeln fortlebt. Und manchmal, von Zeit zu Zeit, immer wieder, tritt er in eigenster Gestalt hervor. Als das verschmachtende Israel sich in der Wüste gezüchtigt glaubte, war Er es, den es drohend über sich schaute; wenn der Beduine sich vor dem Samum verbirgt, dann ist Er es, vor dessen Grimm er bebt. Das ist der Wüstengott. Überall, wo der phantasiebegabte Mensch sich hineinlebt in das ihn umgebende All, bringt dieses Götter und Geister hervor. Je nach der Sonderart der Eltern werden besondere Wesen geboren ; bald überwiegt das mütterliche, bald das väterliche Blut. In Griechenland sind die Götter nach dem Vater ge- raten ; bei ihnen treten die Züge der Mutter nur undeutlich hervor ; fast scheint es, als hätte sie beliebig sein können. Im Falle der Wüstengottheiten hat die Mutter den Charakter bestimmt. Unaufhalt- sam, wie naturnotwendig strahlt die Sandfläche die Gebilde gewalt- tätiger Himmelsdespoten aus. Dieses tote Universum schreit nach Leben, dieses starre, ewige Gleichgewicht nach Willkür zur Er- gänzung, diese Stille ankt nach dem Sturm. Ich weiß nicht, ob die Stämme der Wüste viel Einbildungskraft besitzen: wie einfach, ja dürftig sind doch die Charaktere ihrer Divinitäten ! Allein der geringste Keim, von der Wüste dem Himmel eingepflanzt, entfaltet sich zu riesiger Gestalt, so daß ein noch so einfaches Gebild, der Pyramide gleich, durch seine Dimensionen Großheit gewinnt. Wie bestimmte Tiere a priori zu konstruieren sind. 1 1 In diese Natur paßt das ungeheure Menschenwerk, der geradlinige Suez-Kanal, der die Wüste so grausam durchschneidet, gar wundersam hinein. Auch er ist ja ein Willkürprodukt; ein Ver- hängnis, von überlegener Macht der Wüste aufgedrungen. Hier hat der Mensch wahrhaftig im Sinne Gottes geschaffen. IM ROTEN MEER. Ein erklecklicher Teil meiner Gefährten sagt sich vor Hitze dem Verschmachten nahe. Welcher Mangel an Einbildungs- kraft! Im Norden könnte solche Glut wohl gefährlich werden, denn dort wäre sie unnatürlich ; unter sonst gleich- gebliebenen Umständen sprengt übermäßige Temperaturerhöhung das Gleichgewicht der Elemente, die ein gegebenes Klima aus- machen, und da der Körper in bezug auf seine Umwelt existiert, kann eine Zersetzung dieser den Organismus leicht mitzersetzen. Hier aber gehört die Hitze ganz notwendig in den Zusammenhang hinein; ihr absoluter Grad ist nicht zu hoch; der Körper von Ein- bildungskraft sollte sich ihrer daher freuen. Zunächst wenigstens ; mit der Zeit erlahmt wohl das Umstellungsvermögen. Aber am An- fang wirkt das Ungewohnte rein als Anregung, weshalb es mich nicht wundern würde, wenn ich die ersten Monate hindurch nur das Positive des Tropenklimas auffassen sollte. Wie schön stimmt doch alles hier zusammen: das Klima, die Farben, die Umrisse, die Tiere, das Meer ! Jedesmal, wo ich ein neues Wesen sichte, ist mir, als würde eine Ahnung von mir erfüllt: so, gerade so muß ein Tier in diesen Breiten aussehen. Imaginative Synthesen solcher Art schließen gewiß manches Hysteron-Proteron ein, aber mit dieser Feststellung ist die Frage doch nicht erledigt. Es besteht wirklich ein notwendiger Konnex zwischen sämtlichen Ele- menten einer gegebenen Welt, so daß sich aus der Kenntnis einiger derselben die anderen bis zu einem gewissen Grade voraussagen lassen. Des öfteren habe ich, beim Besuch zoologischer Gärten, aus dem bloßen Charakter eines unbekannten Tiers auf seine Heimat richtig geschlossen, sogar dort, wo alle Vorkenntnisse mir fehlten. Solche Kombinationen gelingen unschwer dort, wo man vom all- 12 Afrika. gemeinen Charakter des Landes und der Eigengesetzlichkeit des Typus, dem das betrachtete Wesen angehört, eine genügend deut- liche Vorstellung hat. Auf diese Weise ist der chinesiche Hirsch z. B. mit Leichtigkeit als solcher zu bestimmen. Ja mehr noch : ich halte es für möglich im Prinzip, dieses besondere Tier a priori zu konstruieren, wenn man nur „den Hirsch" genügend kennt und mit dem chinesischen Menschen im Rahmen seiner Heimat ver- traut ist. Aber heiß ist es doch ; mir wird hundstagsmäßig zu Mut. Lang- sam zieht sich mein Bewußtsein aus den Gliedern zurück, die am Stoffwechsel ihre reichliche Beschäftigung finden und verharrt in serener Contemplation der erythräischen Küste. ADEN. Von allen Erdteilen besitzt der schwarze die gewaltigste Biidungskraft : was Afrika entstammt, bleibt dem Geiste nach ewig afrikanisch. Noch im Museum hebt der Gorilla sich vom heimischen Grunde ab ; Zebra und Strauß zaubern dörrende Steppenluft in die lieblichste Frühlingslandschaft hinein ; der afrikanische Mensch aber hat das Land, in das er ver- pflanzt ward, mit der Psyche seiner Heimat so sehr durchtränkt, daß der Weiße dort heute Negerweisen singt, um seinem Herzen Luft zu machen. — Um das zu wissen, braucht man nicht in Afrika gewesen zu sein. Wohl aber hätte ich schwerlich ermessen, wenn ich in Aden nicht an Land gestiegen wäre, bis zu welchem Grade „Afrika" wirklich ist, diese scheinbare Abstraktion. Hier bilden Felslandschaft und Mensch, Sandflächen, Strauchhütten und Geier, Dromedare und die Lasten, die sie tragen, einen einzigen schmetternden Durakkord. Der Akkord ist durchaus das Ursprüng- liche ; aber jeder Teilton klingt andrerseits so rein und schwingt so sicher im Zusammenklang, daß man in jedem, bei dem das Ohr ge- rade verweilt, den Grundton zu vernehmen glaubt. Dieses Zu- sammenstimmen ist beinahe exzessiv ; so groß, daß den Elementen überhaupt kein Spielraum gewährt erscheint; hier gibt es keine indi- viduelle Eigenart. Dafür tritt der überindividuelle Sinn so unmittel- Natur und Kunst; vom Sinn der Schönheit. 13 bar und so stark in die Erscheinung, daß die Gleichheit alles Gleich- artigen nicht als Stereotypie, sondern als höchste Typik wirkt, wie die Typlk in der griechischen Kunst, und alle Wiederholung als rhythmisch. Herrlich sehen die nackten Neger aus. Hier hätte Bildhauerei, allen Ernstes, keinen Sinn. Bei uns Europäern ist der Körper zu- meist eine faule, träge Masse ; dem Künstler liegt - es ob, aus dieser Materie Ausdruckswerte herauszuhauen. Deshalb bedeutet dieser uns soviel. In Afrika lösen die Naturformen in mir wenigstens eine größere innere Steigerung aus, als die meisten Kunstwerke dies vermögen. Nur ganz wenige Bildhauer hat es gegeben, die besser gearbeitet hätten, als die Natur, die in höherem Maße als sie die Möglichkeiten der Menschengestalt verwirklicht hätten. Die meisten sind hinter ihrem Vorbild, gerade was das eigentlich Künstlerische, die Suggestionskraft der Gestaltung betrifft, weit, weit zurückge- blieben. Nur die höchste Kunst hat die Bedeutung, die unsere Ästheten aller Kunst zuerkannt wissen wollen. Soll ichs aussprechen? Ihre ungeheure Wertschätzung verdanken die Künstler einer Kon- junktur, die trotzdem sie vielleicht ewig fortbestehen wird, doch nicht weniger zufällig bleibt. Die Bildhauer dem Umstand, daß unser Leib dank jahrhundertelangem Gekleidetgehen den ihm inne- wohnenden Ausdruckswert nicht mehr verwirklichen kann, weshalb wir es als Offenbarung empfinden, wenn ihn der Künstler an seinem Abbild realisiert; die Dichter dem, daß die meisten Menschen von sich aus fast nichts empfinden ; ihnen muß ein fremdes Gefühl ge- zeigt werden, auf daß ein ähnliches in ihrer Seele anklinge. Alle Menschen, die ich hier sehe, sind schön ; die Neger vor allem als Gestalten, die Araber, die wieder und wieder auf edlem Roß die sandigen Gassen entlangsprengen, als Charakterköpfe. Diese Menschen sind ebenso schön wie Tiere ; sie sind als Körper ebenso ausdrucksvoll. Das ist, weil sie alle typisiert sind. Schönheit ist nie ein Ausdruck des Individuellen: ihr Begriff umschließt die Vollendung der Formtendenzen, deren Ausdruck die Gattung um- grenzen ; in ihr vollendet sich also etwas, das mehr ist als das Individuum. Hierauf beruht ihr zwingender, allgemeingültiger Cha- rakter vom Standpunkt aller, in welchen gleiche Formtendenzen lebendig sind, denn jede begrenzte Möglichkeit ist nur einer äußer- sten Verwirklichung fähig. Für den Menschenleib ist kein höherer Grad harmonisch allseitiger Ausbildung denkbar, als die Plastik der 1 4 Schönheit für das Individuum nie symbolisch. Griechen sie zur Darstellung bringt, also sind deren Gestaltungen absolut schön. Hier, und hier allein, fußt der Objektivitätscharakter ästhetischer Urteile : ob diese Naturformen, deren künstlerische Ab- bilder oder bloße Arabesken betreffen — in der ganzen Natur herrscht eine gleiche Mechanik und eine gleiche Stereometrie, so daß überall Verhältnisse denkbar sind, die unter Voraussetzung der Schöpfung, wie sie ist, ein objektives Optimum verkörpern. Bei diesen Urteilen kommt Subjektivität gar nicht in Frage. Im Falle nationaler Schönheitstypen (gleichwie im Fall spezifischer Kunst- stile), ist die Objektivität auf ein engeres Gebiet beschränkt; sie gilt nur für die, welche gewisse besondere Voraussetzungen zu- gestehen, über deren Wert sich vielleicht streiten läßt. Sind diese aber einmal zugestanden, dann spielt der Geschmack auch hier keine Rolle mehr. Die Neger von Aden sind absolut schön, weil sich der Rassetypus in ihnen vollendet. Aus der gegebenen Bestimmung geht eindeutig hervor, daß Schönheit im Sinne körperlicher Vollendung für das Individuum niemals symbolisch ist; hinter keiner der prachtvollen Araberstirnen steckt ein nur annähernd gleichwertiger Intellekt. Nicht umsonst war Sokrates der Griechen häßlichster, nicht ohne Grund überrascht uns Geist bei einer vollendet schönen Frau: körperliche Schönheit und individuelle Bedeutung gehören nicht allein verschiedenen Dimen- sionen an, sie widerstreiten sich insofern, als überall in der Natur, wo die Gattung dominiert, das Individuum entsprechend zu kurz kommt. Schönheit im eigentlichen Sinn ist immer überindividuelle, d. h. typische Schönheit, und der Typus wird von starken Indivi- dualitäten meist zersprengt. Am deutlichsten tritt dies bei unfertigen Völkern zutage, den Deutschen z. B. und den Russen, als wo der bedeutende Einzelne gewöhnlich vom physischen Rassenideal mehr abweicht als dies vom Durchschnitt gilt; am undeutlichsten bei auskristallisierten, wie den Briten. Daß letzteres jedoch meine Grundbestimmung nicht Lügen straft, erhellt daraus, daß der Un- gewöhnliche innerhalb fertiger Rassen fast ausnahmslos weniger un- gewöhnlich ist, als innerhalb unfertiger. Das heutige England wird keinen Shakespeare mehr hervorbringen. Warum die Anschauung großer Natur erhebt. 15 IM INDISCHEN OZEAN. Wie sehr ich, trotz allem, doch Nordländer bin ! Dieses Meer ist weiter und tiefer, als alle, die ich bisher durch- quert, und doch verfehlt es die Wirkung, die der Ozean sonst auf mich ausübt. Die milden, süßlichen Farben lassen das Bewußtsein von Erhabenheit in mir nicht wach werden. Wenn ich auf die rosiguntertönte Fläche hinausblicke, kann ich immer nur denken : dies ist die Weide der Medusen, der Spielplatz der Delphine. Das rührt daher, daß ich Nordländer bin. Dem räumlich Großen an sich kommt keine Großheit zu: es muß eine entsprechende Steigerung des Selbstgefühls auslösen, auf daß es Großes bedeute ; und ob es solche Steigerung bewirkt, hängt von persönlichen Ver- hältnissen ab. Prinzipiell gesprochen, wirken großartige Naturbilder, zumal das Hochgebirge, die Wüste und das Meer (ich nenne den Sternenhimmel nicht, weil sein Anblick zu alltäglich ist und daher so gut wie keine Wirkung im gemeinten Sinne ausübt), wohl auf jeden Menschen erhebend. Leichter als sonst dämmert ihm in solcher Umgebung die Ahnung auf, daß die Grenzen der vergänglichen Per- son sein Wesen nicht notwendig abschließen, daß es gewissermaßen von ihm abhängt, ob er unendlich oder endlich ist. Die ungeheuren Kräfte, die er außer sich am Werke sieht und doch irgendwie als ihm zugehörig betrachten muß, sprengen — wie es von innen her die Leidenschaft tut — den Panzer der Vorurteile ; unwillkürlich er- weitert sich sein Ich ; er erkennt seine Individualität als gering- fügigen Teil seiner selbst, fühlt sich größer, großmütiger und edler — oder auch unwichtiger, kleiner, was hier das gleiche bedeutet. Allein der Grad dieser typischen Wirkung ist in jedem Einzel- fall von besonderen Umständen abhängig. Ob der Inder vor den glimmernden Eisbergen nördlicher Meere wohl von den Göttern träumen würde, die der Anblick der Himalayas wie selbstverständlich in seiner Seele entstehen läßt? — Vermutlich fröre er dazu zu sehr; er würde gottlos werden vor Kälteempfinden. Ich aber suche ver- gebens im indischen Ozean die Stimmung wiederzufinden, die der Atlantic und die Nordsee so oft in mir wachgerufen haben. Das lastend Schwüle, das Milde, das Süße vermag ich als Elemente des Erhabenen nicht zu denken : es wirkt zu einschläfernd auf mein 1 6 Symbolische Bedeutung der Kleidung. Nervensystem. Als ob ich ein Weib wäre, interessiere ich mich auf- richtig nur für das Kleine inmitten des Großen ; so heute vorzüglich für die Kurven, welche die Fische im schwirrenden Flug zwischen Welle und Welle beschreiben. Ja, ich bin Nordländer. . . . Wieder einmal steht Proteus an seiner Grenzender indische Ozean kann ihm nicht die Nordsee sein. So leicht es ist, seinen psychophysischen Zusammenhang umzuzen- trieren, so schwer fällt es, dessen Elemente umzuwandeln ; das ge- lingt nur durch langsames Wachstum in der Zeit. — Bin ich nicht wie ein Sträfling, dem das Ausbrechen Mal auf Mal mißglückt? Immer wieder wähne ich, meiner Person entschlüpft zu sein und immer wieder fängt sie mich schließlich ein. Ich muß anerkennen, ob ichs will oder nicht, daß es bestimmte Gegebenheiten in mir gibt, die meiner Bestimmung nicht unterworfen sind; daß ich, so frei ich wesentlich sei, als Erscheinung nur ein Element bin im Gefüge der Welt. Kleider sollen ohne Bedeutung sein? — Bei Geschöpfen, die es gewohnt sind, gekleidet zu gehen, die überdies ihr Bild im Bewußtsein widerspiegeln, ist das Gewand nicht un- wesentlicher als der Leib. Die bedeutenden Menschen dürften auch selten sein (so häufig die Esel sind), die ihren äußeren Stil nicht irgendeinmal gefunden und dann treu an ihm festgehalten hätten. Die Gottesgabe der Eitelkeit hat viel Gutes zur Folge: wer seine Tracht mit seiner Natur in Einklang gebracht hat, genügt damit nicht allein seinem persönlichen ästhetischen Bedürfnis, be- weist nicht nur seinen Mitmenschen Rücksicht, er hat sich recht eigentlich ein Ausdrucksmittel geschaffen. Weshalb zieht sich der feinfühlige Mensch zum geselligen Beisammensein um? weil er mit dem Gewand den Menschen wechselt. Im gleichen Sinn macht erst der gefundene äußere Stil den inneren Menschen ganz frei. Keiner ist wirklich ohne Eitelkeit, noch soll er es sein ; jeder sieht sich selbst im Spiegel. Daher tritt er viel unbefangener auf, wenn seine Erscheinung seinem Wesen entspricht. Hiermit ist der Mode ihre Berechtigung nicht aberkannt, im Gegenteil: dem Durchschnitte wird immer sie die bestmöglichen Ausdrucksmittel verleihen, weil diesem das hervorragend Besondere fehlt, und die allgemeinen Umrisse eines Menschenschlages von der Mode Verschiedene Auffassung der Form in Ost und West. 17' meist vollkommen verstanden werden ; und gleiches gilt vom be- deutenden Einzelnen, dessen Größe in der Vollendung des Typus liegt, einem Castiglione, einem Edward VII. Wenn jedoch Künstler mit abnormer Schädelbildung keine Mähnen trügen, so würden sie stillos sein und eben damit einen Teil ihrer Ausdrucksfähigkeit ein- büßen. — Wie komme ich auf diese Betrachtung? An Bord ist heute Maskerade, der ich beiwohnen muß, ob ich mag oder nicht. Verkleidungen sind doch sehr lehrreich. Nicht zwar beim Komö- dianten, bei dem Erscheinung und Wesen von vornherein zwei Wel- len angehören, sondern gerade bei dem, der kein oder wenig Talent zum Schauspieler besitzt. Hier bleiben Schein und Wesen trotz aller Absicht in Gleichung gesetzt, und das führt zu wahren Offen- barungen. Ich will nicht behaupten daß der, dem die Tracht des XVIII. Jahrhunderts am besten steht, damit beweist, daß dessen Geist ihn beseele, wohl aber ist es wahr, daß Verkleidung, (die ja nichts anderes als Kleidung mit bestimmter Absicht ist), dazu verhilft, Wesenszüge zum Ausdruck zu bringen, die normalerweise im Hintergrund verbleiben. Auf diese Weise kann sie Steigerung sowohl als Herabminderung, sie kann geradezu Selbstverwirk- lichung bedingen. Herabminderung ist der häufigste Fall, weil der natürliche Ausdruck den meisten am besten entspricht; hier offenbart die Maskierung, was der Mensch zwar ist, jedoch nicht wesentlich ist, sie verrückt das Zentrum seines Seins. Steigerung bedingt sie bei denen, welchen ihr Beruf, ihr Milieu und dessen Sug- gestionen nur eine teilweise Selbstverwirklichung gestatten; diese sind in entsprechender Verkleidung mehr oder in besserem Sinne sie selbst, als sonst, in ihrem „wirklichen" Dasein. Der interessanteste Fall ist das Extrem des Zuletztbetrachteten — der Fall, wo der Mensch im Leben gar nicht er selbst ist und erst auf der Mummen- schanz seine Geburt ins Dasein erlebt. Zweifelsohne passen so manche weder in ihre Zeit, noch in ihren Beruf, noch in die Welt hinein, der sie entsprossen sind; deren Wirklichkeit ist metaphysisch betrachtet, Schein. Solche werden mitunter dank einer Maske echt. Vor mir bewegen sich zwei Weltmänner, die das Gewand von Apachen tragen : fast möchte ich schwören darauf, daß nicht ihr heutiges Spiel, sondern ihr gewohntes Leben vor Gott die Komödie bedeutet. Hier muß ich an die in James Moriers unsterblichem Hadji Baba of Ispahan so unvergleichlich dargestellte Versatilität des Keyserling, Reibetagebuch. 2 18 Gleichgültigkeit der Tatsachen; man kann nicht alles. Orientalen denken : der heute Großvezier, morgen Barbier und über- morgen Asket ist und sich in jeder Rolle vollkommen heimisch fühlt. Die Unbeständigkeit aller Lebenslagen im Orient legt es dort nahe, keine Gestaltung ganz ernst zu nehmen. Diesem Umstände tragen dann die Werturteile Rechnung: der Mann wird immer nur für das genommen, was er vorstellt, wementsprechend das Benehmen eine Wichtigkeit gewinnt, die der moderne Okzidentale kaum begreift. Wie sollte es anders sein? Wo die Erscheinung nicht wesentlich ernst genommen wird, muß der Schein hypostasiert werden. Wir Westländer glauben instinktiv an die Gottgewolltheit der äußeren Lebensstellung, weswegen wir einerseits viel weniger auf Form geben als der Osten, andererseits aber dort, wo sie uns notwendig scheinen, den Formen metaphysische Wirklichkeit zusprechen. Der Ritter muß sich in jeder Lage als Ritter gebärden usw. — Allein, was uns in Amerika möglich dünkt, beweist, daß auch wir es im Grunde besser wissen: über den Ozean verpflanzen wir unsere Postulate nicht. Drüben darf auch der Ritter, dem es daheim nicht glücken wollte, als Kellner sein Brot verdienen ; dort nimmt auch er ohne Wimpernzucken, douceurs und Trinkgelder an Ein Forscher, den sein Beruf durch alle Provinzen Indiens führt und ein hervorragender Kenner von Land und 'Leuten zu sein scheint, schlägt mir vor, mich ihm anzuschließen: so würde ich tieferen Einblick in das Inderleben gewinnen. Ich muß lächeln über das seltsame Verhältnis, daß eine bonne fortune wie diese mich, im Falle ich sie ausnützte, um den ganzen Zweck meiner Reise brächte. Was gehen mich die Tatsachen als solche an? Und wenn sie mich angingen, würde ich des- halb reisen? Überall sind Berufene schon gewesen, ihre Fest- stellungen liegen jedermann vor; die Beobachtungen, die ich persön- lich anstellen könnte, hätten sicher weniger Wert, als diejenigen anderer, besser hierzu veranlagter. Das selbst zu tun, was andere besser täten, ist Kräfteverschwendung und Zeitverlust. Junge, be- gabte Leute verkünden gern: der Mensch muß alles können. Er kann aber nun einmal nicht alles und was er wirklich kann, das leidet unter der Zerstreuung der Aufmerksamkeit. Es ist merk- würdig, daß von allen Menschentypen die politischen allein, die doch sonst die am wenigsten metaphysisch-besonnenen sind, zwischen Zwischen Ich und Gehirn ist zu scheiden; Beschränkung notwendig. 19 sich und dem verwandten Gehirn zu scheiden wissen; ihnen allein gilt es gleich, wer eine Arbeit praktisch leistet, wenn sie nur gut geleistet wird. Der Philosoph aber schämt sich meist der bloßen Möglichkeit, daß sein Gehirn nicht allvermögend sein könnte, und statt durch richtige Selbsteinschätzung seine Leistung aufs Äußerste zu steigern, indem er das selbst vornimmt, wozu er Organe besitzt, zur Bewältigung ihm weniger liegender Probleme jedoch geeignetere Gehirne verwendet, verdirbt er sein Werk durch die Vorspiegelung, er sei der liebe Herrgott in Person. Diese Schutzgebärde der Eitel- keit kann ich bei kleinen Leuten gut verstehen ; aber der Philosoph ist Organisator im ganz großen; er könnte es sich leisten, innerlich freier zu sein. Nun, ich selbst bin es — so weit ich's bin — auch erst seit gestern. Was habe ich nicht alles unternommen in den ersten Zeiten des Flüggeseins! Die Jahre machen einen weiser. Heute ziehe ich die Augen anderer meinen eigenen vor, wenn es gilt exakt zu beobachten ; wo ein Experiment durch die Impressionabilität des Experimentators an Beweiskraft verlieren könnte, ersetze ich mein Nervensystem durch ein robusteres ; ist eine logische Kette zu konstruieren, um eine erkannte Prämisse mit einem erahnten Ergebnis zu verbinden, so überlasse ich das, wo immer es geht, besseren Logikern, als ich einer bin und alle Intuitionen, die Spezial- gebiete betreffen, gebe ich, sofern sie irgend beachtenswert er- scheinen, als Anregungen den Herren vom Fache weiter. Ich für meine Person beschränke mich darauf, mich in den Sinn der Dinge zu versenken. Hierbei nun wirkt der Andrang zu vieler Tatsachen nicht fördernd, sondern hinderlich. Die Grundtöne einer Welt sind dem, der sie überhaupt heraushören kann, aus wenigen Akkorden vernehmlich ; zu viel Musik verwirrt das Ohr. Die Notwendigkeit der Beschränkung wird, was das Objekt be- trifft, wohl von allen theoretisch anerkannt. Die wenigsten aber scheinen zu wissen, daß auch das Werkzeug, das Ich, der Beschrän- kung bedarf, vor allem bezüglich der Einflüsse, denen es ausge- setzt wird ; daher verschreit man unsereinen so oft als Sonderling, Egoisten und Eigenbrödler. Mir z. B. wird es an Bord als Hochmut ausgelegt, daß ich mich von meinen Mitreisenden soweit als tun- lich fernhalte. Die wahre Ursache ist die, daß ich mein spezifisches Geistesvermögen nur in vollendeter Abgeschiedenheit ausüben kann. Wenn ich leisten soll, wozu ich da bin, muß mein Nervensystem reingestimmt, die Aufmerksamkeit unbefangen, mein Gemüt seren„ 2* 20 Vollendung in Dasein und Werk; keiner lebt sich selbst. sein ; und diese Bedingungen sind ihrerseits an Vorbedingungen ge- knüpft. Es mag wohl sein, daß solche Rücksichtnahmen den Menschenwert auf die Dauer beeinträchtigen, aber dieser Einwand bedeutet nichts : der Geistesarbeiter muß soweit selbstlos sein, daß er die mögliche Schädigung auf sich nimmt ; er muß — um das Verhältnis durch eine mythisch-extreme Formulierung desto eindringlicher dar- zustellen — seine ewige Seligkeit zu verscherzen bereit sein, sofern er dank unheiligem Leben zu tieferen Erkenntnissen gelangt ; er muß im selben Sinn ausschließlich seiner Aufgabe leben, wie eine gute Mutter ihrem Kind. Leider ist es ja nicht wahr, daß alle Voll- kommenheiten in einer Richtung belegen seien ; die Vollendung eines Werks erfordert andere Bedingungen als die persönlichen Da- seins. Wo es nun zu wählen gilt zwischen einer mittelmäßigen Selbstverwirklichung im Leben und einer bedeutenden im Werk, ist diese jener unbedingt vorzuziehen. Eine tiefe Erkenntnis, von einem unvollkommenen Menschen gefunden und ausgedrückt, kann der ganzen Menschheit zum Heil werden. Die menschliche Voll- endung in dem Sinn über die anderen zu stellen, wie dies gemeinig- lich geschieht, ist ein Beweis primitivsten Egoismus nicht allein, sondern auch grundsätzlichen Mißverstehens. Wer lebt denn buch- stäblich „sich selbst", wer kann es tun? Keiner. Zwischen dem, der seiner persönlichen Vollendung lebt, seinem Werk, seinem Mit- menschen oder seinem Kinde, besteht vor Gott kein Unterschied. Jeder lebt einem Überindividuellen. Denn ja auch das, was wahr- scheinlich den Tod überdauert, jenes Ich, dessen Unsterblichkeit der Christ postuliert, ist nicht die Person: es ist die Frucht, die sie nur austrägt und gebiert. Ich habe nachgezählt: unter den Reisenden sind wirklich dreiund- zwanzig verschiedene Nationalitäten nachweisbar. Man sollte also meinen, daß die Besatzung einen äußerst uneinheitlichen Eindruck machen würde. Das Gegenteil davon ist' der Fall: die Leute unterscheiden sich kaum von einander, wenn ich vom Äußer- lichen absehe und der innerstseelischen Welt, und mich an den greifbaren Charakter halte. Das ist der Erfolg eines bloß vierzehntägigen Zusammenseins im nicht einmal engen Räume eines Ozeandampfers. Wird zwischen Macht des Milieus; Wert und Unwert der Weltlichkeit. 21 Noah, Löwe und Schaf gegen Ende der Sintflut überhaupt ein Unterschied gewesen sein? — Jeder ist als Erscheinung immer nur so viel, als er zur Geltung bringen kann, und wird mehr oder weniger, so oder anders je nach den Zügen, die von seiner Um- gebung aufgefaßt werden: dies erklärt die ungeheure Macht des Milieus. Das von Paris z. B. steigert jeden Geist, dem es einiger- maßen congenial ist. Man versteht auch, was einem selbst nie eingefallen wäre und das Verständnis löst neue Einfälle aus: in Paris, dessen gebildete Kreise die geistig behendesten der Welt sind, findet diese Fortentwickelung mit solcher Geschwindigkeit statt, daß das Denken überhaupt nicht zum Stillstand gelangt und von einem Standpunkt oft mit einem Ruck zu einem so viel höheren hinaufgetrieben wird, wie es ihn in anderer Umgebung nie erklommen hätte. Deswegen sind Geister, die in Haupt- städten ausgebildet wurden — wie dem alten Athen, Florenz, Ale- xandrien, Rom, Paris — provinziellen immer überlegen. — Ge- nau im gleichen Verstand bewirkt langwieriges Zusammengepfercht- sein auf einem Dampfer eine solche Banalisierung, daß zuletzt der Unterschied zwischen Mensch und Tier verschwimmt. In dieser Welt kommen nur die allerbanalsten Züge (eben die, welche der wertvollere Mensch aus Taktgefühl bei sich und anderen ignoriert) zur Geltung und deren Spiegelbild, das ihm die nächste Umgebung dauernd vorhält, macht sie ihm schließlich dermaßen bewußt, daß er so wird, wie seine Umgebung ihn auffaßt. — Das Milieu eines Ozeandampfers bezeichnet die beste mir bekannte Karrikatur der „Welt", dieses mächtigen Verdürftigungsmittels. Ich bin alles eher als weltfeindlich gesinnt; jeder, wer es auch sei, muß mit seinen Mitmenschen Fühlung behalten, wenn er innerlich nicht verkrüppeln soll, und ein nicht zu verachtender Weg hiezu ist der Verkehr in der vornehmen Gesellschaft. Hier zwingt einen die Konvention, auf den zu achten, über den man sonst wahrscheinlich hinwegsähe, hier herrscht das durchschnittlich - d. h. allgemein- Menschliche vor, und äußert sich zugleich in einer Form, die es an- nehmbar erscheinen läßt. Gerade der innerlich Einsame, der Philo- soph, muß Weltmann sein, wenn er verderblichen Rückbildungen vorbeugen will. Aber es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Besuchen der Welt und dem Aufgehen in derselben. Dieses wirkt immer und auf jeden verdürftigend. Auf jeden, bis auf den, dessen Typus ich den repräsentativen heißen möchte. Es gibt 22 Das XVIII. Jahrhundert; Männlichkeit und Weiblichkeit. Männer, es gibt vor allem Frauen, die ihr Leben auf die sinnloseste Weise vertun und daran nicht verkümmern, sondern wachsen. Seine Vollendung hat dieser Typus im 18. Jahrhundert gefunden. Was läßt sich Leereres erdenken als das Leben der großen Damen von dazumal? Keine echte Liebe kannten sie, kein ernstes Interesse, ihr Dasein ging ganz in Gerede und Getändel auf. Und doch waren viele unter ihnen tief und ihre Tiefe fand an ihrer Existenz kein Hemmnis sondern ein Ausdrucksmittel: sie beseelte ihren esprit, ihre Lebenskunst. Daher kommt es, daß die Frivolität jener Zeit mitunter einen Eindruck von Ernst und Tiefe hervorbringt, der einen befremdet und träumen macht. . . . Das Milieu .... da ich gerade dabei bin, möchte ich doch einen Gedankengang niederschreiben, der von Zeit zu Zeit, so kurios er ist, immer wieder in meinem Bewußtsein auftaucht. Je nach der Umwelt, in der man sich befindet, gewinnen andere Züge die Ober- hand: sollte das nicht auch im Fall der inneren Umwelt wahr sein, im Falle dessen, was die meisten mit „sich" identifizieren? Ich kann in den Charakterdifferenzen zwischen Kind, Mann und Greis nur eine Reflexwirkung des Milieus erblicken. Ein tief- bewußtes Kind nimmt die Weisheit des Greises vorweg, und der innerlich freie Greis kann jung bleiben bis zur Stunde seines Todes: das deute ich mir manchmal dahin, daß sich je nach der physischen Konjunktur andere Eigenschaften manifestieren. Die Nerven des Greises können nicht kindlich reagieren und umgekehrt. Ein gleiches gilt sicher wohl auch von Mann und Weib, wenn ich deren Unterschiede vom metaphysischen Selbst her betrachte. Die Tatsachen der Vererbung legen die Deutung nahe, daß in jedem Individuum sämtliche Eigenschaften der Voreltern latent enthalten sind; welche sich jeweilig ausprägen, hängt von den Umständen ab. Tritt sonach ein Individuum — an sich selbst der Träger sämt- licher Vererbungsfaktoren — als Weib in die Erscheinung, so können sich die männlichen Züge nicht äußern und umgekehrt. Von hier aus sieht man, wie töricht es ist, vom Mann weibliche Tugen- den zu verlangen, und dem Weibe seine Unzulänglichkeit auf der männlichen Linie zum Vorwurf zu machen. Möglicherweise hätte die Entität, die als Mann den Cesare Borgia ergab, als Weib in einer Krankenschwester ihren entsprechenden Ausdruck gefunden Warum soll ich nicht noch weiteren Möglichkeiten nachsinnen? — In dieser feuchten Hitze entspannen sich alle Hemmungen ; ich be- Träumerei über das Himmelreich. 23 ginne sehr gleichgültig zu werden gegenüber der Erkenntniskritik; ich spüre Lust, zu verfließen im Reich unbegrenzter Möglichkeit. — Gesetzt, es gäbe so etwas wie ein Himmelreich, wie ein seliges Leben nach dem Tode. Diese Existenzform, wie sie von der Mythologie aller Völker einsinnig dargestellt wird, scheint schlechterdings un- denkbar, solange man voraussetzt, daß die Menschen nach dem 1 Tode das bleiben, was sie vorher waren. Aber könnte es nicht sein, daß unter „Himmel" ein inneres Milieu verstanden wird, in dem das Negative, das Schlechte, das Verderbliche im selben Sinn nicht zur Äußerung gelangt, wie die weiblichen Potenzen im männlichen Or- ganismus? Dagegen läßt sich a priori nichts sagen. Nur kann das Leben im Himmel dann freilich kein Schlußstadium bedeuten. . . . Wieder einmal durchfährt das Schiff eine Heerde rosenroter Quallen, deren Schirme nun im aufgeregten Wasser direktionslos hin- und herklappen. Wie wäre es, wenn sich mein Selbst durch einen Medusenkörper auszudrücken hätte? Das meiste dessen, was eine Menschenseele definiert, fiele dann fort ; nur ein geringer Bruchteil meines Wesens träte in die Erscheinung. Aber dieser Bruchteil wäre vermutlich einer, der im Menschen keine Äußerungs- möglichkeit findet. II. CEYLON Leben in den Tropen ist Vegetation. 27 COLOMBO. Wie wird mir auf Lanka, der grünen Insel? — Stündlich spüre ich mich anders werden. Ich fühle : in dieser Treib- hausluft frommt es nicht zu arbeiten, zu wollen, zu stre- ben ; nur was von selbst geschieht, gelingt. Und es geschieht un- glaublich viel von selbst, mehr als ich je für möglich gehalten hätte. Eigentlich alles in mir geschieht von selbst. Unaufhaltsam flaut mein Wollen ab. Ich verwandele mich zu einem sanften, weichen, genießenden Wesen, ohne Ehrgeiz und ohne Schaffensdrang. Mein ganzes Leben wird zum Vegetationsprozeß. Aber freilich : dieser Begriff erscheint nur gegenständlich, wenn er aus der Tropenflora abgezogen wird, nicht aus derjenigen nördlicher Breiten. Dort bedeutet Vegetieren ein Minimum an Leben — ein Dasein, das gerade nur sich selbst genügt ; hier hingegen ein Maximum ; diese Gewächse, die über Nacht von der Erde zum Himmel aufsprießen, sind an Lebenskraft den Göttern gleich. Auch auf Ceylon be- deutet Vegetieren ein Dasein, das ohne Anstrengung verläuft, aber der Anstrengung bedarf es eben nicht; es gelingt alles auch ohne sie. Das Vegetieren wird zur Form alles Lebens, sogar des geistigen. Auch der Geist wuchert, den Tropenpflanzen gleich. Schon spüre ichs an mir selbst: die Vorstellungswelt des tropischen Menschen ist nur von der Botanik aus begreiflich. Wie die Blumen sprießen die Bilder in ihm auf, überreich, üppig, wirr durcheinander, ohne Mühe noch Aufsicht seitens des Gärtners, und insofern unverant- wortlich. So ist wohl die Entwicklungsgeschichte des indischen Mythos zu deuten. Die herbe Lehre der Weisen des Nordwestens hat sich in den südlichen Zonen nicht lange erhalten können ; bald 28 Tropenphysiologie ; die Maya-Lehre. begann die Einfachheit zu ziellosem Überfluß auszuwachsen. Un- aufhaltsam sprossen Tausende von Göttern aus dem fruchtbaren Erdreich auf. Der Hinduismus in seinem unübersichtlichen Reichtum ist gewiß nur als vegetativer Vorgang zu verstehen. Mit der Erscheinung, die sich von selbst versteht, identifiziert man sich nicht; keiner verlegt sein Ich in den Stoffwechsel hinein, in den Kreislauf des Bluts. Nur das, was irgendwie von unserer Be- stimmung abhängt, empfinden wir als zum Selbste gehörig. So rechnet kein ernstzunehmender Abendländer die materielle Außen- welt zu sich, wohl aber die psychische, die Sphäre der Gedanken und Vorstellungen. Auf dieser natürlichen Verknüpfung sind jene typisch-westlichen Philosophien begründet, in welchen das Sein mit dem Denken, Wollen oder Handeln identifiziert erscheint. In den Tropen — schon spüre ichs — kommt man gar nicht darauf, die psychischen Phänomene anders zu beurteilen, als die körperlichen ; man kann gar nicht darauf kommen, sie metaphysisch ernst zu nehmen. Alles, was in mir vorgeht, wird in mir, wie da draußen die Pflanzen werden. Nicht ich denke, sondern es denkt in mir, nicht ich will, sondern es will in mir. So geschieht es in Wahrheit überall. Allein auch Ceylon, wo die Natur alles Nötige tut, auf daß der Mensch sich nicht miß- verstehe, indem sie das, was ihr zugehört, mit Nachdruck für sich in Anspruch nimmt, wird sich jeder dieser Wahrheit bewußt. Für den mittelmäßigsten Braunen muß sich Buddhas Erkenntnislehre von selbst verstehen. Der noch so gebildete Europäer sieht ihre Wahrheit nur ausnahmsweise ein. Da er sich eben dort des Han- delns bewußt ist, wo jener die Tatsache des Nicht-Handelns kon- statiert, neigt er notwendig dazu, einen Teil der Natur dem Selbste anzurechnen. ^ Die Mäyadoktrin, die Lehre von der Unwirklichkeit der Welt, ist im gleichen Sinne typisch für den Tropengürtel, wie es der Naturalismus für den Norden ist. Im Norden, wo der Mensch sich ohne Rast in die Natur hineinversetzen muß, um ihre Prozesse im Gang zu erhalten, liegt nichts ihm näher, als sie durchaus ernst zu nehmen ; gibt er dieser Neigung nun nach, systematisiert er die An- sichten, zu denen sie führt, dann entsteht jene Weltanschauung, nach welcher der Mensch in seinen psychischen Prozessen ganz enthalten ist. Versteht sich der Naturprozeß hingegen von selbst, braucht sich der Geist überhaupt nicht um ihn zu kümmern, dann liegt es umgekehrt nahe, die Phänomene nicht ernst zu nehmen. Mehr noch : Maya-Lehre und Naturalismus; Buddha und Nietzsche. 29 da die Willensimpulse so gering sind, daß es der Wunsch nicht zur Gedankenvaterschaft bringt, so wird dort der Erscheinungscharakter der Welt leicht so aufgefaßt, daß alles konkrete Geschehen nur Trug und Gaukelspiel sei. Auch diese Weltanschauung bedeutet, genau wie ihr Gegenpol, der Naturalismus, nich mehr als ein pas- sage ä la Limite, und ist insofern menschengemäß genug. Bezeichnend ist nun, daß Pol und Gegenpol in einem zusammenstimmen : in der Stellung, die sie dem Absoluten gegenüber einnehmen. Beide leugnen ein solches schlankweg. Der Naturalismus, weil das starke Bewußt- sein der Naturprozesse ein Jenseits derselben überflüssig erscheinen läßt; der Buddhismus aus entgegengesetzten Motiven. Alles, dessen der Mensch sich konkret bewußt werden kann, gehört zur Natur. Wo diese nun als nichtwirklich empfunden wird, wendet sich das Be- wußtsein von seinen möglichen Inhalten ab ; dort wird es leerer und leerer, bis schließlich nichts vorhanden bleibt. So ist dem ceylone- sischen Buddhisten das Nichtsein der Hintergrund des. Scheins; mehr enthält diese Welt ihm nicht. Solche Vorstellung ist in Europa kaum zu fassen. Seitdem ich auf Ceylon weile, beginne auch ich sie gegenständlich zu finden. Man hat die Mäyalehre mit den Philosophien verglichen, die in Europa die Unwirklichkeit der Welt vertreten haben. Dieser Ver- gleich trifft nicht einmal an der Oberfläche zu. Alle europäischen Illusionisten waren, sofern sie als ehrlich gelten dürfen, blutleere Theoretiker, denen eine logische Konstruktion dichter schien, als das Erlebnis ; kein Westländer glaubt innerlich an die Mäya. Und doch gibt es Geister unter uns, die Wohl ein Recht hätten, sich zur buddhistischen Weltanschauung zu bekennen. Dem späten Kultur- menschen wird es schwerer und schwerer, sich in irgendeiner Form zu verwirklichen. Seine Gedanken, seine Gefühle, seine Taten be- deuten nichts in bezug auf ihn ; er ist sie nicht und kann sie nicht mehr werden. Diese Bewußtseinslage ist der buddhistischen äqui- valent. Allein sie hat hier Entgegengesetztes zur Folge. Der Zu- stand des Buddhisten ist ein glücklicher, denn nichts wünscht er sehnlicher, als dem bestimmten Dasein zu entrinnen. Der des modernen Europäers ist tragisch, denn ihn verzehrt die Sehn- sucht, zu sein. Er empfindet es als Impotenz, daß er sich nicht verwirklichen kann. Das Sein absolut zu leugnen — diese Rettung des buddhistischen Nihilisten — ist dem vitalen Europäer unmöglich. So hat eben der Umstand, der auf Ceylon den Glauben an Buddhas 30 Sehnsucht und Erfüllung. Lehre befestigt hat, bei uns den Erfolg Friedrich Nietzsches bedingt. Nietzsches Lehre vom Übermenschen ist nämlich kein Ausdruck von Größe, sondern einer der Sehnsucht nach Größe, wohl der er- greifendste, welcher jemals gefunden ward. KANDY. Zauberhaft sind die Landschaftsbilder, die sich wieder und wieder vor dem entzückten Reisenden entrollen, den die Spirale der Bergbahn vom schwülen Colombo zum kühleren Kandy hinanführt. Der Reichtum der Flora ist überschwänglich allerorts, aber jede Höhenlage ist besonders bestanden, so daß das Auge bei weiteren Ausblicken nicht eine Natur, sondern viele Naturen auf einmal überschaut, die bald schroff gegeneinander ab- grenzen, bald nuanciert ineinander übergehen, und überall in der vollkommenen Schönheit, die das vollkommen Sinngemäße aus- zeichnet. Und nun Kandy! Dieser friedliche See, umrahmt von dunkelgrünen Bergen, umstanden von Bäumen, die gleich Blumen blühen, eingebettet in üppigste Matten — dieser See mit seinen unsicheren, nebelhaften Farben, in dem das grelle Sonnenlicht sich nur wie im Echo wiederspiegelt, wirkt wie ein Mondstein auf dunkelem Sammetgrund. Wie ich ankam, ward ich dermaßen be- geistert, daß ich alsbald einen langen Streifzug unternahm. Und wie ich dann heimkehrte und mich müde niederließ, in kosigem Liege- stuhl auf schattigem Balkon, da dachte ich mir : du bist im Paradies. Hier sind alle, auch deine kühnsten Erwartungen übertroffen ; deine maßlosesten Wünsche sind erfüllt. Jetzt solltest du vollkommen glücklich sein. Bin ichs? Es ist undankbar von mir, allein ich bin es nicht. Ich bin es nicht, gerade weil jeder Wunsch erfüllt erscheint. In der Erfüllung ist die Sehnsucht aufgehoben, und mit der Sehnsucht hört das Leben, das ich meine, auf; meine eigenste Lebensmöglichkeit fühle ich mir abgeschnitten. Noch nie habe ich in einer Welt geweilt, deren an- regende Kraft geringer wäre. Im Augenblick regt sie mich natür- lich an, doch das liegt nicht an ihr, sondern an dem, daß sie mir fremd ist und Sinne und Verstand immerfort zu neuem in Beziehung Nur der Suchende findet; Bedingungen der Liebe. 31 treten. Ich kann mir auch vorsteilen, daß maßlose Naturen, wie Gauguin und Stevenson, an ihr dauernde Anregung finden mochten, denn den Maßlosen befriedigt selbst das Übermaß nicht. Was mich aber betrifft, so bin ich des gewiß, daß meine Einbildungskraft hier bald erlahmen würde. Wo alles Erfüllung ist, erscheint der Sehn- sucht der Boden entzogen. Sehnsucht und Erfüllung ! Enthält das normale Verhältnis dieses Begriffspaares nicht die Lösung des ganzen Problems, weswegen die gemäßigte, nicht die heiße Zone der Schauplatz aller Großtaten des Geistes gewesen ist? Wo alles vorhanden, dort sucht man nicht, und das Äußerste hat keiner je gefunden, der nicht ein Suchender gewesen wäre ; wo alles gegeben, dort fehlt dem Willen der An- sporn, und aus der Trägheit geht keine Heldentat hervor ; wo alles nur Mögliche verwirklicht ist, dort bleibt kein Idealismus lebendig. So tragen die originalen Schöpfungen des Tropengürtels allesamt selt- sam ungeistige Züge. Im Tropenklima vegetiert, wie alles, auch die Phantasie. Wohl treibt sie manchmal wunderherrliche Blüten, bald wild-phantastisch, wie die volkstümlichen Göttermythen, bald duftig- schwül, wie die Lyrik verfeinerter Hofdichter ; sie bringt auch hie und da Gebilde hervor, die, gleich der Palme, fest und stark in der Linie sind. Aber alle diese Schöpfungen, so schön sie seien, ver- bleiben in der Sphäre des Naturhaften ; sie sind nicht aus geistiger Tiefe neubeseelt, nicht aus dem Geiste wiedergeboren. Sie sind „Geistesausdruck" nur im Sinn der Blume. Die Natur als solche kann eben, so üppig sie sei, zu den Höhen der Geistigkeit nicht hinanwachsen ; dorthin gelangt nur der Mensch, der sich in kraft- voller Anstrengung über die Sphäre seines Ursprungs hinauferhob. Aber dem Tropenbewohner fehlt der Anlaß, sich anzustrengen, denn alles Mögliche geschieht ja schon von selbst. Und zum Begehren des Unmöglichen fehlt ihm die Energie. Sein Bewußtsein muß erschrecklich arm sein. Bewußt wird nur das, was nicht von selbst geschieht; wo alles automatisch verläuft, was bleibt? Er kann auch die Liebe nicht kennen. Was wir Liebe heißen, beruht rein auf Einbildungskraft. Wo der Wunsch dem Ge- nuß, die Vorstellung der Wirklichkeit vorauseilt, dort entsteht jenes wundersame Gebild, und es wird reicher und zarter und schöner, je weiter der Abstand zwischen Sehnsucht und Erfüllung ist. Daher hat die Liebe im Norden, wo der Geist gern im Traumlande weilt, so viel köstlichere Blüten getrieben als im Süden mit seinem 32 Indische Liebe; Nirwana. größeren Wirklichkeitssinn. Je südlicher die Zone, die sie be- wohnen, desto animalisch-sinnlicher sind die Menschen, desto weniger aktiv ist ihre Phantasie. Der Weg zwischen Sehnsucht und Erfüllung wird zuletzt so kurz, daß psychische Bildungen kaum ent- stehen können. Das Erleben geht über das Begehren nicht hinaus ; es kommt nicht zu dem Dichtungsprozesse, welcher Liebe im nor- dischen Sinn zeugt. In den Tropen erscheint es selbstverständlich, daß die sich haben, die sich erotisch angezogen fühlen. Wo die in- indischen Dichter Sehnsucht schildern, da handelt es sich um den Schmerz getrennter Gatten, die im Genießen aussetzen müssen, nie um ein Sehnen nach dem Unerreichbaren, dem Unbekannten. Unser Sehnen kennen die Tropen nicht. Nur eine Sehnsucht kann in ihnen Nahrung finden, lebendig bleiben und anwachsen, bis daß sie dasteht als weltbewegende Macht: die Sehnsucht aus der Fülle hinaus. Auch im Norden sind manchmal Geister aufgetaucht, die sich abweisend zur Wirklichkeit stellten, aber ihr Motiv war nie Befreiungsdrang, sondern Unbe- friedigtheit mit dem Gebotenen. So fehlte ihrem Verneinen der tiefe Grund ; es ist im großen nie produktiv geworden. In den Tropen hat gerade die Sehnsucht hinaus aus der Welt sich als die schöpferischeste bewährt ; sie allein hat das Tiefste im Menschen an die Oberfläche gebracht, denn sie allein wurzelt in der Tiefe. In der Tat, wo nichts zu wünschen übrig bleibt, dort beengt die Fülle ebenso, wie sonst der Mangel ; sie hindert die Kraftentfaltung, schwächt das Lebensgefühl, droht das Selbstbewußtsein zu ersticken. Gerade der Kraftvolle ist dort am weltfeindlichsten. So kommt es, daß eben die Lehren, die bei uns als die schwächlichsten wirken, als Ausgeburten verkommenden Lebens, die Lehren von dem Un- werte des Daseins, in den Tropen Kraftfülle atmen. Daß hier „Geist" nur da gewaltig am Werke erscheint, wo es nicht Wirklich- keit zu -schaffen, sondern za verneinen gilt. — Die Mondsichel spiegelt sich im See. In den Palmenwipfeln zirpen tausend Insekten- stimmen. Wie ich mich nach dem Nirwana sehne ! Nach einem Dasein, wo die Schöpfung nicht übermächtig wäre, wo die Natur den Geist nicht überwucherte! Nach einem Zustand des nicht- individuellen, nicht-bestimmten Seins, in dem ich frei wäre von allem, was mich bindet, von Freud und Leid, von Göttern und von Menschen, und von mir selbst. ... Der Buddhismus als Theorie der Vegetation. 33 Ich bemühe mich, die Pflanzen wachsen zu sehen ; auf Ceylon müßte es gelingen. Dieses Gestrüpp kocht buchstäblich vom Boden auf, diese Bambusstäbe schießen förmlich gen Himmel. Die ganze Schöpfung ist in ständigem Fluß begriffen: hier bedarf es keines Herakleitos, um einem das deutlich zu machen. Wie anders stellt sich ein Wald in den Tropen dar, als bei uns ! In ge- mäßigten Breiten bedeutet „Wald" den Kollektivbegriff, unter dem viele Einzelbäume zusammengefaßt werden ; hier wirkt der Wald als das Konkretere den Bäumen gegenüber, die sich nur mit Mühe aus dem verfilzten Grün abstrahieren lassen. Und der Wachstums- prozeß erfolgt mit so rasender Schnelligkeit, so üppig, so über- reich und schrankenlos, die Formen hängen so innig zusammen, gehen so unmerklich ineinander über, daß die äußere Anschauung keinerlei Anlaß gibt, eine Theorie des Seins zu konstruieren: alles ist vielmehr nachweislich im Werden und jenseits des Werdens gibt es nichts. Die Anschauung jedes Augenblicks demonstriert die Wahrheit von Buddhas Erscheinungslehre. Buddhas Phänomenologie ist die exakteste Theorie der Vegeta- tion, die jemals aufgestellt worden wäre. So weit das Leben der Pflanze für alles Leben typisch ist, so weit hat Buddha auch für Menschen wahrgesprochen, und das ist viel. Alle äußersten Probleme sind in der Pflanze genau so vollständig aufgegeben und gelöst, wie im höchsten Menschendasein: die Probleme der Freiheit, der Un- sterblichkeit, des letzten Wesensgrundes. Immerhin hat es sein Miß- liches, den Menschen von der Pflanze her zu bestimmen: seinem Wesen tritt man damit nicht zu nahe, aber man wird seiner Sonder- erscheinung nicht gerecht. Indem man auf die Ähnlichkeit mit der Pflanze den Hauptnachdruck legt, beachtet man nicht, worin er sich von ihr unterscheidet. Wenn ich Buddhas Lehren studierte, habe ich mich des öfteren gefragt: wollte er die Menschen zu Pflanzen machen? Getan hat er es unzweifelhaft. Seine Lehre ist so sehr auf das Gemeinsame aller Lebensformen zugeschnitten, daß die Wesen, die sie befolgten, sich notwendig diesem Gemeinsamen zu entwickeln mußten. Die Passivität des buddhistischen Menschen hat keinen anderen Sinn, als daß er pflanzenartig ist. Seitdem ich in den Tropen weile, verwundert es mich nicht mehr, daß Buddha die Phänomenologie des Pflanzenlebens seiner Heilslehre zugrunde gelegt hat: das Leben hier ist Vegetation; Körper sowohl als Geist vegetieren. Und dieses Vegetieren er- Keyserling, Reisetagebuch. 3 34 Buddha und Ernst Mach. schöpft alle körperliche Daseinsmöglichkeit so vollständig, daß sich die Frage nach einer vielleicht höheren Bestimmung des Menschen nicht stellt. Nun ist mein Organismus von den Einflüssen der Tropenweit so weit verwandelt, daß ich in buddhistischer Bewußtseins- lage verharren kann. Dieses Erlebnis ist mir überaus lehr- reich. Dem Buddhismus als Theorie gerecht zu werden, hält nicht schwer: er ist eines Geistes mit allen empiristischen Systemen des Westens. Die Psychologien Taines, Ernst Machs, William James, die Weltanschauungen Auguste Comtes, Herbert Spencers, Wilhelm Ostwalds, sogar Bergsons haben alle, eine jede von einer besonderen Seite her, eine bestimmte Wegstrecke entlang und bis zu einem be- stimmten Grade der Konsequenz, mit Buddhas Lehren das Wesent- liche gemein. Das macht, daß alle empiristischen Denker das Ge- schehen in seinem aktuellen Ablauf ins Auge fassen ; mit dieser Fragestellung ist das mögliche Ergebnis eindeutig vorgezeichnet; stimmen nicht alle empiristischen Denker in allem überein, so ist das lediglich auf Begabungsunterschiede zurückzuführen. Spencer und Ostwald und Mach hätten gleiches wie Bergson gelehrt, wenn sie gleich scharfsinnig gewesen wären, denn ihre Absicht war ursprünglich die gleiche. Buddhas Philosophie hat nun, von allen westlichen Denkern, mit derjenigen Ernst Machs die größte Ähnlich- keit; sie hat die gleichen Grundvorzüge und die gleichen Grund- gebrechen. Jene wurzeln in der Exaktheit der Beobachtungen, diese darin, daß die Beobachtung nicht tief genug eindringt. Wohl ist es möglich, im Aktuellen alles Wirkliche und Mögliche verdichtet zu sehen ; das ist 600 Jahre nach Buddha Acvagosha gelungen, dem Begründer der Mahäyäna-Lehre, und in unseren Tagen wiederum Bergson ; diese Leistung der philosophischen Erkenntnis ist vom menschlichen Standpunkte vielleicht die wertvollste, da das Bild, das dieser Standpunkt gewährt, den eigentümlichen Charakter der Welt am vollständigsten und unverzerrtesten wiedergibt. Aber Buddha hat die Aktualität so tief zu erfassen nicht vermocht. Er hat Sein und Werden im Werden nicht zusammengeschaut, sondern ausschließlich das Werden bemerkt. Daß sich nun ein abstrakter Gelehrtengeist mit einer Welt- anschauung wie der buddhistischen zufrieden gibt, ist wohl verstand- Physiologische Grandlagen des Buddhismus. 35 lieh. Ein Mann wie Mach hat kein metaphysisches Bedürfnis, in ihm lebt kein religiöses Gefühl, also bescheidet er sich gern bei seinem phänomenologischen Relativismus. Wo hingegen ein Mann, der als Erkenner zu buddhoiden Ergebnissen gelangt ist, überdies in leben- diger Beziehung zum Universalen steht, dort neigt er in der Regel zum Absolutismus. Er glaubt ein Absolutes in irgendeiner Form. So war es bei allen indischen Weisen, deren phänomenologische An- schauungen mit denen Buddhas in allem wesentlichen überein- stimmten ; so war es im Westen bei Auguste Comte, der sogar eine extrem emotionelle Religion gestiftet hat, bei William James, der an einen persönlichen Gott glaubte, bei Herbert Spencer, dessen „Unerforschliches" mehr und mehr, je älter er wurde, zur Substanz sich verdichtete. Buddha hingegen hat eine Religion begründet, die nichts anderes als phänomenologischer Relativismus ist. Er hat getan, was Ernst Mach sich geleistet hätte, wenn er die Ergebnisse seiner Empfindungsanalyse als Evangelium verkündet hätte. Das ist es, was dem westlichen Betrachter so paradox erscheint, was die brahmanischen Weisen auf den Buddhismus verächtlich herabsehen läßt ; das ist es, was auch mich bisher befremdet hatte. Nun aber beginne ich zu verstehen. Unter den physiologischen Voraus- setzungen, die für den Menschen in den Tropen gelten, bedeutet der Buddhismus wirklich ein Evangelium, oder kann es wenigstens bedeuten. Ich brauche bloß mein eigenes Bewußtsein zu analysieren, wie es im Laufe dieser Tage geworden ist. Mein Betätigungsbedürfnis ist merklich abgeflaut ; in mir lebt gar keine Initiative mehr ; anstatt zu handeln, lasse ich mit mir geschehen. Damit ist mir die Distanz zu mir normaliter gegeben, die der noch so Kontemplative im Norden zu sich selbst nur ausnahmsweise hat; zugleich jene innere Stille, welche Grundvorbedingung klarer Selbsterkenntnis ist. Wie ichs schon in Colombo niederschrieb : in den Tropen gehört nicht viel dazu, um das psychische Geschehen objektiv zu erfassen. Nun aber kommt ein weiteres: dieses vegetationsartige Geschehen — die organischen Prozesse wirken vegetationsartig, wo sie ohne Ichbestimmtheit vor sich gehen — ist ungeheuer intensiv, viel intensiver als in nördlichen Breiten ; als Seele wie als Leib empfinde ich mich als andauernd wuchernd, treibend, wachsend, knospend, blühend, als andauernd werdend und vergehend ; ich habe das Gefühl, als würde ich rastlos fortgetrieben durch nicht enden- 3* 36 Kein Jenseits des Werdens; das Nirwana. wollende Geburten und Tode hindurch. Dies bedingt zweierlei: erstens, daß ich mir des wahren Charakters des Geschehens — einer endlosen Kette von Geburten — mit unerhörter Deutlichkeit bewußt bin ; zweitens aber, daß es mir unmöglich ist über das Sams ira hinauszublicken. Ich kann nicht finden, daß es jenseits oder außer- halb des Unbeständigen irgendein Beharrliches gibt ; alles Daseins- bewußtsein geht in der wechselnden Gestaltung auf. Einerseits fühle ich mich mit ihr nicht identisch, andrerseits ist das Bewußtsein des Nicht-Ich-Prozesses so intensiv, daß für ein selbständiges Ichbewußt- sein kein Raum übrig bleibt. Lausche ich nun von dieser Er- lebnis-Basis aus der Lehre Buddhas, nach der es nichts geben soll, als einen anfangs- und endlosen Prozeß, in welchem endlose Kau- salitätsreihen interferieren, nach der alle scheinbar feste Gestal- tungen nur vorübergehende Schnittpunkte des Werdens bezeichnen, nach der es kein Ich gibt jenseits dieses Werdens, keine selbst- gegründete Seele, keine Persönlichkeit, so erkenne ich in ihr, in wunderbar klarer Begriffsfassung, mein eigenstes Erleben wieder. Nun kann mich diese Lehre nicht shockieren: wo kein Ichgefühl lebt, dort verlangt man nicht nach seiner Fortdauer ; wo kein Unsterblichkeitsbewußtsein dem Erleben ursprünglich zugrunde liegt, dort sehnt man sich auch nicht nach Unsterblichkeit. Die Lehre vom Nicht-Ich bedeutet unter der Voraussetzung der physiologischen Basis, auf der das Bewußtsein in den Tropen ruht, eben das, wie die Lehre vom Ich und dessen Fortdauer unter europäischen Voraus- setzungen. So verstehe ich jetzt gut, wie die Zuhörer Buddhas eine Lehre freudig begrüßen konnten, deren Anerkennung durch den Ver- stand unter Westländern Verzweiflung zur Folge gehabt hätte: der Mensch ist immer freudig bewegt, wo ein anderer ihm sein eigenstes Erleben deutlich macht. Mit dieser Erkenntnis fallen denn alle Schwierigkeiten des bud- dhistischen Nirwana-Gedankens fort. Der tropische Mensch fühlt sich im Nicht-Ich befangen, einer übermächtigen Natur, die sein Be- wußtsein allseits erfüllt. Solange er in diesem Prozesse aufzugehen vermag, solange fragt er nicht weiter, nicht mehr als irgendein lebensfroher Jüngling des Westens auch im Mittelalter je nach dem Himmel gefragt hat. Kommt aber der Tag, der selten ausbleibt, an dem er seines Zustandes müde wird, wo die Ahnung eines Höheren in ihm erwacht, so kann sich der Tropenbewohner dieses Höhere nur auf die Weise vorstellen, daß er den Fesseln des Das Nirwana; Befreiung und ewiges Leben. 37 Naturgeschehens entrissen wird. In dieses Hinein, im Sinne eines Lebens im Himmel, kann er sein Ideal nicht verlegen, da jedes vorstellbare Leben dem Wesen nach identisch sein würde mit dem, dessen er müde ist ; sein Ideal ist mit Notwendigkeit eines der Auflösung. Was versteht er nun eigentlich unter Nirwana? Wie sollte er das begrifflich bestimmen? Bewußtsein eines Ich im Gegensatz zur verfließenden Natur besitzt er nicht ; also kann er nicht behaupten, daß er sich nach einem höheren positiven Zustande sehnte. Ebensowenig aber kann er behaupten, daß er im Nichts zu zergehen wünscht, denn damit, daß er dem Naturprozesse entrinnen will, bekennt er ja schon, daß er sich in diesem nicht völlig aufgehen spürt. Er hat ein sehr bestimmtes Ge- fühl der Sehnsucht aus dem Getriebe des Werdens und Vergehens hinaus, ein bestimmtes Gefühl der Sehnsucht, das mit einer unbe- stimmten Erwartung eines positiv Besseren verquickt ist. Dieses Gefühl lebt auf Ceylon auch in mir. Und suche ich es zu fassen, so finde ich, daß mir dies nicht besser gelingt als den bud- dhistischen Weisen. Es hatte seinen guten philosophischen Grund, daß Buddha über das Nirwana nichts Bestimmtes gelehrt, ja, jeden Versuch einer Bestimmung als Ketzerei verurteilt hat. Nur soviel vermöchte ich zu sagen. Die Sehnsucht nach Nirwana bedeutet Sehnsucht nach Erlösung aus den Banden der Natur, die allgemein- menschliche Sehnsucht nach Befreiung, die allen eschatologischen Vorstellungen als Letztes zugrunde liegt. Diese Befreiung wird der, dem ein starkes Ichbewußtsein eignet, mit positiven Vorstellungen verknüpfen : er wird sich ein ewiges Leben ausmalen, oder, wo er besonnener ist, wie die Brahmanen, einen Zustand jenseits aller Individualisierung, in welchem er, nach Abstreifung seiner Person, desto mehr Er selbst würde. Wie aber mit dem, welchem Ichbewußt- sein fehlt? In ihm führt das gleiche Befreiungsstreben zu wesentlich anderen Gestaltungen. Was er ersehnt, ist das Freiwerden von der Natur schlechthin ; er kennt keine Sehnsucht darüber hinaus. Wo das Naturbewußtsein übermächtig ist, und das des Ich kaum exi- stiert, kann sich das Selbstgefühl nicht positiv zur Geltung bringen. Die Sehnsucht aus der Erscheinung hinaus ist das metaphysische Erlebnis des Buddhisten ; es ist sein äußerstes Erlebnis — weiter fragt er nicht. Und fragt ein anderer ihn weiter, so beweist er da- mit, daß er ihn mißversteht. 38 Hohes Niveau des buddhistischen Priesters. Dieses ist nun der dritte Tag, den ich beinahe ausschließlich in der Atmosphäre der buddhistischen Kirche zugebracht habe. Ich habe vielen Gottesdiensten beigewohnt, mit Priestern und Mönchen viel geplaudert und so manche Stunde hindurch in der kühlen, traulichen Dombibliothek droben im Kuppelbau mit der schönen Aussicht über den See in den Päli-Texten studiert, während aus den Hallen unter mir die Litaneien oder die schrillen, von Trommelwirbeln begleiteten Koloraturen der Klarinette, welche die Frommen zur Andacht ruft, gedämpft herauftönten. Wieder einmal erfahre ichs : die Kenntnis des geistigen Gehaltes einer Lehre macht einen noch lange nicht zum Kenner derselben ; ihre Konkretisierung birgt immer Überraschungen. Gleichviel ob eine Kirche die „reine" Lehre vertritt oder nicht — sie ist ein lebendiger Ausdruck ihres Geistes. Selbst wo die Kirche die Lehre nachweislich verbildet hat, tritt dieser in ihr doch deutlicher zutage als in noch so unver- stümmelten Schrifttexten, wie denn der Krüppel das Leben immer noch besser zum Ausdruck bringt, als die beste Lebenstheorie. Ich muß nun sagen, daß der buddhistische Priester mich durch die Höhe seines Niveaus überrascht. Nicht seines geistigen Niveaus, sondern seines menschlichen. Sein Typus ist dem des christlichen überlegen. Ihm eignet eine Sanftmut, ein Allverständnis, ein Wohl- wollen, ein Über-den-Dingen-stehen, von dem der noch so Vorein- genommene nicht behaupten wird, daß es für den christlichen Geist- lichen charakteristisch sei. Ohne Zweifel liegt das an der vollendeten Uninteressiertheit, die der Buddhismus in seinen Gläubigen groß- zieht. In der Idee mag es wohl schöner erscheinen, für andere als sich selbst zu leben : so wie die Menschen einmal sind, macht aktive Nächstenliebe nicht weit, sondern eng ; nur in Ausnahmefällen artet sie nicht in Zudringlichkeit und Herrschsucht aus. Wie taktlos sind alle Menschenverbesserer ! Wie beschränkt alle Missionäre ! Mag ein Mann von Hause aus noch so weitherzig sein, mag der Glaube den er bekennt, der universellste der Welt sein — das bloße Be- kehrenwollen macht eng, denn psychologisch bedeutet es immer nur Eines : das Aufdrängen der eigenen Ansicht einem anderen. Wer das tut ist ipso facto beschränkt, und wer das dauernd tut, ja pro- fessionell betreibt, wird von Tag zu Tag beschränkter. Deswegen gehören Engherzigkeit, Agressivität, Herrschsucht, Taktmangel und Unverständnis zu den typischen Zügen des christlichen, zumal des protestantischen Priesters. Eine Religion nun, welche gleich dem Uninteressiertheit wertvoller als Wohltätigkeit. 39 Buddhismus, die Sorge um das eigene Heil als einziges Motiv des Daseins hinstellt, kann solche Erscheinungen nicht zeitigen. Wohl scheint es, als müßte es statt dessen den krassesten Egoismus groß- ziehen ; aber dies geschieht innerhalb des Buddhismus aus zwei Gründen nicht: erstens, weil das eigene Heil dem Buddhismus nicht ewige Seligkeit des Individuums, sondern Loskommen von den Schranken der Individualität ist ; wonach selbstische Wünsche ein Mißverständnis bedeuten. Dann aber, weil Wohlwollen und Mit- leiden den Buddhisten als die Tugenden gelten, deren Ausübung das Freiwerden vom Selbst am meisten begünstigt und beschleunigt. Dem Zusammenwirken der Ideale der Uninteressiertheit und der Nächstenliebe ist denn die Stimmung entsprossen, die dem Bud- dhismus wohl vor allem anderen seine Überlegenheit gibt : die spezi- fisch buddhistische Carität. Carität im christlichen Verstände be- deutet Gutes-Tun-Wollen ; im buddhistischen: jeden auf seiner Stufe gelten lassen. Und dieses nicht im Sinne des Gleichgültigseins gegenüber dem Zustand, in dem ein anderer sich befindet, sondern des warmen Verständnisses für das Positive j edes Zustandes. Nach all- gemein-indischer Anschauung steht jeder Einzelne genau auf der Stufe, auf die er hingehört, auf die er durch sein eigenes Verdienst hinauf- oder hinabgestiegen ist; also ist jedes Stadium innerlich berechtigt. Wohl wäre es wünschenswert, daß jeder Einzelne zum Höchsten hinaufgelangte, allein zum Höchsten hinauf führt kein Sprung, son- dern nur langsam-stufenweiser Aufstieg, und jede Stufe hat ihre besondere Idealität. Während also das Christentum, solange es asketisch gesinnt war, das Leben in der Welt dem mönchischen gegenüber gering schätzte und am liebsten die ganze Menschheit auf einmal ins Kloster gesteckt hätte, liegt es dem Buddhismus, dessen Gesinnung prinzipiell noch weltfeindlicher ist, als die urchrist- liche, dem der Zustand des Mönches ausdrücklich als der höchste gilt, dennoch fern, um des Höheren willen das Niedere zu ver- urteilen. Jeder Zustand ist notwendig und insofern gut. Die Blüte widerlegt nicht das Blatt, und dieses nicht den Stengel und die Wurzel. Den Menschen wohlwollen heißt nicht alle Blätter gewalt- sam zu Blüten umwandeln wollen, sondern sie als Blätter gelten zu lassen und liebend zu verstehen. Diese wunderbar überlegene Cari- tät spricht aus allen, sonst noch so unbedeutenden buddhistischen Priestergesichtern. Nun wundere ich mich nicht mehr über die bei- spiellose Verehrung, die der buddhistische Geistliche beim Volk 40 Die buddhistische Carität. genießt. Es scheint ja auf den ersten Blick paradox, daß der Un- interessierte mehr Verehrung genießen sollte als der, welcher sich tätig um das Wohl seiner Mitmenschen bemüht. Tatsächlich ist dem überall so : der Mensch will nicht bevormundet werden ; wer über- zeugen will, überzeugt weit schwerer, als wer ohne Absicht und Hmtergedanken für seine Person das ihm Rechterscheinende tut. Das absichtslose, selbstlose, reine Leben, das der Bhikshu führt, ist unter buddhistischen Voraussetzungen das höchste, das ein Mensch auf Erden führen kann. So dient, wer den Mönchen dient, seinem Ideal. Die Atmosphäre dieser Kirche tut mir wunderbar wohl. Noch nie habe ich inmitten solchen Friedens geweilt. Und doch ist mir heute klarer denn je, daß der Buddhismus für den Europäer keine mögliche Religion bedeutet. Um so zu wirken, so formend, so positiv, wie er es unter den Singhalesen getan hat, muß das Seelen- material entsprechend sein — anders, sehr anders, als wir es liefern können. Bei uns, die wir das Phänomen durchaus bejahen, die wir nicht rasten können, deren ganze Energie kinetisch ist, würde das Leben für das eigene Heil sofort zu krassem Egoismus, das allge- meine Mitleid und Wohlwollen sofort zu plattem Tierschutzwesen ausarten und das Streben nach Nirwrma alle die Übelstände zeitigen, welche Unwahrhaftigkeit gegen sich selbst unabwendbar nach sich zieht. Kein Zweifel, nur Tropenbewohnern ist der südliche Buddhis- mus gemäß ; das darf nie aus den Augen verloren werden. Aber ist dieses einmal vorausgesetzt und zugestanden, ist man sich einmal darüber klar, daß zum Buddhismus eine sanfte, indolente Naturbasis gehört, dann muß man die Gestaltungskraft, die er bewiesen hat, bewundern. Es ist kaum glaublich, bis zu welchem Grade er gerade die Masse veredelt hat. Noch bin ich in Indien nicht gewesen, aber wenn nicht alle Berichte trügen, so hat der Brahmanismus nie auch nur annähernd so günstig auf die unteren Volksschichten eingewirkt; er hat sie ja auch nie für voll ge- nommen. Buddhas sozialpolitische Großtat war, daß er die schroffe Grenzscheide zwischen esoterischer und exoterischer Weisheit nieder- riß, und gleich Christus, ein Evangelium für alle verkündete. Dessen Charakter war, wie schon bemerkt^sehr bestimmten Verhältnissen \A LIBRARY so Gestaltungskraft des Buddhismus. 41 angepaßt ; wie denn auch alle Überlieferungen darin übereinstimmen, das Buddha in der Hinäyäna-Lehre (welche die südliche Kirche be- kennt) nicht sein ganzes Wissen, sondern nur den Teil desselben, der einer unentwickelten Menschheit frommen könnte, geoffenbart hat ; diese Lehre ist wirklich ein wenig simplistisch, kultivierteren Geistern wenig mundgerecht. Aber wie weise trägt sie der Volks- seele Rechnung! In dieser Hinsicht schlägt sie Brahmanismus so- wohl als Christentum. Der Brahmanismus hatte wohl eine be- sondere Lehre ad usum populi entwickelt, aber in dieser fehlten ge- rade ihr Bestes und ihr Tiefstes ; die Brahmanen hatten sich hoch- mütig dabei beruhigt, daß die Plebs jene doch nicht würde würdigen können. Die Botschaft Christi wendet sich wohl an alle, aber sie wendet sich an sie in Bausch und Bogen vom Standpunkte eines absoluten Ideales her, ohne Berücksichtigung der Empirie. Und so sehr hier der mittelalterliche Katholizismus nachgeholfen hat — abstellen können hat er das ursprüngliche Gebrechen nicht. Er hat, gleich dem Brahmanismus, zwischen höherer und niederer Wahr- heit unterschieden, und wie dort, ist auch hier die Masse dabei zu kurz gekommen. Im Protestantismus aber, dem letzten Versuch, der gemacht ward, den reinen Geist der Heilslehre praktisch wirksam zu machen, hat das Christentum teils seine Gestaltungskraft eingebüßt (Luthertum), teils ist es zum alttestamentlichen Religionstypus zurückgeschlagen (Calvinismus). Es ist nicht wahr, daß der Geist Jesu Christi die Massen der Völker, die sich zu ihm bekannten, je innerlich erfaßt hätte : er hat überall von außen nach innen gewirkt, und in den meisten Fällen ist es bis zuletzt bei einer äußerlichen Gestaltung geblieben. Wie schroff ist der Gegensatz zwischen dem Bekenntnisse des durchschnittlichen Christen und der Art, wie er sich im Leben bewährt! Diesen Gegensatz gewahrt man bei den buddhistischen Massen nicht. Buddha hat seine Lehre so meister- haft formuliert, daß sie von den Seelen ihrer Bekenner wirklich innerlich Besitz ergriffen hat. Auf dem Wege einfacher, jedermann faßlicher Sätze und Vorschriften hat er tiefste Weisheit in das Ge- müt des kleinen Mannes hineingesenkt; so tief, daß weder Aber- glaube noch praktische Abirrungen die wesentlich buddhistische Ge- sinnung je haben verdrängen können. Bis zu einem gewissen, er- staunlich hohen Grade sind die buddhistischen Tugenden die Tugen- den der meisten Buddhisten. Woher dieser Vorzug der Lehre Gautamas? Woher dessen 42 Vorzag edler Geburt; Buddha und Christus. Fähigkeit, seine tiefe Erkenntnis in so einzig wirkungskräftige Form zu fassen? — Das Genie läßt sich nicht weiter ableiten. Allein mir scheint doch, daß ein allgemeines Moment hierbei von großer Be- deutung war: daß Buddha einem Herrscherhause entstammte. Begabung, Geist, Verstand, metaphysischer Tiefsinn, religiöses Intuitionsvermögen sind von edler Geburt weder abhängig noch kommt diese ihnen irgendwie zu statten. Im Gegenteil: der Hoch- geborene ist selten einseitig genug, um ein spezielles Talent bis zum Äußersten auszubilden. Aber an Weitblick, an herrscherischer Über- legenheit ist der Aristokrat dem Plebejer immer voraus. Nur er steht von Hause aus über den Parteien, nur er ist ohne Ressenti- ment, nur er hat zu den Schwächen der Menschen ein rein objek- tives Verhältnis, schon allein weil er kraft seiner Stellung selten sub- jektiv unter ihnen zu leiden hat. So übertrifft er, wo es die Mensch- heit zu übersehen und ihren Bedürfnissen im großen gerecht zu werden gilt, selbst den höherbegabten Mann aus dem Volk. Buddhas ganze Lehre nun trägt unverkennbar den Stempel solch fürstlicher Geistesart; er war ein typischer Kschattrya. An philosophischem Tiefsinn stand er hinter den Brahmanen zurück, hielt überhaupt nicht eben viel von Philosophie, gleich den meisten Politikern und Militärs. Aber wie keiner vor ihm im Inderlande verstand und kannte er die Menschen, wußte er ihren Bedürfnissen und Schwächen Rechnung zu tragen, und seine Gebote in solcher Form zu erlassen, daß sie nicht allein zu einem religiösen, sondern auch zu einem politisch-sozialen Optimum führten. Hier, an diesem Punkte, erweist sich der Buddhismus dem Christentum entscheidend überlegen. Buddha, der Fürstensohn, der über den Parteien Stehende, hat eine Lehre in die Welt gesetzt, die nichts Bestehendes besonders verneint (sie verneint alles Vergängliche in Bausch und Bogen), daher keiner- lei Intoleranz hervorrufen und gleichmäßig alle dem positiv Besseren zuführen konnte. Das Christentum war ursprünglich eine Proletarier- religion und stand von vornherein im Gegensatz zu den bevorzugten Klassen. Parteilichkeit für die gescheiterten Existenzen, Ressenti- ment den Glücklichen gegenüber gehört zur Seele, wenn nicht zum Geiste dieser Religion, und so trägt sie, wohin sie sich auch wendet^ den Samen des Zwiespaltes mit sich fort. Es ist von der größten Be- deutsamkeit, daß die Religion des Friedens par excellence am meisten Unfrieden gestiftet hat: der noch so hohe Geist ihres Be- gründers war kein weltlich überlegener Geist. Unwesentlichkeit der Glaubensvorstellungen. 43 Wie lieblich ist der buddhistische Gottesdienst! — Wenn die Sonne untergegangen ist, rufen die Glöckner die Ge- meinde zur Andacht. Da strömen denn die sanften braunen Menschen mit dem langen blauglänzenden Haar und den wunderschönen Händen, Männer und Weiber voneinander kaum zu unterscheiden, im Daläda Maligäwa zusammen. Wer immer kann, der stiftet eine Kerze und alle bringen duftende Blumen dar. Vor dem Sanktuarium, in dem der Zahn des Buddha ruht, mit seinen goldglänzenden Türen, seinen kostbaren Bildwerken, steht, im gelben Gewand, der freundliche Priester und nimmt mit ermunterndem Lächeln die Gaben der Gemeinde entgegen. — Selbst in Ceylon, wo noch heute die Urlehre in ihrer Reinheit herrscht, wird Buddha vom Volk als Gott verehrt; und um ihn scharen sich viele andere mythische Gestalten — Engel, Heilige, Hindugötter, Divinitäten aus dem tamylischen Ur- pantheon. Aber wunderbar: all' diese Auswüchse und Wucherungen haben dem Sinn der Buddhalehre nichts anhaben und ihre form- gebende Kraft nicht beeinträchtigen können. Es sind auch von der Kirche, daß ich wüßte, nie Schritte gegen die Mythenbildung er- griffen worden. Hier hat eben die Erscheinungswelt fast nichts zu bedeuten ; die Mäyalehre ist diesen Menschen eingeboren. Die Vorstellungen werden nie ganz ernst genommen, es kümmert sich auch keiner um Zusammenhang oder Widerspruch. Alle wissen es : die Vorstellungen gehören zum vegetativen Leben des Geistes, das wie selbstverständlich wächst und sprießt und blüht — das Eigent- liche liegt in anderer Dimension. Buddhas Heilslehre gilt unabhängig von aller Konfession ; wie denn Buddha selbst nie versucht hat seinen Jüngern ihren Götterglauben zu nehmen. Er lehrte sie nur, daß auch die Götter, gleich allen Erscheinungen, unwesenhaft und vergänglich sind. Wie viel leichter wird es dem Tropenbewohner als unsereinem, religiösen Tiefsinn zu beweisen ! Selbstverständlich steht keinerlei Vorstellung mit dem metaphysischen Grunde in notwendigem Zu- sammenhang ; selbstverständlich hat der Buddhismus recht. Aber den Westländer hindert seine physiologische Organisation, diese Wahr- heit ohne weiteres einzusehen. Er ist zu sehr verstrickt in der Er- scheinung, um sie aus gebührender Distanz zu beurteilen. Dies erklärt die ungeheure Wichtigkeit der Dogmen in der Geschichte der Christenheit. Da war es eine Lebensfrage für die Religiosi- 44 Dogmen innerhalb von Buddhismus und Christentum. tat, zu welchen Vorstellungen sich ein Mensch -bekannte. Aus- wüchse und Wucherungen, die an sich geringfügig waren im Ver- gleich zu dem, was um die Buddhalehre herum aufgeschossen ist, ohne diese im mindesten zu gefährden, haben die christliche zeit- weilig ihres eigensten Geistes beraubt. So erschien es wirklich geboten, um die „wahre Lehre" zu kämpfen, den „richtigen Er- löserbegriff" zu finden, das Verhältnis der Gottheit zur Welt in objektiv gültigen Begriffen darzustellen, weil unser Weg eben nur durch die Erscheinung hindurch zum Sinne führt, wemzufolge jede Erscheinung, die nicht unmittelbar den Sinn ausdrückt, den Geist auf Abwege bringt, auf denen er sich verlieren kann. Wie viel besser haben es die Tropenbewohner! Sie brauchen nach keinen adäquaten Ausdrücken zu suchen, ihnen ist jede Form recht oder auch keine, jenachdem. Denn sie sind sich, kraft ihrer bloßen Physiologie, eben dessen wie selbstverständlich bewußt, was sich bei uns nur dem Ausnahmegeiste offenbart. Dank dieser glücklichen Grundanlage nehmen auch solche Tendenzen unter den Singhalesen wohltätige Formen an, die unter Nordländern sich allemal als Elemente der Zerstörung erwiesen haben: ich denke an die Anlage zum Fanatismus. Heute .früh war ich zu einem abgelegenen, unansehnlichen, von Fremden wohl kaum je besuchten Tempel hinausgewandert, den ein echter Eiferer bewohnt ; ein Typus von solch' leidenschaftlichem Tem- perament, wie ich ihn unter diesen sanften Androgynen kaum für möglich gehalten hätte. Anfangs stellte er, mißtrauisch und vor- sichtig, eine Reihe ebenso elementarer Fragen an mich, -wie sie Wotan an Mime oder Gurnemanz an Parsifal gestellt hat, und wie diese, so versagte auch ich zunächst im Antworten: es gibt keinen gewandteren Kunstgriff, einen Gegner der Ignoranz zu überführen, als ihn nach ganz selbstverständlichen Dingen zu fragen, denn im ersten Augenblick wittert der Nichtgewitzigte allemal hinter dem Naheliegenden einen fernliegenden Sinn ; welche Methode in meinem Fall besonders gut gelang, da ich über dem Bestreben, in die Denk- art meines Unterredners einzudringen, auf die Rolle des Widerpartes ganz vergaß. Aber nachdem ich zuletzt doch beweisen konnte, daß ich im Buddhismus nicht unbewandert war, eröffnete er mir sein Herz. Ja, er war ein Eiferer, einer dem es leidenschaftlich ernst war um die Wahrheit, welchen Ingrimm über die-Verbilder der reinen Lehre erfüllte. — Ob er gegen sie zu Felde ziehen wollte? — Nein, Ein buddhistischer Eiferer ; die Bhikshus. 45 wozu? Was wäre damit erreicht, daß die gleichen Menschen zu neuen Vorstellungen sich bekennten? — Ob er nicht auf die Seelen unmittelbar einzuwirken gedächte? — Ja, das täte er schon gern. Aber ob viel damit zu gewinnen sei? Man muß vorbereitet sein, auf daß die Belehrung wirke, und gerade das seien seine schlimmen Zeitgenossen nicht. Ihre Seelen seien offenbar zu jung. Seiner Über- zeugung nach wäre der einzige Weg, den Irrtum aus der Welt zu vertreiben, der, daß jeder wissende Einzelne mit äußerster Energie seiner persönlichen Vervollkommnung lebe. Damit werde ein Bei- spiel gegeben, das mehr vollbrächte als alle Bekehrungssucht. — Dieser Fanatiker betätigte seine Gesinnung doch nur dahin, daß er mit größerer Intensität, als die anderen, an seiner Vervollkommnung arbeitete, und mit ein wenig weniger Wohlwollen seine Mitmenschen gewähren ließ. Sie war überaus belehrend für mich, diese Disputa mit dem halbnackten Mann im gelben Büßergewand. Wir redeten im Hofe des Tempels im Schatten des Bodhibaums. Einige ernste, weiß- gekleidete Büßerinnen hörten andächtig zu, während ein Schwärm brauner Kinder mit glänzenden Augen und buntfarbigen Lenden- tüchern uns neugierig lärmend von allen Seiten umdrängte. Schon bin ich die Gegenwart der guten Mönche so gewohnt, daß ich sie ungern missen würde. Es hat etwas überaus Be- ruhigendes, sie stets zu den gleichen Stunden das gleiche verrichten zu sehen: jetzt gehen sie mit ihren Bettelschalen zur Stadt, um von beflissenen Spendern ihre tägliche Mahlzeit abzu- holen, dann wieder baden, meditieren sie, geben sie Unterricht in der Schrift und Religion — ein jedes zu seiner Zeit. Schon beginne auch ich, gleich den Singhalesen, sie als einen Teil meiner selbst zu empfinden. Diesen bedeuten sie ihre fleischgewordene Idealität, das lebendige Sinnbild dessen, wie alle eigentlich sein sollten. An nichts hängt der Mensch wohl stärker als an solchen Sinnbildern, sogar dort, wo sie ihm, nach Goethes Wort, ein „ständiger Vorwurf " sind. Dem Singhalesen nun sind die Bhikshus Sinn- und Vorbilder, ohne ihm auch nur irgendwie Vorwürfe zu sein : die Lebenslehre Buddhas in ihrer Weisheit hat allem Ressentiment von vornherein vorgebeugt. Wenn der Mönch auch das beste Leben lebt, so widerlegt seine 46 Die buddhistische Freudigkeit; Buddhismus und Luthertum. Wahrheit doch keine andere; ein jeder hat auf seiner Stufe recht. Wie gern dient man einem Ideal, das so verständnisvoll, so groß- mütig ist ! Zumal so wenig dazu gehört, es zu erreichen ! — Man pflegt den Buddhismus eine pessimistische Weltanschauung zu heißen, und das ist sie auch dem strikten Buchstaben nach. Da ferner der Buchstabe, wo er stetig wiederkehrt, auf den Geist dessen, welcher ihn niederschrieb, unzweifelhaft Rückschlüsse gestattet, so ist auch die Möglichkeit nicht abzuweisen, daß Buddha selbst, zeitweilig wenigstens, als Pessimist in unserem Sinn emp- funden hat. Wozu hätte er sonst ständig vom Leiden gesprochen, das Leiden gar zum Angelpunkt seiner Heilslehre gemacht? — Aber dem heutigen Buddhismus fehlt jeder pessimistische Unterton ; er verklärt das Leben im Gegenteil mit einem milden Glänze stiller Freude. Zunächst bedeutet das Nirwana dem Tropenbewohner das gleiche, wie dem Westländer die ewige Seligkeit; beinahe alles, was uns Anlaß gibt, den Buddhismus als pessimistisches System zu beurteilen, charakterisiert ihn im Bewußtsein seiner Bekenner als frohe ßotschaft. Aber das ist nicht alles. Was den Buddhisten von Ceylon ein so stillfreudiges Dasein sichert, ist vor allem die Gewiß- heit dessen, daß das Heil nicht schwer zu erringen ist. Wie einfach sind die zu befolgenden Vorschriften ! Wie wenig strapazenreich ist das Dasein sogar derer, die sich als Mönche endgültig auf den Pfad der Erlösung begeben haben ! Da wird keine Austerität verlangt, keine Anspannung, die nicht jeder sich zumuten dürfte. So schauen die Herren im gelben Gewand nicht allein freudig, sondern meistens gemütlich drein. Mir scheint: die Lehre Buddhas hat eben das dem tropischen Menschen gewonnen, was das Luthertum dem Nordländer erobert hat: die Möglichkeit eines gottseligen Daseins in der Welt Buddha sowohl als Luther haben die Autorität der Kirche verleugnet und den Menschen für mündig erklärt; beide haben einen Glauben gelehrt, in dem alle Unterschiede zwischen den Menschen aufge- hoben wurden, nach dem der Inspirierte Gott nicht näher steht als der Einfältige ; beide haben dem Leben des Alltags den Heiligenschein verliehen. Zwar hat Buddha die Mönchsorden nicht abgeschafft, sondern im Gegenteil zu unerhörter Bedeutung emporgehoben, aber in Indien bedeutet Mönchtum nicht das gleiche, wie bei uns, keine abnorme, außerordentliche Gestaltung: in ihm erscheint nur der Zustand organisiert, in dem jeder normalerweise lebt, nachdem er sich von den Geschäften zurückgezogen hat. Weilte ich lange Nachteil billiger Ideale; buddhistische und christliche Liebe. 47 genug auf Ceylon, auch mich erfaßte wohl einmal der Wunsch, die gelbe Toga anzulegen. Ja, diese Mönche sind liebe Leute. Reflektiere ich freilich über ihre Eigenart, dann kann ich nicht umhin zu erkennen, daß in ihnen die aurea mediocritas idealisiert erscheint ; nichts an ihnen ist be- wundernswert. Im buddhistischen Mönchtum treten, deutlicher viel- leicht als irgendwo sonst, die Nachteile eines allzubilligen Idealismus zutage. Die Idealisierung der Mittelmäßigkeit verklärt diese zunächst tatsächlich : sie wird vertieft ; die lutherische Innigkeit, die buddhi- stische Duldsamkeit bedeuten eminent positive Zustände, die nur dank jener Idealisierung zu erzielen waren. Aber gleichzeitig verlegt sie den Weg zu Höherem ; sie entsteigert, entspannt, wirkt hohem Streben entgegen. Das ist überall so, wo dem ganzen Menschen- geschlecht ein Ideal zur Nacheiferung vorgehalten wird, und dieses Ideal nicht im Reich des Unmöglichen liegt, denn nur auf Un- mögliches hin ist eine Nivellierung denkbar in der Idee, die nicht nach unten zu verliefe. Beim Buddhismus wirken diese Nach- teile nicht so schwerwiegend, wie innerhalb des Luthertums, weil hoher Idealismus in der Tropenluft ohnehin nicht gedeiht; aber vorhanden sind sie. Wahrscheinlich könnten auch unter Sing- halesen bedeutendere Typen entstehen, als dies geschieht, wenn der Bhikshu nicht das äußerste Ideal verkörperte. Überhaupt ist der faktische Unterschied zwischen Buddhismus und Christentum größer, als die theoretische Betrachtung aus den beiderseitigen Geboten und Regeln, die in so vielen wichtigen Punkten übereinstimmen, abzuleiten geneigt wäre. Die entscheidende Nuance scheint mir jener chinesische Staatsmann gut erfaßt zu haben, der die orientalische Ethik von der okzidenta- lischen dahin differenzierte, daß jene lehre: tue keinem, was du nicht willst, daß man dir wiedertäte; diese jedoch: handele andern gegenüber so, wie du wünschest, daß sie sich zu dir verhielten. Jene sei wesentlich zurückhaltend, diese wesentlich angreiferisch. So ist es. Die Menschenliebe des Buddhisten unterscheidet sich von der christ- lichen durch nichts so sehr, als dadurch, daß sie kein amor militans ist. Sie ist für unsere Begriffe matt und kühl, und bei aller Ver- ständnistiefe zu vernünftig, um groß zu wirken. Gewiß, aber wie sollte werktätige Liebe dem ein Ideal dünken, der das Individuum 48 Attachement und Detachement. mit seinen Freuden und Leiden nicht ernst nimmt? Die Unbedeut- samkeit des Individuums ist dem Buddhisten seine selbstverständ- liche Grundvoraussetzung, nicht, wie dem Christen, der undendliche Wert der Menschenseele. Im Buddhismus hat das allgemein-indische Ideal des Detachements seine äußerste historische Verwirklichung erfahren. Jeder echte Weise wird sich für seine Person wohl zum indischen Ideale bekennen, und mit Recht. Wessen Bewußtseins- zentrum schon jenseits des Flusses der Phänomene verankert liegt, der kann seine Ideale unmöglich an der Oberfläche forttreiben lassen. Den wird Unabhängigkeit auch nie kalt und gleichgültig machen, da er auf der Stufenleiter der Wesen schon so hoch hinan- gestiegen ist, daß er am reinen Geben seine höchste Freude findet und zum Wohlwollen des Abhängigseins nicht mehr bedarf. Daß nun ganz Indien sich zum Ideal des Weisen bekennt, rührt daher, daß dessen Weltanschauung eben von Weisen erdacht worden ist. Aber im brahmanischen Indien gilt das Ideal des Detachements doch nur insoweit allgemein, als der Weise allgemein für den höchsten Menschentypus gilt, und dieser detachiert sein soll ; den niedereren wird im Gegenteil gelehrt, daß sie sich binden sollen, da nur dank den Erschütterungen, die das Wechselspiel von Freud und Leid bedingt, ein Fortschreiten für sie zu erhoffen sei. Der Bud- dhismus hat das spezifische Weisen-Ideal zum absoluten, schlechthin allgemein-gültigen Ideal erhoben. Daß er das tat, war die logische Konsequenz seiner Anatman- Theorie : wenn es kein Ich gibt, wenn keinerlei Substanz hinter dem Fluß der Bewußtseinszustände beharrt, dann hat es keinen Sinn, die Erscheinung, nach Art des Brahmanismus, auch nur vorläufig zu be- jahen. Aber hier erweist es sich mit seltener Deutlichkeit, daß ver- fehlte theoretische Grundvoraussetzungen unabwendbar verderb- liche praktische Folgen zeitigen, selbst dann, wenn sie als solche kaum beachtet werden und ihre Wirkungskraft durch Vorstellungen anderen Geistes beträchtlich abgeschwächt erscheint. Der Buddhis- mus hat über alle Unterschiede zwischen den Menschen in einer entscheidenden Hinsicht hinweggesehen: das hat sie nivelliert; dem hat das Caritätsideal nicht steuern können ; die buddhistische Menschheit wirkt, verglichen mit der christlichen, auffallend farb- los, charakterlos. Das Ideal des Detachements setzt eben der Vitalität aller, die nicht geborene Weisen sind, einen Dämpfer auf. Unbedingter Vorzug des Christentums. 49 Der Normalmensch kann sich nur so vollenden, daß er alles Leben- dige in sich durchaus bejaht; er muß tief in dieses Leben hinein- tauchen. Schwingt er sich vorzeitig darüber hinaus, so verkümmert er. Hierher rührt es, daß die Buddhisten von Ceylon wohl liebens- werte, seelisch gebildete, gute, mitunter sogar weise Leute, aber niemals Vollmenschen sind. In diesem Zusammenhang erscheint denn das Christentum dem Buddhismus unbedingt überlegen. Auch dieser Glaube nivelliert. Aber wenn schon ein Ideal für alle gfelten soll, dann ist das christ- liche des Attachements ersprießlicher. Die christliche Liebe ist alles eher als weltüberlegen ; sie wurzelt, betätigt, erfüllt sich in der Welt, bejaht die Erdgebundenheit: so ruft sie alle Lebens- geister wach. Und die christlichen Grundgebote der Hilfsbereit- schaft, der Arbeit zur Ehre Gottes und zum Heil der Welt er- halten dauernd in Spannung. Hierher rührt die einzigartige Effi- kazität des Christenglaubens in bezug auf die Gestaltung dieser Welt. Effikazität beweist nun nicht notwendig metaphysische Wahr- heit, aber in diesem Falle tut sie es : wird das Phänomen überhaupt ernst genommen, dann bezeichnet die Bewußtseinslage des Atta- chierten nicht nur die praktischere, sondern auch die tiefere gegen- über der entgegengesetzten. Wer ernstlich lieben kann ist tiefer als der kühle Skeptiker. Nur das schlechthin Positive hat unbe- dingten Wert. Allerdings ist es möglich, positiv und unabhängig zugleich zu sein, aber solches gilt nie vom Gleichgültigen, denn der ist negativ. Eben das, was auf der höchsten Daseinsstufe als Freiheit zutage tritt, äußert sich auf niederen als Mut zum Abhängig- sein; als Mut zum Schmerz, zum Opfer, zum Verlust. So ist der durchschnittliche Christ, welcher Freud und Leid mutig bejaht, gegen- über dem durchschnittlichen Buddhisten auf dem besseren Wege. So bezeichnet der südliche Buddhismus, um es in einem Satz zu sagen, die ideale Religion der Mittelmäßigkeit. Er enthält kein beschleunigendes Motiv ; er begünstigt keinen hohen Idealis- mus, potenziert nicht, vertieft auch nicht. In der einseitigen Be- lichtung des Buddhismus stellt sich das höchste Dasein nicht wert- voller als das geringste dar. Alles bestimmte Leben ist vom Übel, im Nirwana allein liegt alles Heil, und dem Nirwana näher führt keine Steigerung des Menschenzustandes. Diese Weltanschauung verleiht Keyserling, Reisetagebuch. 4 50 Die christliche Idealisierung der Niedrigkeit. dem großen Mann, wie Buddha selbst einer war, einzigartige Über- legenheit: nichts wirkt grandioser als die Nichtachtung des Lebens seitens eines, der in den Augen aller einen höchsten Wert verkörpert; den kleinen Mann macht sie nicht größer. Aber sie verdirbt ihn auch nicht, wie die Spielart des Christentums es tut, die den niedrigen als solchen selig preist, die ihm einredet, er sei mehr als der Große. Der Buddhismus, von königlichem Geiste beseelt, läßt jeden Zustand gelten, wie er ist; der Fürst bleibt ihm Fürst, der Knecht ein Knecht, vor Göttern wie vor Menschen. Aber die empirischen Differenzen sind ihm ohne transiente Bedeutung. Der Fürst als Fürst ist Gott nicht näher als der Sklave, wie die alten Ägypter meinten, noch umgekehrt dieser, weil er gering ist, nach der Lehre eines bestimmten Christentums ; alle Zustände er- scheinen als gleichwertig, vom Ziele her besehen. So zieht der Bud- dhismus in der Seele des kleinen Mannes ein Detachement, eine Überlegenheit heran, die sonst nur unter Bevorzugten vorkommt. Nicht die Stimmung freudigen Duldens in der Zuversicht auf ewigen Lohn, wie beim leidenden Christen, nicht Epiktets Ataraxie, den Cynismus eines Diogenes — beides Ausdrücke nicht echter Freiheit, sondern des Gedecktseins durch den Panzer der Vernunft — sondern die Überlegenheit des Grandseigneurs. Wieder und wieder bin ich unter mittelmäßigen Buddhisten Eigenschaften begegnet, die ich bisher nur unter Großen für möglich hielt: so gewaltig war das psychologische Genie des Sakyersohns. — Dieser Tage habe ich, des Vergleiches halber, wieder einmal in Thomas a Kempis gelesen, der doch als Leuchte gilt in der ganzen Christenheit; und gestehe, daß ich mich angeekelt fühlte. Wie so ganz unüberlegen ist die Ge- sinnung, die aus der Nachahmung spricht! Es hat etwas wider- wärtig Plebejisches, dieses Kriechen vor Gott, diese würdelose Unterwürfigkeit, diese ständige Angst, es nicht recht zu machen, dieses Sich-Abrackern um der Seligkeit willen. Dabei war Thomas ohne Zweifel ein edler und reiner Geist. Seine Vorstellungen sind ihm verbildet worden durch eine Tradition, die zwischen Gott und Welt die absurde Beziehung statuierte, daß das empirisch Minder- wertige eben deshalb metaphysisch wertvoll sei. Den überlegenen Naturen unter den Christen hat dieser Aberglauben wohl nie viel geschadet, da er nie unmittelbar ihr Leben bestimmte, sondern in kontrapunktischem Verhältnis zu ihm stand ; aber die kleinen hat er noch kleiner gemacht. Er hat jede ursprüngliche Überlegenheit Christi Lehre vom Christentum unverstanden. 51 im Keim erstickt, indem er sie anhielt, nicht über ihrem Zustande zu stehen, und überdies noch eine Art metaphysischer Schadenfreude in ihre Seelen hineingesäet und zum Reifen gebracht, einen geist- lichen Hochmut, einen anmaßenden Glauben an ihr Recht auf Unter- stützung und Behagen, welche heute, wo sie sich von eschatolo- gischen Vorstellungen dissoziiert und mit sozial-ökonomischen ver- mählt haben, häßlicher denn je wirken und mich oft mit ernster Sorge erfüllen ob der Zukunft der westlichen Kultur. Es bedingt doch einen gewaltigen Unterschied, ob spirituelle Wahrheiten von in psychologisch-philosophischem Verstände „Wis- senden" oder „Unwissenden" verkündet und fortgepflanzt werden. Jesus war nicht weniger erleuchtet als der Buddha. Seine Be- wußtseinslage ist an Tiefe von nur wenigen Weisen Indiens über- troffen worden, und seine Lehren bedeuten dem Sinne nach ein Evangelium, welches das Menschengeschlecht niemals verleugnen wird. Aber er war ganz und gar kein Erkenner, hat sich über sein Wissen nie in klaren Begriffen Rechenschaft abgelegt, so daß es kein Wunder ist, daß nur zu viele der Lehren, die auf den Buchstaben seiner Predigt zurückgehen, mehr Mißverstehen als Einsicht ver- körpern. Was ist das für eine Demut, auf die es ankommt? — Nicht Unterwürfigkeit, Würdelosigkeit, sondern reine Rezeptivität gegenüber den Einflüssen aus der Tiefe. Inwiefern soll man den Nächsten mehr lieben, als sich selbst, sein Ich zum Opfer bringen? — Nicht insofern, als anderer Leben wertvoller sei als das eigene, sondern als das Höchste darin bestände, der Sonne gleich nur zu geben, nicht zu nehmen. Inwiefern ist Niedrigkeit der Größe vorzu- ziehen? — Nicht insofern der Niedrige als solcher Gott wohl- gefälliger wäre, sondern weniger Anlaß hat, mit der Aufmerksamkeit an der Erscheinung zu haften. Und so fort. Den wahren, d. h. ob- jektiv richtigen Sinn der christlichen Lehren hat die Christenheit bis heute kaum verstanden. So haben sie, neben sehr vielem Guten, auch viel Unheil über uns gebracht. Sie haben die westliche Mensch- heit niedrig gesinnt gemacht. Der ekle Materialismus unserer Tage ist das Enkelkind des mittelalterlichen Strebens nach dem Himmel- reich, die immer ernstlicher drohende Herrschaft der rohen Plebs über alle feineren und geistigeren Elemente eine unmittelbare Kon- sequenz dessen, daß die Armen im Geist über ein Jahrtausend lang selig gepriesen worden sind. Sie haben es schließlich geglaubt, daß sie die einzig-wertvollen sind, und ziehen nun die praktischen 4* 52 Materialismus und Himmelsstreben; Akklimatationsfähigkeit. Folgen aus ihrem Glauben. — Die religiösen Führer Indiens haben gewußt, was ihre Erleuchtungen bedeuteten; sie haben sich alle Mühe gegeben, Mißdeutungen der Zukunft vorzubeugen, wohl- wissend, wie verderblich solche werden müssen in Anbetracht der wesentlichen Paradoxie (vom Standpunkte der Welt) aller spiri- tuellen Wahrheiten. So kommt es, daß der durchschnittliche Bud- dhist, was immer seine Nachteile sonst seien, eines edleren Geistes Kind erscheint als sein Bruder im Westen. — Es ist Zeit, daß ich mich wieder einmal meinem Körper zu- wende und untersuche, was aus ihm in dea Tropen geworden ist. Ich finde ihn nicht unwesentlich verändert. Mit ihm ist Gleichartiges vorgegangen wie mit meiner Seele : auch er hat sich buddhaisiert. Auf die äußeren Einflüsse reagiere ich anders als sonst, genieße und leide in anderer Form, habe andere Bedürfnisse, und die fortschreitende Metamorphose bringt mich dem Singhalesen näher von Tag zu Tag. Sicher würde ich schon heute im Fall einer Erkrankung andere Heilmittel anzuwenden haben als daheim ; aller Wahrscheinlichkeit würden sich mir ceylonesische Hausmittel bald wohltätiger erweisen als die Rezepte unserer Tropeninstitute. Aber von einer Verrückuhg des Gleichgewichts ist nicht die Rede. Also besteht für mich kein Zweifel mehr, daß die Akklimati- sationsfähigkeit ganz vom Grade des Einbildungsvermögens abhängt. Daß Bewohner heißer Landstriche im Norden besser fortkommen als das Umgekehrte geschieht, daß die meisten Tropentiere ein nor- disches Klima gut vertragen, während es die nordischen in den Tropen selten lange aushalten, liegt — wenn ich von spezifischen Verhältnissen absehe — daran, daß kargere Lebensbedingungen die Vitalität unter allen Umständen anregen, während allzu üppige nur von dem vertragen werden, der von Geburt an auf sie eingestellt ist. Aber das Tier hat auch wenig freie Phantasie. Der Mensch, der solche in genügendem Maße besitzt, sollte in jedem Klima existieren können, und kann es auch. Er muß bloß seine Lebensweise dessen jeweiligen Besonderheiten anpassen, damit das biologische Gleichgewicht nicht aufgehoben wird, und dieses lehrt jeden Ein- bildungskräftigen der Instinkt. Freilich kommt der Phantasielose bei solchem Experimente um. Gleichwie das Tier, dessen Sosein sein einzig möglicher Ausdruck ist, in ungewohnten Verhältnissen schnell Stoicismus und Proteustum. 53 verkümmert, vermag sich kein wandlungsunfähiger Nordländer in den Tropen zu behaupten. Interessant ist nun, in diesem Zu- sammenhange zu beobachten, wie hier der Engländer trotz bei- behaltener britischer Lebensweise — an sich der ungesundesten, die für die Tropen denkbar ist — doch leidlich gedeiht. Das liegt an nichts anderem, und ist zugleich ein neuer Beweis dafür, daß der Brite von allen Europäern die konzentrierteste Einbildungs- kraft besitzt. Es gibt nämlich zwei Arten von Starrheit: eine, die dem Unvermögen entspringt, und eine andere, die äußerste Gespanntheit bedeutet. Die letztere Art ist von den Stoikern her bekannt genug: den Weisen bringt nichts außer Gleich- gewicht, weil er ganz in sich selbst geschlossen ist. Bei dem nun, dessen Körper es in allen Breiten ohne Umwandlung unbeschadet aushält, handelt es sich augenscheinlich um ein gleiches. Dank jahrhundertelanger physischer Kultur ist der britische Organismus so sehr zu einer Welt für sich geworden, daß er durch äußere Um- stände nur langsam, wenn überhaupt, beeinflußt wird. Deswegen ist es für ihn wirklich wichtiger, auf seine persönlichen Neigungen als auf das Klima Rücksicht zu nehmen. — Diese Anlage des Eng- länders ist zum praktischen Leben von allen die günstigste ; schon wegen der außerordentlichen Vereinfachung des Lebensproblems, das sie bedingt. Aber wer der Erkenntnis lebt, mag seinem Schöpfer danken, daß seine Phantasie noch nicht zur Kohäsions- kraft ward, sondern sich in der Wandelbarkeit äußert. Auch er be- findet sich ja, dank seiner Plastizität,, mit der Welt in dauerndem Gleichgewicht, und das seinige ist das zuverlässigere insofern, als keine erlittene Störung etwas Ernstes zu bedeuten braucht, was beim Starren fast immer der Fall ist. Aber vor allem ist der Beweg- liche allein imstande, den Eigen-Sinn seiner Umgebung zu erfassen, weil er allein von ihm unmittelbar berührt und in Mitleidenschaft gezogen wird. Gestern, um Sonnenuntergang, sah ich Vögeln von Schreiadler- größe zu, welche schaarenweise, in reiherartigem Flug, tal- einwärts zogen ; und erkannte dann plötzlich, daß es nicht Vögel, sondern — Fledermäuse waren ; fliegende Hunde. — Wie wenig einen inmitten der tropischen Natur das Unerwartete doch überrascht! Augenscheinlich ist die Psyche hier in gleichem Maße 54 Stärke- tropischer Gegensätze. auf die stärksten Gegensätze eingestellt, wie dies der Körper auf die zwischen Licht und Schatten ist, so daß das Seltsamste normal erscheint. Würde es mich überraschen, wenn mir im Dschungel ein Gott ent- gegenträte? Kaum. Denn unglaubwürdiger könnte er kaum wirken, als es so viele Geschöpfe tun, die täglich vor mir ihr Wesen treiben. Die Spannweite des Möglichen ist in den Tropen so groß, daß der Mensch das Überrascht- und Entsetztsein bald verlernt. Der objektiv schroffste Gegensatz, den ich bisher gewahrt, ist der zwischen dem lieblich blauenden Meer, das gegen die Palmenbestände von Mount Lavinia anplätschert, und den furchtbar gepanzerten, boshaften schwarzen Krabben, die zu hunderten am Gestade seitwärts einher- chassieren. Kein Tier figurierte besser in der Hölle ; sicher riefe es am nordischen Strand in meiner Seele die schrecklichsten Bilder wach. An dem von Ceylon konnte ich mich seiner nur freuen. Ich mochte mir die Krabben vielhundertmal vergrößert vorstellen — im allgemeinen das sicherste Mittel, um das Gruseln zu erlernen — sie wurden cjadurch nicht furchterweckender. So werden die Riesen- Echsen der Vorwelt, die, in unsere Natur hereinversetzt, Angst und Schrecken um sich verbreiten würden, in ihrem natürlichen Milieu, das noch viel stärkere Kontraste in sich beschlossen haben muß, als heute die Tropenwelt, vielleicht als liebliche Erscheinung gewirkt haben. Morgen trete ich eine Wagenfahrt durch das Innere Ceylons an. Die letzten Tage über habe ich ausschließlich der Naturbeobachtung gelebt, um nicht gar zu unerfahren und ungewitzigt in den Dschungel einzuziehen. Ich finde es über Er- warten schwierig, im Lichte der Tropensonne zu sehen: die über- große Belichtung gleicht alle Nuancen dermaßen aus, daß noch so bunte Geschöpfe sich vom farbigen Hintergrunde kaum abheben. So scheinen die Wälder um Kandy mir unbelebter zu sein, als alle, die ich bisher sah. Heute ist es mir nun endlich geglückt, nachdem ich an die hundert Steine umgewälzt und viele faule Baumstämme durchge- stöbert, einen jener großen Tausendfüßler aufzuscheuchen, die in den Tropen heimisch sind. Es ist ein scheußliches Tier. Alles an seiner Gestalt widerstrebt den positiven Tendenzen der Menschen- natur; jede seiner Eigenschaften, dem Menschen angedichtet oder ins Menschliche hinüber transponiert, würde ihn zum Ungeheuer Der Tausendfuß und die Vollkommenheit. 55 machen ; und es nimmt mich wunder, daß die Primitiven des Bud- dhismus, welche die Vogelspinne so weise zur Ausstattung ihrer Hölle zu verwenden wußten, dieses Untier übergangen haben. Ja, scheußlich ist die Skolopender ; und doch könnte es mir nicht ein- fallen, ihre Existenzberechtigung in Frage zu stellen, wie dies ver- fehlten Exemplaren der Menschheit gegenüber mein erster Ge- danke ist: sie ist vollkommen in ihrer Art. Gesteht man die Voraus- setzung dieser Schöpfung zu, dann muß man auch einräumen, daß sie vortrefflich ausgeführt ist. Woher weiß ich, daß der Tausendfuß vollkommen ist? Be- sondere Gründe kann ich nicht anführen ; aber der Sachverhalt ist evident, wird jedem evident erscheinen, der die Fähigkeit hat, sich in andere Wesen hineinzuversetzen. Es ist etwas überaus Merk- würdiges um diese Evidenz, welche aller Vollkommenheit eignet: denn sie drängt sich innerhalb gebührender Grenzen auch dem Un- einsichtigsten auf. Kein Beispiel erweist dies wohl deutlicher, als das des Engländers. So oft ich mit Vertretern dieses Volkes zu- sammen bin, frappiert mich der Gegensatz zwischen der Dürftigkeit ihrer Anlage, der Begrenztheit ihres Horizontes mit der Anerken- nung, die sie mir wie jedem anderem abnötigen. Selbst die be- deutenderen unter ihnen (die hochbedeutenden bleiben hier wie überall natürlich außerhalb des Rahmens genereller Betrachtung) sind als geistige Wesen schwer ernst zu nehmen, sie wirken auf mich wie die Tiere, die mit einer Anzahl unfehlbarer Instinkte ausgestattet, einen Ausschnitt der Wirklichkeit vollkommen be- herrschen, im übrigen aber blind und unfähig sind. In ungeheurem Maße fehlt es ihnen an Originalität, so ursprünglich sie anderer- seits sind ; einer denkt, empfindet, handelt wie der andere, keines Seelenleben birgt Überraschungen. Aber genau im selben Sinne wie die Tiere, muß ich auch die Briten unbedingt gelten lassen: sie stellen, so wie sie sind, die vollendete Erfüllung ihrer Möglichkeit dar ; sie sind ganz, was sie allenfalls sein könnten. Dies ist denn der Grund ihrer Überzeugungskraft, ihrer Überlegenheit über die übrigen Völker Europas (die sich zurzeit vernünftigerweise nicht bestreiten läßt) des ansteckenden Charakters ihrer Eigenart: sie allein unter allen Europäern sind in ihrer Art wirklich vollkommen, und vor der Vollendung beugt sich jedermann. Des Deutschen so viel reichere Naturanlage hat ihre Form noch nicht gefunden: so wird er ohne zwingenden Grund noch nirgends gelten gelassen. Daß Voll- 56 Grund der englischen Überlegenheit; Dembull. endung aber auch für ihn im Bereich des Möglichen liegt, beweist der eine, einzige Typus des Deutschen, der bisher einen vollkommenen Ausdruck bezeichnet: der österreichische Aristokrat. Dieser mag nicht allzuviel taugen ; bei ihm mag, wie dies bei Kühen so leicht geschieht, die Züchtung auf „Form" die „Leistung" be- einträchtigt haben : immerhin ist er vollkommen in seiner Art. So wird er denn auch allerorts wie selbstverständlich gelten gelassen, er wird umschmeichelt, nachgeahmt, hochgeschätzt, und der hoch- mütige Brite als erster bewirbt sich um seinen Verkehr. DEMBULL. Diese erste Etappe meiner Wagenreise durch das Land werde ich sobald nicht vergessen. Eine langwierige Fahrt durch schweigende Urwälder ; dann einen steilen kahlen Berg hinan, in dessen Gipfel die Felsentempel eingehauen sind. Rings- herum Wald, so weit das Auge reicht; seine äußersten Vorposten reichen mit ihren Wipfeln noch bis zum Vorhof der Tempel von Dembull und die graue Kuppe wirkt gar trotzig inmitten des Grüns. Das Beeindruckendste ist aber das Innere der Heiligtümer: im toten Stein hat sich, vom Menschengeiste hinverpflanzt, eine wundersame Flora angesiedelt. Hunderte von bunten Buddhas blühen dort fried- voll nebeneinander; unter ihnen aber sproßt hie und da, wie in das bestgepflegte Beet mitunter Unkraut hineingelangt, ein üppiger Hindugott auf. So kann sich die Natur nicht verleugnen. Nichts scheint dem Geiste des Überwinders weniger entsprechend, als solche Flora von Heiligenbildern, vor denen der Gläubige sich betend neigt ; Gautama selbst hätte sie wohl vernichten lassen. Und doch haben die Singhalesen Recht, die zwischen diesem lieblichen Garten und Buddhas ernster Predigt keinen Widerstreit erkennen können. Der Blumenflor bedeutet nichts anderes, als die Lehre von der Nichtigkeit des Daseins ; es ist diese Lehre selbst, in der Sprache des Tropengürtels ausgedrückt. Ein liegender Buddha, roh aus dem Felsen herausgemeißelt, wirkt als Wesen für sich. Einsam ruht er unter seinen sitzenden Doppelgängern, wirkt so einsam unter ihnen wie die kahle Berg- Vielheit und Einheit ; Der tropische Urwald. 57 kuppe inmitten des Grüns. Und doch scheint er nicht vereinzelt zu sein und nicht von anderer Substanz als sie. Nur scheinbar ist er ein Wesen für sich. So hat wohl Gautama selbst seine Persönlich- keit aufgefaßt: so einzigartig, einsam, übermächtig sie seinen Jün- gern vorkommen mochte — er wußte, daß er nur an der Oberfläche ein Abgesondertes war. Längst lebte sein Bewußtsein in jener Tiefe, wo alle Vielheit im Einen sowohl erfüllt als aufgehoben ist Lange habe ich vor diesem Bilde geträumt. Wie ich zum Tore hinausblickte, über die Wipfel der Bäume hin, da gewahrte ich Scharen von Affen, die in lautlosem Seiltanz ihrer Abendäsung nachkletterten. DURCH DEN DSCHUNGEL NACH HABARANE. Wie arm ist doch das Auffassungsvermögen des Kultur- menschen ! Außer den ganz sinnfälligen, aufdringlichen, groben, entgehen mir alle Unterschiede zwischen den Zonen des Dschungels ; und voller Neid gedenke ich des Ele- phanten, der in wilder, niebetretener Gegend ebenso sicher seinen Weg findet, wie unsereiner auf der Chaussee, nachdem er den Wegweiser befragt. Daheim, in den Wäldern des Nordens, wo das Jägerauge auf Nuancen eingeübt ist, kenne ich mich noch einigermaßen aus, hier bin ich von vornherein verirrt. Ich wüßte nicht zu erklären, weshalb gewisse Vögel nur an dieser Stelle vor- kommen, wo es dort nicht viel anders aussieht ; weswegen an gewissen Punkten, und nur dort, auf einmal hunderte von Faltern aufflattern. Ich bin eben blind. Aus den Augen begnadeterer Ge- schöpfe betrachtet, erschiene der Urwald nicht minder deutlich auf- geteilt, wie aus den meinigen gesehen St. Petersburg. Sogar vom Ozean gilt dies. Wo die Empfänglichsten der Menschen über die Großartigkeit des Einförmigen Betrachtungen anstellen, handelt es sich in Wahrheit um ein vielfach gegliedertes Reich, nicht ein- förmiger als der Urwald. Während der Fahrt durch den indischen Ozean fiel mir auf, daß nur von gewissen Stellen die fliegenden Fische in Scharen aufgingen, um nach Überschreitung bestimmter 58 Der Schematismus des Menschengeistes. Grenzen ganz zu fehlen ; daß dort wiederum und nur dort, Me- dusen zu Hunderten das Wasser röteten, nur strichweise Delphine ihr anmutiges Spiel trieben : sicherlich fallen diese Verbreitungs- bezirke mit den Umrissen verschiedener Konformationen zusammen. Ich aber bin zu blind, um ihrer gewahr zu werden. Was sieht denn unsereiner? Nur das, was menschlichen Bedürf- nissen entspricht. In der Stadt, auf der Straße, auf dem Acker, mag er damit das Wichtigste wahrnehmen, ganze Länder sogar, wie Hol- land und Japan, die dem Menschen ihren Grundcharakter verdanken, im wesentlichen richtig auffassen. Wo die Natur in keinem not- wendigen Verhältnis zum Menschen steht, dort versagt dieser Maß- stab vollständig ; dort sind alle unsere Schemen und Systeme von ihrem Standpunkte aus Narretei. Wie töricht ist doch die Rubri- zierung, die wir mit dem Sternenhimmel vorgenommen haben ! — Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich bis heute, obgleich ich so manche sternklare Nacht zum Himmel aufgeschaut, das „südliche Kreuz" noch nicht entdeckt habe. Freilich habe ich es mir mit Ab- sicht nicht zeigen lassen : wäre es mir einmal gewiesen worden, die fraglichen Gestirne hätten sich auch für mein Bewußtsein für immer zusammengefügt, wie denn der Unselige, der einmal auf die Ähn- lichkeit eines Gipfels mit Napoleon aufmerksam gemacht ward, hin- für verdammt ist, den Berg dem Schema entsprechend zu sehen : so gierig zwängt der Mensch, wo immer es geht, menschliche Ver- knüpfungen den außermenschlichen auf. Aber so viel bleibt wahr, kann keiner mir nehmen : von selbst habe ich das südliche Kreuz nicht entdeckt, welches beweist, daß mein Geist seine Unbefangen- heit noch nicht ganz verloren hat. AM MINNERI-SEE. Dieser Urwaldsee hätte mir in meinen Kindheits- und Jüng- lingstagen, da ich, aller Bücherweisheit abgeneigt, mein ganzes Glück im Beobachten, Jagen und Zähmen der Tiere fand, das Paradies auf Erden bedeutet. Stunden hindurch habe ich an seinen Ufern entlang gepürscht und immer wieder neue Ge- schöpfe zu sehen bekommen. Auf den Sandbänken lagen, faulen Die Vollkommenheit des Tiers. 59 Baumstämmen gleich, Krokodile, von Stelzvögeln bewacht; Kuh- reiher und Rohrdommeln weideten unter den Büffeln, Fisch- und Silberreiher standen auf Halbinselvorsprüngen und Baumwipfeln ; auf dem Wasser schwammen Scharen von Pelikanen, in den Lüften wiegten sich Weihen und Adler, von denen eine mir ganz unbe- kannte Art — silberweiß mit dunkelen Deckfedern — zu den schön- sten aller Raubvögel gehört. Der Grundton des Bildes aber ruhte auf den Schlangenhaisvögeln, deren stilisierte Gestalten und heral- dische Stellungen dem Ganzen ein mythisches Gepräge gaben. Wie wohl es tut, in einer Welt zu weilen, die am fünften Tage fertig erschaffen war! Hier scheint alle Kraft noch ungebrochen, hier ist alles ursprünglich, alles echt. Das sind unter Menschen nur noch Kinder und dann die ganz Großen, Seltenen ; der meisten Er- scheinung sagt über das Wesen gar nichts aus. Tiere sind immer vollkommen, immer ganz das, was sie sein könnten ; sie sind ein erschöpfender Ausdruck ihrer Möglichkeit. Man sagt daraufhin, sie seien so gebunden. Gewiß sind sie gebunden, aber das ent- wertet sie nicht. Nicht insofern bedeutet unsere größere Unge- bundenheit einen Vorzug, daß diese als solche das Ideal wäre, sondern daß uns mehr als eine Vollendungsmöglichkeit offen liegt; auch beim Menschen bedeutet Vollendung das Höchste, Voll- endung aber bedingt Gebundenheit. Wir stellen den Menschen, welcher notwendig handelt, aus innerem Gesetz heraus, über den, welcher der Willkür gehorcht ; wir schätzen den Gedanken am höchsten, dessen Fassung abschließt. Und gleiches gilt von der Kunst, von jeder Lebensäußerung überhaupt. Auch unter mensch- lichen Voraussetzungen ist das Ideal im Gebundenen, nicht in der Ungebundenheit belegen. Was unsere Voraussetzungen von denen des Tiers unterscheidet, ist also nicht das Ideal ; es sind die Elemente, vermittelst derer es verwirklicht werden soll. Ist dem aber also, dann weiß ich nicht, wie die Gebundenheit des Tiers, das in seiner Ein- deutigkeit immer vollendet ist, zum .Beweise seiner Uninteressant- heit angeführt werden kann: gerade deshalb ist es interessant, interessanter als alle unvollkommenen Menschen. Den Mann, der als Persönlichkeit auf der Stufe stände, wie als Naturprodukt jeder Schlangenhalsvogel des Minneri-Sees, den würde ich als Halbgott verehren. . . . Sicher verdanke ich den Tieren mehr Belehrung und Anregung, als den meisten Menschen, mit denen ich länger verkehrt habe. Menschen sind allzuleicht zu übersehen ; gar zu undicht ge- 60 Tiere interessanter als Menschen. säet sind die Exemplare, zu deren Verständnis es einer Erweiterung der vorhandenen Begriffsmittel bedarf, während das geringste Tier solche Erweiterung unbedingt erheischt, wenn sein Wesen begriffen werden soll. Wer ein niederes Seetier verstehen will, muß sich in eine Bewußtseinsart einfühlen, die sich allenfalls der eines gesteiger- ten Magens vergleichen läßt: bei sehr bestimmtem Reagieren auf spezifische Reize, bei außerordentlicher physiko-chemischer Ein- bildungskraft doch als oberste Synthese nur ein unbestimmtes All- gemeingefühl ; der Krebs ist keine Einheit, sondern eine Zwei- oder Dreiheit ; sein Bewußtsein ist nicht in unserem Sinne zentrali- siert. Wer in die Seele eines Fuchses eindringen will, dem muß es gelingen, das Geruchsvermögen als Zentralsinn zu erleben und alle Eindrücke in eben dem Verstand auf dieses zu beziehen, wie dies beim Menschen mit dem Lichtsinne geschieht ; beim Vogel stellt sich die Aufgabe wiederum anders usw. Hierher rührt es, daß wohl alle wesentlichen Geister die „Natur" menschlicher Gesellschaft vorge- zogen haben: wenn diese einschränkt, so macht jene frei; sie hilft hinaus aus den Schranken des Menschentums. Damit aber steigert sie sein Wurzelbewußtsein. An der Wurzel ist nämlich alle Schöpfung eins. Und aus der Wurzel stammt alle Kraft der höchsten Triebe. Wie wunderbar schön ist der Abend ! Der See spiegelt das letzte Licht des westlichen Himmels wieder. Seeschwalbengekreisch, vielstimmiges Froschgequake tönt zu meiner Herberge herauf, und majestätisch fliegen die letzten Pelikane dem Walde zu. In nächster Nähe steht ein Rudel wilder Elephanten ; schon habe ich sie brechen gehört. Der braune Wirt hat versprochen, mich zu wecken, falls sie in der Nacht auf die Fläche heraustreten sollten. Noch einmal bin ich auf den Spielplatz der Tiere hinausge- wandert. So manchen prächtigen Adler habe ich beschlichen, Legionen von Wasservögeln aufgescheucht. Jedesmal aber, wo ich aus dem Sumpf in den Dschungel einbog, ward es lebendig in den Baumkronen von langgeschwänzten Affen, die in flugartigen Sätzen vor mir die Flucht ergriffen. Wunderbar, wie viel man durch solche Stunden ausschließlichen Schauens gewinnt ! Vom Geiste her betrachtet, liegen eben die Bilder der Wirklichkeit auf einer Ebene mit den Schöpfungen der Phantasie, so daß zwischen Erfahrungen und Einfällen kein wesentlicher Unter- Anschauungen und Einfälle. 6 1 schied besteht. Wer offenen Sinnes beobachtet, ist eben so lange produktiv ; wer alles bemerkt hätte, der hätte aus eigener Kraft die Welt noch einmal erschaffen. Nun braucht aber die Seele eine reiche und mannigfaltige Nahrung, wenn sie gedeihen und sich aufsteigend entwickeln soll, und kein Gehirn ist so produktiv, daß es solche aus sich heraus in genügender Menge beschaffen könnte: deshalb kann keiner es sich unbeschadet leisten, von seinen Einfällen allein zu existieren. Äußere Erfahrung ist unbedingt vonnöten, auch noch des- halb, weil der Geist nie frei wird, wo er sich ständig von eigenen Produkten umgeben sieht. Alle die, welche sich ganz in ihre eigenen Welten einspinnen, verkümmern, und seien diese Welten noch so weit ; ihr Innenleben wird nicht reicher, sondern ärmer ; sie ver- knöchern mehr und mehr in ihrer Eigenart. Das habe ich an mir selber erfahren. Während der Jahre, die ich in Großstädten zu- brachte, hatte ich mich des Schauens beinahe entwöhnt, da deren Ge- triebe mein Interesse nicht fesselt. Die Folge davon war, daß meine Ideen auszukristallisieren begannen, so daß ich Gefahr lief von ihnen eingekerkert zu werden. Beinahe wäre ich, mit siebenundzwanzig Jahren, in einem selbstverfertigten System erstickt. . . . Glücklicher- weise ward ich der Gefahr noch, ehe es zu spät war, gewahr. Jetzt zwinge ich mich zur Beobachtung, auch wo ich wenig Neigung dazu verspüre; jetzt pflege ich das bischen Neugierde, das mir noch übrig geblieben ist und weiß jedem Eindruck Dank, der meine Hirn- gespinste zerreißt. Ja, man muß schauen können . . . kann ichs wirklich? In dem Sinn und Maße, wie ich wollte, kann ichs nicht. Mehrfach habe ich die Absicht gehabt, irgendeines der erschauten Wunder zu be- schreiben, und dann jedesmal erkennen müssen, daß ich dazu nicht imstande bin. Also habe ich sie nicht wirklich erschaut. Gewiß ist es nicht wahr, daß Empfinden Ausdrucksfähigkeit bedingt — Er- lebens- und Schöpferkraft gehören verschiedenen Dimensionen an — wohl aber liegen, wie ichs schon niederschrieb, Anschauungen und Einfälle, vom Geist her betrachtet, auf einer Ebene, so daß einer nur das wirklich auffaßt, was ihm auch hätte einfallen können. Mir nun fielen Einzeldinge niemals ein, also kann ich sie auch außer mir als solche nicht sehen. Meine Einbildungskraft führt das Einzelne reflektorisch auf seinen inneren Grund zurück, von welchem aus nicht das Ding als das Eigentliche erscheint, sondern dessen Mög- lichkeit. Daß diese Deutung meiner Auffassungsart richtig ist, er- 62 Verschiedene Formen des Auffassungsvermögens. weist die Gegenprobe, die am Erinnerungsvermögen angestellt wer- den kann. Schon vor Jahren meinte ein geistreicher Freund, ich würde auf dem Jüngsten Gericht mit einem Sekretär zu erscheinen haben: so schlecht wäre mein Gedächtnis für die Episode. Ich kann wirklich nichts Einzelnes behalten, keine Fabel, keinen fait divers ; umgekehrt aber scheine ich außerstande, einen allgemeinen Zu- sammenhang zu vergessen. Nur im Augenblick der produktiven Spannung stellt sich Gedächtnis für Einzelheiten ein. — Was habe ich nicht gegen diese Beschränkung angekämpft ! Wieder und wieder habe ich versucht, zu Besonderem ein inneres Verhältnis Zugewinnen, mich in ein Einzelwesen, ein Bild, eine Zeit vollkommen und dauernd einzubilden ; wieder und wieder habe ich mich dem Ein- flüsse von Geistern hingegeben, welche das, was mir abgeht, ver- mochten — es war umsonst. So habe ich mich bei der Erkenntnis bescheiden müssen, daß es ein Mißverständnis bedeutet, seine empirischen Grenzen als solche sprengen zu wollen ; man muß zu- sehen, wie weit man in ihnen und mit ihnen kommt. Es herrscht noch viel Unklarheit unter Psychologen und Ästhe- tikern über die verschiedenen Arten des Auffassungsvermögens, Malern wird häufig Tiefsinn zugesprochen, Philosophen malerische Anschauungskraft. Solche Urteile sind meistens falsch. Wer die Er- scheinung vollkommen darstellt, wie dies der große Maler und Dichter tut, bringt eben damit auch ihren geistigen Gehalt zum Aus- druck — doch seine Seele braucht nichts davon zu wissen. Wer umgekehrt den inneren Sinn erfaßt, übersieht implizite die Erschei- nung — aber er braucht ihrer nicht faktisch gewahr zu sein. Das interessanteste Beispiel dieser Art bietet Leo Tolstoy. Ich kenne keine tiefergreifende Darstellung des Menschenlebens als dessen Epos vom großen Franzosenkrieg, doch ich weiß, daß Tolstoy als Person jeder philosophische Tiefsinn gefehlt hat. Wie den meisten Russen (und allen noch jungen undifferenzierten Rassen) fehlte Tolstoy die Gabe der intensiven Abstraktion, die Fähigkeit, das Besondere im allge- meinen zusammenzufassen, welche Fähigkeit den Tiefsinn definiert Dafür besaß er das Falkenauge des Wilden. Stellt nun einer eine Er- scheinung, die er nur sieht, nicht versteht, vollkommen als solche dar, so wird der tiefsinnige Leser die Darstellung unweigerlich als tiefsinnig beurteilen — ja größere Tiefen in ihr entdecken, als bei an sich profunderen Poeten, deren Auge aber weniger scharf und unbefangen sah. Vom Wesen der Ruine. 63 POLLONARUWA Noch nie haben die Überbleibsel vergangener Herrlichkeit einen solchen Eindruck auf mich gemacht, wie die Ruinen der Residenz des Königs Parakrama. -Nicht wegen ihrer künstlerischen Vollendung: sie sind schön, doch habe ich schönere gesehen. Die Stärke des Eindrucks beruht darauf, daß es mir noch nie vergönnt war, Monumente zu schauen, welche die spezi- fische Schönheit der Ruine, die durch ganz andere Gesetze bedingt wird, als die künstlerische, so vollendet zum Ausdruck brächten. Ruinen üben ja nicht bloß deshalb einen größeren Zauber aus, als wohlerhaltene Kunstwerke, weil sie der Seele im Bilde der Ver- gangenheit die Idee der Vergänglichkeit vermitteln ; auch nicht nur deshalb, weil das Verwitterte gleich dem Unvollendeten als solches anregend wirkt (es treibt den Geist in der Vorstellungswelt zu er- gänzen, was an der Wirklichkeit fehlen mag) : der eigenste Zauber der Ruine beruht darauf, daß hier das Schaffen des Menschengeistes in die kosmischen Kräfte eingereiht erscheint und so einen unend- lichen Hintergrund hat, statt des begrenzten einer Persönlichkeit oder einer Zeit. Ein Tempel in Marmor- und Goldschmuck mag ein Höchstmaß menschlicher Bildungskraft verkörpern: wenn die Zeit seine Oberfläche zernagt hat, wenn die Umrisse die Spuren ewig tätiger Naturkräfte zur Schau tragen, dann ist er zum integrierenden Bestandteil dieser Welt geworden. So manches Buddhabildnis, das die Höhlentempel Ceylons aufbewahren, bringt die Seele der bud- dhistischen Gemeinde verherrlicht zur Erscheinung. Allein die Ko- losse zu Gal Vihare, deren Oberfläche längst den Charakter der Umgebung angenommen hat, bedeuten mehr als das: es sind Naturformen, wie die Canons, welche Riesenströme im Laufe der Jahrmillionen ausgehöhlt, wie Täler, welche Gletscher ausge- schrammt, und die Bildungskraft des Menschengeistes erscheint nicht geringer, sondern gewaltiger, wenn sie den Mächten, welche Sterne zusammenballen, als ebenbürtige zur Seite tritt. Die Ruinen von Pollonaruwa nun wirken als Ruinen großartiger denn alle, die ich bisher geschaut, weil die ceylonesische Natur unvergleichlich produktiv ist, und geleistet hat, was zu leisten überhaupt möglich war. Die Säulen und Tempelreste, die weithin im Dschungel ver- 64 Der Dschungel und Griechenland. streut liegen, sind selber zum Dschungel geworden. Schlingpflanzen haben den zerfallenen Mörtel ersetzt, Bäume verfallene Kuppen er- gänzt. Die riesenhaften Daghobas sind, wo erhalten, zur Grundlage einer neuen Natur geworden. Man sieht eine abgestorbene Ver- gangenheit in ewig jugendliches Leben eingefügt, wie das Skelett in das blühende Fleisch. Unwillkürlich schweifen meine Gedanken nach dem fernen Hellas hinüber. Die griechische Natur hält den Vergleich mit der tropischen nicht aus; insofern sind die Ruinen jenes Landes nicht annähernd so wirkungsvoll als diejenigen Lankas. Dort haben die Tempel, als vollkommene Menschenschöpfungen, einst zweifellos noch größer gewirkt, als sie es heute als Naturformen tun. Aber was die Natur in der Folge nicht hat leisten können, das hat der Griechen- geist vorweggenommen. Jedes griechische Heiligtum ist von vorn- herein als Teil der Natur geplant worden, in notwendigem Zu- sammenhang mit der Umgebung. So wirkt das wenige, was heute noch steht, so sehr als Bestandteil der Landschaft, daß der Totaleindruck nur insofern von dem, welchen Pollonaruwa erweckt, abweicht, als die Ruinen nicht in die lebendige Natur hinein- gehören, sondern in die tote der Berge und des Himmels. Meinem Naturell ist das Lebendige kongenialer als alle tote Vollkommenheit, weswegen der Urwald mir mehr bedeutet als die Akropolis. Aber nie ist mir andrerseits die Potenz des Griechengeistes deutlicher bewußt geworden, als inmitten einer Natur, die sich Gautamas ver- klärte Gestalt hat restlos einfügen können. ANURADHAPURA Was müssen die alten Könige, welche Ceylons Riesendenk- mäler errichtet haben, für Männer gewesen sein! Diese Bauten sind keine Monumente eitlen Reichtums, auch keine Willkürschöpfungen einer ungebändigten Phantasie : sie atmen eine herbe, schlichte Größe, die inmitten des tropischen Über- schwangs ringsum beinahe unnatürlich wirkt. Neben der Felsen- feste Sigiri, dem Horste des Vatermörders Kassyapa, nehmen sich die Burgen Europas wie Kinderspielzeuge aus ; allein das Bad dieses Mahinda ; die Tropenluft Individualität s feindlich. 65 Condottiere ist ein Bau wie ein ägyptisches Königsgrab. Die Da- ghobas gleichen natürlichen Bergen, und doch ist es „Geist" im höchsten Sinn, der ihren Umrissen seinen Charakter gibt. Aber das Wunder der Wunder von Ceylon ist der Fels von Mihintale, woselbst Mahinda, König Acpkas Sohn, der große Apostel des Bud- dhismus, seine Tage verbracht und abgeschlossen hat. Dessen Zelle — eine schmale Terrasse am höchsten Punkte des Berges, von Künstlerhand aus dem Stein herausgehauen — ist das Königlichste, was ich je gesehen. Von steilen, drohenden Felsen überdacht, fällt sie jäh zum Tale ab ; drunten aber breiten sich endlose Urwälder aus, deren heiliges Schweigen nur hie und da durch das Trompeten des Elephanten unterbrochen wird. Solchen Horst konnte ein König allein sich zur Wohnstatt wählen. Es ist unmöglich, ohne innerlich weiter zu werden, auch nur kurz in ihr zu verweilen. Unwillkürlich stellt sich mir Mahinda in der typischen Stellung des sinnenden Buddha dar, riesengroß, wie ihn die Alten im Steine abzubilden pflegten : so muß er, unbewegt und mild, auf das blühende Leben im Tal hinabgeblickt haben ; als einer, welcher entsagt hat aus der Fülle der Macht heraus. Wie richtig hat die Legende ihre Worte gewählt, indem sie jene Herrscher mit Elephanten und Tigern verglich! Das, gerade das sind sie gewesen. Die Treibhausluft dieser Zone bringt in der Regel keine großen Individuen hervor, sie ist deren Ge- deihen nicht günstig. Der Dschungel ist eine Dickung, kein Wald, und seine Fauna ist mehr reich und üppig im allgemeinen, als bedeutend was die Sondergestalt betrifft. Wohl scheint hie und da ein einzelner Baum mit seiner Krone am Himmel anzustoßen, aber sieht man genauer hin, so gewahrt man, daß dieser Riese gar kein Einzelner ist: von den Ästen sprießen neue Wurzeln hernieder und wo das Auge eine Persönlichkeit zu schauen wähnt, steht in Wahrheit ein Stammbaum da. Das klassische Beispiel bietet der heilige Bodhi-Baum von Anuradhapura, der nachweislich von einem Steckling stammt, den König Acoka aus Buddha-Gaya einst hinge- stiftet hatte : dieses älteste Gewächs der Geschichte stellt sich als schmächtiges junges . Bäumchen dar; was heute lebt und grünt, sind die späten Enkel der einstigen Wipfelzweige, die ihrerseits Wurzeln in die Erde hinabgesenkt hatten. Auf Ceylon verläuft das Wachstum mit schwindelerregender Geschwindigkeit; ich habe Jahres- triebe gesehen, welche 15 mitteleuropäischen Vegetationsperioden Keyserling, Reisetagebuch. 5 66 Tropenhelden als Elephanten ; die Saurier. entsprechen würden ; hier sprießen die Bäume wie das Gras. Aber mit gleicher Geschwindigkeit sterben sie ab ; wirklich leben tut immer nur die Jugend. Gleiches gilt von den Tieren und den Menschen. Sie sind dem Typus nach ewig unausgewachsen ; sie vermehren sich in beängstigender Fülle, mit rasender Hast, und ebenso rasend schnell löst eine Generation die andere ab. Aber diese Natur, die zur Bildung von Individualitäten in der Regel weder Lust noch Zeit hat, bringt zuweilen doch solche hervor ; es ist, als wäre da dem Rade des Geschehens ein Hemmschuh angelegt worden. Aus solcher Energiestauung gehen dann Wesen hervor, so ge- waltig, so groß, wie kein anderes Klima sie kennt : der Elephant, das Nashorn, der Tiger. Auch innerhalb des Menschengeschlechts hat sich der Strom des Werdens einigemale in einer Einzelgestalt akku- muliert: das waren dann Männer von gewaltigen Dimensionen, die der Volksmund mit Recht Elephanten verglichen hat. Jetzt verstehe ich, wie in den Jugendjahren unserers Planeten, als noch Palmenhaine die Pole krönten, jene Riesengeschöpfe ent- stehen und leben konnten, deren Skelette uns heute in ungläubiges Staunen versetzen. Könige wie Mahinda, Parakrama Bahu, Duttha- gamini waren Wesen ganz anderer Art, als die großen Kaiser des Ostens. Diese waren Persönlichkeiten von solcher Potenz, von so ungeheuerer Willensintensität, daß ihre Größe von den äußeren Um- ständen schier unabhängig schien ; sie schufen die Verhältnisse, die ihnen entsprachen. So wie sie dastanden, waien die Tropenkönige nicht geringer, vielleicht sogar gewaltiger noch als j ene ; allein ihr Seinsgrund lag weniger in ihnen, als in der Natur, deren Bestand- teile sie waren ; nur inmitten tropischer Fülle konnten Wesen ihrer Sonderart fortkommen. Sie bedurften eines Übermaßes von Nahrung, die ihnen ohne ihr Zutun geliefert wurde, eines Mindest- maßes von materiellem Widerstand, einer Umgebung, die sich ge- schmeidig ihren Wünschen fügte. Nur wo solche Verhältnisse vor- lagen, waren sie möglich. Nicht anders stand es einstmals mit den Sauriern. Auch diese Riesen waren streng bedingt ; nur in- mitten einer noch sehr viel üppigeren Natur, als sie es heute in den Tropen ist, konnten sie aufkommen, dauern und gedeihen. Auch damals wird die Hauptmasse der Schöpfung schnellwachsend und schnell verderbend gewesen sein — ihre Spuren sind dahin. Zu desto gewaltigeren Dimensionen wuchsen die seltenen Einzelnen heran, die inmitten des Wechsels zur Dauer berufen waren. Bedingtheit aller Größe; ein Schlangenheim. 67 Die Zeiten solcher Größe sind dahin. Zum Unterhalt so monumentalen Lebens ist die Natur zu arm geworden. Heute scheint nur mehr das Billige den Umständen gemäß. Und was das Menschengeschlecht betrifft, so ist das Unterholz zu selbst- bewußt geworden, um dem einzelnen Riesen die Bahn noch freizu- geben. Es mag sein, daß dieses so gut ist ; ich weiß nicht, was „an sich" besser sei — eine indifferente Masse, die gewaltige Einzelne hochkommen läßt, oder ein höheres allgemeines Niveau, das ein Hinauswachsen über dasselbe nur innerhalb enger Grenzen duldet und jeden Schößling aus Gigantenstamm erstickt. Ich wollte, es wäre möglich, daß ein hohes allgemeines Niveau und Riesen im Sinne der Vorwelt zusammen beständen. Leider scheinen dem intime Naturgesetze entgegenzustehen. Man muß sich, man stelle sich wie man wolle, für eins von zwei Übeln entscheiden. Da be- kenne ich denn, daß ich freudig das ganze Geschlecht der Hasen dafür hingäbe, daß mich die Anschauung eines Atlantosaurus noch einmal die Kleinlichkeit quartären Daseins vergessen machte. Auf meiner Wanderung durch die Ruinen gelangte ich heute unversehens vor eine Hütte, in welcher ein junger Engländer inmitten vieler Hunderte von Schlangen haust. Ein Exzentrik, wie nur Albion solche hervorbringt. Schlangenbändiger, Schlangen- jäger, Schlangenfreunde gibt es genug, und zu den letzteren darf auch ich mich zählen, denn seit je finde ich ein besonderes Wohlgefallen an den vollendeten Kurven dieser Tiere. Aber zum näheren Verkehr mit Reptilien bedarf es einer besonderen, dem Menschen von Natur nicht liegenden Einstellung, was auch dem indischen Schlangenbeschwörer immer anzumerken ist. Dieser Eng- länder nun verkehrte mit seinen Hausgenossen, als ob er nicht anders könnte, als verstünde sich solcher Umgang von selbst Nichts Außerordentliches waren sie ihm : weder bewunderte er sie, noch machte er Geschäfte mit ihnen, noch schienen sie ihn wissenschaftlich zu interessieren : die ringelnden Tiere bedeuteten ihm sein natürliches Milieu. Da waren gewaltige Pythons und wütende Brillenschlangen, im vollen Besitz ihrer Giftzähne ; sie alle hatte er eigenhändig eingefangen und hantierte mit ihnen vor mir herum, daß mir angst und bange dabei wurde. Die Eingeborenen behaupten steif und fest, er sei durch einen Talisman gefeit; er aber meinte 5* 68 Tobsüchtige und Schlangen ; Macht des Milieus. kühl, bei einiger Gewandtheit und Vertrautheit mit ihren Eigenheiten seien Cobras ganz ungefährlich. Es schien ihn zu interessieren, als ich ihm mitteilte, daß es wirksame Gegengifte gäbe : er selbst hatte noch nie von solchen gehört, die Frage auch nie im Geist erwogen. Er schrieb sich die Adresse der Anstalt auf, wo das Serum her- gestellt wird, doch zweifele ich, daß er sich je hinwenden wird. Das wirklich Interessante an diesem Schlangenheim war nun dies, daß die Mentalität seines wunderlichen Direktors ein Milieu geschaffen hat, in dem die Schlangen im gleichen Zustande harm- los erscheinen, wie die Tobsüchtigen und „Unruhigen" in einem gutgeleiteten Irrenhaus. Wirklich ungefährlich sind Unruhige ja nie, aber in der Anstalt läßt man sie dcjch frei gewähren und dort richten sie wirklich kein Unheil an. Ebenso werden auch Cobras nie wirklich zahm — sie sind und bleiben stumpf- sinnige, sinnlos wütende Geschöpfe, weder der Einsicht noch der Zuneigung fähig ; gleichwohl nahm mein Engländer auch die un- gebärdigsten unbeschadet in die Hand und wußte solche, welche eben noch wütend um sich hauten, nach altbewährter Psychiater- praxis schnell zu beruhigen, indem er ihnen die Hand sanft aufs Haupt legte und dieses dann sachte niederdrückte. Ja, in seiner Gesellschaft konnte auch ich unter den Schlangen mit nur geringer Lebensgefahr einherspazieren. Diese Erfahrung rechne ich zu den wichtigsten, die ich gemacht habe. Bei intelligenten Geschöpfen, wie normalen Menschen und höheren Tieren, erscheint der unge- heure Einfluß, den Milieu und Behandlungsart ausüben, nicht weiter wunderbar, weil in ihrem Falle psychische Schranken, deren sie sich als eines objektiv Wirklichen bewußt werden, ein ebenso Objektives bedeuten, wie materielle; wer halbwegs frei ist in seiner Wahl, reagiert im Guten wie im Bösen meist so, wie dies den Umständen am besten entspricht. Nur stumpfsinnige Tiere sind gleich stumpf- sinnigen Menschen in diesem Sinne beeinflußbar. Aber die Irrenanstalten und das Schlangenheim, das ich heute besichtigte, be- weisen, daß eine Beeinflussung noch möglich ist, wo das Auffassen psychischer Schranken kaum mehr in Frage kommt ; sie wirken eben objektiv schlechthin, und es hängt bloß von der Intensität der Ein- Wirkung ab, ob sie eine Verwandlung der Erscheinung zur Folge hat oder nicht. Auch für die Cobra ist eine Umwelt denkbar, in der sie harmlos erscheint. Nun sind die Unruhigen in der Anstalt, wo sie sich gut gebärden, viel glücklicher als außerhalb : also muß das moralisch Moralität und Angepa ßtheit. 69 Bessere irgendwie einem objektiv Zweckmäßigeren entsprechen ; was ich mir seinerseits nur dahin zu deuten weiß, daß moralisches Verhalten (ich spreche nur vom Verhalten, nicht der Gesinnung!) nichts anderes als der natürliche Ausdruck von Angepaßtheit ist. Verbrecher untereinander sind gewöhnlich sehr ehrenhaft; ein voll- endeter Menschenkenner findet unter noch so unzuverlässigen Subjekten treue Diener; der Zufriedene ist selten bösartig: lauter Beweise, daß Angepaßtheit moralisches Verhalten bedingt. Übersetze ich nun diesen Tatbestand ins Innerliche, oder betrachte ich ihn von innen her, so darf ich weiter folgern, daß ein „mora- lischer Instinkt", wie ihn das 18. Jahrhnudert postulierte, insofern wohl vorliegt, als psychisches Wohlbefinden an äußere Angepaßtheit gebunden ist, und ein jeder nach Wohlbefinden strebt. Freilich ist dieser „moralische Instinkt" an sich nichts Ethisches ; die Schlange ist ganz gesinnungslos ; erst von einer höheren seelischen Entwick- lungsstufe ab kann sich der Naturtrieb ethischen Kategorien ein- ordnen (auch der psychisch Abnorme gilt uns ja als „unverantwort- lich"). Aber sicher bedeutet ethisches Streben nur die Durch- geistigung oder Durchseelung einer Tendenz, die als solche schon bei der Naja vorhanden ist. Hier wurzelte denn der Wahrheitsgehalt der Vorstellung vom Paradies. Ohne Zweifel könnte es eine Welt geben, in der in- sofern nichts Böses geschähe, als keiner Handlung böse Absicht zu- grunde läge. Wir Europäer werden nie ein Paradies erschaffen, trotz aller zur Schau getragenen Barmherzigkeit, weil unsere ani- malischen Instinkte dazu zu stark sind. Die indisch-buddhistische Welt wirkt in vielen Hinsichten paradiesisch. Da der Glaube es ver- bietet, den Tieren ein Leid zu tun, stehen diese in keinem Feind- schaftsverhältnis zum Menschen ; sie lassen ihn gelten, wie eine Art die andere gelten läßt, des eingedenk, daß für alle Platz vor- handen ist. Der Tiger wird in Indien weniger gefürchtet, und dies mit Recht, als in Europa ein Rothirsch zur Brunstzeit. — Hier wurzelt ferner der Wahrheitsgehalt der auf Plato zurückgehenden, allen christlichen Mystikern vertrauten aber von den persischen am vollkommensten ausgebildeten Theorie, daß die göttliche Liebe jedem innewohnt und es von Äußerlichkeiten abhängt, ob sie sich äußert oder nicht. Dieses Äußerliche mag die Neigung zu einem Weib, der Einfluß kongenialer Umgebung, ein schweres Schicksal sein, daß die Seele umkehrt — immer handelt es sich darum, daß y 70 Poesie der Vergänglichkeit. das Instrument „Mensch" so gestimmt werde, daß Gott darauf spielen kann. Freilich ist es so. Noch einmal durchwandere ich die gewaltige Ruinenstadt, mit ihren berggroßen Stupas, ihren ungeheuren Palastanlagen, ihren mächtig eingedämmten Teichen. Es wird Abend. Vor der Ruangweli-Daghoba beten fromme Pilger. Ein Mönch beginnt mit getragener Stimme die Liturgie, und die Laien fallen rhythmisch ein. Auf dem Altar stehen duftende Blumenspenden. Rings um das Heiligtum, soweit der Vorrat reichte, haben die Frommen Kerzen auf- gestellt, und nun, wo sie angezündet sind und die Dämmerung zur Nacht wird, heben sie sich ab vom steinernen Grund, wie die Sterne vom dunkeln Himmelsraum. — Welch' tiefe Poesie liegt im Re- liquiendienst! Hier hat ein frommes Volk, von einem frommeren Herrscher geführt, in jahrlanger mühsamer Arbeit einen Berg über einem Andenken aufgetürmt, auf daß es nie und nimmer zu Schaden käme. Wahrscheinlich stammt die Reliquie nicht wirklich vom Buddha her: was tut es? Die Hauptsache ist, daß sie der Andacht einen Anhalt gebe. Der Liebende zieht oft ein wertloses Andenken dem kostbaren vor, weil jenes das, was es bedeutet, am reinsten, weil unvermengtesten zum Ausdruck bringt. Es ist tief bedeutsam, daß der Reliquiendienst gerade innerhalb des Glaubens, der vom Vergänglichen am geringsten denkt, eine so große Entfaltung erlebt hat. Je vergänglicher ein Besitz, desto kost- barer erscheint er dem Menschen : so hat die Versicherung Buddhas, daß es nach seinem Tode mit ihm für immer zu Ende sein werde, zum Gegenteil dessen geführt was er beabsichtigt hatte: man hat desto mehr an dem festgehalten, was von ihm übrig blieb. Nicht nur alle seine Worte hat man treulich aufbewahrt, seine Lehren, die Geschichten aus seinem Leben: seine irdischen Reste sind zum Kultobjekt geworden, und er selbst ward zum Gotte verklärt. Das Volk kann die Nirwänalehre nicht so verstehen, wie der Erleuchtete sie verstanden wissen wollte: ihm bedeutet das Nirwana des Voll- endeten, daß er der Zeit zwar entrückt, desto ewiger weiter- dauert Aber freilich weiß es dieses nicht gewiß; täglich belehren es ja die Mönche des Gegenteils. So hat das Gebet an den heiligen Stätten den Charakter der Panichide. Eine süße Schwermut durch- zittert die Liturgie, wie die Trauer um ein teures Wesen, das man selig hofft. III. INDIEN. Mannigfaltigkeit der indischen Menschheit, 73^ RAMESHVARAM. Wie die Nacht hereinbrach, winkten mich die Brahmanen in: den Tempel hinein. Ich folgte ihnen, ohne zu wissen, was ich sollte. Da gewahrte ich Pilger ohne Ende, Hierophanten und Tempelbedienstete um ikonenhaft geschmückte Elephanten, um goldglänzende Wagen und Tragbahren herum sich bei Fackelschein zu festlichem Zuge rüsten. Und ehe ich mich dessen versah, befand ich mich an dessen Spitze. Vor mir schritten würde- voll die Elephanten, sie, die bewährtesten Träger der Tradition ; hinter mir folgte die Göttin, hochthronend auf kostbarem Palankin. So ging es, bei dröhnendem Paukengerassel, bei grellem Klarinettengekreisch, bis tief in die Nacht in feierlichem Rundgang durch die herrlichsten Säulengänge der Welt, an deren Wänden die aufgereihten Frommen, von den Fackeln sprunghaft belichtet, sich ehrfurchterschauernd neigten. Welch' wundersame Einführung in das Inderland ! Der Tempel zu Rämeshväräm, auf dem südlichsten Vorsprung der Halbinsel ein- sam gelegen, meerumschlungen, palmenumstanden, ein Gebäude kaum kleiner als die größten der Klöster, die unser frühes Mittel- alter erschuf, mit Korridoren, die an Schönheit der Formen und Farben auf Erden kaum ihresgleichen finden, soll von Räma selbst gegründet worden sein, nachdem er Sita dem Rävana abgerungen hatte. Er gilt als zweitheiligste Stätte Hindustans. Wer irgend kann, wallfahret von Benares noch hierher. Und wahrhaftig scheint ganz Indien hier vertreten. Alle Farben, alle Trachten, alle Typen ge- wahre ich, vom dunkelen Tamylen bis zum weißen Kaschmiri, vom stolzen Radschput bis zum Sanyassi, dessen Haupthaar zu Filz ver- 74 Vorst ellungen als selbständige Wesenheiten. wachsen ist. Sprachen und Dialekte ohne Zahl durchschwirren ein- ander, hundert verschiedene Gesinnungen blicken aus den Ge- sichtern, Kaste stößt sich an Kaste, Vorurteil an Vorurteil. Gleich reiche Mannigfaltigkeit unter Menschen haben meine Augen noch niemals gesehen. Was mir auffällt, ist, daß diese noch so verschiedenartigen Pilger irgendwie doch eines Geistes sind. In welchem Sinne? Dem des Glaubens? Vielleicht sind sie dies, aber das meine ich nicht; ich meine etwas, was ich noch nie vorher gewahrt. Ich meine nicht das metaphysische Bewußtsein, daß alles äußerlich Geschiedene doch innerlich zusammenhängt: so sehr es für „den" Inder charak- teristisch sei, bei denen, die hier versammelt sind — meist kleinen, einfachen Leuten, ohne Befähigung zur Spekulation — ist es sicher nur schwach entwickelt. Was mich bei allen frappiert, ist das Dasein einer Bewußtseinslage, die das Auffassen von Wirklichkeiten ermög- licht, welche den durchschnittlichen Westländer nicht berühren. Diese Pilger verstehen offenbar die Bedeutung der Symbole; und es handelt sich bei ihnen nicht um jenen einfältigen Glauben, mit dem der ungebildete Katholik sich zum Kult verhält, auch nicht um das mittelbare Verständnis des gebildeten, das a posteriori aus reflektierter Erkenntnis entspringt : diesen Pilgern scheint das Symbol seinen Sinn unmittelbar zu enthüllen ; ihre Seelen scheinen unmittelbar von den heiligen Worten (Mantras) berührt. Das setzt eine Bewußtseinslage voraus, die von der normal-europäischen wesentlich abweicht. Mir ist sie nicht unbekannt. Wer den Akzent seines Bewußtseins aus der Sphäre der Dinge in die der Vor- stellungen hinüberverlegt, so daß er diese ernster nimmt, als jene, in diesen das eigentliche Wirkliche sieht, entdeckt, daß sich ihm damit neue Erfahrungsmöglichkeiten öffnen. Während Vorstellungs- verknüpfungen sonst ihren Sinn an dem haben, was ihnen draußen in der Natur entspricht, offenbaren sie nun einen Eigen-Sinh, der völlig unabhängig ist von aller Außenwelt. Nun erweist es sich, daß Vorstellungen in doppelter Richtung sinnvoll sein können: einmal im üblichen Verstände, als Bilder oder Erkenntnisschemen objektiver Wirklichkeit, dann aber auch als unmittelbare Erscheinungsformen eines ihnen ursprünglich innewohnenden Sinns. Jeder, der offenen Geistes an religiösen Zeremonien teilgenommen hat, wird erfahren haben, daß sie verschieden wirken ; daß einige gar nicht, andere stark beeindrucken, und dieses, je nach dem Ritus, in verschiedener Zeremonien ; Verknüpfung von Sinn und Laut. 75 Richtung: es scheint Normen für den Ablauf des inneren Erlebens zu geben, genau wie es Naturgesetze gibt. Bestimmte Laut- und Vorstellungsverknüpfungen scheinen mit hoher Konstanz bestimm- ten psychischen Inhalten zu entsprechen. Freilich muß das Bewußt- sein in besonderer Lage ruhen, auf daß diese Gesetzmäßigkeit sich offenbare ; der moderne Europäer in normaler Seelenverfassung spürt wenig von ihr. Von seinem Standpunkt aus hat er nicht Un- recht, sie zu leugnen, denn für ihn gilt sie wirklich nicht. Sie gilt im selben Sinne nicht für ihn, wie die Gesetze der musikalischen Harmonie für den Unmusikalischen nicht gelten. Er wird sich der besonderen Beziehungen, die zwischen Lauten und psy- chischen Inhalten walten, vielleicht nur mehr im Falle der Musik und, seltener, der Poesie bewußt: hier gibt er sich unbefangen den Einwirkungen von Rhythmus und Vorstellungsfolge hin und erlebt so, was ihm sonst verschlossen bliebe ; während ihn religiöse Feiern allenfalls dann ergreifen, wenn eine starke innere Erschütterung seine Bewußtseinslage zeitweilig verschoben hat. Immerhin : wissen kann es auch er, daß es sich bei den symbolischen Handlungen, die im Gottesdienst, uralter Tradition gemäß, voll- zogen werden, nicht überall um Willkürverknüpfungen von Sinn und Erscheinung handelt. Aber Wissen und Erleben sind zweierlei. Was Europäer allenfalls erkennen, gehört zum selbstverständlichen Erleben der meisten Pilger, die gläubig in Rämeshväräm zusammengeströmt sind. Aus ihren Gesichtern spricht unverkennbares Verständnis für den Sinn der Vorgänge, denen sie beiwohnen. Wenn diesen gesagt wird, ein bestimmtes Mantra sei Devatä (eine bestimmte Lautver- knüpfung stelle den wahrhaftigen Leib der Gottheit dar), das Imagi- nieren bestimmter Bilder in bestimmter Folge bringe die beabsich- tigte Wirklichkeit tatsächlich hervor, Beschwörungen wirkten, geist- liche Übungen verwandelten die Seele, so dürften sie nicht allein glauben, sondern verstehen. Sie dürften verstehen, was gemeint ist. Auch ich verstehe. Ich weiß, daß das Psychische ein ebenso Objek- tives ist, wie das Materielle, daß Vorstellungen ein genau so ent- sprechender Leib von Metaphysisch-Wirklichem sein können, wie feste Körper, daß es überall möglich ist im Prinzip, vom Geiste her den Stoff zu beeinflussen. Allein, daß ich verstehe und weiß, ist nicht weiter interessant. Das Bedeutsame ist, daß diese einfachen Leute wissen. Sie sind keine Denker, keine Versteher; sie sind außerstande, irgendein Wirkliches im Geiste vorauszuerleben. Sie 76 Indischer Wirklichkeitsbegriff ; Primat des Psychischen. müssen wirklich erleben, so wirklich wie sie essen und schlafen. Sie müssen, kurz gesagt, zur psychischen Wirklichkeit im gleichen Verhältnis stehen, wie der Westländer zur physischen. Für heute will ich diese Betrachtungen nicht weiterspinnen ; ich will der Erfahrung in der Einbildung nicht vorgreifen. Aber soviel drängt es mich doch auszusprechen : wenn die normale Bewußtseins- lage frommer Hindus wirklich so beschaffen ist, wie mir heute scheint, dann mag ein guter Teil noch so abenteuerlich klingender Behaup- tungen ihrer Ritualphilosophie (der Tantra) zutreffen ; wenn die Formen, Zeremonien und Inkantationen unmittelbar ihrem Sinn ent- sprechend aufgefaßt werden, dann mögen sie leicht „Wunder" wirken ; dann mögen sie sämtliche Folgeerscheinungen zeitigen, die sie im äußersten Falle zeitigen könnten. Und persönlich zweifle ich kaum daran, daß die notwendigen Voraussetzungen zutreffen. Ich betrachte die Pilger ringsumher : sie alle haben die Augen von Träu- mern, blicken seltsam unaufmerksam in die Natur hinaus. Aber sie alle scheinen ebenso aufmerksam auf Beziehungen, die der exakte Naturbeobachter übersieht. Ihre eigentliche Heimat liegt in einer anderen Welt. Ist diese wirklich? Diese Frage ist schwer zu be- antworten, weil der Maßstab, der sonst zu ihrer Entscheidung dient, jetzt nicht anwendbar erscheint. Wenn das Psychische als das Pri- märe gilt, die Vorstellung als dichteste Wirklichkeit, dann sind Träume und Erfahrungen gleichwertig ; dann sind Erfindungen und Entdeckungen gleich wahr; dann besteht zwischen Lügen und die Wahrheit sprechen kaum ein Unterschied. Von unserem Stand- punkte aus würde man urteilen müssen, daß die Inder in der Un- wirklichkeit leben, und allerdings versagen sie meistens in dieser Welt. Aber damit wäre die Frage nicht erledigt. Jede Bewußtseins- lage offenbart eine andere Schicht der Natur. Wer in der des Hindu weilt, unterliegt Einflüssen, hat Erfahrungen, Erlebnisse, die andere nicht kennen. In seinem Fall treten Kausalreihen in die Erschei- nung, die sonst nicht nachweisbar sind. Und wohl mag es sein, daß von seiner Ebene aus der Weg zur letzten, tiefsten Selbstbesinnung kürzer und gangbarer ist, als von der unserigen her. Hiermit dürfte ich .denn wohl den Schlüssel zum Problem der indischen Welt- anschauung halten : dem Inder gilt das Psychische als das Primäre, ihm ist es ein Wirklicheres als das Physische.«. Vom Absoluten her gesehen, ist er mit dieser Akzentverlegung nicht minder im Irrtum, wie sein Antipode, der das Physische allein für wirklich hält. Menschenopfer; die Extase des Fleisches. 77 Doch wie der Okzidentale eben deshalb die Materie so tief begriffen hat, weil er sie überschätzt, so dürfte der Inder eben deshalb in die Welt des Psychischen tiefer eingedrungen sein, als irgendein anderer Mensch, weil er nur sie ganz ernstgenommen hat. MADURA. Der Tempel von Madura bei Nacht ruft Vorstellungen des Schreckens in meiner Seele wach. Indem ich mich in den düsteren, von Öllampen matt erhellten Gängen ergehe, und dem Schattenspiel der seltsamen Gebärden zuschaue, welche die Beter um butterbeschmierte Lingams herum vollführen, während über mir Scharen von Fledermäusen kreischend und zirpend hin und her flattern ; indem ich die vielarmigen Götter betrachte, die sich im unsicheren künstlichen Licht so viel furchtbarer ausnehmen als bei Tag, muß ich der Riten der Phöniker gedenken, die Flaubert uns so eindrucksvoll geschildert hat. Wohl weiß ichs : nichts Furcht- bares geschieht ; der Hinduismus, der heute an den heiligen Stätten Süd-Indiens gepflegt wird, ist sanft und mild. Aber seine über- kommenen Formen tragen unverkennbar die Züge der wilderen Zeiten, in denen sie entstanden sind. Kali hat Menschenopfer ge- fordert, fordert sie eigentlich heute noch. Und Kali ist die Gattin des Shiva, dem der Tempel von Madura geweiht ist, und Shiva selbst ist, in vielen seiner Aspekte, furchtbar genug Ich kann mir nicht helfen: alle Vorstellungen sind schreckhaft, welche die Bilder dieser Nacht in mir auslösen. Aber das Schreckhafte be- geistert mich. Heute verstehe ich gut, weshalb alle frühesten Gottes- dienste furchtbar waren, sein mußten. Mir kommen die Worte in den Sinn, die Dostojewsky dem Dimitry Karamasoff, dem Ur- menschen unter den Brüdern, in den Mund legt: „Was dem Ver- stand als Schmach und Schande gilt, erscheint dem Herzen als eitel Schönheit. — Sollte die Schönheit in Sodom liegen? — Glaube es mir, in Sodom wohnt sie für die Überzahl der Menschen. . . . Ent- setzlich ists, daß Schönheit nicht nur ein Furchtbares, sondern auch ein Geheimnisvolles ist. Dort ringt der Teufel mit Gott — und das Schlachtfeld ist das Menschenherz." Als schön gilt dem Menschen, was sein Lebensgefühl steigert. Und das bewirkt bei primitiven 78 Geschlechtsverkehr als Sakrament. Wesen nur die Extase des Fleisches. Nur im Rausch, in der Wollust, in der Grausamkeit gelangen solche hinaus über sich selbst, erfahren sie, was der vorgeschrittene Mensch in stiller Schauung Gottes erlebt. Deshalb tragen die Kulte aller tief religiösen Völker in deren Jugend furchtbaren Charakter ; in ihnen tobt sich das religiöse Bewußtsein aus. Es werden Orgien der Lust und der Grausamkeit gefeiert, es wird frenetisch genossen und gelitten, in wildem Taumel Leben geschaffen oder zerstört. So muß es sein. Frühe Menschen sind tief nur in ihren Trieben, nur sinnlichkeits- getragene Begeisterung vereinigt sie mit ihrer Substanz ; nur in Form des Triebmäßigen können sie ihr Tiefstes erleben und äußern. Und gilt dies von den zeitlich frühen allein? Was bedeutet denn der Kult, der in Europa wieder und wieder mit der Liebe zwischen Mann und Weib getrieben wird, und nicht selten mit deren rohester Form, anderes als eine Reaktion gegen eine allzu ver- geistigte Weltanschauung? Wie viele bedürfen noch der „geistigen" Getränke, um sich zu steigern, der Sensationen, der Aufpeitschung des Fleisches ! Sie alle stehen noch, mit einem Teil ihres Wesens mindestens, auf der Stufe, welcher die Orgie oder das Menschen- opfer der eigentliche Ausdruck des religiösen Empfindens wäre. . . . Des Menschenopfers bedürfen die Hindus nicht; sie sind zu weib- lich-sanft, um am Zerstören Wollust zu empfinden. Aber der ganze schaivaitische Kult ist durchgedrungen vom Geist animalischer Prokreation. Hier, zum erstenmal in meinem Leben, sehe ich Schaustellung sexueller Vorgänge nicht als Unreines, sondern als Heiliges aufgefaßt; als das Sinnbild des Göttlichen in der Natur, Keine obscöne Assoziation schien den Frommen in den Sinn zu kommen, die bei der Feier zu Rämeshväräm der von Puppen versinn- bildlichten Vereinigung Shivas und Shaktis beiwohnten. Keine der Frauen, die sich heute Nacht hier vor dem Lingam neigen, scheint anders gesinnt, als eine spanische Nonne etwa, die zur Unbefleckten Empfängnis fleht. Von allen gläubigen Hindus wird die sinnliche Liebe als Sinnbild göttlicher Schöpferkraft verehrt und benutzt als Gefäß frommer Opfergedanken. Mann und Weib, lehren die Shastras, sollen sich niemals nahen, ohne derweil zu gedenken, daß Brahma durch sie schafft. Als göttlich sollen sie einander verehren, sofern sie lieben, im Geist nicht des Genießens, sondern gotthaften Gebens das Leben fortpflanzen ; so wird alles triebhaft Tierische zum Ausdruck des Göttlichen geweiht. Bedeutung der indischen Götter. 79 Nie habe ich Gebärden gesehen, die dem Geiste der Frucht- barkeit so gemäß wären, wie die wiegenden Bewegungen der Baja- deren während festlichen Umschreitens der Götterbilder. Und wie ich nun meinen Blick von jenen diesen zuwende, zu der seltsam übertreibenden Stilisierung, die ihre Formen beherrscht, wird mir auf einmal die Identität des Geistes in beiden Erscheinungen bewußt. Diese Gestalten sind Verkörperungen unserer Grund- triebe, wie sie gegenständlicher schwer hätten erdacht werden können. Was sind diese, ohne Rückbezug auf eine geistige Ein- heit, auf das, was man Ich oder Seele heißt? Gewalten für sich, wahrhaftige Dämonen, denen Menschengestalt kaum angemessen scheint. Wer Berserkern oder Satyrn begegnet ist, Leibeigenen der Lust oder der Zerstörungswut, wird aus Erfahrung wissen, was ich meine; solche Wesen sind keine Menschen; sie lügen, indem sie sich menschlich darstellen ; sie sind Personifikationen elementarer Naturkräfte. Aber das gilt nicht nur von diesen, es gilt von allen, welche irgendein Trieb ganz besitzt. Es gilt von den Müttern, die im Gattungsinstinkte aufgehen, von den Bräuten, denen der Gatte alles ist ; es gilt von den heiligen Männern und Frauen» deren Herz in göttlicher Geberlust die Welt umfängt: jeder Trieb gibt dem Menschenantlitz einen neuen verwandelnden Aus- druck : hier vertierend, dort verschönernd, hier verteufelnd, dort verklärend, so sehr, daß man mit Recht von „Transfigurieren" spricht. Aber solchem Ausdruck sind die Ausdrucksmittel der phy- sischen Natur oft nur unvollkommen gemäß. Der Religiöse ahnt hinter der Erscheinung einen besonderen Geist, der den Menschen zeitweilig besitzt ; den Künstler treibt es, ihm einen Leib zu schaffen,, der sein Wesen ganz zum Ausdruck brächte. So sind auf dem weiten Erdenrund Legionen von Göttergestalten entstanden. Die meisten sind nicht, was sie sein sollen. Aphrodite ist nicht die personifizierte Liebe, die Jungfrau Maria nicht die personifizierte Mutterschaft. Beide Göttinnen sind nur Abbilder von Menschen, keine selb- ständigen Verkörperungen von Urtrieben. Der Westen war selbst im Mittelalter zu wissenschaftlich gesinnt, um Irrationelles voll- kommen auszudrücken. Gerade dieses haben die Hindus vermocht. Die Gestalten des indischen Pantheon sind, wo sie Urkräfte ver- körpern, von solcher Überzeugungskraft, daß ich heute jenem Seher glauben möchte, der mir einst sagte, sie seien wahrhaftige Abbilder göttlicher Wirklichkeit. $0 Bedeutung der indischen Kunst. Wahrscheinlich sind nur Menschen solcher Schöpfertat fähig, die sich zur geistigen Persönlichkeit noch nicht verdichtet haben ; die wesentlich vielfach sind, bald von diesem, bald jenem Trieb be- sessen, ohne deutliches Bewußtsein des vereinigenden Bands. Solche Menschen sind, vom Atman her betrachtet, oberflächlich, denn vom Selbste wissen sie nichts. Eben deshalb aber kann ihr Tiefstes die Oberfläche beseelen, wie dies beim Durchgeistigten nimmermehr geschieht ; die ganze Tiefe der Welt kann eine sinnlose Leidenschaft laden. Die einzelnen Triebe verdichten in sich dann soviel Sub- stanz, wachsen zu Wesenheiten von so massiver Wucht heran, daß man sich nicht darüber zu verwundern braucht, wenn auch bei uns noch heute viele wähnen, sie seien wesentlich tief. In eben dem Sinn ist das indische Pantheon, obschon an sich ein Oberflächen- produkt, dennoch ein Tiefes: ein so tiefgreifender, gespannter, er- schöpfender Ausdruck des Oberflächlichen in Mensch und Natur, wie ihn eine vertieftere Menschheit nicht hätte finden können. Es wundert mich nicht, daß europäische Besucher der drawi- dischen Kunst so schwer gerecht werden : denn keiner unserer gewohnten Maßstäbe ist hier anlegbar; nichts vielleicht am Tempel von Madura ist von der Vernunft her zu verstehen. Kein ein- heitlicher Grundriß Jiegt dem Bau zugrunde, keine leitende Idee hat Ausführung und Ausschmückung beherrscht, kein geistiger Gehalt beseelt das Ganze. Seine Größe, seine Monumentalität ist ohne symbolische Bedeutung: sie ist das Zufallsergebnis reicher Mittel. Seine Zinnen scheinen planlos hervorgesprossen, wie die Arme eines Korallenstocks, seine Ornamente wildem Fleisch gleich hervor- gewuchert zu sein. Von allen Vergleichen der gegenständlichste ist der, welcher diesen Tempel zu einem Knospenagglomerat in Be- ziehung setzt: allenthalben wachsen, drängen, stoßen Einzelgebilde aneinander in überschwänglicher Fülle; die nur undeutlich erkenn- bare Gesamtgestalt wirkt als Naturspiel fast im gleichen Maße, wie die Form einer gotischen Kathedrale, die hie und da in den Riff- bergen Tirols des Steigers Auge überrascht. Aber wer die eigensten Voraussetzungen dieser Kunst erfaßt hat, dem erscheint sie tief bedeutungsvoll. Sie ist der Höchstaus- druck physischer Imagination. Gestern schrieb ich vom Sinn der indischen Göttergestaltung: in ihr hätten die Urtriebe Körper ge- Animalität des Hinduismus ; indische Übertreibung. 81 funden, wie sie entsprechender kein anderes Volk erdichtet; und fügte hinzu, daß solche Schöpfung nur einer unvereinheitlichten Psyche gelingen konnte, einer Psyche, die noch wesentlich vielfältig ist, unverdichtet zur geistigen Einheit; die hinduistische Plastik als Ganzes bedeutet die Wiedergeburt in der Phantasie der Gesamt- heit unintellektualisierter Lebenskräfte. Das Wenigste am Leben ist von Hause aus vernunftgemäß, läßt sich ursprünglich auf einen geistigen Grund zurückführen ; Begierden, Empfindungen und Ge- fühle, Impulse und Wollungen, Wachstumsdrang und Altersverzicht sind wesentlich irrationale Phänomene, und man nimmt ihnen ihre Eigenart, indem man sie rationalisiert. Diese Eigenart kommt in der indischen Kunst in einzigartiger Unverfälschtheit zur Geltung. Der Tempel von Madura scheint entstanden, wie ein primitiver Organismus erwächst: planlos, ziellos, ohne Selbstkontrolle, jedem Drang blind folgend, jäh umschlagend von einer Phase in die andere, in seinen Grenzen nur vom Schicksal zusammengehalten ; dafür desto unbefangener sich darstellend in jeder Stimmung, un- verkümmert durch Verzicht und Vorurteil, voll ausgeschlagen, voll- blütig und farbig. So wirkt das Ganze notwendig unvollkommen, aber das Einzelne ist meistens schön. Die Meisterschaft der Hindus in der Detailarbeit gegenüber ihrer Unzulänglichkeit im Planvoll- Großen hat hier ihren tiefsten Grund. In Ceylon verweilten meine Betrachtungen oft beim vegetations- artigen Charakter tropischer Geistesschöpfung; und ich sprach die Vermutung aus, der Hinduismus in seinem unübersichtlichen Reichtum sei wohl auch als vegetativer Vorgang zu verstehen. Ich hatte recht im Prinzip ; aber damals wußte ich nicht, welch' unge« heure Potenz dessen Geiste innewohnt: auch dort, wo er tropische Menschen besaß, hat er, in allen positiven Phasen seines Lebens, seine bestimmende Kraft in hohem Grade bewahrt; was vom cey- lonesischen Buddhismus durchaus gilt, ist beim Hinduismus nur in- soweit wahr, daß es das Grundgewebe seines Körpers bildet. Aber freilich handelt es sich auch bei ihm um kein freies Geistesschaffen : es handelt sich um animalisches Werden. Um ein genau so Natur- haftes wie bei der Vegetation,' nur aktiver, selbstbestimmter, zielstrebiger. Ein energischer Geist liegt hier dem Wachstum zu- grunde, was dessen Gebilden eine Kraft, eine Gespanntheit gibt, die den buddhistischen fehlt. Ich gedenke der ungeheuren Über- treibungen, die alle indische Mythenbildung auszeichnen: hier Keyserling, Reisetagebuch. 6 82 Shiva göttlicher als Zeus. trinkt ein Weiser das Weltmeer aus, dort ehelicht ein Fürstensohn zehntausend Jungfrauen in einer Nacht ; viele Lakhs von Geburten hat Gautama durchgemacht, ehe daß er zum Buddhatum reif ward, Millionen von Armen schwingt Krishna mit einem Mal. Ich ge- denke des überschwänglichen Reichtums an Göttern, die das in- dische Pantheon zusammensetzen, der unübersehbar vielfältigen Vorschriften des tantrischen Rituals ; der Überzahl an Worten, Be- griffen und Vorstellungen mit denen das Inderdenken operiert: das sind freilich Wucherungserscheinungen und insofern vegetativ, aber eine so fruchtbare Imagination steckt hinter ihnen, und sie selbst sind so lebendig, so bewegt, daß man an Tierleiber zum Vergleiche denkt, nicht an noch so wildwuchernde Gewächse. Mir ist beim Anblick der indischen Formenwelt, als hätte die Phantasie des Fleisches sie erschaffen, als hätte die Einbildungskraft eines großen Dichters sich den Körperzellen eingebildet, so daß jetzt der Körper im gleichen Sinne produziert, wie jener sonst in der psychischen Sphäre. Was geschähe, wenn eine freieste Phantasie unentrinnbar an Fleisch gefesselt wäre? — Es entständen eben solche Gebilde, wie sie für den indischen Mythos charakteristisch sind. Die Idee der Allmutter- schaft stellte sich, genau wie am Haupt-Gopuram des Madura- tempels, in unendlichem Über- und Aneinandersprossen milch- strotzender Brüste dar, die Allmacht verkörperte sich in hundert- tausend Organen, und so fort. So schüfe der Körper, wenn er dichten könnte. So hat der Hindugeist in seiner größten Zeit ge- schaffen. In seiner Kunst erscheint er ganz unintellektualisiert, un- vereinheitlicht, ohne Einheitsbedürfnis ; eben deshalb aber auch aus- drucksfähiger, wo es Irrationelles darzustellen gilt, als irgendein anderer. Ihm allein vielleicht ist es geglückt, an sich Unsichtbares überzeugend in die Welt des Sichtbaren hinauszustellen. In ihm haben eben die dunkelen bildenden Kräfte mit der gleichen Un- befangenheit gewirkt, wie sonst nur im Körper, wo der Drang fast mit Unvermeidlichkeit zur entsprechenden Organschöpfung führt. Im einen tanzenden Shiva steckt mehr Göttereigenart als im ganzen Heere der Olympier. Der Polytheismus ; Vorzüge der Vielgötterei. 83 Mehr und mehr nimmt der Geist des Polytheismus von meiner offenen Seele Besitz. Wie selbstverständlich substantifiziere ich, was an Kräften in und außer mir wirkt und stündlich reicher wird mein Pantheon. Entsprechend farbiger wird mein Er- leben. Indem ich jeder Sondereregung ein Sonderwesen zuerkenne, werde ich aufmerksamer auf sie und mein Qualitätsbewußtsein diffe- renziert sich. Dies Universum erscheint mir als buntes Durch- einander unendlich vieler Monaden, jede einzelne deutlich charakteri- siert, keine unmittelbar auf andere zurückführbar noch von iden- tischen Normen regiert, aber keine der anderen widersprechend. Ich werde auch etwaiger Widersprüche nicht gewahr, denn deren Begriff bedeutet mir nichts mehr. Was sollen Einheit, Zusammen- hang, Konsequenz in einer Welt, die nichts als Qualitäten enthält? Es gibt keinen Generalnenner für Qualitäten. So bekümmern mich auch die Probleme nicht mehr, die dem Gottsucher sonst so viel Sorge bereiten — des Bösen, seiner Vereinbarkeit mit dem Guten, der allzuhäufigen Unrentabilität eines tugendsamen Lebenswandels und andere mehr: es gibt eben böse und gute Gewalten, moralische und amoralische ; die Macht ist nicht notwendig an Liebe gekettet, noch das Wissen an einen guten Willen ; das Sonderschicksal des Einzelnen wie das totale der Welt hängt vom Zusammenwirken so vieler selbständiger Variablen ab, daß es selbst Brahma in seinem Mathematikeraspekte nimmer gelänge, das Geschehen aus all- gemeiner Formel heraus zu verstehen. Worauf es ankommt, ist die Augen offen zu halten, möglichst viel Sondermomente zu übersehen ; allen günstigen Einflüssen die Wege zu ebnen, den ungünstigen nach Maß der Kräfte vorzubeugen. Und hierzu gibt es ja, allen Göttern sei Dank dafür, Regeln. Wieder und wieder haben Sie gnädig Ge- bete und Riten geoffenbart, welche dieses und jenes bewirken, wieder und wieder Winke dafür gegeben, was einer in diesem und jenem Falle tun und lassen soll. So erscheint das Leben, wenn man nur treu befolgt, was die Shastras und Tantras verordnen, wenn man nur nicht versäumt, sich in allen entscheidenden Momenten das Gutachten weiser Brahmanen einzuholen, in einer geisterdurch- schwirrten Welt kaum gefährdeter, als es dem scheint, der nichts Überirdisches glaubt. Sicher aber ist es interessanter. Jeden Augen- blick geht irgendetwas vor sich, ist irgendetwas zu beachten, zu bedenken, was noch so geringfügigem Erleben transzendente Be- deutung verleiht; überall sind Wesenheiten im Spiele, die zum 6* 84 Monotheismus, Polytheismus und Mystik. mindesten merkwürdig sind. So gefalle ich mir als Göttergläubiger besser, als ich mir je früher gefallen habe. Ich bin reicher, farbiger, versatiler, viel nuancierter im Erleben und Auffassen. Mich wun- dert nicht mehr, daß große Kunst immer nur unter Polytheisten geblüht hat (denn die katholische Kirche ist ein polytheistisches System, und die meisten größeren Dichter haben sich gleich Goethe als Künstler zur Vielgötterei bekannt) : nur wo das Besondere un- befangen als solches gelten gelassen wird, wo die Einbildungs- kraft, anstatt es zu reduzieren, es zu verherrlichen, zu verstärken strebt kann Künstlerschaft Großes schaffen. Umgekehrt ist jede Künstlernatur typischerweise durch die Züge ausgezeichnet, welche polytheistische Völker definieren : das Unvereinheitliche ihrer Psyche. Hätte Shakespeare sich ganz zur geistigen Persönlichkeit vertieft — nie hätte er so viel Menschen beseelen können. Der Monotheismus löst früher oder später überall, wo nicht andere Momente dem entgegenwirken, den reicheren Glauben ab ; wenn die Seele sich vereinheitlicht hat, wenn ein eindeutiges Ich- bewußtsein an Stelle des der Vielfachheit der Triebe getreten ist, ballt auch die Göttersubstanz, bisher verstreut, sich zu einer Gottheit zusammen. Damit löst Ordnung, Gesetzmäßigkeit, Zu- sammenhang das ursprüngliche Wirrsal ab. Aber gleichzeitig wird das Weltall widerspruchsvoll: jetzt, wo alles zusammenstimmen soll, zeigt sich erst, wie wenig es wirklich zusammenstimmt. Es wird ferner verdürftigt: denn nun, wo ein Ideal über der ganzen Schöp- fung schwebt, wird das geleugnet, ignoriert oder bekämpft, was zu ihm in keiner denkbaren positiven Beziehung steht, und da dessen nur zu viel ist, wird die Natur in ihrem unbefangenen Wachstum gehemmt. Das Weltall wird gefestigt, moralisiert ; überall unter Monotheisten sind die Charaktere stärker, die Grundsätze fester, die Lebensformen reiner. Aber dafür sind ihre Seelen farbloser, starrer, meist auch dürrer. Ein Freund, einst ein begnadeter Don Juan^, hatte sich zum mustergültigen Ehemann verwandelt. Ich fragte ihn, wie er sich nun vorkomme? Er erwiderte seufzend: die Tugend hat freilich ihr Gutes, allein ich spüre, daß meine Natur versimpelt ; zu Viele ihrer Seiten bleiben außer Gebrauch ; ich fürchte, es be- kommt dem Manne nicht gut, nur einem Weibe zu leben. Poly- und Monotheismus widerstreiten sich ; der Mystiker hiergegen, dessen Gottesbewußtsein man so- schlecht meist Pan- theismus heißt, ist dem Polytheismus niemals feind, im Gegenteil: Brahmanismus und Volksglauben. 85 in dessen Atmosphäre ist seinesgleichen immer am besten ge- diehen ; so in Europa im Schoß der katholischen Kirche. Es ist nur bedingt richtig zu behaupten, daß der Mystiker die Einheit der Gottheit erlebt: sein Erlebnis liegt jenseits aller Zählbarkeit; wenn er von Einheit spricht, so meint er das, was weder Einheit noch Vielheit und gleichzeitig beides ist, er nennt es Einheit, weil dieser Begriff auch hienieden sowohl Zahl als Nicht-Zahl bezeichnet. Auf alle Fälle ist er niemals Monotheist im jüdisch-puritanisch-islami- schen Sinne, obschon natürlich Mystiker genug auch unter vorgeb- lichen Monotheisten vorkommen. Mystiker ist der Kontemplative, welcher ganz von innen heraus lebt, ganz im Wesen und für das Wesen; dessen Bewußtsein im Atman Wurzel gefaßt hat, der folglich vollkommen wahrhaftig ist, ganz unbefangen sein Innerstes ausströmt. Ein solcher kann keine Lebensäußerung verleugnen. In jeder sieht er die göttliche Kraft am Werk, jede ist ihm ehrwürdig, und Un- befangenheit, wie immer sie sich äußere, gilt ihm heiliger überall, als Bestimmtheit durch äußere Norm und Vorurteil. So versteht es sich von selbst, daß für das indische Bewußtsein, das mystisch ge- weckter ist, als irgendein anderes, keinerlei Widerstreit besteht ' zwischen dem animalischen Hinduismus und der geläuterten Weis- heit der Rishis : ihm sind es Ausdrucksformen des Gleichen auf ver- schiedenen Stufen. Der unbefangene und wahrhaftige primitive Mensch kann nicht umhin, sich als Vielfachheit von Trieben zu spüren ; der unbefangene Weise ebensowenig umhin, sich aller Ge- staltung überlegen zu wissen. Und beider Erlebnis hat den gleichen Sinn. Freilich ist es verfehlt zu glauben (wie die indische Scholastik dies vielfach wahr haben möchte), die vielfache Gestaltung sei von vornherein als Symbol des Einen gemeint worden: entstanden ist sie als animalische Knospung ; ursprünglich liegt keinerlei Einheit dem indischen Pantheon zugrunde. Aber dessen Vielfachheit be- deutet eben das, wie das Einheitsbewußtsein reiferer Stadien; des- halb ist die Priesterschaft metaphysisch dennoch im Recht, allen Götterglauben für orthodox, als mit den Veden und Upanishads ver- einbar zu erklären. In empirischer Hinsicht ist freilich mancherlei gegen ihre Auslegungen zu erinnern : der vielleicht größere Teil aller Göttersagen ist abseits von der brahmanischen Tradition entstanden, gehört dem folklore der nicht-arischen Ureinwohner an, ist erst spät dem Brahmanismus angegliedert worden, und erhielt von diesem dann einen Sinn, den er von Hause aus sicher nicht besaß. Diese 86 Wie Oberflächliches tief wird; Irrtum als Wahrheitsausdruck. Verhältnisse hat wohl Sir Alfred Lyall richtig erkannt und aus- einandergesetzt. Allein die Fälschung, welche die Brahmanen ver- übt, war metaphysisch berechtigt: die Götter sind und bedeuten wirklich das, was die Brahmanen von ihnen behaupten; wenn diese lehren, ein Lokalgott eines obskuren Stamms sei tatsächlich ein Vishnu-Avatar und als solcher ein Aspekt des Einen Brahman, so sprechen sie damit, in mythisch-farbiger Ausdrucksweise, eine metaphysische Wahrheit aus: in jedem Triebe schafft das Göttliche ; alle Oberfläche wird von der Tiefe her beseelt, kann insofern als deren Ausdruck betrachtet werden. Und indem sie also betrachtet wird, wird sie zur Tiefe. Der Volksglaube vertieft sich dank der Deutung, die er seitens der Wissenden erfährt, so daß zuletzt auch empirisch wirklich wird, was zuerst nur symbolisch wahr gewesen war: er wird zum Ausdruck des höchsten Wissens. Kein indischer Weiser, auch Buddha nicht, hat den Götter- glauben jemals bekämpft; die meisten, allen voran Shankara, der Begründer des radikalen Monismus, haben ihn selber aufrichtig be- kannt. Sie waren sich einerseits der Unausdrückbarkeit des Gött- lichen als solchen, andrerseits der unendlichen Anzahl möglicher Manifestationen desselben so tief bewußt, daß sie den vielfachen Ausdruck dem einfachen meistens vorzogen. Mir fällt die berühmte Hymne an Mahadevi (aus dem fünften Mätätmya des Tschandi) ein: dort wird sie, die Göttin, als Ishwara, als Höchstes Wesen verehrt ; im Besonderen bald als Gangä, bald als Saraswati, bald als Lakshmi ; und in einer Strophe wird von ihr, nachdem verkündet ward, daß sie in der Form des Friedens, der Kraft, der Vernunft, der Erinnerung, der Berufstüchtigkeit, der Fülle, der Gnade, der Demut, des Hungers, des Schlafes, des Glaubens, der Schönheit und des Bewußtseins alle Wesen der Welt beseele, auch gesagt, daß sie in der Form des Irrtums allen Geschöpfen innewohne. Mir scheint: diese Vielfachheit in ihrem Zusammenhang ist ein besserer Ausdruck dessen, was der indische Fromme meint, als irgendeine tiefsinnig-einfache Formel sein könnte. Wie sollten unsere abgeklärten Begriffe dem irrational- animalischen Werden der indischen- Formen gerecht werden ! Nicht umsonst gibt es im Sanskrit vielleicht mehr Worte für philosophisch-religiöse Gedankeninhalte als im Griechischen, Lateinischen und Deutschen zusammengenommen : wie Wortreichtum des Sanskrit; Brahmanismus kein einiger Geist. 87 die Sprachen primitiver Völker, wo diese begabt, an Bezeichnungen für Konkretes reicher sind, als die entwickelterer, weil frühe Men- schen nicht zu abstrahieren wissen und daher viele Sonderaus- drücke anwenden eben dort, wo spätere mit wenigen Allgemein- begriffen auskommen, so war der Wortschatz der (allerdings ab- straktionsfähigen !) alten Inder deshalb so reich, und wurde reicher fast mit jeder Generation, weil mit noch so klug gewählten Allge- meinbegriffen ihrer überreichen Vorstellungswelt schlechterdings nicht beizukommen war. Allgemeinbegriffe nützen nur dort, wo das Erkenntnisobjekt rational oder rationalisierbar ist ; und dieses gilt von der indischen Gestaltung nirgends. Alles Lebendige in diesem wundersamen Land ist fleischmäßig-unverantwortlich hervorge- wachsen, aufs Geratewohl, ohne Vorsatz und festes Ziel. So läßt sich nicht allein in seinen Tempeln kein Grundriß nach- weisen und innerhalb seiner Glaubensformen keine einheitliche Grundidee — es gibt in Indien auch keine Natiort ; keinen Volks- geist und kein Volksbewußtsein ; es gibt keine Hindus in dem Sinne, wie es Deutsche und Engländer gibt. Synthesen der genannten Art entstehen nur dort, wo die Vernunft noch so unmerklich das Werden der Formen regiert, wo Verallgemeine- rungsbedürfnis und Einheitsstreben vorliegen ; und diese fehlen in Hindustan. Hier wachsen die besonderen Formen planlos in- und durcheinander, bald schroff und dauernd geschieden, bald die un- wahrscheinlichsten Verbindungen eingehend; jede Form gilt als solche berechtigt, nie wird versucht ihre Eigenart auszumerzen ; es ist Raum für alles in der Welt. Man wähne nicht, der Brahmanis- mus läge immerhin der Mannigfaltigkeit als einiger Geist zu- grunde: erstens ist er kein einiger Geist, zweitens beseelt er nicht alle Formen, und drittens tut er dies, wo er es tut, in so un- bestimmtem Sinn, daß er zwischen den Sondergebilden keine kon- krete Verbindung schafft. Von einem Beseelen aller Erscheinung in dem Sinne und Maße, wie der Geist des Buddhismus alles Leben auf Ceylon beseelt, kann beim Brahmanismus nicht die Rede sein. Dieser Unbekümmertheit um Zusammenhang und Einheitlich- keit verdankt das Indertum seine einzigartige Farbenpracht, an der mein Herz sich täglich mehr erfreut. Noch bin ich in Indien kaum gereist, und habe doch schon mehr Mannigfaltigkeit gesehen, als irgendwo sonst unter Menschen. Nie und nirgends hat hier die gestrenge Vernunft das leichtsinnige Wuchern behindert. Das ist 88 Die indische Logik; Inder keine Rationalisten. um so bemerkenswerter, als die Hindus doch berühmt sind gerade als Dialektiker, als Logiker und verzwickte Systematiker; alles und jedes haben sie in ein System gebracht, von der Dichtkunst bis zum Räuberhandwerk, vom Lebenswandel, der zu Gott führt, bis zur Art, wie die Brautnacht verbracht werden soll: wie reimt sich das mit ihrer Irrationalität zusammen? Es reimt sich insofern zusammen, als die Systemsucht ein irrationaler Trieb unter anderen ist, gleich allen anderen seine selbständigen Wege geht, gleich allen anderen unverantwortlich wuchert. Ebenso üppig und wild, wie die Vor- stellungen, vegetieren auch deren Interpretationen ; ebenso schranken- los, wie die Götter und Geister, vermehren sich die Systeme der Philosophie. Nie hat die Logik in Indien die Prätention gehabt, letztmögliche Zusammenhänge herzustellen ; das hat sie, in richtiger Selbsteinschätzung, der mystischen Intuition überlassen. Sie hat ent- weder Gegebenes systematisiert, oder von Gegebenem her aus- schweifend fortspekuliert, oder Vorgefundenes haarspalterisch zer- gliedert. Ihre Leistungen sind typische Scholastikerarbeiten, meist ohne jeden wissenschaftlichen Wert ; von allen Gestaltungen der in- dischen Phantasie sind sie gewiß die unerfreulichsten. Aber man tut Unrecht, indem man ihr zum Vorwurf macht, daß sie nie das Äußerste erstrebt hätte ; daß unter den Indern kein Parmenides und kein Hegel erstanden sind. An logischer Schärfe stehen die Hindus den Europäern nicht nach ; es wäre ihnen gewiß nicht schwer gefallen, ähnliche Weltsysteme zu konstruieren. Sie haben es nicht getan, weil sie als Metaphysiker zu tief hiezu waren ; sie haben ge- wußt, daß der logische Verstand nicht bis zur Wurzel reicht; sie sind nie Rationalisten gewesen. Das ist denn wohl eines der großen Beispiele, die das Indervolk der Menschheit gegeben hat: daß Ver- standesbegabung nicht notwendig Rationalismus zeitigt ; daß ein Höchstmaß logischen Scharfsinns die Unbefangenheit nicht not- wendig vernichtet. In Indien gelten drei Grunddeutungen der Vedänta- Sütras als gleich orthodox : eine monistische, eine dualistische und eine theistische ; und von diesen ausgehend mehrere Hunderte sich mehr oder weniger widersprechender Systeme. Was bedeutet das? daß die Inder sich tief bewußt sind der Kontingenz aller Vernunft- konstruktion ; daß sie wissen, daß es keiner gelingen kann, vom metaphysisch Wirklichen ein unverfälschtes Bild zu geben ; daß sie alle ä peu pres bedeuten. Die Europäer, wenn sie Ähnliches er- kennen, erklären der Vernunft daraufhin den Krieg. Die Inder, auch Geschichte und Mythos; die indische Bewußt Seinsfarm. 89 hierin die weiseren, lassen sie desto freier gewähren. Keine Ge- staltung ist metaphysisch ernst zu nehmen ; aber alle sind empirisch existenzberechtigt. So mag, wenn es den Körper freut, Gestalt auf Gestalt aus sich herauszustellen, wenn die Einbildungskraft sich daran ergötzt, die Himmel mit Göttern zu Übervölkern, auch die Ver- nunft unbehelligt gewähren. Ich sitze an einem der Teich im Innern des Heiligtums und höre zu, wie ein Brahmane aus dem Ramäyäna vorträgt. Sein Gehilfe unterbricht wieder und wieder den Sanskritvortrag durch psalmo- dierende Erläuterung im Volksdialekt. Mit glühenden Augen, mit einer Aufmerksamkeit, die an Verzückung grenzt, lauscht die Menge dem heiligen Gesänge. Die großen Epen — das Ramäyäna, der Mahäbhäratam — be- deuten den Hindus, was den vertriebenen Juden etwa das Buch der Könige bedeutet hat: die Chronik der Zeiten, da sie irdisch groß waren und zugleich mit den Himmlischen täglichen Umgang pflogen. Sie bedeuten ihnen also menschlich mehr als alle Shastras. Kein ein- facher Hindu zweifelt an ihrer historischen Wahrheit und nicht viele unter den Gelehrten tun es. Gern zitieren diese Episoden aus dem Mahäbhäratam zu wissenschaftlich gültigem Beweise ; nicht selten werden gar Geschehnisse aus dem Himmel angeführt zur Erläuterung irdischer Ereignisse. Die Inder wissen von Historie nichts ; haben kein Organ für geschichtliche Wahrheit ; ihnen sind Mythos und Wirklichkeit eins. So wird bald die Sage als Wirklichkeit beurteilt, bald die Wirklichkeit zur Sage verdichtet und jedesmal als verstünde sich dies von selbst. Nicht nur der Tote und der Ferne wird ver- wandelt — immer wieder ist ein Lebender und Anwesender als Avatar erkannt und von der Menge als Gott verehrt worden. Im* übrigen verfolgt das Leben seinen normalen Lauf. Das Auftauchen eines Gottes auf Erden erscheint den Hindus von heute nicht außer- ordentlicher, als den homerischen Helden das Eingreifen der Olym- pier in den troianischen Krieg. Sie glauben alles mit gleicher Bereit- willigkeit, das Alltägliche wie das Unwahrscheinliche, und nehmen nichts, weil es historisch-wirklich sei, besonders ernst. Erst hier, wo ihre konkrete Bewußtseinsart sich mir erschlossen hat, gelingt es mir, diese Tatsachen zu verstehen. Ihr Unzulängliches liegt auf der Hand: die Hindus unterscheiden nicht rein zwischen 90 Wahrheit und Bedeutsamkeit ; der Sinn als Primäres. Dichtung und Wahrheit, Traum und Wirklichkeit, zwischen Einge- bildetem und Vorgefallenem ; so ist auf ihre Aussagen selten Verlaß, ist ihre Wissenschaft unexakt, sind ihre Beobachtungen unpräzis. Aber jede Bewußtseinslage hat ihr Positives, und dieses werde ich nun je mehr und mehr gewahr. Schon zu Rämeshväräm schrieb ich es nieder, daß eine Einstellung, bei welcher der Akzent des Bewußt- seins auf der Vorstellung als solcher ruht, nicht auf dem äußeren Gegenstande, dem sie gilt, im allgemeinen Seiten der Wirklichkeit wahrnehmbar macht, die der Aufmerksamkeit sonst entgehen. Das gilt im Besonderen auch von der, dank welcher Wirklichkeit und Mythos in eins verinnen. Wie verwandelt der Mythos die Wirklich- keit? auf sinnlose Weise oder einem Sinn gemäß? Immer sinnvoll; in der mythischen Umdichtung wird das Bedeutsame des Wirklichen gesteigert ; es tritt das Wesentliche mehr und mehr hervor. Zwar nicht notwendig das Wesentliche dessen, der den Gegenstand der Umdichtung bezeichnet, aber immer das, was dem Dichter und seiner Zeit als das Wesentliche an ihm erschien. Der moderne okzi- dentalische Mythos verwandelt beinahe wissenschaftlich exakt: aus jeder neuen Metamorphose geht Goethe seinem metaphysischen Selbste ähnlicher hervor; der indische hat meist nur das gesteigert, was sein Held dem Volke bedeutete. Betrachte ich diese Tatsachen nun im Zusammenhang mit dem Problem des Positiven an der in- dischen Bewußtseinslage, so erscheint dieses seiner Lösung nicht mehr fern : in seiner indischen Lage faßt das Bewußtsein unmittelbar, das Bedeutsame als solches auf. Es steht jedem Ereignis so gegen- über, wie der Fromme einem religiösen Mysterium. Oder, um einen anderen, prägnanteren Vergleich anzuführen : es erlebt so, wie die Zeitgenossen Goethes erlebt haben müßten, um seine ewige Bedeu- tung gleich klar zu erkennen, wie wir. Was ist nun das Wertvolle, das Wesentliche — die Bedeutung oder der Tatbestand? Die Be- deutung ist es, sie allein ; Tatsachen als solche sind ganz gleich- gültig. Also hat das mythisierende Indien, vom Standpunkte des Lebens her beurteilt, gegenüber dem exakten Europa das bessere Teil erwählt. Ich verweile in der Bewußtseinslage, von welcher her die Schlacht von Kurukshetra, in der die Götter den Menschen sichtbar beistanden, gleich wirklich erscheint wie die von Sedan. Ist die Welt, die sich nun vor mir aufrollt, nicht wesenhafter als die des For- schers? Ist sie nicht in einem viel höheren Sinne wirklich? Unauf- Die Welt des Sinnes; Wissenschaft als Mäyä. 9 1 haltsam nehmen die Lehren der indischen Weisheit von meinem kaum mehr befremdeten Geist Besitz. Da heißt es, der Sinn sei das Primäre, das Ewige, das wahrhaft Wirkliche ; was man Tatsache nennt, sei nur dessen Abbild, unverläßlich, wie alles was Mäyä wirkt ; die Substantialität einer Erscheinung messe sich daran, inwieweit sie den Sinn zum Ausdruck bringt. Dementsprechend sei die Astralwelt wirklicher als die körperliche, und wirklicher als jene die Ideenwelt, denn in jeder folgenden trete der Sinn unbehinderter und reiner an den Tag. Hienieden aber sei eben deshalb inspirierten Gedanken höhere Wirklichkeit zuzusprechen als den Ereignissen, die sie schein- bar widerlegen, denn die Dinge dieser Welt vergehen, der Sinn aber währet ewiglich ; und Sagen seien dichter als alle Geschichte, weil sich der Sinn in ihnen in ewiger Symbolik darstellt, in einer Gestalt, die viele Kaipas überdauert. — Hat Krishna wirklich gelebt, dem Ar- juna wirklich vor dem Entscheidungskampf die Rede vorgetragen, die heute im Bhagavat-Gita zu lesen steht? Gewiß, sofern du es glaubst. In den höheren Welten lebt der Sinn an sich, ohne eigene Gestalt, als solcher dem Geist unfaßbar. Er äußert sich, wie du es selber willst; so wie du es glaubst, wünschest, denkst, so tritt er zutage; als Gott oder Göttin, als System der Philosophie, als Bild der Vorzeit, als Legende. Das überläßt "er dir. Aber je mehr du strebst, sich in sein Wesen hineinzuversenken, desto würdigere Bilder kommen dir. — Ich halte Zwiesprache mit dem Geiste dieser Weisheit. Er erscheint mir als Mahaguru, als großer Lehrer, der mir sachte und freundlich die Wege weist. Laß' dich nicht täuschen von der schlimmen Mäyä, der Göttin eurer westlichen Wissenschaft! Ihre größte List ist nämlich, daß was sie schafft, der Kritik des Ver- standes immer standhält. Aber das Beweisbare ist niemals wesen- haft. Das Beweisbare vergeht oder verwandelt sich zu einem neuen Beweisbaren und täuscht den Ungewitzigten in jeder Gestalt mit gleichem Erfolg über das Wesen fort. Gewiß sind auch die Ein- bildungen Mäyä, sie haben jedoch den Vorzug vor der Körperwelt, daß sie ihr Eigenwesen aufrfehtiger zur Schau tragen, überdies dem Sinn ein biegsameres Medium bieten. Wie fern stehen eure Ge- lehrten dem Herzen der Wirklichkeit! Sie haben Gehirne, wie kein Inder vielleicht es besessen. Aber anstatt damit dem Sinne nachzu- forschen, vergeuden sie die kostbare Zeit ihres Menschendaseins auf Studien gleichgültiger Unwirklichkeit, und wähnen dann, sie hätten Wunder was erreicht, wenn ihre Erkenntnisse objektiv sind ! Natur- 92 Der indische Tanz. lieh sind sie das ; sie sind aber gleichzeitig sinnlos. Und sieh dir hingegen meine Hindus an : die ahnen nichts von exakter Forschung ; die finden sich in der Mäyä gar nicht zurecht; die versagen nur zu oft in dieser Welt. Dafür stehen ihre Seelen weit offen allen mög- lichen Einflüssen des Sinns und alle wandeln den Weg zur Befreiung. — Der Tempelhüter ruft mich an ; es sei Zeit das Atrium zu ver- lassen. In der Tat sind alle Badenden fort. Der Vortrag des Ramäyäna hat aufgehört. Nur einige nackte Yogis harren noch aus in regungsloser Meditation. TANJORE. Viele Stunden lang habe ich heute den Tänzerinnen des Tem- pels zugeschaut. Sie tanzten vor mir, zur Begleitung jenes seltsamen Orchesters, das bei allen heiligen Zeremonien In- diens spielt, in halbdunkler Halle; und je länger sie tanzten, desto mehr faszinierten sie mich. Es wird erzählt, daß Nana Sahib, nachdem er das Gemetzel der englischen Gefangenen angeordnet hatte, sich vier Nautsch-Mädchen kommen ließ, und die ganze Nacht hindurch, regungslos dasitzend, ihren wallenden Bewegungen gespannt gefolgt sei. Vormals dachte ich, zu solcher Wahl der Erholung, zu solcher Ausdauer beim Genuß, bedürfe er eines besonderen Temperaments ; heute weiß ich, daß bloßes Verständnis genügt: auch ich verlor angesichts des Nautsch jeden Zeitbegriff und fand mein Glück darin. Die Idee dieses Tanzes hat wenig gemein mit der, welche den unserigen zu- grunde liegt. Es fehlen alle großen, breiten Linienführungen, es fehlt jede Komposition, die Anfang und Ende hätte; die Gebärden bedeuten nie mehr, als ein flüchtiges Gekräusel auf ebenem Wasser- spiegel. Viele beginnen und enden mit den Händen, andere fließen langsam in den ruhenden weichen Leib zurück, und kommt es zu einer in sich vollständigen Zeichnung, so verschwimmt und ver- schwindet diese so schnell, daß sie gerade nur ein flüchtiges Auf- merken bewirkt und zu keiner anhaltenden Spannung führt. Die glitzernden Gewänder verhüllen und dämpfen die Bewegtheit des Muskelspiels, jede scharf anhebende Kurve klingt sanft in goldenen Der indische Tanz. 93 Wellen ab, in denen sich die Geschmeide wie Sterne funkelnd widerspiegeln. Diese Kunst enthält, so bewegt sie auch sei, kein einziges beschleunigendes Motiv. Daher kann man ihr endlos zu- schauen. Unser Tanz bedeutet eine bestimmte endliche Gestalt, die in der Zeit beginnt und aufhört; der Zuschauer versetzt sich in das Linienspiel hinein, wobei er sich anstrengt, identifiziert sich mit dessen Sinn und ist die Zeichnung vollendet, dann sinkt er ermüdet in sich zurück, weil keiner dauernd außer sich leben kann. Es ist unmöglich dem vollendetsten westlichen Gebärdenspiel langandauernd zuzuschauen. Anders steht es mit dem Nautsch: dessen Anblick versetzt den Zuschauer nicht aus sich selbst hinaus in ein Fremdes hinein, er läßt ihn sich seines eigenen Lebens be- wußt werden ; er exteriorisiert, wie bei der Uhr die Zeigerbewegung, seinen intimen Lebensprozeß, und dieses wird keiner je müde. Alle hastigen Bewegungen sinken, kaum hervorgesprudelt, zurück in das Bathos des ruhig dahinfließenden Lebensstroms, was diesen zum unmittelbaren Erlebnis macht. Denn den Lebensstrom als solchen spüren wir nicht; wir bemerken nicht den Kreislauf des Blutes. Unserer Dauer werden wir uns an den kleinen Vorfällen bewußt, die wieder und wieder, von der Oberfläche kommend, die tieferen Schichten in gelinde Wallung versetzen. Eben das bezwecken und erreichen die Bewegungen beim indischen Tanz. Sie sind gerade ausgesprochen genug, um den Menschen seiner selbst bewußt zu erhalten, es ihm leicht zu machen, sich leben zu spüren. Dieses ist der Sinn des indischen Tanzes. Es ist der gleiche, der aller indischen Gestaltung überhaupt zugrunde liegt. Nur tritt er beim Nautsche deutlicher zutage als sonst. In der Plastik wirkt der Reichtum der Formen so verwirrend, das der Beschauer ihren Grund leicht übersieht. Hier wie dort ist es der dunkele Grund des Lebens, als solcher formlos, unfaßbar, unverständlich. Es ist kein rationelles Prinzip, keine Idee, es ist ein rein Zuständliches. Von diesem zu- ständlichen Urgrund her betrachtet, wirkt alles Gegenständliche als zufällig, sinnlos, inkoherent, gesetz- und zwecklos. Als Erscheinung mag es immerhin wirklich sein. Wer aber nach dem Sinne fragt, der wird vom Inder aus aller Wirklichkeit fort in die namenlose Tiefe des Seins hinab verwiesen, welche die Gestalten gleich Blasen an die Oberfläche treibt. 94 Psychologie des Kastensystems. CONJEEVARAM. Aus allen Tempelpräcincten, in die man mir Eintritt gestattet, wird mein tamylischer Diener hinausverwiesen. Er ist ein Christ, mithin ein Pariah ; das erkennen alle auf den ersten Blick. Die Inder scheinen ein besonderes Organ zu besitzen, mit dem sie die Kastenangehörigkeit jedes Einzelnen, er lüge und ver- stelle sich noch so schlau, unmittelbar wahrnehmen. Dieses Mal nun fragt mich ein junger Priester, der mir durch die Heiligtümer Conjeeväräms die Wege weist, geradeaus, wie es nur möglich sei, daß ich mich von einem outcast bedienen lasse? Ob ich denn gar keine Angst hätte, mich zu verunreinigen? — Ich weiß ihm nicht zu antworten, denn nur zu gut verstehe ich bereits die indische Lebensauffassung. Wenn das Psychische das Primäre ist, wenn Einbildungen dem Beweisbaren gegenüber als Wirklicheres gelten, wenn die Vorstellung die Welt der Dinge bedingt, dann schaffen Vorurteile genau so scharfe Grenzen, wie solche in der materiellen Natur eine Gattung von der anderen abscheiden ; dann sind Angehörige verschiedener Kasten unzweifelhaft Wesen ver- schiedener Art. Dann erscheint es von unendlicher Bedeutung, mit wem man verkehrt, mit wem man ißt, kann einer durch schlech- ten Umgang genau so gefährlich angesteckt werden, wie durch Typhusbazillen. Und dieses in buchstäblichem Verstand, ja in höherem Grade. Die Psyche wird außerordentlich leicht infiziert, jeder Einfluß dringt in sie ein und verschiebt den ursprünglichen Zusammenhang. Hieraus ergibt sich denn das weitere: gilt ein be- stimmter psychischer Gleichgewichtszustand als einzig möglich, so wie uns die Gesundheit der Krankheit gegenüber als einzig möglich gilt, dann muß allen Einwirkungen, die es verschieben könnten, aufs Energischeste vorgebeugt werden. Die ganze kultivierte Menschheit tut dies, wo es den Geist einer Schule, eines Korps, einer Armee intakt zu erhalten gilt ; in Indien geschieht es im größten Maßstabe, weil dort das ganze Leben überhaupt von „Geistern" dieser Art be- stimmt wird. Diese haben zwei Eigentümlichkeiten, die ihre Be- handlung überaus mühsam machen: sie neigen einerseits zu schier grenzenloser Differenzierung, erliegen andrerseits dem leisesten Krankheitsanfall. Die erstere Eigentümlichkeit hat es im Notwendigkeit der Vorurteile. 95 Lauf der Zeit zu einer solchen Komplikation innerhalb des indischen Kastensystems gebracht, daß ein unbefangenes Dahinleben für Hin- dus kaum mehr möglich ist; bei jedem Schritte kreuzt ein Vorurteil ihren Weg. Die andere bedingt eine ständige Stimmung des Qui- vive? die nieaussetzende Notwendigkeit des Einhaltens so strenger Vorsichtsmaßregeln, wie wir solche nur zur Zeit grassierender Pest befolgen. Ein Vorurteil ist gar zu leicht entwurzelt ; eine Erfahrung, eine Erkenntnis zu viel, und es ist aus mit ihm. So sind in Europa die allermeisten derer, die über ein Jahrtausend entlang dem Leben seine Farbe verliehen, in knapp einem Jahrhundert ausgestorben. In Indien nun, dem Land der dominierenden Psyche, bestimmen Ein- bildungen alle Wirklichkeit; mit den Vorurteilen verschwände das Kastensystem, das ehrwürdige Skelett des ganzen Inderlebens. Und diese Vorurteile sind vielfach so zart, daß sie nur mehr in Treibhaus- luft gedeihen können. Bis vor kurzem verlor jeder Brahmane seine Kaste, welcher Indien auf dem Wasserwege verließ. Mit vollem Recht: das Geflecht von Vorstellungen, Einbildungen und Vor- urteilen, das den Brahmanen definiert, muß zerreißen, sobald er aus seinem angestammten Rahmen heraustritt. Und damit hat seine Kaste aufgehört zu sein. Nur einen Weg gibt es für den Inder über die Bindungen der Kaste hinaus : den der Erkenntnis. Wer seine Identität mit Brahman erkannt hat, ist damit allen Gestaltungen entwachsen ; wer der Welt entsagt, um höchste Erleuchtung zu gewinnen, der braucht sich um sie nicht mehr zu kümmern. Der Sanyassi, der Yogi, der Rishi ist ohne Kastenvorurteil. Welche Weisheit spricht aus dieser Lehre ! In der Tat : die Erkenntnis schmilzt alle natürlichen Fesseln ein ; der Wissende ist durch nichts mehr gebunden. Aber erst der Wissende darf es sich leisten, auf alle Vorurteile hinabzusehen. Wer die seinigen zu früh verwirft, der wird nicht frei dadurch, sondern verlegt sich vielmehr den Weg zur Befreiung. Unsere Zeit illustriert diese Wahrheit mit erschreckender Deutlichkeit. Die moderne Menschheit hat die Formen zerschlagen, deren Zucht ihre Vorfahren tief gemacht, und da sie noch keine neuen erfand, sie zu ersetzen, so wird sie oberflächlicher und schlechter von Jahr zu Jahr. Die großen Ideen der Freiheit, die sie bekennt, versteht sie noch nicht inner- lich ; so gereichen ihr diese 2um Verderben anstatt zum Heil. Quod licet Jovi, nön licet bovi. Es ist absolut gleichgültig vom Standpunkte des Lebens, was ein Zustand ideell und theoretisch ^6 Östlicher und westlicher Pragmatismus. wert sei ; einzig darauf kommt es an, ob er einer gegebenen Seele gemäß ist oder nicht. Wieviel weiser als unsere Volksbeglücker war der Araber Hajji Ibn Yokhdan, der nach gewonnener Erleuchtung von Aufklärung seiner Brüder dennoch absah und sie sogar um Verzeihung bat wegen eines kurzen Versuches dieser Art! „Er bat sie um Vergebung", berichtet Ibn Tufail, „für die Worte, die er unter ihnen gesprochen, versicherte sie, daß er ganz ihrer Meinung sei und riet ihnen dringend an, bei ihren gewohnten Vorstellungen zu beharren. Sie möchten sich allen fremden Einflüssen verschließen, dem Beispiel ihrer biederen Vorfahren folgen und ja keine Neue- rungen aufkommen lassen. Es gäbe keinen anderen Weg zur Er- lösung für Unwissende und Schwache. Wenn sie sich emanzipierten von der Tradition, so könnte ihr Zustand dadurch nur schlimmer werden ; sie würden alle innere Sicherheit verlieren, hin- und her- geschüttelt werden und zuletzt wohl ein übles Ende nehmen. " — Doch scheint es, daß auch der Westen sich jetzt endlich zu einer tieferen Lebensauffassung zurückbekehrt. Der Pragmatismus ist ja nichts anderes als eine zeitgemäßere Fassung der Weisheit Hajji Ibn Yokhdans. MAHABALIPURAM. (Die sieben Pagoden.) So hätte meine Pilgerfahrt durch die Heiligtümer Süd-Indiens ihren denkbar stimmungsvollsten Abschluß gefunden. Auf dieser öden, von Kasuarinen spärlich bestandenen Sandinsel ist jede Felskuppe, fast jeder Stein zum Kunstwerk umgestaltet. Bald sind es Elephanten und Stiere, deren mächtige Leiber aus den Blöcken herausgemeißelt worden sind, bald zierliche Mandapams ; monolithische Tempel krönen die Höhen, klaffen in allen Bergen, und bei Seegang rollen die Wogen über köstliche Schwellen und Stiegen hinweg, zu schlummernden Göttern hinan. Wer waren die Menschen, die diese Welt erschufen ? Ihre 'Spuren hat der Sand ver- weht. Mahabalipuram muß irgendeinmal, wohl dank dem flüchtigen Caprice eines Rajah, eine einzige Werkstatt gewesen sein, in welcher tausend Hände hämmerten, bohrten, versuchten, verbesser- Wert der Vergänglichkeit. 97 ' ten, selten vollendeten ; um dann plötzlich wieder verlassen zu werden. So vermutet man ; man weiß es nicht. Heute wohnen hier nur ärmliche Fischer und einige wenige Brahmanen ; magere Schafe suchen sich um die Ruinen herum ihre karge Äsung. Ich bin bis tief in die Nacht hinein im Tore des Vishnutempels gesessen, der, einst mitten im Lande belegen, heute von clrei Seiten bereits vom hungrigen Meere umspült wird, und bin erst gewichen, als die steigende Flut meine Füße zu netzen begann. Fünf Tempel soll die See schon verschlungen haben ; auch die Tage dieses sind gezählt. Meine angespornte Einbildungskraft jagt der Zeit voran ; ich sehe unseren greisen Planeten nur von Trümmern und Scherben bedeckt, kalt und tot durch den Weltraum rollen. Und diese An- schauung stimmt mich nicht traurig. Die Vergänglichkeit ist ja der Hort der Ewigkeit. Wären Menschen und Werke nicht einzig, un- ersetzlich, unwiederbringlich, ihr Dasein bedeutete nichts. Mich hat kein Ende je im Innersten geschmerzt, wie oft hingegen das Wieder- finden von Zuständen, die längst begraben sein sollten ! Werden die Menschen nimmer begreifen, daß Dauer nur Aufenthalt ist, wo immer sie hinübergreift über die Zeit, der es bedurfte zur Ver- wirklichung? Daß wer die Vergangenheit festhalten will, ein Sakri- leg verübt? daß er Unsterblichem damit nach dem Leben trachtet? .... Von der großen indischen Kunst sind nur geringe Bruchteile erhalten ; die Künstler Indiens haben, der zerstörenden Mächte un- eingedenk, zumeist in Holz komponiert. Sie wußten wohl, daß es nicht ankommt auf die Dauer. Mir gefällt es, zu glauben, daß sie gelebt haben im Geist der großen Lehre der Bhagavat-Gita : schaffe unentwegt, aber opfere von vornherein die Ergebnisse deines Schaffens auf. ADYAR. Einer Einladung M rs - Annie Besanf s Folge leistend, habe ich mich auf eine Weile in Adyar, dem herrlich belegenen Haupt- quartier der Theosophischen Gesellschaft, niedergelassen. Man mag der theosophischen Bewegung gegenüberstehen wie man will : un- leugbar ist ihr Verdienst um die Erschließung der Weisheit des Orients. Diese vermittelt sie freilich persönlich in einer Form, die ihr einen Keyserling, Reisetagebuch. 7 98 Okzidentali scher Charakter der Theosophie. guten Teil ihres eigentümlichen Charakters nimmt. Dem westlichen, speziell dem angelsächsischen Temperamente entsprechend, legt sie den Nachdruck vielfach auf das, was dem Osten als das Unwesent- lichste gilt, so sehr, daß oft eine gleiche Lehre in der Theosophie mit dem entgegengesetzten Vorzeichen figuriert, wie unter den Indern. So bedeutet die Aussicht endloser Wiederverkörperung den Theosophen nichts Schreckliches, sondern eine frohe Botschaft, sie sehnen sich, mit verschwindenden Ausnahmen, nicht im mindesten aus der Welt der Gestaltung hinaus. Lebensbejahend im praktisch- empirischen Sinne, wollen sie aufsteigen in der Stufenleiter der Wesen, nicht anders, wie man in diesem Leben avanciert. Alle Theosophen, die mir begegnet, hängen, im schroffen Gegensatze zu den Indern, am Individuum. Diese Akzentverlegung — als solche berechtigt genug, denn es ist offenbar eine Frage des Tempera- mentes, ob man das Dasein bejaht oder verneint — hat dann mittel- bar auf die Lehren selbst modifizierend eingewirkt, und dies unstreitig zu deren Nachteil in philosophischer Hinsicht: einmal hat sich der indische Spiritualismus in erheblichem Grade zu angelsächsischem Materialismus metamorphosiert: es wird in theosophischen Text- büchern soviel Gewicht auf die Erscheinungsformen des Geistes (die als solche natürlich materiell sind) gelegt, daß die meisten, die sie gläubig studieren, die Überzeugung gewinnen müssen, die Formen seien das Wesentliche, welche Überzeugung eben den Materialisten definiert. Ferner ist unter den Händen der Theosophen die indische Lehre von der wesentlichen Selbständigkeit des Individuums, die sich von Stufe zu Stufe steigert, gegenüber der anderen, daß es vorläufig der Anleitung bedarf, so sehr zurückgetreten, daß die Theosophische Religionsgemeinschaft, trotz aller gegenteiligen Versicherung, mehr und mehr zu einer Art katholischer Kirche auskristallisiert, innerhalb welcher Autoritätenglauben, Dienstwilligkeit und Gehorsam als Kar- dinaltugenden gelten. Aber das mußte wohl so kommen. Die in- dische Weisheit konnte wohl unter Westländern nicht popularisiert werden, ohne eine wesentliche Umdeutung zu erleiden ; das Ka^hoH- sieren liegt im Zuge der Zeit ; und dann kommt es ja den Theosophen nicht auf Fortpflanzung der indischen Lehren an, sondern auf den Sieg ihres persönlichen Glaubens. Sie sind Anhänger einer neuen Religion. Gegen solche wird nichts Wesentliches bemerkt, indem man ihnen wissenschaftliche Irrtümer nachweist. So unzulängliche Adepten der indischen Weisheit die Theosophen Wahrheitsgehalt des Okkultismus. 99 als Philosophen und Metaphysiker sein mögen — in einer Hinsicht sind sie ohne Zweifel deren echte Jünger : als Okkultisten. Das macht sie mir äußerst interessant. Seit Jahren schon interessiere ich mich für die Geheimlehren des Altertums ; soviel an wichtigeren Schriften, die sie betreffen, Nicht-Mitgliedern okkulter Gemeinschaften zugäng- lich ist, habe ich wohl gelesen und die philosophische Überzeugung gewonnen, daß sie, was die behaupteten Tatsachen betrifft, viel Wahres enthalten. Es heißt die Einbildungskraft der Menschheit stark überschätzen, wenn man ihr zutraut alles das frei erfunden zu haben, was von anderen, „höheren" Welten berichtet wird ; es heißt allen Regeln der Kritik zuwiderhandeln, wenn man die staunens- werte Übereinstimmung der Geheimlehren aller Völker uncl Zeiten vom Altertum bis zur jüngsten Gegenwart in sämtlichen wesent- lichen Punkten für nichts erachtet ; es heißt das Problem auf un- erlaubte Weise vereinfachen, wenn man, ohne eine Spur von Be- rechtigung dazu, als ehrlich bekannte Menschen des bewußten Schwindels zeiht. Höchstwahrscheinlich, ja sicher ist viel Unrichtiges in den Geheimlehren überliefert, viel Einbildung, viel Phantasmagorie. Aber wer sich, wie ich, die Mühe nimmt, sie ernstlich zu studieren, wird die Überzeugung gewinnen, daß nicht alles Ein- bildung ist; daß die Möglichkeit von vielem gewiß, und die Wirk- lichkeit wahrscheinlich ist. Die Wirklichkeit gar vieler seltsamer Phänomene, die vor kurzem noch für unmöglich galten, ist heute erwiesen : an der Telästhesie, Telekinesie, am Vorkommen von Materialisationen — was immer diese bedeuten mögen — können nur noch Unwissende zweifeln. Ich war ihres Vorkommen gewiß, als noch nichts erwiesen war: ich wußte, daß sie möglich waren im Prinzip, hielt es ferner für ausgeschlossen, daß so viele phantasiearme Menschen so durchaus übereinstimmende merk- würdige Erfahrungen machen könnten, ohne daß diesen irgend- ein wirkliches Objekt entspräche. Wer sich ernstlich vertieft in das Problem der Wechselwirkung von Körper und Geist, von Lebensmaterie und Lebensprinzip, der wird erkennen, daß zwischen dem Bewegen der eigenen Hand und dem eines fernen Gegenstandes kein prinzipieller Unterschied besteht; ebensowenig zwischen jeder anderen Nah- und Fernwirkung. Wenn ich meinem Nachbarn Gedanken übertragen kann — ob durch Worte, Gebärden, Blick oder Übertragung im psychistisch-technischen Sinne, bleibt sich gleich 100 Gedanken als materielle Erscheinungen. — so muß dies im Prinzip auch Antipoden gegenüber möglich sein, denn das Unverständliche liegt im Beeinflussen der Materie durch den Geist überhaupt; findet solche irgendwo statt, dann sind die Grenzen möglicher Wirksamkeit nicht abzusehen, denn zwischen allen Punkten des Universums vermitteln Kräfte. In eben dem Sinne ist mir vieles gewiß, was des objektiven Nachweises noch harrt: so das Dasein von Ebenen der Wirklichkeit, die den astralen, men- talen usf. der Theosophie entsprechen. Zweifellos handelt es sich beim Denken und Fühlen um das Bilden und Aussenden von Ge- stalten und Strömungen, die, wenn sie auch nicht materiell sind im Sinn der Faßbarkeit durch die Mittel der bisherigen Physik, doch gewiß als materiell betrachtet werden müssen. Alle Erscheinung ist ipso facto materiell, d. h. muß den Kategorien von Kraft und Stoff gemäß begriffen werden, eine Idee nicht minder als ein Chemikal: denn die Fassung einer Idee gehört unter allen Umständen dem Reiche der Phänomene an, wie sehr ihr Sinn immer ein Noumenon sei, und die Fassung ist es, die sie vergegenständlicht, die sie ver- wirklicht und übertragbar macht. Im Fall des gesprochenen oder geschriebenen Worts liegt dieser materielle Charakter der Ge- dankengebilde auf der Hand ; aber sicher gilt gleiches von ihnen, so- fern sie nur gedacht werden, denn auch subjektive Vorstellungen sind Erscheinungen eines vorher Unexistierten in der Welt der An- schaulichkeit, mithin echte Materialisationen, von denen auch schon nachgewiesen ist, daß sie übertragbar und folglich objektiv wirklich sind. Nun konstruiere man weiter: es gäbe eine Möglichkeit, die stofflichen Bildungen, welche beim Denken und Fühlen entstehen und vergehen, unmittelbar als solche wahrzunehmen: damit wäre man in die höheren Sphären des Okkultismus hinaufgelangt. Daß solche Möglichkeit praktisch vorliegt, steht wissenschaftlich noch nicht fest; prinzipiell vorhanden ist sie sicher, und wer nun liest, was C. W. Leadbeater z. B. über diese Sphären zu erzählen weiß, der kann kaum zweifeln, daß er in ihnen zu Hause ist, denn alle Aussagen, die unsereiner kontrollieren kann, insofern sie mit Er- eignissen unserer Lebensphäre in unmittelbarem Zusammenhang stehen, sind in sich so wahrscheinlich, stimmen mit dem bekannten Charakter des Psychischen so gut überein, daß es viel wunderbarer wäre, wenn Leadbeater Unrecht hätte. Vor allem aber sind es er- kenntniskritische Erwägungen, die mir die Behauptungen der Okkul- tisten wahrscheinlich machen. Unzweifelhaft ist die Wirklichkeit, Erkenntniskritische Grundlegung des Okkultismus. 101 die wir normalerweise erfahren, nur ein qualifizierter Ausschnitt der ganzen Wirklichkeit, in seinem Sosein bedingt durch unsere psycho- physische Organisation (das ist der eigentliche Sinn der Lehre Kants: „meine Welt ist Vorstellung" )• Aus dieser Gewißheit ergibt sich die weitere, daß falls es gelänge, eine andere Organisation zu erwerben, die bloß-menschlichen Grenzen und Normen ihre Gültig- keit verlieren würden. Die Natur, die wir mit den Sinnen wahr- nehmen und dem Verstand verarbeiten, ist nur unsere „Merkwelt", wie Uexküll sagen würde (vgl. seine Innenwelt and Umwelt der Tiere, Berlin 1909, J. Springer), die von Kant und seinen Nachfolgern nachgewiesenen Erkenntnisformen bezeichnen nur den Bauplan einer spezifischen Psyche (vgl. meine Prolegomena zur Naturphilosophie) : also müßte, falls dessen Grenzen verschiebbar sind, nicht allein eine Erweiterung, sondern ein Überschreiten des kantischen Rahmens möglich sein. Ob es de facto möglich ist, steht wissenschaftlich nicht fest; aber mir scheint es doch sehr bedeutsam, daß die Behaup- tungen der Okkultisten von Anfang bis zum Ende den Postulaten der Kritik entsprechen: sie lehren sämtlich, daß das Mehr- und Anderserfahren an die Ausbildung neuer Organe gebunden ist ; daß es sich beim Hellsichtigwerden um genau das gleiche handelt, wie um den Gewinn des Augenlichts seitens eines Blinden, und das Hinübergleiten auf „höhere" Ebenen der Wirklichkeit nichts anderes bedeutet, als ein teilweises Hinaustreten aus dem kantischen Er- fahrungsrahmen. Jedenfalls täten alle Philosophen, Psychologen und Biologen gut, sich endlich einmal ernstlich mit dieser Literatur zu befassen. Ich wies unter den Schriftstellern, die in Betracht kommen, auf Leadbeater hin, obgleich dieser Seher auch unter den Seinen nicht allgemeine Wertschätzung genießt: ich tat es, weil ich von allen Schriften dieser Art die seinigen, trotz ihres oft kindischen Charakters, am instruktivsten finde. Er ist der einzige, den ich wüßte, der mehr oder minder als Naturforscher beobachtet, der einzige, welcher schlicht und einfach beschreibt. Er ist ferner im gewöhnlichen Verstände nicht begabt genug, um, was er zu sehen behauptet, zu erfinden, oder, gleich Rudolf Steiner, so weit geistig zu verarbeiten, daß es schwierig erschiene, etwaiges Wahrgenom- menes vom Hinzugetanen abzuscheiden. Er ist seinem Stoff intellek- tuell kaum gewachsen. Trotzdem stoße ich wieder und wieder bei ihm auf Behauptungen, die bald in sich wahrscheinlich sind, bald philosophischen Wahrheiten entsprechen : was er auf seine Weise 102 Möglichkeit höherer Welten; AI Ghazzäli. sieht (ohne es oft zu verstehen), ist im höchsten Grade sinnvoll. Also wird er wohl wirklich Vorhandenes gesehen haben. Hiermit will ich keineswegs für das theosophische System, wie es heute dasteht, eintreten, noch für irgendein sonst überliefertes okkultistisches Lehrgebäude. Ich hege starke Zweifel an der Richtig- keit der meisten Deutungen, welche die beobachteten Tatsachen in diesen erfahren, und was diese selbst betrifft, so fehlt mir jede Möglichkeit das nachzuprüfen, was mit normalen Bewußtseinsvor- gängen nicht irgendwie zusammenhängt. Ich weiß nicht, ob jede Ebene besondere Faunen beherbergt, ob es Geister, Elementarwesen und Götter gibt, und ob diese Geschöpfe, falls vorhanden, die Eigen- schaften haben, welche Hellseher ihnen leidlich übereinstimmend zuerkennen. Es mag wohl sein ; sicher ist die Natur viel reicher, als sie von unserer beschränkenden Bewußtseinslage her erscheint, und ein ehrlicher Mann, der astrale Wesenheiten wahrzunehmen be- hauptet, ist unter allen Umständen beachtenswerter, als sämtliche Kritiker zusammengenommen es sind, die aus empiristischen oder rationalistischen Erwägungen heraus die Möglichkeit solchen Er- fahrens ableugnen. Sicher sind endlich, um auch das Äußerste nicht unerwähnt zu lassen, ekstatische Gottschauer medizinisch nicht er- schöpfend zu begreifen. Solche erleben, was keine „normale" Natur sich auch nur einigermaßen artempfinden kann, und daß ihre Er- lebnisse nicht in der Richtung der Phantasmagorie allein belegen sind, erhellt unzweideutig daraus, daß Gottschauer allemal auf einer spirituell höheren Stufe stehen, als die meisten anderen, und daß sie es sind, welche in aller Geschichte nicht allein die stärksten, son- dern auch die segensreichsten Kräfte verkörpert haben. Den nächst- liegenden Einwand gegen das Gottschauen hat schon AI Ghazzäli entkräftet. „Es gibt Mensch en", schreibt er, „die blind oder taub geboren sind. Die ersteren haben keine Idee von Licht und Farbe, noch kann mau ihnen eine solche beibringen, und die letzteren können sich keinen Begriff vom Schalle machen. So sind Ver- standesmenschen der Intuitionsgabe beraubt: berechtigt sie das, diese zu leugnen? Die, welche sie besitzen, sehen das Göttliche mit dem Auge des Geistes. Nun könnte man freilich sagen, teilt mit, was ihr seht. Allein was hilft es, wenn ich einem Sehenden eine Gegend, in der er nie gewesen ist, noch so lebhaft schildere, er kann sich doch keinen richtigen Begriff von ihr bilden, geschweige denn ein Blindgeborener." Zum Erfahren des Übernormalen ist nach der aus- Sehertum; verschiedene Ebenen der Wirklichkeit. 103 drücklichen Aussage sämtlicher Okkultisten eine Verschiebung der Bewußtseinslage vonnöten ; also erscheint es a priori aussichtslos, von der unserigen her okkulte Erfahrungen nachzuprüfen. Man hätte ein Recht zur radikalen Skepsis, wenn zweierlei der Fall wäre: wenn erstens eine Verschiebung der Bewußtseinslage, welche neue Erfahrungsmöglichkeiten eröffnete, im Prinzip undenkbar wäre, und wenn zweitens die Mittel nicht angegeben würden, die sie herbeiführten. Beide Voraussetzungen treffen nicht zu. Das Vor- handensein verschiedener Bewußtseinslagen mit verschiedenen Er- fahrungsmöglichkeiten ist Tatsache. Die Libelle bemerkt anderes, als der Seestern ; die Welt der Menschen ist reicher als die des Octopus. Und kaum geringer sind die Unterschiede zwischen den Erfahrungsmöglichkeiten verschieden begabter Menschen. Der ge- borene Metaphysiker nimmt geistige Wirklichkeiten unmittelbar wahr, deren Dasein andere Menschen nur erschließen können, und alle Metaphysiker erleben Ähnliches. Der kluge Mensch erfährt mehr und anderes als der Dumme, denn „Verstehen" ist ein genau so unmittelbares Erfassen spezifischer Wirklichkeiten wie „Sehen", und der Dumme kann nicht verstehen. Endlich verfügt der Mensch, wie jedermann weiß, im hypnotischen Schlaf über Fähigkeiten, die er im normalen Wachzustande nicht besitzt. Daß es also überhaupt verschiedene Bewußtseinslagen gibt, ist sicher. Nun aber was den Weg betrifft, um die zu erreichen, die zum okkulten Erleben erforder- lich scheint: dieser Weg ist mit einer Genauigkeit überliefert, die nichts zu wünschen übrig läßt; dazu seitens sämtlicher Sekten mit vollendeter Übereinstimmung. Also fällt auch das zweite prinzipielle Bedenken weg. Wer die Behauptungen der Okkultisten nachprüfen will, der unterziehe sich dem Training, das die Organe der Hell- sichtigkeit ausbilden soll. Erst wer sich den Angaben gemäß ge- schult hat, und dann nichts sieht, hat ein Recht, die Richtigkeit ihrer Aussagen zu bestreiten. Tut unsereiner das, so ist das ebenso lächerlich, wie wenn einer mit bloßem Auge die Richtigkeit der Beobachtungen nachprüfen wollte, die der Astronom mit seinem Teleskope anstellt. Die Methode des Trainings, das zu einer Erweiterung und Ver- tiefung des Bewußtseins führt, haben von allen die Inder am meisten ausgebildet ; die indische Yoga ist es, denen die Führer der theoso- phischen Bewegung eingestandenermaßen ihr okkultes Können verdanken. Ich habe mich sowohl mit M rs - Besant als mit Lead- 104 Antue Besant ; Wesen der Yoga. beater über diese Fragen ausführlich unterhalten. Beide sind zweifel- los aufrichtig; beide behaupten über Erfahrungsmöglichkeiten zu verfügen, von denen einige von abnormen Zuständen her bekannt, die meisten aber ganz unbekannt sind; und beide behaupten sich ihre Kräfte erarbeitet zu haben. Leadbeater zumal hatte ursprüng- lich gar keine „psychistischen" Anlagen. Was nun Annie Be- sant betrifft, so ist eines mir gewiß: diese Frau beherrscht ihre Person von einem Zentrum her, das ich nur von ganz wenigen Menschen bisher erreicht gesehen habe. Sie ist begabt, aber längst nicht in dem Maße, wie man aus dem Eindruck ihres Lebenswerkes folgern möchte. Was ihre Bedeutung macht, ist die Tiefe des Seins, von dem aus sie ihre Gaben regiert. Wer mit einem unvollkommenen Instrument gut umzugehen weiß, vollbringt mehr mit ihm, als ein Ungeschickter mit einem besseren. M rs * Besant hat sich — ihr Können, Denken, Fühlen, Wollen — so sehr in der Hand, daß sie dadurch größerer Leistungen fähig erscheint, als höher Begabte. Das verdankt sie der Yoga. Wenn Yoga so viel vermag, dann mag sie auch mehr noch vermögen ; dann erscheint sie unter den Wegen zur Selbstvervollkommnung des obersten Ranges gewiß. Ich benutze die reichen Gelegenheiten der Adyar-Bibliothek, um meine Kenntnisse, die Yoga betreffend, zu vervollständigen. 1 ) Fasse ich das, was in den Schriften der Inder enthalten ist, mit den Yoga-Vorschriften des klassischen Altertums, der Ägypter, der Chi- nesen, der christlichen Kirche und der modernen Wissenschaft dem Sinne nach zusammen — und das ist durchaus möglich — so finde ich, daß es dabei, wenn ich von der Erschaffung neuer psychischer *) Das klassische Werk über Yoga sind die Yoga-Sutras des Patänjali, die vielfach in englischer Übersetzung herausgegeben worden sind; die beste scheint mir die von Räma Prasad zu sein, schon allein deshalb, weil sie den besten indischen Kommentar, den von Vyasa, mitübersetzt. Eine Reihe wichtigerer Traktate über das gleiche Problem aus der altindischen Literatur enthält Rajaram Tookaram's Compendiutn of the Raja-Yoga philo- sophy (Bombay 1901, Theosophical Publication Fund series). Sonst sind an indischen Schriften hauptsächlich zu berücksichtigen : Shankarächäryas Crest Jewel of Wisdom, Vijnana Bhikshu's Yogasara-Sangraha, Swami Sri Vidyär- anyasarswati's Jivanmukti-Viveka und Swatmaram-SwamP s Hatha-Yoga Prodi- pika (alle bei der Theosophical Publishing Society in London und bei Otto Harrassowitz in Leipzig erhältlich). An neueren Schriften kommen vor allem Konzentration als technische Basis jedes Fortschritts. 1 öS Organe absehe, welcher Prozeß noch in großes Dunkel gehüllt ist und vermutlich verbleiben wird wie alles lebendige Entstehen, das wohl ausgelöst und begünstigt, aber nie „gemacht" werden kann, im wesentlichen auf folgendes ankommt: erstens und vor allem auf Ausbildung des Konzentrationsvermögens ; zweitens auf Stillung der psychischen Selbsttätigkeit; drittens auf Vitalisierung der Seelenvorgänge, deren Vorherrschen erwünscht erscheint. Im voraus- gesetzten Ziel der Ausbildung divergieren die Systeme natürlich : bald gelten Zauberkräfte als zu gewärtigender Erfolg, bald die Vereinigung mit Gott, Aufgehen im Absoluten, oder irdisches Wohl- ergehen ; hier stimmen sie nur darin überein, daß Yoga das Leben potenziert. Hinsichtlich der Technik ist insoweit Divergenz vor- handen als bald auf physische, bald auf psychische Übungen das Hauptgewicht gelegt, und unter diesen bald diese, bald jene be- vorzugt wird. Aber dem Sinne nach stimmen alle überein. Die innere Wahrheit dieses Sinns ist nun dermaßen evident, daß ich mich wundere darüber, daß Yoga-Praxis nicht schon längst in den Plan jeder Erziehungsanstalt aufgenommen worden ist. Un- zweifelhaft ist alle Steigerung der Lebenskräfte Funktion ihrer ge- steigerten Konzentration ; unzweifelhaft bezeichnet Konzentration die technische Basis jedes Fortschrittes. In der Liebe, jeder Leiden- schaft die „Wunder wirkt", erscheinen die psychischen Kräfte konzentriert; eine starke Persönlichkeit ist gesammelter als eine schwache. Aller Fortschritt in def Erkenntnis beruht auf Zuspitzung der Aufmerksamkeit, aller charakterliche auf Verdichtung der zerstreuten Anlagen um einen ideellen Mittelpunkt herum, aller spirituelle auf Durchseelung des psychischen Komplexes durch das tiefste Selbst, was nur durch Verinnerlichung, d. h. Konzentration gelingt. Konzentration bezeichnet unzweifelhaft den Weg zur Ver- vollkommnung ; gibt es Mittel, wie die Yoga-Philosophie behauptet, die des Svami Vivekänanda in Betracht und das vortreffliche Büchlein Kishori Lal Sarkar's The Hindu System of Selfcalture. Lesenswert sind Annie Besant's Thought-Power und An introduction to Yoga. Auch die Publikationen der ver- schiedenen europäischen und amerikanischen Vereinigungen, die sich unter irgend einem Namen mit Yoga befassen, enthalten hie und da Beachtens- wertes. Unter allen Umständen fallen sie mehr ins Gewicht, als die abfälligen Urteile derer, die, ohne je praktische Versuche angestellt zu haben, aus theoretischen Erwägungen heraus die Yoga verdammen. Einen guten allge- meinen Überblick über die verschiedenen Methoden der Selbstvervollkomm- nung gibt William J. Flagg's Werk Yoga or transformation, London, William Rider & Son. 106 Stille der Seele; Meditation und Gebet. diese Fähigkeit zu einem Grade zu steigern, der alle bekannten tief unter sich läßt, so ist deren Anwendung entschieden ratsam. — Der Wert des zweiten Zieles alles Yoga-Trainings, der Stillung der psychischen Selbsttätigkeit, ist ebenso evident. Mit jeder über- flüssigen Bewegung wird Kraft vergeudet. Wir verfügen über ein beschränktes Maß von Energie; je weniger wir sinnlos veraus- gaben, desto mehr bleibt zu sinnvoller Verwendung. Nun vertut jeder gewöhnliche Mensch unverantwortlich viel Kraft auf dem Weg automatischen Vorstellungsspiels ; in seinem Bewußtsein löst sich zwecklos in rasender Eile Inhalt auf Inhalt ab. Gelingt es, dies Geschehen aufzuhalten, so wird die Kraft erspart, die sonst verschleudert würde ; sie sammelt sich an. Und lernt es einer, den automatischen Vorstellungsverlauf dauernd einzudämmen, so wie alle es lernen, den ursprünglich zappeligen Körper ruhig zu halten, bis auf die Zeiten, da sie ihn wirklich brauchen, so mag es gut sein, daß die aufgespeicherte Kraft solche Umsetzungen im Organismus einleitet, daß in diesem neue Fähigkeiten erwachen. Über den Wert des Stille-Haltens als solchen kann kein Zweifel bestehen. Alle starken Geister sind wesentlich dadurch ausge- zeichnet, daß sie nicht fahrig sind ; daß sie nach Willkür ein- und auszuspannen und mit der Aufmerksamkeit länger bei einer Sache zu verweilen vermögen, als schwächere. Sie sind eben Herren ihres Vorstellungsverlaufs, nicht Knechte ihres Automatismus ; sie strahlen die Energie, die sie haben, nicht andauernd aus, sondern lassen sie sich ansammeln bis zum Augenblicke des Bedarfs. Dieser Stillung der Seele, um* in der Sprache der Mystiker zu reden, dienen die meisten der Yoga-Übungen. Alles Meditieren besteht darin, daß das Bewußtsein angehalten wird in regungsloser Lage zu verweilen — gleichviel, ob zu diesem Zweck ein äußerer Gegenstand, eine Idee oder Vorstellung oder das Nichts fixiert wird. Einesteils handelt es sich hierbei um eine Übung in der Konzentration, aber zum größeren Teil um ein Üben im reinen Stillehalten und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, daß dieses scheinbar Sinnloseste und so oft Verlachte das Wichtigere ist; denn ganz abgesehen davon, daß anfangs nicht wenig Konzentration dazu gehört, die sich drängenden Vorstellungen im Schach zu halten, bedingt die bloße Kraftansammlung, die das Stillehalten mit sich bringt, ein An- wachsen des Konzentrationsvermögens. Es ist unglaublich, wie viel Bedeutung für das innere Wachstum noch so kurze, aber Wunsch schafft Wirklichkeit; Ignatlus von Loyola. 107' regelmäßig eingehaltene Meditationsstunden haben. Ein paar Mi- nuten bewußten Stillehaltens jeden Morgen bewirken mehr, als die strengste Schulung der Aufmerksamkeit durch die Arbeit. Hierauf beruht unter anderem die stärkende Wirkung des Gebets. Das dritte wesentliche Moment bei aller Yoga-Praxis be- zeichnet das Vitalisieren erwünschter Vorstellungsabläufe. Dessen Bedeutung steht gar nicht in Frage, da jedermann weiß, daß alle Erziehung letzthin auf suggestiver Einwirkung beruht. Nur behauptet die Yoga-Philosophie, daß Suggestion sehr viel mehr noch vermag, als wissenschaftlich erwiesen ist: sie soll nicht allein das gegebene psychische Gleichgewicht umlagern, sondern ihm neue Elemente ein- verleiben können. Man bilde sich nur andauernd ein, daß man eine bisher nicht vorhandene, aber erwünschte Eigenschaft besitzt, im starken Verlangen, daß sie bald in einem erstehen möge, und sie wird entstehen. Man stelle sich nur lange genug vor, daß gewisse beim normalen Menschen unausgebildete Organe des Astralkörpers entwickelt sind, und sie werden sich entwickeln. In der Welt des Psychischen erschüfen Wünsche recht eigentlich den Tatbestand. — Sicher ist das wahr im Prinzip ; und es mag wohl sein, daß die Dinge durchaus so liegen, wie die Yogis behaupten. Was mich zu dieser Annahme veranlaßt, sind die ungeheuren, kaum glaublichen Veränderungen, welche die geistlichen Exerzitien des heiligen Igna- tius von Loyola nachweislich in denen, die sie energisch be- treiben, hervorrufen. Diese Übungen — von einem Psychologen ersten Ranges erdacht — arbeiten durchaus mit der Einbildungs- kraft ; der Praktikant muß in der Einbildung erleben, was er wirk- lich erleben würde, im Fall er am Ziele wäre. Auf die Dauer verändert er sich tatsächlich im Sinn des imaginierten Ideals. Die durch diese Meditationsübungen Geschulten (und das sind nicht bloß die Jesuiten) haben in hohem Grade die Eigenschaften, die sie haben sollten. Wer nun die spirituellen Exerzitien mit eiserner Kon- sequenz betreibt, so daß er in der Konzentration und im Stillehalten außerordentliche Übung gewinnt, der wird zu einem Menschen mit den Fähigkeiten, die von jeher als den Mitgliedern des Jesuiten- ordens eigentümlich und sie unheimlich-machend mit Recht gegolten haben : sie werden zu Virtuosen der Willenskraft, zu Akrobaten der Versatilität, zu Menschenkennern und -beeinflussern ohne Gleichen. Sie sind eben Yogis ; sie sind im selben Sinne zu Beherrschern ihrer Seele geworden, wie Athleten Beherrscher des Körpers sind ; dem- 108 Okkulte Ausbildung und Spiritualisierung nicht zusammenhängend. entsprechend sind sie stark. Der höchste Typus des Jesuitenpaters, wie er nachweislich vorkommt, verkörpert einen unzweideutigen Beweis des Wertes der Yoga-Praxis. Die Reflexion auf den Jesuitenorden bringt mich auf eine der häufigst mißverstandenen Seiten des Yoga-Problems : den Glauben, daß die Potenzierung und Umsetzung der Lebens- kräfte irgendwie notwendig mit moralischem und spirituellem Fort- schritte zusammengehe. Yoga ist an sich ein rein Technisches, gleich jeder anderen Gymnastik, kann jedem Geist zugute kommen, mit jeder Gesinnung zusammen bestehen. Es ist nicht wahr, daß mora- lisches Verhalten und veredelnde Arbeit an sich selbst notwendige Bedingungen zur Erlangung „okkulter" Kräfte wären ; sie sind Be- dingungen nur zur Spiritualisierung, was etwas ganz anderes ist ; im allgemeinen hat vielmehr der Volksglauben Recht, der im Magier einen seelischen Krüppel sieht, einen Alberich, der zwecks Er- langung von Zaubermacht aller Menschlichkeit entsagt hat. Denn ernstlich betriebene Yoga-Praxis zum Zweck der Steigerung vor- handener und Erweckung neuer psychischer Kräfte (nicht der Spiri- tualisierung) erfordert einen solchen Grad des Sichabschließens vom Meisten dessen, was die Seele erweitert, eine so ausschließliche Beschäftigung mit sich selbst, daß wohl nicht viele innerlich unge- schädigt aus solcher Schulung hervorgehen dürften. Es kommt eben ganz darauf an, in welchem Geist, auf welche Weise und worauf- hin man Yoga treibt. Die Jesuiten z. B., im Höchstfalle Yogis, die den größten indischen nicht nachstehen dürften, schulen sich im Geist einer vorausgesetzten Dogmatik, vermittelst künstlicher Evo- kation gewollter Stimmungen, im Zeichen unbedingten Gehorsams und unbedingter Nichtberücksichtigung des eigenen Gutdünkens, zu dem Zweck, möglichst leistungsfähige Werkzeuge der Kirche zu werden. Dies hat zur Folge, daß sie nicht allein zu keiner selbständigen Erkenntnis gelangen, sondern daß sich die Frage der Überzeugung, der metaphysischen Wahrhaftigkeit, für sie je weniger und weniger stellt, daß sie mehr und mehr zu selbstlosen Organen dessen werden, dem sie Gehorsam gelobt, in unerhörtem Grad dazu geschickt, jede beliebige ihnen zugemessene Rolle zu spielen. Wer sich im Sinne eines vorgefaßten Glaubens schult, wird immer blinder gläubig wer- den, wer in ausgesprochen selbstischer Absicht, bei dem wächst Psychistischer Fortschritt bedingt menschliche Rückbildung. 1 09 auch der Egoismus an. Yoga potenziert eben alle Tendenzen, die der Übende in sich bejaht. So unter anderen die hohen und edlen. Wer voraussetzungslos nach Erkenntnis strebt, kommt der Wahrheit durch sie immer näher, und entsprechend der moralischen Voll- kommenheit, der Heiligkeit, der Selbstverwirklichung. Aber der, dem es ums Höchste zu tun ist, wird selten unterwegs zum Magier ; diese Kräfte liegen in anderer Richtung, sind von allen großen Heiligen auch als abliegend und abführend beurteilt worden. Sie gehören eben der „Natur" an, die es zu überwinden gilt, wo Spiri- tualisierung bezweckt wird. Und da die Beherrschung dieser Natur als dem Menschen normalerweise nicht zugänglich, die Aufmerksam- keit weit ausschließlicher noch in Anspruch nimmt, als irdisches Interesse, so ist es nichts weniger als verwunderlich, daß Fortschritt im Hellsehen u. ä. meist mit menschlicher Rückbildung zu Paar geht. Man lese die Schriften Leadbeaters oder Rudolf Steiners darüber nach, was ein „Geistesschüler" alles zu berücksichtigen hat, um nicht Schaden zu nehmen an seiner Seele ; wer diese Lehren befolgt und nicht gefeit ist, muß Egoist werden, wofern er es nicht schon vorher war. Darin liegt an sich kein Vorwurf: auch der Künstler, der Dichter, der Denker muß vor allem zunächst an sich denken, was seine Stimmung fördern oder benachteiligen mag, wenn er Bedeutendes hervorbringen will; das muß jeder, dem seine Person das Instru- ment ist, auf dem er spielt. Aber Künstler, Dichter und Denker behaupten nicht sich zu spiritualisieren, indem sie den Erforder- nissen ihres Berufes entsprechend leben, wie dies der „Geistes- schüler" tut. Deshalb muß es ausdrücklich betont werden, daß Kenntnis höherer Welten und Spiritualisierung in keiner Weise notwendig zusammenhängen. Im Gegenteil: der Okkultist ist, dem Volksglauben entsprechend, in der Regel menschlich minderwertig. Das metaphysische Interesse der Yoga beruht nun darauf, daß sie den Menschen, indem sie ihn vertieft — denn Steigerung bewirkt immer zugleich Vertiefung — fortschreitend eindeutiger macht. Kompromisse sind Produkte der Oberfläche ; wird diese durch die Vertiefung entseelt, so sammelt sich alle Kraft in den Wurzel- gefühlen, und diese tragen radikalen Charakter. Der vorgeschrittene Yogi ist entweder ein Liebender oder ein Hasser, ein Wissender oder ein Glaubender, äußerst selbstsüchtig oder äußerst selbstlos. Hierauf beruht der uralte Glaube an die zwei Schulen der weißen und der schwarzen Magie, und im letzten der an Ormuzd und Ahri- 1 10 Das Radikal-Böse ; Erlösung durch Erkenntnis. man; hier wurzelt der Wahrheitsgehalt der Ideen eines radikal Guten und radikal Bösen. In einer gewissen Tiefenlage steht die Seele in der Tat vor zwei gleichwertig scheinenden Alternativen ; sie mag die gleiche elementare Wurzelkraft mit positivem wie mit negativem Vorzeichen ausströmen lassen ; Kompromisse scheinen nicht möglich. Aber diese Lage bezeichnet nicht die äußerste. Sie ist es vom Standpunkte des Willens, denn der Wille ist blind, aber die Erkenntnis dringt über sie hinaus. Dem Wissenden offenbart sich, daß der Unterschied zwischen Gut und Böse an der Wurzel mit dem zwischen Leben und Tod zusammenfällt, daß nur die positiv wirkende Kraft das Leben hinter sich hat, vom nie versiegenden Quell fortdauernd gespeist wird. Hat einer nun wirklich verstanden, dann will und handelt er auch darnach ; wie Guyau sagt : celui qui nagit pas cörttme II pense, pense imparfaitement. Man handelt not- wendig vollkommener Einsicht gemäß, diese aber erwählt notwendig das Positive. Hier sieht man denn, unter Blitzlicht beleuchtet gleichsam, wie recht die Inder darin haben, die Erlösung in Er- kenntnis bestehen zu lassen ; hier ahnt man den inneren Grund des unausrottbaren Menschheitsglaubens an absolute Werte. Diese Werte werden schlechterdings positiv gedacht; negative absolute Werte sind undenkbar. Selbstverständlich: sie bezeichnen die Be- wußtseinsexponenten dessen, was der Geist im tiefsten und letzten will, und im tiefsten und letzten will er leben, d. h. ausströmen in reiner, geberischer Spontaneität. Etwas höher — in der Lage, wo der Wille an sich als primus movens erscheint — spaltet sich der Urimpuls in zwei entgegengesetzte Tendenzen ; diese verzweigen sich weiter, deren Schößlinge ihrerseits, je näher der Oberfläche, desto mehr, gehen Verbindungen ein, Vermählungen, Anastomo- sierungen, ohne Rücksicht auf Charakter und Herkunft, bis das Geranke und Geflecht zuletzt so wirr wird, daß eine Unterscheidung und Entscheidung kaum mehr möglich erscheint. So kann alle ober- flächliche Gestaltung sowohl positiv als negativ gedeutet werden ; nur ganz selten ist ein sicheres Urteil darüber möglich, ob eine be- stimmte Handlung „gut" oder „böse" sei. So ist alles bestimmte Leben des Todes teilhaftig. Aber das Leben selbst weiß weder vom Bösen noch vom Tod. Okkulte Ausbildung als biologischer Fortschritt. 1 1 1 Als ich die voranstehenden Betrachtungen niederschrieb, hatte ich mir noch nicht klar gemacht, in wie hohem Grade das Mißverständnis, an welches sie anknüpften, die Gemüter der Theosophen beherrscht. Seitdem habe ich festgestellt, daß es überaus vielen unter ihnen vor allem um die Erlangung „höherer" Kräfte zu tun ist, deren Besitz sie als Zeichen spirituellen Vorgeschritten- seins auffassen. So erweisen sie sich denn, gerade wo sie ganz indisch zu sein wähnen, am ausgesprochensten westlich gesinnt: sie beherrscht der echt-westliche Geist des Expansionsbedürf- nisses, der Jagd nach Reichtum, nach äußerem Erfolg; denn das und nichts anderes bedeutet Streben nach den Siddhis. Es ist wirklich so, daß zwischen den Theosophen, die in die höheren Welten hinaufwollen, und amerikanischen Prospektors ein geringerer Unterschied besteht, als zwischen jenen und alt-indischen Rishis: Erweiterung des Bewußtseins im Sinne der Extension be- deutet einen rein biologischen Fortschritt. Nicht mehr. Der Okkultist, dessen Organe ihm Einblick in hyperphysische Sphären gestatten, ist biologisch weiter als der gewöhnliche Mensch genau im gleichen Sinne, wie der moderne technisch geschulte Ingenieur biologisch weiter ist als sein Vorfahr, der Pfahlbauer. Unzweifelhaft ist solches Fortgeschrittensein erfreulich ; nur ist es spirituell bedeutungslos. Wenn die Theosophen ihre Bestrebungen als weltliche erkennen würden, so wäre nichts gegen sie zu erinnern ; ich persönlich sym- pathisiere mit ihnen sogar durchaus, weil ich es hocherfreulich finde, daß endlich eine größere Anzahl von Menschen, ob unter noch so irrigen Voraussetzungen, systematisch okkulte Studien betreibt. Aber es ist nicht zu leugnen, daß ihr naiver Glaube eben dort, wo sie weltlichen Vorteilen nachjagen, den Pfad der Heiligung zu wandeln, sie ein klein wenig lächerlich macht. Merkwürdig, daß die Menschen noch immer nicht im Klaren darüber sind, daß Fortschritt und Spiritualisierung verschiedenen Dimensionen angehören, obgleich kein großer Religionslehrer, von Buddha und Christus abwärts, es unterlassen hat, vor dieser Verwechselung zu warnen. Ich will versuchen mir über ihr wahres Verhältnis in klaren Worten Rechenschaft abzulegen. Spirituali- sierung bedeutet Selbstverwirklichung; das Durchdrungenwerden der Erscheinung durch ihren äußersten Sinn; ihr Beseeltwerden aus der letzten lebendigen Tiefe — heiße man diese Atman, 1 1 2 Fortschritts- und Vollendungsstreben schließen sich aus. Weltseele, Gott, Prinzip des Lebens oder wie sonst. Aus dieser Be- stimmung geht schon eindeutig hervor, weswegen kein biologisches Fortschreiten als solches, und führe es noch so hoch hinan, Spiri- tualisierung bedingt: im Fortschreiten erweitert sich die Sphäre dessen, was vom Geiste beseelt werden kann; ob sie wirklich beseelt wird, ist eine andere Frage. In der Regel geschieht dies, solange der Fortschritt andauert, nicht, denn wenn Erweiterung und Vertiefung sich auch im Prinzip nicht ausschließen, so tun sie es doch praktisch meist deshalb, weil keine außer einer exzep- tionellen Vitalität sich nach zwei verschiedenen Richtungen gleich- zeitig voll ausleben kann. (Hierauf beruht es, daß der fort- schrittsfreudige Westländer von allen Wesen dieser Welt das un- spirituellste ist.) Auch nachdem der Paroxysmus des Fortschreitens vorüber ist, nachdem Festigungsstreben den Evolutionstrieb ab- gelöst hat, will es mit der Spiritualisierung eine Weile lang nicht vorwärts gehen. Natürlich: der neuerschaffene Leib ist dem Geiste kein botmäßiges Ausdrucksmittel; diesem gelingt es nicht sofort ihn zu durchseelen ; der Mensch bleibt oberflächlich, weil er zu seiner lebendigen Tiefe durch die unerforschten und unerkannten Regionen nicht durchzudringen weiß. Hierher rührt es, daß so viele Propheten die Einfältigen, die Armen im Geiste, die Blind-Gläubigen gegenüber höherstehenden Menschentypen selig gepriesen haben : an sich ist es unberechtigt, denn unter allen Umständen ist der Be- gabte und Gebildete mehr als der Tor; allerdings aber findet jener durch seine reichere und kompliziertere Natur hindurch den Weg zu seinem Grunde schwerer hinab, als dieser, der so wenig hat ihn aufzuhalten ; weshalb Spiritualisierte tatsächlich unter Einfältigen häufiger vorkommen, als unter Begabten. Eben hierauf beruht der Wahrheitsgehalt der christlichen Seligpreisung der Mühseligen und Beladenen den Glücklichen gegenüber. An sich bezeichnet auch diese einen Irrtum : alles Große stammt aus der Freude, wer im Geiste lebt, ist eitel Freudigkeit. Aber der Unglückliche, der wenig Ursache hat, seine äußeren Umstände zu bejahen, findet eher den Weg in sein Innerstes hinab, als der Bevorzugte, den es auf Schritt und Tritt zum Verweilen lockt; weshalb sich Schmerz und Trübsal praktisch allerdings als die zuverlässigsten Führer zu Gott erweisen. Welcher ist nun der Exponent der Spiritualität, sintemalen die Vorgeschrittenheit ihn nicht bezeichnet? Die Vollendung. Am Grad Vollendung als Exponent der Spiritualität. 1 1 3 der Vollendung, an ihm allein, mißt sich der Grad der Durch- geistigung. Bedeutet diese Durchdrungenwerden der Erscheinung durch ihren äußersten Sinn, so bedeutet sie zugleich äußerste Ver- wirklichung von deren Möglichkeiten. Daß Vollendung das „Eine, was nottut/' ist, habe ich nicht etwa als erster erkannt: schon Buddha hat sich ausdrücklich den „Vollendeten" genannt, der chine- sische „Weise" und „Edle" wird als wesentlich vollendet bestimmt und früh ist die Idee der Perfektion zum Ideale auch des christlichen Heiligungstrebens geworden. Sie schließt wirklich alles ein ; auch den Gott in sich zu realisieren, bedeutet nicht mehr, als seine Möglichkeit vollkommen verwirklichen. Nun ist wohl klar, wes- halb Fortschritts- und Vergeistigungsstreben sich praktisch aus- schließen: wer fortschreiten will, sucht nach neuen Möglichkeiten, wer da Gott sucht, die gegebenen zu erfüllen. Wer erfüllen will, braucht weder aufzuheben noch zu verändern ; wenn Erfüllung an sich das Ideal ist, dann sind alle Möglichkeiten der Idee noch gleich- wertig. Daß Vollendung wirklich das spirituelle Ideal bezeichnet, läßt sich noch durch eine andere, rein kritische Erwägung nach- weisen. Alle spirituellen Werte — die Schönheit, die Wahrheit, die Güte — sind durch den Charakter der Absolutheit ausgezeichnet; diese ihre wesentliche Qualität kann keine Skepsis hinwegdispu- tieren. Was bedeutet das? Die Gegenständlichkeit des rationali- stischen Begriffs vom Absoluten kann bezweifelt werden ; dieser steht und fällt mit einer petitio principii, so daß wenig für die Erkenntnis geleistet wird, indem man die Schönheit eines Kunst- werkes z. B. auf Teilhabe an der Idee des absolut Schönen zurück- führt. Ein Wesen oder ein Gegenstand verkörpert dann einen abso- luten Wert, wenn in ihm die gegebenen Möglichkeiten ihre äußerste Erfüllung und Vollendung erfuhren. Und man wähne nicht, daß im Worte „äußerst" seinerseits eine petitio principii verschleiert liegt: man kann ganz gegenständlich von „äußerster Erfüllung" reden, weil alle konkreten Möglichkeiten begrenzt sind ; für jedes Wesen gibt es einen äußersten Grad der Selbstverwirklichung. Ist dieser nun erreicht, dann erscheinen wie durch magischen Spruch auf ein- mal auch absolute Werte dargestellt: sind physische Möglichkeiten ganz verwirklicht, so schauen wir Schönheit, geistig-intellektuelle, so ist die Wahrheit erkannt, menschlich-sittliche, so ist ein Gott- mensch erstanden. Vollendung ist das spirituelle Ideal. Nun erscheint die Mißverständlichkeit alles Fortschrittsstrebens, Keyserling, Reisetagebuch. 8 1 14 Das Spirituelle als Prinzip ; Unsterblichkeit. sofern einem um spirituelle Verwirklichung zu tun ist, ganz deutlich. Da Vollendung der Exponent der Spiritualität ist, da der Grad jener den Grad dieser zum Ausdruck bringt, so ist ein vollendeter niederer Zustand Gott offenbar näher als ein unvollendeter höherer. Voll- kommene physische Schönheit ist ein Geistigeres, als eine unvoll- kommene Philosophie, ein vollkommenes Tier ein Spirituelleres, als ein unvollkommener Okkultist. Im Geringsten kommt der Atman ganz zum Ausdruck, sofern es vollendet ist. Äußere Grenzen be- schränken überhaupt nicht innerlich, weil das Spirituelle ein Prin- zip ist, das als solches keinen Extensitätsfaktor besitzt. Das Prinzip der Welt kann eine Monere genau so vollständig zum Ausdruck bringen, wie der hunderttausendfache Brahman. Das Prinzip aber ist das Eigentliche, das Ewige, das lebendig bleibt über alles Ent- stehen und Vergehen hinaus. Weswegen finden wir so viele Aus- sprüche antiker Weisen tief, tiefsinniger als alles, was später ge- äußert ward, obschon die konkreten Vorstellungen, die sie hegten, als irrtümlich erwiesen sind? Weil sie mit noch so unvollkommenen Mitteln das Prinzip dessen, was sie meinten, vollkommen zum Aus- druck gebracht haben. Diese Aussprüche sind wesentlich wahr, wie sehr sie an der Oberfläche falsch sein mögen, werden durch noch so große Fortschritte in der Begriffserkenntnis nie widerlegt werden. So überwindet Spiritualisierung bis zum Tod. Gestalt auf Gestalt ist dahingeschwunden im Laufe der Geschichte der Erkenntnis, und mit ihnen der Geist aller derer, die in der Gestaltung ganz ent- halten waren. Aber die Wenigen, denen diese nur ein Ausdrucks- mittel war für einen tieferbelegenen Sinn,' die diesen Sinn in ihr vollkommen verkörpert hatten, die leben fort. Die vermag keine Zeit zu töten. Und manchmal glaube ich zu wissen, daß auch der persönliche Mensch in eben dem Sinn der Unsterblichkeit teilhaftig werden kann. Freilich ist sein Leib dem Tode versprochen ; freilich ist auch seine Seele der schließlichen Auflösung gewiß. Das Prinzip jedoch ist unzerstörbar. Das wirkt objektiv fort von Verkörperung zu Verkörperung, wie diesseits so auch jenseits des Grabes, in irgendeinem unbekannten Sinn. Sein Träger wechselt; ahnt nicht oder nur schwach, daß er wesentlich ewig ist. Der seltene Mensch nun, dem es gelang, sein Bewußtsein im Wesen zu ver- ankern, der weiß sich unsterblich. Dem bedeutet der Tod kein Ende mehr. ... — Steht Fortschreiten (im biologischen Verstände) mit Spiri- Spirituelle Bedeutung des Fortschreitens. 1 1 5 tualisierung in gar keinem Zusammenhang? So daß das Streben der Theosophen, okkulte Kräfte in sich auszubilden, so wie sie es meinen, ein radikales Mißverständnis bedeutet? Sie stehen wohl im Zusammenhang, aber in einem anderen, als jene wähnen. Jede höhere biologische Stufe gewährt dem Geist eine reichere Aus- drucksmöglichkeit. Nicht absolut verstanden zwar, denn überall in der Natur wird Gewinn durch Verluste wenn auch noch so billig bezahlt ; der Mensch hat viele Fähigkeiten nicht, die das Tier besitzt; der Weise ist unzulänglich in vielem, was das Weltkind kann. Aber soviel ist wohl wahr, daß der Geist sich auf jeder höheren biologischen Stufe freier äußert. Insofern kann er sich, nach menschlichem Maßstabe beurteilt, auf jeder folgenden besser manifestieren. Also haben wir, als empirische Wesen, wohl auch spirituelles, nicht nur temporelles Interesse daran, auf der Stufen- leiter der Schöpfung hinanzusteigen. Uns bedeutet es nichts, wenn wir in Form der Schönheit vollkommen durchgeistigt sind, denn nur das Bewußtgewordene berührt uns persönlich ; nur was wir als Subjekte bewußt erfahren, erlebt, verstanden haben, existiert für uns. Die Erfahrungsmöglichkeiten nun werden durch psychische Entwickelung allerdings bereichert und gesteigert. Hier aber stellt sich die Frage : worauf kommt es im letzten an : zu sehen oder zu sein? Offenbar zu sein. Die Erkenntnis ist das Vorläufige; sie muß sich in Leben umsetzen, um spirituell bedeutsam zu werden. Also bezeichnet die Erwünschtheit psychischer Vervollkommnung nur die Notwendigkeit eines Umweges für Wesen gewisser Art; sie be- dingt keine Abkürzung des Wegs. Und über diesen Umweg ge- langen, wie die Erfahrung lehrt, weniger Menschen zum Ziel, als ohne ihn. Hierher rührt, noch einmal, die spirituelle Vor- zugsstellung der Einfältigen und der auffallende Mangel an Spiri- tualität, der die meisten psychistisch begabten Menschen kenn- zeichnet. Was also tun? Die alt-indische Lehre „lieber seinem eigenen noch so niedrigen Dharma folgen, als dem noch so er- lauchten eines anderen" bezeichnet den Weg. Jedes Wesen soll einzig und allein nach seiner spezifischen Vollendung streben, in welcher Richtung immer diese liege. Wer zum Tun gerufen ist, der werde als Täter vollkommen, der Kunstbegabte trachte nach vollendetei Künstlerschaft; nur der zur Heiligkeit Berufene strebe nach Heiligkeit und vor allem nur der geborene Hellseher nach Vollendung in der Form des Okkultisten. Wer eine Art der 8* 1 16 Vollendung zieht Fortschritt nach sich. Vollendung anstrebt, die seinen inneren Möglichkeiten nicht ent- spricht, der verliert seine Zeit und verfehlt sein Ziel. Dafür er- reicht dieses unzweifelhaft irgendeinmal, wer sein eigenes Dharma treu befolgt, wohin immer es ihn führe. Und dies nicht allein im Sinn spiritueller Vollendung, sondern auch in dem biologischer Ver- vollkommnung. Jede erschöpfte Möglichkeit bringt, phönixartig, neue aus sich hervor. Wie die ausgekostete Jugend die Fähigkeiten des Mannesalters erweckt, gebiert jeder vollendete Lebensausdruck, sofern das Prinzip, das hinter ihm steht, noch lebt, neue Lebens- möglichkeiten. Es bleibt ewig wahr, was Jesus Christus in seiner mythischen Ausdrucksweise gesagt hat: „Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen." Strebt nur nach Vollendung, und der biolo- gische Fortschritt wird sich von selbst ergeben. Dies ist die einzige Art, wie Fortschritts- und Spiritualisierungsstreben sich vereinen lassen , wer zuvörderst nach Fortschritt strebt, wird nie die Voll- endung erreichen. Wunderbar plastisch bringt der Mythos von der Seelenwanderung das wahre Verhältnis zum Ausdruck: wer in niederer Lebensstellung sein Dharma treulich erfüllt, wird in höherer wiedergeboren ; wer den Pfad der Heiligung betreten hat, dem werden von Verkörperung zu Verkörperung günstigere Lebens- umstände zu teil. Ja, wer ganz selbstlos nach Spiritualisierung strebt, kann nicht allein in einem Leben sämtliche Stadien durch- laufen — er kann sogar während seines fleischlichen Daseins die endgültige Befreiung finden (ein Jivanmukta werden). Freilich kann er das ; denn diese Befreiung besteht eben, ganz unabhängig von den Zufällen von Leben und Tod, im Einswerden des Bewußt- seins mit dem Lebensgrund. Ich lasse mir viel erzählen, was in anderen Welten passiert, und wie es in ihnen aussehen soll. Die meisten meiner Unterredner glauben nur, aber einige sind überzeugt, daß sie wissen und berichten über unerhörte Erlebnisse so sachlich-ruhig, wie ein Naturforscher über seine jüngsten Experimente referiert. Ich befinde mich ihnen gegenüber in eigentümlicher Lage: ich weiß nicht, wieviel objektiv wahr an ihren Behauptungen ist, und kann sie nicht nachprüfen. Aber als unmöglich kann ich sie nicht abweisen, nicht einmal mit einiger Zuversicht ihre Unwahrschein- Übersinnliche Welten ; Vorzüge des Aberglaubens. 1 1 7 lichkeit behaupten, da mir jeglicher Maßstab dafür fehlt, was in anderen Sphären vorgehen kann. Ich verspüre auch kaum Nei- gung hiezu: wieder und wieder vernehme ich Aussagen, deren innere Wahrscheinlichkeit mich frappiert, wieder und wieder sagt mein Innerstes: selbstverständlich; es kann ja gar nicht anders sein, und du weißt es ja eigentlich selbst. Aber diese Anamnesis wage ich nicht ernstzunehmen, da ja Märchen, als Geist von seinem Geist, dem Menschen immer wahrscheinlich vorkommen, viel wahrscheinlicher, als die Vorgänge in der unmenschlichen Natur, weil ferner in jedem lebendigen Gemüt die Sehnsucht nach dem Wunderbaren lebt. So schalte ich zur inneren Beruhigung für ein Weilchen den Mann der Wissenschaft aus und gebe mich mit kindlicher Unbefangenheit den neuen Eindrücken hin. Jede Er- zählung lasse ich in mich hinein; jede Idee nehme ich rückhaltlos auf; und lasse es gern geschehen, wenn Chiromantiker die Linien meiner Hand, Phrenologen meine Schädelform und Astrologen meine Nativität untersuchen. Wie reich muß doch das Leben derer sein, die an alle die Zu- sammenhänge glauben, deren Dasein die Theosophie behauptet! Schon banal-abergläubische Menschen sind mir in häufigen Stim- mungen ein Gegenstand des aufrichtigen Neids ; eine Zeitlang habe ich mich selbst dazu abgerichtet die Superstitionen meines je- weiligen Aufenthaltsorts für die Zeit meines Dortseins zu über- nehmen, denn wunderbar farbig wird das Leben durch das An- erkennen mysteriöser Verknüpfungen. Das System der Theosophie nun hat den ferneren Vorzug, daß es nicht nur die Einbildungskraft, sondern auch den Verstand erfreut. Wenn es der Wahrheit ent- sprechen sollte, so erschiene dieses Dasein damit vor der Vernunft in hohem Grade gerechtfertigt. Mich persönlich macht freilich ge- rade die übergroße Rationalität des theosophischen Weltenplanes stutzig. Die Vernunft reicht sonst so wenig tief in das Herz der Dinge hinab, alles Wesentliche ist sonst so irrational, Theorien erweisen sich sonst als desto unzulänglicher, je Wesentlicherem sie gerecht werden sollen — sollte da wirklich ein dermaßen simplistisches Schema dem Sinn der Wirklichkeit gemäß sein? Tut es das, so würde ich persönlich es bedauern . . . Allein, was kann man wissen? Vielleicht hat die Theosophie trotz meiner Philosophenbedenken recht. Alles stimmt doch nicht zusammen in dieser Welt. Ich indessen hoffe und glaube bis auf weiteres, daß 1 18 Spekulationen über das Jenseits. die Theorien der Theosophie nicht mehr als grobe Allegorien be- zeichnen. Im übrigen steckte ich nicht ungern in deren Haut, welche will- kürlich von einer Ebene des Daseins auf andere hinübergleiten : deren Leben muß gar abwechselungsreich sein. Was habe ich mein Lebtag darunter gelitten, daß ich immer den gleichen Körper tragen, mit immer gleichen äußeren Organen zur Welt in Beziehung treten muß ! Die, welche es gelernt haben, ihrem Leib zu entschlüpfen, und nun mit anderen Sinnen, in anderer Form die Bilder der Natur in sich aufnehmen, haben es besser. Sie können ihres Daseins nicht leicht überdrüssig werden. Leider kranken diejenigen unter meinen Bekannten, die sich der Fähigkeit, ihre Daseinsform zu verändern, mit dem größten Anschein von Berechtigung rühmen, an der Krank- heit aller Spezialisten : sie überschätzen die Bedeutung ihrer Kunst ; sie wähnen dem Atman näher zu kommen, indem sie ihren Aufent- haltsort wechseln und behaupten, jede verstiegenere Sphäre ver- körpere einen „höheren" Grad der Wirklichkeit. So können sie meine Frage nicht recht würdigen, ob die Verkündigung Jesu, die Ersten würden einmal die Letzten sein, vielleicht buchstäblich wahr sei in dem Verstand, daß jede Sphäre besondere Ausdrucks- gfelegenheiten bietet, dank welchem der, dem es auf Erden am besten gelingt, sich in der Astralwelt vielleicht am hilfslosesten erweisen wird, in deren dünner Luft die Träumer hingegen, die Un- tüchtigen im irdischen Verstände, sich desto wohler befinden werden? Ich neige stark zum Glauben, daß dem so ist, vorausgesetzt natürlich, was ich nicht weiß 1 , daß es eine Astralwelt gibt. Aber nie werde ich glauben, es sei denn, man bewiese es mir, daß die, deren wahre Heimat nicht die Erde ist, deswegen die wertvolleren seien ; entweder ist eine Anlage die andere wert, oder aber die Ausdrucks- fähigkeit auf Erden bestimmt den Rang. Ich persönlich bin fest überzeugt, daß alle Hauptentscheidungen auf Erden fallen, daß die, welche das Leben nach dem Tode als das vollere beurteilen, im Irrtum sind. Da ich über dieses aus eigener Erfahrung nichts weiß, kann ich kein assertorisches Urteil fällen ; aber ich habe die Be- richte anderer aufmerksam studiert, und diese sprechen doch sehr für meine Auffassung. Unser vielgeschmähtes Erdendasein hat den einzigen Vorzug, ernsthafte Widerstände zu bieten. Nur aus wider- stehenden Medien können substantielle Gebilde geformt werden, nur wo Widerstand ist, kann Fortschritt stattfinden: insofern ge- Absoluter Vorzug des Erdenlebens. 1 19 währt dieses Leben von allen die reichsten Gelegenheiten. Die heiligen Schriften der Inder lehren denn auch ausdrücklich, daß von allen Geburten die ins Menschenleben hinein die günstigste sei, so sehr, daß selbst die Götter als Menschen wiedergeboren werden müßten, wenn sie über das Göttertum hinausgelangen wollten ; in ihrer allzu leichtflüssigen Welt blieben sie ewig, was sie sind ; der Mensch hingegen, dem es ernst ist, könne unmittelbar ins Nirwana hinübergelangen. Wohl kann ich mir vorstellen, daß es Menschen gibt, die in anderen Welten besser zu Hause sind als hier ; aber das sind die Impotenten, die Schwachen. Wer sich deutlich ausdrücken kann, ist im absoluten Verstände mehr, als der, welcher bloß meint und stammelt. Zum Träumen, zum Ahnen, zum Schwelgen in Ge- fühlen und Stimmungen gehört nicht viel. Erst wenn das Wort Fleisch geworden, ist es vollkommen realisiert. Und diese Realisie- rung gelingt am besten auf Erden. So bekenne ich mich für meine Person, je mehr ich von anderen Lebensmöglichkeiten höre, desto entschiedener zur äußersten Ausnutzung dieser. Das, was in ihr voll- bracht werden kann, ist so bedeutend, daß es wenig verschlägt, wenn der auf Erden Ausdrucksfähige hinterher in anderen Sphären entsprechend versagen mag. Hätte Odysseus den klagenden Schatten Achills gefragt, ob er, zum Gewinn eines besseren Leben nach dem Tode, sein Heldendasein rückgängig machen wollte, dieser hätte ihm verächtlich den Rücken gekehrt. / Die meisten Theosophen sind Spekulationen dieser Art nicht hold. Sie glauben, wollen daß alle glauben, und verhalten sich kaum weniger feindlich zu jedem Versuch der Kritik an ihrem Dogmenbau, wie nur irgendein religiöser Verband. So wenig wird der Grundcharakter des Menschen durch ein noch so weitherziges Bekenntnis verändert! Die meisten Theosophen verkennen eben, daß unter allen Religionsformen auch die ihre nur auf relative Gültigkeit Anspruch erheben kann. (Denn die Theosophie ist eine besondere Religion, trotz aller Statuten der Gesellschaft, und muß es sein, sofern sie lebendig wirken will.) Wird die Menschheit nie über die Vorstellung hinauswachsen, daß ein bestimmter Glaube allein selig macht? Fast fürchte ich es, denn sie liegt allzu nahe und ihre vermeintliche Wahrheit scheint allzu evident. Wahrschein- lich entspricht ja die Theorie, daß nur der Gläubige erlöst werden kann, dem Tatbestande wirklich insofern als nur der, dem sein Unsterbliches bewußt ward, der das göttliche Licht in sich ent- 120 Erlösung durch Glauben; Vorzüge des Krankseins. zündet, Aussicht hat, den Tod bewußt zu überdauern. Da nun jeder Religionsstifter aus Erfahrung nur ein Mittel kennt, dieses Licht zu entzünden, so kann ihm nicht verdacht werden, wenn er verkündet: wer mir nicht glaubt, verfällt dem Gericht. In nur zu vielen Hinsichten erleben alte Menschheitsirrtümer im Theosophenglauben keine Aufhebung, sondern eine Wieder- geburt. Heute habe ich, durch die Anschauung der vielen Psycho- und Neuropathen, die zur Theosophischen Gesellschaft ge- hören, angeregt, speziell die altehrwürdige Überschätzung krank- hafter Zustände im Auge. Befremdlich ist diese keineswegs: zweifelsohne bezeichnet Kranksein einen positiven Zustand, weniger ein Minus an Gleichgewicht als eine andere Form desselben, welche der normalen für, viele Zwecke überlegen ist. Unlängst ist mir das wieder einmal sehr deutlich geworden, als ich mir (aus ganz guten Gründen) eingebildet hatte, von der Pest infiziert zu sein, und die bloße Vorstellung mich, wie bei mir üblich, wirklich krank machte, so sehr, daß mir war, als ginge schon das Sterben an: alles selb- stische Interesse verschwand, ich befand mich vollkommen frei, sämtliche Seelenkräfte strahlten geradeaus ins Unbegrenzte aus, was mir ein Wirklichkeitsbewußtsein von solcher Intensität verlieh, wie ich es gewöhnlich nicht kenne. Das sogenannte normale Be- wußtsein ist schon deshalb nicht das reichste, weil es vorzüglich Bewußtsein des Körpers ist. Wo die Lebensenergie diesen voll beseelt, sind die psychischen Kräfte zumeist auf den gleichen Mittelpunkt bezogen — unstreitig das biologische Optimum — so daß die Seele nur tut, will und erkennt, was dem physischen Organismus gemäß ist. Wo hingegen der Körper aus irgendwelchen Gründen als Vehikel des Lebens versagt, oder wo dieses ihm ab- sichtlich entzogen wird, dort erweitert sich das Bewußtsein bei jedem, in dem die Möglichkeit dazu besteht. Nun lebt die Psyche ganz in ihrer Welt, unbehindert durch körperhafte Schranken. Daher die wunderbare Serenität so vieler Sterbender oder Schwerkranker, daher das so häufige Zusammenbestehen eines großen Geists mit einem schwächlichen Leib, daher die Idee der Mortifikation, der künstlichen Schwächung des Körpers durch Fasten, Wachen, Geiße- lung und was sonst. Unzweifelhaft ist durch Gewaltmaßregeln solcher Art das Bewußtsein einer Erweiterung und Potenzierung Modifikation; Vorzüge der Blindheit. 121 fähig. Deren sind sogar weit mehr noch denkbar, als die asketische Technik, soweit ich sie kenne, je zur Anwendung gebracht hat. Bei innerlichen Naturen führt z. B. eine zu sehr schönen Ergebnissen, die meines Wissens niemals zu diesem Zwecke gehandhabt worden ist : ich meine Blendung. Ich bin einmal, nach einer Augenoperation, eine Zeitlang blind gewesen, und muß sagen, daß diese Periode zu den reichsten meines Lebens gehört; sie war so reich, daß ich eine unverkennbare Verarmung spürte, als ich mein Augenlicht wieder- gewann. Während des Blindseins wurde mir mein Geistesleben durch nichts Äußerliches und Fremdes gestört, so daß ich mich an dessen Selbsttätigkeit ohne Unterlaß erfreuen konnte. Dieser war ich mir viel intensiver bewußt als sonst: die sich folgenden Ein- fälle, die sonst so schwer zu fassen sind, erschienen mir nun wie auf einen dunkelen Hintergrund hinausprojiziert, von dem sie sich in wunderbarer Plastik abhoben. Das Fehlen eines wichtigsten Organs schärft ferner nicht allein die übrigen, es mutet ihnen neue Aufgaben zu und dies verändert die Gesamtlage auf die Dauer so sehr, daß mir das Bewußtsein eines Verlustes in kurzer Frist voll- ständig abhanden kam und ich nur das Gefühl hatte, auf eine neue, höchst interessante Weise, welche derjenigen augenloser Tiere ent- sprechen mag, zur Welt in Beziehung zu stehen. Begründet ist also die Auffassung, die in krankhaften Zuh ständen ein Höheres sieht, den Tatsachen nach gut genug; muß zu- mal den Theosophen so erscheinen, die im Erwerb abnormer psy- chischer Fähigkeiten ein Ideal sehen, denn solche treten* bei patho- logischen Naturen ohne Zweifel am häufigsten in Kraft. Gleichwohl ist sie von Grund aus verfehlt: Besitz höherer Fähigkeiten in ab- normen Zuständen bedeutet nichts, beweist nicht den minde- sten inneren Fortschritt ; hier erscheint das Abnorme durch Ver- lust oder Beeinträchtigung des Normalen erkauft, und insofern, wenn nicht überzahlt (was meist der Fall ist), so doch sicher ohne Reingewinn erworben. Fromme Seelen sind häufig befremdet durch die nicht abzuleugnenden moralischen Gebrechen bewunderter „Heiliger": deren außergewöhnliches Können war eben nur zu oft kein Normalausdruck einer höheren Seinsstufe, sondern das Zufalls- produkt krankhafter Verschiebung eines durchschnittlichen psychi- schen Gleichgewichts. Von solchen „Heiligen" zu den landläufigen Medien hinab, die fast alle menschlich nichts taugen, führt nur ein Schritt. Es ist buchstäblich keine Kunst, in Krankheitszuständen 122 Minderwertige Heilige; Psychopathen. seren, detachiert, überfeinfühlig, ja hellsichtig zu sein ; man kuriere solche höhere Wesen aus, und sie entpuppen sich schnell genug zu Durchschnittsmenschen. Das sind sie eben wesentlich ; das sind sie vor Gott. Wer Magie als Metier betreibt, gegen den ist natürlich nichts zu sagen ; der muß eben zusehen, wie er sich in dem Zustand erhält, von dem seine Leistungsfähigkeit abhängt. Auch gegen die Leistungen der Psychopathen als solche spricht ihre wesentliche Minderwertigkeit nicht: die Perle ist ein Krankheits- produkt der Auster. Man hüte sich ferner, jeden abnorm Begabten, welcher krankhafte Eigentümlichkeiten aufweist, gleich als patho- logische Erscheinung zu brandmarken : wenn Mohammed und der Heilige Franz an hysterischen Anfällen litten, so gilt Ähnliches auch von Napoleon und von Cäsar; höchstkomplizierte Mechanismen, die unter Hochdruck arbeiten, gelangen leicht in gelegentliche Unordnung, und diese Unordnung bedeutet doch nichts. Cäsar war nicht wesentlich Epileptiker, sondern die ungeheure geistige Spannung, unter welcher er lebte, fand auf diese Weise ihre f ü r ihn normale Auslösung, und gleiches gilt mutatis mutandis von vielen der größten spirituellen Heroen. Aber der Aberglaube muß ausgerottet werden, daß durch krankhafte Überreizung erkaufte Siddhis deren Besitzer zu einem höheren Wesen stempeln. Freilich kann in der Erweite- rung des Bewußtseins und seiner Wirkungssphäre ein biologischer Fortschritt zutage treten. Aber nur dann, wenn das Neue zum Alten hinzukommt, nicht es verdrängt. Jeder Krankheitszustand ist ein absolutes Übel ; nur der Siddha darf als höheres Wesen passieren, der im übrigen nicht weniger' ist als ein normaler Mensch ; nur er darf als Beispiel gelten. Was ich hier sage, dürfte allen wissenden Indern, im Gegensatz zu den meisten ihrer europäischen Jünger, selbstverständlich klingen. Es ist bewunderungswürdig, wie richtig sie von je diese Verhält- nisse eingeschätzt haben. Den Gurus des Altertums galten eine gute Gesundheit, ein vollkommen einwandfreies Nervensystem und eine robuste moralische Komplexion bei einem Schüler als Grund- bedingungen zur Aufnahme. Geistersehen als Naturanlage be- urteilten sie als Symptom von Gehirnerkrankung — nicht weil es keine Geister gäbe, sondern weil deren Sichtbarwerden, außer nach sorgfältig-sachverständiger Schulung, keine Erweiterung, sondern eine pathologische Verschiebung der normalen Bewußtseinslage be- zeichne. Nur die vollkommen Gesunden bildeten sie aus; und auch Urteilsklarheit der Inder ; der Yogi wesentlich gesund. 1?3 von diesen, so geht die Überlieferung, erreichten nur wenige ihr Ziel, da der meisten Nerven die Spannung nicht aushielten, wes- halb es geboten schien, die Ausbildung abzubrechen. Jedenfalls sollte keine moderne Bewegung, die sich an der indischen Yoga inspiriert, unterlassen, deren Qrundpostulat zum ihren zu machen ; der Yogi ist wesentlich gesund ; er ist unbeschränkter Herr seiner Nerven; er ist jederzeit im Gleichgewicht, in jeder Hinsicht ab- solut normal. — Sie sollte ferner nie aus den Augen verlieren, daß der indische Yogi — von allen sicher der, welcher es am weitesten gebracht auf dieser Linie — ein Feind der Kasteiung ist. Wohl übt er Askese d. h. er führt das Leben, das erfahrungsgemäß der spirituellen Entwicklung am förderlichsten ist ; allein er mortifiziert niemals sein Fleisch. Weder schweift er im Fasten aus, noch im Wachen, noch in der Observanz ; er befolgt die Diät, die seine Natur am meisten zu kräftigen, nicht zu schwächen geeignet er- scheint: und kultiviert im übrigen eine andauernd freudige, das Leben bejahende, optimistische Seelenstimmung. — Endlich sollte eines niemals vergessen werden: wenn ein Mensch auch tatsäch- lich, nicht bloß scheinbar, auf höherer biologischer Entwicklungs- stufe steht, so braucht er deshalb noch kein höheres Wesen zu sein. Der Mensch ist biologisch weiter als das Tier, doch gibt es Narren und Schufte genug unter uns, und der niedere Mensch steht oft unter dem Affen. So bezeichnen nur zu viele unter denen, die abnorme Kräfte in sich ausgebildet haben, wohl Ver- treter einer höheren Naturordnung, aber minderwertige Vertreter. Man tut nicht gut, sie als Götter zu verehren. Schätzt man ihr Wesen nun richtig ein, so wird man ihnen besser gerecht ; man läuft nicht Gefahr, durch blinde Nachahmung an seiner Seele Schaden zu nehmen, noch unterliegt man der Versuchung, um er- kannter Gebrechen willen das Positive zu verleugnen oder abzu- weisen. Unzweifelhaft waren nicht allein Buddha und Christus, sondern auch Mohammed, Walt Whitman, Swedenborg, William Blake und noch geringere biologisch weiter als wir. Aber sie waren weder vollkommen noch allwissend noch auch von vielen ernsten Gebrechen frei. Sie waren mittelmäßige Vertreter einer höheren Spezies. 1 24 Dunkler Anfang aller Religionsgemeinschaften. Wer die Masse der Theosophen genauer mustert, unter- drückt nicht leicht ein Lächeln ob deren Vorgabe, den Kern der neuen „Rasse" zu bilden, welche die große Kultur der Zukunft herbeiführen soll. In der überwiegenden Mehr- zahl sind es Leute von weniger als durchschnittlichem Geistes- niveau, zum Aberglauben neigend, neuropathisch, mit eben dem leicht-schadenfreudigen Egoismus auf das persönliche Heil bedacht, welcher von je für alle, die sich für auserwählt halten, be- zeichnend gewesen ist. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, daß die Geschichte ihre Anmaßung rechtfertigen wird. Aller Wahr- scheinlichkeit nach wird der Kern der Lehren, die unter anderen religiösen Gemeinschaften auch die Theosophische Gesellschaft ver- tritt, bald von Millionen als Glauben bekannt werden (man ver- gesse nicht, wieviele seiner Bekenner verheiratet sind!); unter welchem Banner dieser Glaube seinen offiziellen Einzug halten wird (falls es zu solchem kommt), hängt von Inkommensurabilien ab ; es könnte das der Theosophischen Gesellschaft sein. Welche Re- legionsgemeinschaft bestand nicht am Anfang aus ganz kleinen Leuten ? Nie hätte sich Paulus oder Augustin oder Calvin oder irgendeine der Leuchten der späteren Christenheit bei dessen Lebzeiten Jesu ange- schlossen. Bedeutende Menschen können nicht Jünger sein ; es ist ihnen physiologisch unmöglich. So fähig sie sind sich einem Ideal, einer Institution, einem objektivierten Geiste unterzuordnen — einem lebenden Menschen, nicht als beglaubigtem Repräsentanten, sondern als solchem blind zu folgen, widerstrebt nicht allein ihrem Stolz, sondern vor allem ihrer inneren Wahrhaftigkeit ; wo sie nur einen Menschen vor sich sehen, mit menschlichen Gebrechen und Schwächen behaftet, können sie nicht an Gottheit glauben. So hat sogar in Indien, dem Land des Glaubens par excellence, kein Religionsstifter, von dem ich gehört hätte, bei Lebzeiten geistig bedeutende Jünger gefunden. Die ersten, die sich um ein neues Glaubenszentrum scharen, sind ausnahmslos die Armen im Geiste, die Abergläubischen, die Psychopathen, denn die wollen vor allen Dingen geleitet werden ; dann folgen biedere Männer des prak- tischen Lebens, meist von Frauen hierzu verführt ; und erst wenn die Geschichte sich zum Mythos verfärbt hat (was im Orient freilich in Windeseile geschehen kann), wenn keine Tatsächlichkeit mehr dem Prozeß der Idealisierung im Wege steht, rücken die Die Mechanik religionsgeschichtlichen Werdens. 125 ersten bedeutenderen Geister nach. So kann es kommen, daß die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft von heute, wenn das Glück ihr hold ist, in der Geschichte tatsächlich als Pioniere fort- leben werden. Wer in die Mechanik religionsgeschichtlichen Werdens tiefer eingedrungen ist, wird sich hüten, die Unmöglichkeit irgendeines Ereignisses zu behaupten. Nirgends bestehen hier notwendige Zu- sammenhänge solcher Art, wie die Vernunft sie postulieren muß, um überhaupt konstruieren zu können. Darauf, daß von der Be- deutung der Gläubigen auf die des Glaubens keine Schlüsse zulässig sind, wies ich schon hin. Ebensowenig aber kann von der Bedeutung einer Idee auf die ihres Urhebers zurückgefolgert werden. Es ist bekannt, wie selten menschliche Größe mit geistiger zusammen- fällt; ein schwächliches Männchen nicht allein, ein höchst be- denkliches mag gleichwohl weltbewegende Ideen gebären. Eben dieses Verhältnis hat bis zu einem gewissen Grade auch bei den Stiftern der meisten Religionen zurecht bestanden. Mag die Le- gende noch so sehr von ihrer allbezwingenden Persönlichkeit be- richten — sicher ist, daß sie bei ihren Lebzeiten meist nur auf minderwertiges Publikum einwirken konnten ; was mit leidlicher Sicherheit beweist, daß sie starke Persönlichkeiten in gewöhnlichem Sinne nicht waren, denn solche erzwingen sich Anerkennung. So wenig besteht ein notwendiges Verhältnis zwischen der Entelechie einer Idee und derjenigen dessen, der sie gebar, daß von manchen Religionsstiftern nicht gewiß erscheint, ob sie überhaupt existiert haben. Wohl hat sich der spätere Mythos überall um eine historische Persönlichkeit herum verdichtet, aber ob diese die wirkliche Ur- heberin der weltbewegenden Ideen war, bleibt vielfach zweifelhaft. Der südliche Buddhismus stammt freilich von Buddha her; aber die Mahäyäna-Lehre, die dem nördlichen zugrunde liegt, geht sicher nur auf das erste Jahrhundert nach Christo zurück, ist in jenem Grenzlande zwischen Indien und Zentralasien aufgekommen, wo- selbst griechische und brahmanische Ideen sich gegenseitig durch- drangen und steht dem Sinne nach dem Christentum so viel näher als der Religion des Sakyersohns, daß man wohl berechtigt ist daran zu zweifeln, ob sie mehr als dem Namen nach buddhistisch ist. Die ursprüngliche Lehre Jesu bezeichnet hinsichtlich des Christentums, das seither die Welt erobert hat, nur ein Element ; sein Name ist zum Symbol und zum Brennpunkt all der vielfältigen Tendenzen 126 Die Juden als auserwähltes Volk. geworden, die in namenloser Tiefe die Geschicke des Westens be- stimmten ; daher seine ungeheure historische Bedeutung, die in gar keinem Verhältnis steht zu dem geringen Grade, in dem seine Ideen bis heute verwirklicht worden sind. Und so geht es überall. Der Nietzscheanismus steht vielfach in direktem Gegensatz zu Nietzsche, um Bergson's Namen scharen sich Tausende, denen seine wahre Lehre, sofern sie dieselbe verstehen könnten, ein reines Ärgernis wäre. Es kann einer zu einem Größten im Sinne der Geschichte werden, ohne überhaupt gelebt zu haben ; ohne das gelehrt zu haben, was seine historische Bedeutung bedingt; ohne überhaupt etwas gelehrt zu haben ; ohne bedeutend gewesen zu sein ; und so fort. Gottes Wege sind unerforschlich, heißt es. Sicher spotten die Wege der Geschichte jeder noch so weit ausholenden Vernunftkonstruktion. So töricht Antisemitismus als Weltanschauung ist — er muß doch seine Berechtigung haben, da die Juden auf dem ganzen Erdenrund, im Orient noch mehr als im Okzident, all- gemein und gleichmäßig verachtet werden und von jeher ver- achtet worden ,sind. Und doch : wenn irgendein Volk ein Recht hat, sich für „auserwählt" zu halten, so gilt dies vom jüdischen. Sein Glaube liegt Christentum und Islam zugrunde und be- herrscht so indirekt die Welt; trotz aller Unterdrückung und Ver- achtung ist es nie degeneriert und heute gar gehören ihm die meisten unserer geistigen Führer an. So mag auch die Theoso- phische Gesellschaft trotz des problematischen Charakters mehrerer ihrer ersten Größen, trotz des Unbefriedigenden vieler ihrer Lehren, trotz der Minderwertigkeit der meisten ihrer heutigen Mitglieder, noch eine große Zukunft vor sich haben. Ich berührte vorhin einen Punkt, der eine eingehendere Be- trachtung verdient: die offenbare Unfähigkeit vieler derer, die von der Nachwelt als allbezwingende Persönlichkeiten gefeiert werden, ihre Zeitgenossen, einige wenige unbedeutende ausgenommen, un- mittelbar zu beeinflussen. Alle Propheten sind verlacht worden. Das beweist, wie ich schon schrieb, daß sie wirklich nicht die Macht hatten, so zu wirken, wie die große Persönlichkeit dies tut, denn diese wird, wenn auch regelmäßig angefeindet, so doch immer bei Lebzeiten von allen als solche anerkannt. Bei näherer Betrachtung erscheint diese ihre Unzulänglichkeit nicht weiter wunderbar. Die Kraft solcher Geister manifestiert sich in einer anderen Sphäre, als die der weltlich Großen, und für wen diese Sphäre nicht in Be- Weltliche Ohnmacht geistlicher Riesen. 1 27 tracht kommt, auf den können sie nicht einwirken. Gleichwie die Macht eines abstrakten Intellekts nur von dem gespürt wird, der gleichen Denkens fähig ist, gleichwie der Genius nur vom Genius erkannt wird, so ist der gewaltigste spirituelle Riese über den doch machtlos, der keine Spiritualität besitzt. Natürlich kann es vorkommen, daß er überdies noch weltlich-gewaltig ist — dies gilt in hohem Grade von Augustin, von Savonarola, Luther und wenigen anderen — aber in der Regel ist er dies nicht, denn Spiritualität verlangt einerseits, erzeugt andererseits, je sublimierter sie wird, ein desto zarteres Naturell. Spirituelle Genien heischen ausnahms- los von vornherein Glauben, während weltliche dies selten tun, des gewiß, daß der Glaube der Erfahrung folgen wird — warum? Weil sie auf nicht gleichgestimmte Seelen genau nur soweit einwirken können, als diese ihnen entgegenkommen. Sie sind also typischer- weise im gewöhnlichen Verstände schwach. Ihre Kraft steht gleich- wohl außer Frage. Sie erweist sich am wenigsten in den unmittel- baren Bekehrungen oder Erneuerungen, die sie bewirkt — deren Objekte sind selten ernst zu nehmen; sie äußert sich darin, daß sie durch alle Zeit dem Geschehen Sinn und Richtung gibt. Die Ideen des Christentums, zunächst von kleinen Leuten aufgenommen, welche kaum mehr wußten, was sie taten, als die Schergen, die den Heiland kreuzigten, haben mehr und mehr, je weiter die Ge- schichte fortschritt, alle .Lebensgestaltung durchdrungen ; so sehr, daß heute eigentlich alles, was im Westen lebendig ist, auf den Geist Jesu Christi zurückgeht; ein gleiches gilt von Buddha, von Mohammed. Überall erweisen sich die spirituellen Kräfte auf die Dauer als die stärksten. Sie wirken auf geheimnis- volle Art: selten sind es die authentischen Worte der Erleuchteten, welche ihre Lehren durch die Zukunft tragen, so gut wie ni,e sind es originale Schriften, und die meisten Überlieferungen, die sich auf sie beziehen, sind sagenhaft. Es sind unfaßbare Impulse, die von den Meistern ausgehend, durch tausend Geister hindurch, durch tausend Umbildungen, Verdichtungen, Mißverständnisse, ihre magische Kraft gleichwohl bewahrend, dem Geschehen fortan die Richtung geben. Vielleicht trägt die Theosophie zurzeit einen solchen Impuls? Wer vermag das zu sagen? Die Zeit allein kann es er- weisen. Sie behauptet von den „Meistern" inspiriert zu sein, all- wissenden Übermenschen, die aus unerkannter Abgeschiedenheit heraus die Geschicke des Menschengeschlechtes lenken. Dieser i 28 Die Meister der Theosophie. Glaube an die Meister wird viel verlacht: warum zeigen sie sich denn nicht? warum wirken sie nicht unmittelbar ein? warum rührt keine der Großtaten des Menschengeistes von ihresgleichen her? Wozu bedienen sie sich zur Erfüllung ihrer Absichten so auffallend unzulänglicher Organe? — Ich weiß nicht, ob es Meister gibt; aber theoretisch möglich sind Wesen ihrer Beschreibung gewiß. Sind es Übermenschen im Sinne der Spiritualität, dann mag von ihnen im äußersten Maße gelten, was von allen geistlich Großen gegolten hat: sie erscheinen machtlos in allen niederen Sphären, können überhaupt nicht mehr unmittelbar in ihnen wirken, so daß es seinen triftigen Grund hat, wenn sie im Verborgenen bleiben wollen. Überall in der Natur muß Aufsteigen bezahlt werden: der Zarte ist dem Rohen unterlegen, der Spiritualisierte dem groben Patron, der Weise kann vieles nicht, was der Weltmann vermag usf. Aber freilich: gibt es Meister, dann kann nicht wahr sein, was die Theosophen von ihnen behaupten — sie könnten alles, täten es nur nicht, weil ihnen solches in ihrem unbegreiflichen Ratschluß besser dünkt. Sie können sicher nicht, was wir vermögen. Gott kann auch nicht, was wir können, sonst würde Er uns nicht so frei gewähren lassen. Jede Daseinsstufe hat spezifische Schranken. Und diese erscheinen desto auffallender, vom Standpunkte des Durch* schnittsmenschen her gesehen, je geistiger ein Wesen ist. Wieder und wieder wird mir versichert, die Reinkarnations- lehre sei keine Interpretation, sondern der unmittelbare Ausdruck eines nachweisbaren Tatbestandes. Ich kann diese Versicherung nicht nachprüfen, enthalte mich daher des Ur- teils: Immerhin ist sie eine Theorie, und Theorien sind keine Tat- bestände. Mich wundert, daß v es noch keinem Reinkarnations- gläubigen aufgefallen ist, daß sein Glaube praktisch auf das gleiche hinausläuft, wie der entgegengesetzte an die gottgewollte Einfür- allemaligkeit jeder Lebensstellung, wie Konfuzianismus und luthe- risches Christentum sie voraussetzen. Denn auch er behauptet ja nicht, daß eine gleiche Person von Verkörperung zu Verkörperung fortschreitet (wie wenig dies der Überzahl seiner Bekenner klar sein mag, die sich ja meistens aus Selbsterhaltungstrieb zu ihm be- kehrt haben), sondern nur daß von innen -her ein objektiver Zu- sammenhang besteht zwischen den verschiedenen Erscheinungs- Die Wiederverkör perungslehre. 1 29 formen des Lebens. Eben das behauptet das Luthertum ; nur das vereinigende Band interpretiert es anders. Darum wäre ich, als kritischer Philosoph, bis auf weiteres geneigt, den sich ausschließen- den Theorien den gleichen Wahrheitsgrad zuzusprechen. Die eine drückt den Tatbestand in kinematischer, die andere in statischer Sprache aus. Die kinematische Auffassung des Lebensprozesses hat nun un- zweifelhaft sehr große Vorzüge. Wie keine andere rechtfertigt sie das Geschehen vor der Vernunft, sie nimmt ihm seinen trostlosen Charakter, stimmt das Herz Vertrauens- und hoffnungsvoll. Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht früh oder spät auch im Westen zur Vorherrschaft gelangte. Trotzdem muß ich es jetzt, wo ich Reinkarnationsgläubige aus eigener Anschauung kenne, als die viel- leicht größte bonne fortune der westlichen Menschheit ansprechen, daß sie ein paar Jahrtausende lang diesen Glauben nicht gehegt hat. Die weitaus meisten seiner Bekenner sind indolent. Kein Wunder: da sie Jahrtausende vor sich haben, um weiterzukommen, da der Weltprozeß sie ferner von sich aus vorwärts treibt (denn der ob- jektive Sinn des Geschehens gilt ihnen als ein aufwärtsgerichteter) so sehen sie keine Veranlassung zur Eile. Sie lassen sich mehr leben, als daß sie leben, verschieben auf übermorgen, was heute geschehen sollte, vertrauen in allem auf die allesvollbringende Zeit. Hiergegen der Christ, der nur ein Leben vor sich hat, eine kurze Frist, deren Ausnutzung unwiderruflich darüber entscheiden wird, ob er errettet werden kann oder ewig wird braten müssen: der hat wahrlich Veranlassung sein Äußerstes dranzusetzen, mit aller verfügbaren Kraft augenblicklich zu tun, was im Augenblick geschehen kann, denn eine Sekunde später ist es vielleicht zu spät. Seine Vorstellung vom Weltlauf ist entsetzlich, gewiß — aber wie sehr stählt sie! Wie verbrüht sie alle Sentimentalität! Wie spornt sie die Lebensgeister an! Wie sehr beschleunigt sie die Entwickelung! Und welches Pathos verleiht sie dem Dasein! Die ganze Dichtigkeit und Effikazität des Westländers, seine ganze Charakterstärke und Willensenergie, sein ganzer trotziger Mut und männlicher Stolz rührt daher, daß sein Glauben ihn dazu erzogen hat, die schwerste Verantwortung zu tragen und sich ohne Umschweife zu entscheiden. Der Europäer (wie übrigens auch der Muslim) stellt dem Inder gegenüber die viel potenziertere Lebenseinheit dar, er ist viel gespannter, vitaler. Das verdankt er Keyserling, Reisetagebuch. 9 1 30 Vorzag des Glaubens an das Jüngste Gericht; Plato. zum nicht geringen Teil dem Glauben seiner Väter an das Jüngste i Gericht. Auch ich meine, daß dieser seine Arbeit getan hat ; daß er jetzt einem weiseren Platz machen kann. Fortan mag sich auch die Christenheit, wenn es ihr so gefällt, zum Wiederverkörperungs- glauben bekennen, denn jetzt sind die Eigenschaften, die der alte ins Leben rief, schon so fest unserer Erbmasse eingebildet, daß sie sich ohne äußere Stützungen forterhalten werden. Immerhin ist es unwahrscheinlich, daß dieser Vorstellungswechsel ohne Verlust ge- schehen wird: das Pathos, das die Überzeugung vom einmaligen und entscheidenden Charakter des jeweiligen Lebens bedingt, geht verloren. Aber wenn die Seelenwanderungslehre auch sehr große Zu- kunftsaussichten hat, so steht doch zu hoffen, daß sie niemals die Rolle spielen wird wie heute im Bewußtsein der Theosophen. An- statt, wie die Inder, den vorausgesetzten Tatbestand gelassen anzu- erkennen und im übrigen an anderes zu denken, beschäftigen diese sich unausgesetzt mit den Möglichkeiten der Vergangenheit und Zu- kunft. Sie studieren ihre okkulten Stammbäume mit einer Eitelkeit, die vielfach widerlich wirkt, arbeiten mit kleinlichster Vorsorge ihrem künftigen Leben vor und schweifen, was das Okkulte betrifft, in der Neugierde in einem Grade aus, der auf der Ebene des Manifesten mit Recht als unanständig gilt. ... Ich muß an Plato denken, auch einen Gläubigen der Seelenwanderung: wieviel angemessener war die lächelnd-weltmännische Art, mit der er die großen Probleme behandelte, als die irdisch-schwerfällige der Theosophen! Er sagte: freilich wird die Seele wiedergeboren — aber vielleicht wird sie es auch nicht? Wer kann das wissen? Ich selber weiß nicht, was ich Weiß ; es ist wohl nur eine Redensart, diese Theorie, oder ein schönes Märchen, an das man glauben mag oder auch nicht, je nach der Stiinmung. ... Das Faszinierendste für mich an Adyar ist die Atmosphäre der Messiaserwartung. Unter den Residenten befindet sich ein — indischer Jüngling, von dem es heißt, daß der Heilige Geist sich seiner einmal als Gefäßes bedienen werde ; das hätten die Meister geoffenbart. Er werde dem kommenden Zeitalter zum Hei- land werden. Für einige Tage habe ich diesen Glauben übernommen, um möglichst alles zu erleben, was er bedingt, und gestehe, daß Der Messias von Adyar. ; 131 ich ihn ungern wieder abgelegt habe: denn es ist eine Lust zu leben unter solcher Voraussetzung. Welch' ungeheuren Hintergrund gibt sie dem unscheinbarsten Dasein ! Wie steigert sie das Selbst- gefühl ! Wie spannt und begeistert sie alle Kräfte! Ich bin über- zeugt: wenn ich mit meinem ganzen Wesen diesen Glauben dauernd bekennte, ich würde zehnmal leistungsfähiger sein, und, sei er noch so unbegründet, zehnmal schneller meinem inneren Ziele nahe- kommen. Denn was bedeutet er? eine Objektivierung des Ideals. Nie ist es der Heiland als solcher, welcher erlöst, sondern das Ideal seiner Gläubigen, das er verkörpert. Gleichwie die Anschauung des Kreuzes oder eines Heiligenbildes die Konzentration der Aufmerk- samkeit auf das Göttliche erleichtert und verstärkt, genau im gleichen Sinne, nur in höherem Grade, hilft ein fleischgewordenes Ideal. Jeder hat das im Kleinen erfahren. Aufschauen erhebt. Wen immer man verehrt und bewundert hat — solange man ernsthaft verehrte, hat auch das Mißverständnis einen weiter gebracht. Es kommt eben nicht darauf an, was das verehrte Objekt an sich sei, sondern auf das, was es einem bedeutet. Hierher rührt es, daß unerreichbare Ideale — unerreichbar nicht allein weil sie transzendent wären, son- dern weil ihre Träger fern oder tot sind — sich auf die Dauer am besten bewähren : deren Wirkung kann durch kein empirisches Ver- sagen beeinträchtigt werden; hierher rührt es, daß es religiös so gleichgültig ist, ob ein Gottmensch je gelebt hat oder nicht. Glauben im religiösen Sinne heißt nicht Für-wahr-Halten, sondern Streben nach Selbstrealisierung durch Konzentration der Gemütskräfte auf ein vorausgesetztes Ideal. Und die unvergleichliche Wirkung lebender Gottmenschen (wo von solchen die Rede sein kann), rührt daher, daß sie ihrer Gefolgschaft das ihre unvergleichlich deutlich machten und seine bildende Kraft dadurch in ungeheurem Maße steigerten. So be- zeichnet der theosophische Messiasglaube zunächst ohne jeden Zweifel ein produktives Moment. Wie es später sein wird, steht freilich in Frage. Daran zweifle ich nicht, daß der betreffende Jüngling, falls er lebt und sonst kein Unglück geschieht, zum Religionsstifter werden wird: das würden viele werden unter- gleich starker Suggestion. Aber sollte sich sein Kaliber als zu klein erweisen, so daß er der Kritik gar nicht stand halten kann, so könnte das desaströse Folgen haben. In früheren Zeiten, wo Heilande, wenn nicht zu den alltäg- lichen, so doch den nicht allzu seltenen Gästen gehörten, war die Glaubenskraft der Menschen so groß, daß keine Entgleisung und 9* 1 32 Existenz eines Heilands religiös gleichgültig. Enttäuschung sie innerlich schädigte ; desto weniger, als sie gar nicht wirklich enttäuscht werden konnten — sie glaubten trotz allem und durch alles hindurch. Das war ihr Glück: Glauben ist ein a priori, eine selbständige schöpferische Macht, die sich als solche selber rechtfertigt. Diesen Glauben kennt der Moderne nicht; der seinige ist ein zartes Gewächs, das der geringsten Verwundung er- liegen mag, und von allen Geschädigten ist der Enttäuschte am übelsten dran, weil der Verlust des Glaubens recht eigentlich ent- vitalisiert. Ohne ihn ist volles Selbstbewußtsein nicht möglich. Weil der Glaube fehlt, deshalb sehnen sich heute so viele nach einer neuen Religion: sie bedürfen eines äußeren Brennpunktes, um ihre inneren Kräfte zur Einheit zu sammeln, denn noch sind die wenigsten so weit, dies von innen her selbsttätig zu vermögen, ohne äußeren Halt enttäuschungsunfähig zu sein. Die jüngste, so tiefsinnige Ausdeutung des Christenglaubens auf den einen Spruch hin, daß das Himmelreich inwendig in uns sei, geht im allgemeinen noch auf kein vertieftes Selbstgefühl zurück, sondern die Erkenntnis einer dem Leben vorausgeeilten Vernunft. Insofern ist die Zeit, da religiöse Führer nützen können, auch für Europa noch nicht vorüber. Aber wie gesagt: die Glaubenskraft ist heute gar zu schwach, und wird ein bestimmter, glücklich erwachsener Glaube auf einmal zerstört, so kann das allen Glauben ruinieren, was unabwendbar zu Nihilismus und Zersetzung führen würde. So sehe ich dem Schicksal des neuen Welterlösers, der im übrigen meiner Sympathie gewiß ist, wie jeder, der ein beschleunigendes Motiv ins Leben bringt, nicht ohne ernste Sorgen entgegen. Natürlich wollen es die orthodoxen Theosophen ebensowenig wahrhaben, wie die Christen, daß die empirische Tatsächlichkeit eines Heilandes nicht sein Wesentliches sei. Und scheinbar mit Recht, denn zweifellos kommt es darauf an, wer der ist, dem man sich gläubig hingibt. Ein erleuchteter Geist kann noch dunkele Exi- stenzen erhellen, ein Genius der Liebe noch verhärtete Herzen er- weichen, was Geringere, die noch so starken Glauben finden, nicht vermögen. Aber das ändert nichts an der Wahrheit meiner Behauptung. Kein Lehrer vermag zu geben, was nicht latent in einem vorhanden war: er vermag nur das Schlummernde zu wecken, das Verschlossene zu befreien, das Verborgene hervorzuziehen. Das genügt, um ihm den Rang zu sichern, den ihm die Menschheit immer zuerkannt hat, denn allzu selten geschieht es, daß einer sich beistände Wahrer Sinn des Erlösertums. 1 33 los seiner selbst bewußt werden kann ; ohne Hilfe von außen her wird das Latente nur ausnahmsweise manifest. Aber nie darf dies doch so gedeutet werden, daß Lehrer geben, was man von sich aus nicht besaß ; sie sind immer nur Auslöser, nicht Schenker. Und was einmal da ist, kann im Prinzip auf tausend Weisen zutage ge- fördert werden. So haben die Menschen auch von je auf vielen Wegen sich selbst gesucht und gefunden. Die Stärksten ohne äußere Hilfe, weniger Starke mit geringer, noch Schwächere mit größerem äußerem Aufgebot; dementsprechend gibt es Systeme der Asketik von monumentaler Einfachheit abwärts bis zur äußersten Kompli- kation, Religionsformen mit und ohne Vermittler, auf Autorität oder auf Selbstbestimmung aufgebaut. Sinn und Zweck sind überall die gleichen. Da die Masse nirgends selbständig ist, so haben alle Religionen überall, wo sie der Gesamtheit ein Evangelium sein wollten, den Nachdruck auf die Vermittelungen gelegt; im mo- dernen Hinduismus spielt Sri Krishna und im nördlichen Bud- dhismus Amidha-Buddha genau die Rolle, wie Jesus innerhalb des Christentums. Gleiche Nöte erheischen gleiche Heilmittel. Aber das ist ein Aberglauben, daß die Heilande als solche, als bestimmte Menschen, die Erlöser wären: persönlich kommen sie nur als Aus- löser in Betracht. Und von den meisten, vielleicht von allen, gilt nicht einmal so viel, da ihre eigentliche Wirksamkeit erst spät nach ihrem Tode begonnen hat: sie wirkten als reine Verkörperungen des Ideals. Hier komme ich denn nochmals auf den Vorzug un- erreichbarer Ideale vor erreichbaren zurück: was die Phantasie un- behindert idealisieren darf, ist das bei weitem zuverlässigere Gefäß. Im glaubenskräftigen Orient mag ein gebrechlicher Mensch trotz aller Schwächen als Avatar verehrt werden ; dies geschah jüngst erst Ramakrishna Paramahamsa, dem ekstatischen Heiligen von Dakshi- neswar. Unter modernen Europäern, selbst unter Theosophen, wird solches schwer mehr zustande kommen. Wie denn auch Ramakrishna nur seitens eines kleinsten Kreises bei Lebzeiten gottgleiche Ver- ehrung genoß und erst jetzt, über dreißig Jahre nach seinem Tod, zum katholischen Heiligen auszuwachsen beginnt. Worauf beruht nun im Letzten, im Metaphysischen, der Trieb, sich einem Höheren hinzugeben, unser Glück, wenn wir Höheres schauen dürfen, die gewaltige innere Förderung, die es bedingt? — Sie beruht darauf, daß der Mensch in dem, was über ihm steht, einen wahreren Ausdruck seiner selbst erkennt, als er ihn selber 1 34 Ein Beispiel geben als Äußerstes. darzustellen vermag. Jeder fühlt, nur zu sehr, wie unvollkommen er in seiner Erscheinung sein wahres Wesen realisiert. Er handelt nicht seinem Selbste entsprechend, denkt nicht so, wie er es meint, ist anders, als er sich innerlich sein fühlt. In jedem Individuum sind, mit seltenen Ausnahmen, so disparate Anlagen vereinigt, daß es ihm mit der vorhandenen Kraft nicht gelingen kann, sie sämtlich zu durchseelen. So sind Schöne meist dumm, große Täter selten ver- ständnisreich, geistig produktive Naturen nur ausnahmsweise als Menschen der Vollendung fähig. Aber jeder weiß, daß er wesent- lich mehr ist, als er zur Darstellung zu bringen vermag; und er- kennt sich daher im Vollendeten besser wieder, als in der eigenen unvollkommenen Gestalt. So verstehen wir augenblicklich eine Wahrheit, die wir nimmer selbst gefunden hätten und sagen dabei: so meinten wirs eigentlich. So fühlen wir uns wunderbar gesteigert, ausgeweitet, wenn wir vollkommener Schönheit gegenüberstehen, denn in vollendeter Gestalt erst findet das Wesen die ihm ganz gemäße Ausdrucksform. Im eben dem Sinne schaut der schwache Mensch be- glückt in der großen Seele eines anderen sein endlich entsprechend ausgedrücktes Selbst. Wer je einem Großen begegnet ist, hat sich gesagt: den habe ich immer gekannt. Freilich hat er das. Hierher rührt denn im letzten die ungeheure Wirkung, die das bloße Dasein eines solchen ausstrahlt. Er zeigt den Menschen, was alle sein könnten, was alle im Tiefsten, im Geiste und in der Wahrheit sind. Und wie immer der klare Ausdruck dessen, was das Bewußtsein im Stillen und Dunkeln meint, nicht nur beglückt, sondern die Fort- entwickelung beschleunigt, so hilft der antizipierte Ausdruck ihrer Selbst, das ein Großer allen bedeutet, ihnen allen zu beschleunigter Selbstverwirklichung. Hier wurzelt die alte Erkenntnis, daß das bloße Dasein eines Heiligen mehr Segen bringt, als alle guten Handlungen der Welt ; hier wurzelt im Letzten die Bedeutung eines Heilands. Er gibt der Menschheit ein Beispiel; so hat es auch Christus gemeint. Damit tut er aber das Äußerste, was ein Wesen für ein anderes tun kann. Er zeigt den Menschen ihr tiefstes Selbst im Spiegel ; er schafft ihnen Klarheit über ihr Ideal. Er ver- körpert es sichtbarlich und gibt damit den schöpferischen Kräften, die vom Wesen her jeden himmelwärts treiben, das ersehnte Vorbild und Ziel. Nun wissen sie, wohin sie hinaussollen, nun wissen sie, was ihnen möglich ist. So kann es geschehen, daß das absichtslose Da- sein eines großen Menschen dem Leben aller eine Wendung gibt Jüngste Entwickelung Christi; Sieg des Protestantismus. 135 Und doch, und doch — kann die Menschheit einen Heiland noch brauchen? Kann er noch das für sie bedeuten, was ihn allererst zum Heiland macht? Spricht nicht Iwan Karamasoffs Vision vom wiedererstandenen Christus und dem Groß- inquisitor in dieser Frage das letzte Wort? — Insofern wohl nicht, als es noch keine homogene Menschheit gibt; noch steht die Mehrzahl auf einer Entwicklungsstufe, die sie zur Aufnahme eines Erlösers im Prinzip wohl geeignet erscheinen läßt. Es treten ja deren auch wieder und wieder auf, nicht nur im Orient, sondern auch mitten in unserer Welt, und finden bereitwilligst Glauben. Bisher hat keiner von ihnen posthum sehr große Karriere gemacht (mit der einzigen Ausnahme M rs * Baker-Eddy's, die aber schwerlich, so weit sie es gebracht, bis zur Welterlöserin aufsteigen wird)}, aber was geschehen kann, ist unberechenbar ; kein Römer noch zur Zeit Diokletians hätte für möglich gehalten, daß der ganze Westen sich dereinst zu Christo bekennen würde. Immerhin scheint soviel mir gewiß : die Kreise, auf die es ankommt, insofern sie die Träger der geschichtlichen Bewegung sind, können einen neuen Heiland wohl nicht mehr gebrauchen. Woraus folgt, daß — sofern keine Barbarisierung hereinbricht, wie nach dem Zusammenbruch des römischen Reichs — kein Religionsstifter es fortan mehr, soweit sich absehen läßt, zur Stellung eines Welterlösers bringen wird. Ich will nicht von den technischen Hindernissen reden, die solcher Laufbahn heute im Wege stehen : dem Prestige der wissen- schaftlichen Kritik, der wachsenden Aufklärung, dem Schwächer- werden der Glaubenskraft, der Publizität; die könnten überwunden werden. Was einer neuen Messiaslaufbahn unter uns recht eigent- lich den Boden untergräbt, ist die wachsende Neigung aller Vorge- schrittenen, ihre eigenen Erlöser zu sein. Es ist nicht zu leugnen : der Geist des Protestantismus siegt. Höchst interessant und charak- teristisch ist es, was aus Christus im Laufe seiner jüngsten Ent- wickelung wird. Schon tritt der historische Jesus ganz zurück ; schon wird von objektiver Erlösung ganz geschwiegen; schon wird die ganze Theodicee des Mittelalters ignoriert. Was übrig bleibt, ist der inwendige Christus, den Jesus als erster Mensch in sich zum Leben erweckt hätte, den nunmehr jeder für sich, auf seine persönliche Weise, in sich zur Herrschaft bringen soll. Wer schon Christus als Person nicht berücksichtigt, wird schwerlich 136 Weltreligionen fortan unmöglich. einen neuen Heiland anerkennen. Und diesen selbständigen Geistern gehört die Zukunft ; darüber kann kein Zweifel sein. Man beurteile den Tatbestand wie man will — ich persönlich bin alles eher als blind gegenüber den Nachteilen übertriebener Protestantisierung — es ist keine Frage, daß der „objektive Geist" sich unaufhaltsam einem Zustande zubewegt, indem der Einzelne, aller Vermittelungen entratend, persönlich und unmittelbar über alles, was ihn innerlich angeht, entscheiden will. Dieses Ergebnis war seit den Tagen der Reformation vorauszusehen ; was damals angebahnt ward, wird rest- los verwirklicht werden. Und bis das geschehen ist, bis sich gezeigt hat, was dieser neue Zustand objektiv wert ist, besteht keine Aus- sicht, daß andere Tendenzen historische Bedeutung gewännen. So werden die Träume der Theosophen vom kommenden Welt- erlöser wohl schwerlich eine Verwirklichung erleben. Aber zu einer Sekten heilandschaft könnte ihr Messias es wohl bringen ; und das wäre schon genug. Es wäre an der Zeit, die Idee einer „Welt- religion" ein für alle Male fallen zu lassen ; wie denn alle Verallge- meinerungsversuche im Konkreten, diese letzten Überreste aus pri- mitiven Denkstadien. Es konnte Weltreligionen geben — und gibt deren ja heute noch — wo die Menschheit wenig individualisiert war und gleichzeitig weite geschlossene Verbände bestanden. Aber die Menschheit individualisiert sich mehr und meTir von Tag zu Tag; sie wird sich dessen mehr und mehr bewußt; und immer stolzer auf das Persönliche. So verliert die Idee der Universalität in allen innerlichen Fragen mit jedem Tage an Bedeutung und Macht, erweisen sich allgemeine Formeln als immer unzulänglicher. In immer besonderer Gestalt offenbart sich der Sinn dem Einzelnen und das ist gut, denn, wie Adele Kamm sich ausdrückt, Gott wird mächtiger dadurch. Die Theosophische Gesellschaft hat die Idee der Universalität dadurch zu retten und ihren Zwecken dienstbar zu machen versucht, daß sie alle Religionsformen in sich beschließen will. Das macht sie, fern davon sie zu stärken, schwach. Ein so weites kann als Monade nicht bestehen. Es kann keinem eine innere Form geben, der eigentliche Zweck der Konfession. Nun will sie zwar auch keine Konfession sein, aber diesen Willen gibt sie un- willkürlich auf; sie muß es, sofern sie als Lebendiges dauern will ; als bloß wissenschaftliche Vereinigung vermöchte sie nichts. Ersteht der erhoffte Messias, dann wird ein Teil der Theosophischen Gesellschaft von heute sich wohl um ihn gruppieren. Indessen aber Die Theo sophie hat keine Weltmission. 137 kristallisieren die Gefolgschaften Annie Besanf s, Katherine Ting- ley's, Rudolf Steiner's und mancher anderer in aller Stille zu ab- geschlossenen Sekten aus. Und das ist gut. Nur in dieser Form hat die Theosophie als konkrete Gestaltung Zukunft. Natürlich wollen es die Führer von heute nicht wahrhaben, daß der gran- diose Traum Madame Blavatskys keiner dauerhaften Verwirk- lichung fähig ist. Es schadet auch nicht, daß sie sich an ihn fest- klammern, denn das gibt ihrem Schaffen einen großen Zug. Aber früher oder später werden sie es einsehen müssen, daß das Streben nach Katholizität ein Mißverständnis ist, und sogar dankbar sein dafür, daß die Natur der Dinge sie am Ausführen ihres Vorhabens verhindert. So, wie sie geplant ward, könnte die Theosophische Ge- sellschaft nicht auch annähernd so viel wirken und bedeuten, wie sie in ihrer tatsächlichen Gestalt bedeuten kann und wird. Natürlich wird man der Theosophie nicht gerecht, indem man ihren Ideenkreis mit der Messiaserwartung des Adyarkreises in notwendigen Zusammenhang bringt. Allein ich fürchte, was ich über die Unwahrscheinlichkeit einer Weltmission der Theosophie bemerkte, besteht unter allen Umständen zu recht. Es ist gut möglich, daß ihr System in höherem Grade, als ich selber wahrhaben möchte, den wirklichen Verhältnissen entspricht, es ist sehr wahrscheinlich, daß es dereinst dem Geiste (wenn auch schwerlich dem Buchstaben) nach von der Mehrzahl der Menschen anerkannt werden wird, denn schon heute gilt dies unter noch so verschiedenen Namen in hohem Maße. Theo- und Anthro- posophie, New Thought, Christian Science, die neue Gnosis, Vive- kanandasVedäntismus, der neu-persische und -indisch-islamische Eso- terismus, von dem der Hindus und Buddhisten zu schweigen, das Bahaitum, die Weltanschauungen der verschiedenen spiritualistischen und okkultistischen Zirkel, sogar die der Freimaurer gehen ja alle von einer wesentlich gleichen Grundauffassung aus und sicher haben alle diese Bewegungen mehr Zukunft, als das offizielle Christentum. Aber dies sichert der Theosophie als lebendiger Entelechie doch keine. Was diese zu dem macht, was sie heute ist, ist nicht ihr theoretisches Lehrgebäude, dessen Grundriß Millionen anerkennen, die um keinen Preis als Theosophen gelten möchten, 1 38 Religiöser Unwert okkulter Ausbildung. sondern eine bestimmte Auffassung, Ausdeutung und praktische Anwendung desselben. Das Wort Theosophie bezeichnet heute die besondere Konfession eines bestimmten religiösen Verbandes, und daß dem eine Weltmission bevorstünde, bezweifele ich. Die Theo- sophie als Religion wird fortfahren viele einzelne glücklich zu machen, beschränkten Sekten einen Inhalt zu geben, allein im Leben als historische Bewegung wird sie keine bedeutende Rolle spielen. Ich will die wichtigsten prinzipiellen Momente zusammenstellen, die dem entgegenstehen. Der erste Einwand gegen die Theosophie als Lebenskraft be- zieht sich auf ihre Hinneigung zum Okkultismus. So wünschenswert ich es finde, daß die okkulten Kräfte, soweit es sie gibt, möglichst genau und eingehend studiert würden — der Gewinn wird der Wissenschaft, nicht der Religion und dem Leben zugute kommen. Übersinnliche Erkenntnis ist spirituell nicht bedeutsamer als sinn- liche, und die „Geheimwissenschaft" als Religion oder als Weg zu ihr, wie sie von den meisten Theosophen angesehen wird, ist keinen roten Heller mehr wert als die energetische Weltanschauung Wil- helm Ostwalds. Sogar mittelbar werden die etwaigen Ergebnisse der Geheimforschung weit weniger für das Leben bedeuten, als ihre Adepten wähnen. Diese träumen von einem Zustand, wo die Tele- pathie alle äußeren Verständigungsmittel ersetzen, und Willenskraft alle physischen Energien überflüssig machen wird : das sind ebensoviel törichte Utopien. Mag das Physische noch so sehr durch die Psyche beeinflußbar sein : auf Jahrhunderte hinaus wird es billiger und in- sofern zweckmäßiger bleiben, das Körperliche, in allen akuten Fällen wenigstens, mit körperlichen Mitteln zu behandeln. Zur Erledigung der normalen Geschäfte dieses Lebens werden die normalen Kräfte nicht nur für immer ausreichen, sondern auch für immer als einzige in Betracht kommen, oder wenn nicht für immer, so doch sicher so- lange, als die Menschen sich nicht wesentlich verändert haben werden. Die verborgenen Sphären der Wirklichkeit, welche die Ausbildung der seelischen Organe erfahrbar machen soll, gehen uns hier nichts an ; je weniger wir sie beachten, desto besser. Wir sind weiter als das Mittelalter hauptsächlich deshalb, weil wir den Glauben verloren haben an mysteriöse Verknüpfungen, was doch beweist, daß deren Anerkennung nicht fördert. Sie kann nicht fördern, weil sie nichts anderes bedeutet, als ein Rechnen mit Einflüssen, die, falls überhaupt wirksam, geringfügig sind gegenüber den banalen dieser Theosophie veräußerlicht den religiösen Trieb. 1 39 Sphäre, und sie schädigt direkt, wo jene ursprünglich gar nicht er- fahren werden, und nun alles daran gesetzt wird, sie erfahrbar zu machen. Wer darauf hinarbeitet, kommt notwendig herunter inner- lich genau wie der, welcher ständig an seine Gesundheit denkt; er verliert zuletzt jegliche Unbefangenheit. Wir sollen möglichst geradeaus leben, möglichst mutig, möglichst unbeirrt von innen heraus, möglichst unbekümmert um alles Abliegende und Äußer- liche ; je mehr wir das tun, desto stärker und reiner werden wir. Je weniger der Mensch sich auf fremde Mächte verläßt, je mehr er auf sich nimmt, desto wohler will ihm die Natur. Das Ideal ist, nicht allen Verhältnissen Rechnung zu tragen, sondern so fest in sich gegründet zu sein, daß Verhältnisse gleichgültig werden. Der Okkultist nun schielt ständig seitwärts, vor- und rück- wärts, er ist nie wirklich unbefangen. Also kann er kein Führer sein in diesem Leben, so nützlich er sich als Organ erweisen mag. Da nun das Streben nach psychistischer Entwickelung der Spiri- tualisierung, wie bereits auseinandergesetzt, nicht zugute kommt, sondern entgegenwirkt, so gehe ich schwerlich fehl, indem ich die Hinneigung zum Okkultismus der Theosophie vom Standpunkte einer möglichen Bedeutung für das Leben als schlechthiniges Passi- vum buche. Das zweite, mit dem vorher betrachteten zusammenhängende Moment, das gegen sie spricht, ist die Veräußerlichung, welche der religiöse Trieb mit Unvermeidlichkeit in ihr und durch sie erleidet. Gesetzt, es sei alles das wahr, was die Theosophie über die Hierarchie der Geister, die Götter, Halbgötter und Meister, die Führung des Menschengeschlechts usw. lehrt — sicher tut es diesem nicht gut, sich allzuviel um sie zu kümmern. Aller religiöser Glaube hat nur den einen Sinn, der Selbstverwirklichung zuzuführen ; er bezeichnet den imaginativen Exponenten des Seins, das Spiegelbild des Seins- zentrums im Bewußtsein. Der unentwickelte Mensch muß an Äußerliches glauben, weil es für ihn kein anderes Mittel gibt, seine Kräfte auf einen Mittelpunkt zu beziehen, zu dynamischer Einheit zu verdichten ; der entwickelte glaubt an sich selbst — den „Gott in sich" — , oder er glaubt überhaupt nicht, sondern ist einfach, denn wo das Seinsbewußtsein voll entfaltet ist, fallen Sein und Glauben zusammen. Welcher Art das Äußerliche ist, das jener glaubt, ist an sich gleichgültig; aber da es eben nur ein Mittel ist, kein Zweck, da religiöses Glauben mit Für-wahr-Halten im theore- 40 Vorzug anerwiesener Götter. tischen Sinne nichts zu tun hat, und der Existenz oder Nicht-Existenz eines Glaubensobjektes in der Wirklichkeit keine Bedeutung zu- kommt, so ist es gut, wenn dieses möglichst unerwiesen ist. Man braucht nicht so weit zu gehen, wie Tertullian, der da ver- kündete credo quia absurdum, aber sicher ist es günstig für die Religion, wenn sich die Frage der Existenz ihrer Götter möglichst wenig stellt. Im Hinduismus winj, sie bewußt ungestellt gelassen ; dort gelten die Divinitäten offiziell als Manifestationen des Aller- höchsten Einen — sie mögen im übrigen empirisch wirklich sein oder auch nicht. Den Theosophen hingegen wird das Dasein übermensch- licher Wesen von ihren Führern als wissenschaftlich erwiesen dar- gestellt. Glauben sie an Götter, so neigen sie sich vor Äußerlichem ; sie folgen, halten für wahr, beten an im Sinne der Fetischisten und entsprechend verkümmert die echte Religiosität. Sie macht recht eigentlich Aberglauben Platz, denn jeder Glaube an das Nicht- Selbst ist Aberglaube, und verkörpere dieses die absolute Wahrheit in Person. Hieraus erhellt denn, einen wie verhängnisvollen Fehler die Theosophie begeht durch ihre Wiedererweckung des antiken Polytheismus. Sie hätte aus ihrer Entdeckung, daß es wirklich Götter gibt (sofern solche objektiv vorliegt), die entgegengesetzte Konsequenz ziehen sollen, wenn es ihr um die Stiftung einer neuen Religion oder Vertiefung der bisherigen zu tun war. Jeden Gott, den sie wissenschaftlich nachwies, hätte sie straks aus ihrem Pan- theon verbannen sollen, als hinfürder religiös bedeutungslos. Es mag noch so viel Götter und höhere Wesen geben, mit noch so großer Machtfülle ausgestattet ' — sofern wir spirituelle Wesen sind, auf spirituellen Fortschritt bedacht, gehen sie uns gar nichts an. So hat denn der New thought — dieses Wort nicht als Sektenbezeichnung, sondern als Inbegriff der geistlichen Bewegungen verstanden, die auf den amerikanischen New thought ursprünglich zurückgehen — die Lehren des alten Mystizismus unstreitig in glücklicherem Sinne fort- gebildet als die Theosophie. Er sieht in allen Vermittelungen nur Vorstufen ; er weist alles Geheimwissen ab, verneint den Lebens- wert okkulter Ausbildung und des Hinausstrebens aus der Erd- gebundenheit und legt Nachdruck einzig auf individuelle Selbstver- wirklichung in diesem Leben. Das ist in der Tat das einzige, was nottut. So sehr es der wissenschaftlichen Erkenntnis zugute kommen mag — das neuerwachte Interesse am Okkultismus bezeichnet für das religiöse Leben unserer Zeit eine direkte Gefahr, wahrscheinlich Vorzüge des New Thought; Adela Citrus. 141 die ernsteste von allen, denn sie droht eine Veräußerlichung herbei- zuführen, die viel verhängnisvoller (weil schwerer bekämpfbar) wer- den kann, als alle durch Materialismus bedingte. Ein erwiesener Gott, fortan als Tatsache verehrt, wäre ein schlimmerer Fetisch als das goldene Kalb. Je mehr wir erfahren von den verborgenen Kräften in der Natur, desto notwendiger wird es, einzusehen, daß nur Selbstverwirklichung in Betracht kommt, daß es spirituell ganz gleichgültig ist, nicht allein ob wir hellsichtig oder blind sind, sondern auch ob es Götter gibt oder nicht. Mehr denn je gilt es heute zu beherzigen, was Buddha und Christus gegen die Wunderwirker ge- sagt: beide haben wieder und wieder hervorgehoben, daß es nicht ankommt auf psychistische Ausbildung, sondern auf ein Anderes, in anderer Dimension belegenes. Jedes Schielen nach dem Wunder- baren schädigt. Nur der Unbefangene kommt vorwärts. Und unbe- fangen sind die Theosophen nicht nur nicht — sie können es, wie gesagt, gar nicht sein. Dazu werden sie viel zu sehr von ihren Führern angehalten, zu bedenken, wie sie den Meistern gefallen, die okkulten Mächte richtig behandeln, üblen Einflüssen entgehen möchten. Deshalb steht der durchschnittliche Theosoph, soviel näher er der Wahrheit sein mag, spirituell meist unter gläubigen Christen. Ich erblicke im New thought, speziell in der Gestaltung, welche Adela Curtis ihm gegeben hat, 1 ) wirklich die einzige auf Mystizismus fußende religiöse Bewegung unserer Zeit, die sich der Mehrzahl förderlich erweisen wird. In ihr allein wird sowohl verständig als methodisch auf Verinnerlichung und Spiritualisierung hingearbeitet; in ihr allein ist das Wesentliche klar erkannt, bestimmt es durchaus Mittel und Wege; in ihr allein, das ich wüßte, werden keine psycho- logischen Fehler begangen. Jedesmal, wo ich die Schriften der Be- gründerin der Schute des Schweigens wieder lese, staune ich aufs neu über die Tiefe der Selbsterkenntnis, die sie beseelt. Sie hat so tief Wurzel gefaßt in ihrem Wesen, daß ihr persönlicher Glaube ihr nur ein Ausdrucksmittel ist, daß man ihr zustimmen kann, auch wo man l ) Die Schriften Adela Curtis*: The new mysticism, Meditation and Health, The way of Silence (zu beziehen von der School of Silence t 10 Scars- dale Villas, Kensington W. London) sind jedem zu empfehlen. Ihren vollen Wert wird freilich nicht der noch so aufmerksame Leser beurteilen können, sondern nur der, welcher die in ihnen enthaltenen Lehren eine Weile praktiziert; wie denn kein Mystiker auf anderem Wege wirklich verstanden werden kann. — Leider hat die Verfasserin seither begonnen, wie dies so häufig geschieht, sich selbst ad absurdum zu führen. Von der Lektüre ihrer späteren Ver- öffentlichungen rate ich ab. 1 42 Vorzug der christlichen vor der indischen Mystik. keine ihrer christlich-dogmatischen Voraussetzungen teilt. Was sie lehrt ist wesentlich wahr, trotz aller Fehler auf intellektualem Gebiet; desto mehr, als der Weg, den sie angibt, schnurgerade zum „einen was nottut" führt. Und diese Mystik hat vom Standpunkte des Westens vor der Theosophie noch einen weiteren Vorzug voraus, einen Vorzug zwar zufällig-empirischen Charakters, der aber eben deshalb für den empirischen Erfolg entscheidend ins Gewicht fallen dürfte: sie be- zeichnet eine logisch mögliche Fortbildung des Christentums, ist, obschon auf der Weisheit des Ostens fußend, von ihr inspiriert, rein christlich dem Geiste nach und verwendet keine oder fast keine fremdländischen Vorstellungen. Selbstverwirklichung ist nur im Rahmen vertrauter Vorstellungen möglich; in fremder Sprache kann man sich nicht ausdrücken, muß man überdies zu viel Auf- merksamkeit auf die Mittel verwenden. - (Deshalb haben weder Buddha noch Christus das vorhandene Gesetz „aufheben" sondern nur „erfüllen" wollen.) Nun sind uns Westländern die indischen Vorstellungskreise fremd ; die meisten sind unfähig — gerade die Theosophen beweisen dies — ein inneres Verhältnis zu ihnen zu ge- winnen. Ferner sind wir alle physiologisch Christen, ob unser Bewußtsein dies anerkennt oder nicht. So hat jede Lehre, die im christlichen Geiste fortbaut, mehr Aussicht unser Innerstes zu er- greifen, als eine noch so tiefsinnige von fremdem Stamm. Ich per- sönlich glaube nicht, daß das Christentum jemals aussterben wird ; in fortschreitender Umdeutung und Neuverkörperung wird es fort- leben im Westen bis zum jüngsten Tag. Ich glaube auch nicht an die Notwendigkeit, kaum an die Möglichkeit einer neuen Religion. Wir sind prinzipiell über das Stadium hinaus, wo wir Formen meta- physisch ernst nehmen können, was sich erweisen wird, sobald eine neue sich Geltung verschaffen will. Die Besten unter uns sind nicht mehr bekehrungsfähig. Dagegen werden die meisten und gerade die Einsichtigsten noch lange bereit bleiben, die überkommenen Vor- stellungen und Gestaltungen als Ausdrucksmittel weiterzuverwenden, weil diese ihnen die Selbstverwirklichung erleichtern. Das Geschrei unserer Tage nach einer neuen Religion ist kaum ernstzunehmen ; es entspricht meist mangelhafter Selbsterkenntnis. Die vorge- schrittensten werden sich mehr und mehr ohne Konfession zu be- helfen wissen ; die konfessionsbedürftigen nach wie vor an den alten ihr bestes Medium finden. Die, welche am lautesten nach neuen Glaubensformen schreien, sind, so weit ich urteilen kann, wesentlich Viel zu Vieles wird heute Religion genannt. 143 areligiös. Sie werden, wenn sie reifer werden, erkennen, daß es ihnen nicht um einen neuen Glauben, sondern eine neue Seins- gestaltung zu tun ist ; daß solches Streben nicht notwendig religiöse Färbung trägt und daß sie sich selbst viel schneller finden würden, wenn sie ihr Wesen ohne Seitenblicke auf Gott in der Erscheinung auszuprägen versuchten. Man nennt viel zu vielerlei in unseren Tagen Religion ; wer sich irgendwie zur Geltung bringen will, bildet sich deshalb schon ein, religiöses Gefühl zu beweisen. Nur das Streben nach Selbstverwirklichung ist religiös, das auf spirituelle Durchdringung der Erscheinung aus ist. Wer sich bloß kraftvoll be- tätigen, nur schöpferisch gestalten will, der ist eben ein Kraftmensch, ein Organisator, vielleicht ein Dichter, aber nichts wesentlich anderes und nicht mehr. Das dritte und wohl wichtigste Moment, das einer möglichen Weltmission der Theosophie im Westen entgegensteht, ist ihr Be- kenntnis zu Idealen, die historisch betrachtet, abgewirtschaftet haben. Der neue Erlöser wird als „Herr des Erbarmens" vorausgepriesen, die Tugenden der Demut, des Gehorsams, der Dienstbeflissenheit, des Mitleids, der sanftmütigen Liebe werden als äußerste hingestellt. Es sind wohl vielleicht die äußersten weiblichen Tugenden, aber männ- liche allein haben bis auf weiteres historische Zukunft. Schon sind wir im Begriff das Mitleid zu überwinden, den so verhängnisvollen Aber- glauben, daß Glücklich-Machen an sich verdienstlich, Altruismus als solcher ein Wert, Attachiertsein ein Zeichen von Spiritualität und Dulden besser als Ummachen sei, durch die allgemeine Erkenntnis zu ersetzen, daß nur das Produktive ethisch gerechtfertigt ist : also Leidenmachen besser als Mit-Leiden, sofern jenes aufwärts führt, Nichtberücksichtigung fremder Gefühle besser als Rücksichtnahme^ sofern jene töricht sind und so fort. Und dies nicht aus Gefühllosig- keit, sondern weil wir (hinauszuwachsen beginnen über die Be- stimmtheit durch emotionelle Zusammenhänge, weil wir aufhören uns mit unserem Empirischen zu identifizieren und nur das noch als absolut wertvoll anerkennen, was nicht den gegebenen Menschen zufriedenstellt, sondern diesem, mit noch soviel Schmerzen, hinaus- hilft über sich selbst. Das ist die männliche, produktive Form der Humanität, im Gegensatz zur weiblichen, konservierenden, deren Ideale die Theosophie in extremer Form vertritt. Männliches aber und Weibliches können sich nicht auf einmal aktualisieren. Die westliche Menschheit hat sich nun bald zwei Jahrtausende lang 144 Weiblichkeit der indischen Ideale; der Mariendienst. offiziell zu weiblichen Idealen bekannt, und das war gut, denn nur dank dieser Erziehung im Frauengemach ist sie halbwegs gezähmt worden. Mehr vielleicht als irgendeinem anderen verdanken wir Nordländer unser heutiges Gesittetsein dem mittelalterlichen Marien- dienst — jener wunderbar poetischen Abart des Christentums, der die Heilige Jungfrau alle Gottheit in sich aufgesogen hatte. Nicht als mütterliches Prinzip wurde sie damals verehrt, noch als Personifizierung des Ewig-Weiblichen, sondern als Königin, als hohe Frau, als grande Dame, die keine Roheit, keinen Verstoß gegen höfische Sitte duldete. Zumal im 13. Jahrhundert dominierte die weibliche Idealität so absolut, daß, wer nur seine Vorstellungen kennte und von seinen Taten nichts wüßte, allen Grund hätte, es als Periode der Eff eminiertheit zu beurteilen. Die westliche Mensch- heit hatte sich damals, in unterbewußter Selbsterkenntnis, die Welt- anschauung zurechtgemacht, die sie am meisten zu veredeln geeignet war. Heute nun hat sie ihren eigentlichen Charakter erkannt, wie Achill, als Odysseus ihn unter den Mädchen aufsuchte, und nun müßte sie lügen, wenn sie weiter weiblich dächte; nun wird sie desto schneller ihre Vollendung finden, je bewußter-männlich sie sich gibt. So wird mir, durch Projektion auf den Hintergrund der Theoso- phie, der Sinn unserer westlichen Eigenart und unseres Westländer- schicksals deutlicher als jemals früher. Unsere Fortschrittlichkeit be- ruht darauf, daß in uns zum allerersten Male das männliche Prinzip in seiner Reinheit zur Alleinherrschaft gelangt ist. Sintemalen wir nun fortschrittlich sind, kann es nicht fehlen* daß wir mehr und mehr zu Herren werden dieser Welt: wo Traditionalismus und Pro- gressismus konkurrieren, muß dieser siegen, weil sein Prinzip über die empirischen Zufälligkeiten erhaben ist. In der Idee war der Katholizismus in dem Augenblicke als historische Vormacht nieder- gerungen, wo der nackte Geist des Protestantismus geboren ward. Dieser allein wird fortan dem Geschehen die Richtung geben, gleich- viel in welcher Gestalt, ob zu gutem oder zu bösem Ende. Es nützt nichts, sich diesem Schicksal entgegenzustemmen ; alle Erkenntnis der Nachteile, die es bedingt, wird es nicht ändern. Mit der Idee der absoluten Autonomie ist eine Kraft in die Welt gesetzt worden, die mächtiger ist als alles, was ihr entgegensteht und sich auswirken wird über alle Hindernisse hinweg. Sie wird.auch das theosophische Subordinationsideal (unter allwissende Meister), wenn nicht ent- Die Idee der Autonomie als Macht; Männlichkeit des Westens. 145 thronen, so doch an weiterer Wirksamkeit verhindern, wie sie denn das katholische schon unwirksam gemacht hat (in allen katholischen Ländern sind die meisten führenden Geister bezeichnenderweise fanatisch antiklerikal). Wir Westländer sind die Träger dieser Kraft. Wir haben uns zu ihr zu bekennen. Wir müssen erkennen, daß wir durchaus Männer sind, und nun auch durchaus Männer sein wollen. Unbeschreiblich armselig wirken alle modernen westlichen Apostel einer weiblich-sentimentalen Idealität (falls sie nicht selber Frauen sind), und das kann nicht anders sein : insofern sie weiblich emp- finden, sind es minderwertige Typen. Alles Gute, was neuer- dings aus dem Westen stammt, trägt den Stempel männlichen Geistes. In diesem Geiste, in diesem allein, werden wir auch ferner Großes und Gutes wirken. Mit dem Hinweise auf den weiblichen Charakter der Theoso- phie gegenüber dem ausgesprochen männlichen aller gei- stigen Mächte, welche Träger der modernen geschichtlichen Bewegung sind, ist wohl der Mittelpunkt des Problems berührt, was die Weisheit des Orients uns bedeuten kann und was nicht. Es liegt ein grundsätzliches Mißverständnis darin, zu erwarten, daß die Theosophie unter uns eine geschichtliche Rolle spielen wird ; sie ent- hält kein beschleunigendes Motiv. Sie predigt eine empfangend- abwartende Haltung gegenüber den höheren Mächten, die allwissend- weise die Geschicke der Menschheit lenken, und wo diese sich ein- mal zu selbständigem Tun entschlossen hat, dort wälzt sich das Ge- schehen rücksichtslos über alle Erwartungen hinweg. Männlicher, mannhafter von Epoche zu Epoche stellt sich der Geist des Westens dar. Immer weniger Unabänderliches läßt er gelten, mehr und mehr Verantwortung lädt er sich freiwillig auf, und die Idee der Prä- destination verliert entsprechend von Epoche zu Epoche an Wahr- heit. Die Theosophie läßt keine Neuentstehung gelten : alle Zukunft sei von Ewigkeit her vorgemerkt, jede Neubegegnung sei durch altes Karma vorausbedingt, alles geschehe nach vorgezeichnetem Plan. Der Geist des Westens geht immer mehr davon aus, daß kein Plan den schöpferischen Willen bindet: mit jeder freien Tat finde absolute Neuschöpfung statt. Vom Atman her gesehen, wider- sprechen sich beide Auffassungen vielleicht nicht; vielleicht stellen sie nur verschiedene Aspekte des absolut-seienden Verhältnisses dar Keyserling, Reisetagebuch. 10 1 46 Überwindung des Schicksals. und bedeuten das gleiche. Aber in der Erscheinungswelt und für unsere Begriffe bedingen sie den radikalsten Unterschied, der sich denken läßt: in unserer Welt hat die Vorsehung buchstäblich ab- gedankt zugunsten des freibestimmenden Individuums. Mythen sind oft wahrhaftigere Ausdrucksformen des Wirklichen als wissenschaft- liche Fassungen: so kann man sagen, daß Gott immer nur dort persönlich eingreift, wo ihm nichts anderes übrig bleibt, weil nie- mand sonst die Verantwortung tragen mag, und daß er sich jetzt, wo die okzidentalische Welt gar so verantwortungsfreudig geworden ist, von den Geschäften ganz zurückgezogen hat. Jetzt handelt der Mensch als Gott, mit den gleichen Hoheitsrechten, und die Wendung der Dinge beweist, daß diese Stellung keine angemaßte ist. Wo der Mensch nun souverän geworden ist, dort verlieren die aus dem Geist der Abhängigkeit geborenen Ideale mehr und mehr an Be- deutung und Macht. Der Souverän sehnt sich weder nach Frieden noch nach Gnade, weder nach Trost noch nach Barmherzigkeit, denn er bestimmt ; unterliegt er, so erkennt er sich selbst als schuldig an und trägt die Folgen in gelassenem Stolz. Das ist Mannesart. Das Weib erwartet, duldet, hofft, empfängt. Dementsprechend sehnt es sich nach Erbarmen, Gnade und Friede. Weil es sich so verhält, ist es im Recht, an die Übermacht des Schicksals zu glauben. Aber der Mann braucht sich um Gott und Teufel nicht zu scheren, weil seine Initiative ihn deren Macht entrückt. Wo nun der eine von zweien Initiative hat, der andere nicht, gerät dieser unweigerlich ins Hintertreffen. Deshalb haben alle weiblichen Religionsformen als historisch wirksame Faktoren ausgespielt, seitdem der Männer- geist erwacht ist. Hierher rührt im letzten und tiefsten die größere Effikazität des Westens dem Osten gegenüber. Nun schreitet der westliche Geist auf seiner Bahn unaufhaltsam vorwärts, und wird selbstbewußter von Tag zu Tag. Immer entschiedener bekennt er sich zur Mannes- art. Es hat lange gedauert, bis er die überkommenen weiblichen Ideale zu verleugnen wagte. Für eine kurze Spanne Zeit erschuf er sich wohl eine Form, in der er ganz aufrichtig er selbst sein und sich gleichzeitig aufrichtig vor jenen neigen konnte: das war die Zeit des Marien- und Minnedienstes. Aber diese Form entseelte sich bald. Jahrhunderte lang schleppte er nun Überzeugungen mit sich fort, die zu seinem intimen Wollen wie auch oft zu seinem Gebaren und Tun in schreiendem Widerspruche standen. Was der Westen will; Sieg der Selbstbestimmung. 147 Noch heute gestehen es sich nicht viele vielleicht ein, daß ihnen an Frieden gar nichts liegt, noch an Entrückung aus diesem Jammer- tal ; daß sie in Erbarmen und Liebe kein Höchstes sehen und ent- schlossenes Tun unter allen Umständen höher werten als Hinnehmen und Dulden. Aber so ist es in Wahrheit; und mehr und mehr, oft durch krampfartige Krisen hindurch, wird sich der Westländer seines eigentlichen Seins bewußt. Den schwersten Krampf bezeichnete Friedrich Nietzsche. Es mag sein, daß er der letzte war; daß die Entwicklung fortan ohne Rückstauungen ihren Lauf nehmen wird. Aber sicher ist es nicht. Jedesmal, wo ich die inneren Gärungen unserer Zeit überschaue, wundere ich mich darüber, wie wenig klar sich die Menschen noch immer über ihr eigentliches Wesen und Wollen sind. Sie tappen nach neuen Glaubensinhalten, Glaubensformen* haschen nach neuen Idealen nah und fern. Die Wahrheit ist, daß sie selbst, als persönlich handelnde Wesen, an die Stelle aller möglichen Ideale getreten sind ; daß die Zeit äußerer Exponenten vorüber ist, daß die Brennpunkte der Ellipse zu einem Kreiszentrum zu verschmelzen beginnen, daß Glaube und Sein zu eins werden und es nun gilt, vollkommen ernst zu machen mit der Selbstbestimmung. Wären wir nicht unbewußt schon selbstbestimmt, wir suchten nicht vergeblich nach Idealen außer uns. Zurzeit befinden wir uns, wie Hegel sagen würde, im Zustande des „unglücklichen Bewußtseins". Aber machen wir ganz ernst mit der Wahrhaftigkeit, dem Mut zur Entscheidung und Verantwortung, dann wird es früher oder später ganz von selbst einem „glücklicheren" Platz machen. Ist dieses nun geschehen, dann wird sich erweisen, daß wir keine der alten Ideale, wie Nietzsche wähnte, zu verleugnen haben, daß wir im Gegenteil viel fähiger sein werden, als vorher, ihnen Genüge zu tun. Es gibt männliche Äquivalente für das weibliche Mitleid, die weibliche Liebe und Barmherzigkeit. So steht nicht zu befürchten, daß unsere Kultur durch bewußte Schwenkung zum Männlichen zu eine Einbuße erleiden wird. Aber freilich : die Menschen, welche die Geschichte machen, die allein vielleicht für deren Lauf in Betracht kommen, sind nur ein Teil der Menschheit. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß weil der Zug der Zeit nach wachsender Vermännlichung geht, das Weibliche des- wegen abstirbt: dieses beweist deutlich genug die ungeheure Werbe- kraft der Religionen des Ostens unter uns. Viele zieht es zu ihnen, wie den Mann zum Weibe ; aber die meisten doch wohl, wie die 10* 1 48 Die weibliche Menschheit als erkenntnistiefere. Frau zur verstehenden Frau. Je männlicher der Zeitgeist einerseits wird, desto bewußter wird sich der weibliche Teil seiner Sinnesart. Und das ist gut. Denn so vertieft er sich wiederum dem Weiblichen zu. Die weibliche Anlage ist dem Verständnis günstiger ; sie ist die tiefsinnigere im eigentlichen Sinne des Worts. Die Verständnis- arbeit wird bis zum Jüngsten Tag die weibliche Menschheit am besten leisten. Unser in der Geschichte einzig dastehendes Er- kenntnisstreben rührt ja nicht daher, daß wir von Hause aus weise, sondern daß wir unweise sind ; wo Wissen schon vorhanden ist, entsteht keine Wissenschaft ; wir sehnen uns nach Licht aus unserer Tatmenschen-Blindheit heraus. Deshalb ist es trotz allem zu bewillkommen, daß die Gesinnung der Theosophie in immer weitere Kreise des Westens dringt. Der Erkenntnis kommt dies uneingeschränkt zugute: als theoretische Seinslehre steht die in- dische Weisheit, deren Lehren die Theosophie, wenn auch noch so mißdeutet, vertritt, jenseits des Gegensatzes von Mann und Weib ; sie bezeichnet unstreitig das Maximum bisher erreichter Wesenserkenntnis, wie der Westen mehr und mehr einsehen wird, je weiter er auf seinem Wege gelangt; was ich an ihr als weiblich bezeichnete, ist nicht diese Weisheit an sich, es sind die Folgerungen, welche Inder und Theosophen aus ihr für das praktische Leben ge- zogen haben. Diese Folgerungen können Männer nicht anerkennen, brauchen es auch nicht ; sie sind nicht notwendig, nicht verbindlich ; aber die Weiber mögen es tun. Um so mehr, als wenig Gefahr be- steht, daß weibliche Ideale unter uns je wieder zur Vorherrschaft gelangen werden. .... Mann und Weib. . . . Vielleicht ist es gut, wenn ich bei dieser Gelegenheit aus- spreche, was es mit ihrem Verhältnis im Letzten für eine Bewandtnis hat. Man darf bei ihrer Entgegengesetztheit nicht verweilen ; so- bald man es tut, zerrinnt ihre Wahrheit, wie ein Wolkengebilde — wie denn wohl alle Gedanken nur von einer gewissen Distanz aus und innerhalb einer beschränkten Zeitdauer wahr erscheinen. Es sieht so aus, als ob die Polarität der Geschlechter ein absolut Wirkliches wäre. Genauer und tiefer betrachtet, hält nicht allein ihr vorausgesetzter Sinn, sondern sogar die Tatsache selbst nicht stich. Es geht nicht an, in den polaren Koordinaten Absoluta zu sehen, wie dies von Empedokles ab bis auf Schelling und über diesen hinaus immer wieder geschehen ist. Was, in der Tat, bezeichnet die Eigen- Wesen des Geschlechtsgegensatzes. 149 tümlichkeit des Weiblichen dem Männlichen gegenüber? Daß es nur nach vorhergehender Empfängnis schaffen kann. Ist dem aber also, dann sind nicht allein sämtliche Künstler Weiber, alle Denker und Philosophen (insofern sie anregungsbedürftig sind), sondern auch die männlichsten unter den Männern : die Genies der Tat. Denn auch deren Lebenswerk hat immer darin bestanden, daß sie eine Idee empfangen und aus ihr ein Lebendiges gestaltet haben. Man wende nicht ein, daß sie Ideen nicht empfangen, sondern gezeugt hätten : erstens war letzteres nur selten der Fall, denn fast alle historisch Großen waren Träger präexistierender Tendenzen, dann aber handelt es sich, wo die Idee tatsächlich ihr Ureigenstes war, nicht um Zeugen, sondern um Parthenogenese, denn der männliche Samen als solcher hat keine Entwickelungstendenz. Als rein männlich wäre allenfalls Gott zu denken, insofern Er ohne vorhergehende Empfängnis schafft. Aber Er ist über den Geschlechtsgegensatz hinaus ; und sucht man Sein Schaffen zu begreifen, so muß man, wenn man Ihn um keinen Preis mit weiblichen Eigenschaften ausstatten will, der Materie Präexistenz sowohl als alle die Fähigkeiten zuerkennen, die einem Mutterschoße eignen. Es handelt sich eben bei der geschlechtlichen Polarität um keine Absoluta, sondern um ein formales Schema, innerhalb dessen sich das schöpferische Geschehen bewegt. Männlich nennen wir das varierende, weiblich das erhaltende Prinzip ; männlich das An- regende, weiblich das Ausgestaltende; männlich das Handelnde, weiblich das Aufnehmend-Verstehende. Der Mann gestaltet die Er- scheinung, das Weib verkörpert den Grund. Diese Pole treten auf die verschiedenste Weise in die Erscheinung, und in jedem Indivi- duum sind beide in vielfachen Aspekten gegenwärtig. Jeder Mensch ist eine Synthese von Männlichkeit und Weiblichkeit und kann, je nach den Umständen, als Mann oder Weib in die Erscheinung treten. Zwar geht dies bei ihm nicht so weit wie bei den Echinodermen, als bei welchen das männliche Prinzip durch Chemikalien zu er- setzen ist, oder bei den Copepoden und Daphniden, die je nach den Witterungsverhältnissen ihr Geschlecht verändern ; die Wandlungs- fähigkeit erscheint hier, wie überall beim Menschen, auf die psy- chische Sphäre beschränkt. Hier aber tritt sie desto deutlicher zu- tage. Als Künstler, als Gestalter, als Versteher ist der männlichste Mann ein Weib. So handelt es sich, wo in der Weltgeschichte, wie heut, ein Prinzip die Alleinherrschaft zu erringen scheint, um 1 50 BrahmanismuSy Dschainismus und Buddhismus. weniger Extremes, als man denkt : auch in unserer noch so vermänn- lichten Kultur wird die Stimme des Ewig-Weiblichen vernehmbar bleiben. ELLORA. Aus dem feucht-schwülen südindischen Flachland auf klare Bergeshöhe hinaufversetzt zu sein, ruft allein schon Glücks- empfindungen wach. Hier aber sind Wunder zu sehen, die mich wunderbar anregen. In den Felsentempeln von Ellora klingen Stimmungen aus meinen Jugendtagen wieder an. Wieder einmal versenke ich mich als Geolog in das tote Ciestein, um den Sinn von Lebendigem zu fassen. Wie beredt sind die Versteinerungen ! — In den heiligen Höhlen von Ellora weht kein lebendiger Geist der Religiosität; längst sind die letzten Schwingungen abgeklungen, die der Gottesdienst einst- mals aufgerührt; nur in seltenen, weiten Abständen kehren fromme Pilger in ihnen ein. Sie dienen dem Hirten als Zufluchtstätte vor Ungewitter oder sengendem Sonnenbrand ; gelegentlich als Kara- wanserei»; oder die mohammedanische Bevölkerung der Umgegend hält auch Schafsmärkte in ihnen ab. — Allein das Tote lebt fort in der Versteinerung. Der Geist des Glaubens, der das Gebirge aus- gehöhlt, der aus Felsen Kathedralen herausgemeißelt, ruht auf ewig gebannt in seinen Taten. Und in der monumentalen Einfachheit, die seine Gestaltungen im Bergschacht gewannen, treten die tiefsten Züge seines Wesens mit unvergleichlicher Kraft hervor. Drei große Religionen haben hier nebeneinander ihren Geist dem Gebirge eingegraben: der Hinduismus, der Buddhismus und der Dschainismus, jene strengere Schwester der Buddha-Religion. Die brahmanistischen Gestaltungen beseelt der Geist des Mahäbhä- ratam, der gewaltigen Epopöe Hindustans. Aus ihnen spricht die gleiche staunenswerte Potenz, ein gleich grenzenloser Reichtum der Erfindung, eine gleiche Schöpferkraft von gotthafter Überschwäng- lichkeit. Wie Gott das Weise und das Schöne und das Häßliche, das Himmlische und das Teuflische in seinem Werk zu notwendiger Einheit verbunden hat, so bestehen in der brahmanistischen Formen- welt Ungeheures und Zierliches, Abstoßendes und Gefälliges, Sinn- Dürftigkeit des indischen Protestantismus. 1 5 1 volles und Unsinniges, Groteskes und Erhabenes, sich gegenseitig bedingend, nebeneinander. Diese Schöpfung ist so allumfassend, daß das Fehlende als bloß vorenthalten wirkt, und so tief im Wesen begründet, daß der Betrachter bewundert und verehrt, auch wo er nicht versteht, wohl wissend, daß sie über sein Fassungsvermögen hinausreicht. — Und daneben die Geister der protestantischen Sekten, des Dschainismus und des Buddhismus ! Wie dürr, wie dürftig wirken sie! In der dschainistischen Gestaltung ist die Urkraft wohl noch zu spüren. Man fühlt: hier hat der über- schwängliche Geist sich in der Einfachheit verdichten wollen, wie sich Gott Shiva, der Tänzer, gelegentlich zum Asketen zusammen- faßt. So drückt die Armut doch verhaltenen Reichtum aus, und die einfachen Linien atmen Kraft. Aber wieviel weniger Kraft immerhin als die der brahmanistischen Schöpfung! Es ist nicht möglich, eine ganze Welt in enger Provinz zusammenzupferchen. Der Dschainis- mus bezeichnet nur ein zwar kräftiges Reis am gigantischen Stamm des Hinduismus. — Nun aber der Buddhismus ! Wie ich aus dem Tempel des Kailas, der Kathedrale, die in wunderbarer Vielfältig- keit aus einem einzigen Felsen herausgehauen ist, in die kahlen Höhlen hineintrat, die dem Sakya-Sohn zum Heiligtume dienen, da fröstelte mir. Wo ist der Geist geblieben? Nur bei äußerster An- spannung der Aufmerksamkeit gelang es mir, den Zusammenhang dieser Welt mit der vorher geschauten zu erkennen, zu erfassen, daß auch sie im indischen Urgeist wurzelt. Aber wie müde, wie krank stellt dieser sich dar in dieser äußersten Verkörperung ! — Heute verstehe ich zum ersten Male ganz, weshalb der Buddhismus, der die Welt zu erobern vermocht hat, sich in Indien nicht hat halten können, weshalb alle Inder, die ich gesehen, vom Buddhismus mit Geringschätzung sprachen ; heute zum ersten Male wird mir klar, inwiefern Gautama, dieser einzig große Mann, dieser größte Sohn des Inderlandes, der Verehrung in ihm genießen sollte, wie kein zweiter, seinem Volk nicht zum Heil gereicht hat und ihm daher geringer gilt, als viel geringere : ein wie Großes der Buddhismus an sich immer sei, er bezeichnet eine Degenerationserscheinung des Indergeistes. Es ist nicht zu leugnen : im Buddhismus hat das philosophische Volk par excellence dem Philosophieren als solchen abgesagt, das Gestaltungsfreudigste der Erde sich zum Ideal der Uniformität bekannt, das Spekulativste, das es jemals gab, alles Heil in der 1 52 Der Buddhismus als Degenerationserscheinung. Empirie gesucht. Das konnte zu keinem guten Ende führen. Die Natur läßt sich nicht spotten, nicht vergewaltigen ; wird sie im Guten gehemmt, bricht sie desto verhehrender hervor. Der Inder kann das Philosophieren nicht lassen: so führte die Absage an die Philosophie nur dahin, daß der Buddhismus zum Sammelbecken aller über Indien verbreiteten nihilistischen, oberflächlich-skeptischen oder grob-materialistischen Geistesströmungen wurde, welche die buddhistische Gemeinde mehr und mehr von innen nach außen zu zersetzten. 1 ) Die Inder lassen sich nicht über einen Kamm scheren ; geschieht es dennoch, so wird das Beste damit abgeschoren; der Buddhismus hat sie banalisiert. Die Inder sind mehr phantasievoll als exakt: bekannten sie sich zu einer Weltanschauung der reinen Erfahrung, so konnte das nur zur Folge haben, daß die Mythen- bildung sich terre ä terre vollzog, aus der Sphäre des Geistes, wo sie am Platz ist, unheilbrauend in die der Materie hinabstieg. Buddha hatte seine Erkenntnistheorie auf das Phänomen des Leidens begründet, und auf dieses hin seine Erlösungslehre ausgestaltet: so gut sich eine solche Weltanschauung unter Empirikern bewähren mag, spekulative Köpfe verdirbt sie, denn die lassen es sich nicht nehmen, das Leiden zur Substanz zu hypostasieren. Buddhas Psy- chologie ist die exakteste die ich kenne: in den Köpfen der Inder ward sie zur Phantasmagorie, da diese ihrer Anlage nach nicht um- hin konnten, sie als metaphysische Seinstheorie auszudeuten. Buddhas sittliche Vorschriften sind von wunderbarer Effikazität, wo sie schlicht befolgt, nicht als Offenbarung zergrübelt werden ; geschieht letzteres, wie es in Indien von vornherein geschah, so tritt nur ihr unphilosophischer Geist hervor und verdirbt das Denken und das sittliche Streben derer, die sie zu tief verstehen wollten. So erweist sich der Buddhismus durchaus als ein abnormes, schädliches Ge- wächs am Stamme des Indergeistes. Und das Glücklichste, was diesem widerfahren konnte, ist, daß er die Krankheit überstand. Wenige Jahrhunderte nach jener Zeit, wo buddhistische Könige ihn künstlich zur Großmacht emporgehoben hatten, war der ursprüng- liche Buddhismus aus Indien verschwunden. Was sich jetzt noch in Indien Buddhismus nannte, war tatsächlich Brahmanismus, mit allen seinen typischen anti-buddhistischen Kennzeichen: seinem spekula- tiven Geist, seinen Ritualismus, seinem metaphysischen Tiefsinn und x ) Ausführliches hierüber steht im „Buddha" "Josef Dahlmanns (Berlin 1898), der diese Seite des Buddha-Problems von allen am hellsten beleuchtet hat. Religion und Volkscharakter. 1 53 seiner Gegliedertheit in der äußeren Gestaltung. Aber auch dieser brahmanisierte Buddhismus erhielt sich nur an den Grenzmarken Hindustans. Das ganze übrige Land ward dem Hinduismus zurück- gewonnen. Dieser allein ist der eigentliche, vollwertige, allumfassende Ausdruck der indischen Religiosität. Wie dies in großartiger Monu- mentalschrift die Felsentempel Elloras offenbaren. Noch nie ist mir der Charakter des Bandes, das Religion und Volkscharakter verknüpft, so deutlich geworden wie heute. Es ist schlechterdings unmöglich, über den Wert einer konkreten Religion ein gültiges Urteil zu fällen, wenn nicht die Eigenart der Seele, die sie bekennen soll, mitberücksichtigt wird. Die geistige Kraft eines Glaubens gilt den, meisten für so groß, daß ihr gegenüber alle anderen Faktoren, wie die Rasse, die Nationalanlage, der ursprüng- liche Volksgeist als irrelevant betrachtet werden dürfen: das Bei- spiel Indiens lehrt, daß diese Auffassung irrig ist. Der Buddhismus ist eine wunderbare Religion, in manchen Hinsichten die höchste, die es gibt: Indien hat ihr Bekenntnis nicht gut getan ; die Inder konnte sie nicht vorwärts bringen. Insgleichen wird das Bekenntnis der an sich noch so tiefen indischen Glaubensanschauungen den un- philosophischen Abendländern, die am Christentum die ihnen ge- mäßesten besitzen, nimmer frommer. Alle autochthonen Religionen haben vor importierten den absoluten Vorzug voraus, daß sie dem Volkscharakter entsprechen und insofern ein Medium bedeuten, in- dem sich dessen Bestes, Idealstes verständlich ausprägen kann. Frei- lich darf der Begriff „autochthon" nicht absolut verstanden werden ; richtiger wäre vielleicht zu sagen : „langeingesessen" ; was nämlich langeingesessen ist, erweist damit entweder seine ursprüngliche oder seine schließliche Angepaßtheit, denn das Nichtgemäße erhält sich nicht. Wird man mir die Siegeszüge des Christentums und des Buddhismus als Gegenbeweise vorhalten? Gerade diese zeugen, innerhalb bestimmter Grenzen, für die Existenz eines notwendigen Bands zwischen Volkscharakter und Konfession. Ursprünglich hatte das Christentum freilich gar nichts mit dem Geist der europäischen Völker gemein ; aber es verwandelte sich mit rasender Geschwindig« keit diesem Geiste zu. Schon im Frühmittelalter war vom östlichen Urgeist des wirklichen (nicht offiziellen) Christentums im Westen wenig zu spüren ; und es verwestlichte sich mehr und mehr in jeder weiteren Gestaltung. Schon das Schisma zwischen Westen und Osten ging wesentlich auf Verschiedenheiten im Volksgeist zurück. 154 Wandlungen des Buddhismus ; das indische Theater. Vollends dominierend aber wurde letzteres Moment bei der Gebiets- verteilung zwischen Protestantismus und Katholizismus: je mehr teutonisches Blut, desto ausgesprochener protestantisch die Ge- sinnung. — Und nun der Buddhismus. In Indien dauerte er nicht, weil er dem Volkscharakter nicht entsprach. In seiner ursprüng- lichen Gestalt hat er sich einzig am Tropengürtel erhalten, in Ceylon, Birma und Siam, woselbst die wörtlich verstandene Lehre Sakya Munis einer indolenten Menschheit den bestmöglichsten Lebens- rahmen gibt. Unter den nordischen Barbaren entartete er zum reinen Götzendienst. China eroberte zwar der brahmanistische Bud- dhismus (die Mahäyäna-Lehre), aber er ward dort nie zur formenden Macht, weil sein allzu spekulativer Charakter dem realistischen Chinesengeiste fremd blieb ; er hat nur den Künstlern wirklich viel bedeutet und ist langsam entschlafen. Der nominell gleiche Bud- dhismus herrscht heute in Japan. Aber welche Gestalt trägt er dort? Dort sieht er dem Christentum weit ähnlicher als dem Brahmanismus, weil eben der praktische, weltzugewandte Sinn des Japanervolks die fremden Lehren seinen eigenen Bedürfnissen an- gepaßt hat. — Nein, vom Volkscharakter kann nicht abgesehen werden bei der Beurteilung einer Religion. Die einzige, deren Lehr- gehalt sich mächtiger erwiesen zu haben scheint als alle sonstigen Momente, ist der Islam. Woher diese Ausnahmestellung? Das weiß ich nicht. Vermute jedoch, daß es sich nicht wirklich um eine Aus- nahmestellung handelt, da in Persien, dem einzigen islamischen Lande von geistig reger Bevölkerung, die Uranlage im Sufismus und Bahaitum nach wie vor zum Ausdruck kommt. UDA1PUR. Zu Beginn eines Schauspiels an Fürstenhöfen des mittelalter- lichen Indien pflegte der Direktor auf die kahlen Bretter hinaus- zutreten und dem Zuschauerkreise zu erzählen, was er im Geiste um sich sah ; seine Worte riefen in deren Bewußtsein die ent- sprechenden Bilder wach und das waren dann die Dekorationen und Kulissen. Beim Publikum wurde soviel Einbildungskraft voraus- gesetzt, daß es ein Imaginiertes als dauernd-gegenwärtigen Rahmen Das indische Theater. 155 eines Wirklichen im Auge zu behalten imstande wäre. — Durch solche Evokation scheint mir Udaipur entstanden, in selben Sinne wirklich zu sein. Udaipur wirkt so unwahrscheinlich in seiner Schön- heit, daß ich, wie's beim Träumen geht, mitten drinnen stehe, be- trachte, genieße — und an mein Erleben zugleich nicht glauben mag. In götterwürdiger Pracht und Größe ragt das Königsschloß im Hintergrunde auf. In der terassenförmig ansteigenden Stadt drängt sich das Volk ; stolze Ritter sprengen einher, weiblich-schöne Epheben lehnen scherzend vor den Waffenschmieden und wieder und wieder zerteilt die dunkele Masse eines Elephanten das schimmernde Gewoge der Menschen. In den Gärten, wo seltene Blumen sprießen und Marmorfontänen um die heißeste Mittags- zeit weithin erfrischende Kühle verbreiten, flattern Märchenvögel umher, schön wie Juwelen. Den See,, in dem Udaipur sich spiegelt, bevölkern Ibisse, Löffler und Marabous, dem Menschen freund ; am Ufer treten Hindinnen und Gazellen zutraulich zum Lustwandelnden hinaus. Die Inseln sind von köstlichen Kiosken geschmückt, die zu heimlichen Freuden laden. Goldene Gondeln, von denen Gesang und Zymbelklang herübertönt, durchgleiten die Fluten. Und wenn es Abend wird, wenn die Sonne auf dem Marmor der Paläste ab- geklungen ist und der See sich vom Purpur ins Violette und von diesem ins Unsichtbare verfärbt hat, läuten silberne Glöcklein die Märchenstadt zur Ruh. Hier könnte ich nur rasten, nur genießen, nur lieben und glück- lich sein ; hier wäre es lächerlich, anders leben zu wollen. So war wohl die Atmosphäre einer indischen Cour d'amöur. Bisher hatte es mich Mühe gekostet, mich in das Liebesleben indischer Höfe hinein- zuversetzen, wie es mir aus der Dichtung des Mittelalters ent- gegentrat; dieses Lieben schien mir so unwirklich in seinem passiven Sehnen, seinem Überschwang ohne Kraft, seiner Unrast in- mitten der Sicherheit. Dieses „Unwirkliche" ist eben die Wirklich- keit jener unwahrscheinlichen Welt gewesen; hier hat eine über- steigerte Kultur sich über die Natur hinweggesetzt. Das Lieben als eigentliche Kunst hat der Westen niemals gekannt. Was man dort als „Liebeskunst" bezeichnet, ist nicht Kunst sondern Diplomatie. Dieser bedurfte es an den indischen Liebeshöfen nicht, denn der Zweck erschien von vornherein erreicht ; von Hause aus besaß man 1 , was man begehrte, und zur Sehnsucht nach Unbekanntem fehlten An- sporn und Gelegenheit. Solche Befriedigtheit stumpft in der Regel 1 56 Indische Liebeskunst. ab. In diesen Kreisen jedoch von raffiniertester Sinnenkultur, wo die Schönheit als Selbstzweck herrschte, hat sie die Liebe zu einer echten Kunst transfiguriert, eines Sinns mit der Musik, der Poesie. Bei diesem Lieben gehörte alle Dramatik dem Reiche der Einbildung an. Die Phantasie hatte alle Fabel und Handlung aus sich heraus zu gebären, die Leiden zugleich und die Hindernisse, die Bangig- keit und die Hoffnung, denn ihnen fehlte jeder wirkliche Hinter- grund ; hier wurden Gefühle geweckt und* fortgesponnen, wie der Musiker zur Laute improvisiert. Und dieses Wunder war möglich, wurde wirklich, weil die Menschen jener wunderbaren Zeit ganz wunderbar fein und tief gebildet waren. Diese Kultur gehört längst vergangenen Zeiten an. Doch wie ich durch die schimmernden Gemächer schritt, die Kiosken und schwebenden Gärten, die einstmals ihr Schauplatz waren, da wurde mir ihr Geist gegenwärtig und bittere Wehmut erfüllte bald mein Herz. Wie sehr geht der modernen Geselligkeit aller künstlerische Eigenwert ab ! Nicht daß es ihr an erotischem Unter- und Hinter- grund fehlte — das Erotische muß der neutrale Canevas, das tra- gende Gewebe sein, auf dem Phantasie und Geschmack gefällige Muster wirken ; und diese Muster sind heute, wo vorhanden, fadenscheinig und schlecht. In nordischen Landen waren sie nie- mals gut. Dort geschieht es zu selten, daß ein Mann von Frauen erzogen, gebildet wird, ohne Zucht entwickelt sich sein Erotisches nicht, und da die Frau ihrerseits nur ausnahmsweise höheren Anforderungen genügt, als vom Manne unmittelbar an sie gestellt werden, so findet kein Fortschritt statt. Der germanische Mann kennt in Sachen der Liebe meist nur zweierlei: das Laster und die Ehe ; beide aber sind gleich schlechte erotische Bildungs- mittel ; beide begünstigen das Sich-gehen-lassen ; beide entspannen. Die erotische Gespanntheit, die niemals nachlassen darf, wenn der Mann als Sinnenwesen auf der Höhe bleiben soll, wird nur durch solchen Umgang gefördert und gesteigert, der ihm die Auslösung als immer möglich in der Idee und in der Praxis als dauernd frag- lich vorhält, und diesen bieten weder Gattinnen noch Dirnen. Im Orient noch heute und im Westen zur Zeit des klassischen Alter- tums war der entsprechende Frauentypus nur unter Hetären zu finden. Von der Renaissance an hat er sich mehr und mehr von einer bestimmten Kaste losgelöst und seit dem 18. Jahrhundert fällt er zusammen mit dem Idealtypus der Dame der großen Welt. Die Erotische Bildung; grande Dame und Hetäre. 157 antike Hetäre und die moderne Grande-Dame sind in der Tat eines Geistes, eines Wesens ; nur steht diese, als die universellere, höher. Was verdankt nicht der Mann dem Verkehr mit solchen Frauen! Und wie sehr merkt man es ihm an, wenn ihre feinen Hände ihn geformt haben ! Die größere Anmut (sowohl physisch als geistig und emotionell), die der kultivierte Romane dem Germanen gegen- über besitzt, rührt eben daher, daß jener im Gegensatz zu diesem, solcher Bildung meist teilhaftig geworden ist. Es ist Verblendung, beinahe eine Sünde wider den Heiligen Geist, das Erotische aus dem Leben zu verbannen, wie dies der Puritanismus aller Länder und Zeiten tut: es bezeichnet recht eigentlich den Angelpunkt der Menschennatur. Vom Erotischen aus kann jede Saite seines Wesens zum Schwingen gebracht werden, und die tiefsten sind meistens von ihm aus angeklungen. Aber freilich muß die Frau ihr Metier ver- stehen. -Sie muß es verstehen, das Erotische als Canevas zu be- handeln und die Fäden hin- und herschießen zu lassen, bis daß ein köstliches Muster entstanden ist ; sie muß es verstehen, den Mann zum Sticken zu zwingen, zur Erfindung immer neuer Arabesken, immer feinerer Nuancen und Tönungen. Und ist sie vollendet ge- bildet, so gelingt es ihr gar, den Diplomaten zum Künstler zu machen, das brutale Begehren in Sehnsucht nach Schönheit um- zuwandeln. Das haben die großen Frauen der Glanzperioden roma- nischer Kultur gekonnt, daher das Dasein eben dieser Kultur. Heute hingegen ist der Sinn für Stickerei selbst in Frankreich fast dahin- geschwunden. Das Begehren, das sich doch von selbst versteht, wird wieder und wieder betont, unterstrichen, übertrieben ; anstatt daß die Männer im Frauenkreise geistreich würden, werden sie roh. Sie werden es notwendig, weil eben die Frauen selber an Stickerei immer weniger Gefallen finden, und den nackten Canevas dem Teppich vorziehen. — Wie anders war es im mittel- alterlichen Indien ! Hier fehlte aller Reiz des Ungewissen ; man hatte die Frauen, um die man warb. Hier waren die äußeren Ver- hältnisse an sich der Regsamkeit nicht günstiger als in der Ehe. Aber wie es hie und da auch Ehemänner gibt, deren Einbildungs- kraft die Trägheit überwindet, so verstanden es die wunderbaren Menschen dieser Zeit, ohne äußere Hilfsmittel, ganz aus sich selbst heraus, eben das und mehr an erotischer Kultur zu erschaffen, was zu den besten Zeiten Italiens und Frankreichs je entstand. Wird sich jemand verletzt fühlen dadurch, daß ich die Hetäre 158 Musen und Hausmütter ; das „Moralische". und die Grande-Dame einem identischen Typus zuzähle? — Die Tatsachen kann ich nicht ändern. Es ist nun einmal so, daß nur die Frau von polygamer Anlage, von weitem Gefühlshorizont, von vielfältigen Sympathien und von nicht allzu eindeutigem Charakter zur Stellung der Herrscherin, der Muse und Sybille berufen ist. Die Tugenden der Hausmutter schließen Wirken ins Weite und Große aus ; das Weib, das letzteres anstrebt, beweist eben damit, daß es keine ist. Man sollte endlich zur Erkenntnis gelangen, daß das „Moralische" keinen möglichen Generalnenner für die idealen Bestrebungen des Menschen abgibt; daß manche höchste, unersetz- liche Werte nur im Gegensatz zu den Richtlinien der Moral der Verwirklichung fähig sind. Eine der wenigen Damen der großen Welt, die sich heute dem Typus einer Aspasia nähern, fragte mich einst, ob ich sie für untreu hielte? Gewiß nicht, erwiderte ich ihr, denn in ihrem Falle stelle sich die Frage der Treue nicht. Um vielen das Außerordentliche zu bedeuten, was sie allein in ihrem Kreise be- deuten konnte, mußte sie den Einzelnen in gewissem Sinne preis- geben. Und sie hätte sich schwer versündigt, w^enn sie ihr höchstes Können moralischen Bedenken geopfert hätte. Man sollte endlich erkennen, daß überhaupt kein Generalnenner für die idealen Bestrebungen des Menschen denkbar ist, es sei denn, man wähle einen dermaßen abstrakten Begriff, daß er jeden nur möglichen In- halt einschließt. So sind alle auf das Streben nach Vollendung zurückzuführen, denn das ist in der Tat ihrer aller Sinn. Aber wer sieht nicht, daß es unzählige Formen möglicher Vollendung gibt, so daß die scheinbare Vereinheitlichung nur eine Neufassung des Problems bedeutet? Tatsächlich kann eine Art Vollendung nur auf Kosten von anderen gedeihen. Die Wunderwerke der griechischen Kunst wären unerschaffen geblieben ohne Nicht- achtung und Vergewaltigung des kleinen Manns ; höchste Kultur ist nur in aristokratischen Gemeinwesen möglich, die als solche ausschließlich sind ; ästhetische Vollendung liegt in anderer Di- mension als die moralische, und nicht selten im rechten Winkel zu ihr; das Ideal der Demokratie ist kulturfeindlich, das der all- umfassenden Liebe schließt die männlichen Tugenden aus usw. usw. Nun kann man die Behauptung aufstellen — und das ist häufig ge- schehen — daß neben dem des moralisch Guten alle anderen Ideale unwesentlich seien : aber sogar unter dieser vereinfachenden Voraus- setzung ist ein allumfassendes konkretes Ideal nicht auszudenken ; Die Ideale leben eins auf Kosten des anderen. 1 59 ein Zustand, meine ich. der alles moralisch Gute im Menschen zur Vollendung brächte. Im Fall der oberflächlichsten Verwirklichung des moralischen Ideals, in der Form allseitiger praktischer Menschen- liebe, tritt dies darin zutage, daß der Einzelne ethisch verkümmert: gerade weil er sich andauernd für andere betätigt, gelangt er zu keiner Vertiefung seiner selbst; diese Verkörperung hat denn auch keinen tiefen Menschen je befriedigt. Allein die höheren sind nicht minder begrenzte Gestaltungen, konnten gleichfalls nur auf Kosten anderer Möglichkeiten zum Guten entstehen. Der Mönch muß die tief-ethischen Familientriebe in sich ertöten, der Freund- schaft entsagen, irdischer Vollendung gegenüber gleichgültig werden ; bei der innerweltlichen Askese wiederum, deren Idee der Protestan- tismus aus der Erkenntnis der Beschränkungen des Mön'chsideals heraus geboren hat, kommt es nie zu dem innerlichen Frei-werden, in dem das erhabenste Ziel religiösen Fortschreitens besteht. Es ist eben nicht möglich, eine bestimmte Gestalt zu erdenken, die alles Gute im Menschen zu vollendeter Ausprägung brächte, noch weniger eine solche zu konstruieren, die alles Ideale überhaupt in sich zu- sammenfaßte. Die Ideale leben eins auf Kosten des anderen, nicht anders wie dies die Organismen tun. Wohl gibt es höhere und niedere Ideale, gleichwie es höhere und niedere Tiere gibt, doch das geheimnisvolle Band, das sie verknüpft, verbietet es, die einen um der anderen willen auszurotten : in dem man das scheinbar Minderwertige bekämpft, untergräbt man dem Wertvolleren den Boden. Und dann verdient das „Minderwertige" diese Bezeichnung nie absolut: es schließt allemal positive Möglichkeiten ein, die das Höhere als solches nicht birgt. So steht es mit dem Erotischen. Wohl handelt es sich hier um keinen höheren Trieb und die höchsten Gestaltungen, deren er fähig ist, halten an Menschheitswert den Vergleich mit anderen nicht aus. Immerhin sind diese Gestaltungen nicht bloß als solche schön, so daß es eine Verödung der Welt be- dingte, wenn sie verschwänden: sie stehen in so intimem Wechsel- verhältnis zu anderen, höheren, daß das Dasein dieser an jene schlechthin gekettet scheint; nur auf dem Untergrunde erotischer Kultur kann künstlerische wachsen und gedeihen. Die Puritaner- seele wirkt dürftig im Vergleich zur katholischen ; Tugendbolde sind allemal Krüppel, unsinnliche Naturen der religiösen Ver- tiefung unfähig. Ich für meine Person bescheide mich bei der Fest- stellung des Tatbestandes und verzichte darauf, die Widersprüche im 160 Indisches Heldentum. Geiste auflösen zu wollen, die in Wirklichkeit, was immer man sage, bestehen ; ich halte es für ungebildet, aus Vernunfterwägungen von zweifelhafter Stichhaltigkeit heraus den eigentümlichen Charakter der Welt hinwegzudeuten. Und finde es am Ersprießlichsten, das Positive der Erscheinungen allein im Auge zu behalten. In irgend- einem Sinne führt jede Tendenz zum Guten; diesen Sinn im ein- zelnen zu erfassen, ist das Grundproblem der Lebenskunst; ihn im Zusammenhang zu übersehen, das Schlußziel menschlicher Weisheit. TSCHITOR. Als strategischer Schlüssel zu Mewar, als wichtigste Feste Rajasthans, hat Tschitor, bis daß die Engländer kamen, nur ausnahmsweise ein unblutiges Jahr erlebt. Mit Tschitor sind die stolzesten Erinnerungen der stolzen Rajputs verknüpft ; und das will sagen: vielleicht keine Stätte der Welt ist der Schauplatz eines gleichen Heldenmuts, eines gleichen Rittersinns, einer gleich adeligen Todesbereitschaft gewesen. Hier fiel Bagh Singh, das Haupt der Deolia Pratapgarh, im Kampf gegen Bahadur Schah von Guzerat ; hier war es, daß Padmani, die wunderschöne Königin, die zu gewinnen Ala-Uddin-Khilji die Festung bestürmte, da alle Aus- sicht auf Sieg geschwunden war, mit sämtlichen Rajputfrauen den Tod in den Flammen suchte und fand, während Bhim Singh mit seinem ganzen Stamm im Kampf um die Mauern dahinsank ; hier focht Jaimall von Bednor's Braut Seite an Seite mit ihrem Gemahl gegen des großen Akbar Legionen. — Wie seltsam, im Inderlande eine Atmosphäre einzuatmen, deren Wesen geschichtlich ist! Der Hindu, den ich bis hierher gekannt, weiß nichts von geschicht- lichen Ereignissen ; ihm fließt das Leben als Mythe hin. Und sein Seelenwanderungsglaube, der dem Geschehen das Pathos der Ein- maligkeit raubt, nimmt der Historie damit allen Sinn. Auch ich kann sie als solche noch nicht ernst nehmen. Und wenn Tschitor mir nun doch unmittelbar auf Sinne und Seele wirkt, so ge- schieht dies auf einem Umwege, der das Historische gewisser- maßen unhistorisch macht. Den Göttern; deren fließende Vor- stellungen den Hintergrund des Weltgeschehens bilden, erscheint es Unvollständigkeit der Geschichte. 161 nicht sonderlich wichtig, ob sie sich zu „wirklichen" Ereignissen verdichten. Nur dort, wo das Ideelle im Realen seine höchste Voll- endung erfährt, werden sie aufmerksam auf unsere Welt. So haben sie einst an dem großen Kriege zwischen Kuru- und Pandusöhnen aufrichtigen Anteil genommen. Im gleichen Sinne fesselt mich Tschitor: mehr als hier wirklich ward, ist im Ideenreich nie vor- gebildet gewesen. Die großen Zeiten des indischen Rittertums sollen vergangen sein. Das mag sein : aber sein Geist ist noch lebendig. Wenn ich die Rajputs betrachte, so sage ich mir: es biete sich die Gelegenheit, und ihr Heldensinn bewährt sich aufs neue. Die sind heute noch gerade so gesinnt, wie unsere Vorfahren es im 11. Jahrhundert waren, als das Rolandslied aus aller Munde klang. Es sind Ritter durch und durch; Paladine ohne Falsch, Furcht und Tadel, so edel und hochgezüchtet, wie solches sonst nur noch Pferde sind. Die Geschichte registriert nicht alles, was lebt und wirklich ist, sie weiß nur von dem Teil, welcher unmittelbar ins materielle Geschehen eingreift; so ge- langt sie zu der Fiktion einer Ablösung der sich folgenden Epochen. In Wahrheit bestehen sie alle in- und miteinander fort. Wie kein Zu- stand des Einzelnen buchstäblich vergeht, sondern nur abtritt von der Bühne des Wirkens, so dauern die historischen Zustände noch fort, die in die Weltbewegung längst nicht mehr eingreifen. Ich kenne Kreise, in denen das 18. Jahrhundert noch fortlebt, Pro- vinzen, in welchen der Geist des Reformationszeitalters noch wirkt. Sicher gibt es noch Chaldäer, Sumerier, Phöifiker; nur sind sie nicht leicht zu entdecken. . . . Gespenster erfüllen diese Welt. Und dort gerade gehen sie am lautesten um, wo ihr Dasein am entschiedensten geleugnet wird. Woher die Vieldeutigkeit des modernen geschichtlich-denkenden Menschen, seine Unbefriedigtheit, sein Verfeindetsein mit seiner Welt? Er will anders sein, als er ist. Er will sich gewaltsam einfügen in eine Konstruktion. In seinem Aberglauben an seine Geschichtlichkeit will er das in sich tot- schweigen, was zu der Zeit nicht stimmt. Was Wunder, daß die ver- drängten Geister Lärm schlagen? So manchen vielversprechenden Genius haben sie aus diesem Leben schon hinausgeschrien. — Die Rajputs jedoch, deren Zeiten längst vorüber sind, diese homerischen Helden im Jahrhundert der Industrie, leben herrlich und unbefangen fort. Es war Nacht geworden, als mich der Elephant, lautlos auf« Keyserling, Reisetagebuch. 1 1 1 62 Ein Ele phantenritt. tretend, von der Felsenfeste talwärts trug. Ich lag auf der ge- polsterten Plattform, die Erde unsichtbar unter mir, das Auge in den Sternen verloren. Jedes Bewußtsein einer bestimmten Daseins- form war mir abhanden gekommen. Wer ich war, wo ich war, was ich tat — ich wußte es nicht. Ich wußte nicht mehr, daß ich auf einem Elephanten lag: seitdem ich mich an den Rhythmus seines Ganges gewöhnt hatte, existierte er für mich nicht mehr. Ich fuhr nicht, ich ritt nicht, ich flog nicht; ganz sicher ging ich nicht; von der Erde war nichts zu erkennen. Nur Himmelskörper umgaben mich. Und mit der selbstverständlichen Sicherheit des Träumenden schwebte ich durch den weiten Weltraum hin. Im Grunde war mir, als befände ich mich überhaupt nicht mehr im Raum. Es war jener seltsame Zustand der Entäußerung, den ich sonst nur an der Schwelle des Todes gekannt habe, wo intensives Daseinsgefühl mit der Verflüchtigung alles Wirklichen zupaar geht. Man kann nicht fest behaupten, daß man noch existiert ; man vergeht mit der Welt ringsum. Und doch ist man daj mehr denn je sonst, seiner Wesen- haftigkeit sicher. Wie ich absteigen mußte und beim grellen Fackelschein wie zum ersten Mal des Leviathans ansichtig ward, dem ich mich anvertraut hatte, da durchschauerte es mich. Es mag doch sein, daß die Erde auf einer Schildkröte ruht. Denn mehr als deren Bewohner spüren könnten, daß sie von Lebendigem getragen wird, habe ich vom Un- geheuer unter mir nicht wahrgenommen. DSCHA1PUR. Wie wenig mein Unterbewußtes doch von europäischen Vor- urteilen noch frei ist! Es shockiert mich — anders kann ich es nicht bezeichnen — daß es in Indien Menschen wie die Rajputs gibt! Ich glaube eben doch an „den" Inder, und diesen Typus habe ich vom Brahmanen abstrahiert, dem femininen, geschmeidigen Intellektuellen ; so daß es mich wie ein „Wider- spruch" berührt, daß ich mich nun unter Indern befinde, die den fränkischen Baronen des Mittelalters ähnlicher- sehen, als der Masse ihrer Volksgenossen. Dabei sollte ich es längst schon verlernt haben, Indiens Mannigfaltigkeit; der Kastenbegriff. 163 die europäischen Allgemeinbegriffe Nation, Rasse, Volk usw., auf Indien anzuwenden. Wie ich zu Rameshvaram den ersten Überblick über die Stämme Hindustans gewann — und dort waren es doch Be- kenner eines Glaubens ! — da mußte ich an die Ilias denken ; wie sich die Myrmidonen für Homer von Spartanern und Phokern nicht minder unterschieden, als von den Troern ; wie es für ihn, trotz bestehender Sprachgemeinschaft, kaum so etwas wie „Griechen" gab. Nur daß die verschiedenen Stämme Hindustans nicht eine, son- dern hundert Sprachen reden. Was ich seither nun erfahren habe, hätte mir den Glauben an „den" Inder vollends nehmen sollen ; eine kleine Tagereise hat mich nicht selten gleich verschiedene Aspekte der Menschheit kennen gelehrt, als wenn ich von Island auf einmal nach Sizilien hinübergesetzt wäre. Welcher Allgemeinbegriff ist auf die Völker Indiens überhaupt anwendbar? Ausschließlich derjenige der „Kaste", wie ihn der indische Volksmund anwendet. Der be- greift in sich nichts Eindeutig-Bestimmtes: Kaste wird jede Gemein- schaft genannt, die in irgendeinem Sinne ausschließlich erscheint. Bald wurzelt sie im Blute — die Abkömmlinge der Mongolen sind .anderer „Kaste" als die Hindus ; bald im Glauben, wie im Falle der Sikhs ; hier geht ihr Begriff auf geographische Abgeschlossenheit zurück, dort wieder auf eine gleichartige Beschäftigung. Im wissen- schaftlichen Sinne genau sind die Inder niemals gewesen. Wieder und wieder ist das Pathos der Blutsgemeinschaft durch Adoptions- möglichkeiten gemildert worden, wieder und wieder hat ein religiöser Verband Andersgläubige in sich aufgesogen. Die Hindus haben immer nur als Künstler unterschieden, d. h. vom Standpunkte einer gegebenen Gegenwart aus. Von dort aus aber haben sie besser beobachtet und aus ihren Beobachtungen weitgehendere Kon- sequenzen gezogen, als irgendein Volk. . . . Jeder Gruppe wird ihr Typus unbedingt zugestanden, mit bewunderungswürdiger Weit- herzigkeit. Es erstehe im Schöße eines Glaubens eine Sekte, eine Häresie: sobald sie so weit fest begründet erscheint, daß sie einen neuen Typus erschaffen hat, wird sie als neue Kaste gelten ge- lassen. So findet der Hindu, welchem Töten ein Sakrileg und Fleischessen ein Greuel ist, kein Ärgernis darin, daß er Glaubens- genossen besitzt, die, wie die Rajputs, Raubtiere sind. Er be- urteilt die verschiedenen Kasten nicht anders als die verschiedenen Tierspecies, welche alle von Gott erschaffen sind und alle ein Recht zum Leben haben ; weiter denkt er in der Regel nicht nach. Tut 164 Vorzüge des Kastensystems. er es aber, dann lehrt ihn sein Glaube sofort die Vorzüglichkeit der bestehenden Ordnung einsehen: die Seele muß durch vielfältige Verkörperungen hindurchgehen, um alle nur denkbaren Erfahrungen durchzumachen. Wohl gibt es höhere und niedere Daseinsformen ; der Brahmane steht über dem Kshattrya. Doch ist dessen Typus nicht minder notwendig und gottgewollt, da keine Seele zum Glück des Wissenden reif erscheint, die nicht vorher einem Kämpfer inne- gewohnt hat. Die Schwächen dieser Anschauungsart liegen zutage: ihr ist es zu danken, daß Indien eine Einheit nicht allein nie gebildet hat, sondern unmöglich hätte bilden können. Es gibt keine indische Nation, keinen indischen Glauben, keinen indischen Geist. Andrer- seits : wie wunderbar reich und gegliedert ist die indische Mensch- heit! Wie fabelhaft ausgeprägt ist jeder Typus! Überall, wo, wie im Orient, der Einzelne nicht ausgesprochen einzig ist, wird er am meisten er selbst, indem er seinen Typus vollendet. Nun haben die Inder so viele Typen unterschieden, als sich vernünftigerweise unterscheiden lassen, und sind bereit, jeden neuerstehenden gelten zu lassen: also besteht für den Einzelnen kaum Gefahr, daß die Kaste seine Eigenart unterdrückte. Wirklich: mehr und mehr gewinne ich den Eindruck, daß das Kastensystem dem Einzelnen mehr freien Spielraum läßt, als es das unserige tut, das jede Typik verleugnet. Wenn jeder von uns sich seines tiefsten Seins bewußt wäre und dieses unbefangen zum Ausdruck brächte, dann freilich dürfte unser System als das denkbar vollkommenste gelten ; allein der Europäer, der seines Typus nicht eingedenk ist, richtet sich desto sklavischer nach abstrakten Normen, deren Grenzen mehr drücken, als jedes Kastenvorurteil. Der Europäer will schlankweg „Mensch" sein, vergessend, daß es ein solches Wesen nicht gibt, weshalb sein wachsendes Einheitsbewußtsein nicht Vertiefung, son- dern Uniformierung der Oberfläche bedingt. Nirgends nun dürfte Einheitsbewußtsein tiefer wurzeln und allgemeiner verbreitet sein, als unter Indern ; aber dort setzt es gleichzeitig die Ausschließlich- keit des Phänomens. So ist die indische Menschheit, die an die Persönlichkeit nicht glaubt, weit vielgestaltiger und reicher ge- gliedert, als die individualistisch denkende des modernen Westens. Es ist ein hoher Genuß, durch die rosenrote Stadt zu lust- wandeln. Wie prachtvoll sehen diese Rajputs- aus! Das Leben in Dschaipur verläuft nicht anders, als an den Höfen der Fürsten aus der Vorzug der Überschätzung der Vererbungsgesetze. 1 65 Heldenzeit, wie es Valmiki im Ramäyäna geschildert hat. Übermorgen wird Englands Königin zum Besuch erwartet. Durch alle Tore ziehen Ritter ein, waffenklirrend, mit ihren Reisigen und Mannen. Der Bruder des Maharaja, eine gebietende Gestalt, reitet in purpurnem Kaftan auf goldgeschmücktem Elephanten durch die Straßen, um die Vorbereitungen zum Empfang zu überwachen. Eben jetzt ziehen die Naga-(Schlangen-)Truppen an mir vorbei: junge Edelleute in grünen enganliegenden Rüstungen, deren Vordermänner während des Marsches einen wilden Schwertertanz aufführen. Die Welt des Rajputs ist allerdings mittelalterlich, so sehr, daß kein Knabe, dessen Vorstellungen durch Fouquesche Romane gebildet wurden, an dieser Wirklichkeit eine Enttäuschung erlebte. In Dschaipur wird nicht geritten sondern gesprengt ; alle ritterlichen Künste werden gepflegt ; nur Rittertugenden gelten, nur Ritter zählen. Hier herrscht jene exzessive Einseitigkeit, die allein zur Prägung dauerhafter und starker Formen führt. Ohne Zweifel ist es besser, wenn die Macht der Vererbung, überschätzt, als wenn sie unterschätzt wird. Edlere Typen als diese Rajputs gibt es nicht ; so ausgeglichen-gleichmäßig schön, wie dieser Menschenschlag, sind die edelsten Rasseherden selten. Wie kümmer- lich nehmen sich die Träger unserer alten Namen, deren älteste doch von gestern datieren verglichen mit den indischen, neben einem be- liebigen Rajput aus ! — Hier handelt es sich um den größten Triumpf der Menschenzüchtung, von dem ich wüßte; daß die Er- gebnisse nach Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden noch so so weiser Inzucht den höchsten Anforderungen genügen, so daß gar keine Degenerationserscheinungen festzustellen sind, bedeutet ein Unerhörtes. Woher dieser Erfolg? Auf die physisch-biologische Seite des Problems mag ich nicht eingehen, da es zu dessen Lösung noch an Daten fehlt. Sei es, weil sie sich weniger veraus- gaben als wir, weil ihre nervöse Grundanlage robuster, ihre Variabilität geringer ist (was der Erhaltung und Festigung des Typus zugute kommt) — sicher sind die Rassen des Orients im allgemeinen langlebiger als die unserigen, scheint dort der Fort- bestand eines Typus weniger gefährdet als bei uns. Aber mit dem Hinweise auf die physischen Bedingungen ist nur eine Seite des Problems ins Auge gefaßt: weshalb wirken die Vererbungs- 1 66 Die Rasse psychisch bedingt. gesetze beim Menschen nie auch nur annähernd so sicher wie beim Vieh? Weil bei jenem auch psychische Umstände mitspielen, weil diese vielfach die entscheidenden sind. Sicher ist die wunderbare Konstanz, mit der sich der Typus unter den Rajputs fortvererbt, zum größten Teil auf psychische Verhältnisse zurückzuführen. Was in Europa geschehen ist und geschieht, läßt mir an der Richtigkeit dieser Auffassung wenig Zweifel übrig. Bis zum An- bruche der Neuzeit, der antistatischen, waren auch unsere Ge- schlechter sehr viel langlebiger, vererbten sich die Typen auch bei uns viel sicherer fort, als seither geschieht; und noch heute stellen der Junker und der Bauer — diejenigen also, die sich zur stati- schesten Weltansicht bekennen — von allen die dauerhaftesten dar. Der Mensch des Mittelalters glaubte an sich, als an den Träger einer spezifischen Form. Jeder Rittersproß setzte es als selbstverständlich voraus, daß er kraft seines Blutes der Ritter- tugenden teilhaftig war — und so ergriffen sie meistens von ihm Be- sitz. Dieser Glaube schuf dann aus sich heraus die weiteren Um- stände, die der Festigung des Typus zugute kamen: die Meidung des Verkehrs mit Angehörigen anderer Kasten, die schnelle und voll- ständige Ausmerzung aus der Art geschlagener, die Rücksicht bei der Brautwahl auf ein Optimum für die zu gewärtigende Nach- kommenschaft, eine unaufhörliche Selbsterziehung im Sinne des Standesideals usw. Seitdem die alten Formen an Prestige verloren haben, seitdem keine mehr als notwendig gilt und das Ideal des Aufsteigens in der sozialen Ordnung das ursprüngliche einer vollendeten Ausfüllung der Stellung* in der und zu der einer ge- boren ward, abgelöst hat, seitdem wirken die psychischen Um- stände unter uns der Erhaltung des Typus Entgegen. Kein Wunder, daß dieser seither immer mehr an Lebenskraft einbüßt. Die psychischen Anlagen eines Menschen sind niemals eindeutig von Hause aus, sondern vielfacher Gestaltung fähig. Wird die Form nun von dem, der sie trägt, nicht ernst genommen, so ergibt dies mit Unvermeidlichkeit Charakterlosigkeit, welche langsam aber sicher von der Psyche auf die Physis hinübergreift. Nur was dem Menschen ein Ideal bedeutet, bleibt dauernd vitalisiert. Herrscher- häuser entarten langsamer als alle anderen, weil sie von den mächtigsten Idealen getragen werden ; der Landadel entartet lang- samer als das Patriziat, weil die Basis seiner Idealität eine tiefere ist. Überall unter Menschen entscheiden psychische Umstände; Warum Herrscherhäuser schwer entarten; indische Glaubenskraft. 167 wo diese der Konsolidierung des Typus entgegenwirken, dort nützt alle Reinzucht nichts. Die allgemeine Lebensanschauung des Orients entspricht unserer mittelalterlichen. Der Orient glaubt an seine Formen. Daß aber dieser Glaube hier mehr vermag, als er je bei uns vermocht hat, das liegt an seiner ungleich größeren Intensität. Hier komme ich denn endlich auf ein Problem zu sprechen, daß mich seit dem ersten Tage meines Aufenthaltes auf indischem Boden beschäftigt hat: die Glaubenskraft des Inders üb ersteigt, alle, selbst die extra- vagantesten Vorstellungen, die der Abendländer sich machen kann. Sein Glaube ist erschütterungsunfähig. Man beweise ihm was und soviel man will, er hält an seinen Vorstellungen fest, wie ein Achtfuß am einmal ergriffenen Gegenstande. So glaubt er an seine Kaste mit eben der Inbrunst, mit der Luther an Gott geglaubt hat. Damit ist eine Bewußtseinslage geschaffen, in der Energien sich auswirken können, welche sonst außer Spiel bleiben: die Kräfte, welche „Berge versetzen". So kommt es, daß die Vererbung in Indien zustande bringt, was eigentlich über ihre Kraft geht. Schon bei uns ist die Fortdauer von Familientypen zu einem erheblichen Grade psychisch bedingt: der fortgesetzte Wunsch, einem Vorbilde gleichzukommen, führt diese Verwirklichung auf die Dauer herbei. Unter indischen Rittern, mit ihrer gigantischen Glaubenskraft, der großen Eindeutig- keit ihrer Naturanlage und der im ganzen einfacheren Psyche, ge- schieht gleiches im höchsten Grad. Von hier aus gelingt es denn auch, der viel verschrienen Kastenordnung gerecht zu werden. Deren Grundlage ist ganz ima- ginär; die Voraussetzung der ursprünglichen Blutdifferenz hält der Kritik nicht stand ; die Gesetze der Vererbung wirken nicht halb so eindeutig, wie die Hindus dies postulieren ; das vielverschränkte abstrakte System, welches heute die Gliederungen der Gesellschaft einfaßt, ist nicht allein unvollkommen, sondern willkürlich und viel- fach widernatürlich. Kein Wunder daher, daß alle, welche Indien nur äußerlich kennen, es als Monstrosität verdammen. Tatsächlich bewährt es sich reichlich so gut als irgendeines, das der ver- nünftigere Westen bisher ersann, weil eben in Indien ein Faktor das Hauptmoment bedeutet, der im Okzident kaum in Frage kommt: eine schier grenzenlose Glaubenskraft. Der Inder glaubt nun ein- mal an die geistige Begabung des Brahmanen, an den Rittersinn des Kschattrya, die wirtschaftliche Tüchtigkeit des Vaigya und die 1 68 Das Kastensystem. Dienstprädestiniertheit des Qudra; er glaubt mit beinahe gleicher Intensität an die spezifischen Tugenden jeder .Unterkaste. Was ist der Erfolg? Es sind psychische Vorbedingungen geschaffen, dank welchen der geringste Keim, der den Glaubensvoraussetzungen ent- spricht, sich frei entfalten kann, während alle anderen baldigst ab- sterben; so daß die Brahmänenkaste z. B. soviel Denker und Priester wirklich liefert, als sie im günstigsten Falle liefern könnte, während die untüchtigen unbemerkt bleiben. Der Mensch bemerkt niemals, was seinem festen Glauben entgegensteht. Auf die Dauer schafft dieser die Wirklichkeit, die ihm entspricht. Und die vorausgesetzten Sondergaben jeder Kaste erben sich sicherer fort, als mit den Natur- gesetzen vereinbar scheint, weil niemand diese kennt. Das heißt, die Erziehung vollendet, was die Vererbung angebahnt hatte. So ist es denn zweifelsohne ersprießlicher, wie ich zu Anfang schrieb, daß die Macht der Vererbung überschätzt, als daß sie unterschätzt wird: ihre Macht ist durch schöpferischen Glauben einer unge- heuren Steigerung fähig. Und von hier aus denke ich zurück an die Grundlehren der indischen Philosophie. Wenn es irgendeinem Volke nahegelegt wor- den ist, geistige Bindungen zu hypostasieren, so gilt dies vom indischen. Hier, mehr als irgendwo sonst, haben psychische Um- stände den Charakter der materiellen Wirklichkeit bestimmt; reicher, als irgendwo sonst, ist diese Wirklichkeit gegliedert; nirgends auf der Welt erscheint der Typus als Typus auch nur an- nähernd so substanziell. Und doch sind die indischen Denker nie darauf verfallen, was die westlichen aus so viel dürftigerem Anlaß stets getan haben, die Gestaltungen metaphysisch ernstzu- nehmen. Ihnen war die Erwägung ein Selbstverständliches, die bei uns noch als Paradoxon wirkt: daß was willkürlich gesetzt, er- schaffen werden kann, eben deshalb nicht notwendig ist. Ich blicke mit den Augen eines Rishi auf das bunte Schauspiel vor mir hin : ist die Welt nicht nur deshalb so, wie sie ist, weil sie auch anders hätte sein können ? Wie stark scheint die Lokalfarbe von Dschaipur ! Und doch: konzentriere ich auf sie meinen Geist, so verblaßt sie, verflüchtigt sie sich, und alle Umrisse verfließen. Fluch der Gemütlichkeit. 1 69 LAHORE. "V T un bin ich im nördlichen Pendschab, einer völlig neuen I ^^ Welt vom Standpunkte dessen geurteilt, der nur Indien -*- ^ kennte. Mir aber scheint sie nur allzu vertraut: In Lahore sieht es um Weihnachten kaum anders aus als um die gleiche Zeit im gemäßigten Europa. Wenigstens kann ich, der flüchtige Be- sucher, keinen wesentlichen Unterschied erkennen, weil der Rahmen, in dem mein Leben sich abspielt, vollkommen europäisch ist Meinen Geist verdrießt das nicht wenig: wozu bin ich hierher ge- reist? Der „Bruder Esel" jedoch, das Fleisch, das Gewohnheits- tier, freut sich gewaltig; oft muß ich auflachen darüber, wie sehr er Küche, Komfort, die ganze Atmosphäre genießt. Selbst das scheint seine Freude nicht zu schmälern, daß er sich gleich in erster Stunde eine böse Erkältung zugezogen hat: auch die gehört ja mit zum nordischen Winter. So sind dem anhänglichen Bauernweib sogar die Schläge des heimgekehrten Gatten lieb. . . . Ich muß fort. Gemütlich darf es nicht werden. Wieviel macht einem dieser Zustand nicht zu schaffen ! Überall, wo man ein wenig länger geweilt, schleicht er sich leisetreterisch ein, und hat er sich einmal eingenistet, dann ruht er nimmer, bis daß er alle Spannungen gelöst hat. Schlimmeres kann von einem Milieu kaum behauptet werden, als daß es diesen Zustand begünstigt. Gemütlichkeit be- deutet ja nichts anderes, als daß das ganze Dasein dem Geist der Trägheit unterworfen ist. Ich gehöre wahrhaftig nicht zu denen, welche Abtötung des Fleisches predigen ; aber dafür bin ich aller- dings, daß nichts Erschlaffendes geduldet würde. Die Freuden und Genüsse des Lebens sind als solche gar nicht erschlaffend: nur die Gewohnheit des Genießens erschlafft; die Gewohnheit ist der wahre Feind. Hierin haben die Asketen wohl niemals klar gesehen. Sie haben einfältiglich verkannt, daß die Gewohnheit der Kasteiung genau so übel ist, wie die Gewohnheit der Völlerei. Wäre es anders, unter Entsagern aus Prinzip gäbe es weniger dürftige Gesellen. Meist sind sie ja noch geistloser, als die Bohemes, was viel besagen will. — Der „alte Adam", welcher täglich und stündlich bekämpft werden soll, ist das Gewohnheitstier. Es gibt keine guten Gewohn- heiten. Es ist nicht wahr, daß irgendeine Lebensroutine für Freiheit 170 Es gibt keine guten Gewohnheiten; Unverständnis als Vorzug. des Geistes zeuge. Der Heilige aus Routine ist gar kein Heiliger mehr; nur vermeidliche Treue hat geistigen Wert. Im Augenblick, da eine Verrichtung zur Gewohnheit ward, verflüchtigt sich der Geist, aus der sie stammte. An die Stelle spontanen Schaffens tritt Maschinenbetrieb. Von der Maschine aber findet nur der den Weg zum Schöpfer zurück, der sie zerschlug. — Daß der Mensch einer gewissen Geregeltheit im Leben bedarf, liegt daran, daß er nicht absolut frei sein kann ; um in irgendeiner Hinsicht freizu- bleiben, muß er sich nach anderen desto fester binden. Der Vorzug aller Regel beruht ausschließlich darauf, daß sie Freiheit ermög- licht, nicht, daß sie in Fesseln schlägt — und diesen ihren Vorzug verliert sie in dem Augenblick, wo die Fesseln einem lieb wurden. Ich muß fort aus Lahore ; gemütlich darf es nicht werden. Aber bewundern muß ich es, wie sehr die weißen Residenten dieser indischen Stadt ihren Charakter aufgeprägt haben ; hier wirken die Eingeborenenviertel kaum weniger exotisch, wie die Ghettos in New York oder Amsterdam. Verständnislosigkeit ist eine ungeheure Macht. Schlössen sich die Engländer weniger engherzig von allem Nicht-Englischen ab — nie könnten sie Indien beherrschen, wie sie es tun. Und so ist es wohl überall. Die erfolgreichsten Frauen- kenner waren immer die, welche auf deren Gefühlsleben am wenig- sten innere Rücksicht nahmen, die besten Erzieher immer die, welche zu den Schülern am meisten Distanz einhielten. Genau im gleichen Sinne schaut die jüdisch-christliche Menschheit zum persön- lichen Gottvater auf. Nie würden diesem die Eigenschaften der All- güte und des Allverständnisses so unbedenklich zugestanden werden, nie würde die Menschheit so fest darauf vertrauen, daß er alles zum besten wenden wird, wenn er nicht durch grundsätzliches Miß- verstehen, durch Gleichgültigkeit allen Hoffnungen und Wünschen gegenüber bewiesen hätte, daß er unzweifelhaft über ihr steht. Die Luft Zentral- Asiens. 1 7 1 PESHAWAR. Ich bin tatsächlich aus Indien hinausgeraten. Entblätterte Bäume, eine kalte klare Winterluft; breite staubige Landstraßen, auf denen Menschen einherwandeln, deren psychischer Typus mir wohlbekannt ist. Seltsam : zwischen Afghanistan und Rußland liegt eine ganze Welt. Jedes Gebiet Zentralasiens ist von anderen Stämmen bevölkert, von anderer Geschichte und Kultur, hat andere Sitten und Gebräuche ; und doch breitet sich heute eine geistige Atmosphäre vom Khaiber bis über den Ural aus. In dieser Atmosphäre verflüchtigt sich alle Bedeutsamkeit. In Peshawar wird täglich gemordet und bunte indische Tücher stehen zum Ver- kauf — doch was hat das zu sagen? Genau so gut könnte nichts geschehen, könnte alles ganz anders sein. Durch ein Ereignis mehr oder weniger, durch ein Ereignis so oder anders, wird der Sinn dieses Geschehens nicht gewandelt. In langen, endlosen Reihen ziehen die Kamele hintereinander her. In langem, endlosem Zuge folgt Jahrhundert auf Jahrhundert. Millionen gleichartiger Menschen sterben rhythmisch hinter einander ab, bald gewaltsam und bald wieder von selbst, mit der stereotypen Gebärde des Achselzuckens. Mich ergreift jene bodenlose Schwermut, für die nur der Russe das rechte Wort besitzt: Unynie. Ich will nichts, vermisse auch nichts, erweisbare Gründe habe ich nicht, ich bin eben schwer- mütig. Meine Seele ist wie ausgehölt. Dieses Asien kennt keine Regungen geistiger Art. Die Schwingungen, welche ich selber aus- strahle, verflüchtigen sich im endlosen Raum, mir aber fehlt die innere Kraft sie aufzuhalten. Das Ergebnis ist ein Gefühl der Leere, das mich tiefelend macht. Dann aber dringen fremde, brutale Gewalten in mich ein — die Gedanken und Begierden, die in den wilden Herzen afghanischer Schafsdiebe hausen mögen. Ich kann mich ihrer kaum erwehren, so plötzlich überrumpeln sie mich. Und dann erkenne ich entsetzt, daß sie mir innerlich gar nicht so fremd sind, wie ich dachte: auch in mir steckt irgendwo, tief unten, ein roher Zentralasiate und ich verfluche die Luft, die ihn aus dem Schlummer erwachen ließ. Freilich birgt diese Welt eine Möglichkeit zu einzigartiger Großheit. Wenn der Sturm sich über der Wüste entfesselt, dann 1 72 Dschengis Khan ; das Kabul-Tal einst und jetzt. werden ganze Sandgebirge aufgetürmt, die sich wellengleich fort- wälzen. Solche Sturmgewalten sind etliche Male in Menschen ver- körpert gewesen. Das waren Wesen ohne Seele noch Sinn, ohne eigentliches Ziel und ohne Wertgefühl ; sie besaßen kaum mensch- liches Bewußtsein. Dafür wohnte in ihnen die Urkraft des Wüsten- sturms. Wie Sandkörner trieben sie die Völker vor sich her, wie unter Sandbergen begruben sie die Kulturen. Blieb aber der Sand nicht haften, dann war es wiederum, als wäre nichts geschehen, als wäre der Überfall ein böser Traum gewesen. — Diese Eroberer stellen schlechterdings ungeistige Mächte dar; aber Großheit, ja übermenschliche Großheit kann Attila und Dschengis-Khan nicht aberkannt werden. Und zu denken, daß hier, vor nicht einmal unendlich ferner Zeit, ein Mittelpunkt buddhistischer Kultur lag! daß das Kabul-Tal das Heilige Land des Mahäyäna-Glaubens war, die Sehnsucht aller Suchenden vom Fünfstromlande bis zum japa- nischen Meer, der Schauplatz jener Verschmelzung des hellenischen und des indischen Geistes in Kunst, Kultur und Religion, auf den alle spätere Gestaltung des fernen Ostens ursprünglich zurückgeht ! — Zentralasien ist Jahrtausende entlang die Quelle alles Geistigen auf Erden gewesen. Aber wie die Wasser mählich versiegten und die Gärten zu Wüsten zerstaubten, da verflüchtigte sich un- aufhaltsam auch der Geist aus der ausgedörrten Atmosphäre und die äußerste Barbarei trat das Erbe der äußersten Bildung an. — Ich denke an meine Geologentage zurück und die Art, wie ich da- mals die Welt betrachtete; in den Alpen schaute ich das Meer, im Basalte die flüssige Lava, im Versteinert-Erstarrten das Leben selbst. Mit nicht viel anderen Augen sieht der Archäolog Zentralasien an. Allein mir scheint: beide blicken über das Eigentlich-Bedeut- same hinweg. Das Bedeutsame ist die Veränderung an sich. Wer jemals Landwirt war, der weiß, was „Geschichte" heißt: ein Jahr der Kultur mehr oder weniger stellt ein kosmisches Absolutum dar ; es ist nicht vorwegzunehmen, nicht rückgängig zu machen ; solche Zeit ist wirklich vor der Ewigkeit. Denn solche Zeit schafft um. Wo zielstrebiger Wille das Werden lenkt, dort findet Entwickelung statt; es geht vorwärts, immer vorwärts, immer weiter, und kein Ende ist abzusehen. Versagt der Wille aus irgendeinem Grund, Verfehltheit des Ursprünglichkeitsideals. -* 173 so ändert das Geschehen seinen Sinn. Das Werden biegt ab, ver- zweigt sich, hört gar auf, ein Beliebiges ersetzt das Vernunftgemäße. So folgt auf den Garten die Wüste, auf Kultur die Wildnis, auf den Geist der Ungeist, auf kurzes Leben ewiger Tod. — Welche Narr- heit, an eine Vorsehung zu glauben, die von außen her das irdische Geschehen lenkte! Dieses könnte wohl zweckvoll verlaufen, nichts Prinzipielles steht dem im Wege; vielleicht bringen wir Menschen es einmal dahin, daß es so wird. Aber Gott scheint es ganz gleich- gültig zu sein, was auf Erden vorgeht. Gestern Geist, heute Un- geist, morgen vielleicht wiederum Geist; bald Garten, bald Wüste, bald Urwald, bald Meer; mich dünkt, Er ergötzt sich an der plan- losen Abwechselung, wie der müde Maharajah am Nautsch, auf daß Ihm die Ewigkeit nicht lang würde. Immerhin ist es reizvoll, zeitweilig inmitten so wilder Gesellen zu leben, wie es diese Afridis sind. Sie sind prächtig in ihrem Raubtiertum, ihrer Ursprünglichkeit, ihrer triebhaften Unver- antwortlichkeit. Die Regierung sieht es nicht gern, wenn man sich unbeschützt und ungeleitet in den Basars bewegt: plötzlich könnte einem ein Dolch zwischen den Rippen sitzen, sie aber müßte ein- schreiten, was sie in ihrer Weisheit ungern tut, weil Morden diesen Leuten nichts Schlimmeres bedeutet, als das höfliche Äußern einer abweichenden Ansicht unter uns. Könnte ich dem Afridi gram sein, der mir nach dem Leben stellte? Kaum. Nicht mehr jedenfalls als einem Tiger. Und indem ich mich durch die engen Gassen schlängele, schaue ich aus, ob ich nicht irgendwo einen beginnenden Zwist erspähe. Im Kampfe müssen diese Männer herrlich aussehen. Solange es friedlich hergeht, schläft ihr Bestes in eben dem Sinn, wie es beim spanischen Kampfstier schläft, welcher gleichmütig wiederkäut. Auf einmal muß ich lachen: die Afridis sind ja leibhaftige Verkörperungen jenes Übermenschenideals, dem ein guter Teil unserer Dichterjugend huldigt! Große Menschen, welche grausam sind weil sie müssen — die ihr Schicksal erfüllen, ob es sie gleich verdirbt — deren Leidenschaft keine Schranken anerkennt — die von Verstandesüberlegungen nie verleitet werden: wahrhaftig, die Beschreibung stimmt. Es ist gar zu kurzweilig, zu was für Ge- staltungen das Bedürfnis nach Heroenkult ein überbildetes Städter- 1 74 Kühe und Götter als Ideale. tums führt. Ohne Zweifel tut Ursprünglichkeit not; aber ist denn keine höhere Art denkbar, als die des Tiers? Schwerlich haben die Athener um Plato herum zu Achill und Diomedes als Vorbildern aufgeschaut; es bedurfte der modernen Dekadenten, um das Menschheitsideal so tief in das Animalische hineinzusenken ; selbst Nietzsche, der zarte Pastorensohn, hat es nimmer so gemeint, was immer er sagen mochte. Aber heute sind wir wirklich dahin gelangt, daß Ursprünglichkeit und Naturhaftigkeit identifiziert er- scheinen. Gott ja, gern bin ich bereit, die Unbefangenheit der Kuh zu verehren; nur knüpfe ich hieran die Bedingung, daß sie nicht schreibe; dieser Ausdruck ist nur gebildeten Menschen gemäß. Im gleichen Sinne lehne ich es ab, den Wilden als Heroen zu ver- ehren. — Wahrhaftig, die Afridis sind die Übermenschen, welche die moderne Literatur Jugend verehrt. Es unterhält mich, sie unter diesem Gesichtspunkte zu mustern. Einst hieß es: wer sich in der Gewalt hat, sei stark ; heute : wer sich gehen lassen muß. Natürlich: wer gar keine Leidenschaften hat, dem be- deutet ihr bloßes Dasein ein Ideal. Aber es ist ja nicht wahr, daß alle modernen Menschen erschöpft wären ; nur die Schreiben- den sind es zumeist, die Canaille ecrivante, cabalänte et convulsiön- naire Voltaires, die unwesentlichsten Leute von allen, und heute ist es verhängnisvoller denn je, daß diese so viel Macht besitzen ; das Ideal der Ausgemergelten, der Impotenten, der Schwachen, treibt die Gesunden in die Barbarei. Schreibende Kühe werden verherrlicht, wilde Kerle als Helden verehrt: so beginnen mehr und mehr Kühe zu schreiben und mehr und mehr bildungsfähige Menschen werden wild. O wie gut täte es den Jungen von heute, ein wenig indische Weisheit in sich aufzunehmen ! Zu lernen, daß es ein Zeichen der Schwäche ist, und nicht der Kraft, wenn einer grausam sein muß, seinem Schicksal unterliegt, seiner Leidenschaften nicht Herr, von Vernunftsüberlegungen unbeeinflußbar ist, daß nicht allein der Übermensch neuesten, sondern auch der tragische Heros klassischen Musters einen barbarischen Zustand verkörpert! Ohne Zweifel ist der moderne Menschheitszustand wenig wert; aber das Ideal, dem wir nachstreben sollen, liegt in der Richtung der Durchgeistigung, nicht der Vertierung. Nicht nur die Kuh, auch der Gott ist unbe- fangen, und diesem, nicht jener, sollten wir nacheifern. Um so mehr f als wir diesem schon viel näher sind.. Indem ich die Afridis betrachte, wird mir sehr deutlich, wie fern deren Wesen uns schon Das Imperium; Delhi und Rom. 175 liegt. Vielleicht bedingt es diese Verrückung der Perspektive gegen- über dem Zustande der Antike, daß uns heute das Tier, wie den Alten der Gott, über alles ehrwürdig dünkt. . . . DELHI. Aus der Barbarei sehe ich mich ohne Übergang in eine Stadt versetzt, die vor wenigen Jahrhunderten erst als unerreichtes Kulturzentrum galt, und doch spüre ich keine starken geistigen Schwingungen: inmitten der Herrlichkeiten Delhis fröstelt mir. Sie sind ganz ohne Eigen-Sinn, ohne tieferen Ausdruckswert, was besonders von den Moscheen gilt. Mohammed hatte recht, gleich seinem Vetter im Geiste, Calvin, aus den Gotteshäusern allen Sinnen- reiz zu verbannen: diesem Gott ist kein Kunstwerk gemäß. In der wilden Natur, in der Feldschlacht, in der Macht und Gerechtigkeit des Khalifen offenbart sich sein lebendiger Geist ; das „Kunstschöne" ist ihm kein mögliches Ausdrucksmittel. Das tritt hier, wo die indischen Künstler ihren ganzen Feinsinn und ihre ganze Ge- schmeidigkeit in den Dienst des Muselmannes gestellt haben, mit schmerzhaft wirkender Deutlichkeit an den Tag. Diese Kunst be- deutet hier gar nichts, so reizvoll sie sei ; ihr fehlt der Hintergrund, den sie an indischen Fürstensitzen hat. Die Mohammedaner haben in Indien nur als Herrscher geistige Bedeutung. Daher besitzen auch nur die Monumente Atmosphäre, die dem Imperium Ausdruck ver- leihen : die Festungen, Ringmauern, Mausoleen ; und an den son- stigen Kunstschöpfungen ihre Pracht an sich, ihre Größe, ihre äußere Möglichkeit. Das Künstlerisch-Schöne als solches kann kein unmittelbarer Ausdruck des Imperiums sein ; von sich aus sagen die Prunkbauten des Großmoguln nicht mehr, als daß diese die Macht hatten, sie aufzuführen. Wirklich gehaltvoll ist imperialistische Kunst nur dort, wo sie als vollendete Zweckmäßigkeit zutage tritt Daher der ungeheuere Ausdruckswert der römischen Aquedukte, von denen jeder Bogen mehr Seele hat als das schönste nach Griechen- muster errichtete Monument; daher in unseren Tagen der Um- stand, daß nur Eisenkonstruktionen, die Bahnhöfe, Brücken und Tunnels lebendigen Kunstwert besitzen. So finde ich denn in 176 Die Mogulkaiser; Akbar der Große. Delhi wie in Rom mein höchstes Gefallen daran, in der Landschaft weit umherzuschweifen, ohne allzuviel ins Einzelne zu gehen. Diese Landschaft ist der Campagna nahe verwandt, trotz aller konkreten Verschiedenheiten. Hier wie dort weht ein Geist des Weiten, Ganzen, Großen und doch fest Verknüpften — der Geist des Imperiums. Beziehe ich freilich — was ich eigentlich nicht darf — die Schönheit der Moscheen und Paläste Delhis nicht auf die islamische Herrschaft, sondern auf die einzelnen hervorragenden Männer, welche diese verkörpert haben, dann erhält sie einen tiefen Sinn. Und führe ich gar Weltmacht und Schönheit zusammen auf die Seele eines Einzelnen zurück, dann stellt sich dieser in einer Größe dar, die in der Geschichte leicht nicht ihresgleichen findet. Es hält schwer, hier richtig zu urteilen: aber heute will mir wohl scheinen, als ob die Großen unter den Großmoguln als Typen die größten Herrscher gewesen seien, welche die Menschheit hervor- gebracht. Es waren Gewaltnaturen, wie es die Nachkommen eines Dschengis Khan und Timur sein mußten, raffinierte Diplo- maten, erfahrene Menschenkenner, und gleichzeitig Weise, Ästheten und Träumer. Diese Konstellation ist im Westen nie vorgekommen, nie wenigstens zu gutem Ende. Marc Aurel z. B., der Vielge- priesene, hat einen ausgesprochenen Stich ins Lächerliche dank des an falschem Ort zur Schau getragenen Philosophenmantels (das Reiterstandbild auf dem Kapitol, das mich jedesmal, wo ich es an- sehe, zum Lachen bringt, ist seinem Urbild sicher ähnlich) ; Fried- rich II. jedoch, der Hohenstaufer, der einzige europäische Herrscher, der sonst zum Vergleich in Frage käme, war wohl ein äußerst inter- essantes Individuum, aber nicht entfernt so bedeutend als Herrscher. Bei allen überreichen Naturen, die im Westen auf den Thron ge- kommen sind, bedingte Vielseitigkeit Vieltuerei ; ein Talent griff auf das andere über; so daß der Dichter seine Kriege verträumte oder Dichtungen zu verwirklichen strebte, der Weise den Handeln- den lahmlegte, der Diplomat sich dem Philosophen aufprägte und der Mensch zuletzt — das Wichtigste an einem Herrscher — seiner Wirkungseinheit verlustig ging. Bei einem Akbar lag diese Einheit jenseits von allem, was er tat, was er erkannte, und was ihm wieder- fuhr; sein Reichtum ist immer gesammelt geblieben. Als Kaiser stand er über dem Dichter, dem Träumer, dem Gottsucher, dem skeptischen Weisen. Deshalb trägt jede Arabeske, die er inspiriert, den Stempel Großmoguln und Päpste ; beide übernational. 1 77 des Kaiserlichen. TEine gleich überlegene Menschheitssynthese hat kein weltlicher Fürst des Westens je verkörpert. Nur einige Päpste haben dies getan. In der Tat strahlen die Prunkbauten des päpst- lichen Roms einen Geist aus, der an Delhi erinnert. Bei den Päpsten hat eben die äußere Stellung Ähnliches bewirkt, wie die Naturanlage bei den Nachkommen Timurs. Der Papst als Statthalter Gottes, als undiskutierter Beherrscher der Christenheit, als unfehlbarer Ent- scheider alles Streites, erlangt, wenn er nur einigermaßen zum Papst berufen ist, unwillkürlich etwas von der Überlegenheit und inneren Gespanntheit, welche Akbar ausgezeichnet hat. Auch dessen Größe war nicht durch Naturanlage allein bedingt: die meisten der Hilfsmittel, über die unter westlichen Herrschern allein der Papst verfügt, zumal die Undiskutierbarkeit seiner Macht und der selbstverständliche Gehorsam der Untergebenen, werden jedem Selbstherrscher Asiens zuteil. Immerhin hat es nur eine große Mogulndynastie gegeben, und unter dieser nur einige Große und einen Größten, so daß ich wohlberechtigt bin, in Akbar den größten Kaiser zu verehren, von dem ich weiß. Es ist wunderbar, wie alle nur denkbaren Ausdrücke der Mogulnmacht in der Seele dieses Mannes ein eindeutiges Zentrum gefunden haben. Die herbe Größe, die Universalität, der überlegene Gerechtigkeitssinn ; und zugleich die duftigen Farben einer fast weiblichen Salonkultur, das Allverstehen des Philosophen, die vibrierende Sinnlichkeit des Dichters. Ja, dieser Mann erscheint übermenschlich groß, wenn man erkannt hat, daß er vor allem ein Liebender war: eine zarte, verwundbare Seele von überschwenglichem Sympathievermögen. Das erinnert an das Idealbild des Christengottes: den allmäch- tigen, allgerechten Vater, der mit eherner Hand die Geschicke der Welt regiert und zugleich eitel Liebe, eitel Erbarmen ist; welcher schwerer an der Sünde des Sünders trägt, als der reuigste könnte und dessen Leben als endlose Tragödie verläuft, da er nie genug vergeben kann. So beschaffene Größe bedingt notwendig ein Über-den-Nationen- stehen, wie dies auch darin zum Ausdruck kommt, daß die indischen Kaiser, gleich den Imperatoren und Pontifices Roms, beliebiger Ab- stammung waren. Die grandiose Toleranz eines Akbar erscheint, wenn man ihm sein Wesen einmal zugestanden hat, als ein ebenso Selbstverständliches, wie die relative Großzügigkeit des Aristo- kraten der Kleinlichkeit des Plebejers gegenüber. So beruht auch Keyserling, Reisetagebuch. 1 2 178 Vornehmheit des Muslim; islamische Toleranz. die Duldsamkeit, die der Muslim allgemein, wo er nicht gerade einer fanatischen Sekte angehört, dem Andersgläubigen gegenüber bekundet, auf nichts anderem als seiner größeren Vornehmheit. Je mehr ich vom Islam sehe, desto mehr beeindruckt es mich, wie über- legen dieser Glaube die Menschen macht. Nichts ist offenbar dem Menschen ersprießlicher, als sich für auserwählt zu halten. Jeder, der an sich glaubt, wer immer er sei, steht höher als der Unsichere. Die Unvornehmheit des typischen buchstabengläubigen Christen be- ruht auf seiner plebejischen Bangigkeit. Die Gegenprobe anzustellen fällt nicht schwer: die ursprünglichen Calvinisten haben sich im 1 selben Sinn für auserwählt gehalten, wie die Muslim, und unter ihnen sind zweifelsohne die überlegensten Typen zu finden, welche die Christenheit hervorgebracht hat. Zwar waren sie nie so vor- nehm, wie die Muslim; sie waren eben deshalb auch intolerant. Welcher Pastor war je so weitherzig wie Mohammed, von dem der Ausspruch überliefert ist: „Die Meinungsverschiedenheit in meiner Gemeinde ist ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit"? Allein sie standen doch hoch über den Lutheranern, die in ständiger Angst vor dem Ungewissen lebten, und kaum weniger hoch über den Katholiken, denen die Kirche ihr Verantwortungsgefühl nahm. — Ja, an überlegener Toleranz steht nicht allein der brahmanische und buddhistische, sondern gerade auch der islamische Orient über dem Okzident. Wie kommt es nun, daß dieser nirgends charakterlos ist, was Europäer doch regelmäßig werden, wo sie ihre nationalen Vorur- teile abgelegt haben? Das weiß ich mir noch nicht zu erklären. Der Nationalcharakter erscheint freilich verwischt, wo immer der Halb- mond die Landschaft beleuchtet, was zumal hier in Indien sehr auf- fällt, wo die Typen sonst so scharf umrissen sind. Aber seine Stelle nimmt ein universellerer und doch nicht weniger bestimmter Cha- rakter ein: derjenige des Muselmannes. Jeder einzelne Mohamme- daner, den ich frage, wes Blutes er sei, erwidert mir: ich bin ein Muselmann. Warum hat diese Religion allein es verstanden, die Nation durch ein Weiteres zu ersetzen? Und durch ein Weiteres, das nicht minder stark und eindeutig ist? Wie kommt es, daß der Islam, der kein entsprechendes Dogma aufstellt, das Ideal der allgemeinen Fraternität realisiert, worin das Christentum, trotz seiner Ideale, versagt hat? Das muß an intimen Beziehungen liegen zwischen den Grundlinien dieses merkwürdigen Glaubens und den Grundzügen der Menschennatur, über die ich heute noch ganz im Unklaren bin. Demokratischer Geist des Islam; Allah als Heerführer. 179 Gewaltig ist die Gestaltungskraft des Islam. Sogar die Ge- sichter der Gläubigen, die unverkennbar dem Blut nach Hindus sind, zeigen den selbstbewußten, gelassen-über- legenen Ausdruck, der überall den Muslim kennzeichnet. Diese Inder sind keine Träumer, keine Halluzinanten, keine Fremdlinge in dieser Welt. Dementsprechend wirklicher wirken sie. Ihre Muskeln scheinen straff, ihre Augen kühn, ihre Haltung ist wie sprungbereit ; ihre Physis hat viel mehr Ausdruckswert. Wie Recht tuen die Eng- länder, das islamische Element in Indien als das Ausschlaggebende zu betrachten und zu behandeln ! Unausgesetzt beschäftigt mich das Problem, woher dem Islam seine formende Kraft kommt, die soviel größer scheint, als die aller anderen Religionen. Die Reflexion auf das extrem Demo- kratische mohammedanischer Verbände hat mich heute endlich, wenn ich nicht irre, auf die richtige Spur gebracht. Der Demokratismus des Islam erklärt seine Werbekraft, zumal ein Indien, wo Bekehrung zu ihm die einzige Möglichkeit bezeichnet, der Kastenbestimmtheit zu entrinnen ; und hier handelt es sich um echte Gleichheit — weit mehr so, als in den Vereinigten Staaten Amerikas — , denn die Mus- lim gelten nicht bloß, sondern halten sich wirklich für Brüder, un- bekümmert um Rasse, Vermögen und Position. Aber dieser Demo- kratismus ist kein Letztes ; er ist die Wirkung einer tief er liegenden Ursache, und die scheint mir den Schlüssel zu bieten zu allen Rät- seln der Vorzüge des Mohammedanerglaubens. Der Islam ist die Religion absoluter Hingebung. Was Schleiermacher als Wesen aller Religiosität bezeichnete, definiert tatsächlich die des Muselmanns. Dieser fühlt sich jederzeit in der absoluten Gewalt seines gött- lichen Herrn, und zwar in dessen persönlicher Gewalt, nicht in der seiner Minister und Knechte ; er steht ihm jederzeit Auge in Auge gegenüber. Dies bedingt denn das Demokratische des Islam : in allen absoluten Monarchien herrscht bis zur Stufe des Throns der Geist der Gleichheit; von allen Ländern Europas war das Rußland von gestern das demokratischeste, weil gegenüber der absoluten Gewalt des Zaren alle Unterschiede zwischen den Unter- tanen geringfügig erschienen. Aber es gibt Autokratien verschie- denen Geistes; je nach der Art des Herrschers erscheinen sie stark oder schwach. So beruht die einzigartige Gestaltungskraft des Islam auf dem einzigartigen Charakter seines Gottes. Allah, 12* 180 Gebet als Parademarsch; Wert des Gehorsams. weit mehr als Jehovah, weit mehr als der Christengott, verdient den Namen eines Herrn der Heerscharen ; er ist Autokrat im Sinne eines Generals, nicht eines Tyrannen. Hiermit hätte ich es denn: der Mohammedanerglaube bedeutet, als einziger der Welt, recht eigentlich , militärische Disziplin. Es gibt kein Rechten mit Gott, kein Bitten, kein Verhandeln, kein Erschleichen; das bloße Absichtenhaben beim Beten (Schirk) gilt als Todsünde; der Mensch hat Ordre zu parieren wie ein Soldat. Nun wird keiner bestreiten, daß die Bewußtseinsform des gutgedrillten Soldaten von allen die größte Leistungsfähigkeit sichert überall, wo es sich um Ausführen, nicht um Ausdenken handelt. Die islamische Welt stellt eine einzige Armee dar von einigem, ungebrochenem Geist. Solch' ein Geist schmilzt auf die Dauer alle Unterschiede ein ; er macht alle zu Kameraden. Im Islam hat er alle Rassendifferenzen eingeschmolzen. Der Ritualismus dieses Glaubens hat einen anderen Sinn, als der von Hinduismus und Katholizismus ; es handelt sich um Objektivierungen der Disziplin. Wenn die Gläubigen täglich zu bestimmten Stunden in der Moschee in Reihe und Glied ihre Ge- bete verrichten, alle gleichzeitig gleiche Gebärden vollführend, so geschieht dies nicht, wie im Hinduismus, als Mittel zur Selbstver- wirklichung, sondern in dem Geist, in welchem der preußische Soldat vor seinem Kaiser vorbeidefiliert. Diese militärische Grund- gesinnung erklärt alle wesentlichen Vorzüge des Muselmanns. Sie erklärt zugleich seine Grundgebrechen : sein Unfortschrittliches, An- passungsunfähiges, seine mangelnde Erfindungskraft. Der Soldat hat nur Ordre zu parieren ; das übrige ist Allahs Sache. Von hier aus gelingt es vielleicht der Gehorsamsforderung in der Religion, welche von der Moderne rein negativ bewertet wird, gerecht zu werden. Unter Soldaten gilt es als Binsenwahrheit, daß nur, wer gehorchen kann, zu Befehlen weiß. Warum ? Weil Befehlen und Gehorchen eine identische innere Sammlung voraussetzen. Wer also zu gehorchen lernt, lernt zugleich recht eigentlich befehlen. So könnte nichts unverständiger sein, als die Gehorsamsforderung, wie dies heute oft geschieht, als Schule der Schwachheit zu verdammen : im Gegenteil, keine stärkt mehr. Nur darf solche Schulung nicht ins Unbegrenzte ausgedehnt werden ; sie darf nicht länger währen, als bis der Mensch gelernt hat, sich selbst zu befehlen ; wäre es anders, der Untermilitär verkörperte den menschlichen Idealtypus und der Jesuit stände über dem Weisen. Vorzüge des Prädestinationsglaubens. 1 8 1 Der Islam ist vorzüglich eine Religion des einfachen Soldaten. Ihm macht sie groß wie keine andere es tut seit der Zeit, wo der Puritanismus Cromwellscher Färbung ausgestorben ist. Ich gedenke des nordafrikanischen Arabers : sein Leben ist so klar, wie die Wüstenluft. Sein Ideal ist, gesund und rein zu sein, nie gezweifelt, nie innerlich gekämpft zu haben, gelassen und furcht- los des Rufs der Ewigkeit zu harren ; und dieses einfache, klare Ideal verwirklicht er. Das will etwas sagen, denn gering ist es nicht, so einfach es sei: nur der innerlich Überlegene kann es erreichen. Der Fatalismus des Muslim, gleich dem des ursprünglichen Calvi- nisten, und im Gegensatz zu dem etwa des Russen, ist ein Ausdruck nicht der Schwäche sondern der Kraft. Weder bebt er vor dem furchtbaren Gotte, den er glaubt, noch hofft er auf sein besonderes Wohlwollen noch läßt er sich willenlos treiben vom Geschick: er steht stolz und innerlich frei der Übermacht gegenüber, gleich ge- lassen der Ewigkeit entgegenblickend wie dem Tod. Der Mohamme- daner schielt nicht wie der Christ nach dem Himmelreich, obgleich er seiner viel gewisser ist. Er ist zu stolz, dem Schicksal vorzu- greifen. Es mag geschehen, was will: mekhtub (es stand ge- schrieben). Der Glaube an die Prädestination wirkt Grandioses überall, wo seine Bekenner stolze Seelen sind. Das waren die Griechen nicht ; sie hat er auch nicht größer gemacht. König Ödipus wächst nicht in unseren Augen mit seinem Mißgeschick, er wird nur immer bemit- leidenswerter. Die Mohammedaner sind stolz. Der Islam macht jeden stolz, der ihn bekennt, so wie der Rock des Königs jeden stolz macht. So eignet dem Mohammedanerleben höchstes Pathos. Mir wurden einmal die Äußerungen einer strenggläubigen ägyptischen Prinzessin wiedergegeben, die viel Kummer in ihrem Leben durch- litten hatte und nun gelassen dem Ende entgegensah. Sie sagte: „Uns Frauen ist nicht, wie den Männern, vom Propheten ewige Seligkeit verheißen worden. Ist das aber ein Grund zur Sorge? oder zur Nicht-Erfüllung unserer irdischen Pflicht? Wir Frauen handeln recht um der Liebe willen, und verlangen keinen Lohn." Das war echt islamisch gedacht. Das war ein Ausdruck spezifisch- islamischer Größe. Einer Größe, wie sie gleichartig sonst nicht vorkommt. Auch der Buddhist fragt weder nach Leben, noch nach Tod, und wandelt gelassen seine Bahn ; aber ihm liegt nicht am 182 Verwandtschaft von Calvinismus und Islam. Leben; er will das Nirwana; seiner Resignation fehlt dement- sprechend das Pathos. Der Mohammedaner ist schlechterdings irdisch gesinnt; alle intellektuelle Transzendenz geht ihm ab. Desto erhabener wirkt sein stolzes Sich- Bescheiden. Innerhalb des Christentums hat es nur eine Gestaltung gegeben, die ähnlich überlegene Menschen geschaffen hätte: die reformiert- protestantische. Calvinismus und Islam sind in der Tat, wie schon mehrfach bemerkt, sehr nahe verwandt. Beide Religionen vertreten das Dogma von der Prädestination ; Puritaner sowohl als Mo- hammedaner fühlen sich als Auserwählte des Herrn, sind ent- sprechend selbstsicher ; beider Gottheiten haben den gleichen Cha- rakter. Und Mohammed sowohl als Calvin ist gegen die theolo- gische Spekulation und für die Eroberung der Erde gewesen. Ähn- liche Ursachen, ähnliche Wirkungen. Aber wenn sich der Purita- nismus, dank seiner progressiven Tendenz, in der Gestaltung dieser Welt dem Islam überlegen erwiesen hat, so muß diesem zugute ge- halten werden, daß der Puritaner an innerer Vornehmheit dem Mus- lim nie gleichgekommen ist. Das liegt daran, daß er sich nie hat ganz frei machen können vom sklavischen Sündigkeitsbewußtsein, jener Erbsünde alles Christentums ; daß er immer vor seinem Herrn gezittert hat. Während der Muslim ihm vor allem vertraut, wie der Soldat seinem Feldherrn. Wenn ich vor den Grabdenkmälern der Kaiser und Heer- führer stehe, deren mächtige Kuppeln wieder und wieder über die Trümmer des alten Delhi in den klaren Himmel hinausragen, und derweil des Verhältnisses gedenke, in dem der Muslim zu Tod und Ewigkeit steht, ist mir oft, als tönte aus deren Innern Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott" hervor. Dessen Stimmung entspricht dem Geiste des Mohammedanertums gut, besser als dem des Luthertums von heute. Die Farbe der stolzen Zuversicht, der Kampfesfreudigkeit, die diesem Lied, wie vielleicht keiner zweiten Schöpfung des Christengeistes eignet, ist die eigenste Farbe des Glaubens, der auf Arabiens Propheten zurückgeht. Heute fühle ich mich, wie lange nicht mehr, beeindruckt von der herben Größe des Monotheismus. Sie ist grandios, die Vor- stellung vom Menschen, der nackt und selbständig und öline ver- Vorzüge des Monotheismus ; Zucht auf Charakter. 183 mittelnde Instanzen seinem Gott gegenübertritt, einem Gott, der unbeschränkt durch Gesetze und Normen, rein nach Willkür, über sein Schicksal entscheiden wird, verleiht dem Leben des Ein- zelnen einzigartiges Pathos. Wieviel mehr Kraft setzt Vertrauen auf einen solchen Gott voraus, als der Theosophenglaube ! Und um- gekehrt : wie stark muß er machen ! — Daß er es tut, beweist die Geschichte mit einer Eindeutigkeit, die ihr nicht häufig eignet: nir- gendwo hat es stärkere Charaktere gegeben, und gibt es sie heute noch, als unter Mohammedanern und Protestanten. Der radikale Monotheismus weist den Menschen absolut auf sich selbst zurück (wenn man sagt, daß er ihn im Gegenteil ganz Gott anheimstellt, so ist das nur eine andere Fassung des gleichen Verhältnisses) ; er macht ihn schlechterdings verantwortlich. So kann es nicht fehlen, daß seine Seele so fest wird, als ihre Natur erlaubt. Sie wird dem- entsprechend unbildsam, schwerfällig, starr, leicht auch dürr ; an Farbigkeit der Psyche können Monotheisten mit Polytheisten nie wetteifern. Aber sie wird stark. Der Monotheist hat vor allem Charakter. Den er denn auch als höchsten Wert verehrt und dessen Unwandelbarkeit er fordert. Die arabische Spruchweisheit enthält das Wort: „Wenn du vernimmst, daß ein Berg versetzt worden ist, so glaube es ; aber wenn du hörst, daß ein Mensch seinen Charakter geändert hat, so glaube es nicht." Welcher indische Weise hätte je solchen Aus- spruch getan? Hier handelt es sich ja nicht um die Selbstverständ- lichkeit, daß die Elemente einer Natur ein schlechthin Gegebenes sind, sondern um die Behauptung der Unwandelbarkeit der Art ihres Zusammenhangs. Die konnte nur ein Monotheist aufstellen, nur einer, der einen ihm als Äußeres gegenüberstehenden persön- lichen Gott glaubt, dessen Gott selbst vor allem ein Charakter ist. Nur einem solchen bedeutet Charakter ein Letztes. Die indische Auffassung ist die tiefere ; aber es kann nicht geleugnet werden, daß die islamisch-protestantische, vom Standpunkt der Effikazität in dieser Welt, den pragmätic test besser besteht. Beim Mono- theisten konzentriert sich das Selbstbewußtsein in seiner Person ; diese ist ihm ein letztes, Unübersteigbares, für das er einzustehen haben wird am Jüngsten Tag. Also bildet sich, was immer er an Tiefe hat, seinen persönlichen Eigenschaften ein. Wie schwach wirkt der bedeutendste Hindu neben einem beliebigen Muselmann ! Oder auch ein noch so großer Denker des Westens (sofern sein Selbst- 184 Charakter als Beschränkung; der Hof von Delhi. gefühl im Überpersönlichen wurzelt) neben einem bornierten preu- ßischen Offizier! — Mehr wert ist dieser im metaphysischen Ver- stände deshalb nicht ; „Charakter" ist und bleibt eine Beschränkung ; alles höhere Menschentum beginnt oberhalb seiner. Aber da höheres Menschentum für die Masse nicht in Frage kommt, so »wäre es wohl gut, wenn sie wenigstens Charakter hätte ; wenn alle einfachen, un- gebildeten Menschen im Sinne des Muslim an Gott glaubten. Wenn ich von Süd-Indien unvermittelt nach Delhi versetzt worden wäre, hätte ich wohl unmittelbar empfunden, was mir nun Reflexion offenbart: wie wenig fremd mir diese Welt doch ist ; der Europäer bedarf kaum einer Umstellung seiner selbst, um sich verstehend in sie hineinzuversetzen. Ich denke mir, daß die Italiener, die an den Hof von Delhi kamen, sich dort ohne jede Schwierigkeit eingelebt, und wie selbstverständlich in seinem Sinne geschaffen haben, denn die Kultur, die hier herrschte, war nicht anderen Geistes als die romanischer Höfe der gleichen Zeit. Sie unterschied sich von letzterer vielleicht nur durch eine Nuance: ihr Fatamorganaartiges. Die Großmoguln haben in der Feenwelt, die ihre Künstler um sie her erschufen, nicht eigentlich gelebt, sie haben ihr zugeschaut, wie einem Bühnenfeste. Ihr eigent- liches Leben war ernst und rauh, viel ernster als das der Päpste und Fürsten Italiens. Doch wie die milchweißen Marmomippsachen dem massiven Fort von Delhi ohne Übergang aufgepflanzt erscheinen, so schwebte über der rauhen Wirklichkeit wie ein Schleier zartester Schönheit, unwesenhaft zwar, doch desto zauberhafter. Timur, der furchtbarste Eroberer seiner Zeit, war zugleich ein feinsinniger Ästhet, es war ihm Bedürfnis von Liebreiz umgeben zu sein ; und dies Bedürfnis verstärkte sich bei seinen Enkeln. Nun wäre es Menschen wohl unmöglich, eine derartig feenhafte Kunst als Wesens- ausdruck hervorzubringen ; das müßten Elfen sein, deren Seele die Perlenmoschee entspräche. Und wahrscheinlich haben die Künstler Hindustans eben deshalb hier Unglaubliches geleistet, weil sie Träume auszudrücken hatten. Ganz wirklich waren diese Leute nie ; sie besaßen nur überaus viel Phantasie. Und diese schafft am freiesten im Märchen. Nein, diese Welt ist mir nicht fremd. Was natürlich nicht allein an ihrem Sinne liegt: auch ihre einzelnen Gestaltungen sind mir Gesetzmäßigkeit aller Kunstentwickelung. 185 wohlbekannt, obschon ich die meisten von ihnen nie früher erblickt habe, je mehr ich sehe und erfahre, desto deutlicher erkenne ich, wie wenig frei der Mensch in seinem geistigen Schaffen ist. Bringt er neue Gestalten aus sich hervor, so bedeutet das nie, daß er will- kürlich erfindet: er ermöglicht bloß der Form, von der er ausging — und von Ungeformtem ausgehen kann nur Gott — zu der Fort- bildung, die ihr eigenes Gesetz ihr von jeher vorgezeichnet hatte. Die schaffenden Geister sind nur Media, wie es die zeugenden Eltern vom Standpunkt des Keimes sind, dessen Entwickelung, ein- mal angetreten, ausschließlich dem eigenen Gesetze folgt. Einst habe ich über die Kunsthistoriker gelächelt, die das Werden eines Stiles so gern auf bestimmte äußere Momente zurückführen ; so habe ein Artikel Diderots z. B. seinerzeit eine entscheidende Rich- tungsänderung in der französischen Malerei bedingt. Ich sagte mir : als ob die Schöpfer sich vom Kritiker dermaßen beeinflussen ließen ! als ob ein äußeres Moment je die Ursache einer inneren Umwande- lung sein könnte ! Ich hatte, was die Tatsachen betrifft, ganz Recht. Nur habe ich seither begriffen, daß solche Konstruktionen, obgleich falsch an sich selbst, doch berechtigt sind, weil sie ein Schema geben, das die Wirklichkeit richtig umschreibt. Das Wachstum und die Ablösung der Formen sind Vorgang^ von solcher Notwendigkeit, daß alles zu ihrem Werden beiträgt, und die Gründe daher beliebig gewählt werden dürfen. Wenn also Diderot auch nicht wirklich die Künstler beeinflußt hat, so sprach er als Kritiker doch eben das aus, was die unbewußte Schaffenstendenz der Maler war, so daß man meinetwegen, der Vereinfachung halber, sagen mag, Diderot sei der Urheber der Bewegung gewesen. Jeder Richtung sind ihre Grenzen immanent, jede Form birgt in sich ihre ganze mögliche Nach- kommenschaft, weswegen es im Prinzip immer möglich ist, das Ge- schehen sowohl zu rekonstruieren als vorauszusehen. Ohne Richard Strauß hätte es Straußsche Musik zwar nicht gegeben, allein die Idee dieser ist eine „Abgeleitete" derjenigen Richard Wagners (wie Viktor Goldschmidt so schön mathematisch nachgewiesen hat), so daß Strauß' Originalität, gleich der jedes Schöpfers, nur darin be- standen hat, daß er das ideell notwendige aktuell und empirisch verwirklicht hat. Deswegen verstehen sich alle Philosophen für den von selbst, der die Grundidee besitzt, müßte es bei genügendem Überblick gelingen, die philosophische Überzeugung jeder Epoche, deren sonstige Elemente man kennt, a priori zu konstruieren Am 186 Möglichkeit kritischer Kunstgeschichte; westlicher Geist des Islam. evidentesten offenbart sich der notwendige Konnex aller Formen im Falle der bildenden Kunst, weil hier die Bildungsgesetze am offensten zutage liegen. Daher einerseits die Möglichkeit kritischer Kunstge- schichte überhaupt, andrerseits die einzigartige Bedeutung, welche Denkmälern bildender Kunst bei der historischen Orientierung zu- kommt. Sintemalen nun alle Ausdrucksformen naturnotwendig sind und ihren Stammbaum unverkennbar zur Schau tragen, ist es mög- lich, eine fremde Erscheinung dennoch unmittelbar von innen heraus zu verstehen, wenn sie nur auf Vertrautes zurückgeht. So ergeht es mir in bezug auf die Mogulenkunst. Diese stammt ursprünglich aus dem Okzident, oder genauer aus der Vermählung von Orient und Okzident, die das oströmische Kaiserreich charakterisiert; und dessen Gestaltungen sind mir vertraut. Die Fortentwicklung ist gesetz- mäßig verlaufen, mit einem Blick zu übersehen. Und da ferner ein bestimmter Sinn nicht allein mit Notwendigkeit entsprechende For- men gebiert, sondern diese umgekehrt auf jenen zurückwirken, so hat die bloße Übernahme byzantinischer Ausdrucksmittel eine innere Annäherung zwischen Westen und Osten bedingt, dank welcher der Geist von Delhi dem Konstantinopels verwandter scheint, als dem Geiste von Udaipur. Man wird auf die Dauer seinen Ausdrucks- mitteln gemäß. Der Deutsche, welcher andauernd französisch spricht und denkt, wird geistig zuletzt zum Franzosen; wer bei Kant lange genug in die Schule ging, wird in einem gewissen Grade zu seinem Nachkommen, und ob seine ursprüngliche Anlage der Kantischen noch so entgegengesetzt war. Diese Welt ist mir in noch viel weiterem Sinne vertraut, als ich anfangs dachte: die islamische Kultur als solche ist mir nicht fremd ; sie ist ein Ausdruck eben des Geistes, der die meine bedingt. Wer nur Europa kennt, mag in jener immerhin ein Fremdes, „Orientalisches" sehen ; der Taraskonese sieht im Bewohner Beau- caires eine besondere Spezies, mit der er nichts gemein hätte. Gegen den Hintergrund Indiens betrachtet, scheint die Welt des Islam von der christlichen kaum wesentlicher verschieden, als der Geist der griechisch-orthodoxen Kirche von der katholischen unter- schieden ist. Juden, Christen und Muselmänner sind Brüder. Wie alle drei Religionen historisch auf den Mosaismus zurückgehen, so ist es Juden, Christen und Aluseimänner als Brüder. 1 87 ein Geist, der sie letztlich von innen her beseelt. Heute sehe ichs deutlich: es ist verfehlt von arischer im Gegensatz zu semitischer Kultur zu reden, sofern bisherige Gestaltung in Frage kommt: so sehr dem Semiten der germanische Zug ins Transzendente fehlt, so sehr dieser den Germanen dem Inder verwandt erscheinen läßt, seine ererbte Kultur ist mediterraneischen Ursprungs, und gleiches gilt von Romanen, Semiten und Türken. Lange vor Mohammeds Tagen waren die „Geister" der Antike und des nahen Orients, des Mo- saismus, des Christentums und der Kelto-Germanen aus dem Norden, sofern diese sich romanisierten oder gräzisierten, zu einem Sammel- wesen verschmolzen. So daß der Islam nur einen Sonderausdruck dessen bezeichnet, was von allem Okzidentalismus gilt. Der Vergleich mit dem Indertum läßt mich sehr deutlich er- kennen, worin dieser eigentlich besteht. Ihn kennzeichnet zweierlei : seine Weltzugekehrtheit und die Energie, mit der er die Erscheinung formt. Das unterscheidet ihn radikal von dem Orientalentum, das in Indien seinen extremsten Ausdruck findet. Das Bewußtsein des Hindu ist dem Wesen zugekehrt ; so wendet er der Erscheinung den Rücken. Wenn er das Individuum gering achtet, in der Gestaltung dieses Leben versagt, irdischem Erfolg, wissenschaftlicher Erkennt- nis, technischer Meisterschaft geringe Bedeutung zumißt, dem Nir- wana zustrebt, unerhört spiritualisiert erscheint, so sind das ebenso- viel Ausdrücke seiner typischen Lebenseinstellung. Alle Okziden- talen — die Mohammedaner immer einbegriffen — sind entgegen- gesetzt orientiert; ihre typischen Ideale finden ihren extremsten und zugleich prägnantesten Ausdruck in den christlichen Vorstellungen vom unendlichen Wert der Menschenseele und dem Gebot, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen. Mohammedaner sowohl als Christen sehen in diesem Leben das eigentliche Arbeitsfeld ; beider Weltanschauung ist individualistisch insofern, als sie von keiner überindividuellen Wirklichkeit wissen (was sich weiter in eigentlichem Individualismus, wie wir ihn heute verstehen, äußern kann oder auch nicht) ; beide sind gegenüber den Hindus die größeren Idealisten, denn nur wer die Erscheinungswelt durchaus bejaht, kann innerhalb ihrer Ideale bekennen. Und beide sind andrerseits materialistischer gesinnt als jene, sintemalen sie den Ausdruck des Sinns, nicht diesen selbst, vor allem im Auge haben, was nicht notwendig, aber überaus leicht, Materialismus im eigent- lichen Verstände zeitigt. Von allen Okzidentalen hegen die Mo- 1 83 Das Wesen westlichen Geistes. hammedaner die materialistischesten Vorstellungen; im isla- mischen Himmelstreben z. B. liegt gar keine Transzendenz. Aber man kann nicht sagen, daß sie als Menschen Materialisten wären ; sie sind es weniger als die allermeisten Christen des heutigen Tags. Spirituell sind sie wohl nicht, aber Idealisten sind sie im höchsten Grade ;- das Ideal des Glaubens steht ihnen hoch über allem Er- folg. Nur ist ihr Ideal ein statisches, ruhendes ; daher ihre Un- progressivität, was den Anschein erweckt, als seien sie den Indern verwandter als uns. Der Anschein trügt aber, denn ihre Ruhe ist nicht die des Passiven, sondern die des Gesammelten. Es ist unsere, okzidentalische Energie, nur als Spannkraft dargestellt. Wer hierin etwas Unchristliches sieht, der vergegenwärtige sich doch im Geiste den Charakter der griechisch-orthodoxen Christenheit: der ist dem islamischen sicherlich näher verwandt, als dem der Methodisten. Ja, der Islam ist ein Ausdruck unter anderen des okziden- talischen Geistes ; er steht dem indischen nicht näher, als wir. Und ist dem Christen unmittelbar verständlich. Nichts ist unser- einem wirklich fremd an der Mentalität des Muselmanns. Freilich entwickelt sich der Islam in Indien mehr und mehr dem in- dischen Geiste zu ; auf die Dauer läßt sich das Blut nicht spotten. Wie es in Persien schon längst geschah, kommt im indischen Islam mit jedem neuen religiösen Führer die mystische Rassen- anlage stärker zur Geltung. So wird andrerseits das Christentum unsemitischer von Jahrhundert zu Jahrhundert. Mehr und mehr wird es zum Gefäß rein germanischen Unendlichkeitsstrebens. Schon heute kann man sagen, daß der Geist, der den Westen beseelt, etwas spezifisch Verschiedenes ist von dem jener Mittelmeerkultur, die seine Wiege bedeutet. Das hindert aber nicht, daß alle fertige Gestaltung noch durchaus aus ihrem Geiste stammt, welcher Geist allen Gebilden des Okzidents und nahen Orients gemeinsam zugrunde und mithin jenseits aller Rassengegensätze liegt. So mutet die Welt des Islams, auf indischem Boden betrachtet, den Abendländer heimatlich an. DerTa'i Mahal. 189 AGRA. Daß es so etwas geben kann, hätte ich nicht für möglich ge- halten. Ein massiver Marmorbau, ohne Schwere, - wie aus Äther gebildet ; vollendet rationell und doch rein dekorativ ; ohne bestimmbaren Gehalt und doch sinnvoll im höchsten Grade : der Taj Mahal ist nicht nur eins der größten Kunstwerke, er ist vielleicht das größte aller Kunststücke, das der bildende Menschengeist je vollbracht hat. Das Maximum an Vollendung, das hier erreicht er- scheint, ist allen Maßstäben, die ich wüßte, entrückt, denn Halb- vollendetes auf der gleichen Linie gibt es nicht. Anlagen gleichen Planes liegen zu Dutzenden auf der weiten Ebene Hindustans ver- streut, aber keine von ihnen läßt die Synthese auch nur ahnen, welche die Schöpfung Schah Dschehans in sich beschließt. Jene sind vernunftgemäß angelegte Gebäude, mit schönen Dekorationen oben- drein ; das Vernunftgemäße wirkt als solches, das Dekorative seiner- seits, und über das Gesamtbild läßt sich von den gleichen Voraus- setzungen aus urteilen, wie über alle sonstige Architektur. Im Falle des Taj liegt unverkennbar ein Dimensionswechsel vor. Das Ver- nunftgemäße ist im Dekorativen eingeschmolzen, welches bedeutet, daß die Schwere, deren Ausnutzung das Realmotiv aller sonstigen Baukunst ist, ihr Gewicht verloren hat; umgekehrt ist dem De- korativen sein Arabeskencharakter genommen, da hier die Arabeske alle Vernunft in sich eingesogen hat und vom gleichen Gehalt durchgeistigt erscheint, den sonst nur Rationelles besitzt. So wirkt der Taj nicht nur als schön, sondern zugleich, so befremdlich dies klingen mag, als wunderhübsch ; er ist ein erlesenstes Bijou. Ihm fehlt, bei vollendeter Schönheit, bei unerreichter Lieblichkeit und Anmut, jedwede Erhabenheit. Und nun was den Sinn be- trifft: Ausdruckswert im Verstände der bekannten architektonischen Ausdrucksmöglichkeiten hat er keinen, nicht mehr als irgendein Ka- binettstück der Goldschmiedekunst. Weder spricht aus ihm Geistig- keit, wie aus dem Parthenon, noch Sammlung und Kraft, wie aus den typischen mohammedanischen Bauten ; seine Formen haben weder einen seelischen Hintergrund, wie diejenigen gotischer Kathedralen, noch einen animalisch-emotionellen, wie die drawidischer Tempel. Der Taj ist nicht einmal notwendig ein Grabdenkmal: ebensogut 190 Die Baukunst; Rationelles und Dekoratives. oder so schlecht könnte er ein Lusthaus sein, wie jeder erkennen wird, der sich durch die Zypressen ringsum und die tausenderlei geläufigen Kommentare seinen unbefangenen Blick nicht trüben läßt. Freilich ist es gar anheimelnd zu denken, daß dieser Bau ein Denk- mal treuer Gattenliebe sei und die im Tode Wiedervereinten über- wölbe. Allein die tote Königin ist mit nichten die Seele des Taj. Dieser hat keine Seele, keinen Sinn, der sich irgendwoher ableiten ließe. Eben darum aber stellt er das absoluteste Kunstwerk dar, das Architekten jemals aufgeführt haben. Die Architektur gilt als unfreie Kunst; sie ist es insofern, als geistige Schönheit in ihr nur durch das Medium empirischer Zweck- mäßigkeit dargestellt werden kann. Was schön erscheint ohne zweck- mäßig zu sein, ist eben deshalb sinn- und gehaltlos — die Arabeske ist da und gefällt, doch sie bedeutet nichts. Daher der merkwürdige Antagonismus zwischen dem Rationellen und dem Dekorativen : im Fall vollendet rationaler Kunst, wie der hellenischen, wirkt dieses als überflüssig; je weniger Schmuck und Beiwerk, desto besser. Umgekehrt bedarf das Dekorative notwendig eines Objektes, das ihm Sinn verleiht. Am wesenhaftesten mutet es dort an, wo es ein ihm entsprechendes Leben voraussetzt, wie in den Palästen Italiens und Indiens; je mehr selbständige Bedeutung es beansprucht, desto leerer und sinnloser wirkt es. Beim Taj nun erscheint der Geist nicht als empirisch gebunden und das Dekorative nicht als innerlich leer; dieser Bau ist absolut zwecklos trotz vollendeter Rationalität und vollkommen gehaltvoll trotz seines Arabeskencharakters. Er gehört eben einer besonderen Sphäre an. In dieser gelten die üblichen Kategorien nicht. Hier bedeutet das Dekorative ein ebenso Inner- liches, wie sonst das Zweckmäßig-Schöne, und die Vernunft er- scheint nicht tiefer als der Schimmer. Der Taj ist wohl das ab- soluteste Kunstwerk, das es gibt ; er ist so ausschließlich, daß seine Seele, gleich seinem Körper, keine Fenster hat. Wir können sie nur ahnen, nur verehren, wirklich hin zu ihr führt kein^Weg. Und was ist es, das diese Einzigkeit bedingt? Es ist das Zu- sammenwirken vieler Kleinigkeiten ; das Dasein von Nuancen, denen man es nimmer zutrauen würde, daß sie so Ungeheures bedeuten könnten. Der allgemeine Plan des Taj liegt hunderten indischer Mausoleen zugrunde, die völlig gleichgültig wirken ; die Chromatik ist hundertfach nachgeahmt worden, mit keinem besseren Erfolg, als daß die also geschmückten Gebäude den Eindruck von Konditor- Sinn des Individuellen; Mogulkultur und Renaissance. 191 wäre machen. Man verschiebe nur ein wenig die Proportionen, man ändere um ein Jota die Dimensionen, man nehme ein anderes Material ; man versetze den Taj, wie er ist, in einen Gegend von anderen Luftfeuchtigkeits- und Lichtbrechungsverhältnissen: er wäre nicht mehr der Taj Mahal. Ich habe den gleichen weißen Marmor keine hundert Kilometer entfernt von Agra zu Moscheen verwandt gesehen: dort hat er nichts vom Schmelze des Taj. An diesem Kunstwerke wird einem besonders deutlich, was es mit der Individualität für eine Bewandtnis hat. Man stelle noch so viel Kausalreihen her, weise noch so viel Beziehungen nach : nie wird man das Eigentliche fassen ; irgendein geringfügig scheinender Umstand falle weg und das Wesen erscheint alsbald verwandelt. Dies spricht wenig zugunsten der metaphysischen Wirklichkeit des Individuums ; wie sollte etwas metaphysisch wirklich sein, was so augenscheinlich von empirischen Verhältnissen abhängt? Es beweist andrerseits je- doch die Absolutheit des Phänomens. Dieses ist schlechterdings einzig, auf nichts anderes und Äußeres zurückzuführen. Und manch- mal, zu Zeiten platonisierender Stimmung, neige ich zum Glauben, daß es insofern an Metaphysisch-Wirklichem doch teil haben könnte. Ein bestimmter Aspekt des ewigen Geistes kann nur unter be- stimmten empirischen Bedingungen sichtbar werden. Diese Be- dingungen als solche sind nichts Wesenhaftes und in ihnen erschöpft sich das Individuelle. Allein der Geist, der es beseelt, existiert an sich selbst, gleichviel ob und wie er sich äußert. So mag das Ur- bild des Taj von Ewigkeit her die Welt der Ideen geziert haben. Ist es, weil italienische Architekten für das Wunder des Taj mit verantwortlich sind, daß meine Gedanken hinüberschweifen nach dem fernen Italien? Oder wegen des renaissanceartigen Cha- rakters der Mogul-Kultur? — Wohl aus letzterem Grunde. Diese Kultur bedeutet recht eigentlich dasselbe, wie das Rinascimento in Italien vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Das heißt, sie bietet ein gleich großes Rätsel. Mir ist es immer unklar geblieben, wie einsichtsfähige Menschen wähnen können, die Renaissance begriffen zu haben, indem sie feststellen, daß diese auf das Neuanknüpfen mit dem klassischen Altertum zurückgeht. Wie kommt es, daß dieses Neuanknüpfen so Ungeheures zur Folge ge- habt hat — nur damals (denn zerrissen war der Zusammenhang nie), 1 92 Spekulationen über die Renaissance. nur auf einige Jahrhunderte und nie wieder? Wie kommt es, daß die Italiener nur um diese eine Zeit des Größten fähig waren? Biologisch sind sie heute noch die gleichen ; sie sind nicht im mindesten entartet ; noch immer ist wahr, was Alfieri behauptete, daß die Pflanze Mensch nirgends auf Erden besser gedeihe, als in Italien. Die Italiener von heute sind künstlerisch genau so begabt wie ihre Vorfahren: warum waren sie nur im Renaissance-Zeitalter groß ? Damals kam offenbar ein „Geist" über sie, wie er ähnlich zur Zeit der großen Mogulkaiser über die Künstler Indiens gekommen ist; die empirischen Konstellationen waren derart, daß sie einem „Geiste" zum Ausdrucksmittel werden konnten. Was das heißt, weiß ich selber nicht; seit Jahren ringe ich mit dem Problem. Aber der Tatbestand steht außer Frage: Höhe- perioden der Kultur, gleich der Renaissance, sind aus den nachweis- baren Kausal reihen nicht restlos zu erklären. Sie sind qualitativ ver- schieden von dem, was ihnen voranging und auf sie folgte. Sie ver- danken ihr Dasein letztlich einem spirituellen Influx, der unverkenn- bar den Charakter der „Gnade" trägt. Diese Gnade verwandelt zeit- weilig alle Natur. Ist aber ihr Quell versiegt, dann hilft keine An- strengung mehr und kein Talent. Seit der Hochrenaissance Ist es abwärts gegangen in Italien mit der künstlerischen Kultur, trotz aller Genies, die wieder und wieder geboren wurden, und heute besitzen die Italiener von allen Völkern vielleicht am wenigsten schöpferischen Geschmack, obgleich sie noch immer die Kunst- begabtesten sind. Was bedeutet das? — Ich weiß es nicht. Aber seit ich den Taj gesehen, kommen mir allerhand kuriose Gedanken über das Verhältnis von Erscheinung und Sinn. Eine kleine Ver- schiebung innerhalb der empirischen Verhältnisse, und der Taj wäre nicht das Wunder, das er ist. Die richtigen können leicht durch Zufall gefunden worden sein. Eine geringfügige Veränderung in Wortwahl und Syntax verwandelt eine Trivialität zum Urwort und umgekehrt ; eine versehentlich gezogene Linie, ein von ungefähr aufgesetzter Farbenfleck gibt dem Bild einen unnachahmlichen Aus- druck. Und dieser Ausdruck ist doch das Eigentliche, das, worauf der ganze Wert der Gioconda z. B. beruht. Sollte zwischen Not- wendigkeit dem Geiste nach und empirischer Zufälligkeit ein ge- heimer Zusammenhang bestehen? So daß es einer Notwendigkeit entspricht vor Gott, wenn zufällig auf Erden ein Genie ersteht, zu bestimmter Zeit in die Geschichte eingreift, von ungefähr eine be- Delhi and Florenz; Michelangelo. 193 stimmte Linie zieht? — Ich weiß nichts Bestimmtes, so vieles ich ahne. Aber durch die unmittelbare Manifestation eines selbständigen Sinnes allein scheinen mir die Wunder der Renaissance- und der Mogul enkunst erklärbar. Ich verstehe gut, daß den meisten Europäern die Residenzen der Mogulkaiser als das Interessanteste von ganz Indien erscheinen ; denn die meisten interessiert doch nur das, was zu ihrem Indivi- duum in unmittelbarer Beziehung steht. Diese Welt ist unmittelbar verständlich, man kann sich heimisch in ihr fühlen; sie ist überdies so reizvoll, wie wenige andere. Mich aber zieht es aus ihr fort. Was soll ich inmitten dieser Schätze? Anregen tut mich ihr Anblick nicht, dazu ist mir ihr Geist zu verwandt. Und um inmitten dieser Kunst dahinzuleben, ist sie zu groß. Sie störte mich auf allen meinen Wegen. So könnte ich auch in Florenz nicht existieren, wo der vollendete Geist des Quattrocento alles Wollen des Novecento entmutigt. Aber Florenz besuche ich doch immer wieder, und jedes neue Mal lieber als vorher, weil dort die sichtbare Schönheit die Blüte des Geists bezeichnet, eben das bedeutet, wie die platoni- sierende Philosophie der gleichen Zeit. Wenn ich den Glockenturm Giottos betrachte, offenbart sich mir die gleiche Vernunftquali tat, die im Humanismus ihren abstrakten Ausdruck fand, und betrete ich die Mediceerkapelle, so spüre ich gar die Gegenwart eines Genies, der unter anderen* Bedingungen die Welt hätte erschaffen können. In Florenz hat alle Kunst einen tiefen metaphysischen Sinn, der noch ihre verstiegensten Ausläufer durchgeistigt. Der indisch-mohamme- danischen Kunst geht solcher ab. So kann sie meiner Seele nichts geben. Je mehr Kunst ich sehe, die nichts als Kunst ist, desto stärker tritt mir meine Anlage ins Bewußtsein, welche die Kunst nur als unmittelbaren Ausdruck von Metaphysisch-Wirklichem zu würdigen weiß. Wahrhaft große Kunst sagt mir insofern wohl mehr, als der Mehrzahl ihrer Verehrer, aber der Kleinkunst kann ich nicht ge- recht werden, und als Werk der Kleinkunst gilt mir so manches Meisterwerk. Zumal das Dekorative läßt mich kalt. Die Zierlich- keit, die Anmut der Arabeske hat keinen tieferen unmittelbaren Hintergrund, als den erlesenen Geschmack ihres Erfinders ; und ich wüßte nicht, inwiefern es mich angehen sollte, daß ein bestimmtes Keyserling, Reisetagebuch. 13 194 Unwesenhaftigkeit der Arabeske; Benares. Menschenkind Geschmack besessen hat. Natürlich beweist dies bloß meine Beschränktheit, nicht den Unwert des Dekorativen. Ohne Zweifel ist dieses oberflächlichen Charakters und Sansovino Michel- angelo zu vergleichen, ist lächerlich. Aber nicht das Tiefe allein hat Daseinsberechtigung. Sonst weiß ich das Oberflächliche auch zu schätzen, nur im Falle der Kunst vermag ichs nicht, und dies be- weist, daß gewisse Organe mir fehlen. Es beweist vor allem Mangel an Kultur. Die Gründe für diesen liegen nicht fern : nirgends wohl in ganz Europa weht eine unkünstlerischere Luft als in meiner Heimat, so hat mir die Kinderstube gefehlt, dank der mir gleichgestellte Florentiner wie selbstverständlich Geschmack und Freude am Schein besitzen. Es ist hiermit wie mit jedem Vorzug der Geburt: der Vorsprung, den er gewährt, ist ein absoluter Vorsprung, den nur produktive Befähigung einholen kann. — So freue ich mich dem- nächst in Benares anzulangen. Dort werde ich mehr in meinem Elemente sein. BENARES. Als Brahma den Himmel mit seinen Göttern gegen Käshi (Benares) abwog, Sank Käshi, als die schwerere, zur Erde hinab, Der Himmel, als der leichtere, stieg hinan. Ich muß wieder und wieder dieser Verse aus Shankarächäryas Manikarnikastotram gedenken, denn es weht ein Hauch göttlicher Gegenwart über dem Ganges, wie ich ihn gleich machtvoll noch nirgends gespürt habe. Des Morgens zumal, wenn die Frommen zu Tausenden die Ghäts bedecken, wenn die Gebete in goldenen Wellen der aufgehenden Sonne entgegenfluten und der Sinn sich in zartester Sinnenschönheit offenbart, scheint die ganze Atmosphäre durchgottet zu sein. Wie gut, daß die Inder seit Jahrtausenden diese Stätte als Heiligtum verehrt haben: so ist sie, dank des Glaubens Wundermacht, wahrhaftig zu einem Heiligtum geworden. Benares ist Shiva geweiht, dem schwarzhalsigen Gotte ; aber nicht als Person, sondern als Ansicht des überpersönlichen Brahman, der nichts aus- schließt und alles bedingt: So wallfahrtet ganz Indien nach Be- nares, unbekümmert um Sektenangehörigkeit. So könnte die Heilige Stätten; Notwendigkeit der Anregung. 195 ganze Menschheit hierher pilgern. Die schlanke Moschee Aurang- Zeebs, des fanatischen Muslim, wirkt nicht störend inmitten der Hindutempel. Und wie aus dem fernen Cantonment, vom Wind ge- tragen, das Echo eines Chorals über dem Ganges schwebte, da war mir, als gehörte es hierher. Benares ist heilig. Das oberflächlich gewordene Europa ver- steht solche Wahrheiten kaum mehr. Bald wird keiner mehr Wall- fahrten unternehmen, und früher oder später, nur zu früh, wird die Christenheit ohne Heiligtümer dastehen. Wie arm wird sie dadurch geworden sein ! Was soll die Frage, ob eine Stätte „wirklich" heilig sei? Wird sie lange genug für heilig gehalten, so schlägt die Gott- heit unweigerlich ihren Wohnsitz auf in ihr. Dem Pilger, der sie betritt, wird es merkwürdig leicht, in Andachtsstimmung zu ver- weilen und diese Stimmung erweitert und vertieft. Freilich wäre es das Höchste, wenn einer überall die Gegenwart Gottes spürte, un- abhängig von äußerlichem Beistand. Aber das vermag kaum einer unter Millionen. Nicht alle Jahre wird ein Menschenkind geboren, daß wie Jesus von sich sagen kann : ich habe, gleich dem Vater, alles Leben in mir; dessen Spontaneität so groß und so selbst- herrlich wäre, daß sie keiner Auslösung bedürfte. Die Regel ist hier wie überall — in Kunst, Philosophie und Moral — , daß der Mensch nur das in sich erlebt, was ihm außer sich gezeigt wird, oder was die Eindeutigkeit mittelbarer Anregung reflexartig in ihm ent- stehen ließ. Verhielte es sich anders, so wären nicht allein Wall- fahrtsorte überflüssig, es bestünde auch keine Veranlassung, große Männer in Dankbarkeit zu verehren, denn wozu verehrte man sie wohl, wenn sie nicht gäben, was wir ohne sie entbehren müßten? Die allermeisten haben Anregung nötig, um zum Höch- sten in Beziehung zu treten, wo sie fehlt, dort entgotten sie sich. Solche gewährt für das Alltagsleben das Studium der Schrift, die Teilnahme am Kult. Allein die Routine des Alltags vermag nicht mehr, als den normalen Wachstumsprozeß im Gang zu er- halten und Rückbildungen vorzubeugen ; nur Außerordentliches be- wirkt im Menschen, dem Gewohnheitstier, dem Unterschiedswesen, eine Beschleunigung der Entwickelung, eine plötzliche Niveauver- schiebung. Zu diesem Zwecke haben alle Religionen Feiertage ein- gesetzt ; den Umgang mit heiligen Männern empfohlen ; besonders aber das Wallfahrten angeraten. Bei solchen trägt nämlich alles dazu bei, die religiösen Saiten der Seele zum Schwingen zu bringen und 13* 1 96 Wert des Wallfahrtens ; psychische Atmosphäre. in dauernder Schwingung zu erhalten. Die Ortsveränderung läßt den Menschen zeitweilig seine gewohnten Umstände vergessen ; das Ziel der Fahrt, stets im Auge behalten, schließt eben dadurch herabmindernde Erinnerungen aus ; endlich steigert die Phantasie in der Erwartung den möglichen Einfluß des Heiligtums so sehr, daß die Seele sich dem wirklich vorhandenen mit äußerster Emp- fänglichkeit hingibt. Aber dieses Subjektive ist es nicht allein, das die Heilwirkung heiliger Stätten bedingt: diese werden objektiv heiligend durch die Kumulation der Glaubensvorstellungen seiner Besucher. Sie gewinnen auf die Dauer eine Atmosphäre, die auch den ergreift, der in unheiliger Stimmung hinzog. Und diese ihre weihende Kraft wächst mit der Zeit. Sie werden allmählich zu echten Gnadenbornen. Wer eine altgeheiligte Pilgerstraße in gläu- biger Verfassung durchmißt, dem kann es geschehen, daß er sich an ihrem Ende seelisch weiter befindet, als ihn sonst Jahre innerer Arbeit gebracht hätten. Indien nun ist dicht durchzogen von Pilger- straßen ; es ist besäet mit heiligen Stätten ; wieder und wieder wird der Wanderer, in immer neuem Zusammenhang, in immer neuer, deshalb anregender Form, an die Gegenwart Gottes erinnert. Nir- gends aber so stark wie am Ganges. Dieser heiligste der Ströme entspringt in Shivas Paradies, am schneeigen Kailäs in den Hima- layas ; wer dorthin gelangt, ist leiblich in Gottes Gegenwart. Dann durchfließt er die majestätischen Bergwälder, in denen Munis und Rishis hausen, Übermenschen, Jivanmuktas, denen Leben und Ster- ben schon eins sind ; wer bis zu ihnen dringt, den nehmen sie mitunter zum Jünger an. Und indem er sich südwärts wälzt, vom sonnenverbrannten Pendschab zu der fruchtbaren Ebene Bengalens, heiligt er fortlaufend Stätte auf Stätte. Zum Kailäs ist noch keiner hinangestiegen ; zu den Mahatmas nur selten einer gelangt. Aber Benares ist jedermann zugänglich. So ist diese Stadt der Brennpunkt aller Glaubensvorstellungen, die mit dem Ganges ver- knüpft werden, was ihr eine einzig dastehende heiligende Kraft ver- leiht. Was ist es mit dieser „psychischen Atmosphäre", welche offen- bar objektiv-wirklich ist, deren Dasein ich deutlicher spüre, je länger ich lebe? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, daß es sich um Schwingungen handelt, eines „Äthers", der freilich kaum mit dem der Physiker zusammen fällt, aber doch um Vibrationen materieller Natur. Sicher sind Gedanken ebensosehr „Dinge", wie die Gegen- Sonnena nbetung, 197 stände der Außenwelt, nicht minder real, und wahrscheinlich dauer- hafter als man denkt. Der „Zeitgeist" ist ein nicht minder Objek- tives, wie die physische Luft. Wenn Vorstellungen nichts Stoff- liches wären, sie könnten nicht anstecken. Ich wüßte auch nicht, wie ich sonst dazu kommen sollte, unmittelbar eine psychische Atmosphäre aufzufassen, sonst so stark beeinflußt würde vom Ort, an dem ich mich aufhalte, und verschieden, je nach den Wesen, die ihn dauernd bewohnen oder bewohnt haben. An der Wirklichkeit psychischer Luft kann nur der zweifeln, dessen Sinne zu stumpf sind um sie zu spüren. Ihre Theorie ist freilich ungeschrieben. Der einzige zusammenhängende Versuch, den ich wüßte, stammt noch von den alten Indern her: ich meine die dunkle Lehre von den Tattvas. 1 ) Herrlich ist es, wenn sich die Sonne über den Horizont erhebt und die Scharen der Frommen auf den Ghäts sich in einiger Gebärde der Anbetung der Lebensspenderin entgegenneigen. Der Hinduismus kennt keinen Sonnengott ; was Stoff ist, hat er nie als Geist verehrt. Aber er gebietet vor der Sonne anzubeten, weil sie die vornehmste physische Manifestation sei der göttlichen Schöpferkraft. Was wäre der Mensch ohne Sonne? Er wäre über- haupt nicht ; sein ganzes Dasein ist sonnenerzeugt, sonnengeboren, wird von der Sonne erhalten und verwelkt, wenn der Born des Lebens sich von ihm abwendet. Je weiter ich komme in der Erkenntnis, desto entschiedener bekenne auch ich mich zum Sonnenkult. Während jener schreck- lichen Monde, wo sie Estland nur einen flüchtig wegwerfenden Gruß entbietet, um sich dann schleunigst, wie nach erledigter unangenehmer Pflicht, geliebteren Breiten zuzusenken, sinkt jedes- mal auch die Kurve meines Lebens. Mein Körper erkrankt, meine Vitalität flaut ab, meine Seele entspannt sich. Und umgekehrt sind meine Perioden höchster Schaffenskraft allemal mit den längsten Tagen zusammengefallen. Aber was ist die heißeste Sonne, die der Norden kennt, im Vergleich zur indischen ! Ein l ) Die einzige ausführlichere Arbeit über diese Lehre, die mir bekannt wäre, bezeichnet Räma Prasäds Büchlein Natnre 1 s finer Forces (London 1907, Theosophical Publishing Society), in welcher die Philosophie der Tattvas teils in Übersetzungen aus dem Sanskrit-Original, teils in selbständiger Aus- drucksweise, nicht undeutlich dargelegt erscheint. 198 Die Sonne Indiens; ex Oriente lux. schwelend Kerzenlicht. Die Sonne Indiens wird viel gefürchtet: ich fühle mich geneigt, gleich den Pilgern am Ganges, jeden Morgen dankerfüllt vor ihr niederzusinken, denn unermeßlich ist, was sie mir gibt. Hier spüre ich mich dem Herzen der Welt so nah, wie nie zuvor, hier ist mir täglich, als müßte mir bald, schon heute vielleicht, die äußerste Erleuchtung kommen. Ich wundere mich nicht mehr, daß alle tiefste Weisheit aus dem Osten stammt: sie stammt aus der Sonnennähe. Alle Manifestation ist körperlich ; der Geist offenbart sich dort, wo es die Kraft gibt, ihn auszudrücken und alle Kraft ist materiell und stammt letzthin aus der Sonne. Die Sonne Indiens begünstigt nicht das Denken, wie denn keinerlei be- wußte Aktion ; ihre Kraft ist hier zu groß, um eines Auswirkens vermittelst schwacher Menschenwillen fähig zu sein. Sie wirkt un- mittelbar im Guten wie im Schlimmen. So tötet sie das vorwitzige Gehirn, das sich ihrer Bestrahlung allzulange aussetzt ; so er- leuchtet sie auf einmal unvermittelt das demütig-empfängliche Ge- müt. Ihm wird hier auf einmal vieles klar, was im Norden kein Denken erarbeiten würde. Es wird ihm deutlich dadurch, daß die Urkräfte seines Wesens beschwingt werden und in den Mittelpunkt seines Bewußtseins hineindringen. Metaphysische Erkenntnis ist nichts anderes, als dieses Bewußtwerden des tiefsten Wesens. Ge- wöhnlich wird es überschichtet von den tausend Trieben, die das Oberflächenspiel des Lebens bilden, desto mehr, je ferner der Quell. So ist der Europäer einerseits tätiger, andererseits oberflächlicher als der Inder. Dieser handelt ungern, denkt meist unvollkommen, hat nur wenig kinetische Energie: alle Oberfläche wird von der Sonne versengt. Dafür entzündet sie das Unversengbare zu solcher Leuchtkraft, daß es dem ärmlichsten Bewußtsein deutlich wird. Ist es richtig, was ich hier niederschreibe? — Betrachtungen dieser Art sind niemals „richtig", aber sie können wahr sein dem Sinne nach, und das ist mehr. So haben alle Sonnenanbeter recht vor Gott. Für den Mythengläubigen gibt es keine Tatsachen in unserem Sinn ; er weiß nichts von der Sonne des Physikers. Er betet vor dem, was er unmittelbar als Quell seines Lebens spürt. Der spätere Mensch, dessen emanzipierter Verstand an erster Stelle die Frage der Richtigkeit aufwirft, muß natürlich den Sonnenkult verleugnen ; für ihn gibt es ja nur das Faktum der Astronomie und das ist freilich keine Gottheit. Der spiritualisierte wird dem antiken Glauben wieder gerecht. Er erkennt in ihm eine schöne Ausdrucks- Indische Frömmigkeit; Wesen von Glauben und Gebet. 199 form echtinnerlichen Gottesbewußtseins. Er weiß, daß alle Wahr- heit letzthin symbolisch ist, und daß die Sonne den Charakter des Göttlichen eigentlicher zum Ausdruck bringt, als die beste Begriffs- fassung. Die Atmosphäre der Andacht, die über dem Strome schwebt, ist unwahrscheinlich stark ; stärker als in irgendeinem Gottes- hause, das ich besucht hätte. Jedem angehenden christlichen Geistlichen wäre es anzuraten, ein Jahr des Theologiestudiums draufzugeben und diese Zeit am Ganges zu verbringen: hier würde er erfahren, was Frömmigkeit heißt. Denn in Europa lebt nur mehr ein Abglanz von ihr. Wer kann dort noch inbrünstig beten? Wer kennt dort noch die andächtige Sammlung, welche sich selbst ge- nügt, keiner Veranstaltung bedarf, den Einfluß der störenden Um- welt selbständig ausschaltet? kaum einer unter Millionen ; die am frömmsten zu sein wähnen, sind es in Wahrheit meist am wenigsten ; denen gilt Glauben als identisch mit Fürwahrhalten und Beten für eines Sinnes mit Bitten, was beweist, daß sie von tieferer Frömmigi- keit nichts ahnen. So elementaren Mißverstehens scheint kein noch so einfältiger Hindu schuldig. Keinem Hindu bedeutet Glauben Für-wahr-halten, denn die Frage des Daseins stellt er nicht, wie- viel Götter und Göttinnen er immer verehrte. Und keiner faßt sein Gebet als Bitte auf. Er weiß, daß Bitten niemals ein Heiliges ist, auch da nicht, wo es für andere geschieht, weil es sich letztlich immer auf das Ich bezieht. Das Gebet als Sakrament ist ein Ausdruck eben dessen, was im Opfer, im Loben Gottes, im Kult, im Choral und am besten in der stillen Meditation in die Erscheinung tritt: des Öffnens des Bewußtseins den Strömungen, die in der innersten Tiefe der Seele der Befreiung harren, die, wenn befreit, den Geist direkt mit Gott verbinden. Auf das Mittel als solches kommt es nicht an. Das weiß der Hindu, was allen Äuße- rungen seiner Religiosität, seien sie naiv oder durchgeistigt, den gleichen sakramentalen Charakter erteilt. Woher kommt ihm sein Wissen? Von seiner Kinderstube. Das erste, was eine indische Mutter ihrem Kinde lehrt, ist die Kunst des Meditierens, der will- kürlichen Versenkung im Höchsten, was es vorstellen kann. Hat es diese Kunst erlernt, dann bedarf es keines äußeren Apparates, keiner Kirchenluft, keines Dogmenglaubens, keiner Abgeschiedenheit, umj 200 Indische Kindererziehung ; Konfessionsbeeinflussung als Sünde. zu Gott in Beziehung zu treten. So sieht man am Ganges die Kinder inmitten des Lärms, des, Geschäftsverkehrs, trotz aller Frem- den, die verständnislos glotzend an ihnen vorbeigondeln, wenn die Stunde der Anbetung kommt, sich inbrünstig in die Gottheit ver- senken, unstörbar, unbeirrt. Und die vom Kind erarbeitete Kunst lernt der Erwachsene dann langsam verstehen, wenn nicht mit dem Ver- stand, so doch mit dem Gemüte. Er weiß ja aus Erfahrung, worauf es ankommt ; er kennt die Erhebung, die das Freiwerden der tiefsten Lebenskräfte wirkt; so kann er nicht, gleich den meisten heutigen Christen, das Mittel mit dem Zweck verwechseln. Desto weniger, als seine ganze Erziehung darauf angelegt ward, ihn das Wesent- liche vom Unwesentlichen unterscheiden zu lehren. Seine Mutter» die ihn atmen und meditieren lehrte, hatte ihm völlig freie Hand ge- lassen bei der Wahl seines geistlichen Lehrers. Wäre er einem ge- folgt, der in seiner besonderen Konfession von der ihrigen soweit abwich, wie ein Lutheraner vom Katholiken, sie hätte keinen Ver- such gemacht ihn zurückzuhalten: es gilt ja als Todsünde unter Indern, eines anderen Glauben gewaltsam beeinflussen zu wollen, da jeder doch ein besonderes Wesen ist und daher auf seinem ihm gemäßen Weg der Gottheit zupilgern muß. Und im gleichen Sinn hatten ihn die Brahmanen, sofern er wissendurstig und einsichts- fähig war, fortschreitend weiter belehrt. Sie hatten ihm gesagt, nur eine Gottheit gäbe es in Wahrheit, die vielen Götter seien dessen Manifestationen, nur dazu da, dem Menschen das Realisieren zu er- leichtern : denn Gott an sich sei unvorstellbar ; wer weit genug in sich selber vorgedrungen sei, könne alles Rituales wohl entraten. Und so war er auch hie und da weisen Männern begegnet, die außerhalb aller Kultgemeinschaft standen. — Wie soll der Hindu nicht wissen, worauf es ankommt? Wie soll er lau werden, wofern er ein einziges Mal die Seligkeit religiösen Realisierens erfahren hat? Im westlichen Europa, das im Mittelalter Indien so ähnlich sah, ist heute echte Andacht nicht mehr anzutreffen, außer in fern- abgelegenen Winkeln, in denen der Geist vergangener Jahrhunderte noch herrscht. Nur in Rußland kennt man sie noch. In der Tat habe ich, seit ich in Indien weile, mehr denn einmal des russischen Menschen gedenken müssen. Seltsam ähnlich dem Hindu steht dieser zur Welt: gleich allverstehend, gleich allbrüderlich, gleich unpraktisch. Und seltsam ähnlich ist vor allem seine Religiosität. Zwischen vielen Pilgern, die ich einerseits am Gangesgestade, Gemütlosigkeit des Westens; Liebe kein Monopol der Christenheit. 201 andrerseits an der Ssergievskaja Lawra beten sah, bestand sicher nur ein konfessioneller Unterschied. Eine gleiche Inbrunst nicht allein, eine gleiche Qualität der Inbrunst ehtflammte die Herzen dort wie hier. Ja, Rußland — das Rußland des einfachen Bauern — ist heute wohl das einzige gottnahe Reich der Christenheit. Gottnahe zum mindesten, soweit der Weg des Herzens, der Bhakti-Yoga, in Frage kommt. Das Gemüt ist, was immer man sage, beim Abendländer nur schwach entwickelt. Wir bilden uns ein, weil wir nun seit anderthalb Jahrtausenden eine Religion der Liebe bekennen, deshalb von Liebe beseelt zu sein. Das sind wir nicht. Unsere extrem aktive Natur hat die Inspiration, die aus dem Osten kam, unverzüglich in Handlungen umgesetzt, in Lebensformen, Lebenswege, Institutionen, so daß in diesen zwar mehr Liebe zum Ausdruck kommt, als in allen, die im Orient gelten, das Gemüt als solches aber entleert erscheint. Die Seele des Europäers ist im gleichen Verhältnis gefühlsarm, wie sie im Geist erhabener Gefühle schafft. Es scheint nicht möglich, einen Geist sowohl als solchen festzuhalten, als ihn äußeren Organen einzuverleiben. Wie dürftig wirkt Thomas a Kempis neben Ramakrishna! Wie arm die höchste europäische Bhakti neben der etwa der persischen Mystiker! Das westliche Fühlen ist stärker als das östliche, insofern es mehr kinetische Energie enthält; aber es ist auch nicht annähernd so reich, so zart, so differenziert. San Juan de la Cruz wirkt häufig obszön, trotz echtester Gottesliebe, weil eben seine rohe Spanier- seele keines feineren Ausdrucks fähig war ; Franz von Assisi, trotz seiner Süßigkeit, mehr als Naturgewalt denn als verklärter Geist. Es wäre hohe Zeit, den Aberglauben aufzugeben, daß die Christenheit ein Monopol auf die Liebe hätte. Sie steht obenan, soweit Arbeit im Sinne der Liebe in Frage kommt, von dieser selbst, als Erleben, weiß sie weit weniger, als die sanftere Menschheit Hindustans. Ich verstehe jetzt gut, daß Europäer- herzen dem gebildeten Hindu roh erscheinen : sie sind roh, daran kann kein Zweifel sein. Und schwerlich werden sie jemals echter Bhakti fähig werden : unsere Entwickelung bewegt sich nach anderer Richtung zu. Wir werden weniger und weniger devotioneil. Man lasse sich durch den Devotionalismus nicht irre machen, der heute in vielen religiösen Verbänden des Westens, zumal der von Indien inspirierten Theosophischen Gesellschaft, herrscht: er wird immer nur einer Minderzahl kongenial sein, selbst unter den Frauen. 202 Sinn europäischer Unfrömmigkeit. Und diese Minderzahl wird zusammenschmelzen im gleichen Ver- hältnis, wie das Bewußtsein ihrer eigentlichen Seele der westlichen Menschheit deutlicher wird. Hier wie überall setzt die gegebene Natur eine Grenze, die zu überschreiten nur scheinbar glückt. Um im indischen Sinne fromm sein zu können, muß man als Inder oder Russe geboren sein. Es muß einem das Verehrungsbedürfnis im Blute liegen ; es muß die Verehrungsfähigkeit hoch ausgebildet sein. Die Seele muß sich sehnen, sich hinzugeben, dem Eigenwillen zu entsagen, mit sich geschehen zu lassen ; sie muß weiblich geartet sein. Das sind die besten Europäerseelen nicht ; die sind männlich bis zum Extrem. So beruht die Unfrömmigkeit des Europäers, sein grobes Mißverstehen des Sinns von Glauben und Gebet letzthin wohl darauf, daß die Bhakti-Yoga nicht den Weg bezeichnet, der ihn am sichersten zur Gottheit führt. Viele Stunden jedes Tages verbringe ich im Labyrinth der Gassen, welche Tempel mit Tempel verbinden und ihrerseits von Götterschreinen und Altären dicht umsäumt sind. Soviel „Stationen", wie Benares, hat kein Wallfahrtsort der Christenheit, und fast auf jeder wird die Gottheit in besonderer Form und unter spezifischem Aspekte verehrt. Am meisten Zuspruch finden natür- lich die Idole, die auf das Verständnisvermögen des kleinen Mannes zugeschnitten sind ; so wird auch in Benares, der Stadt Shivas, Ganesha, dem elephantenköpfigen Schutzherrn irdischen Erfolges, am reichlichsten geopfert. Die Gebildeten haben nichts dagegen ; ihre Weltanschauung billigt und ermutigt jede Form der Devotion. Alle Glaubensvorstellungen, so lehrt sie, haben den einzigen Zweck, dem Menschen ein Hilfsmittel zu bieten, sich seines tiefsten Selbst bewußt zu werden. Je einfältiger und roher einer ist, desto gröber und ungeistiger müssen die Bilder sein, die seiner Auf- merksamkeit entgegenhalten werden, denn feinere verfehlen bei ihm ihr Ziel. Vom Bauern ist nicht zu verlangen, daß er unmittelbar zum Brahman in ein Verhältnis träte. Der möge nur getrost zu den Göttern beten, deren Gestalten eine ungebildete Volksphantasie er- schuf, denn sofern er nur glaubt, sofern der Gegenstand seiner Ver- ehrung seine Seele wirklich zu bannen vermag, leistet dieser ihm eben das, was dem Rishi, dem Muni, die Kontemplation des Ab- soluten leistet. Im übrigen aber gibt es nicht viele Wissende ; nicht Götter glauben als Mittel zum Zweck. 203 viele, die über die Ratsamkeit der Disziplin, des traditionellen Kultes tatsächlich hinaus wären. Es gilt, die Gottheit wirklich zu reali- sieren, nicht bloß sich einzubilden, daß man es tut : wer ist so weit, dies ohne „Namen und Form" zu können? Shankara war es nicht, auch Ramanuja nicht, sonst wären beide nicht so eifrige Opferer gewesen ; beide blieben den altgeheiligten Glaubensformen treu, verschmähten es sich neue, ihren Philosophien scheinbar ge- mäßere auszudenken, denn sie hatten gefunden, daß angeborene oder -erzogene Vorstellungen die Gefäße sind, in die sich der heilige Geist am leichtesten ergießt. Und Ramakrishna, der suesse Heilige von Dakshinesvar, von dem es heißt, daß er ein Jivan- mukta war, hinaus über alle irdischen Bindungen, der folglich besser als irgendeiner wissen konnte, was nötig und was über- flüssig ist, hat jüngst erst seinem Volke wieder ans Herz gelegt, nur ja dem Ritual gemäß zu praktizieren, da ohne geistliche Übungen (ohne Sädhana) Erleuchtung schlechterdings nicht zu er- ringen sei und von allen die altüberlieferten die wirkungskräftig- sten seien. — In der Tat waren alle gebildeten Hindus, denen ich begegnet bin, aufrichtig göttergläubig (was sie freilich nicht hinderte, sich als Philosophen bald zum Advaita, bald zum Visishtad- vaita zu bekennen) ; sie alle praktizierten ihren Glauben. Wohl hielten sie sich von den primitiven Riten fern, welche heute noch die Hauptmasse hinduistischer Kulthandlungen ausmachen, aber an irgendeinem Rituale nahmen sie alle Teil. Der Geist des Hinduismus, als Zusammenhang von Glaubens- vorstellungen betrachtet, ist identisch mit dem des Katholizismus. Nur erscheint er bei ersterem mehr intellektualisiert. Die praktischen Vorschriften, die den Gläubigen beider Religionen erteilt werden, sind überall eines Sinnes, gleich weise, gleich psychologisch tief, gleich zweckentsprechend. Nur haben die Hindus das gleiche besser verstanden. Während die katholische Kirche die Heiligenverehrung empfiehlt, weil die Heiligen wirklich im Himmel säßen, wirklich Fürsprache einlegten vor Gott, der es so angeordnet hätte, daß man sich nicht unmittelbar an Ihn, sondern an die zuständigen Mittel- instanzen wenden solle, wissen die Inder, daß die Anbetung spezi- fizierter Gottheiten deshalb ratsam ist, weil es den Menschen allzu- schwer gelingt, die Gottheit als solche zu realisieren, weil Reali- sieren das Eine ist, worauf es ankommt, und eine spezifische Form, spezifischen Aspirationen angemessen, am meisten fördert. Katholi- 204 Hinduismus und Katholizismus. zismus sowohl als Hinduismus treiben Bilderdienst; aber während es sich bei jenem praktisch nur zu oft um echten Fetischismus handelt, um Götzendienst in dessen rohester Gestalt, weiß jeder Hindu (oder kann er es wenigstens wissen), daß der Wert der Bilder einzig darauf beruht, daß sie die Aufmerksamkeit des Beters konzentrieren helfen ; es ist den allermeisten unmöglich, ihre Seele anders als in bezug auf einen sichtbaren Gegenstand zu sammeln. Und so fort. In der katholischen Kirche leben die tiefen Lehren des Altertums mißdeutet fort; innerhalb des Hinduismus meist richtig gedeutet. Das ist, soweit das Prinzip in Frage kommt, zwischen beiden der einzige Unterschied. Die indische Religions- und Ritualphilosophie ist eine reichste Fundgrube psychologisch-metaphysischer Weisheit. Es liegen darin Erkenntnisschätze aufgespeichert, die, wenn gehoben und gesichtet, aller Wahrscheinlichkeit nach den wissenschaftlichen Begriff vom Psychisch-Wirklichen modifizieren werden. Denn die Inder sind in zwei Hinsichten auf einmal groß gewesen, die sich unter Abend- ländern gewöhnlich ausschließen: im Glauben und im Verstehen des Glaubens. Bei allem Sinn für die Form und deren Wirkungs- möglichkeit haben sie ihre objektive Bedeutung meist richtig beurteilt. So ist denn schon das Eine hochbedeutsam, daß die Inder, die in der Selbsterkenntnis weiter gelangt sind als irgendwelche Menschen, deren Bewußtsein sich in unerhörtem Grade der verstrickten Fesseln von Name und Form entledigt hat, in praxi immer katholisch geblieben sind ; alle größten indischen Philosophen wie Ramanuja, Shankaracharya — ich sagte es schon — praktizierten gleich Thomas von Aquin. Wohl sind auch unter Indern, wie überall, protestantisch gesinnte Reformer aufge- treten. So Buddha, die Gurus des Sikhs, und neuerdings die Stifter des Brahmo-Samaj. Aber erstens ist keiner von diesen so weit ge- gangen, wie ein Luther unter uns, dann aber haben sie den Hindu- geist in großem Maßstab nie ergreifen können ; sie wurden niemals populär. Der Buddhismus verschwand aus Indien, sobald er an der Königsgewalt keine äußere Stütze mehr hatte, und die anderen protestantisierenden Religionen sind allesamt beschränkte Sekten geblieben. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß der Katholizismus der Ansicht der Hindus nach ein System geistlicher Hygiene ver- körpert, wie es weiser nicht erdacht werden könnte ; daß, was immer der letzte Sinn der Religion, die katholische Form dessen Katholizismus und Protestantismus. 205 Realisieren am meisten begünstigt. Das technisch Wesentliche an allen protestantischen Reformen ist, daß sie den Apparat, der dem geistlichen Fortkommen dient, vereinfacht haben. Während der Katholizismus alle Mittel in Anwendung bringt, die das religiöse Gefühl zu stimulieren geeignet scheinen, sanktioniert der Protestan- tismus nur einige wenige und stellt es der Seele im übrigen anheim, sich ohne äußere Beihilfe, schlecht und recht, mit Gott in Ver- bindung zu setzen. Das wäre schön und gut, falls die Vereinigung mit Gott auf diese weniger umständliche Weise gleich vollkommen zu erzielen wäre. Das ist sie nach Ansicht der Hindus nicht. Ihrer Erfahrung nach hat nur der höchste Mensch das innere Recht, den Weg des Protestantismus zu wandeln, denn er allein hat Aussicht Gott zu finden, indem er ihn auf seine Weise sucht. Die anderen finden ihn nicht. Denen ist es besser, den ganzen Hilfsapparat zu benutzen, den die "Weisheit der Generationen ausgebildet, und die breite Straße zu wandeln, die sie für alle abgesteckt hat. Es bedeutete ein Mißverständnis, die Frage aufzuwerfen, ob die Hindus absolut Recht haben mit ihrer Auffassung: sicher haben sie für sich selber recht. Die Wege des Katholiken und des Prote- stanten führen beide zu Gott, aber jeder von ihnen ist einer be- sonderen Naturanlage angemessen. Wer sich eines Sinnes am besten so bewußt wird, daß er sich in seine objektivierte Form versenkt und diese Form seine Seele gestalten läßt, ist katholisch veranlagt, gleichviel zu welcher Konfession er sich de facto bekennen mag. Und gleichermaßen ist der wesentlich Protestant, der vom Sinne her der Form zustrebt. Soweit Fortkommen in der Welt (wozu auch wissenschaftliche Erkenntnis gehört) in Frage steht, kann man wohl sagen, daß die protestantische Gesinnung die objektiv zweck- mäßigere ist. Andrerseits bedingt die katholische einen absoluten Vorzug überall, wo Realisieren Gottes in der Kontemplation als Ziel vorschwebt. Dieses kontemplative Realisieren ist nicht die einzig- mögliche Form religiösen Erfahrens ; wer das Himmelreich nicht schauen, sondern auf Erden verwirklichen will, dem ist eine Prote- stantenseele ersprießlicher. Der Katholik hat keinen Beruf zur Um- gestaltung, ist seinem Wesen nach nicht fortschrittlich gesinnt. Aber ihm wird es leichter zu teil, Gott zu schauen. So kann es nicht fehlen, daß das Indervolk, dem es ausschließlich um Erkenntnis zu tun ist, welches praktischen Fragen ganz gleichgültig gegenüber- steht, das kontemplativ ist in extremem Grade, auch in extremem 206 Katholizismus und Protestantismus. Grade katholisch denkt und fühlt. Denn es ist ein grober Irrtum, wie oft es gelehrt werde, zu glauben, daß der Protestantismus die religiöse Erkenntnis vertieft hätte; das Gegenteil davon ist wahr. Das Handeln im Sinne der Religion hat er vertieft, aber der Er- kenntnis hat er nicht zugute kommen können, weil die nach aus- wärts gerichtete protestantische Bewußtseinsstellung dem Influx des Göttlichen direkt den Rücken kehrt. Gott kann man nicht aus- denken, man muß Ihn hinnehmen. Er kommt über einen, man stellt Ihn nicht aus sich heraus ; Er offenbart sich wie Er will, nicht wie wir wollen: so ist der, den es nach persönlichem Ausdruck drängt, dessen Geist darauf gewandt ist, neue Formen zu erfinden, gegen- über dem aufnehmend gestimmten Autoritätengläubigen im Nach- teil als Religiös-Erkennender. Man mag mir einwenden, Luther sei ja gerade hinnehmend gewesen ; gerade er hätte ja Glauben und Demut hoch über alles Wissenwollen gestellt. Allerdings ; in vielen wesentlichen Hinsichten blieb er persönlich bis zum Schluß, was ich katholisch heiße. Aber das Prinzip, dem er zum Sieg verholfen hat, ist dem Glauben und der Demut feind ; der echte Geist des Protestantismus tritt heute nicht mehr in der lutherischen Kirche, sondern in der kritischen Wissenschaft zutage. Wäre es anders, die 1 protestantisch-religiösen Verbände litten nicht auf der ganzen Welt an unheilbarer innerer Zersetzung, wäre speziell das Luthertum nicht heute schon sterbenskrank. Es heißt eben: entweder glauben oder freibestimmen ; entweder Katholik sein oder Protestant. Und wem es darauf ankommt, Gott zu schauen, wird stets die erstere Alter- native ergreifen. Alle Mystiker der Welt waren katholisch gesinnt ; alle kontemplativen Naturen katholisieren. Alle großen religiösen Offenbarungen sind katholisch gesinnten Geistern gekommen und so wird es in aller Zukunft sein. Damit will ich freilich nicht behaupten, daß irgendein heute herrschendes katholisches System sich dauernd als solches erhalten wird. Dieser Tage, wo ich so vielen Kulthandlungen beigewohnt habe, ist mir bewußter geworden als je, wie sehr die Entwickelung der Menschheit überall vom Ritualismus abführt; mehr und mehr verliert die Magie an Bedeutung und Zweck. Insofern treibt die Welt ohne Frage in der Richtung des Protestantismus. Weniger und weniger gebildete Hindus befolgen genau die Vorschriften der Tantras ; weniger und weniger wird von der katholischen Kirche auf die Heilwirkung der Riten Gewicht gelegt. Offenbar wirken Warum Riten immer weniger wirken. 207 diese weniger und weniger. Schon seit dem 18. Jahrhundert leistet der Katholizismus in Europa nicht das, was er der Idee nach leisten sollte und könnte, und heute scheint es, daß sein Bekenntnis im allgemeinen mehr schadet als nützt. Warum das? Sicher liegen die Dinge nicht so, daß die Tantras nichts als Aberglauben verkörperten, so daß man jetzt nur erkennt, was immer der Fall war; sicher auch nicht so, daß sich die moderne Menschheit, wie die Theosophen be- haupten, eines wichtigsten Heilsmittels begäbe ; und sicher be- zeichnet das Aufhören des Glaubens an die Magie als solches nicht die letzte Ursache des Verhältnisses. Ich persönlich bin überzeugt, daß die Lehren der Tantras im ganzen zutreffen und daß es trotz- dem in der Ordnung ist, daß sie weniger und weniger Beachtung finden. Magie kann nur wirken, wo das Bewußtsein sich in einer bestimmten Lage befindet ; diese Lage kann ihrerseits nur bestehen bei einem bestimmten Gleichgewichtszustande der psychischen Kräfte, wo zumal der kritische Verstand Phantasie- und Glaubens- bildungen nicht stört. Wo das erforderliche Gleichgewicht besteht, dort wirkt sie freilich ; dort bedeuten auch tantrische Zeremonien sehr oft die sichersten Hilfsmittel zum inneren Fortschritt. Aber wo es verschoben ist, dort versagen sie. Nun verschiebt es sich bei der ganzen Menschheit mehr und mehr in dem Sinne, daß der Ver- stand über der Phantasie das Übergewicht gewinnt. Dies bedingt einen Fortschritt überall, wo es sich um Meisterung der Außenwelt handelt; es bedingt aber gleichzeitig das Aus-dem-Auge-verlieren einer anderen Seite der Wirklichkeit. Wer über das Tantrikästadium hinaus ist, ist erhaben über viele Einflüsse der psychischen Sphäre, welche vielfach stören, aber andrerseits entgeht ihm auch deren Positives. Das Äußerste kann dieser so gut wie jener realisieren; er kann es überdies viel besser verstehen. Während der Tantrikä wahrhaftige Erlebnisse meist im Sinn absurder Theorien interpretiert, ist der Verstandesklare in der Lage ein gleiches Erleben, wo er es kennt, objektiv-richtig zu deuten. Aber er kennt es zunächst sehr viel seltener. Ohne Zweifel steht die Seele des Tantrikä Einflüssen offen, die auf eine andere Bewußtseinslage überhaupt nicht ein- wirken ; sicher bedingt das Hinauswachsen über die seinige insofern einen Verlust. Wir verstandesklaren Europäer erleben vieles von dem nicht mehr, was der abergläubische Hindu erlebt. Und wahr- scheinlich schließt uns unsere Seelenverfassung nicht allein von vielen unwichtigen Erlebnissen aus, sondern auch von einigen der 208 Gott offenbart sich im Rahmen unserer Vorurteile. höchsten, die der Menschenseele zugänglich sind. So allein wenig- stens vermag ich es mir zu deuten, daß alle höchsten Offenbarungen von Geistern herstammen, die in vielen Hinsichten nicht nur unbe- fangen, sondern auch unentwickelt, unreif, unzulänglich, unkritisch und unverständig wie die Kinder gewesen sind. Freilich übertrifft der Hinduismus den noch so weisen christ- lichen Katholizismus an psychologischer Einsicht vielhundert- fältig ; ich wüßte keinen Zustand der Seele, dem er aus dessen inneren Voraussetzungen heraus nicht gerecht würde. Selig das Volk, dessen Propheten und geistliche Lehrer Weise waren ! Die der Christenheit waren alles, nur nicht das ; sie waren tiefbefangen in „Name und Form"; ihre noch so weitherzigen Lehren schlössen ausnahmslos den größten Teil des Menschengeschlechts vom Heile aus. Daß mußte so sein, sintemalen es Sonderlehren waren ; sinte- malen sie in einer bestimmten Glaubensform die Substanz der Wahr- heit erblickten. Dieser Irrtum aller Irrtümer ist dem Hinduismus fremd ; die Inder sind darüber hinaus, irgendeine Gestaltung meta- physisch ernst zu nehmen ; sie wissen daß alle Konfession nach den Maßstäben des Pragmatismus allein zu bewerten ist. Freilich muß die absolute Wahrheit eine Form annehmen, wenn sie dem Menschen deutlich werden soll ; für das An-Sich fehlt ihm das Organ. Aber diese Form stammt immer vom Menschen her, ist ein irdisch Gefäß, das der göttliche Geist im günstigsten Falle ganz er- füllt. Wie könnte es sonst wohl gelingen das Sosein aller konkreten Religionen historisch und psychologisch abzuleiten? Wie wäre es sonst wohl denkbar, daß alle Visionen, die gottbegeisterten Heiligen kamen, den Vorstellungen entsprachen, welche die Kirche, der sie angehörten, vertrat? Das Göttliche offenbart sich dem Menschen überall im Rahmen seiner intimen Vorurteile. Deswegen riet Rama- krishna seinen Jüngern von einem Wechsel der Glaubensvorstel- lungen so dringend ab ; der Krishnaanbeter bleibe bei Krishna, der Vaishnava ein Vaishnava, der Christ bei Christus : neue Vorstellungen säßen nie so fest wie angeborene, könnten dem Heiligen Geiste daher niemals ein gleich gutes Verkörperungsmittel bieten. So blieb er, der längst in der Extase mit Parabrahman einsgeworden war, in normalem Zustand ein Anbeter der Kali, der Gottheit in ihrem mütterlichen Aspekt. Spirituelle Bedeutung der Abstinenz. 209 Wunderbar ist es, in der Tat, bis zu welchem Grade die Viveka, das Unterscheidungsvermögen in Sachen der Religion, bei den Indern ausgebildet ist. Unter den kultivierten herrscht keine Vor- stellung, die ich wüßte, deren Rationales nicht verstanden würde. Hier gibt es kein Credo quia absurdum, hier wird nirgends Un- begreiflichkeit postuliert ; sie wird gelten gelassen, wo sie vorliegt, dann aber wird das „warum" ihrer nach Möglichkeit bestimmt. Ich komme immer wieder auf die Tantras zurück: so abenteuerlich manche ihrer Sätze klingen, überall ist es möglich ihrem Sinne nach- zugehen ; überall sind die Grundideen vernunftgemäß. 1 ) Wie vielen Irrtümern, denen die Christenheit noch heute unterliegt, hat in Indien die Einsicht vorgebeugt ! Die geschlechtliche Enthaltsamkeit gilt hier wie dort als spirituell wertvoll. Weshalb und inwiefern ist sie das? Die christliche Kirche hat das nie herausgebracht. So verkündete sie die abenteuerlichsten Doktrinen : die Liebe als solche sei Sünde, das Weib gar eine Teufelin, Virginität sei der einzige Zustand, der gottselig zu nennen wäre ; sie erhob das Naturwidrige zum Ideal. Die Inder haben versucht den Sinn des problematischen Werts eines Verzichts auf Liebesfreuden zu er- gründen ; wobei sich herausstellte, daß den zur Heiligkeit Reifen Enthaltsamkeit fördert, weil in seinem Fall die prokreative Energie einer Umsetzung in spirituelle fähig ist ; ihm bedeutet sie ein tech- nisches Hilfsmittel. Aber diese Umsetzung gelingt nur den seltenen Organisationen, die wir eben die Heiligen heißen, woraus folgt, daß Enthaltsamkeit den Durchschnittsmenschen spirituell nicht vorwärts bringt. Dessen Seele bekommt es besser, dem Körper zuzugestehen, was er verlangt, da sonst seine verdrängten Aspi- rationen in die Psyche hinaufgestaut würden. — So handelt es sich bei dem, was die Christenheit Jahrhunderte lang als Ideal verehrt hat, in Wahrheit nur um ein technisches Optimum für bestimmte, exzeptionelle Veranlagungen. — Auch den Sinn der geistlichen Liebe haben die Inder besser verstanden als wir. Wie ichs schon bemerkt habe: inbrünstige Liebe zu Gott ist in Indien verbreiteter als bei uns, sie ist heute die herrschende Form des Gottesdienstes. Die *) Man lese Arthur Avalons Principles of Tantra, und vor allem die vor- zügliche Einleitung zu seiner Übersetzung der Mafia paranirvana-T antra. (London, Luzac <& Co.). Es ist die erste wirklich bedeutende Arbeit, die ich wüßte, über den Geist irgendeiner Ritualphilosophie. Kein denkender christ- licher Theologe, zumal kein katholischer, sollte dieselbe ungelesen lassen. Keyserling, Reisetagebuch. 14 210 _Liebe als leichtester Weg zu Gott. Alten unterschieden drei Wege, die zum Höchsten führten : den der Erkenntnis (Gnana Yoga) y den der Liebe (Bhakti Yoga) und den des Werks (Karma Yoga). Von denen galt der erste als der höchste insofern, als die Erlösung (Mukti) in jedem Fall in Er- kenntnis bestehe, der Philosoph also von vornherein im Licht des Höchsten wandele ; der letzte als der niederste deshalb, weil hier der autonome Geist fast gar nicht mitwirkt und der Erfolg durch die Tugend blind befolgter Vorschriften, also gleichsam mechanisch, herbeigeführt wird ; der Weg der Liebe aber als der leichteste. Inwiefern ist er das? Er ist es insofern, als es in der Natur dieses Gefühls liegt, auszuströmen ; wer da liebt, denkt der- weil nicht an sich ; dessen Seele öffnet sich naturnotwendig ; wer aber von sich ganz frei geworden ist, hat eben damit Gott gefunden. Aus dieser Tugend der Liebe haben die Be- gründer des Christentums den Schluß gezogen, die Liebe sei das Höchste an und für sich. Die Inder, zu tief bewußt, um einem empirischen Gefühl* metaphysische Wirklichkeit zuzuerkennen, zu scharfsichtig, um ein Über-Empirisches in ihr zu sehen, zu kritisch, um ein noch so gutes Mittel zum Endzweck zu hypostasieren, haben einfach gefolgert, daß der Weg der Liebe den Menschen der gang- barste ist. Deshalb empfehlen sie ihn vor allen anderen. Jeder folgende Heilige hat größeres Gewicht auf die Vorzüge der Bhakti- Yoga gelegt und auf die Schwierigkeiten des Pfades der Erkenntnis, so daß heute eben das, was die christliche Kirche ihr Eigenstes wähnt, das Herz des Hinduismus bezeichnet. Aber noch heute, wie zu den Zeiten der großen Weisen, gilt der Weg der Erkenntnis als der höhere, gilt die Liebe nicht entfernt soviel wie bei uns. Freilich ist Gott die Liebe, sagen die Bhaktas, wie Er denn die Quintessenz alles Positiven ist; aber das Gefühl der Liebe, wie Menschen es kennen, und strebe es noch so sehr himmelwärts, ist an sich kein Göttliches. Wie sollte Sehnsucht ohne Eigennutz sein? Wunsch nach Vereinigung ohne Selbstsucht? Menschliche Liebe ist wesent- lich nicht selbstlos. Wohl beschließt sie trotzdem den Weg, der am schnellsten zur Entselbstung führt, weil sie die Seele öffnet, allein das heiligt sie nicht. — In der Tat, menschliche Liebe ist wesentlich nicht selbstlos. Wer daran zweifelt, der betrachte unbefangen die Geschichte der Christenheit: diese Menschheit, vom Geist der Liebe beseelt, hat die Ära des krassesten Egoismus herbeigeführt, die je geherrscht hat; von allen Anhängern höherer Religionen ist der Liebe an sich nichts Göttliches. 2 1 1 Christ der Unfreieste. Es tut nicht 'gut, Menschliches göttlich zu heißen : ohne den Kult, der in Europa mit der Liebe getrieben wird, wären wir geistlich weiter als wir sind. Wir wären weniger aggres- siv, weniger rücksichtslos, wir wären einsichts- und verständnis- voller; wenn ihr Deckmantel uns gefehlt hätte, wir hätten uns nicht so hemmungslos in unseren selbstischen Impulsen gehen ge- lassen. Die Liebe als Gefühlsstimmung ist gar nichts Göttliches ; sie ist ein rein Empirisches, das, je nachdem wie es gehand- habt und gepflegt, wie es verstanden, gerichtet und beseelt wird, hinauf oder abwärts führt; von Hause aus ist sie wesentlich un- gerecht, parteiisch, exklusiv, akkaparierend und karitätslos : genug Attribute, fürwahr, um sie als allzumenschlich zu kennzeichnen. Was Liebe — in ach ! wie seltenen Fällen — zu einem Gött- lichen verwandelt, ist ein Höheres, das sie beseelt. Hat sich der Geist reinen, absichtslosen Gebens, des Schenkens ohne Nehmenwollens ihr eingebildet, dann ist sie freilich göttlich ge- artet. Aber dieser wohnt ihr von Hause aus nicht inne, schmilzt alles, was sonst als „lieb" gilt ein und kann sich überdies genau so gut dem Erkenntnisstreben, dem Tatendrang, dem künst- lerischen Schöpfungstriebe einverleiben. Es ist ein Unglück, daß dieser Geist nun schon mehr als zweitausend Jahre entlang mit der Liebe identifiziert worden ist. Plato ist es, der den Anstoß dazu gab. Bei seiner Vorliebe für mythische Ausdrucksweise benannte er die Urkraft der Spontaneität nach dem Liebesgott, in der Er- kenntnis dessen, daß sie in der Zeugung ihren greifbarsten Ausdruck findet. Aber nie doch identifizierte er sie mit ihr. Dieses ist später im Christentum geschehen, als die Sehnsucht der Schwachen mehr und mehr alle Begriffsbildung zu bestimmen begann. Heute ist es dahin gekommen, daß er als selbstverständlich gilt, in der Liebe das schlechthin Höchste zu sehen. Alle höhere Aspirationen werden diesem Dogma entsprechend bestimmt. Dagegen wäre nichts ein- zuwenden, wofern es möglich wäre, den Begriff der Liebe so weit zu fassen, daß er alle schöpferische Spontaneität in sich beschlösse. Dies gelingt aber nicht. Liebe ohne persönliche Zuneigung, ohne emotionelles Verhalten, ohne Herzensdrang bleibt ein leerer Begriff. So bedingt es die dogmatische Voraussetzung, daß die meisten im speziell Empirischen der Liebe das Transzendente sehen. Wer die Menschen nicht persönlich liebt, und sei sein Streben sonst noch so ideal, der sei ein tönendes Erz und eine klingende Schelle: so 14* 212 Gemüt wertlos ; Sinn religiösen Glaubens. verstehen sie den Ausspruch des Heidenapostels. „Gemüt" gilt ihnen als Ausdruck seelischer Tiefe, obgleich kein Heiliger je gemütvoll war, Anhänglichkeit als Beweis von Spiritualität. O über den Aberglauben! — Noch werden der Menschheit viele Nietzsches nötig sein, viele Feinde des Christentums, ehe sie dahin gelangt, den Geist vom Buchstaben zu trennen, im Geist und in der Wahr- heit zu leben. Auch den Sinn der Bedeutung des Glaubens in der Religion haben, soweit ich urteilen kann, die Inder allein bisher richtig verstanden. Praktisch lehrt der Hinduismus ge- nau das gleiche über die Heilswirkung des Gottvertrauens wie das Christentum. Mehr und mehr hat sich die indische Mensch- heit im Laufe ihrer Entwickelung die Versicherung Krishnas (in der Bhagavat-Gita) zu Gemüte geführt: wer weder den Weg der Erkenntnis, noch den der Liebe, noch den des Werks voll- kommen zu wandeln weiß, sich aber Mir nur vertrauend über- antwortet, den erlöse Ich doch. Sie hat aber diese Wunderkraft des Glaubens doch nie so aufgefaßt, daß Für-wahr-halten und Ver- trauen als solche sie besäßen, sich vor allem nie zur Wahn- vorstellung verstiegen, blindes Glauben sei mehr als Erkennen, und Wissen-Wollen gar frevlerisch. Sie hat mit der Intuition des genialen Psychologen erkannt, daß Glauben auch den zur Erkenntnis führen kann, dem sein Begabungsmangel direktere Wege versperrt. Erkennt- nis führt nicht zur Erlösung, sondern ist sie. Wer wirklich (d. h. lebendig, nicht bloß theoretisch, mit dem Verstände) weiß, daß er eins mit dem Brahman ist, ist eben damit aller Banden ledig. Aller Anstieg auf der Stufenleiter der Wesen besteht in Veränderung der Bewußtseinslage ; solche Veränderung ist der Seinsgrund aller Unterschiede, sie scheidet den Wilden vom Weisen und diesen von Gott. Wenn man sagt, der höhere Mensch stehe über gewissen Dingen, so ist das buchstäblich wahr: gewisse Tatsächlichkeiten binden ihn nicht mehr; dadurch, daß er sie anders ansieht, anders auffaßt, weil er anders ist, besitzen sie keine Macht mehr über ihn. Dieses Anders-Sehen schließt aber ein Besser-Erkennen ein, also bedingt nicht nur, sondern ist Erkenntnis Erlösung. Es gibt keine größere Macht als die des Wissens. Es gibt keine andere Art des inneren Fortschritts, als den in der Erkenntnis. Wer das Gute will, Alle Erlösung besieht in Erkenntnis. ' 213 ist wissender als der Böswillige, wer nach Erkenntnis strebt, weiser als der Goldjäger. Auch wo es sich scheinbar um Nicht-Intellek- tuelles handelt, um moralisches, um ethisches Weiterkommen, wo der Fortgeschrittene selber nicht versteht, handelt es sich in Wahr- heit um ein Weiserwerden, denn alle innere Entwicklung verläuft dem Geiste zu. Es gibt keinen gröberen Aberglauben, als den an die Unüberwindlichkeit der Naturbestimmtheit. Die Natur ist freilich wie sie ist — ihr Tatsächliches als solches ist wohl unüberwindlich ; aber alle Kräfte wirken nur auf bestimmter Ebene, und wer sich über diese erhebt, entrinnt ihrem Einfluß. Der entrinnt ihnen nicht etwa in der Einbildung, sondern in voller Wirklichkeit, weil Besser- wissen Anderssein impliziert. Der Mensch ist Geist seinem tiefsten Wesen nach, und je mehr er das einsieht, je fester er es glaubt, desto mehr Fesseln fallen ab von ihm. So könnte es sein, daß, dem indischen Mythos entsprechend, vollkommene Erkenntnis so- gar den Tod überwindet. Alle Erlösung besteht in Erkenntnis, aber der Glaube bereitet ihr den Weg. Er vermag dies dadurch, daß das Glauben eines Er- kenntnisinhaltes diesem die Möglichkeit gibt, seine immanenten Kräfte auszuwirken. Jede Vorstellung, ohne Widerstand aufge- nommen, gläubig festgehalten, verehrungsvoll fixiert, wirkt auf das Bewußtsein zurück. Nun ist der Mensch viel empfänglicher als er scheint; sein Unterbewußtsein faßt mehr auf als sein Bewußtsein; ihm prägt sich der Glaubensinhalt auf und regt in ihm eine Entwicklung an, die naturnotwendig im Sinne des geglaubten Vorbildes abläuft. Ist dieses nun weise gewählt, wie solches in der Tat von den meisten konkretisierten Idealen aller höheren Re- ligionen gilt, so beschleunigt es den inneren Fortschritt; es führt der Erkenntnis zu. Und dies im Falle aller Nicht-Begabten weit schneller als selbständiges Forschen. Eine Idee ist eine Kraft, die mit der gleichen Notwendigkeit die ihr eigentümlichen Wirkungen auslöst — organisierend, stimulierend, prokreirend — , wie nur irgendeine Naturpotenz, vorausgesetzt, daß sie genügend Glauben findet. Eine gläubige Psyche ist das Medium, dessen sie bedarf. Deshalb lehren alle Religionen mit Recht, man solle nur glauben ; das weitere finde sich von selbst. Der Automatismus der Seelenvorgänge führt schneller zum Ziel, als verständnislos arbeitende Autonomie. Der Glaube ist also ein Mittel zum schnelleren Erkennen ; andere Bedeutung hat er nicht. Deswegen ist es belanglos im 214 Die Existenz Christi kein religiöses Problem. Prinzip, woran man glaubt, ob das Geglaubte wirklich sei, dem kritischen Denken standhält. Ungebildete Menschen werden wohl immer nur dann zu glauben vermögen, wenn sie gleichzeitig über- zeugt sind, daß ihr Glaubensinhalt objektiv wirklich ist: daß Krishna wirklich ein Avatar war, die Bibel wirklich Gottes Wort, daß Chri- stus im Sinne der Geschichte die Menschheit vom Tode erlöst hat. Der Gebildete weiß, daß Glauben im religiösen Sinne und Für-wahr- halten im wissenschaftlichen nichts gemein haben mit einander, daß es religiös vollkommen gleichgültig ist, ob Christus existiert hat oder nicht. Und der vollendet Gebildete, der Spiritualisierte, ver- wendet den Glauben nach Wunsch, wie ein Instrument. So weit waren die größten unter den Indern. Diese hatten die Vereinigung mit Brahman erreicht, sie wußten, daß alle religiöse Gestaltung menschlichen Ursprungs ist. Allein sie opferten bald diesem, bald jenem Gott, von Herzen gläubig, wohl wissend daß diese Übung der Seele nützt. Ramakrishna war zeitweilig Christ und Musel- mann ; er wollte sehen, wie diese Ideale wirken ; und während dessen glaubte er so stark, daß Mohammed sowohl als Jesus ihm im Geist erschienen. Im übrigen hielt er an der Verehrung Kalis fest, der göttlichen Mutter, als dem Kulte, der seiner Natur am besten entsprach, der Wahrheit bewußt, daß keine Form der Gott- heit wesentlich eignet. Überall, wo eine Religionsform allen gemäß sein soll, erscheint es notwendig, den Akzent auf den Glauben zu legen ; nur Glauben ist allen gemäß. Durch Erkenntnis gelangt zu Gott nur der Be- gabte ; auf dem Wege der Liebe nur der, dessen Natur reich an Gefühlsmöglichkeiten ist; auf dem des Werks nur der physisch- Energische. Jeder Weg ist nur bestimmten Temperamenten an- gemessen, und seine Anlagen vermag kein Mensch zu ändern. Aber glauben, vertrauen, kann jeder im Prinzip. Hierher rührt es, daß das Gebot des Glaubens überall auf die Dauer zur Vor- herrschaft gelangt ist, sogar unter den Nachfolgern Buddhas, dessen Lehre doch wie keine andere den Nachdruck auf selb- ständiges Erkennen* gelegt hatte; es bedeutet nicht, daß ein höheres Prinzip niedere verdrängt hätte (es sei denn, man heiße den Willen zur Katholizität ein höheres Prinzip). Aber irgendeinmal kommt der Augenblick, wo der Glaube seine Heilkraft zu Verlieren beginnt. Er ist da, wenn der Verstand sich emanzipiert hat. Dieser beginnt seine selbständige Laufbahn als zerstörendes und zer- Intellektualisierung zersetzt den Glauben. 215 setzendes Element; erst wo er reif geworden ist, vermag er auf- zubauen. Wo «r nun zur Dominante einer Seele wird, dort ver- ändert sich deren Bewußtseinslage. Sie erscheint jetzt außerstande, ihr Tiefstes unmittelbar, wie vorher, zu realisieren, sie kann es nur durch den Intellekt hindurch, und da dieser tieferen Problemen zu- nächst nicht gewachsen ist, so verliert sie alle Fühlung mit ihrer Tiefe. Sie wird oberflächlich. So sind die Menschen unseres Altertums oberflächlich geworden, nachdem ihr Verstand die vom Glauben ge- setzten Schranken durchbrochen hatte, und Gleiches gilt seit den Tagen der Reformation von uns Modernen. Was ist da zu tun? Das schlechteste aller Mittel wäre, den Intellekt unterdrücken zu wollen, die Rückkehr zum Köhlerglauben zu befürworten: es ist ein Vorzug, kein Nachteil, daß der Mensch verstandeskräftiger wird. Es gilt den Intellekt zu vertiefen. Ist dieser so weit, des Glaubens Sinn zu verstehen, die tiefe Bedeutung alles dessen, was er anfangs für Unsinn hielt, dann wird er auch wieder religiös werden. Vorher nicht. Der moderne Mensch ist ein wesentlich intellektuelles Wesen. Nur was er verstanden hat, wird zur Lebens- kraft in ihm. So möge er denn möglichst bald möglichst viel von dem verstehen, was seine unreflektierten Vorfahren groß gemacht. Nichts ist häufiger unter den Betern am Ganges zu vernehmen, als die Wiederholung der heiligen Silbe Ortl. Diese soll den letzten Sinn der Welt verkörpern, das A und ü aller Weis- heit ; ferner die Tugend besitzen, dank den besonderen Inner- vationen, die bei ihrer Aussprache statthaben, nach genügend aus- dauernder Wiederholung den Organismus dem Zustande zuzuführen, welcher der Realisierung des Atman am günstigsten ist. Es mag Wahres daran sein. Ich habe mir zeigen lassen, wie man das Om herauszubringen hat : es ist nicht leicht ; lange kann es anscheinend keiner auf die einzig-ersprießliche Weise tun ; es ist gut möglich, daß die Kombination bestimmter Körperbewegungen mitbestimmten, gleichzeitig festzuhaltenden Vorstellungen auch in diesem Falle nachhaltige Veränderungen im psychophysischen Gleichgewicht ein- leitet. Aber selbst wenn der Glaube an die physische Wirkung der Om- Artikulation gegenstandslos sein sollte, bliebe der an die Tugend der Wiederholung gerechtfertigt. Der „Aberglauben" hat Recht 2 1 6 Die Silbe Om; Wert der Wiederholung; Form und Sinn. gegenüber dem Rationalismus: es hat Sinn, einen geistigen Inhalt, von dem man ergriffen werden will, laut zu wiederholen. Napoleon pflegte zu sagen, la seute formale rhetorique serleuse c'est la repe- titlon: er wußte, daß. man durch Wiederholung zuletzt jenes Unter- bewußtsein beeinflußt, aus dem alles Tiefe und Dauerhafte stammt. In eben dem Verstände nützt es dem Gläubigen, sich das, was er realisieren will, in möglichst kurzen Worten vorzusprechen. Solche Wiederholung wirkt stärker als Denken ; sie beeinflußt das Unter- bewußtsein unmittelbar, das alle Inhalte automatisch mit dem Wort verknüpft, welche das Oberbewußtsein je mit ihm assoziert hatte. Aber freilich ist dies Verfahren nur im Falle dessen wirk- sam, dem das Wort einen lebendigen Sinn bedeutet und ernstlich zu tun ist darum, es in Leben umzusetzen. Die meisten Beter am Ganges „plappern wie die Heiden", was immer die Idee ihres Handelns sei, mit keinem besseren Erfolg, als daß die andauernde Wiederholung der gleichen Laute sie in angenehmen hypnotischen Halbschlaf einwiegt. Ist je einem Gnaden- und Erbauungsmittel dieses Schicksal des Sinnlos-Werdens erspart geblieben? Ich glaube nicht. Desto weniger, als sie an sich ja alle sinnlos sind, genau nur soviel Sinn verkörpern, als der, welcher sie anwendet, ihnen zu schenken weiß. Das hat vielleicht kein religiöser Führer, mit der einzigen Ausnahme Buddhas, eingesehen ; die meisten haben gemeint, was ihnen nütze, müsse allen nützen. Alle großen in- dischen Bhaktas haben das bloße Wiederholen des Namens Gottes als wirksamste geistliche Übung gepriesen. Für sich selbst mit Recht: in ihren exaltierten Seelen rief sie alle Vorstellungen, die sie allenfalls mit ihm verknüpfen konnten, besser wach als jedes umständliche Gebet, welches einerseits mehr Aufmerksamkeit auf den "Wortlaut erforderte, andrerseits nie auch nur annähernd soviel besagen konnte, als der Name Gottes ihnen bedeutete. Ihren Jüngern nützte die gleiche Übung schon weniger, da deren Seelen nicht von der gleichen Glut verzehrt wurden, und deren Schülern bald überhaupt nichts mehr. — Es ist wohl ausgeschlossen, daß je eine Formel gefunden werden wird, die als solche einen religiösen Inhalt festzuhalten imstande wäre. Riten sind gut, denn sie regen seine Neuentstehung an ; Dogmen sind immer mißlich, denn sie verfälschen ihn. Hierfür gibt Luther wohl das eindrucks- vollste Beispiel ab. Ich wüßte von wenigen gewaltigeren religiösen Die Tragödie Martin Luthers. 2 1 7 Erlebnissen, als es das seine war ; was er unter „Rechtfertigung durch den Glauben" verstand, war ein so Ungeheures, eine so tief- innerliche religiöse Erfahrung, wie sie in der ganzen Geschichte des Christentums außer ihm nur Augustin vielleicht beschieden gewesen ist. Nun aber die Formel „der Rechtfertigung durch den Glauben" selbst! Sie ist eine der unglücklichsten, die je gefunden ward, vielleicht die oberflächlichste aller möglichen Fassungen. Sie zwingt geradezu zur Auffassung, daß die Tatsache des Anerkennens eines bestimmten Dogmenkomplexes genügt, die Seele zu rechtfertigen und zu erlösen ; daß alles tiefere Streben überflüssig, wenn nicht vom Übel ist. Dementsprechend hat Luthers Formel auf ihre An- hänger gewirkt. Die lutherische Religiosität wurde nur zu bald zu dem, was sie im großen und ganzen heute ist: einem billigen Fürwahrhalten gewisser Dogmen, gepaart mit noch billigerem Vertrauen auf Gottes Güte ; zu einer Religiosität, die alles tiefere Erleben ausschließt. Im Fortwirken von Luthers Gottes- erlebnis liegt echte Tragik. Die desto größer erscheint, wenn man erkannt hat, daß sie unabwendbar war: Luthers Erlebnis war ein schlechterdings Einziges ; es konnte nicht verallgemeinert, kaum fruchtbar gemacht, werden. Martin Luther war zu wenig universell, um im Guten vorbildlich zu wirken. Und gerade er hat eine neue Epoche einzuleiten gehabt. . . . Gestern, gegen Sonnenuntergang, habe ich den einen Schau- Heiligen gesehen, von dem meine indischen Freunde mir sagen, daß er ernstzunehmen sei. Der Mann hat mir sehr imponiert. Nicht, weil .er nun schon sieben Jahre in einem tauben- schlagartigen Gehäuse sitzt, das er nur einmal täglich verläßt, um im Ganges zu baden, und weil er diese ganze lange Zeit hindurch kein Wort geäußert hat; nicht weil sein Gymnosophisten-Dasein den Abschluß eines erfolgreich-tätigen Schulmeisterlebens darstellt — in diesem Zusammenhang ist fast jeder Inder bewunderns- wert, da fast jeder noch fähig ist, von heute auf morgen der Welt zu entsagen und in Armut und Abgeschiedenheit seine Tage zu beschließen : imponiert hat mir der Heilige durch seinen hoch- intelligenten, wunderbar durchgeistigten Gesichtsausdruck. Seine Augen zeigen nichts von dem feuchten Glanz, der emotionellen Halluzinanten eignet, seine Züge nichts von jener Entrückung, 218 Ein Schau-Heiliger ; Metaphysik als Kompromiß. die zugleich ein Wahrzeichen der Verrückung des inneren Gleich- gewichtes ist. Wohl geht sein Bewußtsein ganz im Innerlichen auf, aber es muß sein wirkliches Innerstes sein, welches es spiegelt, denn sonst könnte sein Ausdruck kein dermaßen reeller sein ; er schaut so gehalten-kraftvoll drein, wie nur irgendein Mann der Tat. Wenn dieser reden wollte, er könnte viel offen- baren. Allein er redet nicht. Ich kann das gut verstehen. Das Mitteilungsbedürfnis schwindet gleichen Schritts mit der fortschrei- tenden Verinnerlichung, und wer nicht das Temperament eines Wissenschaftlers hat, wer nicht insofern Weltkind bleibt, wie welt- fern sein Ziel immer sei, der wird immer einsilbiger, bis daß er zu- letzt verstummt. Das liegt daran, daß alles Äußerste ausschließlich ist. Wer buchstäblich hinter seine Gedanken kam, der weiß, daß seine eigentliche Meinung nicht mitteilbar ist, weil Eigenart einzig ist und im gleichen Sinne nur von einem verstanden werden kann, wie das Sein einer bestimmten Persönlichkeit nur von dieser einen gelebt zu werden vermag. Was unsereiner anstrebt, erscheint vom Atman her gesehen als Kompromiß. Was tue ich, indem ich das Metaphysisch-Wirkliche objektiv zu bestimmen strebe? Ich suche nach einem Schema, das es allseitig umgrenzte, und dieses Schema könnte ich finden. Aber nachdem dies geschehen, wäre das, was ich meine, nicht als solches ausgedrückt, sondern nur seinen äußeren Umrissen nach umschrieben. Freilich könnte es scheinen, als hätte ich mehr getan, denn wenn die Umrisse sowohl deutlich als richtig hingezeichnet sind, so wird jeder andere verständnisfähige Mensch den Inhalt selbständig hineintun, so daß er glauben möchte, ich hätte ihm das Ding gezeigt. Das hätte ich aber nicht wirklich ge- tan, weil es unmöglich ist. Aller wissenschaftliche Ausdruck ist nur ein Rahmen dessen, weß man sich ohnehin bewußt sein muß, um es zu erkennen ; wer da kein Selbst besitzt, oder auch nur kein dem meinen ähnliches Selbstgefühl, wird nie verstehen, was ich meine, und gäbe ich die bestmögliche Definition. Der Heilige, welchem der Fortschritt der Wissenschaft gleichgültig dünkt, zieht es drum vor, sein Wissen für sich zu behalten, da er es als solches doch nicht aussprechen kann. Nach modern-europäischen Begriffen beurteilt, erscheint das Leben solches Mannes ganz wertlos ; er tut ja nichts, lehrt nicht einmal, lebt nur sich selbst, und läßt sich obendrein von seinen Mitmenschen durch Opfergaben erhalten. Die Inder beurteilen es Indische Auffassung von Menschenwert. 219 ais wertvoller, als es das des tätigsten Philanthropen wäre. Sie sind dankbar für sein Dasein, rechnen es sich zum Segen an, daß er unter ihnen weilt, und zur Ehre, daß sie zu seiner Erhaltung bei- steuern dürfen. Hierin äußert sich eben die spirituelle Idealität, von der ich schon in Ceylon zu reden Gelegenheit hatte: es ist dem edleren Menschen Bedürfnis seinem Ideal zu dienen, Bedürf- nis dies im Schein der Selbstlosigkeit zu tun. Aber wie ist es zu verstehen, daß gerade der untätige Heilige dem Inder sein Ideal verkörpert? — Hier fasse ich ein entscheidendes Motiv seiner Welt- anschauung. Unzweifelhaft liegen die Dinge nicht so, wie die Theosophen meinen, die ihren Okzidentalismus nun einmal nicht abschütteln können, und sich den Tatbestand mundgerecht machen, indem sie ihn dahin umdeuten, daß der Yogi tatsächlich viel mehr arbeitet, als der weltliche Arbeiter, nur tue er es in einer anderen Sphäre ; er sende rastlos astrale und mentale Schwingungen aus, die der übrigen Menschheit mehr Nutzen brachten, als alle irdischen Werke. Das mag so sein ; aber das meinen die Inder nicht. Sie meinen, daß es auf Tun, auch auf Gutes-Tun, nicht wesentlich an- kommt. Nur das Sein ist von wirklicher Bedeutung. Wozu die Menschheit glücklicher machen, belehren, bessern wollen, wo jeder genau auf der Stufe steht, zu der er sich im Lauf seiner Verkör- perungen hinaufgearbeitet hat, genau soviel Gutes erfährt, genau soviel leidet, als er verdient? Unmittelbar kann man anderen überhaupt nicht helfen ; keinerlei Wohltätigkeit, auch die ener- gischeste, bestorganisierte nicht vermindert die Sünde, das Elend in dieser Welt. Da Unglück und Glück von der inneren Verfassung abhängen, wird durch noch so günstige Veränderung der äußeren Verhältnisse nichts Wesentliches geleistet. Freilich ist Wohltun ge- boten, Arbeit für andere, Wohlwollen, Selbstopferung — aber wozu? auf daß der Wohltäter innerlich vorwärts komme, nicht weil anderen damit viel geholfen würde. Um seiner selbst willen soll der Mensch das Gute tun; es gehört zur Sädhana, die der Vollkommenheit zuführt. Wer nun vollkommen ist, oder nahe daran, der bedarf dieser Übung nicht mehr. Der braucht nicht mehr zu handeln, nichts zu leisten ; der hat das Ziel aller möglichen Arbeit erreicht. Der ist entselbstet, den Banden des Ich entwachsen ; was immer er tun mag, ist bedeutungslos für ihn. Für die anderen aber? — Auf die anderen kommt es in dem Sinn nicht an, wie der Westen wähnt in seinem Aberglauben, es 220 Fluch der Wohltätigkeit; Überschätzung der Arbeit. sei anderen wesentlich zu helfen. Altruismus ist keinen Deut mehr wert als Egoismus, ja er kann verderblicher wirken insofern, als er den Gewinn dessen, welcher ihn ausübt, durch den Nachteil vieler anderer erkauft. Es ist kaum möglich einem anderen wohl- zutun, ohne diesen in seiner Selbstsucht zu befestigen; dieser sieht doch, daß seine persönlichen Wünsche ernstgenommen werden und das beeinflußt ihn im Sinn seines Verderbens. Es lenkt seine Aufmerksamkeit auf sein persönliches Glück, erschwert es ihm frei zu werden von sich, und auf Befreiung (Mukti) allein kommt alles an. Nur dadurch kann man anderen wahrhaft nützen, daß man ihnen ein Beispiel gibt. Nun gibt der Yogi, der allen irdischen Fesseln entwachsen ist, der hinaus ist über Arbeit und Werk, über Egoismus und Altruismus, über Zu- und Abneigung, von allen das höchste. Deshalb ist sein Dasein unter Menschen wertvoller, als das des nützlichsten der Arbeiter. Wie weit diese Auffassung im ganzen zutrifft, will ich heute nicht ergründen. Sicher schließt sie zwei allgemeingültige Wahr- heiten ein. Die erste von diesen ist die, daß Arbeit nur ein Mittel, kein Zweck ist. Es ist sicherlich richtig, daß die innere Not- wendigkeit der Arbeit für einen Menschen die Jugend seiner Seele beweist. Wenn der rohe Mensch nicht arbeitet, so verkümmert er, verschließt er sich die Möglichkeit des Fortschritts ; der Grand- Seigneur braucht nichts zu tun, und bleibt doch auf der Höhe ; der Weise vollends ist erhaben über alle Beschäftigungsnot- wendigkeit. Nun beziehen sich alle ewigen Werte auf das Sein, nicht auf die Leistung ; diese ist genau nur insoweit von wesen- hafter Bedeutung, als sie ein Sein vergegenständlicht. Nichts illustriert diese Wahrheit deutlicher, als die westliche Zivilisation, die auf der entgegengesetzten Auffassung aufgebaut ist. Die Okzi- dentalen leben ihrer Arbeit, sehen in ihr das Wichtigste, das Eigent- liche, beurteilen alles Sein nach seiner Effikazität. Mit dem Erfolg, daß ihre Leistungen wohl alles überflügeln, was je auf Erden geschaffen worden ist, das Leben jedoch zu kurz kommt wie nie vorher. Je mehr ich vom Orient sehe, desto unwesenhafter erscheint mir der Typus des modernen Abendländers. Er hat eben sein Leben zugunsten eines Lebensmitteis abgedankt. — Die zweite absolute Wahrheit, die in der indischen Weltanschauung beschlossen liegt, ist die, daß man durch Wohltun wesentlich nur sich, nie anderen nützt. Eine ungeheure Selbstüberhebung, gepaart mit kläglichem Überschätzung der Arbeit; der Wohltätige nützt nur sich selbst. 221 Mißverstehen liegt im Glauben beschlossen, der die westliche Wohl- tätigkeit beseelt. Es ist erfreulich, daß sie besteht: sie bringt die Wohltäter vorwärts ; daß sie die Empfangenden vielfach schädigt, ist gewiß, aber deren Nachteil ist im ganzen wohl geringer, als der Vorteil, welchen jene von ihr haben. Aber deren Gewinn würde noch viele Mal größer sein, wenn sie nicht im Wahne befangen lebten, anderen Gutes zu tun ; zu geben, nicht vielmehr zu empfangen ; auf Dankbarkeit rechnen zu dürfen. Dieser Wahn bringt sie oft um ihren Lohn. Man sehe sich unsere typischen Wohltäter an : sie sind meist Pharisäer der schlimmsten Sorte, selbstbewundernd, selbst- gerecht, agressiv, präpotent, takt- und rücksichtslos, eine mora- lische Plage für ihre Klienten. Wenn sie wüßten, daß sie nur sich, nichf anderen wesentlich nützen, indem sie ihr Überflüssiges her- geben, daß sie also mehr Grund haben den Armen dankbar zu sein, als Dankbarkeit von ihnen zu erwarten, ihr Tun wäre segensreicher. Es brächte sie schneller vorwärts, ließe sie liebenswerter er- scheinen ; vor allem aber erzeugte es in den Seelen der Armen nicht den inneren Widerstand, welchen Dankforderung in den meisten wachruft und auf den soviel der innerlichen Schrumpfung zurückzuführen ist, die bei unseren Armen vorherrscht; endlich er- schiene dann der Akzent der Lebensbewertung weniger ausdrück- lich auf das Unwesentliche verlegt. Wer sich einbildet, Wunder was Gutes zu tun, indem er einen Notleidenden zufrieden stellt, der bekennt damit die Weltanschauung, daß materielles Wohl- befinden die Hauptsache sei. Unter den Eingeborenen kidiens, wie des ganzen Orients, herrscht de facto viel mehr Wohltätigkeit, als unter uns. Das Zusammenhangsgefühl ist dort so groß, das Einzigkeitsbewußtsein so gering, daß es keines außerordentlichen Entschlusses bedarf, um seine Nächsten an seinem Besitze teilhaben zu lassen. Wenn man von Katastrophen absieht, echten Hungersnöten, erscheint der Arme im Orient der Gefahr des Verhungerns viel weniger ausgesetzt als unter uns. Jeder gibt, soweit er kann, dem Bedürftigen, unter- stützt arme Verwandte, Kranke, Pilger und Wanderer ; er tut es wie selbstverständlich, ohne Aufhebens davon zu machen, glaubt nicht, etwas Besonderes damit zu tun, rechnet vor allem nicht auf ewige Dankbarkeit. Er weiß, daß er zu seinem Besten wohl- tut. Deshalb herrscht im ganzen weiten Osten so unverhältnis- mäßig viel weniger Ressentiment unter Armen den Wohlhabenden 222 Der Orient barmherziger als der Okzident. gegenüber, so viel weniger Überschätzung des Reichtums, eine so viel freiere Stellungnahme materiellen Bedürfnissen und deren Be- friedigung gegenüber. Dort macht sich kein Bedürftiger etwas daraus, Unterstützungen anzunehmen ; dort fällt es keinem Geist- lichen ein, für Opfergaben besonders zu danken ; dort ist die Existenz eines Heiligen selbstverständlich, der, nichts tuend, von seinen Mitmenschen erhalten wird. So sollte es überall sein. Aber schwerlich wird der stoffbeschwerte Westen so bald einen so hohen Standort erklimmen. Benares ist überfüllt von Kranken und Siechen. Kein Wunder: ein großer Teil der Pilger zieht ja her, um am Gestade des Ganges zu sterben. In diesen Tagen habe ich mehr von dem zu sehen bekommen, was den Prinzen Siddhartha einst zum Ver- lassen der Welt bewog, als je vorher. Und doch habe ich nie weniger Mitleid empfunden. Diese Leidenden leiden so wenig ; sie haben vor allem so gar keine Todesfurcht. Die meisten sind überglücklich, am heiligen Strom dieses Dasein beschließen zu dürfen, und was das jeweilige Ungemach betrifft — nun, das muß eben ausgestanden werden ; gar lange währt es ja nicht mehr. Und sicher amortisiert sich in ihm eine alte Schuld. — Der Glaube der Inder soll pessimistisch sein ! Ich kenne keinen, der es weniger wäre. Er statuiert eine Weltordnung, in der die Wesen mit Un- vermeidlichkeit aufwärts steigen, in welcher es höchstens unter Milliarden einem gelingt, hinabzusinken. Der ganze Weltprozeß trägt ihn, wofern er fortschreitet, des ganzen Widerstand muß er überwinden, um zu verderben. Das Ziel dieses Aufstiegs ist freilich keines, dem der Westländer zulächeln mag ; seine Seele ist noch zu jung, um nach Befreiung zu streben. Aber sicher ist, daß diese dem Hindu die gleiche Seeligkeit verspricht, wie dem Christen sein Himmel. Diesen Tag habe ich mit den Mitgliedern der hiesigen Rama- krishna-Mission verbracht. Die hat ein Asyl gegründet, in welcher die zum Sterben nach Benares Gekommenen Heimstatt und Pflege finden können. Wenige Kranke kämen wohl von selber darauf, um Aufnahme nachzusuchen ; dazu dünkt ihnen ihr körperliches Leiden nicht wichtig genug. Aber eine bestimmte Anzahl Mitglieder der Mission macht täglich die Runde durch die Gassen der Stadt und Der Inder kennt keine Sunde in unserem Sinn. 223 sammelt die Siechen ein, deren Zustand ihnen am schlimmsten dünkt. Nie habe ich in einem Krankenhause geweilt, in dem eine freudigere Stimmung geherrscht hätte ; die Heilsgewißheit versüßte aller Leiden. Und die Qualität der Nächstenliebe, welche die Pfleger beseelte, war exquisit. Diese Menschen sind wahrlich echte Nachfolger Ramakrishnas, des Gottestrunkenen. Voll Liebe und doch allver- stehend, unfanatisch, unzudringlich. So wie alle Menschenfreunde sein sollten. Der Umgang mit ihnen hat mir das, was die indische Frömmig- keit von der christlichen auch dort, wo sich beide Religionen am nächsten kommen, unterscheidet, recht deutlich zum Bewußtsein gebracht: der Inder kennt kein Sündigkeitsgefühl. Wohl kommt das Wort Sünde in seiner religiösen Literatur, falls den Über- setzungen geglaubt werden darf, nicht selten vor, aber der Inhalt, der ihm entspricht, ist ein anderer. Was wir Sünde heißen, kennt der Inder nicht. Er kann es nicht kennen, sintemalen er alle Ver- gehen (wie auch alle guten Handlungen) der Mäyä zurechnet, so daß keines metaphysische Bedeutung besitzt. Jede Tat zieht, dem Gesetze des Karma gemäß, ihre naturnotwendigen Folgen nach sich ; die hat jeder auf sich zu nehmen, von denen kann keine Gnade befreien. Die Erlösung aber besteht in der Befreiung von aller Naturbestimmtheit überhaupt, und ist diese erreicht, so er- scheint aller Taten Spur verwischt. — Aber mit dieser Feststellung ist das eigentliche Problem noch nicht berührt. Das christliche Sündigkeitsbewußtsein beruht weniger auf dem Tatbestand der ge- glaubten Sündhaftigkeit, als auf dem Gebot, ihrer ständig zu ge- denken. Und dieses verbieten die indischen Heilslehren. In denen heißt es : wie der Mensch von sich denkt, so werde er ; stellt er sich dauernd als schlecht und niedrig vor, so werde er schlecht. Der Mensch soll nicht möglichst schlecht sondern möglichst gut von sich denken; nicht so zwar, daß er seinen jeweiligen Zustand exaltiert, sondern daß er niemals zweifelt, besser werden zu können. Es gäbe nichts Fortschritts fördernderes als Optimismus, nichts Ver- derblicheres, als Mangel an Selbstgefühl. Wer an sich selbst nicht glaube, der sei im eigentlichsten Sinne Atheist. Das Höchste wäre, wenn ein Mensch sich nicht als Sündigsten der Sünder, der christ- lichen Vorschrift gemäß, sondern dauernd als vollkommen vorstellen könnte: dem würde gewiß noch in diesem Leben die Vollkommen- heit zuteil. 224 Fluch des Sündigkeitsbewußtseins. Wieder einmal ist der Hinduismus absolut im Recht; aus dem Verbot, bei der Sündhaftigkeit zu verweilen, spricht vollendete Seelenkenntnis ; nichts könnte prinzipiell verfehlter sein als die christliche Auffassung. Ohne Zweifel sind unzählige Gebrechen der westlichen Menschheit auf diesen psychologischen Irrtum zurück- zuführen. Heute darf er ja wohl als überwunden gelten. Nicht nur die emanzipierten Geister unter uns verwerfen die traditionelle Lehre, ein Gleiches geschieht immer mehr innerhalb der lebendig gebliebenen und folglich fortwachsenden Zweige der christlichen Kirche. Dieser Begriff der Sünde ist ein Überbleibsel aus dem Vor- stellungskomplexe roher Zeiten, Dazumal war er heilsam genug: nur durch ständige Angst vor dem Zorne Gottes konnten unsere gewalttätigen Vorfahren im Zaum gehalten, nur durch Zerknir- schungskrisen hindurch einem höheren Zustande zugeführt werden. Auch heute noch tut vielen das Sündigkeitsbewußtsein gut. Und vielen ist es ferner so lieb, daß sie es wohl trotz besserer Ein- sicht weiterpflegen werden. Der Masochismus liegt dem Menschen tief im Blut; bis zu einem gewissen Grade empfindet jeder es als lebenssteigernd, von Übermacht vergewaltigt zu werden ; aus der Zerknirschung der meisten christlichen Büßer klingt vernehmlich die Note der Wollust heraus. Gleichwohl wird jede spiritualisierte Menschenart früh oder spät den Sündigkeitsbegriff verwerfen müssen; von einem gewissen Punkt ab schadet er nur, denn in und an sich ist er verfehlt. Wohl gibt es Sünde — Sünde heißt man das, was der Mensch dem Gott in sich zuwider denkt und tut; in diesem Verstände wird jeder tiefere Mensch in aller Zu- kunft Sündbewußtsein kennen. Aber es gibt keine Sündigkeit im christlichen Sinn, keine Sünde, die nur und wesentlich Fessel wäre. Der Mensch, wie er dasteht, ist das Produkt seiner eigenen und seiner Vorfahren Taten. In jedem Augenblicke seines Daseins erlebt er die Vergeltung, welche der Christenglaube dem Jenseits aufspart. Und nichts, was er getan hat, richtet ihn. Solange die Seele lebt, solange ist sie des Aufstiegs fähig, ja meist gelangt sie aus rabenschwarzer Nacht heraus am schnellsten in den Glorienschein des Tags, weil deren Schrecken sie zur Er- kenntnis zwingen, die ihr das Dämmerlicht nicht notwendig bringt, daß und inwiefern sie irre geht. — Hier, wie in so vielen anderen Fällen, stehen uns die Inder als die älteren und weiseren gegenüber. Aber nicht die Weisheit allein, auch die Torheit hat ihre Vorzüge. In Fakirn als Rückbildungen dem Tiere zu. 225 Adyar, dächte ich, verweilte ich dabei, wie gut uns der wahnwitzige Glaube an eine ewige Verdammnis getan, wie sehr ihre tiefere Lehre der Masse der Hindus geschadet hat. Ähnlich steht es mit dem Sündigkeitsbewußtsein. Dieses schafft ein Pathos, das nichts ersetzen könnte, gibt dem Erleben eine spezifische Tiefe, die mit ihm steht und fällt. Von allen Menschen haben die Puritaner und die Muslim am meisten, die Hindus wohl am wenigsten Charakter. Das liegt daran, daß jene an ein massives unabänderliches Schick- sal glauben, das dem Menschen als ein Äußerliches entgegensteht, diese hingegen an dessen schlechthinige Autonomie. Der indische Glaube entspricht der Wirklichkeit; im vollendet gebildeten Men- schen gestaltet er das Höchste, was an Menschentum denkbar ist. Den ungebildeten hingegen entspannt er; er legt ihm nahe, sich gehen zu lassen, schlaff dahinzuleben. Dem bekommt es wohl besser, an der heilsamen Furcht vor einer noch so fiktiven äußeren Macht ein Motiv dauernder Selbstkontrolle zu haben. Freilich wird der an Benares eine arge Enttäuschung erleben, der in der heiligen Stadt nur Heiligen und Weisen, nur dem Ausdruck echter Religiosität und tiefsten Verständnisses zu begegnen erwartet: nirgends auf der Welt, im Gegenteil, bekommt man mehr Aberglauben und mehr Unverständnis, mehr merkantiles Pfaffentum und wohlberechneten Schwindel zu sehen. Es ist nicht möglich, daß die Masse dort nicht abergläubisch wäre, wo das Sicht- und Greifbare so sehr dazu verleitet; nur der Entwickelte kann sicher unterscheiden zwischen Symbol und empirischer Wirklichkeit. Und es wäre unmenschlich, wenn sich keine Leute fänden, die solches Mißverstehen nach Möglichkeit zu Geld machten. Unter den Yogis trainiert sich ein allzu großer Teil nicht aufwärts zu Gott, sondern abwärts zum Tiere zurück: denn wenn einer Macht über sonst dem Willen nicht unterworfene Muskeln gewinnt, z. B. den Herzschlag bewußt regulieren lernt, so bedeutet das, daß er in den Zustand des Wurmes zurückgerät; insgleichen, wenn einer sich auf Wochen, ohne Schaden zu nehmen, begraben lassen kann, daß er vermag, was des Winterschlafs fähige Tiere noch besser leisten. Diese Hatha-Yogis sind sämtlich stupid, und gelten auch dafür; die ganze Energie, über die ihr Intellekt allenfalls verfügen könnte, ist bei ihnen im Körper gebannt. Und wohl die meisten Pilger Keyserling, Reisetagebuch. 15 226 Versöhnung von Weisheit und Aberglauben. sind mehr oder weniger abergläubisch. Das muß so sein, wo das Psychische als das Primäre gilt, denn nur der Begabte und Gebil- dete hat genügend Selbstkritik, um ohne Hilfe von außen her wahr- haftige von falschen Vorstellungen zu unterscheiden. Der Masse, soweit sie vorwärts kommen soll in dieser Welt, bekommt eine roh-realistische Veranlagung doch am besten; deshalb macht die der Christen und der Mohammedaner einen so viel reelleren Ein- druck als die der Hindus. Jene lassen nur das Greifbare gelten ; das ist ein Wirkliches, kein Eingebildetes, ein wie geringer Teil immer der ganzen Wirklichkeit; während diese, nur zu häufig, auf Unwirkliches bedacht, dann selber unwirklich werden. Aber gerade darin erweist sich die Tiefe der indischen Weltanschauung, daß diese den Irrtum überall als Ausdruck der Wahrheit versteht, und so nichts ausschließt am Leben. Der Inder- geist hat längst die Bedingtheit aller empirischen Bildungen er- kannt; er weiß, daß es von Äußerlichkeiten abhängt, ob einer falsch oder richtig denkt, das Gute oder das Schlechte tut, an Wirkliches oder Unwirkliches glaubt;, er weiß, daß es Zufallssache ist (vom Standpunkte eines gegebenen Lebens gesehen, ohne Rück- bezug auf die Totalität der verflossenen), ob einer sich als Heiliger oder Verbrecher darstellt: im letzten bedeuten alle Erscheinungen das gleiche. Verrückt sich ein Rädchen im Gehirn, so wird aus dem Weisen ein Narr ; besonders günstige äußere Umstände lassen einen Kleinen groß erscheinen ; eine zufällig nicht gemachte Erfahrung enthält dem Gottsucher die letzte Erleuchtung vor: wer mag da behaupten, daß Gestaltung zum Wesen in notwendiger Beziehung steht? So bedeutet es kein willkürliches Konstruktions- prodükt, wenn der Glaube an Falsches dem an Wahres meta- physisch gleichgesetzt wird: der Verständnisunfähige muß sich in anderer Form mit der Gottheit in Gleichung setzen, als der Erkennende. Exoterismus und Esoterismus stehen in Indien in wesentlichen Beziehung, als innerhalb des Katholizismus. Letzterer statuiert nur ein pragmatisches Band zwischen höheren und niederen Ausdrucksformen ; das heißt, exoterische und esoterische Wahrheiten gelten für gleichwertig, insofern sie den gleichen Zweck erfüllen. Die gleiche Beziehung statuiert der Inder natürlich auch ; aber er weiß überdies, daß der Irrtum nicht allein im prag- matischen, sondern auch im ontologischen Sinne der Erkenntnis gleichwertig sein kann : unter bestimmten empirischen Bedin- Versöhnung von Monismus und Dualismus; die Bhagavat-Oita. 227 gungen — unzulänglicher Verstandesbegabung, Erziehungsmangel, ausgesprochener Emotivität usf. — tritt eben das metaphysische Wirklichkeitsbewußtsein in Form des Glaubens an Unwirkliches zu- tage, das sich dem großen Geiste als reine Erkenntnis offenbart. Es ist ganz gleichgültig im Prinzip, ob die Verknüpfung von Sonder- vorstellungen mit ihrem letzten objektiven Sinn von Anfang her be- stand, oder erst nachträglich hergestellt wurde ; fast immer war wohl letzteres der Fall: metaphysische Verknüpfungen bestehen unabhängig von der Geschichte. Es geschähe, was da wolle, aus welchen Ursachen immer, gleichviel zu welcher Zeit: immer und überall werden die Ereignisse die von den Rishis erkannte Wahrheit bestätigen. So klafft denn kein Bruch zwischen indischem Irrtum und indischer Weisheit ; allerorts erscheint es möglich vom einen zum anderen hinüberzugelangen. Bei uns ist das anders, weil wir noch immer festhalten an der Substantialität von Name und Form, noch immer ferner mit dem Intellekte der Ganzheit des Lebens gerecht werden wollen. So scheint uns die Wahrheit den Irrtum zu wider- legen, der vollkommene Ausdruck den unvollkommenen aufzuheben, und wo zwei Vorstellungen sich logisch widersprechen, dort wähnen wir, nur eine von ihnen könne richtig sein. Wir befinden uns in dieser, wie in so vielen Hinsichten, in einem rudimentäreren Ent- wickelungsstadium. Deswegen ist die Mehrzahl unter uns noch außerstande, die ganze Tiefe der indischen Weisheit zu verstehen. Die Bhagavat-Gita z. B., dies vielleicht schönste Werk der Welt- literatur, gilt vielen als philosophisch wertloses Kompilat, weil aller- dings viele Denkrichtungen in ihm gleichzeitig zu Wort gelangen. Dem Inder erscheint es absolut einheitlich im Geiste. Shankärä- chärya, der Begründer der Advaita-Philosophie, des radikalsten Monismus, den es jemals gab, war praktisch zeitlebens Dualist, d. h. ein Anhänger der Sankhya-Yoga, und als religiöser Praktikant Poly- theist. Wie war das möglich? — Shankäräs logische Kompetenz steht außer Frage. Er war aber mehr als ein bloßer Logiker. So dünkte es ihn selbstverständlich, daß zu verschiedenen Zwecken verschiedene Mittel angewandt werden müssen. Über den Dualis- mus gelangt praktisch keiner hinaus; es ist unmöglich, das Mindeste zu denken, zu wollen, zu erstreben, zu tun, ohne implizite eine Zweiheit zu setzen. Wozu es also leugnen? Das ändert an der Sache nichts. Aber andrerseits beweist die praktische Unüberwind- 15* !28 Philosophien als Ausdrucksfortnen; keine Gestaltung wesenhaft. lichkeit des Dualismus nicht, daß er dem Wesen anhaftet; aller Wahrscheinlichkeit hängt sie vielmehr nur ab von der Be- schaffenheit des Erkenntnisinstruments. Das Wesen mag trotzdem Eines sein, „ohne ein Zweites"; was aber seinerseits nicht ver- hindert, daß es sich in der Mannigfaltigkeit manifestiert. So mag ein extremer Monist doch zu vielen Göttern beten, wofern ihm das die Realisierung des Einen leichter macht. — Shankäräs Auffassung stehen andere gegenüber: es gibt Schulen, die auch dem Wesen Zweiheit zusprechen, wieder andere, die es sowohl als Einheit wie als Zweiheit vorstellen ; es gibt theistische, pantheistische, athei- stische Ausdeutungen. Sofern sie unmittelbare Ausdrücke des meta- physisch Wirklichen sein sollen, gelten sie sämtlich als gleich- berechtigt und orthodox: es sei doch unmöglich, jenseits des Macht- bereiches der Vernunft eine gültige Entscheidung zu treffen ; hier können alle Philosophien nur Ausdrucksformen sein. Für praktische Erkenntniszwecke wird ausschließlich die Sankhya- Yoga anerkannt, denn alles praktische Erkennen setzt nachweislich Dualität voraus. Als Gläubiger endlich mag jeder es halten, wie er will, denn hier kommt ausschließlich der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus in Frage. Sind die Inder also Eklektiker? Beileibe nicht ; sie sind bloß das Gegenteil von Rationalisten ; sie leiden nicht am Aberglauben, daß metaphysische Wahrheiten in irgend- einem logischen System einer erschöpfenden Verkörperung fähig wären ; sie wissen, daß spirituelle Wirklichkeit nie durch eine, sondern allenfalls durch mehrere intellektuelle Koordinaten bestimmt werden kann. Daß Monismus und Dualismus sich widersprechen, bedeutet in diesem Zusammenhang ebensowenig, wie der Wider- spruch zwischen dem Fuß- und Metermaßsystem. Natürlich gibt es Leute, die auf die eine oder die andere Maßeinheit schwören : das ist ihre persönliche Angelegenheit. Es ist sogar unbestreitbar, daß zu diesem oder jenem Behuf e die eine vor der anderen Vorzüge aufweist: ein Narr ist, wer sich diese nicht zunutze macht. Aber nie, nie sind die indischen Weisen — ich rede nur von den Weisen, die Pandits, die Schriftgelehrten meine ich nicht — unserem typischen Irrtum verfallen, irgendeine intellektuelle Gestaltung meta- physisch ernstzunehmen. Diese Gestaltungen sind nicht dichter, nicht wesenhafter, als nur irgendein Mäyägebild. Sie können das Eigentliche in mehr oder weniger deutlicher und überzeugender Symbolik zum Ausdruck bringen — dieses mehr oder weniger ent- Warum die indische Weisheit noch kaum erkannt ist. 229 scheidet über ihren Wert — wesenhaft an sich sind sie nie. Um das Wesen allein aber ist es den Indern zu tun. Sie sehen es in allem, aus allem hindurch, trotz allem. So lassen sie sich nicht irre machen durch intellektuelle Unzulänglichkeit, durch Widersprüche niemals beirren. Sie lesen die Gita buchstäblich als „des Erhabenen Ge- sang", als den Ausdruck eines göttlichen Geistes, denn Er ist es, der aus noch so brüchigem Körper zu ihnen spricht. Woher kommt es, daß der eigentliche Sinn der indischen Weisheit in Europa noch so unvollkommen erkannt ist, trotz der vielen gelehrten Arbeiten, die sie zum Gegen- stande haben? — Soweit allgemeine Ursachen überhaupt in Frage kommen, dürfte die Hauptschuld wohl dem äußeren Umstände zu- zumessen sein, daß unsere bedeutendsten Forscher nur flüchtig, wenn je, in Indien geweilt und mit dessen lebendigem Geiste keine Fühlung gewonnen haben. Freilich kann es gelingen, ohne Personal- und Lokalkenntnis den Geist eines gegebenen Ausdrucks zu ver- stehen — so den einer Sprache als solcher, des Wortlauts einer Philosophie ; es muß dem Westen gelassen werden, daß er Indien in diesem Sinne besser verstanden hat, als dieses sich selbst ver- steht. Aber was ein Mensch oder Volk hat sagen wollen, was es innerlichst gemeint hat, ist aus dem Ausdruck nur dort zu ersehen, wo dieser als vollendete Verkörperung des Sinnes gelten darf. Das kann er überaus selten ; es ist sehr fraglich, ob selbst die Kantische Philosophie, von allen die eindeutigste, von einem Fremden, außer Fühlung mit unserem lebendigen Vorstellungskreis, wirklich ver- standen werden könnte. Die indischen Geistesschöpfungen nun dürfen weniger als irgendwelche andere in der Weltliteratur als vollendete Verkörperungen gelten, sie sind es schon deshalb nicht, weil es ihren Urhebern gar nicht darum zu tun war, sich in unserem Sinne eigentlich auszudrücken. Weder kam es ihnen auf wissenschaftliche Exaktheit, noch auf künstlerische Prägnanz des Ausdrucks an. Ihre Schriften zielten auf ganz anderes ab: sie sollten einerseits ein Knochengerüst abgeben für die lebendige Tradition, andrerseits ein Mitte! zur Realisierung spiritueller Wahr- heiten sein, endlich eine leicht faß- und behaltbare Fixierung der- selben in konventioneller Symbolik zum Besten der Wissen- den. Nicht derer, die erst erfahren wollen. Sie sollten also einge- 230 Indische Philosophie beruht nicht auf Denkarbeit. standenermaßen keine in unserem Sinne eigentlichen Ausdrücke sein. Wie sollte es unter solchen Umständen gelingen, aus dem Buch- staben den Sinn zu erschließen? — Es ist durchaus erklärlich, wie- wohl bedauerlich, daß es zu der ebenso populären als mißverständ- lichen Parallelisierung der indischen Philosophie mit der helleni- schen und gar der kantischen gekommen ist: auf falsch bestimmte Tatsachen sind richtige Theorien nicht zu gründen. Die indische Philosophie — sofern sie überhaupt so bezeichnet werden darf — ist, um das Wesentliche gleich zu sagen, mit der unserigen schon deshalb unvergleichbar, weil sie überhaupt nicht auf Denkbarkeit beruht. Man entsinne sich der traditionell-indischen Lehrmethodik, wie sie hie und da in den Upanishads erwähnt wird: stellt der Schüler eine Frage, so beantwortet der Lehrer sie nicht direkt, sondern sagt bloß :* komm und lebe bei mir zehn Jahre lang. Und in diesen zehn Jahren unterrichtet er ihn nicht, wie wir es verstehen : er gibt ihm bloß einen Satz auf zur Betrachtung. Er soll nicht etwa über ihn nachdenken, ihn analysieren, von ihm aus entwickeln, konstruieren — er soll sich in ihn versenken, bis daß er ganz von seiner Seele Besitz ergriffen hat. Kant pflegte seinen Studenten zu sagen : Sie sollen bei mir keine bestimmte Philosophie, sondern denken lernen. Gerade das lehrt der indische Guru seinen Chelah nie. Sofern dieser überhaupt auf eine bei uns bekannte Art studiert, lernt er auswendig — tut also genau das Gegenteil dessen, was wir für ersprießlich halten. — Man er- innere sich ferner des berühmten Sütrastils : die wichtigsten Er- kenntnisse und Lehren der Inder erscheinen in derartig verstümmeln- der Kürze dargestellt, daß sie ohne Kommentar schlechterdings nicht verstanden werden können : dies geschieht, auf daß der Schüler ja nicht in Versuchung gerate, auf unsere Art zu studieren. Nach indischer Überzeugung ist Brahmavidya, Wesens- erkenntnis (die einzige, die als erstrebenswert gilt), durch Denken nicht zu gewinnen ; alles Denken bewege sich in seiner ursprüng- lichen Sphäre fort, ohne je über sie hinauszuführen; es sei ebenso unfähig metaphysische Erkenntnis zu vermitteln, wie die Sinne. Genau wie keine Ausbildung dieser von Wahrnehmungen zu Ge- danken führt, könne kein Denken der Welt zur metaphysischen Er- kenntnis führen. Solche gewinnt allein, wer eine neue Bewußtseins- lage erreicht. Dieser tieferen Bewußtseinslage bedeuteten jene ein ebenso unmittelbar Gegebenes, wie dem Auge die äußere Natur Unver gleichbar keit der Philosophien Indiens und des Westens. 231 und dem Verstände die Welt der Begriffe. Also komme es beim Studieren nicht auf Denkarbeit, sondern auf Selbstvertiefung an ; nicht auf Ergründung der Wirklichkeit vermittelst eines gegebenen Instruments, sondern auf Heranbildung einer neuen besseren. Die Methoden des Studiums in Indien und bei uns zur Gewinnung philo- sophischer Erkenntnis sind also völlig unvergleichbar: unsereiner denkt nach, experimentiert, kritisiert, definiert ; der Inder treibt Yoga. Sein Ideal ist, durch Verwandlung seines psychischen Organis- mus hinauszugelangen über die Grenzen, welche Kant möglicher Erfahrung gesetzt hat. Aus dieser Unvergleichbarkeit der beiderseitigen Methoden folgt die der Ergebnisse. Der Westländer schreitet fort von Ge- danke zu Gedanke, induzierend, deduzierend, differenzierend, inte- grierend ; der Inder von Zustand zu Zustand. Jener steigt immer höher hinan im Reiche der Abstraktionen, von Sonder- zu Allgemein- begriffen, von diesen zu Ideen und so fort; dieser wechselt fort- schreitend die Form seines Bewußtseins. Nun hat er das, was er auf dessen verschiedenen Ebenen erlebt, natürlich objektiviert, be- nannt, in Begriffsform ausgedrückt; und diese Begriffe lauten vielfach identisch mit den unserigen. Auch der Inder spricht vom Absoluten. Aber während dieser Begriff uns eine Stufe der Ab- straktion bezeichnet, bedeutet er ihm die Vergegenständlichung eines erlebten Zustandes. Also handelt es sich nicht um Identität, sondern um Inkommensurabilität. Der Atman ist dem Inder keine Vernunftidee, sondern die Bezeichnung einer erreichbaren konkreten Bewußtseinstufe, der Purusha keine imaginierte Weltseele, sondern ein Erlebensprinzip, und so fort. Wir haben also einerseits, in jeder westlichen Weltanschauung, einen systematischen Zusammenhang nach Vernunftgesetzen, zu unterst von gegebenen Erscheinungen, zu oberst von äußersten Abstraktionen abgegrenzt ; andrerseits die empiristische Beschreibung des möglichen Aufstiegs der Seele von niederen zu höheren konkreten Daseinsformen. Mögen noch so ähnliche Begriffe in beiden Fällen zur Bezeichnung der Etappen ver- wandt werden — der Sache nach sind die Philosophien Indiens und des Westens vollkommen unvergleichbar. Es besteht keinerlei Zu- sammenhang zwischen ihnen. Freilich sieht man den lebendigen Kern der indischen Welt- anschauung vielfach von harter scholastischer Schale überwachsen. Aber wer in dieser das Wesentliche, überhaupt ein Notwendiges 232 Indische und europäische Scholastik. sieht, der irrt sich noch mehr, als der, welcher das Wesentliche c\t\- Lehre des heiligen Thomas in dessen logischen Konstruktionen zu greifen glaubt : hier wie dort handelt es sich um einen Versuch, das als rationalen Zusammenhang darzustellen, was in Wahrheit ein lebendig-zuständlicher ist. Solche Versuche glücken nie, können nicht glücken, sind infolgedessen nicht ernstzunehmen. Man muß durch sie hindurchsehen, wenn man das Wesentliche erkennen will. Und dieses Wesentliche ist im Falle der indischen Scholastik nie schwer zu fassen ; es liegt meistens offen zutage. Nie sind die Inder überzeugte Rationalisten gewesen, wie unsere mittelalterlichen Philosophen es doch waren, da keine griechische Erbmasse sie be- lastete ; so sind ihre logischen Netze überall fadenscheinig und nirgends stark. Alle tieferen Philosophen haben gewußt, was sie eigentlich meinten. So gilt denn auch noch unter den indischen Scholastikern Yoga-Praxis als der Weg zur Wesenserkenntnis. Die Pandits gelten nirgends in Indien als Weise, wie noch immer unter uns, sondern für das, was sie sind : für Grammatiker und Antiquare. Ich erwähnte den heiligen Thomas von Aquin : in der Tat, wenn irgendetwas in der westlichen Literatur mit der indischen Philosophie verglichen werden darf, dann sind es die Schriften der großen theologischen Doktoren. Aber auch dieser Vergleich führt nicht weit, weil diese den ursprünglich gleichen Weg in anderer Richtung verfolgt haben als die Rishis. Die katholische Kirche hat die Yoga immer nur dazu verwandt, den als wahr vorausgesetzten Glauben zu stärken und den Menschen im Geiste eben dieses Glaubens der Vollendung entgegenzuführen. Nie hat sie ihn selb- ständig erkennen lehren wollen. Selbständige, echte Erkenntnis zu vermitteln war die eine Absicht aller Schulung in der erhabenen und mühsamen Kunsf der Raja-Yoga. Alles Rational-Systematische an der indischen Philosophie ist ebensoviel Spreu ; es ist Scholastik im übelsten Sinne. Seit es Weltanschauung gibt, sind spirituelles Wissen und schola- stisches Denken zupaar gegangen : wo der Geist unmittelbar erfaßt (oder zu erfassen glaubt), was höher ist, denn alle Vernunft, dort muß er außerordentlich gebildet sein, um dieser ihre Selbständigkeit zu belassen. Meist heißt er sie coüte que coute beweisen, was er ohnehin schon weiß, und da er der Wahrheit gewiß ist, mithin der Indische Philosophie in keinem System restlos verkörpert. 233 Beweise nicht wirklich bedarf, so befriedigt ihn jede, noch so be- denkliche Demonstration, sofern sie nur demonstriert was er voraus- setzte. Nur so ist es zu erklären, daß ein so erlauchter Geist wie Thomas von Aquin die Unzulänglichkeit seines Systems niemals er- kannt hat. Die indische Scholastik nun ist noch um vieles schlimmer, als die des Westens (wie denn auch die Pandits die übelste Ver- körperung des Schriftgelehrtentypus bezeichnen, von der ich wüßte), weil die Begriffe, mit denen sie jongliert, ursprünglich gar keine Verstandesbegriffe sind, sondern Bezeichnungen für konkrete Zu- stände, so daß ihren Konstruktionen jede Basis fehlt. Mehr oder weniger scholastisch ist aber alle indische Philosophie. Es nützt nichts, Shänkärä oder Ramanuja hier in Schutz zu nehmen: als Philosophen waren sie Scholastiker, das heißt, sie gingen von be- stimmten Überzeugungen aus, welche ihr Denken auszuführen und zu erweisen hatte; das macht sie jedem kritischen Denker des Westens unterlegen. So haben Oldenberg und Thibaut unzweifel- haft denen gegenüber recht, welche die indische Philosophie in den Himmel erheben. Aber es bezeichnet ein arges Verkennen des indischen Geistes, wenn man ihn in irgendeinem System restlos verkörpert wähnt, überhaupt in irgendeiner bestimmten Weltansicht. Dem Advaita stehen Dvaita und Visishtadvaita entgegen, die moni- stische Metaphysik ergänzt eine dualistische Daseins- und Erkennt- nistheorie ; das scheinbar Gleichmacherische des Spruches tat twam asi wird durch subtilstes Unterschiedsbewußtsein aufgehoben, dem Entleerenden eines extremen Einheitsbewußtseins durch die üppigste Mythen- und Göttersprossung entgegengewirkt. Es gibt in Indien überhaupt keinen Monismus, keinen Pantheismus, keine Allheits- lehre und kein Einheitsbewußtsein im westlichen Verstände; das heißt, nirgends beeinträchtigt letzteres die unbefangene Anerkennung der Mannigfaltigkeit. Fern davon, den Reichtum der Erscheinungs- welt aufzulösen, bezeichnet die Advaitalehre als solche nur einen Ausdruck mehr eben dieses Reichtums ; einen Zweig mehr am über- vitalen Stamm des Indergeists. So, nicht anders, haben die Rishis sie gemeint. Und bekannten sie sich persönlich zu ihr im Gegensatz zu irgendeiner anderen Lehre, so geschah das in dem Sinne, daß jedem Wesen irgendeine empirische Form aus empirischen Gründen am gemäß esten ist. Es sei müssig, darüber zu streiten, was Brah- man an sich sei, ja ob es ihn gäbe, ob er einfach oder vielfach sei. 234 Die indischen Weisen als Pragmatisten; was Wahrheit ist. Das Dasein irgendeiner absoluten Wirklichkeit sei evident; auf die weist eben die Bezeichnung Brahman hin. Wie man sich sie vor- stelle, hänge ab von der Veranlagung. Der Bhakta wird immer zum Theismus neigen, der Gnani hingegen zu einer Lehre, welche das Einheitliche betont. Denn je tiefer man eindringe in sich selbst, je mehr man sein Wesen im Bewußtsein realisiere, desto stärker würde das Einheitsgefühl: also hätte man allen Grund zur Annahme, daß vom Standpunkte der Erkenntnis die Lehre von der wesentlichen Einheit der beste Ausdruck des Metaphysisch-Wirklichen sei. Die Rishis waren als Forscher extreme Empiriker ; nur dem Erlebnis trauten sie. Sofern man aber ihre Weltanschauung überhaupt unter eine der üblichen Rubriken bringen kann, muß man sie prag- matistisch heißen. Sie waren in der Tat die idealen Pragmatisten. Gleich würden sie William James und F. C. S. Schiller zugestehen, daß alle lebendige Wahrheit in concreto auf Postulate zurückgehe ; keine Gestaltung sei metaphysisch wesentlich, jede sei das Pro- dukt empirischer Umstände, was im Falle der Erkenntnis besagt, daß die Wahrheit des Einzelnen, als bestimmte konkrete Erschei- nung, von seinen Anlagen, Vorurteilen und Wünschen abhängt. Nur, würden sie lächelnd hinzusetzen, sagt diese Theorie nicht das letzte Wort; sie handelt nur vom Ausdruck dessen, was man Wahrheit heißt ; der Sinn entgeht der Fassung des Pragmatismus. Es gibt ein „Jenseits" der Gestaltung, ein Reich des reinen Sinns, in welches kein Postulat hinaufreicht, das aber umgekehrt alle leben- digen Postulate beseelt und ihnen die Substanz verleiht. Wer nun sein Bewußtsein in diese Sphäre hinaufgehoben hpt, und dauernd in ihr zu erhalten weiß, der ist über den Pragmatismus hinaus ; der sieht durch alle Postulate hindurch ; dessen Erkenntnis spiegelt unverfälscht die rein in sich selbst beruhende Schöpferkraft wieder, die der lebendige Seinsgrund aller Erscheinung ist. Von dem könnte man sagen, daß er „die Wahrheit" besitzt; aber das wäre ein uneigentlicher Ausdruck ; die Pragmatisten hätten voll- ständig recht, diesen Begriff (sofern es sich um lebendige, nicht um logische Wahrheit handelt) leer zu finden ; denn nur als Ausdruck eines Sinns könne er definiert werden, nicht als dieser selbst, und aller Ausdruck sei notwendig relativ. Das richtigste wäre zu sagen, daß der „Wissende" über Wahrheit sowohl als Irrtum hinaus ist; daß es diesen Unterschied für ihn nicht mehr gibt. Er lebt im Reich des reinen lebendigen Sinnes, der sowohl als Wahrheit wie Indien als Vorbild; Begabung und Yoga. 235 als Irrtum in die Erscheinung treten Kann. Dieser Sinn ist eine Dynamis, ein rein Intensives, kann als solches nicht vorgestellt, nicht gefaßt werden ; wo immer, wie immer dies versucht wird, greift man anstatt des ewigen Sinnes eine unzulänglich-vergängliche Ge- stalt. So bekennt sich auch der Rishi, wo er reden muß, notge- drungen zu irgendeinem relativ-richtigen System, das durch Postu- late definiert werden kann. Aber man kann diesen Sinn unmittelbar leben, von ihm aus denken und handeln, >und dann erscheint es irrelevant, was gerade man denkt und tut. . . . Das Vorbildliche, ewig Wertvolle an der indischen Weltanschau- ung ist der Geist der Tiefe, aus dem sie stammt. Alle seine Gestal- tungen können vollkommener gedacht werden ; ich glaube nicht, daß man tiefer in das Wesen eindringen könnte ; mir scheint hier die äußerste Tiefe erreicht. Die Inder haben den statischen Wahr- heitsbegriff überwunden und ihn durch einen dynamischen ersetzt, der seinen Sinn transfiguriert: auch wir werden das früher oder später tun. Auch wir werden früh oder spät einsehen, daß Wesenserkenntnis nicht durch noch so weitgehende Vervollkomm- nung des Begriffsapparats, nicht durch noch so erschöpfende Erforschung unseres Bewußtseins, wie es ist, zu erreichen ist, son- dern nur durch Gewinnung einer neuen, höheren Bewußtseinsform. Der Mensch muß sich erheben über sein sekulär.es Erkenntnis- instrument; hinausgelangen über die biologischen Grenzen, deren klassischer abstrakter Ausdruck in Kants Kritiken enthalten ist; er muß hinauswachsen über sein bisheriges Maß ; sein Bewußtsein muß, anstatt an der Oberfläche zu haften, den Geist der Tiefe spiegeln lernen, der sein Seinsgrund ist. Diese Höherentwickelung hat in Indien begonnen ; daher die Wunder seiner Seinserkenntnis und Lebensweisheit. An uns ist es, sie weiterzuführen. Daß die Weisen, auf deren Intuitionen alles Wertvolle an der indischen Metaphysik zurückgeht, jene so erwünschte tiefere Bewußtseinslage erreicht haben, verdanken sie ein- gestandenermaßen der Yoga-Praxis. Diese bezeichnet den prak- tischen Angelpunkt aller indischen Weisheit. Wo wir alles vom Genie erhoffen, erwarten jene das Meiste von der Ausbildung. — Neulich sagte mir ein Hindu: daß Ihr großer Geister bedürft, um die Wahrheit zu entdecken, ist ein Zeichen, wie ungebildet Ihr seid ; 236 Tiefste Erkenntnis durch mittelmäßige Denker gewonnen. Ihr seid auf außerordentliche Zufälle angewiesen. Die Wahrheit ist doch da, liegt jedermann vor, ist im Geringsten enthalten: nach ge- nügender Schulung kann jeder ihrer ansichtig werden. Welch' supreme Ironie liegt darin, daß Ihr, die Ungeduldigen, die Geburt eines Originales abwarten müßt, um Euch einer Selbstverständlich- keit (denn jede Wahrheit versteht sich von selbst) bewußt zu werden ! — Natürlich hatte er Recht im Prinzip. Unsere Ab- hängigkeit von der Begabung hat etwas Beschämendes. Aber ist es möglich, ihr zu entrinnen? — Daß es möglich ist, be- weist das bloße Dasein der Wunder der indischen Weisheit: soweit deren Urheber bekannt sind, handelt es sich nicht um große Geister in unserem Sinne. Man kann aus dem Stil und dem Tonus mit großer Sicherheit auf die Qualität eines Genius schließen, seine Originalität, seine Potenz, den Reichtum seiner Anlagen; ich wüßte keinen in der ganzen indischen Geschichte, mit der einen Ausnahme Buddhas, der im westlichen Sinne als großer Geist gelten dürfte ; keinen indischen Philosophen, der auch nur einiger- maßen den Vergleich mit unseren großen Denkern aushielte. So- wohl Shankärä, als Vyasa, als Ramanuja, waren allerhöchstenfails Philosophen zweiten Ranges. Und doch stammen viele der tiefsten Einsichten von diesen, nicht von den Rishis des Altertums her ; den- noch ist die indische Weisheit als Ganzes die tiefste, die es gibt. Ich behaupte hiermit nichts Unerweisliches; je weiter wir kommen, desto mehr nähern sich unsere Anschauungen den indischen. Schritt auf Schritt bestätigt die psychologische Forschung die in noch so unzulängliche Theorien eingefaßten Behauptungen der altindischen Seelenkunde ; wieder und wieder stimmen die Ergebnisse der philo- sophischen Kritik mit den noch^ so mythisch eingekleideten Intui- tionen der alten Rishis überein ; und mit Bergson ist auch die Metaphysik in die Richtung, in welcher Indien seit jeher wandelt, eingebogen. Denn keiner Metaphysik ähnelt die seine mehr, als der des Inders Agvagosha. Indien verdankt seine Erkenntnisse eingestandenermaßen der Schulung gemäß dem Raja-Yoga-System. Dessen Grundidee ist die folgende: durch Potenzierung des Konzentrationsvermögens ge- lange der Mensch in den Besitz eines Werkzeugs von ungeheurer Kraft. Habe er dieses vollkommen in seiner Hand, so sei es ihm möglich, mit jedem beliebigen Gegenstand der Welt in unmittel- baren Kontakt zu kommen, Fernwirkungen auszuüben, göttergleich Wesen der Yoga; alle Erkenntnis ist Perzeption. 237 zu schaffen, zu erreichen, was immer er will. Er habe seine konzen- trierte Aufmerksamkeit nur auf einen Punkt hin zu richten, so wisse er alles, was diesen betrifft, nur einem Probleme zuzuwenden, so habe er es schon erfaßt und gelöst. Der vollkommene Yogi bedürfe keiner materiellen Werkzeuge, um in der Welt zu wirken, keines wissenschaftlichen Apparats, um Erkenntnis zu erlangen ; alles er- fahre und vermöge er unmittelbar. — Es ist gleichgültig, ob es je einen vollkommenen Yogi gegeben hat. Das Wesentliche, Ent- scheidende ist, wie ich schon in Adyar auseinandergesetzt habe, die evidente Richtigkeit des Prinzips der Yoga-Theorie, ihr Gerechtwerden allen erwiesenen Erfahrungstatsachen, und die innere Wahrscheinlichkeit des noch so Außerordentlichen, was sie als erreichbar hinstellt. Unzweifelhaft ist das Konzentra- tionsvermögen die eigentliche Triebkraft unseres ganzen psychischen Mechanismus. Nichts erhöht dessen Leistungsfähigkeit so sehr, wie deren Steigerung, jeglicher Erfolg auf welchem Gebiete immer läßt sich auf intelligente Ausnutzung dieser Kraft zurückführen. Einer exzeptionellen, d. h. aufs Äußerste konzentrierten Willenskraft hält kein Hindernis dauernd Stand ; konzentrierte Aufmerksamkeit zwingt jedes Problem früh oder spät seine sämtlichen einer ge- gebenen Begabung erkennbaren Seiten aufzuweisen. Die Yoga- Philosophie behauptet nun, daß ein genügend hoher Grad von Konzentration Begabung ersetzen kann. Was kennzeichnet im Letzten die Sonderbefähigung des Mathematikers? Die Fähigkeit, erwidern die Yogis, mathematische Verhältnisse so fest im Auge zu halten und so aufmerksam zu betrachten, daß ihr Charakter und dessen mögliche Konsequenzen ihm vollkommen deutlich werden. Denn sie sind ja da, gegeben in der Welt des Geistes, wie nur irgendein Gegenstand in der Natur, es kommt nur darauf an, sie zu erkennen. Handelte es sich nicht um objektiv Gültiges, also an sich Existentes, unabhängig davon ob es erkannt wird oder nicht, es könnte keine mathematische Wissenschaft geben. Alles Erkennen ist Perzeption ; Reflexion, Induktion, Deduktion sind nur Mittel, zur Perzeption zu gelangen. Nicht umsonst sagt man auch im Falle nichtsichtbarer Verhältnisse, ich sehe wie die Dinge liegen; man perzipiert eben auch einen abstrakten Zusammenhang. Es ist un- berechtigt, einen prinzipiellen Unterschied zu statuieren zwischen dem Beobachten eines äußeren Gegenstandes, dem Visualisieren des Malers in der Phantasie, dem Vorstellen eines Gedankens und dem 238 Der Yogi braucht nicht zu denken; das Genie. geistigen Schauen einer Idee; überall handelt es sich um dasselbe: um Perzeption. Nur die Objekte sind verschieden und die Organe. Aber eine Idee ist als Phänomen ein genau so äußerlich Ge- gebenes wie der Baum, welcher vor einem steht; man nimmt sie wahr oder nicht. Wie in der Welt der Sinneswahrnehmungen die Auffassung, so hängt in derjenigen der Ideen das Verständnis lediglich' davon ab, wie deutlich einer sieht. Hieraus ergibt sich denn zweierlei. Erstens der objektive Sinn dessen, was man Talent heißt: Talent ist die Idiosynkrasie des einzelnen, vorzüglich eine Art von Erscheinungen zu perzipieren; der schlechte Mathe- matiker ist der, dem es nicht gelingen will, sein Konzentrations- vermögen auf abstrakte Symbole und deren Beziehungen zu fixieren ; welche Deutung dadurch als richtig erwiesen wird, daß es möglich ist, einem Hypnotisierten Fähigkeiten zu „suggerieren", die er sonst nicht hat. — Die zweite und wichtigste Folge aus den vorher- gehenden allgemeinen Feststellungen ist aber die: wer seinen psy- chischen Apparat vollkommen beherrscht, so daß er sein Konzen- trationsvermögen in jeder Richtung gleich gut verwenden kann, also fähig ist, mit vollendeter Aufmerksamkeit auf jedem beliebigen Punkte, bei jedem beliebigen Probleme zu verweilen, der wird, falls sein Konzentrationsvermögen als solches stark genug ist, augenblicklich jeden Zusammenhang erkennen, dem er sich zu- wendet (da er ihn ja vollkommen deutlich sieht); er wird überall unmittelbar die Wahrheit erfassen. Ein solcher Mann bedürfte offen- bar keines wissenschaftlichen Apparats, er könnte aller Logik, alles Denkens überhaupt entraten, denn dieses ist ja nur ein Hilfsmittel zur Perzeption; er bedürfte nicht einmal einer außerordentlichen Begabung, denn auch mit unvollkommenen Mitteln erzielt der, welcher sie vollkommen beherrscht, bedeutende Erfolge. Und auch hier kommt eine Analogie der Erfahrung der Theorie von vorn- herein zu gut: ist es nicht gerade das Wesen des Genies, unmittel- bar, augenblicklich zu erfassen, was andere allenfalls auf vielen Um- wegen, wenn überhaupt, durch tausend Zwischenstationen hindurch erreichen? Es ist in der Tat möglich, durch Schulung die Anlagen zu ersetzen, ja weiter zu gelangen, als Begabung für sich allein einen führen könnte. Daher ist gar nichts Wunderbares daran, daß die indischen Weisen, trotz unzweifelhaft geringerer Be- gabung, tiefere Erkenntnis zutage gefördert haben, als die größten Genien des Westens. Inspiration ist festzuhalten; Piatos Ideenwelt. 239 Soweit die Yoga-Philosophie ; ish will nicht behaupten, daß sie wörtlich das lehrt, was ich hier ausführe, aber sicher bedeutet dieses eine mögliche Verkörperung ihres letzten Sinns. Und gegen diesen wüßte ich gar nichts zu erinnern; ich bin über- zeugt, daß er der Wirklichkeit entspricht. Ich bin ferner über- zeugt, daß die Entdeckung der Inder der fundamentalen Be- deutung des Konzentrationsvermögens und vor allem der Methode, es zu steigern, eine der bedeutsamsten ist, die je gemacht wurde. Toren wären wir, wollten wir sie uns nicht zunutze machen. Wir sind so viel vitaler als die Inder, verfügen über so viel mehr psychisches Kapital — wer weiß, wohin wir erst gelangen werden, wenn wir uns genügend ausbilden? — Ich antizipiere hier nicht bloß, ich rede aus Erfahrung. Ganz am Anfang meines Aufenthaltes in Indien unterhielt ich mich mit einem Yogi einmal über Inspiration. Ich erzählte ihm, was wir Westländer darunter verstehen, und wie es die Tragödie aller derer sei, die sie gelegentlich heimsucht — und solchen Heimsuchungen verdanke ihr Bestes seine Entstehung — daß sie nie weilt; sie sei nicht zu halten. Hier unterbrach mich der Yogi: warum weilt sie nicht? Doch offenbar nur, weil Ihr sie nicht zu halten wißt. Freilich kann sie gehalten werden; sie be- zeichnet ja nur eine besondere, keineswegs übernatürliche Bewußt- seinslage, die zur normalen werden kann wie jede andere auch. Ich an Ihrer Stelle würde nun nimmer rasten — sintemalen Ihr Bestes, wie Sie sagen, aus inspirierten Zuständen stammt — bis daß ich normalerweise inspiriert wäre. — Dieser Rat frappierte mich da- mals sehr. Ich begann mich nach der Raja-Yoga-Methode zu üben; anstatt, wie bisher, die Inspiration des Augenblicks sofort in Ge- danken und Worte hinabzuleiten, bemühte ich mich die Region zu fixieren, aus der sie kam, womöglich ganz in sie hinaufzusteigen. Und siehe da, es gelang. Es erwies sich nicht allein als möglich, beträchtliche Zeitspannen entlang in Zuständen zu verharren, die sich sonst nach Sekunden verflüchtigten: mir kam nun die Ahnung noch höherer. Ich erprobte an mir selbst, was die Yogis behaupten : daß jede Bewußtseinslage phänomenologisch jeder anderen äqui- valent ist. Wie jeder seinen Geist in der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt, die ihm als feste Gegebenheit erscheint, mühelos schweifen läßt, so ist es möglich, wenn die Vorstellungswelt „ge- stillt ist", wenn die Einbildungskraft, der „betrunkene Affe", sich ruhig zu verhalten gelernt hat, auch in dieser gleichsam spazieren 240 Intellektuelle Anschauung ; inwiefern die Rishis unsere Größten übertrafen. zu gehen und seine Vorstellungen ebenso gelassen zu mustern, wie Bäume. Und lernt man weiter, die sich bildenden Ideen nicht gleich in Gedanken und Vorstellungen hinabzuleiten, sondern als solche zu fixieren, dann erlebt man, was Plato zu seiner Ideen- lehre veranlaßt hat. Aber die Ideenwelt bezeichnet nicht die höchste Stufe: hoch über dieser thront ein Reich des reinen Sinns, und wer in diesem dauernd wohnt, mag wohl allwissend sein. ... Ich brauche wohl nicht ausdrücklich zu versichern, daß ich soweit nicht gelangt bin. Wohl aber habe ich schon öfters das Erlebnis Piatos nacherlebt, habe Ideen wie Gegenstände ge- mustert. Derweil perzipierte ich ihren Zusammenhang, ihren Ursprung, ihren Sinn; ich brauchte nicht nachzudenken; und bis- weilen gelang es mir buchstäblich, hinter sie, um sie herum zu kommen. Ich übte das Vermögen aus, das die Philosophen von Plotin bis Schelling so schlecht als „intellektuale Anschauung" bezeichnet haben (sie ist nicht intellektuell, sondern genau so em- pirisch wie jede andere, nur von einer anderen Bewußtseinlage her), ich schaute unmittelbar, was sonst nur mittelbar erschlossen ward. Seit diesen Erfahrungen wundere ich mich nicht mehr über die Tiefe der indischen Einsichten. Erkenntnis ist unvermeidlich, sobald man gelernt hat, das psychische Geschehen mit vollendeter Auf- merksamkeit zu beobachten. Denn jede scheinbar letzte Instanz kann ihrerseits zur Grundlage der Beobachtung gemacht werden, so daß es nun ebensowenig Schwierigkeiten bereitet, Begriffe und Vorstellungen zu fixieren, wie äußere Gegenstände, ideelle Zu- sammenhänge zu übersehen, wie räumlich-empirische. Hierher rührt es, daß die Inder ohne vorhergegangene Kritik, trotz äußerst mangelhafter wissenschaftlicher Ausrüstung, das Metaphysisch-Wirk- liche gleich richtig erkannt haben in seinem Verhältnis zur Ideen- und Erscheinungswelt ; daß ihre Psychologie, was immer gegen ihren Ausdruck einzuwenden sei, unvergleichlich viel tiefer greift, als die unserige bisher. Hierher rührt im letzten die einzigartige Tiefe der indischen Weisheit als Ganzes. Die großen Rishis haben dauernd in der Tiefe gelebt. Das hat kein Weiser des Westens getan. Plato, der des Schauens der Ideen wohl fähig war, wußte über diese doch nicht hinauszublicken und verkannte daher ihren eigentlichen Charakter; er überschätzte sie. Überdies schaute er sie nur gelegentlich : so wies er nur immer wieder auf sie hin, oder belichtete von ihnen aus in inspirierten Momenten die Erscheinungs- Goethes Oberflächlichkeit ; aller Fortschritt beruht auf Konzentration. 241 weit. Plotin ist vom Atman immer nur hinabgestiegen ; seine Äuße- rungen haben ihn im Rücken. Fichte und Hegel haben ihrerseits von der Tiefe her die Erscheinung zu gestalten versucht, und mit Erfolg; Nietzsche hat sie sprunghaft beleuchtet; in der Tiefe gelebt hat keiner von ihnen. Sie hatten .eben, so begabt sie waren, ihr Konzentrationsvermögen nicht genügend ausgebildet ; sie blieben abhängig von empirischen Zufälligkeiten. Kein Geist des Westens war konzentrationsfähig genug, um dauernd in seinem tiefsten Selbst zu leben. Am deutlichsten vielleicht tritt dieser Mangel an Goethe in die Erscheinung. Dieser Mann hat wohl mehr Blitze aus der Tiefe in Worte gebannt, als irgendein neu- zeitlicher Mensch; aber zugleich ist er unfähiger, als irgendein anderer Großer gewesen, in der Region, aus der sie stammten, zu verweilen. Sein normales Dasein verlief an der Oberfläche, und tauchte er zur Tiefe hinab, so mußte er sich desto länger auf jener erholen. Der Faust stellt den verklärten Ausdruck dieser letzten Unzulänglichkeit dar. In dieser Dichtung sieht man Zu- stand an Zustand gereiht, ohne daß je der folgende eine wesent- liche Vertiefung des vorhergehenden bedeutete, und der Schluß- akt gibt keine Erfüllung des Gesamtlebens, sondern nur einen Zustand mehr, welcher zufällig der letzte ist und ebenso zufällig als der höchste bewertet wird. Alles innere Weiterkommen, vom Augenblicke an, da die Or- gane erwachsen sind, beruht in der Tat auf Konzentration ; meine eigene Entwicklung bestätigt das durchaus. Mit zwanzig Jahren war ich nicht dümmer als heute. Aber meine Fähig- keiten waren unkoordiniert, und da keine von ihnen, für sich allein betrachtet, bedeutend ist, so konnte ich nichts von Belang zustande bringen. Wie dann die literarisch-philosophische Tendenz zur Domi- nante ward, gewann ich einen ideellen Brennpunkt, um die Strahlen meines Geistes zu sammeln, und je mehr diese sich konzentrierten, desto leistungsfähiger wurde ich. Aus einer Republik erwuchs ich allmählich zur Monarchie, jedes Jahr wurde ich mehr Herr meiner selbst, und entsprechend geisteskräftiger. Lange Zeit hindurch ward mir das Sammeln, das ich früh als das Hauptproblem der Selbst- erziehung erkannt hatte, durch Nervenschwäche erschwert; auf jede Anspannung erfolgte ein Zusammenbruch, was mich bis zu einem Keyserling, Reisetagebuch 16 242 Tief sinn und Nervenkraft; Überlegenheit des Alters. gewissen Grade zur Oberflächlichkeit zwang. Freilich, das Gefüge der Welt ist kein oberflächliches Werk, denn damals trug mich die Leidenschaft der ersten Jugend; aber die Unsterblichkeit hat Untiefen, und dieses nur, weil meine Nerven zur Zeit seiner Ent- stehung nicht gesund waren. Wären sie dies gewesen, dieses Werk, das meinem Herzen näher liegt, als alle anderen, wäre nicht schlechter ausgefallen als die Prolegomena; denn konzipiert habe ich diese ja im gleichen Jahr, nur glücklicherweise erst drei Jahre später aus- gearbeitet. Tiefsinn als Triebkraft ist eine unmittelbare Funktion der nervösen Energie: wer sein Gehirn nicht anspannen darf, kann nicht tief denken, so tiefe Intuitionen ihm immer kommen mögen. Es scheint ja wohl gewagt, Gedankentiefe am Dynamometer messen zu wollen, aber es ist möglich, weil die Durchdringungskraft der geistigen Strahlen vom Grade ihrer Sammlung abhängt, und diese ihrer- seits von der vorhandenen Nervenkraft. Aber mit dieser Feststellung ist die Bedeutung der Konzentration für die Entwicklung nicht er- schöpft. Je mehr der Geist sich sammelt, desto ruhiger wird er, desto leistungsfähiger als Instrument. Solange die Oberfläche in ständiger Bewegung ist, können die Intuitionen aus der Tiefe nicht stetig hindurchscheinen ; sie mögen noch so oft hervorblitzen, die Dauer der Belichtung ist zu kurz, um die Oberfläche zu trans- figurieren. Der gesammelte Intellekt läßt nicht allein die Intuitionen hindurch, er wird ihnen zum gefügigen Organ, so daß die ganze Psyche zuletzt zum Ausdrucksmittel des innersten Lichtes wird. So finde ich mich von Jahr zu Jahr voller werden. Anstatt daß der kalte Verstand mehr und mehr das Übergewicht über die lebendigen Kräfte der Seele gewinnt, entwickele ich mich umgekehrt vom Ver- standesmenschen wachsender Konkretheit zu ; der Intellekt wird mir immer mehr zum gefügigen Ausdrucksmittel, nachdem er einst- mals mein Beherrscher war. Alle diese Fortschritte sind unmittel- bare Folgen der zunehmenden Konzentration. Auf allen Gebieten, den schönen Künsten bis zu einem gewissen Grade ausgenommen, schafft das Alter das Bedeutendste, obschon die Produktionskraft als solche wohl bei allen Menschen in den dreißiger Jahren am größten ist. Das liegt daran, daß der Geist erst spät den Grad der Sammlung erreicht, der ihm das längst Erfundene ganz zu fassen erlaubt. Das Vorbildliche an der indischen Kultur beruht darauf, daß sie wie keine andere auf Konzentrierung allen Nachdruck gelegt hat. Nur der Oberflächliche kann irreligiös sein. 243 Was ich im Vorhergehenden über die Yoga ausgeführt habe, be- zeichnet ja nur einen Bruchteil dessen, was dieser Begriff dem Inder umfaßt: ihm umfaßt er alles Bildungsstreben überhaupt. Bei der Steigerung der Fähigkeiten zur Erkenntnis handelt es sich schließ- lich um ein Technisches ; es liegt, in wie verschiedener Richtung immer, auf einer Ebene mit unseren Bestrebungen, uns die Kräfte der Außenwelt dienstbar zu machen. Wir haben vermittelst eines gegebenen Werkzeugs die Welt verwandelt, die Inder sich in erster Linie der Vervollkommnung des Werkzeuges gewidmet, und nur in Rücksicht auf vorausgesetzte praktische Zwecke ist eine Ent- scheidung möglich darüber., welche Alternative vorzuziehen sei. Indiens absoluter Vorzug vor dem Westen beruht auf der Grund- erkenntnis, daß Kultur im eigentlichen Sinne nicht auf dem Wege der Verbreiterung, sondern nur dem der Viertiefung zu erringen sei, und daß das Tieferwerden vom Konzentrationsgrade abhängt. Ein konzentrierter Mensch ist niemals oberflächlich ; in der Rich- tung, nach welcher zu er sich verdichtet hat (was freilich nicht alle und nicht die wesentlichsten zu sein brauchen) ist er notwendig tief. Deswegen behauptet die indische Weisheit, daß Religiosität und Moralität erarbeitbar seien ; nicht zwar lehrbar im sokratischen Sinne, aber erreichbar jedem Einzelnen auf dem Wege bewußter Selbstkultur. Nur der Oberflächliche könne irreligiös sein ; sobald die Tiefe der Seele durch die Oberfläche hindurchscheint, entstehe Gottesbewußtsein. Nur der Oberflächliche könne zweifeln an dem Unterschied zwischen Gut und Böse, denn es handele sich um ob- jektiv wirkliche Verhältnisse, die man entweder wahrnimmt oder nicht; und der vollendet Vertiefte könne nur Gutes wollen. Deswegen komme alles auf Selbsterziehung, auf Yoga an. Es sei absolut gleichgültig im Prinzip, als wer man anhebe: als Atheist oder Theist, als Immoralist oder Skeptiker ; Ansichten, und Mei- nungen seien immer irrelevant; man müsse wissen. Das Wissen aber ergebe sich von selbst mit fortschreitender Verinnerlichung. Daß der Grad des religiösen Realisierens (im weitesten Sinne) und des moralischen Unterscheidungsvermögens von der Tiefenlage abhängt, in der eines Menschen Bewußtsein' wurzelt, ist gewiß. Und daß der Mensch vertiefungsfähig ist, kann ebensowenig bestritten werden. Die Besten im Westen haben dies auch immer erkannt. Aber Indien allein hat es verstanden, diese Erkenntnis fruchtbar zu machen für die weiteste Praxis. Das ist, wie gesagt, das Vorbild- 16* 244 Leidenschaf t bedeutungslos ; der Weg zur Unmittelbarkeit. liehe dieser Kultur. Wir werden gut tun, ihr baldmöglichst hierin nachzueifern. Was ist denn der Kern alles dessen, was uns an unserem Zustande tadelnswürdig scheint? daß unsere aufs äußerste differenzierten Kräfte zu dermaßen selbständigen Wesenheiten heran- gewachsen sind, daß deren Zentralisierung nicht mehr gelingen will, weswegen alles, was nur aus dem Zentrum hervorgehen kann, zu sein aufhört. Vom höchstentwickelten modernen Kulturmenschen heißt es, daß er nicht mehr zu lieben wisse. Allerdings nicht: er besitzt wohl sämtliche Elemente, die zur Liebe gehören, und in reicherer Ausgestaltung vielleicht als irgendein früherer, aber deren Synthese gelingt ihm nicht. Die Sinnlichkeit geht ihre be- sonderen Wege, desgleichen die Idealität, desgleichen die gefühls- mäßige Zuneigung und so fort. Zur vollen Liebe kommt es nicht, außer im Paroxysmus der Leidenschaft. Folgerichtig wird denn zu unserer Zeit die Leidenschaft als solche verherrlicht ; wie nie vorher wird die Naturkraft über alles hochgeschätzt. Wieder einmal wird von den Dächern sämtlicher Großstädte „zurück zur Natur" ge- schrieen. Das sind ebensoviel Mißverständnisse. Die Leidenschaft bezeichnet auch beim Tier eine Krisis, und alle Großtaten, die während ihrer vollbracht werden, bedeuten nichts ; in der Leiden- schaft erweisen sich Schwächlinge als stark, Feiglinge als mutig, und bleiben doch wesentlich was sie waren. Was aber das „zurück zur Natur" betrifft, so kann eine erreichte Kulturstufe durch Hinab- steigen nimmer überstiegen werden. Freilich sollen wir wieder un- mittelbar werden, aber Unmittelbarkeit und Tierischsein sind nicht Wechselbegriffe. Um auf das Beispiel der Liebe zurückzukommen: animalische Sinnlichkeit wird vielfach als ihr Ganzes betrachtet, weil sie ein Unmittelbares ist, was von ihren höheren Formen selten gilt. Wirklich scheint die Sinnlichkeit das Ganze der Liebe zu werden, wo ein Kulturvolk seiner Erschöpfung nahe- kommt; so geschah es bei den späten Römlingen, so wird es heute mehr und mehr in allen degenerierten Kreisen West-Europas. Aber wo die Lebenskraft noch nicht erschöpft ist, dort gibt .es einen besseren Weg zur Unmittelbarkeit: über die Differen- zierung hinaus durch Konzentration. Das ist der Weg, den Indien gegangen ist, das ist der, auf dem wir jetzt weiterschreiten müssen. Dieser Weg, t allein, führt über unseren heutigen Zustand hinaus. Es gilt durch Konzentration die emanzipierten Kräfte dem zentralen Leben wieder zuzuführen, aus Streikern zu dienstwilligen Heilung der Zersplitterung; unsere mögliche große Zukunft. 245 Organen zu machen. Nichts an unserem Zustande brauchen wir zu verleugnen. Die in der Geschichte der Menschheit unerhörte Breite der modernen Seele darf nicht eingeschränkt werden, denn sie be- zeichnet ein absolutes plus ; die ungeheure Differenziertheit unseres Wesens ist ein Vorzug. Wir müssen nur diesen ganzen, so wunderbar reichen Körper von der gleichen Tiefe her beseelen, in welcher der Inder lebt ; wir müssen die Oberfläche, deren allein der moderne Mensch sich meistens bewußt ist, zum Spiegel der Tiefe machen und die Organe aus Selbstzwecken wieder zu Ausdrucksmitteln. Gelingt uns dies, so werden wir ohne jeden Zweifel zu Vertretern des höchsten Menschheitszustandes werden, der bisher dargestellt wor- den ist. Je reicher die Ausdrucksmittel, desto besser kann der Sinn sich manifestieren ; Gott, dem das Weltall zum Ausdrucksmittel dient, ist eben deshalb mehr Gott als der Mensch. Aber anderer- seits: je reicher die Mittel, desto größerer Energie bedarf es, sie zu beherrschen. Deshalb ist die Aufgabe für uns viel mühsamer als für die Inder. Wie oft habe ich neidvoll geseufzt, indem ich sie an- sah : wie leicht habt ihrs, tief zu sein ! Eure Fläche ist so gering, euer Leib so mager, daß es nicht eben schwer halten kann, eure ganze Natur zum Ausdrucksmittel des Geistes zu machen. Wir fetten, reichen Europäer müssen es uns sauer werden lassen, um nur einen Teil eures Weges zu durchmessen. . . . Dann aber sagte ich mir: gelingt uns nun, was euch gelang — werden wir dann nicht Übermenschen sein? — Nietzsches Übermensch grenzt nur die physiologische Basis ab, bezeichnet sonach einen Weg, vielleicht den Westländerweg, aber nicht das Ziel. Die Übermenschen der Theosophie, die Meister, sind zu weltentrückt, zu menschheitsfern, um uns als Vorbilder voranzuleuchten. Ich weiß nicht, wie be- schaffen der Übermensch sein wird. Aber sicher wird er, wenn überhaupt, aus der Konzentrierung unserer sämtlichen Kräfte hervorgehen. Daß das Vorbildliche der indischen Kultur nicht früher erkannt worden ist, und wo dies geschah, nicht immer zu gutem Ende, liegt an der Unfähigkeit der meisten, einen Sinn un- abhängig von der Erscheinung zu erfassen. Eine Erscheinung ist nirgends übertragbar, ohne daß sie Schaden stiftete; sie ist überall 246 Atemübungen; das Vorbildliche der Inder. das Produkt bestimmter, nur einmal vorhandener Verhältnisse, und daher nur einem bestimmten Zustande gemäß. Wenn schon die Anglomanie noch keinen gefördert hat, so gilt dies in erhöhtem Maße von der Indomanie, und am meisten bezüglich des Bedeutend- sten an Indien : seiner Konzentrationskultur. Es ist sehr bezeich- nend, daß die indischen Atemübungen, welche der Svami Vive- känända durch seine Vorträge in Amerika populär gemacht hatte, keinem einzigen Amerikaner zu einem höheren Zustande verholfen, aber desto zahlreichere in Kranken- und Irrenhäuser gebracht haben sollen. Hatha-Yoga gilt schon in Indien als nicht gefahrlos ; viele Übungen sind von allen Autoritäten schon längst als unbedingt schädlich gebrandmarkt worden und erhalten sich nur dank der un- ausrottbaren Neigung aller Menschen, das Bedenkliche dem Unbe- denklichen vorzuziehen. Aber selbst von den harmlosesten unter ihnen ist nicht erwiesen, ob sie Europäerorganismen angemessen sind ; es könnte sein, daß sie alle den Meisten mehr schaden als nützen. So förderlich Atemübungen im allgemeinen sind — über die Richtigkeit der Idee, daß das Atmen gleichsam das Schwungrad des ganzen psychophysischen Organismus bezeichnet, und daß vollendete Kontrolle des Atmens zu Selbstbeherrschung in jedem Sinne führt, besteht kein Zweifel — welche besonderen in Frage kommen, hängt ganz von den jeweiligen empirischen Umständen ab. Das Vorbild- liche an der indischen Konzentrationskultur ist deren Grundidee, nicht die spezifische Erscheinung. Was diese betrifft, so kann schwer geleugnet werden, daß sie vom Standpunkte unserer Ideale nicht wenig zu wünschen übrig läßt ; das Meiste von dem, was unseren Stolz bezeichnet, fehlt in Indien. Aber die Inder haben auch nie unsere Ziele verfolgt ; also kann man ihnen ihr Versagen nicht zum Vorwurf machen. Um das wahrhaft Vorbildliche an ihrer Kultur zu erfassen, ist es gut, anstatt an indische, an okzidentalische Erscheinungsformen der gleichen Idee zu denken (die im Westen freilich nie als solche bewußt die Entwickelung bestimmt hat) : z. B. die Engländer als Nation und gewisse höchste amerikanische Geschäftsmänner-Typen. Die Naturanlage des Engländers ist beschränkter als die des Deut- schen und des Russen ; aber jener bringt doch mit seinem Wenigen mehr zustande als diese mit ihrem Überfluß. Man staunt oft über die Vielseitigkeit englischer Aristokraten, die heute Journalisten, morgen Vizekönige, übermorgen vielleicht Handelsminister sind, und Der Grund der englischen Überlegenheit. 247 wenn sie gerade Zeit haben, gute Werke historischen oder philolo- gischen Inhalts schreiben. Nun könnte, was die Vielseitigkeit als solche betrifft, Deutschland sowohl als Rußland einem vielseitigen Briten ein Schock weit vielseitigerer entgegenstellen; aber jener allein weiß seinen Reichtum so zu organisieren, daß jedes einzelne Element sich als produktiv erweist. Der Engländer hat sich mehr in der Hand, als irgendein Europäer; eben deshalb wirkt er als der tiefste ; als der tiefste im menschlich-charakterlichen Sinne. Er ist, trotz seiner Kulturhöhe, ganz ungebrochen, ganz unzersetzt, fest verankert in seinem lebendigen Grund, wie kein anderer überlegen. Das verdankt er der Yoga. Nicht der indischen zwar, aber der, welche Puritanismus und Methodismus durch ihren Ideengehalt ent- stehen ließen ; einer Konzentrationskultur nicht minder intensiv, wie abweichenden Charakters immer, als die von Indien. — Das andere okzidentalische Beispiel für die Bedeutung der indischen Grundidee liefern die ersten der amerikanischen Geldkönige. Wer immer solchen begegnet ist und sie nach der Formel ihres Schaffens gefragt hat, wird die Antwort erhalten haben : wir arbeiten mit der Intuition allein ; Reflexion führt nicht schnell genug vorwärts. Das heißt, sie operieren dauernd mit dem Vermögen, das der gewöhnliche Mensch nur ausnahmsweise ausübt, meist nur beim Planen und in wichtig- sten Entscheidungen, die keinen Aufschub dulden. Und das heißt weiter: sie haben eine Entwickelungshöhe erreicht, auf welcher das Außergewöhnliche normal, das Äußerste zur Basis geworden er- scheint. Eben dies gilt von den indischen Yogis. Was diesen den absoluten Vorrang gibt in der Idee, so daß man vor der Ewigkeit Recht hat, indem man von westlichen Erscheinungsformen des indischen Grundgedankens spricht, ist, daß sie allein Sinn und Wert ihres Tuns erfaßt haben. Erkenntnis ist das Wichtigste aufc dieser Welt ; erst eine erkannte Wahrheit wird ganz produktiv. Uns kann es gleichgültig sein, ob die Inder selbst es weit gebracht haben oder nicht. Aber ewig werden wir ihnen Dank wissen müssen dafür, daß sie den Sinn dessen erfaßt und geoffenbart haben, was von jeher, ob noch so unerkannt, die Seele alles inneren Fortschreitens war. Dank dieser Erkenntnis werden wir nunmehr, jedes Volk und jeder Einzelne in der Richtung, die seine Naturanlagen ihm weisen, zehnmal schneller vorwärts kommen als bisher. 248 Kunst des Westens beruht auf Vernunftkonzentration. Alle höchsten, alle gesteigerten Lebensausdrücke bezeichnen ebensoviel Wirkungen der Konzentration ; diese bedingt mit Unvermeidlichkeit Vertiefung. In welchem Sinne sie tief macht, hängt davon ab, in welchem Geiste und zu welchem Ende sie geübt wird; jeder nur denkbaren Bildung kommt sie zugute. Aber freilich : wem es um Wesenserkenntnis und um Heiligung zu tun ist, der wird immerdar den Indern nachzueifern haben. Desgleichen der Künstler, der im selben Sinne Wesenhaftes schaffen will, wie sie und ihre größeren Schüler im Fernen Osten. Schon sind wir uns ja leidlich dessen bewußt, daß unsere Kunst an seelischen Aus- druckswert die der alten Kulturvölker des Orients nicht erreicht ; auch das wissen wir, daß dieses irgendwie mit dem Nicht-Naturalis- mus der letzteren zusammenhängt. Aber was das eigenste Wesen orientalischen Kunstschaffens ist, darüber sind sich die meisten nicht klar ; sicher nicht, denn sonst verfielen sie nicht darauf, die bud- dhistische Kunst mit der griechischen zu vergleichen und die Jungen überlegten es sich zweimal, ehe sie den Sinn, den sie meinen, mit östlichen Formmitteln darzustellen versuchten. Denn dieses kann zu keinem guten Ende führen : der Sinn der Kunst des Ostens ist ein ganz anderer, als der der westlichen, und nur ihm sind jene Formen entsprechende Ausdrucksmittel. Welches ist der Sinn der spezifischen „Stilisierung" (das Wort ist schlecht), welche in allen östlichen Bildwerken zutage tritt? — Sie bedeutet nicht Vereinfachung im Geiste der Vernunft. Die Typik der Griechen, die, mehr oder weniger offenbar, aller westlichen Kunst seither zugrunde liegt, ist rationellen Ursprungs. Von allen möglichen Verbindungslinien zwischen zwei Punkten ist die gerade die kürzeste ; von allen konstruierbaren Bewegungen zum Ziel ist die zweckmäßigste die beste; von allen denkbaren architektonischen Anordnungen ist die vollkommenste die, welche den inneren Ge- setzen der geplanten ^mathematischen Figur, des benutzten Materials und der Idee, die ein Gebäude verkörpern soll (als Tempel, als Palast usw.) zugleich am vollständigsten Rechnung trägt: das sind Axiome aller rationellen Kunst. Die nur eine geringe Umkleidung, keine Umdeutung erleiden, wenn der ästhetische Schwerpunkt vom Werk in den Beschauer hinüberverlegt wird : in diesem Falle wird von allen Formen denen der Vorzug zuerkannt, die im Bilde das am stärksten realisieren, was im vorher betrachteten vom Werk als solchen verwirklicht wird. Aus diesem Geiste sind die Kurven des Bildende Kunst, Poesie und Musik. 249 Parthenons, Michelangelo^ Contraposto und die noch so kompli- zierte Rhythmik Rodins hervorgegangen. Es ist der Geist der reinen Vernunft. Er ist fruchtbar geworden durch Konzentration. Genau im selben Sinne wie Konzentration der Vernunft auf einen Naturvorgang zur Entdeckung einer Formel führt, die dem Geiste dessen Gesetz und mithin dessen Wesen viel faßbarer erscheinen läßt, als er in konkreter Verkörperung erschien, genau so führt Konzentration der Vernunft den Künstler zur Erfindung einer Form, die in der Vereinfachung dem Auge deutlich macht, was es in der Natur nur zu leicht übersieht. Man lasse sich nicht beirren durch den Umstand, daß Künstler der Über- legung meist abhold sind und aus reinem Gefühl heraus zu schaffen behaupten, daß die Wirkung, die ein Kunstwerk ausübt, weit reichere Befriedigung gewährt, als die Erfüllung bloßer Ver- nunftforderungen gewähren könnte : weder hängt die Existenz eines Vorgangs von dessen Bewußtwerden ab, noch beweist die Vielfach- heit der Wirkung, daß die Ursache nicht einfach gewesen wäre. Der Mensch ist wesentlich ein Vernunftwesen, weshalb das Vernunft- gemäße, wo es in ansprechender Verkörperung erscheint, sämtliche Lebensgeister wachruft, während umgekehrt sämtliche Geister an der Schöpfung des Vernunftgemäßen beteiligt gewesen sein mögen. Alle spezifisch-westliche Formgebung beruht im Prinzip auf Konzen- tration der Vernunft. Nun ist auf diesem Wege nur das am Leben zu fassen, was von außen nach innen zu ergriffen werden kann. Deswegen hat unsere bildende Kunst das nie zum Ausdruck gebracht, was unsere Musik und Poesie zu sagen vermocht haben. Beider Angelegenheit ist, Ge- fühlen einen Körper zu geben; die Poesie ist den artikulierten gewachsen, den unartikulierten, lebendigsten, tiefsten die Musik allein. Weswegen mißlingt es, diese Subj ektivitäten im Bilde zu obj ektivieren ? Weil noch so große Vernunftkonzentration nie ins Innere der Seele führt. Da wir als Bildner immer Rationalisten gewesen sind, so haben wir „Seele" im Bild nie unmittelbar zum Ausdruck bringen können, so wunderbar uns dies in der Musik gelang. Unsere Madonnen, unsere Heiligen, unsere Christusgestalten sind irdische Wesen durchaus ; nicht spiritueller deshalb, weil ihre Gebärden seelische Erregung verraten. Die einzigen Ausnahmen, die ich wüßte, bezeichnen einige Meister- werke des Frühmittelalters, die aber auch eines anderen Geistes Kinder sind, und die Gemälde Peruginos. Aber bei diesen letzteren beruht der religiöse Charakter, wie Berenson nachgewiesen hat, 250 Das Geheimnis der ostasiatischen Kunst. nicht auf unmittelbarer Verkörperung des religiösen Geistes, sondern auf einer besonderen Raumbehandlung, die im Beschauer religiöse Assoziationen wachruft. Um Seele unmittelbar zum Ausdruck bringen zu können, müßte die sichtbare Form eben unmittelbarer Ausdruck der S.eele sein, mithin in der Konzentration eines anderen, als der Vernunft, ihren Grund haben. Sich in diesem Sinne zu kon- zentrieren, haben die Künstler des Westens nie verstanden. Eben das haben die des Ostens vermocht, dank welchem sie Schöpfungen hervorgebracht haben, denen wir gar nichts zur Seite stellen können. Vom Standpunkte der Vernunft ist freilich kein Werk des Orients den hellenischen ebenbürtig, aber von der Vernunft her sind sie nicht zu beurteilen. Sie entspringen der gleichen Tiefe des Lebens, wie bei uns nur Poesie und Musik. Damit erscheinen denn alle Maßstäbe verschoben. Rationalität kommt unmittelbar nicht in Frage (obschon sie immer auch nachzuweisen ist, da der Mensch nun einmal ein Vernunftwesen ist); die sichtbare Form ist unmittel- barerWesensausdruck und als solcher oft gerade dort am überzeugend- sten, wo der Sinn mit dem Verstand gar nicht zu fassen ist, wie beim Lachen des Kindes oder der Laune einer Frau. Immer wieder muß ich des tanzenden Shiva gedenken im Museum von Madras : diese vielarmige, anatomisch unmögliche Bronze verwirklicht eine Mög- lichkeit, die kein Grieche je auch nur hat ahnen lassen — eben einen ausgelassenen Gott ; der mutwillig die Welt zertanzt. — Wie ge- langt man zu solcher Schöpfung? Nur durch Realisieren des Gottes in uns selbst, und durch das Vermögen, dieses unmittelbare innere Erleben unmittelbar in der Sichtbarkeit wiederzugebären. Dieses scheinbar Unmögliche haben die Künstler des Orients vermocht. Und es ist ihnen gelungen eben dank dem, was meine Aufzeich- nungen alle diese Tage über behandelt haben : ihrer Kultur der Konzentration. Wir wissen wenig oder nichts von den großen Künstlern Hindustans. Aber von denen Chinas und Japans, ihren Erben, wissen wir, daß sie sämtlich Yogis waren, in der Yoga den einzigen Weg zur Kunst erblickten. Wohl zeichneten und malten sie in ihren ersten Schülerjahren mit ernstester Ausdauer nach der Natur, um zu vollkommenen Beherrschern der Ausdrucksmittel zu werden; aber das galt ihnen bloß als Propädeutik; das Eigentliche war ihnen die Versenkung. Sie versenkten sich in sich selbst, oder in einen Wasserfall, eine Landschaft, ein Menschenantlitz, je nachdem was sie darstellen wollten, bis daß sie völlig eins Die Maler Chinas als Yogis. 25 1 geworden waren mit ihrem Objekt und dann schufen sie von innen heraus, unbekümmert um alle äußere Norm. Von Li Lung- Mien, dem Meister der Sung-Dynastie, wird überliefert, daß seine Hauptbeschäftigung nicht aus Arbeiten bestand, sondern darin, an Bergesabhängen oder am Bachgestade zu meditieren. Tao-tse ward einst vom Kaiser aufgefordert, eine bestimmte Landschaft abzubilden. Er kehrte ohne Skizzen, ohne Studien zurück, und erwiderte auf erstaunte Fragen: „ich habe die Natur im Herzen mitgebracht." Kuo Hsi lehrt in seiner Schrift über die Land- schaftsmalerei: „Der Künstler muß sich vor allem in seelische Verbindung setzen mit den Hügeln und Bächen, die er malen will." Innere Sammlung galt diesen Künstlern wichtiger, als äußere Ausbildung. Und freilich: der vollkommen Verinnerlichte steht über der Vernunft, denn seinem Geist sind ihre Gesetze immanent; er braucht sie nicht mehr zu befolgen, gleichwie der Wissende jenseits von Gut und Böse steht. Wie dessen Wissen unwillkürlich all sein Tun beherrscht, so lenkt das des Künstler- Yogis unfehlbar die kapriziöseste Linienführung. Die Rhythmik ostasiatischer Zeichnung ist nicht rationellen Ursprungs: sie ist innere Rhythmik, wie die der Musik. Man halte ihr nur die Schematik Leonardos oder Dürers gegenüber, und sofort sieht man, worin der Unterschied besteht: ist diese durch Konzentration der Vernunft entstanden, welche notwendig zur Entdeckung objektiver Regeln führt, so ist jene das Ergebnis reiner Selbstbesinnung, die zur Form verdichtete reine Subjektivität. So ist dem Osten gelungen, was dem Westen noch niemals gelang: das Göttliche als solches sichtbar darzustellen. Ich kenne nichts Erhabeneres auf dieser Welt, als die Gestalt des Buddha; sie ist eine schlechterdings vollkommene Verkörperung des Spirituellen im Reiche der Sichtbarkeit. Und dies nicht dank dem Ausdrucke der Ruhe, der Beseeltheit, der Innerlichkeit, welchen sie trägt, son- dern an sich, unabhängig von aller Übereinstimmung mit Ent- sprechendem in der Natur. Vielleicht wäre das Herz des Yoga-Gedankens am zeitge- mäßesten (denn in jeder besonderen Periode erscheint den gleichen Ideen eine spezifische Verkörperung am gemäße- sten) in folgendem Satz auf europäisch wiederzugeben: es ist die 252 Das Herz des Yoga-Gedankens; Erkenntnis ist Erlösung. Bestimmung des Menschen über das Menschentum als Natur- bestimmtheit hinauszugelangen, und von ihm allein hängt es ab, ob und wie weit er sie erfüllt. Von allen Lastern ist Trägheit das Schlimmste: nie darf er sich ihm überantworten. Er soll nicht etwa arbeiten um jeden Preis, gemäß dem Imperativ des Westens — wie sinnlos käme den Rishis unsere Vergötterung der Arbeit vor ! — sondern unentwegt darnach trachten, dem ewigen Geist, der ihn be- seelt, zum Ausdruck zu verhelfen, indem er das Positive in sich potenziert und das Negative in Positives umwandelt. Im übrigen führt jeder Weg zum Ziel, und jeder kann es erreichen. Wie Sri Krishna zu Arjuna in der Bhagavat-Gita sagt: wie immer die Menschen mir nahen, eben so nehme Ich sie an ; denn alle Wege, die sie wandeln können, sind Mein. So ist es. Eine Urkraft durch- strömt das Universum, alle Gestaltung bedingend, beseelend, in aller sich manifestierend; so ist jede nicht allein Ausdruck, sondern ein möglicher vollendeter Ausdruck des Göttlichen, und Vollendung ist das Ziel, jede Gestaltung ist fähig, nicht trotz sondern in ihrer Eigenart, die Gottheit zu realisieren ; ob es ihr gelingt, hängt vom Geiste ab, aus dem heraus sie lebt. Lebt sie aus dem Geiste der Tiefe heraus, dem der äußersten inneren Wahrhaftigkeit, so kommt auch der Verbrecher zu Gott, denn nichtig ist der Unterschied vor Ihm zwischen guten und bösen Zuständen als solchen. Der Ver- brecher, der im Geist der Wahrhaftigkeit Übeles tut, erkennt früher oder später sein Mißverständnis und verwandelt sich, wie der Schacher am Kreuz neben dem Heiland, wie die Marquise de Brain- villiers auf dem Schafott, und in der Verwandlung ist der alte Zu- stand aufgehoben. Solche Verwandlung besteht aber immer in Er- kenntnis. Alle Wege führen zu ihr hin. Die kürzesten von allen sind die altempfohlenen der Liebe, der selbstlosen Arbeit, des Ver- stehenwollens, aber auch die des Egoismus und des Nicht-Wissen- Wollens führen hin, sofern sie im Geiste der Wahrheit betreten werden, denn früher oder später kehren die, so sie wandeln, um. Und alle münden ein in der Erkenntnis. Die Erkenntnis ist die Er- lösung. Sobald die Kreatur ihr wahres Wesen erkannt hat, wird sie zum Ausdrucksmittel Gottes, und alles erglänzt in göttlichem Licht. Dann gibt es die Gegensätze von Gut und Übel nicht mehr, von- Glück und Unglück, Freude und Schmerz; dann härmt kein Un- gemach die Seele mehr; dann wird das Leben der Sonne gleich zu einem einzigen Quell reinen Gebens. Wohl und Übel sind Gegen- Überwindung des Übels ; Eigenart der indischen Weisheit. 253 sätze nur vom Standpunkte der Unwissenheit. Freilich bestehen sämtliche Tatsachen, auf welchen der Unterschied im Urteil beruht, und werden fortbestehen solange wie die Welt, denn anders könnte es kein Geschehen geben. Welche Verblendung, auch nur zu hoffen, daß es einstmals objektiv anders würde! Was sich ändern kann, ist die menschliche Bewußtseinslage. Hat sich der Mensch endlich mit seinem wahren Wesen identifizieren gelernt, dann sieht er in den Widerwärtigkeiten des Lebens kein größeres Übel mehr, als in den Widerständen der Gefäße, dank welchen dem Blut sein Kreislauf durch den Körper allererst möglich- wird. Ich habe in aller Unbefangenheit von Kind auf in vielen wesent- lichen Hinsichten indisch gedacht; und wie mir dann die Upani- shads in die Hände kamen, da freute ich mich nicht wenig, aber sagte mir stolz: was die wissen, das alles weißt du auch. Man erkennt sein Nicht-Wissen immer erst dann, wenn man zum Wissenden ge- worden ist. So kann ich erst» jüngst, seit ich mit dem Geiste Hindu- stans persönliche Fühlung gewonnen und mich von seinem leben- digen Einflüsse habe durchdringen lassen, ermessen, wie Wenig ich damals wußte von dem, was die Inder eigentlich gemeint haben. Ich erkannte in den Upanishads mich selber wieder nur deshalb, weil ich mich selbst in sie hineingelegt hatte. Freilich ist der Geist der Tiefe wesentlich Einer überall ; so meinen alle tiefen Geister wesentlich gleiches; so verstanden sich Yajnavalkya, Laotse und Eckhart sicherlich bei ihrer ersten Begegnung im Elysium. Aber die wesentliche Einheit schließt Unterschiede in der Erscheinung nie aus ; was ich vorhin niederschrieb, war eine Übersetzung, nicht das Original ; als Erscheinung ist die indische Weisheit ein ebenso Spezifisches, wie nur irgendeine individuelle Lebensform. Wäre sie das nicht, sie hätte niemals Leben schaffen können ; nur durch Individuen, nicht durch Allgemeinheiten hindurch setzt sich das Leben fort. Jüngst erfuhr ich, daß der Familienguru jedem Hindu- kinde bei dessen Einweihung einen besonderen Namen schenkt, vermittelst dessen es zu Gott beten solle. Dieser Name ist sein schlechthiniges Eigentum ; keinem teilt es ihn mit, keiner darf es nach ihm fragen ; es wird vorausgesetzt, daß es allein im Weltall diesen Namen kennt, durch ihn in einzigartiger Beziehung zur Gottheit steht. Dies ist eine Illustration mehr der gleichen Wahrheit. Nur Eigenartiges, Individuelles, Persönliches, Ausschließliches kann ein lebendiges Gefäß des Universellen sein. So ist denn die indische 254 Der Sinn als Primäres; Egoismus und Altruismus gleich wertlos. Weisheit, trotz ihrer Universalität, eine Monade, in welche keiner eindringen kann, welchen sie nicht besitzt. Mir ist, als besäße sie mich nun. Mehr und mehr erlebe ich auf indisch, sehe ich die Welt und das Leben im Lichte der geistigen Sonne Hindustans. Ich will diese letzten Tage, die mir für Benares noch übrig bleiben, damit verbringen, mir über die Sonderart der indischen Weisheit Rechenschaft abzulegen. Aber heute ist es zu spät, um zu beginnen. Schon schläft die ganze Stadt. Und morgen, beim Tagesgrauen, will ich wieder, wie so oft, auf dem Ganges sein, den Segen der ersten Sonnenstrahlen zu empfangen. Keine Weltanschauung der Welt vertritt mit gleichem Radika- lismus, wie die indische, die Überzeugung, daß im Bereiche des Lebens der Sinn den Tatbestand schafft. Was einer tut, sei an sich völlig gleichgültig; es komme darauf an, in welchem Geist er es tut. — So ist es. Man verfolge diese Ansicht noch so weit, bis zu ihren verstiegensten Konsequenzen hinan : überall wird man ihr Prinzip bestätigt finden. Wie viele Europäer hat die These der Bhagavat-Gita befremdet, daß von dem, welcher das Selbst realisiert hat, alle Handlungen abfallen, so daß es kein Gut und kein Böse für ihn mehr gibt! Und doch spricht sie durchaus wahr, wie aus zeitgemäßerer Fassung des gleichen Gedankens sofort erhellt: wer immer nur tut, was seinem tiefsten Wesen gemäß ist, tut not- wendig recht, welchen Eindruck immer sein Handeln auf andere machen mag. Man könnte ja meinen — wie in der Tat alle Philister wähnen — ' das Handeln des Gottmenschen müßte immer und allen als gut erscheinen, aber das ist nicht richtig, nicht möglich. Es könnte so sein, wenn alle gleich tief verinnerlicht wären, wie er; aber da diese Voraussetzung nicht zutrifft, so dünkt sie sein Handeln häufig tadelnswert, wie die üblichen Verfolgungen der geistlich Großen zur Genüge beweisen. Man nehme die banalste Unterscheidung, die zwischen Ego- und Altruis- mus. Im allgemeinen gilt als gut, auf die Gefühle und Wünsche anderer Rücksicht zu nehmen; wer das nicht tue, sei tadelnswert. Aber kein wahrhaft tiefer Mensch kann in diesem Sinne Altruist sein, da er bei anderen nicht mehr als bei sich selbst in der Neigung ein genügendes Motiv erblickt; er tut den Men- schen das an, was deren Weiterkommen am meisten fördert, und Jenseits von Gut und Böse. 255 dieses kommt nur zu häufig unerwünscht; er macht sie häufiger unglücklich als glücklich, tritt ihre Wünsche häufiger mit Füßen als daß er sie erfüllt. Da er keinen Egoismus mehr hat, so kennt er auch keinen Altruismus mehr. — Ein anderer Fall, der die Wahrheit der indischen Lehre gut illustriert, ist der des großen Staatsmanns. Einem solchen wird, nachträglich wenigstens, allgemein zugestanden^ daß er jenseits von Gut und Böse steht, aber weshalb? Weil, wie alle dunkel ahnen, die Bedeutung seiner noch so blutigen Handlungen mit diesen nicht zusammenfällt. Wer im Strudel der Welt, vermittelst der Welt ein Ideal verfolgt, kann nicht so rein durchs Leben schreiten, wie der Anachoret ; er wird, je nach der Zeit, in der er lebt, mehr oder weniger Unheil anrichten müssen, weil es anders in der Welt nun einmal nicht geht. Aber was er da tut, geht sein tiefstes Selbst nichts an; es tangiert ihn nur im Sinn der Erbsünde, des Rassenkarmas (wie denn jeder für die Gebrechen seiner Zeit mitverantwortet, am Verschulden aller mit- schuldig ist); blutbefleckt mag er doch wesentlich rein sein. Über den wesentlichen Charakter eines Menschen entscheidet der Geist, in dem er lebt. Wer daran noch zweifeln sollte, der bedenke, daß es sich beim Täter und beim Heiligen um eben das Verhältnis zwischen Tatsache und Bedeutung handelt, wie bei dem, welcher pflichtmäßig tötet. Keiner brandmarkt den Richter, der ein Todesurteil fällt, als Mörder, noch den Soldaten, der in der Schlacht noch so viel Feinde niederschoß. Das Pflichtmäßige wertet den Sachverhalt um. Das gleiche gilt überall vom Geist, in dem etwas geschieht: er entscheidet letzthin über den Tatbestand. Das haben die Inder mit unerreichter Klarheit erkannt. Aber sie haben diese Erkenntnis so sehr ihr ganzes Leben be- stimmen lassen, daß es für sie überhaupt keine Facta gibt, sondern nur Symbole. Die Bedeutung gilt dermaßen als Primäres gegen- über dem Faktischen, daß diesem aller Eigensinn genommen scheint. Nun haben aber die Tatsachen einen solchen; und dieser bleibt unberücksichtigt. So ist es nicht zu verwundern, daß sie Rache nehmen. Die Nicht-Anerkennung faktischer Zusammen- sammenhänge (wie solche neuerdings unter uns die Christian Science bewußt und systematisch betreibt) wäre gut genug, wenn die Psyche wirklich die Macht hätte, alle anderen Wirklichkeiten zu verwandeln. Die hat sie nicht; sie kann sie beherrschen, nur sofern sie sie anerkennt. Wir sind zu Beherrschern der Natur ge- 256 Warum die Hindus im Leben versagen; Katholische Gesinnung. worden, weil wir gelernt haben, ihre Gesetze nicht zu ignorieren, sondern auszunutzen. Die Inder ignorieren sie durchaus. Sie leben in einer Welt rein psychischer Verknüpfungen, die als solche wirklich genug und fast immer tiefsinnig konstruiert sind, so daß, wer über sie nachdenkt, von ihrer inneren Wahrheit beeindruckt wird. Aber diese psychischen Bande sind weniger stark und fest, als die objektiven der Natur; wo beide in Streit geraten, dort siegt diese. So daß man im Inderleben überall einem seltsamen Zwiespalt gegen- übersteht: im höchsten Grade Sinnvolles und innerlich Wahres be- deutet praktisch dennoch Aberglauben ; noch so gut Begründetes vom Standpunkt der Psyche stellt sich faktisch doch als Willkür- verknüpfung dar. So ist der freilich im Irrtum, der aus der Er- kenntnis der unzulänglichen Tatsachen heraus über den Sinn ent- scheiden zu können glaubt; aber andrerseits hilft dieser zur Praxis des Lebens gar wenig. Das Inderleben ist niemals vor- bildlich gewesen. Die Führer des Volkes haben verkannt, daß der Sinn sich nur dann in der Erscheinung vollkommen ausprägen kann, wenn er deren Gesetze voll berücksichtigt. So tritt bei den Indern metaphysische Erkenntnis nur zu oft in Form unzuläng- lichster Theorie, echteste Religiosität in Form von Aberglauben und tiefste Moralität in der eines bedenklichsten Lebenswandels in die Erscheinung. Schon öfters habe ich des katholischen Charakters der indischen Religiosität Erwähnung getan. Wohl hat es auch Protestan- ten unter den Indern gegeben: Devendranath Tagore, z. B. der Maharshi, war ausgesprochen puritanisch gesinnt ; wer nicht wüßte, daß dessen Autobiographie von einem Hindu stammt, könnte beinahe glauben, ein Pilger-Vater Neu-Englands hätte sie verfaßt. Aber der allgemeine Geist der indischen Religiosität ist streng katholisch ; alles Beste und Tiefste ist von ihm beseelt ; so vor allem die Lehre vom Weg, der zur Erkenntnis führt. Ich will noch einmal kurz daran erinnern, was ich unter katho- lisch im Gegensatz zu protestantisch verstehe. Der Katholizismus lehrt, daß Anerkennung einer objektiven Ordnung und gehorsames Befolgen autoritativer Vorschriften den Weg zum Heil bezeichnen ; der Protestantismus hingegen, daß jede Seele auf persönlich selb- ständige Weise zu Gott hinanstreben soll. Letztere ist gewiß nicht Die Hindus als Katholiken. 257 die Lehre Luthers oder Calvins, aber es ist die Lehre des heute lebendigen Protestantismus ; ebenso wie meine Definition des Katholizismus das Lebendige an ihm allein berücksichtigt. — Der Inder, was immer er im Besonderen glaube, urteilt über den Weg zum Heil als Katholik. Er verwirft das Suchen selbständiger Wege ; ihm gilt Vertrauen auf die Autorität als Grundbedingung alles inneren Fortschritts. Kein großer Inder, von den Protestanten Buddha, Mahavira u. a. abgesehen, hat je am Offenbarungscharakter der Veden und Shastras gezweifelt, und alle haben Zweifel als ver- derbenbringend denunziert. Das bedeutet, daß auch die größten Erkenner unter den Hindus tief durchdrungen waren vom Wert des Glaubens als Erkenntnismittels. Wer da zweifelt, könne nicht zum Wissenden werden; und da Glauben nur möglich ist an fest- stehende Dogmen und Normen, haben sie alle deren Umwandel- barkeit postuliert Sie haben ferner sämtlich Gehorsam gefordert dem Guru, dem spirituellen Direktor gegenüber (wie denn alle, auch die erlauchtesten Geister unter ihnen, dem ihrigen bis zum Tod ge- horsam gewesen sind), aus der Einsicht heraus, daß Lehren, von einem anderen, zu dem man sich absolut empfänglich verhält, laut mitgeteilt, stärker einwirken auf das Unterbewußtsein als dieselben Lehren, wofern man sie sich selbst erteilt. Das ist so katholisch gedacht wie nur möglich. Dem Wortlaute nach haben alle theologischen Doktoren unseres Mittelalters das gleiche gelehrt, unter diesen zum Teil auch Martin Luther. Aber allerdings haben die Inder den Sinn der gleichen Lehren besser ver- standen, so daß der Hinduismus die Seelen nie geknechtet hat, wie der christliche Katholizismus nur zu oft. Freilich darf der Grad dieser Knechtung nicht überschätzt werden: der Idee nach gewährt der Katholizismus dem Denker genau so viel Freiheit wie der ortho- doxe Protestantismus ; nur in praxi geschieht es meistens anders. Der Idee nach darf der katholische Christ frei forschen und denken auf allen Gebieten, auf denen Verstand und Vernunft kompetieren, und mehr ist nicht zu verlangen, denn jenseits dieser Gebiete kann Vernunft zu keiner Erkenntnis führen. Mag diese Idee noch so selten richtig verstanden worden sein, sie ist da, und wird früher oder später wohl sicher in ihrer Reinheit zur Herrschaft gelangen, wenn die Kirche keinen anderen Weg mehr sieht, um fortzubestehen. Der äußere Apparat der katholischen Kirche aber, ihr Ritualismus, ihr Zeremonial, bezeichnet einen absoluten Vorzug, dessen der Pro- Keyserling, Reisetagebuch. 17 258 Indien ohne Freidenker ; Glauben und Wissen. testantismus, gerade in seinen extremsten, dogmenfeindlichsten For- men, mehr und mehr gewahr zu werden beginnt. Um nun zum Hin- duismus zurückzukommen: diesem gelten die Glaubensformen, die als solche ebenso streng gewahrt werden wie seitens katholischer Christen, nicht als Substanzen, sondern als Ausdrucks formen des Göttlichen, gleichzeitig als Mittel, dieses zu realisieren. Demzu- folge werden sie einerseits weniger ernst genommen als unter uns, sie gelten nie als metaphysische Wirklichkeiten, andrerseits mehr, da kein Hindu ihre Zweckmäßigkeit verkennt. Auch das Glauben als solches wird von ihnen aus eben dem Grunde ernster ge- nommen, als mir dies je in Europa begegnet ist: sie wissen eben, was Glauben bedeutet; daß es ein Mittel ist wie kein anderes, um das Sein zu realisieren. Deshalb gibt es unter hochgebildeten Hindus keine Freidenker, so häufig solche unter halbgebildeten vor- kommen, und noch so scharfsinnige weisen die Zumutung weit von sich, an den religiösen Grundwahrheiten zu zweifeln — es sei denn, sie seien über das Glauben deshalb hinaus, weil sie aus persönlicher Erfahrung wissen. Die Hindus sind seelisch so weit gebildet, daß sie zwischen Glauben und Für-wahr-halten rein unterscheiden; daß sie glauben können an etwas, ohne zu verlangen, daß es objektiv existierte. Glauben ist ihnen ein Mittel, das souveräne Mittel; ein Narr sei daher, wer nicht glaubte. Im übrigen möge er denken was er wolle. Meredith Townsend erzählt von einem indischen Astronomen, welcher wissenschaftlich geschult, jede Sonnenfinsternis auf die Sekunde richtig vorausberechnete, aber jedesmal, wenn sie hereinbrach, zur Trommel griff, um den Dämon zu verscheuchen, der das Gestirn verschlingen wollte, und auf seine verwunderte Anfrage lächelnd erwiderte, Glauben und Wissen wären doch zweierlei. Er hielt wohl an der mythi- schen Vorstellung fest, die er selbstverständlich durchschaute, weil er aus Erfahrung wußte, daß jene, dank Assoziationen mit Erlebnissen aus seinen Kindheitstagen, ihn das Göttliche reali- sieren half. Nur auf Realisieren kommt es den Hindus an ; alles übrige ist Mittel zum Zweck. Sie legen den Akzent auf das Realisieren mit solcher Ausschließlichkeit, daß deshalb zwei Tendenzen, die im Westen immer eine namhafte Rolle gespielt haben, beinahe voll- ständig fehlen: daß Streben nach Exaktheit der Formulierung (der Richtigkeit in der Bestimmung), und das nach Neuerung; was Neuerungsfeindschaft ; Wahrheit kann nur ^geschenkt" 1 werden. 259 allein schon der indischen Metaphysik einen unverkennbar-indivi- duellen Charakter verleiht. In der Tat — was verschlägt es, ob eine Formulierung wissenschaftlich richtig sei oder nicht, wenn sie nur das Erlebnis, auf das allein es ankommt, hervorruft oder mitteilbar macht? Und ferner: wozu neue Formen erfinden, wenn die alther- gebrachten alles das leisten, was jene bestenfalls bewirken könnten? So sehen wir eine Metaphysik, die an Wahrheit und Tiefe un- erreicht dasteht, die unsere exaktere Forschung mehr und mehr bestätigt, in einem Körper von Theorien überliefert, die nicht selten aus primitivsten Denkstadien herstammen. Die Inder wissen eben, was sie meinen; und ihre Lehrmethodik bürgt dafür, daß der Sinn von Guru zu Chelah lebendig fort überliefert wird ; des- halb halten sie Neufassungen für überflüssig. Ja, deshalb stehen sie in ihrer göttlichen Toleranz praktisch kaum anders als engherzige Christen, sind oft sogar neuerungsfeindlicher noch als diese, eben weil sie der Vorstellung als solcher jeden Eigenwert ab- erkennen. Echte Wissenschaft verhindert solche Auffassung am Entstehen, und mit der ist es denn auch in Indien seit den Tagen des Altertums übel bestellt; aber den spirituellen Fortschritt be- fördert sie. Aus der katholischen Grundtendenz ergibt sich ferner die Eigen- tümlichkeit der indischen Weltanschauung, die den Westländer viel- leicht am meisten befremdet: ihr Leugnen der Möglichkeit, eine Wahrheit selbständig zu entdecken ; sie müsse geoffenbart, recht eigentlich gelehrt werden ; von einem, der sie seinerseits empfing. Man glaube ja nicht, diese Auffassung sei nichts als ein Brahmanen- trick, wie unzweifelhaft soviele der Vorschriften, die zur Mehrung des Prestiges der Gurus dienen : sie bezeichnet eine Grundanschau- ung der Inder und ist psychologisch gut genug begründet. Wo die Arbeit zum Zweck der Erkenntnis nicht in Denken besteht, sondern in Versenkung in einen aufgegebenen Satz, dort kann einem die Erleuchtung wirklich nur „kommen", man erringt sie nicht ; sie wird einem, um christlich zu reden, nicht durch Verdienst sondern durch Gnade zuteil. Nun setzen alle Inder das Dasein einer Hierarchie der Wesen voraus ; sie sind es gewohnt, nie ohne Anleitung Yoga zu treiben, haben keinen Begriff von „voraussetzungslosem Forschen": also ist es nur natürlich, daß sie in aller Erkennt- nis Offenbarung aus höheren Sphären sehen, und diese meist auf konkrete Wesen zurückführen. Das stimmt wieder ganz 17* 260 Unoriginalität, Autoritätenglauben, Spiritualität. mit der katholischen Autoritätsidee überein. Nur erscheint diese hier universalisiert, so daß sie der Priesterschaft nie zu einer Waffe im großen Stile hat werden können, und ferner, was wich- tiger ist, nie einer bestimmten Konfession zum Sieg verholfen hat. Alle Erkenntnis ist Offenbarung; hieraus folgt, daß kein Mensch und kein Institut aus seiner besonderen Offenbarung Kapital schlagen kann. — Auf diese Auffassung geht zum beträchtlichen Teil die Unoriginalität der indischen Denker zurück: es fehlt ihnen jeder Ansporn, originell sein zu wollen, denn Ursprünglichkeit in unserem Verstände gibt es für ihre Begriffe nicht; in ihr wurzelt die ganze Ödigkeit ihrer Scholastik ; auf ihr fußt die Hypertrophie des Autoritätenglaubens in Hindustan, — eine Hypertrophie, die wohl nirgends in der Welt eine Parallele findet: da alle Erkenntnis par definition „geschenkt" wird, so ist oberhalb der Autorität keine In- stanz mehr denkbar. Aber auf dieser Auffassung fußt andrerseits ohne Frage die unerreichte Wesenhaftigkeit des indischen Wahr- heitsbegriffs, der an sich den besten Schlüssel zur Erkenntnis be- zeichnet. Originalität kommt wirklich nicht in Betracht in Er- kenntnisfragen ; es besteht keinerlei notwendige Beziehung zwischen ihr und Wahrheitserkenntnis. Die Wahrheit ist da, liegt jedermann vor, sowie die Sonne alle beleuchtet; wenn der Sehende vor dem Blinden einen Vorzug hat, so kann er doch nichts dafür, und die Sonne schiene auch ohne ihn. Das Genie für eine Erkenntnis, nach Westländerart, unmittelbar verantwortlich zu machen und es dem- entsprechend zu vergöttern, ist im Prinzip genau so lächerlich, wie in dem einen Übermenschen zu sehen, der durch Drücken auf den Knopf am Leitungsdraht eine elektrische Lampe anzündet. Erkennen heißt gewahrwerden, entdecken, ausnutzen gegebener Möglich- keiten, genial sein von der Natur ein besseres Instrument über- kommen haben: wo bleibt da die absolute Originalität des Er- kenners? — Es ist wirklich wahr, was die Inder in noch so mythi- scher Ausdrucksweise lehren, daß man Wahrheit nicht eigentlich entdecken kann. Und daß sie das erkannt haben, ist mit ein Hauptgrund dessen, daß sie es im metaphysischen Wissen so wunderbar weit gebracht. — Auf dieser Auffassung fußt ferner un- mittelbar die unvergleichliche indische Spiritualität. Wo es als Axiom gilt, daß es kein selbständiges Erkennen gibt, dort können in dem, der sich nach Wissen sehnt, keine hochmütigen Regungen entstehen, keine Velleitäten des Besserwissens, keine eitlen Vor- Trivialität des Stils; Vitalitätsmangel der Ideen. 261 urteile ; er gibt sich demütig hin. So daß die spirituellen Wahr- heiten, die in den Heiligen Schriften verkörpert sind, in seiner Seele ein Minimum an Widerstand finden und leicht von ihm Besitz ergreifen können. Aus eben dem Grunde ist die katholische Christen- heit, wo von echter Religiosität überhaupt die Rede sein kann, an Spiritualität der protestantischen so weit voraus. Daß sie darin gleichwohl hinter der indischen weit zurücksteht, erscheint verständ- lich genug, wenn man erwägt, daß die Heiligen Schriften der Inder von allen der Welt wohl die heiligsten, weil erkenntnistiefsten, sind und in einzig geringem Grade, dank der psychologischen Bildung des Indervolkes, durch Verballhornung, Mißdeutung und falsche Behandlung in ihrer heiligenden Wirkung behindert werden. Um spirituelles Realisieren allein war es von je den Rishis zu tun ; sie sind weiter darin gelangt als alle anderen Menschen. Viele von ihnen haben wahrhaftig eine Bewußtseinslage erreicht, die man als übermenschlich bezeichnen darf — eine Lage, in welcher der Geist unbeirrt in der Sphäre des reinen Sinnes lebt, vom reinen Sinne her alles auffaßt, alles versteht. Aber eben daher rührt es, daß sie sich so seltsam gleichgültig ausgedrückt und nie Ideen in die Welt ge- setzt haben von auch nur annähernd so großer Lebenskraft, wie die eines Plato oder Hegel. Wer auf der Bewußtseinsstufe steht, welche die größten Inder erreicht haben, dem ist der Sinn der Dinge ebenso unmittelbar bewußt, wie dem Durchschnittsmenschen die physische Außenwelt; er bedarf keiner Originalität, um seiner ge- wahr zu werden. Eben deshalb aber kann er nicht mehr geistig schaffen. Alle Produktion stammt aus der Tiefe des Unbewußten ; man gebiert nicht, was schon vor einem steht. Dieses kann man allenfalls kopieren. Kopisten und nicht mehr sind denn die Rishis als Schriftsteller und Denker gewesen ; dies erklärt die Trivialität ihres Stils und den Mangel an Vitalität ihrer Ideen. Unsere großen Denker haben die Bewußtseinslage nie erreicht, von welcher aus man die Wahrheit wie eine Landschaft ausgebreitet vor sich sieht: so konnten sie dieselbe gebären. So sind ihre Erkenntnisse zu schöpferischen Ideen geworden und wirken fort, wie keine indische dies ie vermocht hat. 262 Männer des Glaubens und der Tat originalitätsfeindlich. Nur um Realisieren war es den indischen Weisen zu tun ; so konnten sie in der Originalität keinen Wert sehen. Das, dessen Spiegelung im Bewußtsein man Wahrheit heißt, sei da ; Erfinden komme nicht in Frage. Das Entdecken aber bedinge kein persönliches Verdienst, da der Mensch immer nur das ent- decken könne, was die Natur oder höhere Mächte ihm offenbarten : „nur wenn er wählt, von dem wird er begriffen" (Ruysbroek). Was nun die Verkörperung der Wahrheit betrifft, so lasse sich nur eine feststehende realisieren, in Wandlung begriffene taugten nicht ; überdies verbrauchte Neueinstellung Energie, die besser anders ver- ausgabt würde. Die Männer des Glaubens wie der Tat sind, was Vorstellungen als solche betrifft, mit physiologischer Notwendigkeit originalitätsfeindlich. Beide schaffen in einer anderen Dimension, als der geistige Schöpfer; jene setzen Ideen in innere, diese in äußere Wirklichkeit um, als solche bedeuten sie ihnen nichts ; sie sind ihnen Vorwürfe, Grundrisse, Ausgangspunkte, von Wert nur insofern als sie verwirklicht werden. Solchen Naturen kommt alles Theoretisieren müßig vor. Nicht nur Napoleon, auch Bismarck hat die Ideologen von Herzen gehaßt, und beide haben fest an eine Vor- sehung geglaubt. Dieser Glaube war ihnen physiologisch notwendig: ohne sichere Deckung im Rücken hätten beide nicht unbefangen vorwärts schreiten können. Und wie die Männer der Tat, so die des Glaubens. Religiössein heißt realisieren, geistige Werte in Leben umsetzen wollen. Damit sich einer dieser Aufgabe ganz unbe- fangen widmen könne, müssen die Werte an sich außer Frage stehen. Also muß er an Dogmen glauben, an bestimmten Vor- stellungen unverbrüchlich festhalten ; ob er im übrigen tolerant oder fanatisch ist, hängt vom Grade seiner seelischen Bildung ab, der Weite seines geistigen Horizontes. Der orthodoxe Christ in seinem Wahn, das Dogma an sich verkörpere das Heil, will alle Anders- gläubigen coüte que coüte bekehren, und sieht derweil auf sie herab. Ich bin keinem Hindu begegnet, der nicht felsenfest an irgendein Dogma glaubte, aber andrerseits keinem, der irgend jemanden bekehren wollte oder irgendeinen um seines Aberglaubens willen verachtete. Die Hindus sind gebildet genug, um zu wissen, daß nicht das Dogma als solches das Wichtige ist, sondern dessen Wirkung auf das Leben. Aber die ablehnende Haltung des Inders der Originalität gegen- Täter mehr als Skeptiker ; Allwissenheit frommt nur Gott. 263 über hat noch einen tieferen Grund als den bisher betrachteten. Aus der Tiefe ihrer Bewußtseinslage heraus, die ihnen ein unmittelbares Schauen des Sinns ermöglichte, dachten die Rishis : wozu eine Er- scheinung mehr in die Welt setzen, wo es deren schon so viele gibt? Was sind denn schöpferische Ideen mehr, als die Blümelein, die aus dem Rasen sprießen? Was verschlägt es, wie weit es die einzelne bringt? — So dachten sie nicht als Skeptiker, sondern als All- wissende. Oft ist bemerkt worden, daß Skeptizismus und tiefste metaphysische Erkenntnis an der Oberfläche zusammenfallen ; das ist auch so. Skeptiker sowohl als Mystiker erkennen die Relativität der Gestaltung, also stimmen sie in deren Bewertung überein; nur wissen diese, was jene nicht ahnen, daß sich die Wirklichkeit im Relativen nicht erschöpft. Sie sind sich des Wesens bewußt, das sich vermittelst der Erscheinung ausdrückt. Das gilt im Kleinen von jedem Mann der Tat, jedem Schöpfer, jedem überhaupt, der irgend- etwas ganz ernst nimmt, den denn die Menschheit, mit richtigem Instinkte, von jeher dem noch so klugen Zweifler vorangestellt hat. Aber es gilt von ihm eben nur im Kleinen ; daher die Beschränkt- heiten aller Täter, ihre Einseitigkeiten, Unzulänglichkeiten, Vor- urteile, denen gegenüber der skeptische Betrachter so leichtes Spiel hat. Im Großen gilt das gleiche vom Weisen: er nimmt alle Erscheinung nicht gleich unernst, sondern gleich ernst. So ist er, gleich Gott, über alle Engigkeit hinaus. Aber kann solche Erkenntnis zu fruchtbarem Leben werden? Im Falle Gottes wird sie es. Er kennt die Relativität jeder Er- scheinung, und lebt sich doch in jeder mit äußerster Einseitigkeit aus; Er kennt die Unzulänglichkeit jeder Sonderäußerung, und das schwächt Ihm doch niemals die Energie. Er schafft eben im Zu- sammenhäng. Der Mensch kann als Versteher wohl göttliche Uni- versalität erreichen, aber als Handelnder bleibt er streng beschränkt ; als Lebender gelangt er nimmer hinaus über die Einseitigkeiten des Sonderdaseins. So lähmt ihm die allzutiefe Einsicht die Kraft. Sie brauchte es nicht zu tun, jedoch sie tut es meist; sie hat es im Fall der Inder getan. Gegen die Wahrheit ihrer Auffassung ist nichts zu sagen. Unzweifelhaft bedeuten die Ideen Alexanders dem Kosmos nicht mehr als Blümelein; beide sind Natur- erscheinungen, jede in ihrer Art. Wer Ideen gebiert, tut im Prinzip nichts anderes als jede Kuh, wenn Erkenntnisse sich entwickeln und das Leben ergreifen, so ist das ein Naturvorgang unter anderen. 264 Wissen und Leben sind zweierlei. Der Kampf der Künstler um Anerkennung, der Staaten um Macht, der Menschheit um Ideale ist eine Form unter anderen des allge- meinen Kampfes ums Dasein und der Fortschritt -ein biologischer Prozeß, der überall seine Parallelen findet. So ist kein Ehrgeiz wesentlich mehr als animalischer Wachstumsdrang, kein Idealismus mehr als ein Exponent unter anderen des allgemeinen Strebens alles Lebens nach Aufstieg und Steigerung, und ob dieses oder das ge- schieht, ob ein Meisterwerk, eine Erkenntnis, eine Heldentat mehr die Welt bereichert, bedeutet im Zusammenhang wenig genug. Desto weniger, als der Sinn überall Einer ist und durch Vermehrung oder Verbesserung seiner Ausdrucksformen von seinem Standpunkte aus nichts hinzugewinnt. Ja, die Ideen Alexanders bedeuten nicht mehr vor Gott als Blümelein. Aber hätte es Alexander gefrommt also zu denken? Ja, wenn er so groß gewesen wäre, daß er trotzdem als Alexander sein Schicksal erfüllt hätte; aber das hätte er dann schwerlich getan. Die Inder haben gewußt, daß keine Erkenntnis das Handeln dem Dharma gemäß beeinträchtigen darf; dieses ist zumal die Grundidee der Bhagavat-Gita. Dort lehrt Sri Krishna den Arjuna, daß er kämpfen soll, was immer er weiß und erkennt, denn zum Kämpfen sei er geboren. Die gleiche Grundidee durchdringt die ganze Lehre vom Nicht-Attachement: töte den Ehrgeiz in dir, aber handele so, als ob du vom äußersten Ehrgeize beseelt wärest; ersticke allen Egoismus, aber lebe dein Sonderleben so tatkräftig, wie nur irgendein Egoist; liebe gleichmäßig alle Kreatur, aber ver- säume darum nie, das Nächstliegende zunächst zu tun. Gewußt haben die Inder eben alles. Aber Wissen und Leben sind zweierlei und nirgends erweist sich das eindrucksvoller als bei ihnen. Wir wissen von keinem Inder, der als lebendiger Mensch diese Weisheit im Großen verwirklicht hätte ; und es gibt wahrscheinlich weniger Hindus, die es im Kleinen tun, als unter Türken und unter Chinesen. Das ist der Fluch jenes Primates des "Psychischen, das wie nichts anderes den indischen Bewußtseinszustand charakterisiert. Die Inder haben von je den Akzent des Daseins auf das psychische Erleben gelegt, also das Realisieren des Lebens in der Sphäre des Psy- chischen. Dank dem sind sie als Erkenner und als Schauer des Göttlichen wunderbar weit gelangt; aber eben dank dem sind sie nie auch ein Bruchteil dessen gewesen, als lebendige, handelnde Menschen, was ihre Theorie postuliert. Und das ist nur natürlich. Inder als Erkenner groß, als Menschen minderwertig. 265 Wenn der Geist sich in der Vorstellungswelt zentriert, so entstehen Erkenntnisse als selbständige Wesenheiten, ohne Zusammenhang mit dem persönlichen Leben ; dieses bleibt, trotz aller Erkenntnis, wo es war. Es bedarf einer anderen Einstellung, um einen großen Men- schen zumachen. So illustrieren die Hindus mit vorbildlicher Deut- lichkeit die Vorteile sowohl als die Nachteile eines rein auf Er- kennen gerichteten Daseins. Es führt zur Erkenntnis, wie kein anderes ; es führt ferner die geborenen Weisen und Heiligen zu einer Vollendung, wie sie unter anderen Voraussetzungen unerreichbar scheint; aber dem Leben der übrigen Menschen tut es nicht gut. Neuerdings weisen des Englischen mächtige Hindus, aufgestachelt durch ihnen mißfällige Urteile Europas, immer wieder darauf hin, daß die indischen Lehren dem praktischen Leben wohl gerecht werden und mit nichten Quietismus predigen. Gewiß tun sie das nicht; sie sind als Lehren die wahrsten und tiefsten, die um- fassendsten und erschöpfendsten, die es gibt. Aber sie haben auf das indische Leben nie eingewirkt. Dem Durchschnittsmenschen tut es nicht gut soviel zu wissen ; hört Alexander einmal, daß er vor Gott nur ein Blümlein ist, so dankt er nur allzu bereitwillig als Alexander ab. Er entscheidet für sich, daß kein bestimmtes Dasein Zweck habe, tut bestenfalls das Nächstliegende, füllt schlecht und recht die Stellung aus, in die er hineingeboren ward. Er ver- leugnet allzufrüh allen Ehrgeiz. Wohl lehren die heiligen Schriften, zum höchsten Leben sei nur der Höchste reif ; die übrigen hätten zu kämpfen, zu streiten, tätig zu leben, ehrgeizig zu sein, denn nur das bringe sie innerlich vorwärts. Aber welcher nicht Höchst- gebildete bescheidet sich dabei, nicht zum Höchsten geboren zu sein? Wo einmal ein Zustand als höchster proklamiert ward, dort sucht ihn jeder auf seine Art darzustellen. Im Osten gilt Ehrgeiz allgemein als gemein: das ist ein Unglück. Wohl bezeichnet es das Höchste, wenn ein Gewaltiger ohne Ehrgeiz ist, aber der Kleine, der keinen Ehrgeiz hat, kommt nicht vorwärts. Den Hindus, gleich Christus, gilt Sanftmut als höchste Tugend : dies ist ein Un- glück. Nur wer die Leidenschaft eines Peters des Großen besitzt, darf sich zum Ideal der Sanftmut bekennen; die Schwachen — und schwach sind die Hindus — macht es noch schwächer. Allverstehen gilt als Höchstes: von Unverständigen bekannt, hemmt dieses Ideal wie kein anderes die Entwickelung, denn es macht sie zu energielosen Skeptikern. So hat gerade die einzig- 266 Fluch der Erkenntnistiefe ; der Yogi kein höchster Mensch. artige Tiefe ihrer Erkenntnis den Indern als Volk zum Verderben gereicht. Sie hat sie schlaff und schwach gemacht. Das ist höchst be- deutsam. Es ist wieder ein Beispiel, das Indien der ganzen Mensch- heit gibt. Es zeigt, wie wenig gut es tut, wenn alle als Philosophen nach Vollendung streben. Dieser Weg ist nur den ganz wenigen gemäß, die diesem Wesenstypus angehören ; alle anderen führt er ins Verderben. So bedeutet denn die indische Theorie, nach welcher der Rishi, der Yogi, ja der Sanyassi von allen Menschen der höchste sei, ein anderes als es den Anschein hat. Sie bedeutet nicht, daß diese Typen von allen tatsächlich die höchsten seien, nicht daß alle in deren Rahmen ihre äußerste Selbstverwirklichung finden würden: sie bedeutet, daß unter indischen Voraussetzungen nur geborene Philosophen und Heilige vollkommen werden können. Während die übrigen Menschen verkümmern. Dies denn wäre die wahre Ursache dessen, daß die Welt- anschauung der Inder nicht mit Unrecht als quietistisch gilt : nicht die Lehre als solche erkennt dem Nicht-Handeln gegen- über dem Handeln, der Apathie gegenüber der Energie den Vorrang zu, sondern dies ist der Sinn, in dem sie eingewirkt hat auf das Leben. Nicht nur die Theosophen haben aus den theoretischen Lehren der Alten, die als solche wohl auf Allgemeingültigkeit An- spruch erheben können, besondere praktische Folgerungen gezogen, gegen welche mancherlei zu erinnern ist, ein gleiches gilt von den Indern selbst. Als Erkenner haben sich die Hindus wie sonst kein Volk über die Zufälle der Empirie hinausgehoben ; aber das prak- tische Leben ist dem Hochflug des Geistes nicht nachgefolgt; es hat ihn durch desto ausgesprochenere Spezifität als Ausdruck jener Hybris entlarvt, welche die Götter niemals ungestraft lassen. Ein Allgemeines kann nicht zur Lebensmacht werden, nur Be- stimmtem gelingt dies; was im Falle einer Weltanschauung besagt: eine bestimmte Auffassung und Ausdeutung ihrer, eine bestimmte praktische Anwendung. So sind die noch so universellen Erkennt- nisse der Rishis von vornherein spezifisch verstanden worden. Der Atman, lehren die Veden, ruht jenseits der Erscheinungen rein in sich, nicht Name, nicht Gestalt, nicht leidend, nicht handelnd. Des Daseins höchstes Ziel ist, eins mit ihm zu werden, d. h. sich so tief zu verinnerlichen, daß das Bewußtsein im Prinzip des Lebens Quietistische und aktivistische Deutung vedischer Lehren. - 267 Wurzel faßt. Aus dieser Lehre können mehrfache praktische Kon- sequenzen gezogen werden. Die Hindus haben als Höchstes hin- gestellt, sich aus dem Leben in die Gottheit zurückziehen, mithin die Schöpfung zu eskamotieren. Pias royalistes que le rol, weiser als Brahman selbst, der es für gut befand, sich zum Weltall zu entfalten, haben sie ihr ganzes Streben darauf gerichtet, über das Werden hinauszugelangen. So mußten ihnen die Entsager als absolut-höchste Menschentypen gelten, konnten sie in der Ge- staltung dieses Lebens keinen Wert erkennen. Ich würde aus den gleichen Lehren mit gleicher logischer Berechtigung die entgegen- gesetzten praktischen Schlüsse ziehen. Wir sollen den Atman in uns erkennen und dann verwirklichen in dieser Welt ; wir sollen Brah- man, dessen Teilausdrücke wir sind, dazu verhelfen, sich in der Er- scheinung zu vollenden. So aufgefaßt, wirken die vedischen Lehren nicht sterilisierend, sondern im höchsten Grade produktiv. Unsere Handlungen, erkennt die Vernunft, stehen in keinem notwendigen Verhältnis zum Selbst: man bringe es dahin, daß alle den Atman spiegeln! Das Bewußtsein, das der Synthesis des Ver- standes entspricht, ist an sich nicht das tiefste Ich: man bilde es soweit aus, daß es diesem zum Ausdrucksmittel wird. Und so fort. Hätte einer nun dieses erreicht, hätte er sein Gött- liches im Irdischen ganz verwirklicht, dann stellte sich für ihn die ganze Frage des Unterschiedes zwischen Absolutem und Relativem nicht mehr, dann brauchte er sie weder zu bejahen noch zu ver- neinen, da er als Wesen in der Erscheinung lebte. Daß die Inder nicht diese Alternative gewählt, die sie doch wieder und wieder als höhere erkannt haben und die zweifelsohne alle Vorzüge für sich hat, ist auf empirische Umstände zurückzuführen: vorzüglich wohl auf die Einflüsse der Tropenwelt. Diese haben die arischen Ein- wanderer mehr und mehr aus energischen zu indolenten Geschöpfen umgewandelt, ihrem Leben mehr und mehr jenen vegetationsartigen Charakter verliehen, der seinen vollendeten Ausdruck dann im Bud- dhismus fand. Es hat nichts genützt, daß sie diesen als solchen überwunden haben, wohl aus der unbewußten Erkenntnis seines Entartungscharakters heraus; seine Tendenz war die Tendenz ihres Blutes. Nun fragt es sich : hätten die Hindus als Erkenner und Schauer des Göttlichen eine so einzig hohe Stufe erreicht, wenn sie als Menschen anders gewesen wären? Hätten sie das, was not tut, so 268 Grund der indischen Indolenz; der Verstehende Immer charakterlos. klar erkannt, wenn sie fähig gewesen wären, es zu verwirk- lichen? Wahrscheinlich nicht. Der große Moralist ist typischer- weise amoralisch, weil Vorurteilsfreiheit Hemmungslosigkeit be- dingt; der große Versteher typischerweise charakterlos, weil er keine Gestaltung als absolut beste beurteilen kann; umgekehrt ist der große Täter typischerweise beschränkt. Hier bestätigen die Ausnahmen nur die Regel, sofern sie nicht einer höheren Daseinsstufe angehören, auf welcher die menschliche Kompensations- norm nicht mehr gilt. Daß die Inder sich der Einseitigkeit ihrer Veranlagung gefühlsmäßig auch bewußt sind, beweist ihre gut katholische Gesinnung, ihre ausgesprochene Abneigung gegen alles Protestantisieren : sie fühlen, daß sie, innerlich allzu frei, der festen äußeren Normen bedürfen, um nicht auseinanderzugehen. Es wird ferner bewiesen dadurch, daß sie in unerhörtem Grad bei allen Erkenntnisfähigen das Erwerben vollkommener Erkenntnis (nicht eines edlen Charakters, einer vornehmen Gesinnung usw.) als das Ziel des Lebens hingestellt haben : der wesentlich erkennende Mensch kann sich nur aus der Verstandeseinsicht heraus entscheiden. Aber gleichviel ob sie es gewußt haben oder nicht: die Tatsache steht fest. Zur höchsten Vollendung in den Sphären des Erkennens und des religiösen Realisierens ist eine Naturbasis erforderlich, die Vollendung in anderen Richtungen, wenn nicht ausschließt, so doch äußerst erschwert. Das weiß das Volk, sofern es sich wundert, wenn ein „Kluger" gleichzeitig „gut" ist; das weiß die Wissenschaft, so- fern sie konstatiert; daß ein höheres Maß von Religiosität außer- ordentlich häufig an eine Naturanlage gebunden erscheint, die sie als „pathologisch" beurteilt; das weiß im Fall der Künstler die öffentliche Meinung der ganzen Welt. Nur ganz selten sind solche menschlich vollwertig. Es ist, um eine Analogie aus der Biologie, die vielleicht mehr als eine Analogie ist, anzuführen, als ob im Erkenner, im Religiösen, im Dichter „Gene" in Kraft träten, welche die Äußerung derer des Täters, des Charakters, des Ethikers hindern. Bei jenen verläuft das eigentliche Leben in der Sphäre des Psychischen; dessen Umsetzen in und Wirkung auf das, was anderen das „wirkliche" Leben ist, bedeutet fast nichts in bezug auf ihr Wesen. Um vollkommen zu erkennen, muß man nicht allein ganz der Erkenntnis leben, man muß gewissermaßen Erkenntnis sein; man muß sich ausleben im Erkennen, wie Frauen in der Liebe. Wer dies nun tut, der kann seine primäre Energie Antinomisches Verhältnis von Erkennen and Leben. 269 der Anwendung seines Wissens auf das Leben nicht zuwenden, denn sie ist schon anderweitig gebunden. So bedeutet es letzthin ein Mißverständnis, den Hindus einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie sich in der Welt des praktisch-tätigen Lebens nicht ebenso groß erwiesen haben, wie in denen der Erkenntnis und des religiösen Gefühls. Ihre Schwächen bezeichnen den Kaufpreis ihrer Vorzüge. Freilich sind nicht alle Hindus Erkenner, und die Nicht-Erkenner unter ihnen sind dementsprechend minderwertiger als europäische. Aber im glei- chen Sinn sind die Faulenzer Europas unverhältnismäßig viel schlimmer als die von Indien. Jedes Kultursystem ist am Durch- schnittscharakter des Volkes orientiert, das es erfand, und Erziehung in dessen Geist und Rahmen gereicht mit Unvermeidlichkeit denen zum Nachteil, deren Art von der durchschnittlichen ab- weicht. Nun mag man die Frage aufwerfen, ob nicht irgendeine Richtung in der Gestaltung vor den anderen absolute Vorzüge be- sitze? so die christlich-europäische vor der indischen? Viele halten dafür; ich kann mich nicht entscheiden. Sofern die größte Voll- kommenheit der Massen als Maßstab angesetzt wird, ist es wohl möglich, daß wir das bessere Teil erwählt haben. Aber kommen quantitative Gesichtspunkte in wesentlichen Verhältnissen in Frage? — Ich bescheide mich bei der Feststellung der Tatsache, daß Indien und nicht Europa die bisher tiefste Metaphysik und das bisher voll- kommenste religiöse System hervorgebracht hat. Sintemalen nun den Indern das Psychische das Primäre be- deutet, insofern ihr Realisieren in der Vorstellung biologisch äqui- valent ist dem Realisieren in der Praxis unter uns, ist es klar, daß ihnen die Erkenner, die Versteher, die weltfeindlichen Schauer und Ekstatiker als höchste Typen gelten müssen. Unter ihren Voraus- setzungen sind sie es. Und es ist nicht weiter befremdlich, daß sie verwundert aufschauen, wenn ein Europäer sie fragt, ob nicht höhere Daseinsformen denkbar seien. So bezeichnen denn die Rishis, die stillen Weisen ^us den Himalayas, nicht den höchsten Menschentypus überhaupt? Ist ein höherer denkbar? — Beide Fragen sind zu verneinen ; die erste schlechthin, die zweite, weil sie ein Mißverständnis einschließt. Daß der höchste Erkenner nicht gleichzeitig der höchste Mensch 270 Der „höchste Mensch" ein Unbegriff. überhaupt ist, geht aus den vorhergehenden Betrachtungen ein- deutig hervor; jener setzt eine Naturbasis voraus, die als solche be- schränkt, viel wertvolle Möglichkeiten ausschließt. Die Frage aber, ob ein höherer denkbar sei, schließt ein Mißverständnis ein, inso- fern sie der Voraussetzung entspringt, es könne einen absolut höch- sten geben. Es gibt keinen solchen, kann ihn nicht geben, weil jeder bestimmte Typus an Grenzen gebunden ist, die ihn vom Stand- punkte der Universalität entwerten. Keine Beschränkung ist ein Vorzug, kein Trieb sollte erstickt werden; der absolut höchste Mensch wäre der, welcher sämtliche Potenzen des Menschen- tums in sich zu vollendeter Verkörperung brächte; und das kann nicht gelingen, weil jede verwirklichte Möglichkeit viele andere aufhebt oder ausschließt. Alle konkretisierbaren Ideale stehen in Wechselbeziehung zu einer bestimmten Naturbasis ; so lassen sich vollendete Engländer oder Franzosen, vollendete Weisen, Heilige, Könige, Künstler denken, aber keine vollendeten Menschen schlecht- hin. „Der vollendete Mensch", als Typus gedacht, ist ein Unbegriff. Daß die Menschheit dies so lange nicht begriff, hat ihr unberechen- baren Schaden zugefügt. Wie teuer ist uns die Nachfolge Christi zu stehen gekommen ! Auch er bezeichnet nur die Vollendung eines bestimmten Typus (der freilich gewechselt hat, je nach der Vor- stellung, die man sich von Jesus machte), und dessen Hypostasierung zum allgemeingültigen Menschheitsideal hat Millionen schönster Anlagen an der Entfaltung verhindert. Daher die in so vielen Hinsichten niedrigere Kulturstufe der christlichen Menschheit gegenüber der antiken, daher gewisse auf Verdrängungen zurück- gehende unreinliche Züge, die den Christen überall noch heute von allen Andersgläubigen unvorteilhaft auszeichnen. Die indische Weltanschauung hat freilich in der Theorie diesen Gefahren vor- gebeugt; aber eben, wie wir sahen, nur in der Theorie. In der Praxis hat die Idealisierung der entsagenden Erkenner den Tätern die Kraft gelähmt, alle äußere Lebensgestaltung entmutigt, den Tonus des ganzen Daseins herabgestimmt. Immerhin ist die Theorie gar wundersam. Sie lehrt einerseits, daß jeder Typus sein besonderes Dharma habe und nur diesem nachstreben soll, andererseits aber statuiert sie eine normale Folge: aus dem Dharma des Qudra er- stehe das des Vaicja, aus dem des Vaicja das des Kschattrya, aus dem des Kschattrya das Dharma des Brahmanä und wer dieses voll- kommen erfüllt, verkörpere den höchstdenkbaren Menschentypus. Kein Zustand ideal; die Menschheitssymphonie. 27 1 Sie statuiert also wohl den Zustand des Rishi als höchstes Mensch- heitsideal, lehrt aber andrerseits, daß dieser Zustand nur einer be- bestimmten Anlage erreichbar sei, die ihrerseits vom — Alter der Seele abhänge. Das höchste Ideal ist ihr sonach das höchste nicht eigentlich im Sinn absoluter Allgemeingültigkeit, sondern in dem, daß es das letztmögliche darstelle. Damit haben die Inder in der Tat die Wahrheit erfaßt, welche wahr bleibt, auch wenn man das mythische Gerüst, das sie trägt, ganz fallen läßt. Unzweifel- haft trägt die Weisheit Alterszüge, unzweifelhaft steht sie der Jugend nicht an; unzweifelhaft läßt sie den alt erscheinen, der sie in noch so jungen Jahren gewann. Aber ebenso unzweifelhaft bezeichnet sie die Krönung des Lebens. Mehr als weise kann man nicht sein. — . Wären die Inder in der Praxis ebenso ein- sichtig gewesen wie in der Theorie, so könnte man wohl sagen, sie hätten das Lebensproblem gelöst. Aber die Voraussetzung trifft eben nicht zu. Trotz ihrer besseren Einsicht haben sie im Weisen als Typus ein allgemeingültiges Vorbild gesehen. So ist es zu erklären, daß die modern-europäische Menschheit trotz ihrer Roheit, Erdbefangenheit und Seelen-Blindheit, ja wegen ihrer materialistischen Ideale, die eben die echten Ideale ihrer Natur- stufe sind, im ganzen auf einer menschlich-höheren Stufe steht, als die von Indien. Es ist ein Aberglaube — vielleicht der Aberglaube, welchen abzulegen heute am meisten not tut — , daß das Ideal in irgend- einem bestimmten Zustande verkörpert liegt. Kein Wesen steht vereinzelt da; vom Standpunkte des Alls ist die ganze lebendige Natur ein Zusammenhang, ist das Einzelne nie mehr als ein Ele- ment und keins ist denkbar, welches die übrigen resümierte, wie dies der Fall sein müßte, damit es allen als Vorbild gelten könnte. Jedes ist ein Organ des Lebens, nicht mehr, und daher nur vom Ganzen her zu verstehen, nur in Wechselbeziehung zu anderen, anders qualifizierten Organen in seiner Sonderart daseinsberechtigt. Aber es gibt Elemente von verschiedener Bedeutung ; auf einigen ruht viel Nachdruck, auf anderen wenig. Und auf die hin, welche viel be- deuten, ist das übrige abgestimmt. Die Typen, welche die Mensch- heit seit je als höchste verehrt hat, verkörpern die Grundtöne in der Symphonie; je richtiger sie verteilt sind, je voller und reiner sie erklingen, desto schöner die Musik. Die Heiligen und Weisen verkörpern die Grundtöne, während in den übrigen Typen nur 272 Weise und Heilige als Grundtöne. Mittel- und Obertöne inkarniert sind: dies ist der einzige Sinn, in welchem jene über den anderen stehen. Aus dieser Bestimmung ergibt sich von selbst, wie sich die einen zu den anderen ver- halten sollen. Die Obertöne sollen nicht zu Grundtönen werden wollen, aber abstimmen sollen sie sich nach ihnen: in diesem Verstand tut allen Menschen die Verehrung der Weisen und Heiligen gut. Insofern diese Grundtöne sind, ist ihr Dasein auch notwendig — notwendiger fürwahr als alles nützliche Handeln der Männer der Tat: sogar ein verhaltener, ja ein nicht ange- schlagener Grundton wirkt; ist die Musik auf ihn nur abgestimmt, so ist es gut. Deshalb schadet es nicht, daß Heilige selten sind, daß ein Christus, wie wir ihn verehren, vielleicht niemals gelebt hat; so ist es durchaus in der Ordnung, daß die verehrten Großen Metamorphosen durchmachen im Laufe der Zeit: wo die Melodie ihre Tonart ändert, muß gleiches mit den Grundtönen geschehen. Aber diese allein tun es nicht; keine Baßgeige ersetzt das Orchester; nur in diesem kommt sie selber zur Geltung. So macht der Heilige das Weltkind nicht überflüssig, sondern beide sind unmittelbar auf einander angewiesen. Von hieraus erscheint denn die alte Frage der absoluten Werte gelöst. Freilich gibt es solche, aber nur im Sinn von Grundtönen. Auf sie ist das Lebensganze bezogen; immer gelingt es, sie als das Wesentliche zu erweisen. Aber andrerseits mißlingt es je und je, von ihnen allein aus dem Leben theoretisch gerecht zu werden oder es praktisch zu gestalten. So oft das versucht ward, erschien es verdürftigt, verarmt; es war, als ob die Pastoral-Sym- phonie von lauter Kontra-Bässen aufgeführt würde. Eine purita- nische Weltauffassung hat immer nur geschädigt; wo das Mora- lische oder das Spirituelle allein als wertvoll anerkannt ward, ist dieses immer zum Nachteil der menschlichen Vollkommenheit ge- schehen. So mußte es kommen. Allerdings sind die absoluten Werte an sich selbst in den Typen des Heiligen und des Weisen verkörpert, aber für sich allein sind diese nichts; sie setzen alle anderen voraus. Drum ist es lächerlich, verfehlt, ja frevelhaft, vom Standpunkt absoluter Werte her irgendwelche Erscheinungen vernichten zu wollen, die in ihrer Art vollkommen sind: was immer sie seien, sie widerstreiten den absoluten Werten nicht; diese bedingen vielmehr jene von innen her, wie der Grundton die Diskantfolgen bedingt. So münden denn auch diese Betrach- Die indische Götterdämmerung. 273 tungen in der Erkenntnis ein, die sich so oft schon als letztes Wort erwies: Vollendung, spezifische Vollendung ist das eine, einzige Ideal, welches jedem gemäß ist. Ob einer zum Grund- oder zum Oberton geboren ward, ist Gottes Sache; die seine ist, rein zu erklingen. Nun ist klar, inwiefern Buddha und Christus nicht allein, son- dern auch die großen indischen Erkenner, die Rishis, doch als all- gemeingültige Vorbilder gelten dürfen : nicht als Typen, sondern als Vollendete. Als Typen bezeichnen sie Sondererscheinungen, nur denen als Ideale ersprießlich, die dem gleichen Typus angehören wie sie. Aber als Vollendete, als Wesen, die im Rahmen eines be- liebigen Typus ihre Möglichkeiten vollkommen erfüllt haben, können und sollen sie allen ein Beispiel sein. Heute, um Sonnenuntergang, zum Abschied von Benares, bin ich noch einmal in Sarnath gewesen, dem Ruinenkomplex, der den Ort bezeichnet, an welchem Buddha seine erste be- rühmtgewordene Predigt hielt. Mehrere Besucher aus Ceylon waren anwesend, unter diesen zwei gelbgewandige Bhikshus. Sie scharten sich um die von Acoka errichtete Stupa und hielten im kleinsten Kreis einen liturgischen Gottesdienst ab. Welcher Gegensatz mit den Riten der Hindutempel ! Wie schlicht, wie einfach, wie un- kompliziert ist die buddhistische Frömmigkeit! — Ich ließ die Stimmung von, Sarnath von meiner Seele ganz Besitz ergreifen und vergegenwärtigte mir dann alles das, was ich in Benares gesehen und erlebt. Ja, der Buddhismus kann dem wohl eine frohe Botschaft sein, dessen Seele müde geworden ist des Reichtums und der Viel- fältigkeit; der sich abgehetzt fühlt nach so vielen Wiedergeburten, dem es um Weiterkommen nicht mehr zu tun ist, welcher nur noch das Ende will. Im Buddhismus geht die Sonne Indiens unter; ihm eignet der ganze Stimmungsgehalt der Dämmerstunde, die ganze Süßigkeit der Hoffnung auf baldige Ruh, die ganze Heil- kraft des liebreich gegebenen Versprechens: nun wird bald alles, alles überstanden sein. Noch hält mich die Stimmung von Sarnath. Nur Ruhe will ich heute Nacht, Ruhe um jeden Preis. Und da denke ich mir, wie wunderbar wäre es doch, wenn Buddha wahrgesprochen hätte mit seiner Behauptung, es sei möglich, für immer zu verlöschen. Keyserling, Reisetagebuch. 18 274 Das Nirwana; der Schauplatz von Buddhas Erleuchtung. Aber ist es möglich? Steckt nicht vieltausendmal mehr Hybris in dieser Vorstellung, als in der vieltausendfacher Wiedergeburt? Als Hybris faßten die Götter das Unterfangen Buddhas auf; und er wußte wohl, wie Ungeheueres er vollbracht hatte. Die ganze Schöpfung von Brahma abwärts muß ewig weiter werden, nur er, ein Menschensohn, vermochte es, aus . dem Kreislauf heraus- zutreten. . . . Das Nirwana Buddhas ist ein anderes, als das des Hindutums; diesem galt es als positivster Zustand, Buddha faßte es wesentlich als Ende auf. Er hat nichts darüber geoffenbart, was es sei, hat alle Möglichkeiten offen gelassen; aber der Nach- druck lag ihm unstreitig auf dem Ende. Dies gibt dem Buddhis- mus seinen einzigartigen Stimmungsgehalt, seine süße Sonnen- untergangsfärbung. Von allen Götterdämmerungen, die es ge- geben, ist die, zu welcher die Predigt von Benares den Anstoß gab, einer Dämmerung am ähnlichsten gewesen. BUDDHA-GAYA. An dieser heiligsten Stätte des Buddhismus weht eine wunder- same geistige Luft. Es ist nicht die Atmosphäre des Bud- dhismus als solchen, wie ich sie vorgestern erst in Sarnath gespürt; nicht die der Andacht überhaupt, wie am Ganges oder zu Rämeshväräm ; auch nicht jene Stimmung der Weihe, welche jedes große Denkmal umgibt: es ist der eigenste Geist einer Stätte, wo ein bestimmter Mensch von einzig dastehender Größe sich selbst gefunden hat. Vieles mag dazu beigetragen haben, daß er sich so mächtig und rein erhalten hat, so mächtig und rein in jedem empfänglichen Gemüte neuersteht. In erster Linie ist es gewiß die Tatsache, daß Buddha eben hier, im Schatten des Bodhibaums, der heute noch grünt, seine Erleuchtung fand — eine Erleuchtung von solcher Intensität, daß sie fort und fort in Millionen von Seelen nach-\ leuchtet. Dann stellt Buddha-Gaya eine historische Monade dar, so ausschließlich, wie nur ganz wenige Stätten dieser Welt; ich wüßte nur noch Delphi zu nennen. In einem künstlichen Tale abge- schlossen ruht das Heiligtum, eine Welt für sich, in der jedes Einzelne an die großen Tage von einst gemahnt; der Tempel, die Buddha größer als Christus; Wesen der „Gnade 41 . 275 Steinzäune, die Daghobas — alle stammen noch aus Acokas Zeiten. Endlich tragen die Pilger dazu bei, daß die verklingenden Schwingungen immer wieder aufleben. Buddha-Gaya liegt fern ab von den Reichen, in denen der Buddhismus heute blüht; nicht viele wallfahrten her. Die aber, welche den weiten Weg nicht scheuen, meinen es ernst; bloß Neugierige kommen nicht. Heute weilen einige Birmaner, ein paar Japaner und ein Dutzend Tibetaner hier; alle tief durchdrungen davon, was Gaya für die Mensch- heit bedeutet, und so vibrieren ihre Seelen in Harmonie mit den Schwingungen der Stätte selbst. Tiefster, heiligster Friede waltet hier; alle Stimmen dämpfen sich von selbst. Und die alten Bäume flüstern sich leise leise ihre großen Erinnerungen zu. Buddha-Gaya ist für mein Gefühl der heiligste Ort der ganzen Erde. Jesu Lehre war tiefer als diejenige Gautamas, aber ein so überlegener Mensch, wie der Buddha, war er nicht. Er war eine jener Sonnennaturen, wie sie hie und da von ungefähr auf der dunklen Erde erstehen, ein Sonntagskind, über das der Geist als ein reines Geschenk gekommen war, der für Menschenbegriffe nichts dafür konnte, was und wer er war. Er war wirklich ein Gott unter Menschen. Allein der geborene Gott bedeutet weniger für uns als der Mensch, der sich zur Gottheit emporrang, und ein solcher ist Buddha gewesen. Die buddhistische Legende erzählt, daß die Götter vor Buddha, dem Menschen, angebetet hätten ; und den Brahmanen erscheint sie nicht unglaubwürdig. Die Inder haben, im Gegensatz zu uns, das Verhältnis von Gnade und Verdienst immer richtig verstanden und gedeutet. Ohne Zweifel wird das Äußerste dem Menschen durch Gnade allein zuteil, aber nie doch kommt die Gnade unverdient: sie ist die notwendige Krönung des Verdienstes. Was die mystische Redeweise mit dem Erlebnis des Hereinbrechens der Gnade besagen will, ist jenes Hindurchgehen durch einen kritischen Punkt, jene scheinbare Solution de continuite, die überall in der Natur zwischen qualitativ verschiedenen Zuständen liegt. Wie nach stetiger Temperaturerhöhung das Wasser auf einmal zu Dampf verweht oder nach stetigem Sinken auf einmal zu Eis gerinnt — so folgt der Zustand der Gnade auf den des Verdienstes. Freilich braucht das „Verdienst" nicht in unserem Sinne eines zu sein; die Wege Gottes entsprechen nicht notwendig den Postulaten von Ver- nunft und Moral ; unbefangene Sünder sind dem Heil meist näher 18* 276 Christus nicht Vater des Christentums; Buddha und Augustin. als behutsame Gerechte. Aber nie doch wird die Gnade einem zuteil, der sich nicht in „seinem dunkelen Drange des rechten Weges wohl bewußt gewesen wäre", nie einem Kleinen, einem Feigen, einem Gemeinen; sie setzt eine Qualität des Willens voraus und eine innere Wahrhaftigkeit, die deren noch so unvollkommenen Besitzer über alle Tugendhaften hoch hinaushebt. Die Masse der Mensch- heit ahnt wohl, daß es einen Aufstieg gibt, aber sie weiß nicht wie und wo ihn zu beginnen. Erscheinen Sonnensöhne, gleich Jesus, an ihrem Horizont, so verehrt sie wohl, glaubt wohl auch der Verheißung, ist aber kaum ermutigt, denn der Ab- stand erscheint zu groß und der Weg zu ihnen hinan nicht deutlich. Ersteht hingegen einer aus ihrer Mitten, der, geboren ein Mensch wie alle, sich über das Menschentum dennoch hinaus- arbeitet, dann fühlt sie sich begeistert, beschwingt, und folgt ihnen hoffnungsfroh nach. So war es immer. Durch Christi Beispiel als solches wäre die westliche Menschheit nie zum Aufstieg angespornt worden ; er war zu inkommensurabel ; er ist auch nicht der Vater des Christentums. Wäre Paulus nicht aufgetreten, ein Mann, der, ein Weltkind, jedermann verständlich, zuletzt zum Heiligen er- wuchs, wir wüßten von Jesus nichts mehr. Und daß das Christen- tum zur Weltreligion ward, zu einer frohen Botschaft für den ganzen Westen, das ist das Verdienst Augustins. Diese gewaltigste aller ethischen Naturen, die der Okzident hervorgebracht, hat das mensch- liche Beispiel gegeben, dank welchem Christus erst zum Beispiel hat werden können. Sein Leben bewies, daß die Sünde nicht bloß Hemmung sondern auch Hilfe ist, daß es gerade die Schranken der Natur sind, die deren Überwindung möglich machen; daß die Unvollkommenheit eben der Stoff ist, dessen Gott bedarf, um im Menschen Gestalt zu gewinnen. So gilt sein Beispiel wirklich für jedermann. — Aber Buddha war noch größer als Augustin. Von größerem Menschentum ist er ausgegangen, tiefere und reichere Erfahrungen hat er gemacht; und eine Höhe der Überlegenheit zuletzt erreicht, wie keine andere Persönlichkeit der Geschichte. Er war so groß, daß der eine Antrieb genügt hat, um das Rad des guten Gesetzes bis heute in Bewegung zu erhalten. Der Buddhismus hat keinen Paulus gehabt und keinen Augustin. Sambuddha war ihm alles in allem. Die Schriftgelehrten wundern sich oft mit der Naivetät, die ihr Götterrecht ist, darob, woher es nur komme, daß Christus und Das Wort muß Fleisch werden; Buddhas einzige Größe. 277 Buddha so viel mehr bedeuten als alle großen Geister der Vor- und Nachwelt, wo jener doch nichts gelehrt hat, was nicht vor ihm und nach ihm auch verkündet worden wäre und dieser an Tiefe der Er- kenntnis hinter seinen Vorgängern zweifellos zurückstand: der Grund ihrer größeren Bedeutung ist der, daß das Wort in ihnen nicht Wort geblieben, sondern zu Fleisch geworden ist; das aber ist das Äußerste, was zu erreichen ist. Um weise zu erscheinen, be- darf es bloß des Schauspielertalents, um im üblichen Sinne weise zu sein, nur eines überragenden Geistes: bis daß einer zum Buddha wird, muß das Höchsterkannte zur zentralen, treibenden Kraft des ganzen Lebens geworden sein, muß es die Macht gewonnen haben, unmittelbar die Materie zu regieren. Wie leicht läßt sich Ge- dankenstoff bewegen! wie leicht zu den herrlichsten Gestalten bilden! Im gleichen Sinn das ganze Ich zu formen, so daß jeder einzelne Trieb zum Organ des Ideales wird — das setzt ein Kraft- maß voraus, das übermenschlich scheint. Wohl ist es in jedem latent vorhanden, wie denn das kleinste Molekül genügend Energie in sich beschließt, um, falls sie frei würde, ein Reich in die Luft zu sprengen. Allein der Mensch verfügt nicht über sie; erst der Übermensch kann mit ihr schalten. Der Mann, in dem eine Er- kenntnis, die an sich geringer war, als ein Vyäsa sie besessen haben mag, zum schöpferischen Wesenszentrum ward, ist mehr als alle Weisen je waren. Es ist tief bedeutsam, daß der größte aller Inder kein Yogi und kein Rishi war; daß er, nachdem er zuerst dem traditionellen Ideale nachgestrebt hatte, dieses nachher verleugnete. Er als einziger Inder hat erkannt, daß kein bestimmter Zustand, so hoch er immer sei, ein absolutes Ideal verkörpert; daß der Yogi als solcher dem Ziel nicht näher steht als die Hetäre; daß Vollendung das eine ist, was not tut. Und weil diese Erkenntnis in ihm zum Leben ward, das „Wort" zu „Fleisch", nicht als Geschenk von oben, sondern auf dem Wege natürlichen Wachstums, durch intensive Selbstkultur be- schleunigt, deswegen bezeichnet Buddha das größte Beispiel der Geschichte. In ihm erst ist die indische Grunderkenntnis ganz fruchtbar geworden, daß es von uns abhängt, ob wir Menschen bleiben oder hinauswachsen über alle Bestimmtheit durch Name und Form. Die Rishis benutzten sie zum Hinausfliegen über die Erscheinungswelt, die Yogis meist nur zur Erklimmung einer höheren Staffel in derselben. Buddha allein unter Indern hat sie 278 Buddha und der Buddhismus ; die Himalayas. richtig verstanden und für seine Person vollkommen richtig ange- wandt: daher die ungeheure Zeugungskraft seines Beispiels, das heute fruchtbarer zu werden verspricht, als es jemals war. Buddhas Lehre freilich ist nichts weniger als frei von den Bindungen von Name und Form; sie ist nur eine Ausdeutung unter anderen des indischen Grundgedankens, und von allen wirksam gewordenen vielleicht die oberflächlichste. Aber Buddha war überhaupt kein Denker. Man tut ihm Unrecht, indem man ihn nach dem Wahrheitsgehalt der buddhistischen Lehre beurteilt. Ihm bedeutete diese anderes und wesentlich mehr, als ihr Wortlaut zu ahnen gestattet und diese Bedeutung bestimmt noch heute zum großen Teil den Charakter des Buddhistentums. Die vier edlen Wahrheiten, an sich beinahe Trivialitäten, bergen einen spirituellen Kern, der durch die noch so dürftige Schale hindurchwirkt. Die buddhistische Lehre ist eben in Wahrheit nur ein Gelalle wie so vieles des Höchsten, was die Mensch- heit besitzt; ein Gelalle, das doch wieder und wieder verstanden wird und geheimnisvollerweise mehr Leben weckt als die meiste artikuliertere Weisheit. Aber der Buddhismus ist es doch nicht, der Buddhas einzigartige Größe bedingt: es ist das lebendige Bei- spiel, das er gab. So erklärt es sich, daß in dem Indien, wo sonst keine Wirklichkeit standhält, wo alle historischen Gestalten im Nu zu Träumen zerrinnen, dieser eine Mensch fortgelebt hat in Erinnerung, Wort und Bild, so wie er auf Erden gewandelt ist. Ich denke von hier aus an das zurück, was ich zu Benares über Heilige und Weise als Grundtöne niederschrieb. Eins habe ich damals auszuführen vergessen: inwiefern Buddha einen tieferen Grundton verkörpert als alle Rishis. Er tut es insofern, als das Leben tiefer liegt als die Erkenntnis. Ein zu Fleisch gewordenes Wort bedeutet mehr als dieses an sich. Deswegen steht der Heilige über dem Weisen. IN DEN HIMALAYAS. Heute früh, lange ehe die Sonne sichtbar ward, habe ich die Giganten des Himalaya ihre Strahlen auffangen sehen. Die Erde lag unsichtbar in Nacht; auf Wolkenhöhe, in un- sicherem Dämmerlicht, strichen bleiche Nebel dahin. Sie aber, hoch über allen Wolken, erglühten im Frühgruß des Tags. Das Reich der Götter. 279 Gestern, als ich anlangte, war der Himmel bedeckt, aber wieder und wieder zerriß ein scharfer Wind das graue Tuch und man be- deutete mir, daß ich auf kurze Augenblicke vielleicht des Kinchin- yonga ansichtig werden möchte. Ich suchte nach ihm, wo nach an Alpenerfahrungen gewonnenem Maßstabe ein über hundert Meilen entfernter Berggipfel zu sichten sein müßte, fand jedoch nichts ; bis ich zufällig meine Augen aufwärts wandte: dort, wo ich nur Himmelskörper vermutete, erglänzte sein Firn. . . . Noch nie bin ich gleich überwältigender Materie gegenüber gestanden. Der Himalaya ist kein Gebirgsmassiv, wie andere auch ; es ist, als hätte der ge- borstene Mond sich jählings der grünen Erde aufgepflanzt, so un- irdisch, kosmisch-groß, so außer alles Zusammenhangs mit den Gestaltungen dieses Planeten wirkt er. Weit, weit vom Punkte, da ich stehe, reicht der Blick über Berge und Täler hinaus, die Ketten aufgefaltet zum Niveau höchster Alpengipfel, die Täler ausge- schnitten schier bis zum Spiegel des Meers. Formation schichtet sich auf Formation, Flora auf Flora, Fauna auf Fauna; subtropische Vegetation geht mählich in arktische über; auf das Reich des Ele- fanten folgt das des Bären und zuletzt des Schneeleoparden. Und über diesen Welten erst beginnt der eigentliche Himavat. — Freilich muß dort, wenn irgendwo, das Reich der Götter liegen. Ich ge- denke jenes Reliefs zu Ellora, welches darstellt, wie der Riese Kailas den schlummernden Shiva zu vernichten trachtet, indem erdieHima- layas ins Wanken bringt: von der besorgten Parvati geweckt, setzt der Gott einen Fuß vom Lager herab und zerdrückt damit lässig den Titanen. — Mir scheint: hier bedarf es keiner ungeheueren Phantasie, um ungeheure Bilder zu erfinden : in dieser Natur wird das Überschwängliche von selbst. Durch Übertreibung gebildet, zwingt sie ihrerseits zum Übertreiben, und das Größte wirkt hier immer noch zu klein. Jauchzend setzt sich der Geist über alle Schranken hinweg, triumphierend übersteigt er alle Grenzen. Was war, wenn nicht mein erster, so doch mein zweiter Gedanke, als ich der Riesen ansichtig geworden war? — Daß der Geist Berge versetzen könne ! Jeder Zweifel daran kam mir lachhaft vor. So oft ein menschlich- begrenzter Gedanke mein Hirn durchzuckte, war mir, als tönte drüben vom ewigen Schnee das metallene Lachen Shivas herüber, und die bloße Scham trieb mich zum Mitlachen an In einer Natur, die solche Berge auftürmt, mag schon ein Mahäbhäratam entstehen; alle Großheit der indischen Mythe liegt 280 Das Licht Brahmas; Lösung des Welträtsels. in ihm vorgebildet. Wie gut verstehe ich heute die Bedeutung, die der Himavat für das indische Bewußtsein hat! In seinem Bereich liegt Shivas Paradies; ihm entspringt der heiligste der Ströme. In den Himalayas hausen die Munis und Rishis, und un- aufhaltsam, in endlosem Zug, streben die Weisheitsdurstigen zu ihnen hinan. In den Himalayas sind die Veden entstanden, die Upani- shads, und noch heute stammt von ihnen alle Inspiration. So ist es wohl. Noch nie habe auch ich, der Fremdling, meine Seele ähnlich beschwingt gefühlt. Mir ist, als seien tausend Genien dabei, glitzernd-scheinend wie der Firn im Morgenlicht, fröhlich lachend wie frisch-erwachte Kinder, vertraulich als kennten sie mich von je, sie aller Vorurteile zu entkleiden. Nun rufen sie: komm! und eilen mir voran in den unendlichen Raum. Kannst du nicht mit? — Ich komme schon. Aber ich kann die göttliche Freiheit nicht so leicht nehmen wie ihr. Wo ihr lacht und spielt, ist mir weihevoll zu Mut. Mich macht es schwindelig, hoch über dem zu schweben, was mich jüngst erst allseitig band. Und noch ver- stehe ich nicht, wie das nur möglich ist. — Sie lachen: was ist da zu verstehen? es ist doch selbstverständlich! — Ist das das Geheimnis? — Mir ist, als würde es auf rätselvolle Weise, in unbe- schreiblichem Sinne jählings Licht in mir; als öffneten sich mir neue nie geahnte Erkenntniswege, als verflüchtigten sich alle erdge- borenen Schranken, als machte die Menschenwelt einer neuen Platz. Nun schaue ich vordem Unsichtbares, Zusammenhänge ganz anderer Art, als ich sie früher gewahrt, und mit der Welt ringsum ver- wandele ich mich selbst. Nun erkenne ich mich als sonnenhaften Born unendlicher Kraft, rastlos gebend, rastlos ausströmend, ohne Hemmungen noch Widerstand. Kein Problem beunruhigt mich mehr, und ich kann mein Forschen von jüngst nicht mehr ver- stehen. — Das geistige Licht verlischt, ebenso plötzlich, unver- mittelt und rätselvoll. Nun treten die alten Probleme wieder hervor, nicht lösbarer erscheinend als zuvor. Aber ich ahne jetzt den Zusammenhang. Wenn das Licht Brahmas in einer Seele aufge- leuchtet ist, dann hören sie auf zu sein: das ist des Welträtsels Lösung. Als Fragen des Erdbewußtseins aber sind sie unbeant- wortbar. An sich selbst stellen sie Gleichungen dar, deren Ansatz falsch ist und die nicht aufgehen können. Der Erdbefangene verhält sich zum Wissenden wie die Ameise zum Menschen, der ihre Wege kreuzt: so instinktsicher sie ist, sie weiß sich nicht zu In jedem lebt die Ahnung des Lichts. 28 1 helfen, wo sie sich Aufgaben gegenübersieht, die von ihrer Organi- sation her transzendent erscheinen. So der Forscher, der das Welträtsel zu lösen sucht. Es ist unlösbar vom Standpunkt der Vernunft. Ihr fehlen zu viele Daten, sie kann den Zusammenhang nicht übersehen. Und der Mensch ist schlimmer noch dran als das hilflose Tier, weil er zu fragen weiß, was zu beantworten über seine Kraft geht, weil sein Bewußtsein eine unglückliche Zwischenstufe darstellt zwischen Blindheit und Allwissenheit. — Aber es liegt in ihm, sich selbst zu übersteigen, der Gott in ihm ist dem Erwachen nahe. Irgend einmal, unerwartet, unver- mittelt entzündet das Licht Brahmas sich in seinem Sinn, dieses Licht aber löscht alle Menschenprobleme aus. — Noch glimmt es nach in meiner Phantasie; noch spüre ich mein Menschentum als ein Fremdes, Lästiges; und als wäre ich einer der Genien, die mich umschwirren, möchte ich lachen über das Elend der Welt. Seht ihr denn nicht? schaut doch bloß auf! versteht! . . . Wie sollen sie verstehen? Auch ich habe ja bloß verstanden, verstehe jetzt nur mehr trübe in der Erinnerung. Und wenn ich aussprechen soll, was ich meine, so kann ichs nicht. Die beru- fenen Worte kehren um, die Gedanken fliehen. Sie können nicht fassen, was ich weiß, befürchten zersprengt zu werden. Und zwinge ich sie, so klingt meine Weisheit wie Torheit. Es gibt kein Übel .... — Freilich ist das Unsinn, nicht Sinn vom Standpunkt des Menschenbewußtsein; so scheint es wohl nutzlos, ihm davon zu sagen. Es hätte gar keinen Zweck, wenn nicht in jedem, noch so nachtumflorten, die Ahnung des Lichtes lebte, eines Lichts, das langsam, von Geburt zu Geburt, die Finsternis verzehrt. Wäre es anders, nie käme die Christenheit dazu, die paradoxale Lehre Jesu zu glauben, das Indervolk im Entsagen das Höchste zu sehen, die buddhistische Menschheit nach dem Nirwana zu streben, in welchem alles, was sonst das Leben macht, verlöschen soll . . . — Wir wissen alle mehr, als wir für wißbar halten. Dieses Wissen diktiert uns das Ideal, inspiriert unsere Sehnsucht. Als unbewußt-Wissende halten wir fest an den Paradoxien der Re- ligion, werden wir festhalten an ihnen bis zum Jüngsten Tag, an welchem das Licht Brahmas endlich zum Lichte Aller werden wird. In den Himalayas ist der Mensch der Gottheit wunderbar nahe; diese Natur, mehr als irgendeine auf Erden, weitet die Grenzen des Bewußtseins aus. Alle kleinlichen Zusammenhänge 282 Der Geist kann Berge versetzen. zerreißen, die weitesten, scheinbar äußersten, rotieren unsicher in der Luft, wie Seifenblasen, jeden Augenblick bereit, im Licht der Höchsten Sonne zu zergehen. Und in die weite Leere, die also ge- schaffen ward, strömen übermächtig die Kräfte von oben ein. — In grenzenloser Sehnsucht blicke ich auf zu den Zinnen des Himavat. Wenn ich hinan könnte in die reine Götterluft, würden dann nicht für immer die Hüllen fallen? würde ich da nicht endlich frei aufatmen, im beseligten Gefühl der Erfüllung: ich wußte es ja? Von Jahr zu Jahr stärker spüre ich in mir das Walten eines Neuen, Höheren, das krampfhaft zur Entstehung drängt. Ich fühle wie einen körperlichen Zug von unten aufwärts; noch nirgends spürte ich ihn so stark wie hier. Und dankbar möchte ich beten vor Shivas Paradies, dessen Anblick solchen Segen bringt. Jedesmal, wo mein Blick auf die Giganten vor mir fällt, kommt mir refrainartig der Spruch in den Sinn „der Geist kann Berge versetzen". Nie bin ich mir dieser Wahrheit mit solcher Selbst- verständlichkeit bewußt gewesen wie hier, wo die Materie über- mächtig scheint. Anstatt mein Freiheitsgefühl zu beeinträchtigen, steigert sie es ; wie denn alles Bewußtsein überhaupt am Wider- stand entsteht. Der Geist kann Berge versetzen. (Die übliche Fassung, welche dem Glauben solche Macht zuerkennt, ist zu eng und überdies miß- verständlich : nicht die Zuversicht als solche wirkt das Wunder, sondern der Glaube setzt den Geist in den Vollbesitz seiner Kraft.) Selbstverständlich kann er das. Es ist lächerlich, diese Wahrheit zu bezweifeln, fast so lächerlich, wie sie besonders beweisen wollen. Was tue ich denn, indem ich will, denke, handele? Ich beeinflusse als Geist den Stoff; es besteht kein Unterschied des Prinzips zwischen der banalsten Gebärde des Augenblicks und dem Wunder, daß ein Zauberer wirken mag. Meine eigene Vorstellungswelt ist Außenwelt dem „Ich" gegenüber genau so sehr, wie der fernste Stern im Weltenraum; soweit die Eigengesetze der Materie dies gestatten, genau soweit hat der Geist Macht über sie. Diese Grenze ist freilich unüberschreitbar, denn mit ihrer Aufhebung verflüchtigte sich die Natur; aber innerhalb ihrer ist nichts ihm prinzipiell unmöglich, und innerhalb ihrer liegt die Welt. Also stehe ich den Schneegipfeln des Himavat nicht wesentlich anders gegenüber, als jenem Leib, der mir nun schon über dreißig Fernwirkung ; warum Egoismus vom Übel ist. 283 Jahre zum nächstliegenden Werkzeuge dient. Sogar das trifft nur in einer Hinsicht zu, daß ich ihnen leiblich ferner stehe als mir selbst: mit meinen Augen berühre ich sie unmittelbar, in Gedanken bin ich bei ihnen, auf ihnen; denn soweit bei Gedanken überhaupt von Raum die Rede sein kann, sind sie dort, worauf sie sich heften. Es gibt keinen Punkt im Universum, dem ich nicht ebenso nahe sein könnte wie mir selbst. Ob ich es bin, hängt von der Richtung meiner Aufmerksamkeit ab; man kann buchstäblich fern von, ja außer sich sein. So ist es wohl buchstäblich wahr, was die indische Weisheit lehrt, daß die Vereinzelung letztlich vom Egoismus (Ahankara) ver- ursacht wird und mit dessen Überwindung verschwindet: strömten alle meine geistigen Energien aus, wie die Strahlen der Sonne, kehrte keine zurück, durch Interesse in meine Person zurückgebannt, dann wäre ich frei sowohl als grenzenlos. Und solches Freiwerden ist möglich, denn es besteht keine unlösbare Verknüpfung, (wie andrerseits keine, die nicht herstellbar wäre) zwischen Geist und Naturvorgängen. Dies denn wäre der Sinn jener Verdammung des Selbstinteresses, in dem alle höheren Religionen überein- stimmen: durch Selbstsucht verringert sich der Mensch. Mit jedem Gedanken, der nicht ausströmt in die Unendlichkeit, sondern zurückkehrt zum Körper, der ihn entsandte, schneidet er sich ab von seiner eigenen weiteren Wirklichkeit. Ich blicke hinaus in die herrliche Welt ringsum, als die ich mich empfinden könnte, wofern ich freier wäre von meiner Per- son. Objektiv, als Natur, hänge ich ja fest mit ihr zusammen: ich bin nur ein Kraftzentrum unter anderen im unendlichen Konti- nuum. Aber ich könnte mich eins wissen mit ihr, ihr bedingendes Zentrum sein, als bewußtes Selbst, wofern ich tief genug in meinem Wesen Wurzel faßte. Weshalb bin ich noch immer nicht so weit, wo ich doch lange schon weiß, worauf es ankommt? — Weil meine Natur noch immer undurchdrungen ist. Mein Geistbewußtsein hat sich noch immer nicht dem Körper meiner Leidenschaften einge- bildet. Diese leben ihr Eigenleben weiter, unbeirrt. Ja sie wachsen, anstatt zu verkümmern, in ihrem plutonischen Reich, und jedesmal, nachdem ein geistiger Fortschritt in mir stattgefunden hat, muß ich erkennen, daß auch sie sich gekräftigt haben. Sie aber sind blind. Sie brauchen es nicht zu bleiben. Es muß gelingen, sie auf mein Tiefstes zurückzubeziehen, ihre elementare Kraft zum willigen Werk- zeug zu gewinnen. Aber noch weiß ich nicht, wie solches sich 284 Die Mahatmas; unbewußte Zielbewußtheit. bewerkstelligen läßt; noch bin ich in dem Stadium, wo das Leben im Geist, wie bei den Indern, über die Materie hinwegschwebt . . . Es gibt wohl noch Zeiten, da ich irdisch groß sein möchte. Allein hier, in dieser grandiosen Natur, kann keine Kleinlichkeit bestehen. Indem ich hinausblicke auf die schneebedeckten Kuppen, die sich eben jetzt im Abendglanz zu röten beginnen, entbrennt namenlose Sehnsucht in mir aus den Grenzen persönlichen Daseins ganz hinaus. In diesen Bergwäldern also hausen die Mahatmas, die stillen un- erkannten Übermenschen, welche selbstlos die Geschicke der Menschheit lenken. Die sind über die Bindungen der Materie hinaus. Äußerlich uns gleich, mit einem sterblichen Körper be- haftet, geringer erscheinend als unsere Großen, was menschliche Kraftfülle betrifft, sind sie doch mehr als Menschen, weil voll- kommen frei. Sie sind gebunden nur, weil sie es selbst so wollen, brauchten weder zu sterben noch wieder zu entstehen ; wo sie hinwollen, dort sind sie gegenwärtig, worauf sie ihre Aufmerksam- keit heften, das wissen sie. Ihr Bewußtsein umfaßt die Welt ; sie springen als Geister von Stern zu Stern hinüber, so wie wir von Erinnerung zu Erinnerung. Sie wirken im Stillen, Geheimen. Nur ganz selten greifen sie sichtbar ins Geschehen ein. Aber sie bilden sich Gehilfen in der Stille, die ihre Pläne sichtbarlich fördern sollen. Wo ein strebendes Menschenkind reif erscheint zur Über- setzung in eine höhere Dimension, kommt ihm der Meister lieb- reich entgegen und weist ihm den Weg auf neuer, höherer Bahn. Ob diese Sage der Wahrheit entspricht, das weiß ich nicht ; doch es gefällt mir heute, ihr Glauben zu schenken. Indem ich einsam durch die Wälder streife, und meine Blicke weit über Ströme und Täler hin zu den Schneegipfeln und Eisfeldern hin- übersende, vergegenwärtige ich mir dieses übermenschliche Dasein und hoffe bei jeder Biegung des Wegs, ein Mahatma möchte mir begegnen. Sollte er meiner nicht ansichtig werden oder wirk- lich ablehnen, sich auf gnädigem Gedanken zu mir hinüberzu- schwingen? Ich bedürfte seiner so sehr. Gerade jetzt befinde ich mich wieder an einem Punkte, wo ich unschlüssig bin darüber, was ich weiter soll. Wohl hat mein Unbewußtes die rechte Rich- tung immer gekannt, und gewiß wird es auch heute so sein. Als Bedeutung von Beispiel und gesprochenem Wort. 285 Jüngling, als Geist noch ungeboren, habe ich, oft aller Vernunft zum Trotz, doch stetig meinem Schicksal vorgearbeitet; alle Be- tätigung habe ich abgewiesen, die meiner besten Zukunft nicht entsprach, ohne eigentliches Interesse so manches Jahr in Labora- torien experimentierend zugebracht, als ob ich mir darüber klar gewesen wäre, daß solche Schulung mir unbedingt vonnöten war, und ohne eigentliches Bewußtsein der Ursache dem Natur- studium in dem Augenblick den Rücken gekehrt, wo es aufhörte mich zu fördern. In den Perioden physischen Tiefstandes bin ich mit dem Instinkt des Wandervogels den unbekannten Breiten zu- geeilt, die mir zum Heil gereichen sollten und ebenso unbeirrbar habe ich mein Lebelang die Erfüllung der Herzenswünsche selbst vereitelt, die mein Schicksal gebrochen haben würden. Und doch hätte ich, auf mich selbst angewiesen, sogar mein heutiges, so vorläufiges Stadium nicht erreicht: an allen kritischen Punkten sind mir freundliche Menschen begegnet, die mir weiterhalfen. Es ist ein Wundersames um das geschaute Beispiel und den Einfluß des gesprochenen Worts. Man sei noch so strebsam, noch so willens- stark: das Unterbewußtsein folgt Autosuggestionen nie so gut wie von anderen erteilten; wäre es anders, so bedürfte es weder der Lehrer noch der Ärzte, weder der Schulen noch der Heilanstalten. Dies erweist sich zumal, wo es sich um einen neuen Anfang han- delt oder um einen Fortschritt von neuer Basis aus. Zum Durch- messen eines Wegs, der dem Bewußtsein klar vor Augen liegt, bedarf es keines Führers, weil es hier eben weiß und das Wissen von innen her bestimmt. Der Sünder jedoch, der noch so nahe an das Tor der Heiligung herangetreten ist, der weiß es nicht, denn sein Bewußtsein ist ja sündbefangen; die Raupe kann erst als Schmetterling empfinden, wo sie zum Schmetterling geworden ist. Aber wo der Werdende dicht vor der Krisis steht, wo er innerlich reif ist zur Erneuerung und nun außer sich ein Wesen gewahrt, das dort angelangt ist, wohin er strebt, dort erkennt er es und die Erkenntnis weckt in ihm das Unbewußte auf einmal zur Bewußtheit. Jetzt weiß er, wohin er soll und will; was sonst in langen Zeit- räumen geschähe, ereignet sich nun vielleicht in einem Augenblick. Das ist das Werk des Meisters, des Erlösers. — Mir ist, als be- fände ich mich an ähnlichem kritischen Punkt. Meine einstigen Ziele kommen mir wertlos vor; bei allem, was ich im Geist meiner Vergangenheit betreibe, spüre ich, daß ich eigentlich anderes will. 286 Übermenschentum ; Protist und Psyche. Aber was? Ich weiß es nicht. So täte mir ein Meister gar not, einer der dort steht, wohin ich strebe. Heute ist mir, als läge im Mahatmatum mein Ziel ; als sei ich reif, aus dem Menschentum auszukriechen; schon gibt es ja nichts Menschliches mehr, das mich innerlichst bände. Und so wie die Mahatmas sein sollen, müßten, könnten Übermenschen sein. Als jahveh sich dem Elias zu offenbaren versprach, erwartete dieser ihn in Form des Sturms, Er aber kam als stilles, sanftes Sausen. Welche Verblendung, sich den Übermenschen als Hebbelschen Holofernes vorzustellen! Je höher ein Wesen steht, desto gei- stiger ist es, und je geistiger, desto geringer ist seine unmittel- bare materielle Macht. Gott wirkt in das physische Geschehen gar nicht ein; Er ist nicht nachzuweisen, kaum zu erschließen. Die Mahatmas wirken nur noch indirekt. In ihrer Sphäre gilt keine der Normen, welche irdische Größe bestimmen, erscheint selbst- verständlich, was die Erlöser und Heiligen aller Länder und Zeiten gelehrt, den Menschen aber ewig paradox klingen wird: das Demut mehr ist als Stolz, Ehrgeiz vom Übel, alles Streben nach irdischem Glück ein Mißverständnis, daß nur der sein Leben ge- winnt, der es verliert. . . . Die Mahatmas heischen von dem, der ihnen nachfolgen will, Verzicht auf alles, was hienieden als er- strebenswert gilt. Natürlich. Bin ich so weit schon, verzichten zu können? Heute ist mir, als wäre ich es; als sei alle Absicht in mir schon abgestorben, alle Eitelkeit, alles Streben nach Er- höhung und Ruhm. Erschiene mir heute ein Meister und sagte mir: Komm!, ich folgte ihm blindlings. Kein Mahatma erscheint mir. Keine Stimme eines Meisters vernehme ich weder in noch außer mir. Aber wunderbar anregend wirkt in den Himalayas die Luft. Lange ist mir das Denken nicht so leicht gefallen, hat es mich so wenig Mühe gekostet, bei den Problemen, die mich just beschäftigen, zu ver- weilen. So verbringe ich jeden Tag etliche Stunden ohne merkliche Ermüdung mit Yoga-Experimenten. Während dieser fiel mir heute die Äußerung eines Biologen ein, unser Gehirn sei protoplasmatischer Natur; es sei das einzige unserer Organe, das noch in eben dem Sinne plastisch wäre, wie der Gesamtkörper des Protozoons. Das ist nicht richtig. Wie Gebilde der Psyche als materielle Erscheinungen. 287 schwierig es sei, die Struktur des Gehirnes festzustellen : es ist ein differenziertes Organ, das sich in keinem anderen Sinn verändert,, als ein Muskel, der durch Übung umgestaltet wird; nichts wesent- lich Neues entsteht in ihm. Das Eigentümliche des Protisten liegt aber darin, daß er aus gestaltloser Grundmasse je nach den Um- ständen Gestalten schafft, die früher oder später ins Amorphe zurücksinken. Der Mensch nun, dessen gesamter physischer Leib, seinen Samen ausgenommen, fest ausgestaltet ist, ist allerdings auch protoplasmaartig — nicht aber als physischer, sondern als psychi- scher Organismus. Befasse ich mich mit Protisten, so kann ich mir deren Eigenart nur durch den Vergleich mit der Psyche deut- lich machen: ihre Organe entstehen, wie beim Menschen die Ein- fälle kommen. Kehre ich den Vergleich nun um, urteile ich vom Protisten her, so sehe ich mich logisch gezwungen, zu folgern, daß der Stoff, aus dem sich die Gedanken und Anschauungen zusammen- ballen, genau den Charakter des Protoplasmas trägt. Im Zustande der Ruhe ist der Inhalt der Psyche, soweit wir uns seiner bewußt sind, amorph ; sobald die Aufmerksamkeit erwacht und sich irgend- wohin lenkt, oder sobald die Masse überhaupt in Bewegung ge- rät, entstehen Strukturen — Gedanken, Töne, Bilder usw. — die sich verflüchtigen, sobald das Bewußtsein sich umzentriert. Ich habe mir diese Gestaltungen nun als solche anzusehen versucht, was insofern nicht ganz einfach ist, als sie nur ungern weilen, und jeder Gedanke, den man sich über das Gesehene macht, seinerseits eine Gestalt bildet, die das ursprüngliche Bild überschichtet; der Schluß, zu dem ich übereinstimmend mit den Indern gelange, ist der, daß die Gebilde der Psyche wirkliche Gegenstände sind,, also Objekte, die nach den Kategorien von Kraft und Stoff begriffen werden müssen. Selbstredend gehören sie einer anderen Ordnung des Erscheinenden an, als die Gegebenheiten der äußeren Natur, aber es wäre verfehlt, ihr materielles Dasein abstreiten zu wollen, da sie doch Gegenstände der Erfahrung und als „Geist" nicht zu begreifen sind. Was hat es denn mit der Unterscheidung von Natur und Geist letzthin für eine Bewandtnis? Daß es sich um eine reale handelte, halte ich für überaus unwahrscheinlich, und zu entscheiden ist diese Frage keinesfalls; es ist unmöglich, mit den Mitteln des Verstandes in der Sphäre des Metaphysischen sichere Schlüsse zu ziehen. Sicher betrifft die Antithese von Natur und Geist nur ein epistemologisches Verhältnis, eine ratio cognoscendi. Alles Ge- 288 Sinn der Antithese von Natur und Geist. gebene, Aktuelle ist Natur, folgt deren unwandelbaren Normen. Das schöpferische Prinzip, das wir voraussetzen müssen, kommt in der Schöpfung zum Ausdruck, aber ist sie nicht. Ich bin frei, insofern als ich wollen kann, aber sobald ich gewollt habe, befinde ich mich strengstens determiniert; sobald eine Gestaltung entstanden ist, ist es aus mit der Spontaneität. So mag die Freiheit dem Körper, und Gott der Natur zugrunde liegen, aber in dieser Gott un- mittelbar am Werk sehen zu wollen, ist ebenso widersinnig, wie die Fingernägel als freien Willensentschluß zu beurteilen. Von allen Fassungen die gegenständlichste scheint mir die meinige zu sein, die das Metaphysisch-Wirkliche mit dem Begriff des Lebens identifi- ziert, denn im Leben allein sehen wir uns je und je auf den schöpfe- rischen Urgrund zurückgewiesen. Wohl mag alle Natur in diesem Sinn ursprünglich lebendig gewesen sein, mag das Sternenheer seine Entstehung einem Einfall Gottes danken — wer kann das wissen? — aber was wir tatsächlich erfahren, ist nicht der Wille Gottes, sondern ein Geschehen, das mechanischen Gesetzen folgt, also Natur; gleichermaßen folgt der fertiggestaltete Organis- mus keinen anderen als physiologischen Gesetzen, folgt das soziale Leben den toten Normen des Usus und des Rechts usf. Aus allem diesem geht hervor, daß, gleichviel in welchem Wesens- verhältnis Natur und Geist zueinander stehen mögen, der Verstand nicht umhin kann, zwischen ihnen zu scheiden, und da der Seins- grund dieser Scheidung in ihm selber liegt, sie wohin immer übertragen mag. Also bin ich berechtigt, die Gegebenheiten des Bewußtseins als Materie zu begreifen. Welcher Art diese Materie sei, kann ich nicht sagen ; ich selbst bin hier zu keinen befriedigenden Einsichten gelangt und die Behauptungen der Inder und Theosophen können vorläufig nicht nachgeprüft werden. Aber daß es tatsächlich so etwas wie einen Gedankenstoff gibt, scheint mir gewiß, und aus dieser Bestimmung, sowie aus den Mög- lichkeiten, die sie einschließt, ergeben sich nicht uninteressante Folgerungen. So scheint es, daß die Sphäre der Freiheit mit fortschreitender Entwicklung immer mehr zurückweicht. Bei den Protisten schließt sie noch den Körper ein; bei diesen erweist sich die physische Seite des Lebens noch im selben Sinn und Maße als plastisch, wie beim Menschen nur mehr die psychische. Je festere Ge- stalt die Physis annimmt, desto unfreier wird sie. Seesterne ver- Sphäre der Freiheit verringert sich im Fortschritt. 289 mögen noch die Hälfte ihres Körpers, Reptilien wenigstens die Ex- tremitäten zu regenerieren, die höheren Tiere haben von der einst unbeschränkten Phantasie des Körpers nur noch soviel übrig be- halten, daß sie meist schnell und ohne Pflege genesen. Beim er- wachsenen Menschen äußert sich die Freiheit im Körper so gut wie gar nicht mehr. — Dafür tut sich in ihm eine neue Sphäre des Wirklichen auf. Er ist als Psyche ebensosehr Protoplasma, wie als Physis nur irgendein Protist; ungestaltet an sich, doch jeder Ge- staltung fähig. Aber auch hier verläuft die Entwickelung der Festi- gung zu ; je vorgeschrittener eine Psyche ist, desto differenzierter sind ihre Organe und Gebilde, und destomehr neigt sie zur Kri- stallisation. So haben wir nicht allein Gesetze, soziale Systeme, Religionen, feste Weltanschauungen : jedes Einzelnen Geist kristalli- siert früh oder spät zu einem festen Gebilde aus, das, einmal voll- endet, keiner Veränderung mehr fähig erscheint und nur mehr wächst und den Stoff wechselt, wie der physische Körper auch. Nun aber kommt das Paradox : als der höchste Geist gilt uns nicht der, welcher die festeste Gestalt zu eigen hat, sondern umgekehrt der plastischeste ; der, welcher niemals fertig (fige) ist. Also scheint das Protoplasmatische prinzipiell doch das Höhere zu sein, obgleich dessen eigene progressive Tendenz unzweifelhaft fester Gestaltung zustrebt. Ich weiß mir diesen Tatbestand im Augenblick nur so zu deuten, daß es in der Sphäre des Lebens wohl ein Höheres, jedoch kein Höchstes gibt. Höher als das Unbestimmte steht das Be- stimmte, aber höher als dieses wiederum ein neues Unbestimmtes, das seinerseits seine Erfüllung in der Bestimmung fände usf. ad infinitum. Die Bestimmtheit ist das Maximum für einen gegebenen Augenblick, sobald dieser zur Zeit wird, nimmt das Maximum mehr und mehr den Aspekt eines Minimums an. Also läßt sich schlechter- dings keine absolute Vollkommenheit denken, es sei denn, man ver- stände unter dieser, mit Hegel, das Endprodukt eines endlosen Pro- zesses — eine bloß mathematisch reelle, empirisch imaginäre Größe. Was für praktische Konsequenzen soll man aus dieser Erkenntnis ziehen? — Ich sehe keine andere als die, welche von je mein Leit- motiv war: überall nach Vollendung zu streben, aber keine er- reichte je als Definitivum zu betrachten. Soviel in der Theorie. Praktisch liegt die Frage erheblich einfacher. Der Amöbe ist die vollendete Menschengestalt ein Unerreichbares, uns allen die Keyserling, Reisetagebuch. % 19 290 Keine Vollendung ein Definitivum ; Sinn der Evolution, Vollendung eines Buddha. Da jedermann bestimmte, begrenzte Möglichkeiten verkörpert, so gibt es auch für jeden (in einer ge- gebenen Existenz, sofern jeder deren mehrere vor sich haben sollte, was ich nicht weiß) ein absolutes Maximum. Dieses zu erreichen, soll sein Lebensziel bedeuten. Dieses Ideal hat er auch in dem Fall festzuhalten, wo er gewahr wird, daß in ihm höhere Möglichkeiten leben, als ihm ursprünglich schien, denn der Weg zu einer höheren Stufe der Vollendung führt immer über das Streben nach einer niedrigeren hin und ist anders überhaupt nicht zu finden. Dies denn ist die Wahrheit, welche der Evolutionstheorie zugrunde liegt, obgleich sowohl der indische als der darwinische Ausdruck derselben den wirklichen Verhältnissen nur unvollkommen gerecht wird: es gibt wirklich eine Stufenfolge, eine Hierarchie der Wesen, von denen jedes' unmittelbare Ideal in der nächsthöheren Stufe liegt. Wir haben nach Vollendung zu streben, wiewohl jede erreichte Voll- endung vom nächsthöheren Standpunkte gesehen als Beschränkung wirken wird. Nur eine einzige andere Möglichkeit ist noch denk- bar, von der es mir aber zweifelhaft scheint, daß Menschen sie ver- wirklichen können: unter Verzicht auf allen Ausdruck nach außen zu sich so tief zu verinnerlichen, daß man in seiner eigenen reinen Möglichkeit lebte. In dem Falle wären alle Grenzen überwunden, weil vorweggenommen. . . . Ich setze den abgebrochenen Gedankengang nach einer anderen Richtung hin fort. Wenn das innerste Prinzip des Lebens an sich jeder Gestaltung fähig ist, wovon hängt die gegebene Gestalt ab? Offenbar von den äußeren Umständen, zu welchen natürlich die Erbmasse, das Karma, die Naturanlage mitgehören. So könnte einer- seits die Evolution der Organismen weit, andrerseits das Schicksal des Einzelnen, so weit ich heute sehe, erschöpfend verstanden werden. Es treten überall die einerseits möglichen, andrerseits not- wendigen Bildungen in die Erscheinung. Denke ich nun von hier aus an jenes Proteusideal, zu dem ich mich so lange bekannt habe, so erkenne ich, daß zu dessen Verwirklichung nicht mehr als eine unbegrenzte Plastizität und die Gelegenheit, unendlich viele Um- stände auf sich einwirken zu lassen, erforderlich wäre. Ein Ge- dankenwesen könnte buchstäblich jede Gestalt annehmen; mate- rielle müssen sich immerhin an ihre Spezies und ihren Typus halten. Je mehr ich mich mit dem Problem befasse, desto mehr be- Feste Gestaltungen durch Trägheit bedingt; Proteus tum. 291 fremdet es mich, daß Philosophen die geistigen Gestaltungen so ernst nehmen können, wo sie doch jeden Augenblick erfahren müssen, wie flüchtig diese sind, wie oberflächlich und zufällig be- gründet. Menschen kristallisieren zu Berufstypen aus, religiöse Ver- bände schaffen Nationen, die Lebensstellung prägt sich der Physis auf, gewiß. Aber woran liegt das? Doch ausschließlich an der Inertie. Hätten die Menschen ein klein wenig mehr Phantasie, so könnten alle diese Klassen nicht bestehen, oder vielmehr, sie würden be- stehen, aus Gründen der Nützlichkeit, aber nicht so bitter ernst genommen werden. Ich, für meinen Teil, kann alle noch so festen Gestaltungen nicht anders beurteilen, als die Gebilde der schweifen- den Phantasie, und anstatt mich dessen zu freuen, leide ich darunter, daß viele so dauerhaft sind. Allein die meisten Menschen sehen die Lage anders an, und wahrscheinlich ist das so gut; denn sonst käme dieser Planet überhaupt zu keinem festen Inventar. Freilich, ginge es nach mir. ... Ich gestehe, daß ich in vielen, immer wiederkehrenden Stimmungen mein Vollendungsstreben als pis-aller beurteile. Unter den gegebenen Verhältnissen, bei der Unüberwind- lichkeit der Trägheit läßt sich leider nichts Besseres anstreben. Aber lieber wäre mir wohl, ich könnte ohne aufgedrängte Bestimmung dauern, und unfaßbar an mir selbst, gelegentlich, wie es sich gerade gibt, bald als Keyserling, bald als Tier oder Gott, und bald als Weltall in die Erscheinung treten. Nein, wesentlich bin ich kein Mensch ; mein Menschen- tum ist Zufall . . . oder Notwendigkeit, wie man es nimmt, aber gewiß nicht mehr. In der Luft der Himalayas, die den Geist beschwingt, wie keine, wird mir die wunderliche Tragödie meines Daseins schmerzhaft deutlich. Schon in meiner Kindheit wunderte ich mich darüber, daß ich als Person unveränderlich sei ; ich fühlte mich so wenig identisch mit „mir", wußte mich so grenzenlos wandlungsfähig, daß es mir natürlicher geschienen wäre, wenn mein Körper sich eben so verhalten hätte, wie meine Vorstellungen, die bald so, bald wieder anders aussahen, je nach meiner Stimmung. Und wie mir dann von Proteus vorgelesen wurde, da dachte ich: endlich ein Wesen, welches durchaus natürlich wirkt. So wie Proteus, müßte auch ich mich verwandeln können, denn „eigentlich" kann ich es ja. „Wesent- lich" bin ich nicht mehr Hermann Keyserling, als ein Tier oder ein 19* 292 Person mit Ich nicht identisch; Proteusideal unverwirklichbar. Baum oder irgendein anderer Mensch, und scheint es anders, so kann ich nichts dafür. Das Staunen meiner Kindheit hat mich nie verlassen ; es ist nur immer tiefer geworden. Nie, mein ganzes Leben hindurch, habe ich mich mit meiner Person identisch gefühlt, nie Persönliches als wesentlich empfunden, nie mein Selbst in Mitleidenschaft ge- zogen durch das, was ich jeweilig schien, war und tat, was ich er- litt und was mir widerfuhr. Und jahrelang habe ich darnach ge- strebt, die Fesseln bestimmten Daseins zu zersprengen, mich so darzustellen, wie ich wußte das ich war. Bald mußte ich einsehen, daß dieses so, wie ichs meinte, nicht möglich sei: der Menschen- leib ist nicht proteisch plastisch. Dann versuchte ichs mit der Psyche, aber auch sie versagte. Der Schauspieler verwandelt nicht „sich", indem er anders wird, sondern er stellt nur einen anderen dar; der Dichter verändert nur seinen Ausdruck, nicht seine Person. Ich wußte, daß dieses noch nicht das Äußerste ist, daß es möglich sein muß, sein wirkliches Dasein ebenso zu wechseln, wie der Schauspieler seine Rollen, der Poet seine imaginativen Verkörperungen; mir offenbarte mein unmittelbares Erleben, daß meine Person mit mir nicht identisch ist, daß sie mich einschränkt, daß ich viel mehr sein könnte, wenn es mir glückte, irgendwie aus ihren Grenzen auszubrechen. Ich mußte einsehen, daß dies hie- nieden unmöglich ist. Auf meinen tiefsten Herzenswunsch habe ich verzichten müssen. Dieses Schicksal hat mich zur inneren Einkehr veranlaßt. Nach- dem ich erkannt hatte, daß nicht allein der Körper versagt, daß auch die Psyche viel zu träge ist für meine Zwecke, gab ich das Streben nach außen zu auf und zog mich tiefer und tiefer in meinen Grund zurück, dort meine Freiheit zu realisieren. Und wie ich weiter erkannte, daß die innere Verwirklichung ihren äußeren Ex- ponenten an der Vollendung hat, schwor ich dem Proteusideal im Letzten ab und strebte nur darnach, mich im Rahmen meiner Natur zu vollenden. Aber noch heute ist der Kummer darob nicht abgestorben, daß ich das, was ich eigentlich will, habe aufgeben müssen. Ich bin nicht ursprünglich dazu da, mich zu vollenden im allzu engen Rahmen des Menschentums, ich bin geboren frei zu wirken in freieren Sphären. Und zu den Stunden, da mein wandern- der Glaube bei der Karma-Lehre stehen bleibt, will mich be- dünken, daß mein diesmaliges Schicksal die Sühne bedeutet für eine Periode allzu schweiferischen Dämonentums. Intellektualität als Hindernis; „Verstehen" als Bewußtseinszentrale. 293 Soviel ist gewiß: ich verfolge eine Bahn, die meiner Natur im Grunde nicht liegt; das Ziel, das ich mir gesteckt habe, zu erreichen, wird mir schwerer fallen, als irgendeinem anderen. Ein Proteus, der nach bestimmter Vollendung strebt. ... Es hat etwas Tragikomisches. Wenn ich wenigstens ein Bhakta wäre, wenn mir die inneren Hilfsmittel zur Verfügung ständen, die eine emotionell- religiöse Grundstimmung bedingt: sie fehlen mir; ich spüre keine eigentliche Begierde nach dem Heil. Oder wenn ich des Autori- tätenglaubens fähig wäre! Der Köhler hat es leicht, seine spezi- fische Vollendung zu erreichen. Er gibt sich überkommenen Vor- stellungen hin, die er kraft seines Unverstandes nicht in Frage stellt, und sind jene nur einigermaßen vernünftig, so bilden sie die Seele entsprechend aus. Ich nun bin als Mensch ein extremer Ausdruck des Typus, dem sein größter Vorzug, seine Intellektualität, die Selbstverwirklichung erschwert. Ich bin nicht fähig, auf die Dauer blind zu glauben, ich muß verstanden haben, auf daß eine geistige Wirklichkeit mir wirklich würde, geschickt, mich innerlichst zu beeinflussen; meine eigenen Triebe muß ich verstanden haben, bevor sie mich ganz erfassen können. Mein Bewußtseinszentrum ruht in der Sphäre des Verstehens im gleichen Sirin, wie beim Tier in derjenigen der Sinne, beim Weibe in der des Gefühls. Dies ver- zögert denn meine Entwickelung. Der Verstand hinkt entweder nach oder aber er greift dem Erleben vor, dieses verkürzend, und der Seele die Erfahrungen verderbend, welche sie wecken könnten. Wie lange hat es gedauert, bis daß ich über den Zustand des radi- kalen Zweiflers hinausgelangte, damit die erste Spur von Un- befangenheit gewann! In meinen Jünglingstagen war ich keiner Sache gewiß, da mein „Mensch" noch nicht erwacht und mein Er- kenntnisvermögen unausgewachsen war, und da mich die Wahr- haftigkeit verhinderte zu bekennen, was ich nicht wußte, so erschien ich charakterlos. Ich konnte mich für gar nichts entscheiden. Über dieses bittere Stadium bin ich hinaus. Aber noch weiß ich nicht annähernd so viel, wieviel ich wissen müßte, um vollkommen un- befangen zu sein. Noch einmal: wie leicht haben es innerliche Naturen von geringer Intelligenz ! Die brauchen nicht verstanden zu haben, damit das in ihrer Seele Lebendige für ihr Bewußtsein wirklich würde. Unsereiner bleibt unsicher, bis daß er weiß, und er weiß so schwer. Und das Ende ereilt ihn meist lange bevor er sich zur Erkenntnis, die seine Erlösung ist, durchgerungen hat. . . 294 Die Zeiten des Autoritätenglaubens vorüber; der Weg der Zukunft. Dieses Verhältnis stellt in meinem Fall außerordentliche An- forderungen an die Geduld, weil ich mich nicht identisch fühle mit meiner Person ; ich dulde recht eigentlich für einen anderen. Da tröstet mich denn das Bewußtsein des Pioniertums. Meine Bahn wird in der Tat mehr und mehr zur Bahn aller werden, denn der Intellektualisierungsprozeß schreitet unaufhaltsam vorwärts. Die Zeiten blinden Glaubens sind vorüber. Nicht minder die Zeiten voll- endeten Ernstnehmens bestimmter Form. Ich denke zurück an Paul Dubois Ideen über Selbsterziehung; dieser entwickelt sehr richtig, daß es eine Frage der Erkenntnis sei, ob einer das Gute oder das Böse will, dann aber löst er das praktische Problem dahin, daß man sich binden solle durch gute Gewohnheiten — einen solchen Kristallisationsprozeß in sich einleiten, daß sich ein guter und tüchtiger Bürger niederschlägt. Dieses wäre nur eine neue, Frei- denkerkreisen angepaßte Fassung des alten Mittels, den Men- schen durch Dogmen zu binden. Keiner, der die Bewußtseinslage erreicht hat, wo das lebendige Zentrum im Verstehen ruht, wird es für seine Person mehr gut heißen können; der steht wirklich „jenseits von Gut und Böse" insofern, als keine besondere Ge- staltung ihm ein Äußerstes bedeuten kann. Er strebt nach einer höheren Art Gewißtheit: nicht in der Gebundenheit, sondern in der Freiheit. Er will nicht mehr das Gute als zweckmäßige Gewohnheit wollen, sondern über alle Gewohnheit hinaus. Er. will Wurzeln fassen im Urgrund seines Wesens, das alle Bin- dungen bedingend, selbst ungebunden ist, rein erkennen ohne Vor- urteile, rein wollen ohne Absichten, rein sein ohne Daseins- bestimmtheit. Dieser höhere Zustand ist erreichbar. Nur führt er durch große Unsicherheit hindurch, durch viel Gefahren, an denen so manche scheitern mögen. Aber nie noch ward Wesentliches ohne Verlust erreicht. Das Persönlichkeitsideal ist nicht mehr das Höchste. Schon ist die Vorhut der Menschheit so weit, ein Höheres be- kennen zu müssen, wenn sie nicht verderben will. Wo der Glaube an den absoluten Wert bestimmter Gestaltungen verging, Autori- tät nicht mehr bindet, Ritual nicht mehr nützt, wo nur noch Verstandenes ganz wirklich erscheint, stehen nur mehr zwei Mög- lichkeiten offen: die eine ist die des Untergangs. Wir werden an Selbstzersetzung zugrunde gehen, wofern wir nichts Neues ent- decken, denn die alten Heilmittel wirken nicht mehr und ein Herab- steigen von einmal erklommener Naturstufe, wie sie uns immer Persönlichkeit kein Höchstes; die neue Natur stufe und ihr Ideal. 295 wieder gepredigt wird, gelingt nur als Sturz. Die andere, positive Möglichkeit — und zwar die einzige — besteht darin, daß wir die neue Naturstufe anerkennen und von ihr aus ein höheres Ideal aufstellen. Von wie wenigen sie bis heute erreicht sei — diese wenigen entscheiden; von ihrem Beispiel wird es abhängen, ob die Masse in den Abgrund stürzen wird oder fortschreiten freieren Höhen zu. Die neue Naturstufe äußert sich darin, daß der Mensch nicht mehr glauben kann, ohne zu verstehen, daß er keine zufälligen Schranken mehr anerkennt, daß er unfähig scheint, Name und Form im bisherigen Sinne ernstzunehmen. Hieraus ergibt sich das entsprechende Ideal: wir müssen vollkommen verstehen, ganz frei werden von Dogma und Vorurteil. Und eine Synthese des Menschentums realisieren oberhalb der Persönlichkeit. Eine Syn- these, in welcher der vollkommen verinnerlichte Mensch, im Geist und in der Wahrheit lebend, das Empirische nur mehr als Aus- drucksmittel nutzt. Noch einmal bin ich diese Nacht den Qipfel, welcher von allen ringsum die weiteste Aussicht bietet, hinangeritten, den Aufgang der Sonne zu sehen. Dieser verlief leider unmerk- lich, da die Nebel schon zu hoch hinangestiegen waren. Aber durch Stunden vorher war mir vergönnt, die Giganten zu schauen, die sich alabastern vom schwarzen Himmel abhoben. Während dieser Stun- den war mir Wunderbar weit zumut. Wieder einmal war mir, als hätte ich mein Ziel bereits erreicht, als wäre ich schon ausgekrochen aus der Puppe meines Menschen. Und wie ich da der Wirklichkeit gedachte, die so kläglich zurücksteht hinter dem, was sein sollte und möglich ist, da verwandelte sich meine Bitternis von jüngst auf einmal in Freude. Wie schön, dachte ich jetzt, daß ich noch nicht am Ziele bin ! So habe ich zu tun ; so hat mein Erdendasein Sinn. Und wie gut, daß meine Anlage nicht günstig ist! So werde ich Freude erleben an der getanen Arbeit. Nicht das erreichte Ziel ist es ja, sondern die bezwungene Schwierigkeit, die das Lebens- gefühl beglückend steigert. Ich will zusehen, wie weit ich komme mit dieser Person, die ich hinieden doch nie ganz überwinden werde. So allein sollte ich immer, sollte jeder das Problem seines Lebens stellen. Es ist nicht möglich, seine Anlagen zu verändern — aber wozu auch? Keine verkörpert an sich einen Wert, jede 296 Das Lebens problem ; Segen der Schwierigkeit ist nur eine Ausdrucksgelegenheit, vermittelst jeder kann das Äußerste verwirklicht werden. Und je mehr Schwierigkeit dies bietet, desto eher gelingt es. Noch nie hat jemand Größtes auf dem Gebiet vollbracht, dessen Beherrschung ihm am leichtesten fiel; nichts steht dem Genie mehr im Wege, als sein Talent. Fast nie wird ein Gerechter zum Heiligen. Äußerste Kraftanspannung lösen ungünstige Umstände am sichersten aus. So habe ich alle Ursache zur Freude. Ich will zusehen, wie weit ich komme auf meiner Bahn ; jetzt müßte es ja im Sturmschritt vorwärts gehen, weit schneller zum mindesten als dazumal, da ich nicht klar erkannte, worauf es an- kommt. Damals verlor ich viel Zeit durch Zweifel, Rück- und Seiten- blicke; ich machte mir Vorwürfe, vielen Ansprüchen nicht genügen zu können, die an mich herantraten, zumal was das Gebiet altrui- stischer Betätigung betraf. Die hätte ich mir ersparen können. Ich, als bestimmte, beschränkte Person bin ja nur ein Organ des Selbst, das mein Wesen bezeichnet; und dies Organ soll funktionieren, seiner Natur gemäß; dazu allein ist es da. Indem es sein Äußerstes leistet, noch so blind auf sein Sonderziel bedacht, handelt es besser im Sinn des Ganzen, für das Ganze, als wenn es versuchte, diesem direkt zu dienen. Zu letzterem sind andere berufen. Die Mahnung Sri Krishnas: lieber sein eigenes, noch so niedriges Dharma er- füllen, als das noch so erlauchte eines anderen, enthält die Quint- essenz aller Ethik. Das objektive Ideal, das Absolute, kann die Erscheinung nur dann vollständig durchdringen, wenn der persön- liche Mittelpunkt dieser zu jenes Brennpunkt wird. Das innerlichst- Persönliche, keiner Außenwelt zugängliche, ist gleichzeitig der Ort, der mit dem Zentrum des Alls in unmittelbarem Zusammenhange steht. Dank dem kann Gott sich durch jede Natur manifestieren, aber nur insoweit, als diese sich selbst gemäß lebt. So braucht sich keine um sich selbst zu grämen. Ich nun bin ganz besonders günstig gestellt deshalb, weil ich nun vollkommen klar erkenne, worauf es ankommt. Jetzt kann ich alles und jedes im Geist des „Einen" betreiben, so daß mir auch alles und jedes zum Heil gereichen muß. Was soll mich noch entmutigen, seitdem ich weiß? Was mich noch aufhalten? Weder Krankheit noch Unglück, weder eigenes noch fremdes Versagen, weder JTugend noch Laster. Alles im Leben dient dem Wissenden. . . . Ich habe es gut. Heute fühle ich mein Glück so intensiv, daß Keiner als Naturprodukt vorbildlich ; Vollendung das Ideal. 297 ich es ausstrahlen möchte über die ganze Menschheit. Möchte ich ihr doch zu ermutigendem Beispiel werden! Möchte sie lernen an mir, wie wenig Grund sie zum Verzagen hat! Noch immer krankt sie am Aberglauben der guten Anlage, noch immer verehrt sie in bestimm- ten Zuständen Ideale; noch immer wähnt sie, daß es vorbildliche Naturen gibt. So wird sie nicht freudig, sondern beklommen, wo sie aufschauen muß, und die Liebe nicht ausreicht, den Neid zu ersticken. Aber es gibt keine vorbildlichen Naturen, kann keine geben. Kein noch so Großer war als Natur verehrungswert. Wenn Buddha und Christus uns höchste Beispiele bedeuten, so liegt dies nicht an ihrer Anlage, sondern an dem, was sie gemacht haben aus ihr; es liegt an ihrem Wiedergeborensein im Geiste. Aber jene Größten waren von Hause aus doch so begnadet, daß es nicht leicht gelingt, über ihr Angeborenes hinwegzusehen; jeder fühlt unwill- kürlich, indem er ihrer gedenkt, seine ungünstigere Stellung. Meine Person nun ist vollendet unvorbildlich. Mein Dharma erfordert eine Existenz, die kaum jemand außer mir ersprießlich wäre, ein Abweisen der allermeisten Bindungen, die mit Recht als bildendste gelten, so daß wohl nichts von dem, was ich tue und bin, irgend- jemand ein Beispiel im Guten sein kann. Geradezu abnorm muß ich erscheinen, weil ja Proteus auf der Ebene des Menschendaseins nicht als universellere, sondern als extrem spezialisierte Erschei- nung wirken muß. Eben das macht mich zum Beispiel geschickt. Kein Mensch ist als Naturprodukt vorbildlich — es besteht keinerlei Gefahr, das irgendjemand mich zum Vorbilde nähme; aber jeder wird es in dem Fall, daß er innerhalb naturgegebener Grenzen seine äußerste Vollendung erreicht; dahin könnte ich, müßte ich kommen. Und selbst wenn ich nicht soweit gelange, wenn mich der Tod ereilt auf halbem Weg, wird, wenn Vollendungsstreben nur mein ganzes Leben be- seelte, wenn jede Leistung dieses rein zum Ausdruck bringt, und sei die Leistung an sich noch so gering, jeder Strebende von mir lernen können. Er wird sehen an mir, daß die Natur in Wahrheit keine Fessel bedeutet, sondern den Weg zur Freiheit, daß der Geist es vermag, alle Erscheinung zu transf igurieren ; daß wir wesentlich einem Geistesreiche angehören, dessen Gesetze ganz andere sind, als die der Erde, deren ganze Bedeutung eben darauf beruht, daß sie jenem zum Mittel dienen kann. Es gibt überhaupt nur geistige Bedeutung; die Bedeutung allein wiederum gibt Tatsachen Sinn. 298 Die Weltschöpfung als Spiel. , So hängt es vom Geiste ab, in dem er lebt, ob eines Menschen unzulängliche Anlage, ob sein Mißgeschick, sein Leid, und um- gekehrt sein Glück, ihm zum Heil wird oder zum Verderben. Des Abends versammeln sich die Tibetaner gern bei Fackel- schein zur Mummenschanz. Sie sind reich an Humor, wahre Meister der Pantomime und zumal wenn sie als Drachen ver- kleidet tanzen, so stilgerecht, daß jede Bewegung wie naturnot- wendig wirkt, den Geist der Kreidezeit recht eigentlich zurück- beschwörend, dann stimme ich laut mit ein in den Applaus der Menge. — Es wirkt auf mich wie das Erlebnis eines Mythos, dieses nächtliche Spiel in der Bergwelt der Himalayas. Mir kommen die indischen Sagen vom Weltanfang und Weltende in den Sinn. Spielend, heißt es, und wie zum Spiel, hat Brahma die Welt erschaffen; ohne Zwang, ohne Absicht, ohne Vorbedacht, eben wie ein Kind, das spielt. Und im Spiel wird sie einmal vergehen. Am jüngsten Tag wird Shiva einen wilden Tanz beginnen, bac- chantenhaft, jauchzend, immer frenetischer, bis schließlich das Uni- versum zertanzt ist. Wie sublim ist dieser Mythos ! Wieviel größer als der vom bedachtsamen Greis, der sich sechs Tage lang absichtsvoll abmühte und dann am siebenten so sehr mit sich zufrieden war ; der zum Schluß eine Generalabrechnung plant, bei der jeder Posten bis zum ge- ringsten durchgenommen werden soll. Da lobe ich mir Brahma, den Spieler. Wahrscheinlich spricht der indische Mythos wahr. Hat diese Welt einen Anfang, liegt eine intelligente Ursache ihr zugrunde, dann muß sie zweck- und absichtslos entstanden sein, so wie im Dichtergeist das Kunstwerk entsteht. Nur in dem Fall kann sie als Meisterwerk gelten; vom Standpunkt jedes Zwecks, der nicht sie selbst wäre, ist sie verfehlt. Hat aber Brahma gespielt, als er die Welt erschuf, dann ist die Schöpfung freilich zu loben. Wie abwechselungsreich ist das Geschehen ! Wie überraschungsvoll greift eines in das andere! Und wie so sinnvoll sind die Spielregeln erdacht! Ist der Mensch nicht im Irrtum, indem er das Leben tragisch nimmt? Wäre es nicht das Höchste, wenn auch er sich wie Brahma verhalten könnte? Denn was unterscheidet das Spiel von der Arbeit? Nicht der Ernst dieser: ich kenne nichts Ernsthafteres, Ernst und Spiel; Shakespeares Komödien. 299 als die Art, wie echte Kinder spielen. Es ist das Zweckhafte der Arbeit gegenüber dem Absichtslosen des Spiels. Nun ist das Leben an sich vollkommen zweck- und absichtslos. Es ist ein reines Aus- strömen, Wachsen, Geben, ein reines Streben nach immer vollerem Ausdruck, wobei Zweckvorstellungen und Zwecke nur hinderlich sind. Je ursprünglicher also ein Wesen, je wahrhafter, lebendiger, echter, desto mehr gleicht sein Dasein einem Spiel. So ist ein Götterdasein nur als Spiel zu denken. Ich versetze mich in den Bewußtseinszustand hinein, der ihm entspräche: was fehlte mir, wenn ich so weit wäre? Ich stände über dem Schicksal, über der Sorge, über mir, über allem was mich anginge. Wie scharf ich auch hineinblickte in die Welt, nichts Übeles könnte ich in ihr entdecken. So sah Shake- speare sie an in den Stimmungen, in der er die Komödien schuf. Die sind das Werk eines Gottes, keines Menschen; eines Wesens, für das es keine Tragik mehr gibt, dem Gesetz und Schicksal leere Worte sind, weil es nur mehr Spielregeln kennt CALCUTTA. Es war bei den Tagores, in altertümlichem Palaste. Auf seidenen Teppichen lagerten die Musikanten und trugen auf seltsamen Lauten uralte Weisen vor. Ihre Musik ließ sich weder in den Rahmen einer Melodie einspannen, noch auf bestimmte Harmonien beziehen, noch nach eindeutigem Rhythmus zergliedern ; sogar die Einzeltöne schwankten in ihren Umrissen. Dennoch stellte jedes vorgebliche Ganze eine wirkliche Einheit dar: die Einheit des Zu- stands, welcher andauert, bis er in einen andern übergeht. Die Theorie, fast möchte ich sagen : die Mythologie dieser Musik ist gar wundersam. Seit Urzeiten entsprechen bestimmte Tonfolgen be- stimmten malerischen Themen ; zu jedem Bildmotiv weiß der Kenner den korrespondierenden Rag. Und jeder Rag entspricht einer be- stimmten Jahreszeit, und darf nur zu bestimmter Stunde gespielt werden. Es gibt Rägs für jede Stunde des Tages und der Nacht. Wie gestern, dem Winterabend, auf meinen bestimmten Wunsch, 300 Bei den Tagore's; indische Musiktheorie; Programmusik. eine Hochsommermittagsweise erklingen sollte, wurden die Musiker unruhig ; sie konnten sich nicht vorstellen, wie das nur möglich sei. Es ist nicht leicht, in Worten klar zu machen, was die indische Musik bedeutet, denn mit der unsrigen hat sie wenig gemein: sie ist wesentlich eines Sinnes mit dem indischen Tanz. Keine Absicht, keine umrissene Gestaltung, kein Anfang, kein Ende; ein Wallen und Wogen des ewigfließenden Lebensstroms. Daher die gleiche Wirkung auf den Hörer: sie ermüdet nicht, könnte ewig fort- dauern, denn des Lebens wird keiner je satt. Aber was vom Nautsch mehr im allgemeinen gilt, ist in dieser Musik bis ins Feinste, Intimste durchgeführt. Nicht die Zeit überhaupt, sondern die bestimmten Zustände des Lebens erscheinen in ihr auf den Hintergrund der Ewigkeit hinausprojiziert. Die Programm-Musik Europas irrt, wo sie Qualitäten, die nicht Musik sind, in Tönen darstellen will. Für musikalische Qualitäten gibt es keine Äquivalente in anderen Sphären ; Musik kann nur un- mittelbarer Ausdruck sein. Im Tristanvorspiel scheint das Verlaufen der Wogen auf dem Sande greifbar wiedergegeben, aber nur deshalb, weil der Hörer das Ufer vor Augen hat oder weiß, was er vorstellen soll; an sich entsprächen seine Harmonien dem Waldesrauschen schwerlich schlechter. Wirklich bringt diese Musik nur eine bestimmte Zuständlichkeit zum Ausdruck, die durch kein Gegenständliches zu definieren ist. Ebensowenig würde ein Sommermittags-Räg mit Notwendigkeit die Vorstellung lähmender Hitze hervorzaubern. Aber das haben die Inder auch nie von ihm verlangt: der Sommermittagsräg soll seinem Gegenstand nur soweit entsprechen, daß er dem wirklichen Zustand, indem man ihn durch- lebt, einen steigernden Spiegel vorhält — und das vermag Musik. Ein französischer Künstler hat einmal von der indischen, welche dies mehr als jede andere kann, bemerkt: c'est la musique da corps astral. Das, gerade das ist sie (sofern es ein Astralreich gibt, das den überlieferten Vorstellungen entspricht) : eine weite, unermeß- liche Welt, in welcher Zustände die Stelle der Gegenstände einnehmen. Man erlebt nichts bestimmtes, nichts Greifbares, indem man ihr lauscht, und doch fühlt man sich aufs Intensivste leben. Man hört eben, indem man dem Wechsel der Töne folgt, in Wahrheit sich selber zu. Man fühlt wie der Abend zur Nacht und die Nacht zum Tag wird, wie auf den taufrischen Morgen der lastende Mittag folgt, und anstatt stereotype Bilder an sich vorüberziehen zu sehen, die Die indische Musik; Rägs und Räginis. 301 einem die Erfahrung so leicht verleiden, wird man sich im Spiegel der Töne der immer neuen Nuancen bewußt, mit denen das Leben auf die Reize der Welt reagiert. Wie soll einem die Zeit da lang werden? Wie soll einer es müde werden, zuzuhören? Da ich blind war, überraschte mich die Entdeckung, daß der Augenlose keine Langeweile kennt. Die Zeit, die wir sonst am Verhalten der Gegen- stände abmessen, die sich selten so schnell verändern, als wir's wünschten, wird jetzt am Wechsel der Vorstellungen abgeschätzt. Da nun die Seele unaufhaltsam produziert, rastlos Bilder auf Bilder häuft, kann kein Bewußtsein der Einförmigkeit aufkommen. Dieser Trost, den die Natur dem Erblindeten schenkt, hat die indische Musik zum Gemeingut aller gemacht, welche Ohren haben zu hören. Es gibt Variationen zu jedem Rag; diese heißen Räginis, weibliche Rägs, und solcher sind viele jedem männlichen zuge- wiesen. Deren Verhältnis zueinander prägt sich in der Musik höchst merkwürdig aus. Wohl handelt es sich zum Teil um musikalische Verwandtschaft, aber das Eigentliche des Verhältnisses der Rägs zu den Räginis erweist sich in der spezifischen Wirkung, in den besonderen Zuständen, die sie wecken. Frauen wirken nämlich anders als Männer. Die indische Musik liegt, was ihr Eigenstes betrifft, geradezu in einer anderen Dimension als die unsere. Unser Objektives existiert für sie kaum. Anschließende Töne sind nicht notwendig harmonisch verknüpft, Taktabteile fehlen, Tonart und Rhythmus wechseln immerfort; ein indisches Musikstück wäre, seinem wahren Charakter nach, in unserer Schrift nicht zu objekti- vieren. Das Objektive der indischen Musik, das einzig Bestimmende ist das, was in Europa subjektivem Ermessen überlassen bleibt: der Ausdruck, der Vortrag, der Anschlag. Sie ist reine Ursprünglich- keit, reine Subjektivität, ganz reine duree reelle, wie Bergson sagen würde, unbeeinträchtigt durch äußerliche Bindungen. Nur als Rhythmus ist sie allenfalls objektiv faßbar, wie denn der Rhythmus den Indifferenzpunkt gleichsam bezeichnet zwischen Gegen- und Zuständlichkeit. So ist diese Musik einerseits jedem verständlich, andrerseits aber nur dem seelisch Höchstgebildeten. Jedem inso- fern als jeder lebendig ist, und sie unmittelbares Leben verkörpert; nur dem Höchstgebildeten, als ihren geistigen Sinn nur der Yogi zu fassen vermag, der seine Seele kennt. Der Musikalische nimmt gegen- über dieser Kunst kaum eine Vorzugsstellung ein. Wohl aber tut es der Metaphysiken Der Metaphysiker ist ja der Mensch, der die 302 Die Musik der Inder als Spiegel ihrer Metaphysik. Ursprünglichkeit des Lebens als solche im Geiste spiegelt, und eben das tut die indische Musik. Indem er ihr lauscht, vernimmt er sein eigenstes Wissen, herrlich wiedergeboren in der Welt der Sonorität. Sie ist in der Tat nur ein anderer farbigerer Ausdruck der Indischen Weisheit. Wer sie ganz verstehen will, muß sein Selbst realisiert haben, muß wissen, daß der Einzelne nur ein flüchtiger Ton ist in der Weltensymphonie, daß alles zusammengehört, nichts losgelöst werden kann ; daß nichts Gegenständliches wesentlich mehr ist als ein Zustand, und kein Zustand mehr als ein Augenblicksbild des dunkelen, stetig dahinfließenden Lebens. Er muß wissen, daß das Sein jenseits aller Gestaltung west, die nur dessen Ausdruck oder Abglanz ist, und daß die Erlösung darin besteht, sein Bewußtsein im Sein zu verankern. — So empfanden, so begriffen die Inder, deren Gast ich war, diese Musik. Die Vortragenden glichen Eksta- tikern, die mit der Gottheit kommunizieren. Und die Hörer lauschten mit der Andacht, mit der man göttlicher Offenbarung lauscht. Es war eine denkwürdige Nacht. In den hohen Saal, von alter- tümlichen Gemälden behangen, paßten die edlen Gestalten der Tagores, mit den feinen, durchgeistigten Gesichtern, in den male- risch gefalteten Togas, prachtvoll hinein. Abenindranath, der Maler der Familie, ließ mich der Typen gedenken, die einstmals Alexan- drien geziert haben ; JRabindranath, der Poet, beeindruckte mich gar wie ein Gast aus einer höheren, geistigeren Welt. Nie vielleicht habe ich soviel vergeistigte Seelensubstanz in einem Manne ver- dichtet gesehen. . . . Und nun übersehe ich mit einem Blick die indische Lebensgestaltung, die indische Weisheit und die indische Musik. Diese Musik ist, im Vergleich zur unserigen, monoton ; oft umspannt eine lange Komposition nur wenige Töne, oft ist es eine einzige Note, die eine ganze Stimmung trägt. Das Eigentliche dieser Musik liegt anderswo ; der Dimension der reinen Intensität ; da be- darf es keiner weiten Oberfläche. — Auch die indische Metaphysik ist monoton. Sie spricht immer nur vom Einen, ohne ein Zweites, in dem Gott, Seele und Welt zusammenfließen, dem Einen, daß aller Vielheit innerstes Wesen ist. Auch sie meint ein rein Intensives, das Leben selbst, jenes letzte ganz Ungegenständliche, aus dem die Gegenstände gleich Einfällen hervorgehen. Vom Nicht-Extensiven ist in der Sprache der Extensität nur in Form des Einfachen zu reden, das Extensive als solches interessiert sie nicht. Aber das Indische Lebensgestaltung, Weisheit und Musik, 303 Eine hat keine Weisheit klarer erkannt als sie. — Und nun die Inder selbst. Auf das Wesenhafte allein bedacht, haben sie der Erscheinung wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diese hat bald vege- tationsartig gewuchert, bald kümmerlich ihr Leben gefristet, un- unterstützt vom bewußten Geist. So fehlt es der indischen Persön- lichkeit auffallend an Weite und Breite. Sie wirkt sogar im Höchst- fall als arm im Vergleich mit gleichwertigen aus dem Westen. Dafür kennt sie Modulationen in der Intensität, eine Mannigfaltigkeit in der Tiefendimension, wie keine sonst. Von aller Lyrik dieser Zeit verkörpert die Rabindranath Tagores die farbenreichste, farben- prächtigste Tiefe. IV. NACH DEM FERNEN OSTEN 20* Vorzuge von Krankheit und Rekonvaleszenz. 309 IM MEERBUSEN VON BENGALEN. "^Y Nachdem ich Monate lang nur den Geist berücksichtigt hatte, ^J griff der Körper, der diesen Zustand nicht mehr ertragen -^- konnte, zum äußersten Mittel, um seine Rechte geltend zu machen: ich erkrankte schwer; die letzten Wochen in Indien habe ich auf dem Krankenlager zugebracht. In ihrer Art war es keine un- interessante Zeit. Es ist ein eigenes Bewußtsein, sich weniger als handelnde Person denn als Schauplatz zu fühlen: als das Ge- biet, auf dem Mikroben ihre Schlachten schlagen. Und dann er- lebt man zu Zeiten physischer Schwäche psychische Umlagerungen, die mir als Abwechselung nicht unwillkommen sind. Während des Krankseins treten Züge meines Wesens hervor, die ge- wöhnlich verborgen bleiben ; der weibliche Aspekt gewinnt die Oberhand, wodurch die Welt in einem anderen, persönlich-freund- licheren Licht erscheint. Während solcher Zeiten bin ich ohne Willen, ohne Wünsche ; und gedenke meiner gewohnten, oft so ge- waltsam sich äußernden Bestrebungen mit jener leise lächelnden Sympathie, mit der die Frau dem unverständigen Ehrgeiz des Mannes zusieht. Nun bin ich Rekonvaleszent, und diesen Zustand genieße ich immer intensiv. Sonst spüre ich meinen Körper als ein Fremdes, dem Geist als unveräußerbare Materie Gegebenes, ohne inneren Zusammenhang mit mir selbst.^ Jetzt verhält sich der Geist ganz passiv, während die regenerierenden physischen Kräfte desto emsiger walten ; und das im Körper zentrierte Bewußtsein hat das be- glückende Gefühl andauernder Produktivität. So beschaffen ist wohl das Glücksgefühl des kleinen Kindes. Der Erwachsene kennt Zustände ähnlichen Behagens nur während 310 Körperliche und geistige Betätigung ; Irrtum der Yogis. körperlicher Schwäche, und in desto geringerem Grade, je mehr er Geistesmensch ist. Das theoretisch-normale psychophysische Gleich- gewicht, wo der Mittelpunkt des Bewußtseins zwischen Physis und Psyche mitteninne sitzt, so daß beide im gleichen Maß und Sinne wirklich erscheinen, ist unsereinem kein normales und kann es nicht sein. Mögen Körper- und Geistesleben noch so ver- schiedenen Dimensionen angehören — es ist eine Energie, die in beiden Sphären verausgabt wird, und wo sie in einer höchsten An- forderungen genügen soll, muß die andere entsprechend vernach- lässigt werden. Es scheint ja, als wüßten die Engländer die Lei- stungen auf beiden Gebieten zu vereinen, sie, die immer Sports- leute sowohl als Geistesarbeiter sind. In Wahrheit beweisen gerade sie die Unmöglichkeit solcher Vereinigung. Ihr geistiges Niveau ist, was die Tiefe betrifft, fast ausnahmslos niedriger als das der Deutschen, eben weil ihre Kalokagathia der Psyche einen Teil ihrer möglichen Kraft nimmt. Ja, es tut wohl, einmal rein körperlich zu existieren, nichts zu tun, sondern mit sich geschehen zu lassen. Solche Perioden be- deuten auch die natürliche Reaktion gegenüber Zeiten gesteigerter Geistigkeit. Die Yogis behaupten zwar, man dürfe nie aus- spannen : ein einziger Tag, während dessen das Ziel aus dem Auge verloren wird, bringe einen auf einen überwunden-gewähnten Stand- punkt zurück. Sicher haben sie recht damit, sofern endgültiges Hin- überschwenken in andere Welten beabsichtigt ward. Wer hingegen seine normalen Fähigkeiten nicht überwinden, sondern pflegen und steigern will, hat allen Grund, sich vor allzuviel Yoga in acht zu nehmen: denn die Vergewaltigung des Naturprozesses kann dauernde Lähmung zur Folge haben. Die Inder wären nicht so unproduktiv, wenn sie schlechtere Yogis wären, denn an Be- gabung fehlt es ihnen nicht; das ständige Fixieren des Geistes nimmt diesem seine Eigenbeweglichkeit; er arbeitet nicht mehr von selbst. Produzieren aber besteht eben darin, daß der im stillen ge- schäftige Geist sich von Zeit zu Zeit seiner Geschöpfe nach außen zu entladet. Deshalb darf der, welcher hienieden etwas leisten will, die Natur nie vergewaltigen — deren normaler Weg verläuft aber nicht geradeaus, sondern in Spiralenform. Das Alternieren verschiedener Bewußtseinslagen, der rhythmische Wechsel der Interessen ist im gleichen Sinne notwendig und heilsam, wie der Wechsel von Wachen und Schlaf. Ich habe es längst verlernt, unter Birma ; Blindheit der Inder. 3 1 1 Depressionsperioden zu leiden und mich über Zeiten der Ver- dummung zu entsetzen: ich weiß, daß zeitweilige Verdummung recht eigentlich die Vorbedingung künftiger Erleuchtung ist. RANGOON. Wie gut diese Welt kontrapunktiert ist! — Wer ermüdet ein Land verläßt, meint jedesmal, nun sei er nicht mehr aufnahmefähig ; und wird er alsdann in ein anderes hineinversetzt, so überrascht ihn die willkommene Erfahrung, daß er noch gerade so empfänglich ist wie früher — denn zu den neuen Eindrücken bedarf es anderer Organe, als er ehedem zu verwenden Gelegenheit hatte. So bedeutet Birma das fast mathematisch ge- naue Komplement zu Indien deshalb, weil hier alles für und durch die Sinne lebt. Indien ist schön, strichweise großartig; allein kein typischer Brahmane würde sich Theophile Gautier anschließen dürfen in dessen Bekenntnis : je suis de ceux pour lesquels le monde visible existe; ihm ist das Sichtbare Mäyä, Schein, oder zum mindesten nicht sehenswert. Der ungeheure Zug ins Übersinnliche, der ihn beseelt, hat ihm die Natur zum Schattenspiel verbleicht. Er weiß wenig oder nichts vom eigenen Geist der Berge, nichts vom Ur- wald, nichts vom Meer; er weiß allenfalls von Gärten zur Stunde der schwülen Träume ; und wo die Natur so übermächtig wirkt, daß er sich ihrem Eindruck nicht entziehen kann, dort transponiert er ihren Sinn ins Transzendente hinüber, wodurch der Eigen-Sinn der Erscheinung wiederum verflüchtigt wird. Solche Einstellung ist normalen Menschen nicht ^nemäß; sie rächt sich bei allen, die für das Übersinnliche nicht ausdrücklich geschaffen sind (welche letztere ein Götterrecht haben, über das Sinnliche hinwegzu- sehen), insofern sie stumpfer nicht nur erscheinen, sondern sind, als sonst unbegabtere Menschen ; da sie das Sinnliche nicht sehen wollen und dem Übersinnlichen nicht gewachsen sind, so nehmen sie gar nichts wahr. Auf den nun, der sich diese Einstellung zeitweilig angeeignet hatte, wirkt sie auf die Dauer wie ein Alp. Nicht allzuempfängliche Gemüter mögen von Indiens psychischer Arno- 312 Birma lebt ganz für die Sinne; die Birmanerin. Sphäre unbeeindruckt bleiben : auf sie wirkt die Landschaft un- mittelbar ein, sie sehen die Dinge vor sich, als ob Jahrtausende des Grübelns die Welt nicht transfiguriert hätten. Ich habe die Gegen- wart der Geister ohne Unterlaß gespürt. Auch ich vermochte die Natur in Indien nur als Mäyä zu schauen ; mir war, als sündigte ich, wenn ich sie irgendeinmal beim Worte nahm. So empfinde ich es wie eine Erlösung, daß ich mich heute in einer Welt be- finde, welche ganz für und durch die Sinne lebt. Dies ist in Birma in außerordentlichem Maße der Fall. Mehr als in Frankreich und Italien, ja mehr als im alten Griechenland, dessen Luft ja noch heute über den Trümmern weht. In Europa ist der Geist als Intellekt zu mächtig. Die Hellenen haben immerdar von ewiger Schönheit geträumt, und seither ist alle westliche Kunst im Zeichen des Ideals verblieben — sei es auch nur in dem Sinn, daß roheste Natur als Ideal verherrlicht wird. So ist die französische Sinnlichkeit im Grunde Metaphysik, denn sie ruht ganz auf geistigen Voraussetzungen: man nehme dem Franzosen seine Einbildungskraft, und seine Erotik verflöge. In Birma fehlt jeder geistige Hintergrund. Der Buddhismus, der solchen hätte schaffen können, hat tatsächlich nur einen neutralen Rahmen aufgebaut, innerhalb welches die Sinne unbefangen sich selbst leben. Der Grundton Birmas ruht auf der Birmanerin, dem un- bewußt-selbstbewußten Mädchen. Ihre Anmut beherrscht das Volks- leben, ihre Farben trägt die Natur, sie ist der gute Genius der Kunst. Wenn ich die mutwilligen Kurven an Tempeln und Pagoden betrachte, die zierlichen Holzschnitzereien, die glitzernden Säulen, so schweifen meine Gedanken unwillkürlich zu den Mädchen zu- rück, die sich scherzend unter ihnen bewegen: die Bewegtheit der Kunstformen Birmas ist eines Geists mit der Gangart der Landes- töchter, der Glasschmuck spiegelt ihr Lächeln, die Chromatik ihre eigensten Farben. Ja die furchtbaren Drachen und Schlangen auf den Firsten und Fahnenstangen scheinen keine ernstere Absicht als die zu hegen, die übermütigen Kinder hie und da inmitten ihrer Spiele zu erschrecken. In dieser Welt regiert das Mädchen sou- verän. Verständnis für sie belebt als Grundzug die freundlichen Geisenangesichter; und die Mönche scheinen nur deshalb so streng und würdig dreinzuschauen, auf daß die Jugend des Lebens Ernst nicht ganz vergesse — wie es denn gerade die Mädchen Die Schwee-Dagon-Pagode ; das goldene Zeitalter. 313 sind, die drauf bestehen, daß jeder Junge einmal, wenn auch auf noch so kurze Zeit, (wie in Deutschland Soldat), ein richtiger Mönch gewesen ist. Bis die Nacht hereinbrach, bin ich auf dem Platz vor der Schwee-Dagon-Pagode gesessen. Ich sah die Strahlen der Sonne auf dem Gold der Dächer langsam abklingen; ich sah die Mädchen, Blumen in der Hand, ihre Abendandacht verrichten und die Alten, behäbig schmauchend, dem Treiben der Jungen zuschauen. Vor mir spielten zwei Bettler auf dschunkenartigem, hölzernem Klavizymbel seltsame Weisen. Um mich schlängelten sich neugierige Krähen; bunte Hähne bekundeten durch heral- dische Stellungen ihr wesentliches Stilgefühl. Und gelegent- lich erschien ein halbverhungerter Hund, so scheußlich, so un- wahrscheinlich häßlich an Gestalt und Ausdruck, daß ich unwill- kürlich mit den hölzernen Drachen über mir verständnisinnige Blicke wechselte. Wie es Nacht ward, fuhr ich zur Stadt zurück. Ein Birmaner- haus öffnete mir gastfrei die Tür; und während die runzelige Mutter gemütlich schnarchte, rauchte und scherzte ich mit ihren vier Töchtern, ausgelassenen Kindern von bezwingender Lieblich- keit. Ihnen war meine Zunge unverständlich, ich kannte die ihre nicht. Doch verständigten wir uns gut in der allgemein-mensch- lichen Sprache des Frohsinns, deren Symbolik jedem eingeboren ist. Wie soll man es umgehen, bei einiger künstlerischen Ver- anlagung, Land und Leute von Birma zu idealisieren? Was man hier sieht und erlebt, ruft einem wieder und wieder den Mythos vom Goldenen Zeitalter ins Bewußtsein. Da- mals gab es keine Sorgen noch Bedürfnisse; alle Menschen hatten sich lieb, waren unbekannt mit Krieg und Hader; das Leben floß selig dahin wie das von Kindern im Spiegel des Erwachsenen- Bewußtseins. Gerade so scheint das Birmanerleben dahinzufließen. Dieser Zustand ist das Verdienst des Buddhismus. Dessen un- geheure Gestaltungskraft in tropischer Umwelt tritt in Birma noch eindrucksvoller als auf Ceylon an den Tag, weil hier die Kirche weit mehr Bedeutung besitzt als dort und die etwaigen Vorzüge des Bildes dem Rahmen gegenüber kaum in Betracht kommen. Der Birmaner steht als Mensch in keiner Hinsicht hoch; weder 314 Der birmanische Buddhismus. ist er tief, noch begabt, noch von echter Herzensgüte. Diese Tugenden sind bei Kindern nie ausgebildet. Sogar die Mönche, so würdig sie sich ausnehmen, können als durch den Buddhis- mus innerlich Geformte kaum betrachtet werden, wie so manche unter den Bhikshus von Ceylon: sie sind von außen her geformt, gleichwie der Durchschnitt katholischer Mönche. Die Weisheit katholischer Ordensregeln ist groß, aber sie erweist ihre Wirk- samkeit nur unter besonderen, abnorm zu nennenden Bedingungen. Der buddhistische Canon in seiner grandiosen Einfachheit ist eine Form, die fast jedem Tropenbewohner gemäß ist und ihn notwendig zur Vollendung führt. Wie dürftig und kindisch sind die Vorstellungen, die das Birmanerbewußtsein mit der Religion verknüpft ! Religion bedeutet ihm einerseits eine Lebensroutine, eine angestammte Form psycho- physischer Hygiene, und dann ein leichtes und billiges Mittel, sich für das Jenseits oder das nächste Erdendasein zu versorgen. Es genügt eine Pagode zu bauen, einen Brunnen oder ein Rasthaus zu stiften, den Armen das Überflüssige zu geben und an den reli- giösen Feiern, die unseren lustigsten Kirmessen gleichen, teilzu- nehmen, um soviel „Verdienst" aufzuhäufen, daß die Zukunft ge- sichert erscheint. Das ist eben der Typus der Religiosität, der im Volk Süd-Italiens und Spaniens vorherrscht, — vielleicht der niederste von allen denkbaren. Aber mit dieser Feststellung ist das Problem doch nicht erledigt. Darf man von oberflächlichen Kinderseelen eine tiefere Religiosität erwarten? Nein; dazu sind sie nicht selbständig genug. Ihnen kann Religion nur ein äußerer Rahmen sein, dessen Wert sich darnach ermißt, bis zu welchem Grade er sie bildet. Dies nun hat der Buddhismus in Birma in so hohem Grade vermocht, daß unter diesen unverantwortlichen Kindern tatsächlich ein dem Goldenen Zeitalter vergleichbarer Zustand herrscht; unter Voraussetzung ihrer gegebenen Naturanlagen könnten sie nicht mehr sein und nicht besser, als sie dank dem Buddhismus geworden sind. Und dieses liegt gewiß nicht an der äußeren Form an und für sich, sondern an der immanenten Tiefe des Buddhismus. Dessen Gestalt ist der unmittelbare Aus- druck seines Gehaltes, und weil dieser von wunderbarer Wahrheit ist, hat jene auch dort, wo ihr Sinn nicht verstanden wird, Wunder gewirkt. Es ist eben nicht unbedingt notwendig in Fragen des praktischen Lebens, daß einer sich der Weisheit der Regeln, die Magische Kraft unverstandener Formeln; die Tropennatur. 315 er befolgt, bewußt sei; sind sie weise, so beweisen sie ihre magische Kraft auch wo sie unverstanden bleiben. Im uralten Glauben an Zauberformeln steckt mehr Wahrheit als unsere Zeit wahrhaben will: Worten und Satzungen wohnen Tugenden inne, die sich auch demjenigen mitteilen, dessen Geist nur den Buch- staben faßt. Die Gestade des Iraouaddy sind von mehr Denkmälern der Frömmigkeit bestanden, als die des Ganges. Pagode auf Pagode schmückt die Höhen, Kloster auf Kloster, von blühenden Bäumen überschattet, von grünenden Gärten umringt, belebt die Sandflächen. Aber der Iraouaddy ist kein heiliger Strom; er ist ohne tiefere Symbolik, ohne andere als quantitative Größe. Und der Ernst birmanischer Pilger wirkt nicht ernsthafter, als der von Schul- kindern, die ohne Rücksicht auf etwaige Ermüdung alle möglichen Freuden eines Sonntagsausflugs bis zur Neige auskosten wollen. PENANG. Die Vegetation der malayischen Halbinsel beeindruckt mich, als sähe ich ihresgleichen zum erstenmal. Voll Entzücken be- trachte ich die naive Selbstsicherheit der Schößlinge, die kluge Geschmeidigkeit der Schlingpflanzen, das sanftausdauernde Werben der Blätter um einen Platz am Licht — jenes wunder- same tropische Vegetieren, das in der Stille den Eindruck größerer Bewegtheit macht, als die Unrast einer Menschenmenge. Wohl fehlen, dank der überstarken Belichtung, die Farben- und Form- nuancen, von dem die Schönheit eines Waldes im Norden abhängen würde ; nur mit Mühe gelingt es, aus dem Grün eine Einzelgestalt herauszulösen. Aber gerade deshalb lebt das ganze desto mehr; im ganzen geht alles Einzeldasein auf. Wie tausend Bächlein zusammen einen Strom ergeben, so spürt man in den Tropen die Natur als unteilbare grandiose Lebenseinheit. Diese Flora ist unwahrschein- lich reich, üppiger noch als die von Ceylon. Und schöner ist sie in- sofern, als hier hochragende Stämme wieder und wieder dieWirrsal des Dschungels durchsetzen, so daß das zügellose Wuchern der Ge- wächse als Füllung einer klaren Umrißzeichnung wirkt. Zumal das 316 Reiz des Pflanzendaseins ; Pflanze und Frau. lichte Grau der abgestorbenen Baumriesen hilft dem Auge das Grün übersehen. Hier hat der Tod gleichsam die Taktstriche einge- zeichnet in eine sonst allzu verwobene Partitur. Welch' wundersamen Zauber besitzt die Pflanzenwelt! Die stille, wie unvermeidliche Vollendung, das selbstverständlich-harmo- nische Zusammenbestehen, die bewußtlose Schönheit der Gewächse, ja ihr problemloses Dasein als solches, welches trotzdem das Lebens- problem vollkommen löst, wirkt auf mich allemal wie die Ver- sicherung, daß auch ich meinem Ziele nicht mehr fern bin. Ich selber wurzele ja tief im Pflanzenleben, so kann ich es ver- stehen ; es ist der beharrende Unterbau meiner Bewegtheit. Und je mehr ich mir dessen bewußt bin, desto geborgener fühle ich mich. Hier nun hüllen mich die freundlichen Gewächse beinahe stürmisch in ihre Wesensluft ein. Sie reden mir zu, daß ich die Gewißheit schon habe, nach der ich blind kämpfend noch immer suche, daß ich ja schon am Ziele bin, daß alles zum besten steht. — Wie sollte gerade der tätige Mann an der Pflanze nicht seine liebste Ergänzung finden? Fürst Bismarck weilte nirgends so gern wie im friedvollen Sachsenwald. Man redet von trotzigen Eichen, hehren Fichten: solche Bezeichnungen sind nicht gegenständlich. Das für uns Wesentliche an der Pflanze ist gerade, daß kein Wort noch Begriff aus dem tätigen Mannesleben auf sie übertragen werden kann. Aber dem Frauenleben ist sie vergleichbar, oder genauer gesagt: das Leben der Frau hat mit dem der Pflanze Ähnlichkeit; es ist ein gleiches Motiv, das den kämpfenden Mann zur stillen Frau und zur gleichmütigen Pflanze zieht. In beiden tritt die Modalität des Lebens zutage, die von vornherein am Ziele ist; die ist es, nach der seine rastlose Seele sich sehnt. So haben wir Männer denn auch, so lange wir zu bestimmen hatten, das Vegetative bei der Frau akzentuiert. Des aktiven energisch- tätigen Weibes bedürfen wir nicht. Dieser Planet muß wonnig gewesen sein dazumal, als die Pflanzenwelt auf ihm noch dominierte. War es nötig, daß das Leben überhaupt den schweren Gang tätigen Werdens antrat? Dem Sinne nach weiter als die Rose wird kein Übermensch jemals gelangen. Wozu die beschwerliche Spirale? Diese Frage, die ich so oft verstimmt gestellt, wenn ich von der Spitze eines endlich erstiegenen Turms auf die verflachte Landschaft niederschaute, ich stelle sie heute voll Wehmut. Ich weiß es: der Aufstieg ist Die Pflanzen als Idealwesen. 3 1 7 unser Schicksal ; ich selber würde verzweifeln, wenn ich rasten sollte. Aber wenn ich an die Aussicht zurückdenke, die sich auf den frühesten Stufen vor mir entrollte, an die Freuden, die mir das Leben damals bot, dann bedauere ich es doch, daß ich habe aufsteigen müssen. SINGAPORE Die Pflanzenwelt bestimmt so sehr den Charakter der malay- ischen Natur, daß ich für anderes kein Auge habe; immer wieder fängt mein Blick sich in den Gewächsen. Seit Ceylon habe ich mich in diese Lebensform nicht mehr versenkt, so ist mein Interesse an ihr wie neu. Wieder er- kenne ichs: wer die Pflanze vollkommen verstünde, dem ver- schlösse das Leben kein Geheimnis mehr. Und sie gibt sich einem so freundlich hin. Niemand könnte aufrichtiger sein als sie, wahr- haftiger, echter ; sie allein vielleicht von allen Wesen der Welt stellt sich ganz so dar wie sie ist. Wie wenige Menschen tun dies, es sei denn für Augenblicke! Sie mögen noch so wahr sein wollen — immer wieder tritt Unwesentliches, Zufälliges in des Bildes Vordergrund, und der Zusammenhang, welcher das Wesen aus- macht, erscheint verrückt. Noch von den höheren Tieren gilt dies; während die Pflanzen, die seligen, reinen, Verstimmungen nie unterworfen sind und immerdar den Grund ihres Wesens spiegeln. Auch phänomenologisch bieten sie nicht weniger, als beweg- lichere Wesen: die Mannigfaltigkeit ihrer Formen ist so groß, daß nur eine göttliche Phantasie sie zu bereichern wüßte. Wahr- scheinlich hat der Aufschluß der psychischen Sphäre, die dem Menschen gegenüber dem Tier so viel Spielraum hinzugewonnen hat, zu keinerlei Neubildungen geführt, deren Geist auf ihrer Ebene die Pflanzen nicht auch verwirklicht hätten. Die Flora bezeichnet, auf bestimmtbelegener Fläche, nicht nur einen voll- ständigen Ausdruck des Geistes, sondern überdies bei weitem den vollkommensten, den dieser bisher gefunden hat. Vom Standpunkt der Vollendung her betrachtet und mit einer beliebigen Blume ver- glichen, wirken die höchsten Menschen als Mißgeburten. So stellt die Flora nicht nur, sie beantwortet sämtliche Probleme, die der Menschengeist aufwerfen mag. Die Betrachtung der Gewächse hat 318 Die Flora beantwortet sämtliche Wesensprobleme. mir heute wieder einmal den empirischen Sinn der Freiheit zum Bewußtsein gebracht. Was heißt man eine freie Tat? Ein spontanes Geschehen nach streng vorgezeichnetem Gesetz. Mit wunderbarer Plastizität werden die Elementarbegriffe obiger Definition vom Pflanzenleben illustriert. Etwas Nicht-Mechanischeres, als das Auf- schießen eines Triebes in den Tropen kenne ich nicht; wenn etwas spontan genannt werden darf, dann ist es solch' triumphierender An- stieg. Dennoch treten die Gesetze der Natur nirgends eindeutiger in die Erscheinung als hier. Ich betrachte eines jener bizarren Riesen- blätter, die wie in mutwilliger Absicht verkehrt am Stengel hängen : wie gespannt ist diese Gestalt, wie vibrierend von innerem Leben I Und doch ist ihre Anlage ohne weiteres mathematisch-physikalisch zu verstehen, wäre von einem Techniker vielleicht zu entwerfen ge- wesen. — Sind wir praktisch überhaupt -in irgendeinem andern Sinne frei als die Pflanzen? Schwerlich. Was dem empirischen Freiheits- begriff zur Grundlage dient, ist die Möglichkeit der Willkür. Nun ist aber der Willkürhafte in Wahrheit der gebundenste; mag er die Welt noch so tyrannisch regieren, er ist Sklave seiner selbst, seiner Leidenschaften, der Elemente seiner Seele, nur durch das eine von der Pflanze unterschieden, daß seine Natur als solche beweglich- flüssiger ist. Auch wer sich selbst beherrscht, ist noch nicht wahr- haft frei, sondern erst der von sich freie, welchen Selbstsucht in keiner Form beschränkt; dies aber bedeutet, in der Sprache der Mystik ausgedrückt, wer vollkommen gehorsam ist gegenüber Gott, oder wissenschaftlicher gefaßt, wessen persönlicher Wille eins ist mit der überpersönlichen Macht, die ihm den Platz anwies in der Erscheinungswelt — und dies will wiederum sagen: wer gleich der Lilie mit sich geschehen läßt. Pflanze und Mensch sind beide im letzten frei; das heißt, das Leben, das sie beseelt, ist wesentlich Freiheit. Das empirische Geschehen aber hat in beiden Fällen den gleichen Sinn; es ist ein gesetzmäßiges Auswirken. Ob dieses ver- mittelst unbewußter Triebe, blinder Instinkte, persönlichen Wollens, der bewußten Einwilligung oder der Initiative in dem geschieht, was seinen Zielen nach über die Person hinausweist, bedingt keinen Wesensunterschied; das Treiben de* Pflanze, die Willkür, das Opfer des Menschen bedeuten gleiches. Könnte jene die Frage der Frei- heit stellen, sie beantwortete sie nicht anders als wir. Den Sinn des Unsterblichkeitsinstinkts hätte ich mit ge- ringerer Mühe ergründet, wenn ich, anstatt mein Selbstgefühl zu Die Flora beantwortet sämtliche Wesensprobleme. 319- anatysieren, tief ins Grüne hineingeblickt hätte. Alle Unsterblich- keitsvorstellungen sind Wucherungen des Wurzelbewußtseins, daß die Person das letzte nicht ist, daß der Sinn des Lebens tiefer liegt. Diese Wahrheit wird einem von der Flora ad oculos vordemon- striert. Die Pflanzen wissen nichts vom Individuum, wissen nur ausnahmsweise vom Sterben. Der Akzent jedes, auch des speziellsten Einzeldaseins ruht auf dem, was den Tod überdauert. Und die Schönheit? Angesichts der Gewächse springt einem ihr Sinn in die Augen. Jede Erscheinung wirkt schön, in der die vorhandenen Möglichkeiten vollendeten Ausdruck fanden; deshalb sind Pflanzen immer schön, wo nichts Äußerliches ihr Wachstum beeinträchtigt hat. Überdies aber tragen sie ein Fest- gewand, wenn die Zeit der Verewigung kommt; dann prangen sie in herrlichstem Blütenschmuck. Gelehrte haben das aus Nützlich- keitserwägungen zu erklären versucht: wie blind ist der Verstand! Die Schönheit ist überall Selbstzweck; sie ist der äußerste Ausdruck des Möglichen. Die ganze Schöpfung wird schön zur Zeit der Liebe, weil dann unendliche, überindividuelle Möglichkeiten für eine Weile im Individuellen in die Erscheinung treten, weil der Geist der Ewigkeit dann das Sterbliche verklärt. Beim Menschen bringt er die Seele zum Blühen; deren Herrlichkeit verschönt, so lange die Blüte währt, das unscheinbarste Antlitz. Bei den Pflanzen, die in der Leiblichkeit aufgehen, treibt der Geist leibliche Blüten hervor. Auch über das dunkelste, tragischeste Problem gibt einem die Anschauung der Pflanzenwelt Aufschluß: die Einseitigkeit jeder Entwicklungsrichtung. Ein Wesen ist entweder eine Monade oder ein Element; als Monade ist es dem Tode geweiht, als Ele- ment zwar unsterblich aber unpersönlich. Ein Baum ist vollendet im Blühen oder als Früchteträger, als Hochstamm oder als Schatten- spender, schnellwüchsig oder fest im Holz. Alles auf einmal kann er nicht sein. Das Äußerste, was seinem Streben offen steht, ist,, in der Folge seiner Lebensperioden nacheinander viele Vollendungs- möglichkeiten zu erfüllen: erst schnell zu wachsen, sich dann zu festigen; erst der Blüte, dann der Frucht zu leben; erst aufzu- schießen, dann sich auszubreiten. Aber wenige sind innerlich so» reich, daß sie in mehr als einem Sinn vollkommen werden können.. 320 Aus den Tropen heraus; chinesische Kunst und Natur. HONGKONG. Die Landschaft von Hongkong gemahnt an die Riviera ; ich bin aus den Tropen heraus. Die Spannung der Atmosphäre hat nachgelassen, die Sonnenstrahlen drücken nicht mehr, alle Übergänge sind sanfter geworden. Sonnenunter- und -aufgänge in den Tropen enttäuschen den, der ihnen mit hoher Erwartung ent- gegensah: einer zitternden feurigen Blase gleich steigt sie des Morgens vom Horizonte auf — und es wird Licht; wie ein schwerer Tropfen flüssigen Metalls fällt sie des Abends ins Meer zurück — und es wird Nacht; keine Farbensymphonien vor- noch nachher, es sei denn, daß dichte Wolkengebilde die Lichtbrechungs- verhältnisse gemäßigter Zonen künstlich hergestellt hätten. An starken Kontrastwirkungen können diese mit den Tropen wohl nicht wetteifern ; aber deren Möglichkeiten sind nicht reich, und starke Kontraste verschlingen alle Nuancen. So ist mir diesen Abend, wo ich vom Pik auf die Fläche des chinesischen Meers hinausblicke, als seien neue Kräfte in mir geboren: ich fasse Fein- heiten und Abstufungen in Farben und Formen auf, die mir vor wenigen Tagen ganz entgingen. Und hierzu leitet die Natur des Fernen Ostens wie keine andere an: in ihr sind die Linien von einer Reinheit und die Übergänge von einer Reinlichkeit, wie sie bei uns nur künstlerisches Abstraktionsvermögen schafft; diese Natur hat schon Gott stilisiert. Viele der reizvollsten Eigentümlich- keiten chinesischer Malerei sind in jener schon vorgebildet. Wie ich zuerst auf die abendliche See hinausblickte, da schien sie mir von langen weißen Nebelstreifen überlagert. Wie erstaunte ich, als ich bald darauf über diesen Inseln schwimmen sah ! Kein unmittel- bares Sehen hätte mich lehren können, daß die Inseln nicht im Himmel lagen ; dieser Natur gegenüber bedarf es einer gleichen Phantasie, um den perspektischen Zusammenhang zu erfassen, wie gegenüber ostasiatischen Gemälden. Schon sehe ich's: in China werde ich mich zum Augenmenschen umwandeln müssen; hier strotzt alle Erscheinung von Sinn. Mir ahnt eine Synthese von Wesen und Schein, wie sie mir noch niemals begegnet isi V. CHINA Verhalten in Ausnahmesituationen bedeutungslos. 323 CANTON. L eider trete ich meinen Aufenthalt in China unter ungünstigen Verhältnissen an : das Land steht in voller Revolution. Solche Perioden heißt man wohl „große Zeiten" und manche zehren ihr Lebenlang davon, daß sie „dabei gewesen sind": den Tieferblickenden dünken Epochen gewaltsamer politischer Um- wälzung als die uninteressantesten von allen nur möglichen. Angesichts außerordentlicher äußerer Ereignisse geraten die Aller- meisten nämlich außer Gleichgewicht; sie leben an der Oberfläche, die ihrerseits keine normale und für das Wesen nicht symbolisch ist ; ihr Eigentliches tritt gar nicht zutage. Was bedeuteten die Ge- walttaten der Terreur-Periode oder der Juli-Revolution in bezug auf die friedlichen bourgeois von Paris, die sie verübten? Nichts. Diese waren bloße Schauspieler eines Massenimpulses. Allerdings gibt es Ausnahmenaturen, echte Sturmvögel, die nur zu solchen Epochen ganz sie selbst sein können, und die sind dann hoch- interessant; aber Sturmvögel sind seltener als man denkt; bei der Mehrzahl hat das Betragen in Ausnahmesituationen nicht die mindeste symbolische Bedeutung. Fast jeder Gentleman beweist Mut im Augenblick der Gefahr, fast jede Mutter, wenn ihre Kinder bedroht sind, und speziell in Deutschland bewährt sich beinahe jeder angesichts der typischen Fährnisse, denen er von Berufs wegen ausgesetzt ist: der Kapitän beim Sinken seines Schiffs, der General in der Schlacht, der Bürgermeister, wenn eine Seuche seine Stadt befällt usw. Nur sind diese Leute als Helden nicht mehr sie selbst als sonst, sondern weniger oder gar nicht: sie han- deln nicht als Individuen, sondern als Repräsentanten; und sehr 21* 324 Revolutionen als Kinderkrankheiten. oft, nur zu oft, hat dieses typische Handeln den Sinn eines Sich- Verkriechens vor dem eigentlichen Selbst, wie die Rhetorik des Delinquenten auf dem Schafott. Wenn Napoleon bloß auf das Verhalten seiner Generäle in extremis Wert legte, so lag das daran, daß in seinem Fall alle Entscheidung in extremis fiel, und die Menschen an sich ihm gleichgültig waren; wäre ihm um deren eigentliches Sein zu tun gewesen, er hätte anders geurteilt. Frei- lich äußert sich dieses nicht notwendig im Rahmen ihres täglichen Daseins, wie Maeterlinck wahrhaben will, denn der paßt nicht notwendig zum Menschen; nur der entsprechende Rahmen kommt in Frage, dieser aber kann, par definition, kein Ausnahme- zustand sein. Zumal in China, dem Land des ewigen Friedens und der Ordnung! Diese Revolution kann ich überhaupt nicht ernst nehmen und wenn ich nicht sehr irre, so tut dies auch kein wurzelechter Chinese in dem Sinn, wie dies dem Europäer selbst- verständlich dünkt; ich habe den Eindruck, daß er sie so ansieht, wie Revolutionen überall angesehen werden sollten: als eine Krise des Organismus. Über gewisse Entwickelungsstadien kommt der Körper nicht ohne Gewaltsamkeit hinweg: er erkrankt, er fiebert, kocht auf; in diesem Sinn sind Revolutionen mitunter unvermeidlich, (wenn auch kaum die Hälfte derer, welche die neuere Geschichte verzeichnet, diesen Charakter tragen dürfte); speziell die französische entsprach ohne Zweifel einer inneren Notwendig- keit, so wenig erfreulich ihre Folgen im allgemeinen, zumal für Frankreich, sich erwiesen haben, denn auf andere Weise waren die nicht mehr lebensfähigen aber gerade dank ihrer Erstarrtheit starken Formen und Institutionen des ancien regime nicht zu brechen. Immerhin bedeutet eine noch so unvermeidliche Kinder- krankheit keine Heldentat. Ich kann schwer ein Lächeln unter- drücken, wenn ich „die Taten des Volks" verherrlichen höre. Dieses ridicule wird China sich nicht geben. Es wird Sun Yat-Sen auch nicht lange als Helden verehren, wie dies in Europa sicher geschähe, sondern ihm wohl vielleicht dankbar sein dafür, was er angestiftet, ihn im übrigen aber nicht anders beurteilen, als was er ist: als gutartigen wenn auch nicht harmlosen Ideologen. Nicht nur im Sinne der Zeit, auch in dem des Raumes stellt sich mein Anfang in China weniger günstig dar, als ich erhofft hatte: in Canton drängt sich einem die Außenseite des Lebens so übermächtig auf, daß es physisch unmöglich erscheint, durch sie Öffentliches Leben überall uninteressant. 325 hindurchzusehen. Nun ist das öffentliche Leben als solches ganz uninteressant, weil dessen Formen Ausdruck nicht der Seele, son- dern der objektiven Notwendigkeiten oder Opportunitäten des Zu- sammenlebens überhaupt sind und daher nicht nur von Volk zu Volk, sondern sogar vom Menschen zum Tiere zu dem Sinne nach kaum variieren. Man hat viel über das Fremdartige der chine- sischen Institutionen geschrieben : ich finde sie den europäischen nur zu ähnlich ; so anders sie de facto sein mögen, so wenig weichen sie in der Bedeutung von ihnen ab. In dieser Geschäfts- und Großstadt, die berühmt ist wegen ihrer Außerordentlichkeit, habe ich kaum überhaupt das Bewußtsein, mich in fremder Um- gebung zu befinden. Was könnte (um die Gegenprobe zu machen) ein chinesischer Metaphysiker in Berlin oder Frankfurt lernen? Vom Geist, der dort freilich ein anderer ist als hier, würde er im Großstadtgetriebe wenig spüren. Er würde etwas weniger Fleiß und Arbeit, sehr viel mehr Unruhe feststellen und wahrscheinlich zum Ergebnis gelangen, daß wir Europäer Menschen seien ganz gleicher Art, nur von niedrigerem Kulturniveau. Um nicht leer auszugehen, schalte ich den Metaphysiker fürs erste aus und stelle den reinen Beobachter ein. An Geschäftig- keit übertrifft Canton wohl alles, was ich gesehen; Tagediebe scheint es überhaupt keine zu geben. Und das Unheimliche dabei ist, daß alle diese Arbeitstiere heiter dreinschauen. Ich beginne zu verstehen, warum die Chinesen dem Europäer so leicht als Unmenschen vorkommen. Wer sie mit Affen vergleicht, der bedenke, worin das spezifisch Groteske des Affen besteht: dem Kontrast zwischen einem menschlich -klugen Auge und einem tierischen Gesicht, weswegen jedes extrem intelligente und zugleich lebhafte Auge der Physiognomie etwas Affenartiges gibt, sogar im Fall eines Mannes wie Kant. Die Cantonesen wirken nicht tierisch sondern unmenschlich, weil man fühlt, daß hinter diesem für unsere Begriffe menschenunwürdigen Dasein nicht rohe Natur sondern Bildung steckt. Diese Heiterkeit ist ein Kulturprodukt. . . . Woher das über die Maßen Unsympathische dieser Stadt? es will mir wahrhaftig nicht gelingen, reine Ein- drücke zu gewinnen. Am Schmutz und Gestank kann es nicht liegen, gegen welchen in China nicht mehr einzuwenden ist, als in Italien: er gehört zum spezifischen Charakter und sogar zum spezifischen Charme; die an sich recht peinlichen Ausdünstungen 326 Idealität des Geschäftsmanns ; Cantonesen und Ameisen. von Benares habe ich auf die Dauer beinahe lieb gehabt. Am spezifisch Chinesischen kann es noch weniger liegen, denn dieses scheint im Gegenteil sympathisch zu sein. Wahrscheinlich liegt es an der extrem-kommerziellen Atmosphäre. Noch nie bin ich längere Zeit unter Geschäftsleuten kleinen Stils geweilt, ohne eine Störung meines Gleichgewichts davonzutragen. Aber auch diese Erwägung entscheidet die Frage nicht. . . . Endlich hab' ichs: was mich in Canton so widerwärtig berührt, ist das Seelen- los-Maschinelle des Lebens. Die Menschen schaffen hier im tief- sten Sinne zweck- und ziellos; ihnen fehlt das vollkommen, was die Idealität des Geschäftsmanns ausmacht: das Handeln unter großen Gesichtspunkten; gleich Ameisen rackern sie sich ab. Und wenn Ameisen, die sicher nur Ameisen sind, hochintelligente Ge- sichter tragen und dabei unzweifelhaft gebildet sind, so wirkt das beängstigend. Es kann nicht wahr sein, daß in Canton das Herz Chinas schlägt, wie so häufig behauptet .wird. Canton ist nicht mehr typisch für dieses Reich, wie Marseille oder Neapel für Europa. Aber soweit typisch ist es wahrscheinlich doch, und vielleicht ist es gut, daß mir diese Seite Chinas ganz zuerst in so auf- dringlicher Form entgegengetreten ist, da ich sie sonst über dem vielen Schönen, das mir bevorsteht, übersehen hätte. Sicher steht der Chinese der Ameise näher als irgendein Mensch; sicher steht er gerade in diesem Sinne unter uns. Aber eben hier wurzelt seine unverständliche Superiorität: die ungeheure soziale Bildung der niedersten Volksschichten. Es gibt keine Arbeiterin unter Ameisen, die an Gebildetheit in ihrer Sphäre dem größten Grand-Seigneur nicht gleichkäme. Nun wäre ich doch soweit eingelebt, daß die negativen Emp- findungen, welche Canton nach wie vor in mir auslöst, mich bei der geistigen Betrachtung kaum mehr stören. Wie schön ist, trotz allem, diese Stadt! Alles Dekorative ist von einer Vollendung, wie ich es nirgends bisher gesehen. Die Gold- schmiede-, die Holz- und Elfenbeinschnitzkunst — was immer zum Kunstgewerbe gehört — steht auf unglaublich hoher Stufe; der erbärmlichste Handwerker hier scheint im höchsten Sinn Ge- schmack zu besitzen. Und wenn ich dann sehe, was für nüchterne, Langatmigkeit der chinesischen Kulturentwickelung. 327 trockene Gesellen diese wunderbaren Kleinkünstler sind, dann bin ich jedesmal dekonzertiert. Offenbar bedeutet diese ganze Kultur in bezug auf den einzelnen gar nichts mehr; alle Vollendung be- ruht auf Routine. Unwillkürlich denke ich an die fernen Zeiten zurück, wo die erstarrte Form noch von Leben vibrierte. . . . Dann aber frage ich mich, ob schöne Formen je geherrscht haben, bevor sie sich von ihrem Sinne losgelöst hatten? Florenz wird damals, als Lionardo und Michelangelo in ihm schufen, nicht ent- fernt so schön gewesen sein, wie zur Zeit ihres Niedergangs; zur Epoche, da die Form entstand, war sie eben noch nicht vor- handen. So ist das China von heute vermutlich sehenswerter als das der Tang-Dynastie. . . . Die Chinesen, die einstmals gewaltige Schöpfer waren, haben ihre Erfindungsfähigkeit offenbar eingebüßt. Um so bedeutsamer ist es, daß sie nicht entartet erscheinen — in der Sphäre der Kunst nicht mehr als in der des Lebens — wie dies zu Zeiten der Stagna- tion im Westen fast immer geschah; bei ihnen scheint vielmehr das Befolgen der Tradition dem Erfinden biologisch äquivalent. Alles Ungestaltete ist in China schon auskristallisiert, womit das Ende der Neuschöpfung, für eine Weile wenigstens, erreicht ist. Wenn aber das gleiche mit unverminderter Kraft immer wieder von neuem entsteht, dann ist das alles eher als Sterilität: es ist der Weg der Natur, welche auch durch ungeheure Zeiträume am gleichen festhält, ehe sie sich zu Neuerungen entschließt. Man muß die Kultur der Chinesen offenbar nach geologischen Epochen beur- teilen, um ihr gerecht zu werden. So wird auch ihre Neuerungs- feindlichkeit zu deuten sein: sie sind sicher nicht wesentlich neuerungsfeindlich, denn im Lauf der Geschichte hat China keine geringeren Wandlungen als Europa durchgemacht; nur hat es sich weniger dabei beeilt. Und im allgemeinen ist es kein gutes sondern ein schlechtes Zeichen, wenn einer zu viel Eile beweist. Wohl kann es bedeuten, daß er sein Ziel so hochgesteckt hat, daß er keine Minute verlieren darf, wenn er es überhaupt erreichen will; meist aber bedeutet es nur, daß er sein Ende vorausahnt. . . . 328 Die chinesische Schrift. Immer mehr frappiert mich die unerhörte Formen- und Farben- schönheit der Straßen Cantons; höchste Sinnenkultur spricht aus aller Gestaltung; kaum ein Nutzgegenstand, kaum eine Arabeske, die in der Idee nicht künstlerisch wertvoll wäre, so oft die Ausführung versagt. Nach Sonnenuntergang aber wirkt die Stadt wie eine Feerie, wie eine ungeheure Symphonie in Schwarz und Gold. Überall heben sich vom schwarzen Grunde der Nacht schöngeformte Lichtkörper ab, allenthalben leuchten feurige Ideogramme. An diesen könnte ich mich nimmer satt sehen. Sie sind der- maßen schön in der Form, daß chinesische Straßen allein dank ihren Reklame- und Ladenschildern das Auge entzücken. Wie sollte hier Schreiben und Malen nicht gleich geachtet werden? Schon der Idee nach steckt in den Hieroglyphen höchste Kunst; und um sie so darzustellen, wie dies immer verlangt wird und häufig geschieht, bedarf es der Hand eines echten Künstlers. Für eine schöne Handschrift wird von Kennern oft ebensoviel bezahlt, wie für ein Meisterwerk der Malerei. Ich gehe schwerlich fehl, wenn ich das hohe Kulturniveau der Chinesen, was die sichtbare Form betrifft, zum sehr großen Teil auf das Dasein ihres Schriftsystems zurückführe. Nicht nur leben sie alle von klein auf in einer Umgebung, die den Formensinn ausbilden muß — es bedeutet eine Lebensnotwendigkeit für sie, auf die Form genau acht zu geben. Eine chinesische Sprache im vokalen Sinn gibt es nicht; in jefler Region wird ein be- sonderer Dialekt gesprochen, der eine vom anderen oft nicht weniger verschieden, als es das englische vom deutschen ist. Nun benutzen aber alle Chinesen gleiche Schriftzeichen und können sich vermittelst ihrer noch dort verständigen, wo sie mündlich übereinander hinwegreden würden : wie sollte die Buchstabenschrift da nicht gründlich studiert werden? Ist dieses nun geschehen, dann ergeben sich weitere Vorteile von selbst. Die wesentliche Schönheit der Ideogramme bildet unwillkürlich den Geschmack, desto mehr als es für ungezogen gilt, nicht kalligraphisch schön zu schreiben, und die Notwendigkeit, eine große Anzahl solcher, deren Kennzeichen oft in winzigen Details besteht, augenblicklich von- einander zu unterscheiden, schärft Auge und Blick. Die Unfähigkeit gebildeter Chinesen, etwas Häßliches hervorzubringen, und der Ausdrucksfähigkeit der chinesischen Schrift. 329 unerreicht hohe Formensinn, welchen die Masse in China besitzt, sind ohne Zweifel die unmittelbare Folge der Herrschaft dieses Schriftsystems. Aber dessen Vorzüge sind mit den aufgezählten nicht er« schöpft; ich bewundere es vor allem um seiner geistigen Be- deutung willen. Ein Gedanke kann innerhalb seiner meist nur symbolisch ausgedrückt werden, nicht gegenständlich oder an und für sich; es wird ein Beziehungssymbol hingemalt, aus dessen Zusammenhang mit an- oder nebenstehenden sich der Sinn des Gemeinten ergibt. Unter solchen Umständen ist es erstens un- möglich zu lesen, ohne dabei zu denken; hierher rührt das überraschende Kombinationsvermögen noch so niedriggestellter Chinesen, die aber des Lesens und Schreibens noch mächtig sind. Dann aber läßt sich vermittelst der Ideogramme viel mehr sagen, als mit artikulierteren Ausdrucksmitteln. Nur Leute, die nie einen tiefen Gedanken gefaßt haben, behaupten, was man meint, das wisse man unter allen Umständen zu bestimmen; die Sprache gibt es nicht, die das Wunder ermöglichte; jede Epoche hat ihre spezifischen Schranken, aus welchen kein Genius ausbrechen' kann, außerdem aber jede besondere Sprache an und für sich. Und daß je eine erfunden werden sollte, in welcher sich alles wird gegenständlich aussprechen lassen, scheint desto unwahr- scheinlicher, als die Entwickelungstendenz aller der Expliziert- heit und damit der Verarmung zustrebt; im Französischen läßt sich nicht ebensoviel sagen wie im Deutschen, im modernen Englisch nicht so viel als in dem des elisabethanischen Zeit- alters. Soviel gilt schon davon, was sich, prinzipiell gesprochen, explizieren läßt: was aber von dem, was über alle möglichen Ausdrucksformen hinausgeht, und doch das Wirklichste vom Wirklichen ist — den Objekten des metaphysischen Sinnens und des innerlichst-religiösen Erlebens? die sind in unseren Sprachen schlechterdings nicht darstellbar. Aber sie sind es in der chinesischen Schrift. Es ist möglich, Beziehungssymbole auf die Weise nebeneinanderzustellen, daß sie das Unendliche sowohl ein- schließen als qualifizieren, wie ein offener Winkel den unend- lichen Raum definiert. Wo ein „Wissender" diese Zeichen vor sich sieht, weiß er sofort was gemeint ist und erfährt, wo er es nicht vordem wußte, mehr, als die längste Auseinandersetzung ihn lehren könnte. Ein Beispiel. Der ganze Konfuzianismus ist in drei (im 330 Der Dreiklang des Konfuzianismus ; suggestive Ausdrucksweise. 7 M^ Zusammenhang zu lesenden) Symbolen darstellbar, wovon das erste sich konzentrieren, sich anstrengen bedeutet, das zweite Mittelpunkt, und das dritte Harmonie nach außen zu. Damit ist wirklich alles ausgesprochen, was in den vier Büchern enthalten ist, außer dem aber das, was dem Konfuzianismus in der Idee zugrunde liegt, dessen Begründer aber wahrscheinlich gar nicht gewußt hat. Was, in der *- ^ Tat, vermöchte ein Sterblicher mehr, als sich voll- / XJuf kommen zu verinnerlichen durch äußerste An- f Spannung seiner Seelenkräfte, und die erreichte /* ^ Verinnerlichung in der Harmonie der äußeren Er- ^^^" scheinung auszuprägen? Das ist nicht nur die Essenz des Konfuzianismus, das ist mehr, als Kon- fuzius je geahnt hat, das höchste Ideal menschlichen Strebens überhaupt. O, wenn ich doch chinesisch zu schreiben verstünde! gern gäbe ich dann alle anderen Ausdrucksmittel preis. Nachdem alle Worte verweht sind, werden selige Geister in Fragmenten chinesischer Graphik noch die Wahrheit von Angesicht schauen Die chinesische Ausdrucksweise ist nicht gegenständlich son- dern suggestiv, setzt also einen sympathetischen Hörer oder Leser voraus, wie die uneigentliche Ausdrucksweise von Frauen. Das ist in vielen Hinsichten ein Übelstand: nicht allein, daß er praktische Abmachungen erschwert — ohne Zweifel ist es weniger, anzudeuten als deutlich auszusprechen was man meint; unsere auf suggestive Wirkungen hinzielenden Dichter und Schrift- steller stehen denn auch nicht über sondern unter den expliziten, so Stephane Mallarme unter Beaudelaire. Besonders äußert sich dieser Übelstand in der Philosophie, deren eigentliche Aufgabe es ist, das deutlich zu machen, was alle vielleicht undeut- lich ahnen. Dementsprechend sind wissenschaftliche Erkenntnisse in der chinesischen Schrift nur unvollkommen darstellbar. . Dennoch wäre es verfehlt, dieser die Vorwürfe zu machen, welche die weib- liche Ausdrucksweise Mallarmes verdient, denn die Ideogramme sind ein Ausdrucksmittel anderer Art als die Worte oder unsere Schrift: sie sind mathematischen Formeln vergleichbar. Solche mag der unzulänglich nennen, welcher töricht genug ist, zu ver- langen, daß sie jedes bestimmte Ergebnis, dessen Gesetz sie be- stimmen, an sich definierten: in Wahrheit sind sie genauer, als irgendeine sprachliche Fassung sein könnte, und umfassen über- dies sehr viel mehr. Eben das gilt, sofern man sie zu lesen ver- Algebraischer Charakter der chinesischen Schrift. 33 1 steht, von den chinesischen Formulierungen. Allerdings bestimmen sie nicht unmittelbar, aber sie definieren das Mögliche so scharf, daß sich aus dem Zusammenhang mit anderen Möglichkeiten das Wirkliche eindeutig ergibt. So steht die chinesische Schriftsprache für viele Zwecke nicht unter sondern über der unseren, eben weil sie, gleich der Mathematik, Verhältnisse unmittelbar zum Ausdruck bringen kann, die aller sprachlichen Fassung entrinnen. Welcher „Sinn" steht denn vereinzelt da? Tausend Ober- und Untertöne klingen mit, die wir abtöten müssen, wenn wir klar sein wollen; die chinesische Schrift bleibt eindeutig, obgleich sie keinen Oberton dämpft. Dabei nimmt sie dem Wirklichen nichts von dessen Farbigkeit, wie dies das Verhängnis mathematischer Formeln ist. Alle Aussprüche chinesischer Weisen sind ausgezeichnet durch einen gewissen Zug zur Paradoxie. Das ist insofern wohl selbst- verständlich, als alle Wahrheit dem Nicht-Wissenden paradox er- scheinen muß und zumal abliegende nur in starker Kontra- punktierung darzustellen sind — aber es ist doch zugleich höchst merkwürdig wegen der Art der Paradoxie: sie ist humoristisch gefärbt; ich wüßte keinen Anspruch chinesischer Weisheit, über den ich in gewissen Stimmungen nicht herzlich lachen könnte. Woran liegt das? Wenn ich von der Nationalanlage absehe oder diese auf allgemeine Prinzipien zurückführe, so finde ich, daß in jenen Aus- sprüchen die Farbe freundlichen Lebens auf den Kosmos über- tragen scheint. Humor ist ein überaus Tiefes; Humor hat der, welcher einen tieferfaßten Gegensatz vom Standpunkt eines wohl- wollend-serenen Gemütes zum Ausdruck zu bringen weiß. So faßt die chinesische Hieroglyphenschrift den ganzen Kosmos ein, und damit wird aus der mecanique Celeste ein Epigramm. So lange China sein Schriftsystem behält, besteht keine Ge- fahr, daß in einer Hinsicht zum mindesten der Sinn durch den Buchstaben ertötet wird : denn hier schafft die Bedeutung erst den Tatbestand. Ich glaube auch nicht, daß es je durch ein modernes verdrängt werden wird, wenn auch zu erwarten steht, daß China sich, gleich Japan, zu geschäftlichen Zwecken nebenbei ein hand- licheres anlegen wird. Jedenfalls wäre es Torheit zu glauben, daß die Ersetzung der chinesischen Schrift durch die unsere einen Fort- schritt bezeichnen würde, denn was man Fortschritt heißt, ist nicht Sieg des Geistes über die Materie sondern dessen Gegenteil. Was könnte wohl einen größeren Triumph der Materie bedeuten, als daß der Geist gezwungen wird, sich ganz ihr anzupassen? 332 ■ Liebeskunst und Folter ; Schmerzexperimente. Heute war ich auf dem Platz, auf dem noch vor kurzem fast täglich Hinrichtungen stattfanden von grauenerregender Grausamkeit. Damit ist es auf einmal vorbei: die Folter ist abgeschafft worden und aller Wahrscheinlichkeit nach für immer. Diese Neuerung — für modern-europäische Begriffe ein Ereignis von ungeheuerer Bedeutung — scheint beschlossen und eingeführt worden zu sein, wie eine beliebige Steuerreform: ein Kom- missionsglied hatte ausgerechnet, daß sich Menschlichkeit unter den gegebenen Verhältnissen besser rentiert. Niemand in China scheint an dieser Änderung des Justizverfahrens etwas besonderes zu sehen, auch die am nächsten beteiligten, die Delinquenten nicht. Nur die Zunft der Henker soll murren, da deren Feinarbeiter nunmehr in eine mißliche Lage geraten sind. Während ich auf dem Schauplatz so vieler Qualen weilte, beschäftigten sich meine Gedanken naturgemäß mit dem Sinne der Grausamkeit beim Töten, was mich zum Schluß führte, daß diese in der Idee recht gut begründet ist; nicht schlechter jedenfalls als das Raffinement beim Liebesgenuß. In beiden Fällen handelt es sich nicht um ein unmittelbares Steigern des Emp- findens, sondern ein mittelbares : durch die Vorstellungen, die mit ihm verknüpft werden. Wo nun das Sterben die Menschen, wie überall im Osten, an sich nicht schreckt, dort liegt es nahe, es möglichst eindrucksvoll zu inszenieren, damit das Gericht seine abschreckende Wirkung nicht ganz verfehlt. Unter allen Um- ständen liegt der Sinn des Tötens unter Qualen nicht in dem, der es erleidet, sondern in dem, welcher ihm zuschaut oder es erleiden könnte — der es also nur vorstellt — begründet, wie denn der noch so furchtbar Gemarterte aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht annähernd so furchtbar leidet, wie der mitleidsvolle Zu- schauer wähnt. Bei jenem nämlich tötet die absolute Größe des Schmerzes bald alles Vorstellungsvermögen und damit die Fähig- keit, die Empfindung eines Augenblicks mit der vergangenen und zu gewärtigenden zu verknüpfen; ist dieses aber ge- schehen, wird das Bewußtsein nur von der Gegenwart erfüllt, dann dürfte die schlimmste Tortur kaum schlimmer empfunden werden, als die Behandlung eines kranken Zahns durch einen rohen Arzt. Ich habe viel in der Sphäre der Schmerzempfindungen zu experimentieren Gelegenheit gehabt, und dabei gefunden, daß Sinn der Tortur im Zuschauer begründet. 333 an sich kaum erträgliche Schmerzen durch Umzentrierung des Be- wußtseins — also durch Ablenkung der Aufmerksamkeit als solcher oder durch Ausschaltung steigernder Einbildungen — ohne weiteres auf die Hälfte reduziert werden können; wozu sich der weitere mildernde Umstand gesellt, daß sich der Mensch auch an Schmerzen gewöhnt und solche über ein gewisses Maß hinaus zu empfinden außerstande ist: wo er nicht abfällt, dort stumpft er ab. Diese Erwägung wird durch alle Erfahrungen bestätigt, die bei Foltern gemacht worden sind. Erstens leiden rohe Menschen weniger als feinorganisierte, eben weil ihre Vorstellungsfähigkeit geringer ist; dann bekunden speziell gemarterte Chinesen ungeheure Gelassen- heit, weil sie in der Tortur nichts Schreckliches sehen; endlich haben unstreitig feinfühlige Naturen im Mittelalter die Folter er- staunlich gut vertragen. Wenn diese sonach im Delinquenten ihren Sinn haben sollte, und nicht in dem, der ihr zusieht oder an sie denkt, dann hätte ihre Erfindung und Einführung auf einem Miß- verständnisse beruht. Dieses dient zur Erklärung des Umstandes, daß sonst hoch- gebildete Nationen so lange an grausamen Hinrichtungsarten fest- gehalten haben; wo die Theorie, daß Strafe vor allem abschrecken soll, überhaupt gilt — und wo gälte sie nicht? — erscheint Tortur im Prinzip als gerechtfertigt und es hängt mehr von Zweckmäßig- keits- als von Menschlichkeitsgründen ab, ob und wann sie ab- geschafft wird. Deswegen besteht zwischen uns, die vor über hundert Jahren diesen Schritt unternahmen, und den Chinesen, die erst in der vergangenen Woche unserem Beispiel folgten, wahrscheinlich kein großer innerer Unterschied, welche Erwägung deren Verhalten zu dieser Reform, auf das ich zu Beginn dieser Betrachtung hinwies, einen guten Teil seines paradoxalen Charak- ters nimmt. Auch in Europa sind mehr die Systeme als die Men- schen humanisiert. Die Fortschrittsgläubigen wissen zwischen diesen zwei Faktoren nicht so reinlich zu scheiden, als geboten wäre: vom System auf den Menschen, der ihm gemäß handelt, ist nur in seltenen Fällen zu schließen erlaubt. Ein Richter, der im Mittelalter die Anwendung außerordentlicher Torturen verordnete, braucht kein schlechterer Mensch gewesen zu sein, als ein mensch- licher zu unserer Zeit, während umgekehrt des letzteren Humanität nicht das mindeste in bezug auf sein Wesen zu bedeuten braucht; sogar Henker sind nicht selten gutmütig. Weß er gewohnt ist, das 334 Die Schadenfreude als Elementarinstinkt. findet der Durchschnittsmensch fast immer billig; der Mann, der zuerst auf die Unmenschlichkeit der Folter hingewiesen hat, braucht nicht notwendig ein Engel gewesen zu sein, aber sicher war es ein Original. Marc Aurel hatte gar nichts dagegen, an grausamen Zirkuskämpfen teilzunehmen, im modernen Sinne human empfand noch Luther nicht; die heilige Theresa, eine der herrlichsten Seelen, die jemals gelebt, fand am Justizverfahren Philipps II. nichts aus- zusetzen und sah nur Edelmut am Werk in jenem Vernichtungs- kriege gegen die Azteken, den wir heute zum schändlichsten zählen, was Menschen verübt. — Eines ist aber wohl richtig: allen Asiaten, und unter diesen an erster Stelle den Chinesen, fehlt es auffallend an der Fähigkeit des Mitgefühls. Schon Buddhas „Mitleid" war nicht Mitgefühl in unserem Sinne; es enthielt keinen Ansporn zum Helfen; kein heutiger Inder, soweit er nicht westlichen Geistes ist, scheint jene Phantasie des Herzens zu besitzen, die ein untätiges Mitansehen fremden Leidens zur Qual macht; und kein Chinese vor allem ist im christlichen Sinne sympathiefähig. Handelt es sich hier um physiologische Differenzen? Wohl nur insofern, als das Selbstbewußtsein im Orient weniger als bei uns seinen Mittel- punkt im Individuum hat, weswegen individuelles Leiden verhält- nismäßig gleichgültig erscheint; der Hauptsache nach ist der Unter- schied psychisch begründet. Er beruht darauf, daß die Erkenntnis der Solidarität alles Lebens, die sie als solche in hohem Grad besitzen, weniger als bei uns das Empfinden ergriffen hat, daß das tat twam asi, in keinen Geboten, Gesetzen und Einrichtungen verkörpert, die unwillkürlichen Impulse ihrer Seele weniger be- stimmt. Von Natur sind alle Menschen teilnahmlos gegenüber allem, was ihre Person nich,t angeht, liegt zumal Männern Grau- samkeit näher als Menschlichkeit. Jene beruht auf dem animalischen Urinstinkt der Schadenfreude, welche ihrerseits die erste abgeleitete Funktion der Zustimmung zum Daseinskampfe ist. Jedes Wesen lebt objektiv auf Kosten anderer; schon auf der Bewußtseinsstufe des Hundes bedingt dies subjektiv ein Gefühl der Lebenssteigerung, wo es anderen schlechter ergeht als einem selbst; von hier bis zur absichtlichen Peinigung ist der Weg nicht weit. Deshalb ereignen sich Greuel auch seitens humaner Völker regelmäßig, so oft, wie im Kriege, das Tier in ihnen die Oberhand gewinnt. Wird der Hang zum Grausamsein je überwunden werden? Ich wage keine Prognose. Von allen Europäern ist allein der Engländer schon Ursprung und Überwindung der Grausamkeit. 335 häufig so weit, daß er einen natürlichen Abscheu davor empfindet, andere leiden zu machen oder zu sehen — doch auch er nur, wo die Umstände seinen Nerven günstig sind; im tropischen Afrika verroht auch er. Im allgemeinen scheint der Hang zur Grausam- keit unter uns mehr verdrängt als ausgewachsen. Aber einmal mag es doch dahin kommen, daß das Menschenbewußtsein sich von dem Plan, auf dem ein Wesen auf Kosten anderer lebt, endgültig auf den höheren umzentriert, wo Eines Leid allen widerfährt, wo Eines Gewinn allen zugute kommt. Dann, aber erst dann, wird die Bestie niedergerungen sein. In den meisten Tempeln haben die Soldaten die Götterbilder zerschlagen und die Masse sieht hierin kein Sakrileg. Vom Standpunkte der Kirche her betrachtet sind die Chinesen frei- lich irreligiös; als ausgesprochene Verstandesmenschen verhalten sie sich skeptisch zu allen Jenseitsmythen. Die Grundstimmung der meisten Gebildeten theologischen Fragen gegenüber ist die des Konfuzius, daß es überflüssig und schädlich sei, sich mit tran- szendenten Problemen abzugeben ; der Sinn der Welt träte im Natürlichen" und Greifbaren ganz zutage. Daß nun die Chinesen im tieferen Sinne irreligiös wären, ist sicher nicht wahr, und hierauf werde ich später wohl zurückzukommen haben. Aber soviel scheint gewiß, daß ihnen der Gottesdienst nichts Religiöses be- deutet ; was hier zutage tritt, ist nichts als Aberglaube und Magie. Mich wunderte es nun, daß auch die Gebildeten in diesem Land, wo die öffentliche Meinung in ecclestasticis so frei ist, sich bis zu einem gewissen, keineswegs geringen Grade an den Tempel- riten und religiösen Verrichtungen beteiligen und ich bemühte mich, hinter den Sinn der Tatsache zu kommen. Da stellte sich denn ein gar Merkwürdiges heraus: ihnen bedeuten die Tempel ungefähr das, wie bei uns Kulturbureaus und Wirtschaftsberatungsstellen, und die Priester soviel wie Ingenieure. Sie sind die Fachleute, welche den Verkehr mit der Geisterwelt zu regeln haben. Diese Idee finde ich nun nicht oberflächlich, sondern tief, wenn auch ein wenig grotesk gefaßt, wie es in China für unsere Begriffe so häufig vorkommt. Auch den Indern sind die Götter nicht transzendente Wesen im Sinn des Christengotts, sondern Naturerscheinungen höherer Art, und die Riten dazu da, zu diesen 336 Chinesische Religiosität ; Priester als Ingenieure. gute Beziehungen zu unterhalten. Aber der Inder ist so kirchlich- religiös, daß er den Göttern unwillkürlich mehr zugesteht, als seiner strikten Vorstellung von ihnen entspricht ; daher wirkt selbst der Käli-Kultus nicht wesentlich verschieden von einem christlichen Gottesdienst. Die Chinesen hiergegen, praktisch und nüchtern, haben aus den Prämissen sämtliche Folgerungen gezogen, die überhaupt aus ihnen zu ziehen waren: wenn es Dämonen gibt, und wenn es möglich ist, ihre unwillkommene Wirksamkeit in eine willkommene umzusetzen, dann muß dies selbstredend ge- schehen ; es muß Institutionen und Leute geben, welche dies wichtige Geschäft berufsmäßig betreiben. Das soll denn der Sinn der Kirche sein. Es ist nicht zu glauben, wie beschäftigt die Techniker sind, welche die Dämonen zu besänftigen haben. China strotzt buch- stäblich von Geistern, so sehr, daß die Bequemlichkeit des Lebens ernstlich unter den Störungen leidet, welche die unaufhörliche Rücksichtnahme auf sie bedingt. Weder kann man begraben, noch heiraten, wenn es einem beliebt, noch dort, wo man möchte, noch immer den Menschen, den mag mag: alles hängt von Inkommensurabilien ab. Ein Missionar nun, den ich sprach, hat einen hohen Beamten einst befragt, in der Absicht, ihm seinen Glauben an Geister zu nehmen, woher es denn komme, daß in Europa keine umgingen? Er erhielt darauf die Antwort: wenn niemand in Europa an Geister glaubt, dann gibt es dort selbst- verständlich keine; er persönlich wäre auch sehr dafür, daß sie aus China gleichfalls wichen; nur sei dies leider kaum zu erwarten, da der Glaube an sie zu allgemein ist, um baldigst auszusterben. Er meinte, in China seien sie objektiv wirklich, weil die Menschen stark an sie glaubten. Und in der Tat scheint es also zu sein: was immer als Einwirkung von Geistern gedeutet werden kann, als Be- sessenheit, Verzaubertsein usw., kommt in China häufiger vor als irgendwo sonst. — Wie feinsinnig war jener Mandarin! Er war es nicht minder als jener Brahmane, der auf die Frage, wozu das Gebet zu den Göttern nütze, da diese doch auch Naturerscheinungen seien, unwesenhaft und vergänglich, die Antwort erteilte: Gebete sind nützlich, auf daß die Götter gekräftigt würden. Gleichviel, wollte er sagen, ob sie objektive oder bloß subjektive Wirklich- keiten darstellen, jedenfalls wird durch gläubiges Gebet ein Lei- tungsdraht geschaffen, durch welchen die Vorstellung auf den Gebet kräftigt die Götter; chinesische Gleichmütigkeit. 337 Betenden zurückwirken kann. — Nein, ich kann in dem, was fast alle europäischen Residenten und Reisenden am Chinesen tadeln, kein Zeichen der Oberflächlichkeit sehen; im Gegenteil. Die Chi- nesen sehen jedenfalls tiefer in den Sinn der Dinge hinein, als die französischen Fortschrittler, deren Christenverfolgung nur als Insipidität bezeichnet werden kann; der chinesische Aberglaube ist tiefsinniger als der moderne Unglaube. Aber freilich ließen sich aus dieser Tiefe der Einsicht bessere und förderlichere Konse- quenzen ziehen, als die Chinesen bisher verstanden haben. Goethe schreibt einmal von der bedeutenden Förderung, die er durch ein einziges geistreiches Wort erfahren hätte. Mir ist heute ähnliches begegnet: das zufällige Bekanntwerden mit einer scheinbar gleichgültigen Tatsache hat mich im Verständ- nis des Chinesentums ein gutes Stück Weges vorwärts gebracht. Was mich mehr und mehr beunruhigte, war die Impassibilität dieses Volks, seine unheimliche Gleichmütigkeit. Die Ruhe der Inder wundert mich nicht, auch nicht die der vornehmen Türken: jenen fehlt es an Vitalität und Energie, und diese sind phlegma- tischen Temperamentes. Aber die Chinesen sind gar nicht pleg- matisch, so ruhig sie sich gebärden, und sie sind bis an die Finger- spitzen vital. Wie kann da ihre Masse einen so serenen Eindruck geben? — Nun höre ich von unbändigen Wutausbrüchen, die ge- waltsamer sein sollen, als alles was von skandinavischen Berserkern berichtet wird. Von Zeit zu Zeit komme es vor, daß einer in Wut gerät, und dies dann so nachhaltig, daß es Tage währe, bis er seinen Gleichmut wiedergewinnt; unterdessen sei er wütend, wie Stiere wütend sind, ganz unabhängig vom Gegenstand. Die Chinesen erklärten dies Phänomen durch Stauung des Wutstoffes, Ch'l; viele Krankheiten würden auf sie zurückgeführt, und die europäischen Ärzte bestätigten, daß die Theorie in ihren allgemeinen Umrissen richtig ist: wirklich beruhten viele Störungen im Chinesenorganis- mus, darunter solche, welche tödlich verlaufen, auf verhaltener Wut. Jetzt ist mir die Seelenruhe der Masse kein unerklärliches Rätsel mehr. Allen ist bekannt, daß die Giganten der Tat, wie Cäsar, Napoleon, Mohammed, Alexander, Peter der Große, sogar Bismarck mehr oder weniger periodisch auftretenden Nerven- krisen unterworfen waren, die den Charakter bald von Epilepsie, Keyserling, Reisetagebuch. 22 338 Der Wutstoff; Wechselwirkung von Körper und Geist. bald von Wutausbrüchen, bald von Kollapsen oder Weinkrämpfen trugen, doch von jeher als „Abreaktionen" richtig beurteilt worden sind. Naturen von vulkanischer Energie, die sich dauernd zusammen- nehmen müssen, bedürfen in bestimmten Intervallen des Öffnens eines Sicherheitsventils, wenn sie nicht platzen sollen; aus diesen strömt dann der Dampf desto gewaltsamer aus, je kondensierter er war. Was von den Helden der Tat gilt, besteht innerhalb gewisser Grenzen bei den Chinesen als Volk zurecht. Sie sind einerseits außerordentlich lebendig, andrerseits von allen Völkern das, welches die größte Selbstbeherrschung übt. Daher war a priori zu erwarten, wenn anders die Natur noch Natur sein soll, daß gelegentliche Wutausbrüche zum Nationalcharakter der Chinesen gehören müssen und zwar Wutausbrüche viel gewaltsamerer Art, als solche den Völkern Südeuropas eignen, die sich gewohnheitsmäßig gehen lassen. Nun verhält es sich tatsächlich so, wie der Verstand postu- liert; so fühle ich mich geistig beruhigt. Der Ch'i sollte nur eingehender von Psychologen studiert werden. Heute steht die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist im Mittelpunkt des Interesses: nirgends wäre diese besser zu studieren, als im Fernen Osten, der es in der Selbstzucht bisher am weitesten gebracht hat, und wo deren notwendige Grenzen — die Grenzen, welche die Natur der Bildung setzt — daher am deutlichsten zutage treten. Vor allem möchte ich, daß die folgende Hypothese an den Tat- sachen geprüft würde: die Chinesen besitzen, wenn ich nicht sehr irre, von allen Menschen die größte physische Vitalität. Weder als Individuen noch als Nation scheinen sie zu erschöpfen; sie über- stehen Krankheiten, an denen jeder andere stürbe, vertragen ein Übermaß von Arbeit (auch geistiger Arbeit) ohne an den Nerven Schaden zu nehmen, und die schlimmsten Ausschweifungen schaden ihnen unverhältnismäßig wenig. Die Nation wiederum scheint weder durch Überkultur, noch durch Inzucht, noch durch das Opium oder die Syphilis — kurz durch alles, was andere Völker zugrunde richtet — in erheblichem Grade deterioriert. Die einzige allgemeine Ent- artungserscheinung, die sich bei den gebildeten Klassen feststellen läßt, ist wachsende Philostrosität — und die wird in Europa, aus guten Gründen, überhaupt nicht als Pathologisches beurteilt. Sollte nun diese wunderbare physische Vitalität nicht die Folge psychischer Kultur sein? Es steht fest, daß der Gebildete im Kriege Strapazen besser aushält, als der Ungebildete, daß der Mutige schwerer Physische Vitalität psychisch bedingt. 339 erkrankt und Schaden nimmt, als der Furchtsame, daß die Nerven des Mannes von Selbstzucht besser standhalten als die dessen, der sich gehen läßt, kurz daß man sich durch psychisches Verhalten gegen physische Gefahren feien kann; und die Tendenz ganzer Schulen unserer Zeit geht ja dahin, durch Kultur der Seele den Körper zu kräftigen. Sollte die ererbte Lebenskraft der Chinesen nicht hierher stammen? Sie haben, durch äußere Verhältnisse dazu gezwungen, durch ein weises Moralsystem hierin bestärkt, Jahr- tausende entlang Selbstbeherrschung geübt: sollte damit das nicht zum Erbgut geworden sein, was unter uns nur Bevorzugte sich persönlich erringen? — Freilich darf nicht vergessen werden, daß in China die natürliche Auslese wie nirgend anderswo bei der Rassenbildung mitgewirkt hat und allein schon vieles erklärt; schwache Naturen sind in China kaum lebensfähig. MACAU. Aus dem geschäftigen Lärm Cantons bin ich nach der idylli- schesten, friedlichsten Stätte geflüchtet, die es in Ost- Asien gibt: nach dem entzückend gelegenen Macau, wo- selbst Camoens die Luisiaden vollendet hat. Wie sehr mich die Atmosphäre Chinas schon besitzt! Wie selbstverständlich drückt sich die Reaktion gegen die City in meiner Seele dahin aus, daß mir quietistische Gedanken ä la Lautse und Dschuang Tse kommen; denn sicher bedeutet die extreme Form, in welcher der Quietismus sich bei diesen äußert, eine Reaktion gegen die extreme Gesellig- und Geschäftigkeit, welche China schon zu ihrer Zeit ausgezeichnet hat. Wenn ich hier in ihren Schriften lese, dann ist mir, als lauschte ich dem Echo meiner selbst; die gleichen Stimmungen in indischer oder europäischer Färbung würden mich als fremd, ja als taktlos berühren. Was ist es, daß der chinesischen Mystik ihren besonderen Charakter gibt? — Gewiß nicht ihr Sinn, ihr Gehalt; in dieser Hinsicht stimmt sie mit der Weisheit aller Völker und Zeiten überein. Es ist einerseits die Ausdrucksweise. Über diese brauche ich mich nicht weiter auszulassen, da sie eine unmittelbare Funktion 22* 340 Eigenart der chinesischen Mystik. des chinesischen Schriftsystems ist. Wie dieses überhaupt, so drückt auch die taoistische Philosophie weniger bestimmte Gedanken als deren äußersten Sinn aus. Da nun dieser Sinn allein der Unsterb- lichkeit teilhaftig ist, während die begrifflichen Verkörperungen sämtlich, früh oder spät, dahinwelken müssen, so bedingt dieser Umstand allerdings eine absolute Überlegenheit der chinesischen Fassungen letzter Erkenntnisse: sie allein, wie sie dastehen, werden fortleben; was in allen übrigen Literaturen nur von einigen wenigen Urworten gilt, gilt prinzipiell von allen Ausdrücken chinesischer Weisheit. Aber um diese objektiven Dinge ist es mir heute nicht zu tun: ich bin zu müde nach Canton, zu erholungsbedürftig; und dann ist Macau auch viel zu schön, als daß ich mich mit ab- strakten Fragen gern befaßte. Wenn ich heute an Laotse denke, so sehe ich nicht den Verkünder ewiger Wahrheiten vor mir, sondern den gemütlichen alten Herrn mit dem twinkle in his eye, mit dem unversiegbaren Humor, der gewinnenden bonhomie; und wenn ich über die Eigenart seiner Weisheit nachsinne, so meine ich die konkrete Eigenart, das spezifisch Chinesische an ihr. Diese äußert sich nun hauptsächlich im Grundton der Vor- und Umsicht, der in allen, auch den sublimsten Sätzen chinesischer Weisheit mitklingt. Nur keine Unannehmlichkeiten haben ; alles fein vorausberechnen, vorausorganisieren ; lieber sein Licht unter den Scheffel stellen als durch sein Leuchten unliebsame Aufmerk- samkeit auf sich ziehen ; lieber schwach erscheinen als stark ; unter allen Umständen nachgeben. — Das ist ebenso typisch chinesisch, wie die Sehnsucht nach Frieden um jeden Preis es für den Inder ist, und tätiger Optimismus für den Abendländer. Eigentlich kann mir diese Farbe nicht sympathisch sein. Aber seit ich in Canton ge- wesen, verstehe ich sie so gut, daß ich beinahe bereit wäre, sie für den Augenblick selber zu bekennen. Wie soll einer stolz und frei nach Art der griechischen Weisen, oder seren-detachiert im Sinn eines Rishi werden, wenn es buchstäblich unmöglich ist, die Masse von sich fernzuhalten? Innerhalb dieser bleibt dem Weisen nichts übrig, als schlau zu sein, wenn er ein halbwegs er- trägliches Leben führen will. Der Okzidentale trägt in solchen Fällen am häufigsten die Maske des Charlatans, weil unser Pöbel in seiner Vorliebe für das Neue und Ungewöhnliche dem Exzentrik gern gestattet, was er dem Weisen nie verzeihen würde, so daß es sich für diesen als beste Politik erweist, seine Weisheit als Moralisierende Wirkung der Übervölkerung, 341 Narrheit passieren zu lassen. In China, wo das Außerordentliche unter allen Umständen verurteilt wird, bleibt dem Bedeutenden nichts anderes übrig, als jeden Anstoß überhaupt zu vermeiden, was freilich nur auf Kosten des Stolzes gelingt. Daher das Extreme der Kultur- und Gemeinschaftsfeindschaft der wenigen, denen es den- noch glückte, sich aus der Masse zurückzuziehen: es wäre un- menschlich, wenn sie auch diese letzte Spur von ressentiment über- wunden hätten. Wie vieles in China erklärt sich durch die Über- völkerung! Und wie lehrreich sind für uns Weiße, die wir ja gleichfalls, früh oder spät, zu einer kompakten Masse heranwachsen werden, die Wirkungen, die sie auf das Chinesentemperament ge- habt! Ihr verdankt es ohne Zweifel seine ungeheuere moralische Kultur, in der es noch heute die ganze übrige Menschheit übertrifft. Es ist nicht möglich, bei so dichtem Beieinanderleben, wie dies in China die Regel ist, als Ungebildeter zu gedeihen; da bedeutet ein Rüpel kaum weniger Schlimmes, als ein gemeingefährlicher Verbrecher unter uns. Aber andrerseits die Nachteile ! Wie soll ein Original sich entwickeln inmitten so ungeheuerer Massensuggestion ? Wie soll es sich vor allem zur Geltung bringen? Schon bei uns ist es keineswegs notwendig, daß das Genie seine Bestimmung er- füllt; in China kann solches nur dank einem unerhört günstigen Zu- fall geschehen. Mag einer noch so viel Talent haben in einem kleinen entlegenen Dorf — wie soll er sich emporarbeiten, wenn soviel Millionen im Wege stehen? Da bedeutet Resignation a priori allerdings das einzig Ersprießliche. . . . Unverhältnismäßig besser gefallen die Chinesen mir hier als Canton. Selbstverständlich übervorteilen mich die Händler gleich erfolgreich hier wie dort, aber darauf kommt es nicht an: in der Chinesenstadt Macaus herrscht die Atmosphäre, die einen im Stil Kung Fu-Tse's so heimlich anmutet: die eines heiter-bürgerlichen Daseins von außerordentlichem Formensinn. Wie wenig verschlägt es doch, was die Leute nachweislich tun! Christus verkehrte am liebsten mit Zöllnern und Sündern. Wahr- scheinlich ist es ganz bedeutungslos, was tatsächlich in der Welt geschieht. Das unausgesetzte Gonggerassel in chinesischen Theatern wirkt auf die Dauer wie lautlose Stille: also ist es an sich wohl einerlei, ob man in der Wüste oder in der Großstadt lebt. Die 342 Zusammenhang von Tun und Sein. Pariser Luft bleibt anregend, wie töricht das Gebaren seiner Ein- wohner auch sei, diejenige St. Petersburg^ verdürftigt, man ver- kehre mit wem immer man wolle. Die psychische Atmosphäre einer Stadt ist die Resultante so vieler Komponenten, daß es auf den einzelnen nicht ankommt; gerade weil dieser so viele sind, gibt jene unweigerlich das richtige Durchschnittsbild. Hier nun fällt mir heute vor allem eines auf, was ich mit gleicher Deutlich- keit noch nirgends gespürt habe, so vertraut mir die Theorie der Sache sei : wie wenig notwendig das Tun mit dem Sein ursprünglich zusammenhängt. Das ist eine der Grundanschauungen der Inder. Aber wie in so vielen Fällen erscheint auch hier ein in Indien tiefer Erkanntes und Verstandenes in China besser in Leben umgesetzt; und dann ist es in China auch leichter aufzufassen, weil uns die Chinesen, was immer man sage, der Kultur naclf sehr viel näher stehen, wes- wegen das Unterschiedliche leichter richtig zu beurteilen ist. Bei uns Europäern, die wir ganz nach außenzu leben, wird das Sein vom Handeln notwendig beeinflußt, weshalb unter uns in der Regel nur die menschlich angenehm sind, die einen edlen Beruf ausüben. In Europa steht der Regierende menschlich am höchsten, da er zur Aufgabe hat, im Großen selbstlos zu wirken; der Künstler, der gewöhnlich an schiefe Ideale glaubt, ist unerfreulich im Verkehr und der Geschäftsmann widerwärtig überall, wo große Gesichtspunkte ihn nicht malgre lai aus seinem beruflichen Ban- ditentum hinausdrängen. Im Osten besteht allgemein kein not- wendiger Zusammenhang zwischen beruflichem Handeln und Sein und das spüre ich hier deutlicher denn je. Ich habe die Händler aufmerksam beobachtet, die mir mit so viel Qeschick mein Geld aus der Tasche lockten: man mag noch so viel von der Liebenswürdigkeit als zur kaufmännischen Technik gehörig ab- schreiben — ich bin überzeugt, daß viele dieser Krämer ihr Ge- schäft nur ausübten aber nicht waren; es könnten hochstehende Menschen gewesen sein. Der Deutsche versteht diesen Zusammenhang nur schwer. Hier muß er vom Russen lernen, dem einzigen Europäer, der ein ur- sprüngliches und unmittelbares Verhältnis zur Seele seines Nächsten hat. Warum sollte ein Mensch denn schlecht sein, der einen noch so sehr belügt und betrügt? Freilich hat man Schutzmaßnahmen zu -ergreifen; man lasse sich nicht betrügen, und wo der andere Der Russe als bester Psycholog. 343 einem allzu überlegen ist, dort belange man ihn gerichtlich, auf daß die Obrigkeit ihn unschädlich mache. Aber Roheit ist es, eines Menschen Wesen nach seinem Tun zu beurteilen. Wer ist denn so weit, daß sein Tun seine Seele vollkommen spiegelte? Noch habe ich keinen gesehen. Und wo Sein und Handeln sich nicht decken, ist der, welcher lügt und betrügt, weil die Sitte dies gestattet, dem anderen, der sich aus konventionellen Gründen rechtschaffen benimmt, genau und in allen Stücken gleichwertig. Für den Wissenden besteht kein Unterschied zwischen einer „Stütze der Gesellschaft" und einem unredlichen Makler, sofern beide nicht sind was sie tun — allenfalls steht der letztere von beiden höher, insofern er keine Ideale hat und diesen daher nicht untreu sein kann. — Ich weiß, es ist nicht ungefährlich, solches auszusprechen; um so mehr als tugendhaftes Handeln auf die Dauer die Seele doch beeinflußt und umgekehrt; die Inder wären weiter als sie sind, wenn sie zwischen Sein und Handeln nicht so scharfsichtig und reinlich unterschieden. Doch das sind praktisch-politische Erwägungen, die mich im Augenblick nichts angehen. Lautse sagt: Wer sein Licht erkennt Und dennoch im Dunkel weilt, Der ist das Vorbild der Welt. Das Vorbild.... Ich weiß nicht, ob Richard Wilhelms Übersetzung hier genau ist, aber es sollte mich nicht wundernehmen. Hier, an djeser Stelle, ist die Kluft, die unsere Weltanschauung (der es als Sünde gilt sein Licht unter den Scheffel zu stellen), von der taoistischen scheidet, besonders deutlich zu übersehen. Hieße es nicht „Vorbild" sondern „Spiegel", dann wäre der Ausspruch einwandfrei. Unbewußtes Schaffen ohne Absicht, Vor- wärtsschreiten ohne Weiterwollen, Sich-Bescheiden im Rahmen des Gegebenen — das ist in der Tat der Weg der Natur; und der Mann, der bewußt in ihre Spuren tritt, darf wohl als ihr Spiegel bezeichnet werden. Aber als ihr Vorbild? Lediglich dann, wenn nichts Höheres denkbar erscheint, als der Weg der Natur. Dieses ist in der Tat die Voraussetzung der gesamten chinesischen Weisheit. Während wir oberhalb der Natur ein Reich der Freiheit anerkennen, während wir es als unsere Aufgabe betrachten, den 344 Der Chinese kennt nichts oberhalb der Natur. Geist der Freiheit der Naturbestimmtheit einzubilden, wodurch sich das natürliche statische Gleichgewicht nicht als Ideal sondern als Zu-Überwindendes darstellt und das Schaffen gegenüber dem Befolgen, das Überwinden gegenüber dem Sich-Fügen, all- gemein das Wollen gegenüber dem Nichtwollen als der höhere Wert erscheint, haben die Chinesen gerade umgekehrt geurteilt So kommt es im äußersten zur Paradoxie, daß der Erleuchtete es als seine Aufgabe betrachtet, sein Licht unter den "Scheffel zu stellen. Der taoistischen Weisheit wird daraufhin wieder und wieder der Vorwurf eines unfruchtbaren Quietismus gemacht, nicht zum mindesten von Seiten der Konfuzianer, die doch im Letzten eines Geistes sind mit ihr. Ohne Zweifel versagt sie bei der bewußten Gestaltung dieses Lebens, wie denn auch schöpferische Arbeit ihren Grundsätzen zuwider ist. Nun ist aber doch nicht zu leugnen, daß in den Werken der taostischen Klassiker die vielleicht tiefsten Aussprüche zur Lebensweisheit enthalten sind, die wir überhaupt besitzen, und dies zwar gerade vom Standpunkte unseres Ideals, des Ideals der schöpferischen Autonomie. Wie ist das möglich? Es ist möglich deshalb, weil das Tao, der Sinn (wie Wilhelm unüber- trefflich übersetzt) im Naturschaffen bisher vollkommener zum Ausdruck kommt, als im freiesten Walten der Freiheit; so daß ein Leben, welches durchaus das Walten der Naturgewalten spiegelte, nicht umhin kann zur Vollendung zu führen. Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd. Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel und Erde ist, Daß sie nicht sich selber leben. Darum können sie dauernd Leben geben. Also auch der Berufene: Er setzt sein Selbst hintan, Und sein Selbst kommt voran. Er entäußert sich seines Selbst, Und sein Selbst bleibt erhalten. Ist es nicht also: Weil er nichts Eigenes will, Darum wird sein Eigenes vollendet? Dieser herrliche Ausspruch Laotses ist wahr trotz der mythischen Verknüpfung, die der Weise zwischen Himmel und Mensch statuiert, weil er hier das Naturschaffen dem tiefsten Sinne nach versteht, Rousseau und Lautse. 345 und dem Sinne nach zwischen vegetativem und göttlichen Leben kein Unterschied besteht. So verstanden, hat der Ruf: zurück zur Natur ! den Menschen immer vorwärts gebracht. Sogar wo er falsch verstanden wird, wie dies von Seiten Rousseaus und auch einiger späterer Taoisten geschah, richtet er selten nur Unheil an, weil eben die Natur in ihrer Sphäre vollkommen ist und daher sogar ein oberflächliches Kopieren ihrer, ein Zurückgehen auf ihre Zu- stände als solche, den begriffsgefangenen Menschen seinem leben- digen Mittelpunkte näher bringt. So viel vom Sinn der taoistischen Weisheit. Über die einzigartige Bedeutung ihres Ausdrucks habe ich mich schon ausgesprochen : von allen Formeln des Metaphysisch- Wirklichen, die bisher gefunden wurden, dürften die chinesischen allein unsterblich sein. Was nun den Menschentypus betrifft, den sie gestaltet, so kommt ihm jene Zwitterstellung zu, die auch für den Künstler charakteristisch ist: im Höchstfall gehört er zum Höchsten, was Menschenart darstellen kann; in allen anderen Ver- körperungen, außer der höchsten, erscheint er anderen Typen unter- legen. So groß ein Laotse gewesen sein mag — der durchschnitt- ' liehe Taoist war wohl immer ein minderwertiger Geselle. Wenigstens müssen wir ihn also beurteilen, die wir die Be- stimmung des Menschen darin sehen, über das bloß Natürliche hinauszugehen. Wenn auch wir einen Laotse als einen Größten verehren, so liegt dies daran, daß dieser große Mann die Er- scheinung überhaupt durchdrungen hatte und also sowohl über die Bestimmtheit der Natur als die Bestimmung des Menschen hinaus- gegangen war. Ich deutete vorhin an, daß auch die Konfuzianer den Taoisten als niederen Typus beurteilen, während uns der Gegen- satz zwischen konfuzianischer und taoistischer Weisheit gar nicht so groß erscheinen will: das ist das Chinesische an beiden Schulen. Hiermit wäre ich denn bei dem Punkte wieder angelangt, bei dem ich gestern abgebrochen hatte. Diese Weisheit ist eben doch chine- sische Weisheit, und insofern nicht übernational und schwer von unsereinem ganz zu würdigen. Wenn ich daher sage, der durch- schnittliche Taoist sei ein minderwertiger Geselle, so verleihe ich mit diesem peremptorischen Urteil möglicherweise nur meiner Europäerbeschränktheit Ausdruck. 346 Chinesischer Humor; einschließende und ausschließende Form. Zur Zeit der Siesta unterhalte ich mich damit, im Liao-tschai- tschi-i, den „seltsamen Geschichten aus dem Studierzimmer Zuflucht" des Pu Sung-ling, des „letzten der Unsterblichen" Chinas, zu lesen. Die Qualität des Humors, die in diesem Werk zu- tage tritt, ist exquisit; wirkliche oder mögliche Vorgänge erscheinen vollkommen kühl und sachlich, ja mit einer gewissen Trockenheit dargestellt, ohne jede bemerkbare Absicht, aber die Erzählungen sind so geführt, daß sie nicht umhin können, komisch zu wirken. An innerem Wert ist wohl Gogols Humor dem chinesischen gleich, aber wozu in der europäischen Literatur, seit den Griechen wenig- stens, kein Äquivalent zu finden sein dürfte, ist die literarische Meisterschaft, dank welcher es gelingt, aus der reinen Form heraus, fast ohne sachliche Effekte zu Hilfe zu rufen, humoristische Wir- kungen zu erzielen. Auf den ersten Blick scheint ja das Komische in allzu strenger Form nicht darstellbar. China beweist die Irrtüm- lichkeit dieser Meinung. Meinen Eindruck gewinne ich aus einer vermutlich schlechten Übersetzung: wie hoch muß das Original doch stehen, wenn die Übertragung ihm sein Wesen nicht hat nehmen können! Ich vermag jetzt schon ganz gut zu verstehen, weswegen gebildete Chinesen, welche der europäischen Sprachen mächtig sind, nur die altgriechische Literatur als echte Kunst und der chinesischen beinahe gleichwertig gelten lassen wollen: die Hellenen allein sind streng und reich zu- gleich in ihrer Ausdrucksweise gewesen. Die Strenge der lateinisch- romanischen Form — der einzigen, welcher man im Westen seit Griechenland das Prädikat der Strenge zuerkennen kann — schließt aus: die Form muß einschließen, einschmelzen, verdichten, den möglichen Gehalt nicht verstümmeln, sondern steigern, wenn ihre Strenge einen höchsten Wert bedeuten soll. Freilich haben die chinesischen Meister in gewisser Hinsicht unter günstigeren Be- dingungen gearbeitet als alle anderen: sie konnten streng in der Form sein, ohne endliche Grenzen zu statuieren. Das verdanken sie ihrem wunderbaren Schriftsystem. In China kann, wie schon bemerkt, mit drei Hieroglyphen buchstäblich ebensoviel und mehr gesagt werden, als in unseren Sprachen auf vielen langen Seiten — unsere Meister der Präzision haben alle viel verschweigen müssen; die chinesischen Künstler hatten sämtliche Vorteile auf ihrer Seite, die in der Wissenschaft der reine Mathematiker vor dem Phy- siker voraus hat. Und der Nachteil, der diesem System für unsere Zar Psychologie des Spielers. , 347 Begriffe innewohnt, nämlich daß die Gedichte hauptsächlich für das Auge existieren, und nicht gut gehört, nicht gut vorgelesen werden können, kommt für den Chinesen ersichtlich nicht in Frage, dem diese Konvention Gewohnheitssache ist. Aber was nützt es, von leichteren oder schwereren Bedingungen zu reden? Der Mensch schafft sich die Bedingungen, die er verdient. Chinas Suprematie in der Form steht unter allen Umständen außer Frage. Zu Nachtzeit kehre ich gelegentlich in einer der berühmten „Spielhöllen" ein und ergötze mich am Fan-Tan. Etwas Stilleres, Friedlicheres als solche Hölle gibt es kaum. Ernst und sachlich schauen Spieler meistens drein, aber solch' heiteren Gleichmut wie in Macau habe ich noch nirgends beobachtet. Das Spiel an sich ist unendlich geistlos ; der Spieler kann im günstigsten Falle nur ganz wenig, die Bank muß unter allen Umständen viel ge- winnen. Der Chinese aber geht, nachdem er seinen Tagesverdienst verspielt hat, gelassen und friedlich dreinschauend heim. Allenfalls, wenn er gar zu viel verloren, wiegt er sich zum Trost in süße Opiumträume ein. Während ich dem Treiben zuschaute, kam mir die Stelle der Bhagavat-Gtta in den Sinn, woselbst Krishna von sich (als Gott, als Icvara) sagt: Ich bin das Spielen des Spielers. In der Tat bedeutet Sinn für Hasard, was immer sonst gegen ihn einzuwenden sei, das Vorhandensein von Vitalität. Das selbsttätige Setzen des reinen Zufalls als einziger Bedingung des Erlebens bedeutet, vom Atman her gesehen, prinzipiell das gleiche, wie das Gewachsensein den Wechselfällen des Lebens gegenüber. Denn Leben ist ja nichts anderes als die Fähigkeit, einen inneren Gleichgewichts-Zustand im Wandel der äußeren Umstände zu behaupten. Daß die meisten Spieler nun, in intimem Widerspruch zu sich selbst, nach Systemen ausblicken, gehört zum Kontrapunkt des lebendigen Geschehens : wir tun immer zugleich das, was den Sinn unseres eigentlichen Wollens aufhebt. — Woher kommt es nun aber, daß der Typus des Spielers — gleichviel was sein Einsatz sei — als hoher doch nicht bewertet werden kann? Es kommt daher, daß wer im Kor- relationsverhältnis von Leben und Außenwelt die Zufallsseite be- tont, damit das Sinnlose über den Sinn stellt; der dankt als freies, verantwortliches Wesen recht eigentlich ab. Der Spieler ist der Antipode des Helden: während dieser sein Leben tief bedeutsam weiß und es opfert, weil er noch Höheres anerkennt, setzt jener es aufs Spiel, weil es ihn gleichgültig dünkt. 348 Chinesische Große; ihre einzigartige Überlegenheit. TSINGTAU. Ich beginne der Revolution Dank zu wissen: dank ihr sind eine große Anzahl bedeutender Chinesen, darunter mehrere Ex- Generalgouverneure und Ex-Vizekönige, im kleinen Tsingtau beisammen, wohin sie vor den Westlingen geflüchtet sind. Richard Wilhelm vermittelt zwischen ihnen und mir; so beginne ich Ein- blick zu gewinnen in die höchsten Möglichkeiten chinesischen Menschentums. Meine Erwartungen werden weit übertroffen; diese Herren stehen, was immer sie als Menschen sein mögen, als Typen außer- ordentlich hoch; zumal ihre Überlegenheit beeindruckt mich. Nicht allein, daß sie ihr äußeres Schicksal dominieren, das im Augenblick so traurig ist: sie stehen über ihren Gedanken, ihren Handlungen, ihrer Person überhaupt; und zwar nicht im Sinne des Yogi, der sich über die Erscheinung hinausgeschwungen hat, sondern in dem schwierigeren des Weltweisen, der inmitten des Getriebes, an dem er teilnimmt, seine innere Freiheit bewahrt. In Indien hatten mich die Menschen enttäuscht; sie sind weniger als ihre Literatur. Ihr Höchstes und Tiefstes hat in abstrakter Erkenntnis Ausdruck gefunden, und die lebendigen Inder sind in der Mehrzahl nicht Verkörperer, sondern Schauspieler ihres Strebens nach dem Ideal; so lernt man wenig zu durch den Ver- kehr mit ihnen. Die lebendigen Chinesen nun sind unzweifelhaft mehr als ihre Weisheit, ja fast möchte ich behaupten : sie sind mehr als ihre klassische Literatur. Mir beginnt der Sinn des Kon- fuzianismus aufzugehen. Kung Fu-Tse erschien mir bisher als rationalistischer Moralist, und die hohe Wertschätzung zumal, deren sich Mencius erfreut, befremdete mich einigermaßen, da ich dessen Weltanschauung wohl als überaus vernünftig, nicht aber als tief beurteilen konnte. Nun erkenne ich, daß die konfuzianische Philo- sophie ganz anders verstanden werden muß als die indische und auch die deutsche: sie ist als Philosophie gar kein eigentlicher, selbständiger Ausdruck, sondern das abstrahierte Schema einer gelebten oder zu lebenden Wirklichkeit; man muß Kung Fu-Tse's Wort als Fleisch verstehen, oder als Hinweis auf vorhandenes Fleisch. Dann freilich nimmt diese Lehre sich ganz anders aus, Der Konfuzianismus als Lebensform. 349 erscheint sie durch Abgründe geschieden von der Moralphilosophie unseres 18. Jahrhunderts, welcher sie äußerlich so ähnlich sieht; dann freilich hat es wenig zu bedeuten, daß die Gedanken als solche nicht tief sein mögen: ich glaube nicht, daß Gott tiefe Ge- danken denkt, denn er ist die Tiefe selbst; wo das Tiefe im konkreten Dasein vollkommen zum Ausdruck kommt, dort ist Tief- sinn wohl überflüssig. Das nun ist es, was mir bei den großen Herren auffällt, mit denen ich zu Tsingtau verkehre: sie leben den Konfuzianismus; was ich bisher als theoretisches Postulat auf- faßte, ist ihnen die Form ihrer Existenz. Allen diesen Staats- männern erscheint es selbstverständlich, daß der Staatsorganismus auf moralischer Basis ruht, daß das Politische der äußere Ausdruck des Ethischen ist und die Gerechtigkeit der normale Ausfluß des Wohlwollens; und es erscheint ihnen selbstverständlich in einem ganz anderen Sinn, als dem Christen der Wahrheitsgehalt der Seligpreisungen: nicht als ein Sein-Sollendes, das jedoch selten geschieht, sondern als ein Notwendig-Geschehendes. Dies bedingt einen grundsätzlichen Unterschied. Woran man nicht zweifelt, das vollbringt man auch. Ich weiß nicht, wie gute Regenten die Gouverneure, mit denen ich umgehe, tatsächlich gewesen sind: sicher regierten sie in konfuzianischem Geist, das heißt von mora- lischer Grundlage aus. Was dehn notwendig auch ihre Unzuläng- lichkeit verklärt hat. Zum ersten Male sehe ich mich einem Menschentypus gegen- über, dessen Tiefstes Moralität ist. Den gibt es im Okzident nicht. Vielleicht bewähren sich unsere Beamten seit 100 Jahren besser, als die chinesischen (denn älter ist die Integrität des Funktionärs als typische Erscheinung sogar in Deutschland nicht), sicher ist der Geist, aus dem sie es tun, dem der Chinesen nicht gleichwertig, die in Praxi noch so sehr versagen. Unsere politische Kultur ist äußerlich bedingt; sie ist das Ergebnis eines Systems, das den Einzelnen zum Gut-Handeln zwingt, ist unabhängig von 'der Seele entstanden, besteht unabhängig von der Seele weiter fort. Die des Chinesen beruht auf Ausbildung des Innerlichen. Und wenn man nun bedenkt, daß das große chinesische Reich schon Jahrtausende entlang kaum schlechter regiert worden ist als das moderne Europa, und dieses ohne die Vermittelung eines Mecha- nismus, der die Menschen automatisch in Ordnung hielte, einzig dank der moralischen Qualifiziertheit seiner Bürger, so muß man 350 Moralität das Tiefste der Chinesen. zugeben, daß das durchschnittliche Niveau moralischer Bildung beim chinesischen Literaten außerordentlich hoch sein muB. Außerordent- lich hoch ist es jedenfalls bei denen, mit welchen ich in Berührung gekommen bin. Und aus ihren noch so höflichen Äußerungen über den Westen klingt denn auch allemal Befremden darüber heraus, daß ein Gleiches dort so wenig der Fall sei. Sie halten uns für moralische Barbaren. Unsere Systeme seien freilich bewunderungs- wert, allein die Menschen, deren Grundgesinnung Ich fürchte, die Herren haben recht. Wir Westländer sind mit dem Verstand dem Leben vorausgeeilt. Unser moralisches Höherstehen, auf das wir uns so viel zu gute tun, bedeutet bisher wenig mehr als das Funktionieren im Rahmen eines klüger erdachten Systems; weil dem so ist, rebellieren wir neuerdings sogar gegen das Mora- lische überhaupt. Welche extreme Erscheinungen des westlichen Gesellschaftslebens haben ihren tiefsten Grund nicht darin, daß das Äußere nicht im Inneren wurzelt? Der Tolstoismus, der Anarchis- mus einerseits, und andrerseits der Nationalismus und der Rassen- fanatismus — es sind alles Bewegungen, die dem Künstlichen ein Natürliches substituieren wollen. Wir sind unseren Systemen unter- legen. Die Chinesen stehen über den ihren. Das ist der Erfolg der Erziehung im Geist des Konfuzius. Es gibt mir viel zu denken, daß das Leben so einfacher Grundsätze, wie die konfuzianischen, den Menschen so überlegen machen kann. Unter europäischen Fanatikern des Moralischen ist mir noch nie ein Vollmensch begegnet. Aber die Ursache dieses Unterschiedes liegt nicht fern: uns haben die Grundsätze der Moral immer ein von außen her Gebotenes bedeutet, sei es, daß Gott sie uns aufoktroyiert hätte, oder die Obrigkeit, oder eine der Natur entgegenstehende, absolute praktische Vernunft; dem Konfuzianismus gelten sie als die Richtlinien, nach denen ein gebildeter Mensch naturnotwendig handelt. Es läge in der Natur der Dinge, daß Vater und Sohn, Mann und Weib, Freund und Freund, Fürst und Untertan sich gegenseitig Treue und Wohl- wollen erweisen ; bilde der Mensch das Natürliche aus, so ergäbe Moralität sich von selbst. Auf vollendete Ausbildung der Menschen- natur ist also der Akzent verlegt. Nun : gegen solchen kategorischen Imperativ empfindet keiner ein inneres Widerstreben ; gebildet will jedermann sein. So nimmt er sich bereitwilligst die Mühe, die der europäische Jüngling sich, seit der Geist der Antike erstarb, kaum Der Konfuzianismus macht reaktionär. 351 je mehr nimmt: er versenkt sich in den Sinn des Moralischen. Tut er dies nun ernstlich und ausdauernd, so offenbart sich ihm irgend- einmal auch die Richtigkeit der konfuzianischen Theorie : es ist eine Frage des Unterscheidungsvermögens, das durch Schulung geschärft werden kann, ob einer dem Guten oder dem Schlechten zuneigt. Fortan ist kein Schwanken mehr möglich ; die moralische Natur ist geweckt. — Wie sehr kommt es bei der Erziehung auf den An- satz und die Technik an! Die Chinesen haben nicht annähernd so viel über das Moralische nachgedacht als wir ; sie haben auch nie in der Moral ein so Hoch-Ideales gesehen, wie unsere (zumal protestantischen) Ethiker. Aber praktisch haben sie viel mehr erreicht. Freilich sind die Herren konservativ: welcher politisch Ge- bildete wäre es nicht? Wer historischen Sinn hat, wer da weiß, daß nur organisches Wachstum aufwärts führt, ist nie 5m radikalen Sinne „fortschrittlich". Im eigentlichen Verstände des Worts ist nur er es freilich, denn nur er empfindet Ehrfurcht vor der Erscheinung, die der Radikale unbedenklich überall einem ab- strakten Prinzipe aufopfert. Ist es nicht höchst bezeichnend, daß die Arbeiter Belgiens und Frankreichs die Idee der „Menschen- rechte" bereits verworfen haben, und nur mehr ihren organisierten (technisch „bewußten") Klassengenossen Berechtigung zum Dasein zuerkennen? Die Würdenträger, die ich meine, sind nun freilich nicht nur konservativ, sondern ausgesprochen reaktionär. Aber wie sollte ein Konfuzianer alten Schlages einer Neuerung gewogen sein? — Wenn wirklich die von Kung kodifizierte traditionell-chinesische Staatsform allein mit der Weltordnung in vollem Einklang steht, dann bedeutet Neuerungsstreben Wahnwitz; dann kann das Volk nichts weiseres unternehmen, als die alten Normen strengstens zu befolgen; dann hat das, was wir „Stillstand" nennen, den gleichen Sinn wie das ewige Sich-Verjüngen der Natur, das ja auch in unwandelbarem Rahmen geschieht; dann bedeutet Ausmerzen des Häretischen recht eigentlich dasselbe wie das des Untauglichen im Kampfe ums Dasein. . . Nun läßt sich gegen die Staatsform, die das Tao verlangen soll, verschiedenerlei erinnern; noch Gewichtigeres gegen die 352 Alle Ideale sterblich; Chinas Lösung der sozialen Frage. Grundvoraussetzung des statischen (unwandelbaren) Charakters der Weltordnung, die alle Neuerung als widersinnig erscheinen läßt. Die Welt ist tatsächlich im Werden; keine fertigen Ideale liegen ihr zugrunde, sondern die Ideale entstehen neu auf jedem neuen Stadium. Deshalb schließt die Idee einer absolut besten Staats- form schon als solche ein Mißverständnis ein: solange die Welt im Werden verharrt, d. h. solange sie existiert, ist „bestmögliche Staatsform" ein Unbegriff ; jedes konkrete Ideal kann nur gelten für einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit. Aber gerade der, welcher diesen Zusammenhang versteht, wird der chinesischen Weltanschauung die größte Bewunderung zollen. Nicht allein, daß der universalistische Grundgedanke, nach welchem Naturgeschehen und Menschenleben ein lückenlos verknüpftes System bilden, als Theorie grandios ist; nicht allein, daß die Konsequenz, mit der jede einzelne Erscheinung auf ihn zurückgeführt wird, ein vielleicht einzigartiges Beispiel des Ernstmeinens und Ernstnehmens darstellt — so wie die Chinesen die letzten Jahrtausende über waren, hätten sie eine bessere Weltanschauung nicht bekennen können ; die chinesische hat, wie keine andere vielleicht auf dieser Welt, den pragmatic test bestanden. China ist das einzige Reich, welches je für eine längere Periode die „soziale Frage" gelöst hätte; das einzige, in dem die Masse der Bewohner je glücklich war; mithin das einzige, welches das absolute sozial-politische Ideal der Er- scheinungswelt je eingebildet hätte. Sintemalen nun die Chinesen von heute ihren fernen Vorfahren zum Verwechseln ähnlich sehen — wie sollte da ein Gebildeter nicht Reaktionär sein? Auch ich empfinde hier als Reaktionär. Um so mehr, als ich vielen Grund zur Befürchtung sehe, daß das, was China bis heute bewunderns- und ehrwürdig machte, mit der alten Ordnung ver- loren gehen wird. Freilich sind die Chinesen kein Volk von Denkern; ihr bewußtes Denken scheint sich andauernder an der Oberfläche zu bewegen, als das irgendeines Kulturvolks von ver- gleichbarer Begabung. Allein mehr als tiefe Gedanken denken ist wohl der Tiefe entsprechend leben, und das haben die Chinesen bis heute in unvergleichlichem Grade getan; ihr traditionelles Gemein- schaftsdasein hat den gleichen Sinn, wie bei den Indern ihre sublime Philosophie; ihr Leben war ein unmittelbarer Ausdruck des Tao. Wie vollkommen htben sie von je das Problem des Glückes gelöst! Jeder Kuli lebt die ewige Wahrheit, die unsere Das Glücks problem; chinesische Courtoisie. 353 Größten tauben Ohren gepredigt haben, daß Glück Sache des inneren Verhaltens ist und von den äußeren Umständen als solchen nicht abhängt. Die Theorie des unbeeinflußbaren Weltverlaufs ist freilich falsch; daß wir nicht dem Grundsatze Mong Tses entsprechend handeln: „besser als gute Ackergeräte anschaffen ist abwarten, bis daß die Witterung günstig wird", hat uns zu Beherrschern der Natur gemacht. Aber wie teuer haben wir diesen Erfolg bezahlt! Seitdem wir wissen, daß die Außenwelt verwandel- bar ist, haben wir samt allen anderen auch das Problem des Glücks in sie hineinverlegt, was uns, bis daß wir einmal umkehren, zu aussichtslosem Elend verdammt. Und so weiter. Jeder Chinese, so oberflächlich er denken, so unzweckmäßig er handeln mochte, lebte bisher eine tiefe Philosophie; er rechnete mit der Außenwelt als einem wirklich Äußerlichen, suchte das Eigentliche in einer anderen Dimension. In Europa tun dies meist nur Frauen, die dort weitaus die tieferen Lebensphilosophen sind. Die Frau ist denn auch typischerweise konservativ. In der Tat: wenn das Eigent- liche von äußeren Verhältnissen keinesfalls in Mitleidenschaft gezogen wird, dann erscheint es leicht zweckmäßiger, in einer unveränderlichen Umwelt zu leben, der man ein für alle Male angepaßt ist, als sich immer wieder neu anpassen zu müssen, ohne dadurch ein besseres Gesamtergebnis zu erzielen. Ist nicht alles Dauerhafte reaktionär? Die Natur als solche ist es; nicht allein, daß sie von zielstrebigem Fortschreiten nichts weiß — überall schlägt sie, wo sie von außen her verwandelt ward, kaum sich selbst überlassen, zum Ursprünglichen zurück und dieses, dieses allein erscheint unsterblich. Vielleicht liegt hier die Lösung des Problems, weswegen die asiatischen Völker im allgemeinen langlebiger sind als die europäischen: entweder es herrscht in ihnen das Physiologische, oder aber das Geistige hat sich, dank konservativer Gesinnung, so innig jenem vermählt, daß es zur zweiten Natur geworden ist. Wie vollendet ist die Courtoisie des gebildeten Chinesen! Es ist ein ästhetischer Genuß, mit ihm umzugehen, trotz der ungewöhnlichen technischen Schwierigkeiten, die der chinesische Höflichkeitskodex dem Ausländer bereitet. Die Etikette bedingt eben per se eine Erleichterung des Verkehrs: Keyserling, Reisetagebuch. 23 354 Typische Form der individuellen Ausprägung am günstigsten. zwischen inkongruenten Elementen stellt sie eine Gleichung her, welche jedesmal aufgeht; sie setzt den Sünder der Gottheit, den Bettler dem König gleich, führt Fremde auf ebener Bahn gegen- seitiger Verständigung zu. Ich hatte mich, bevor ich unter Chinesen kam, mit den Grundvorschriften ihres Comments vertraut gemacht; nun befolge ich ihn, so gut ich kann, und finde zu meiner Freude, daß es geht. Im vornehmen Chinesen erscheint jene verfeinertste Form der Vollendung erreicht, woselbst Liebenswürdigkeit im Rahmen der strengbefolgten Sitte die Persönlichkeit zum entsprechenden Aus- druck bringt. Wie selten begegnet sie einem im modernen Europa! Nur bei wenigen französischen Grand-Seigneurs habe ich gleich- wertiges beobachtet, und das waren nachgeborene Söhne des 18. Jahrhunderts; wer heute gute Manieren hat, ist meist kon- ventionell, und entsprechend oberflächlich. Um in der objektiven Form den persönlichsten Inhalt zu realisieren, muß man gebildeter sein, als die Erziehung im heutigen Europa ermöglicht. In China ermöglicht sie es noch, weswegen die Großen dieses Landes auf einer höheren Kulturstufe stehen, als die unserigen. Denn die typische Form ist vollkommener individueller Ausprägung nicht hinderlich, im Gegenteil: die individuelle schließt solche meist aus. Je mehr eine Kunst sich vollendet, desto klassischer wird sie, welches heißt: desto mehr wird das Zufällig-Individuelle zum Allgemeingültigen sublimiert. Das gleiche gilt -vom Menschen. Je mehr er sich verinnerlicht, vertieft, potenziert, desto mehr tritt das Persönliche in den Hintergrund, desto mehr allgemeinmensch- lich erscheint sein Wesen. So sind alle wahrhaft großen Menschen mehr Typen als Individuen gewesen. Tolstoi ist mehr Russe als Person, Voltaire mehr Franzose als er selbst; und jene ganz gewaltigen, die alle ständischen und nationalen Schranken sprengen, sind deshalb nicht weniger, sondern in noch weiterem Sinne typisch : es sind Menschen schlechthin, nach einem der ganz allgemeinen Schemen stilisiert: des Heiligen, des Täters, des Denkers. So hat sich Christus den „Menschensohn" genannt, und Buddha den „Vollendeten". — In eben dem Sinn hat sich die Courtoisie, die Befolgung der allgemeinsten Norm, die den ersprießlichen Verkehr der Menschen untereinander regelt, überall und zu allen Zeiten als bestmögliches Ausdrucksmittel einer höchstgebildeten Persön- lichkeit bewährt. Ehrfurcht als Grundlage aller Tugend ; das Buch der Riten. 355 Woher kommt es, daß dieses Höchste bei gebildeten Chinesen in der Regel, nicht nur ausnahmsweise, erreicht erscheint, während bei uns die vollendeten Grand-Seigneurs sogar im 17. Jahrhundert selten waren? Das ist das Werk zweier Schriften, die seit über zweitausend Jahren alle Erziehung im Reich der Mitte inspiriert haben : des Buches von der Ehrfurcht, des Hiau ging, und des eigent- lichen Katechismus der chinesischen Zivilisation, des Buchs der Riten. Ersteres baut die gesamte Moral (die nach hiesigen Begriffen alles Leben überhaupt in sich beschließt), auf dem Prinzip der Ehrfurcht auf. Gleich Goethe, sieht auch die chinesische Weisheit in dieser, „die niemand mit auf die Welt bringt, das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei"; gleich ihm stellt auch sie sie dreifach vor: als Ehrfurcht vor dem, was über uns, was unter uns und was uns gleich ist; ihr gilt Ehrfurcht vor allem was da ist geradezu als Grundlage aller Tugend und aller Weisheit. Und das ist sie wirklich: nur dem, was man vollkommen ernst nimmt, wird man gerecht. Deshalb ist Höflichkeit kein wesentlich Äußerliches, sondern der elementarste Ausdruck von Sittlichkeit: während Tugend und Güte nicht von jedem billig verlangt werden können, kann es doch das formelle Geltenlassen fremder Persönlichkeit. 1 ) Dies gibt denn der Cour- toisie ihren tiefen Sinn. Diesen Sinn nun hat das zweitgenannte Werk, das Buch der Riten, das ihn seinerseits voraussetzt, zu einer wunderbaren theoretischen Lehre ausgestaltet. Es behauptet: der Mensch kann nur innerlich vollendet werden, wenn er sich nach außen zu vollkommen gibt, kann nur dann sein Persönlichstes ent- sprechend ausprägen, wenn er die Normen befolgt, die sich im Lauf der Geschichte als die für den Chinesen typischen bewährt haben. Wie grenzenlos fördernd muß es sein, von Kind auf solches gelehrt zu werden! Durch den Umstand, daß als selbstverständlich gilt, daß die Form den Gehalt symbolisiert, das Äußerliche das Innere zum Ausdruck bringt, wird diese Gleichung tatsächlich hergestellt; beim Begabten durch schöpferisches Verständnis, beim Durchschnitt im Sinn des preußischen Soldatendrills. Diesem Er- gebnis kommen weitere Umstände zugute: der Chinese hat einen ursprünglichen Sinn für Etikette, weshalb das Befolgen der Sitte nur selten dem Widerstreben begegnet, das dem europäischen x ) Dieses Verhältnis hat von allen Denkern Europas Wladimir Ssolowioff am tiefsten erfaßt. 23* 356 Courtoisie als Blüte des Konfuzianismus. Jüngling von heute eignet; ferner ist Rücksichtnahme eine Lebens- frage dort, wo die Gemeinschaft den Einzelnen so allseitig bindet, daß er in keiner Hinsicht als sein eigener Herr gelten kann und mithin dort sogar „objektiv" handeln muß, wo nach unseren Be- griffen nur Subjektivität in Frage käme. Aber gleichviel, welche empirischen Verhältnisse mitwirken mögen: durch noch so äußer- liche Umstände wird jedenfalls zuwege gebracht, daß der gebildete Einzelne in China verinnerlichter erscheint, als irgendwo sonst. Die wunderbare Courtoisie, an der ich mich dieser Tage er- freue, ist die Blüte des Konfuzianismus, wie die Durchbildung des moralischen Menschen seine Wurzel bezeichnet. Ist sie nicht groß- artig, diese Weltanschauung, die alle Tiefe an die Oberfläche zu bringen weiß? die eine notwendige Gleichung zwischen moralischer und formaler Bildung herstellt, zwischen Anmut und Würde nicht allein, sondern zwischen Anmut und Ernst, Anmut und Weisheit? — Freilich tritt diese vorausgesetzte Gleichung nur beim Hoch- gebildeten wirklich in die Erscheinung; in der Masse dominiert hier, wie überall, wo die Kultur ähnliche Höhe erreicht, Äußer- lichkeit. Von allen europäischen Völkern ist das französische das gesellschaftlich gebildetste, und auch bei dem führt die Form mehr und mehr ein vom Gehalte unabhängiges Dasein; wie in China Manieren herrschen, die in keinem Verhältnis stehen zur ethischen Qualität, so kann ein dummer Franzose geistreich er- scheinen, bloß weil die Sprache gar so geistreich ist. Was ist nun vorzuziehen, eine vollkommene äußere Zivilisation, die an sich be- steht und das Individuum nicht notwendig beeinflußt, oder voll- endete Aufrichtigkeit der Subjekte, welche so, wie die Menschen heute sind, einen barbarischen allgemeinen Zustand zur Folge hat? Diese Frage wird man verschieden beantworten, je nachdem, ob man katholischen oder protestantischen Geistes ist. Der katholisch Ge- sinnte wird darauf den Nachdruck legen, daß die Befolgung der objektiv-besten Norm, und geschähe sie noch so äußerlich, auf die Dauer den inneren Menschen beeinflußt, so daß es nicht als Un- glück gelten kann, wenn er zeitweilig unaufrichtig erscheint, da er auf diesem Wege zu einem höheren Zustand hinauf erzogen werde; und wird dem Protestanten entgegenhalten, daß allzu großer Nach- druck auf augenblickliche Aufrichtigkeit den Menschen für den Augenblick wohl frei macht, ihm aber recht eigentlich seine Zu- kunft nimmt; wer sich nicht durch das, was über ihm steht, und Kultur der Aufrichtigkeit ; Anmut als W eisheitsxausdruck. 357 was ihm eben deshalb nicht entsprechen kann, bestimmen lasse, gelangen nimmer über sich selbst hinaus. — Der protestantisch Gesinnte hingegen wird urteilen, daß Aufrichtigkeit das absolut Bessere ist, gleichviel wie teuer man sie bezahlt, weil der Mensch nur durch eigene Erfahrung wesentlich gefördert wird und selbst- gewonnene Einsicht, so unvollkommen sie sei, unter allen Um- ständen mehr Wert habe, als noch so gutes Handeln unter Autorität; von einem Verzicht auf die Zukunft um der Gegen- wart willen könne aber deshalb keine Rede sein, weil, wie der Erfolg beweist, die protestantischen Völker gerade die fortschritt- lichen sind. Die Katholiken stehen noch heute eben da, wie vor Jahrhunderten, während die Puritaner, vor 200 Jahren Barbaren, heute, wie jedermann weiß, an der Spitze der Zivilisation mar- schieren. — Das ist richtig. Ohne Zweifel bedeutet Kultur der Aufrichtigkeit die weiter ausschauende Politik, als Kultur der voll- kommenen Form. Aber vom Standpunkt jeder gegebenen Gegenwart gesehen, erscheint diese als die ersprießlichere. Denn sie allein gibt ein Bild der erreichten Vollendung, während jene sie nur für die Zukunft in Aussicht stellt. Darf man die chinesische formale Kultur als vorbildlich bezeichnen? — Wird sie dem Geiste nach verstanden, un- bedingt; von allen Menschen haben die Chinesen die Ober- fläche am vollkommensten durchgeistigt, die vollständigste Ver- schmelzung von Sinn und Form zustande gebracht. Immer wieder komme ich auf Konfuzius' Bild des Edlen zurück, dessen Tiefsinn in seiner Anmut zutage trete: vollendeter könnte kein Halbgott sein. Meist schließen Tiefe und Gefälligkeit sich aus, Urkraft und Grazie, Facilität und Gründlichkeit; fast scheint es undenkbar, daß ein Mensch die Vorzüge des Deutschen und des Franzosen in sich vereinen sollte. Der Chinese vereint sie im Höchstfall wirklich in sich. Und wenn er jenen der Tiefe nach vielleicht nicht ganz er- reicht, wenn er weniger beweglich ist als dieser, weniger glitzernd, weniger fein ; wenn seine Naturanlage auch keine so reiche ist, als wir sie häufig besitzen, so stellt sein gebildetes Dasein nichts- destoweniger eine Synthese des Menschentums dar, wie sie gleich umfassend noch nirgends verwirklicht ward. Dem Geiste nach ist sie sicherlich vorbildlich ; ich wenigstens wüßte keine vorzustellen, die des Nacheiferns würdiger wäre. Nun 358 Vorbildlichkeit der chinesischen Kultur ; Dichter als Sprachrohre. aber frage ich mich: ist ihre Verwirklichung am Ende an die chine- sische Sonderart gebunden? Es könnte sein. Die Welt ist darin wunderlich beschaffen, daß es ofL schlechterdings zufälliger Kon- stellationen bedarf, um einen ewigen allgemeingültigen Sinn der Erscheinung einzuverleiben. Wie der Dichter durchaus nicht der „einzig wahre Mensch" ist, wie Schiller wähnte, der Mensch mit dem stärksten Erleben, der größten Leidenschaft, sondern der, den eine zufällige Konjunktur von Talenten zum Sprachrohre dessen macht, was andere oft viel tiefer besitzen; wie das „Genie" kein selbstbegründetes Sonderwesen ist, sondern durch' das Zu- sammentreffen bestimmter Anlagen mit bestimmten historischen Ge- gebenheiten entsteht, von denen keine für sich allein zur genialen Schöpfung geführt hätte — so mag es wohl sein, daß die chinesische Vollendung, die dem Sinne nach ein Absolut-Höchstes bezeichnet, auch nur chinesisch darzustellen ist. Diese Darstellung aber kann uns kein Vorbild sein. Es bedarf doch einer sehr speziellen Ver- anlagung, um im Befolgen strengvorgeschriebener Riten vollkommen ursprünglich zu sein, um im bewußten Verbleiben innerhalb eines Lebensrahmens starrster Art Ursprünglichkeit zu betätigen. Gar so fremd, wie es scheint, ist diese Art uns wohl nicht : die Engländer sind nicht viel anders. Auch sie tun meistens das gleiche, denken das gleiche, wollen das gleiche, und sind dabei doch originell ; der Brite äußert Gemeinplätze mit der gleichen Überzeugungskraft, wie Galilei einst sein eppur st muove ; dementsprechend ist er auch von allen Europäern bei weitem der vollendeteste Mensch. Aber ge- rade wenn man die prinzipielle Ähnlichkeit zwischen Chinesen- und Britentum erkennt, wird man starke Zweifel hegen, ob das absolute Vollendungsideal einer allgemeinen Verwirklichung fähig sei. Man kann alles werden, nur kein Engländer, wenn man als solcher nicht geboren ward ; dieses Sosein ist strengstens bedingt, von tausend Kleinigkeiten, Zufällen, Beschränkungen und Vorurteilen abhängig, mehr so als irgendein anderer Ausdruck europäischen Menschen- tums; und nur wo diese Vorbedingungen erfüllt sind, treten die Vorzüge des Engländers zutage. Desgleichen stand und fiel die individualistische Renaissancekultur mit dem Vorherrschen außer- ordentlicher Individualitäten. — Also mag es wohl sein, daß auch das Beispiel Chinas unnachahmlich ist. Ich für meinen Teil bedauere das nicht, denn ich glaube nur schwach an das allgemeine und allseitige Fortschreiten des Extremer Charakter der chinesischen Äußerlichkeit. 359 Menschengeschlechts ; glaube auch nicht, daß es wünschenswert wäre. Denn wohin führte es? zu fortschreitender Einförmigkeit. Es ist uns besser, daß unsere Ideale blitzartig hie und da, bald im Altertum, bald jetzt und bald irgendeinmal, bald in China, bald in Hellas und bald in Deutschland, eine kurzlebige Verwirklichung erfahren, so daß wir geistig immerdar auf der Ausschau bleiben, besser, sage ich, als daß wir in billigem Optimismus dahin- schwelgend uns dem Zuge der Zeit überlassen, der uns mecha- nisch dem Idealzustande zuführen soll. Ich muß mich doch auch der Kehrseite der chinesischen Form- kultur zuwenden : der ungeheuerlichen Äußerlichkeit, die sie als ganzes heute kennzeichnet. Daß sie überhaupt äußerlich ist, versteht sich von selbst: unmöglich kann vollendete Form wahrhaftiger Ausdruck selbst einer höchstgebildeten Masse sein. Eine Masse mag liebens- würdig, rücksichtsvoll, zuvorkommend und dennoch aufrichtig sein, aber nicht aufrichtig und zugleich höfisch-höflich; soviel Form zu füllen geht über ihre Kraft. Woher aber der extreme Charakter der chinesischen Äußerlichkeit? — Denn extrem ist er in der Tat. Der Durchschnittschinese ist dessen, was sich schickt, dermaßen ein- gedenk, daß er sich nur ausnahmsweise ohne Hintergedanken gibt; nur wo er sich vollkommen sicher fühlt, ganz unbefangen zeigt; er ist recht eigentlich, sein ganzes Leben entlang, sein eigener Zeremonienmeister. Dementsprechend fühlt er sich nur verantwort- lich für das, was nach außenzu geschieht, für das „Klappen" des Zeremonials; die Gesinnung ist nicht von seinem Ressort, dünkt ihn belanglos. — Ein Lebendig-Gewordenes ist als solches nie ab- zuleiten ; das Eigentliche entrinnt der Begründung. Immerhin kann es nicht schaden, wenn ich die allgemeinen Ursachen, welche in Frage kommen, in abstracto kurz zusammenfasse: der extreme Charakter der chinesischen Äußerlichkeit rührt daher, daß ein Volk von geringem Individualitätsbewußtsein, von außerordentlichem Formensinn und von ausgesprochen sozialer Veranlagung seit Jahrtausenden in zu vielen Exemplaren vorhanden war. Man stelle sich vor, abertausende von friedfertigen praktischen Menschen befänden sich in kleinstem Raum zusammengepfercht, könnten nimmer aus ihm hinaus. Die einzige Möglichkeit eines 360 Rücksichtnahme bedingt Unaufrichtigkeit. guten Auskommens läge da in striktem Befolgen dessen, was allen richtig dünkt. Im Verkehr kommt es nie auf die Gesinnung an sich, sondern auf deren Ausdruck an, nicht auf das Sein, sondern den Schein; in einem Gemeinwesen, wie dem vorausgesetzten, wäre dies in äußerstem Maße der Fall. Es gäbe überhaupt keinen Spiel- raum für persönliche Velleitäten, nur ein Leben, das streng der Norm entspräche, könnte gedeihen. Bestände überdies ursprüng- liche Neigung, das Unumgängliche zu tun, so käme dies dem Pre- stige der Sitte weiter zugute, das auch der Formensinn nur steigern kann. Auf diese Weise erschiene das Gemeinschaftsleben bald ganz nach objektiven Normen reguliert und eben damit veräußer- licht. — Der tatsächliche Zustand der chinesischen Gesellschaft läßt sich, wie man sieht, a priori konstruieren. Was beweist das? Wie naturgemäß er ist. Tatsächlich stehen denn auch wir den Chinesen näher als wir glauben. Wir machen uns gern lustig über das chinesische „Gesicht", die Sucht vor allem den Schein zu wahren ; das Paradox, daß einer ohne Murren die Folgen seines Unrecht- tuns trägt, sofern er nur fingieren kann, als leide er unschuldig oder als sei sein Leiden gar kein Leiden: von uns gilt genau das gleiche. Auch bei uns kommt im Gemeinschaftsleben alles auf den Ruf, die öffentliche Meinung, den Nimbus, den Mythos an; auch bei uns bedingt das Gemeinschaftsleben allenthalben Veräußerlichung. Sobald Rücksicht auf andere überhaupt das Verhalten beeinflußt, muß die Aufrichtigkeit, die Treue gegen sich selbst in den Hintergrund treten; sobald jene entscheidet, kommt diese überhaupt nicht mehr in Frage. Mit dem Setzen des Rücksichtnehmens als Wert wird die bloße Möglichkeit einer Kon- gruenz von Sein und Tun, oder von Sein und Schein, im Prinzipe aufgehoben. Man führe hiergegen nur nicht die christliche Liebe an : gerade sie ist wesentlich rücksichtslos ; sie schert sich den Teufel um die Gefühle des Nächsten ; sie will ihm gut um des Guten willen. Nur insofern wir schlechte Christen sind, nehmen wir Rücksicht auf unsere Mitmenschen. — Die chinesische Gesell- schaft bringt also nur Typisches extrem, meinetwegen karrikiert zum Ausdruck ; die Chinesen sind kein exzentrisches Volk, sie sind nur die ausgeprägtesten und konsequentesten Menschen. Und in gewissem Sinn sind sie die aufrichtigsten. Wir alle schau- spielern ständig vor uns selbst; wir alle halten uns, in bewußter Selbsttäuschung, für anders als wir wissen, daß wir sind ; wir alle Ritualistische Weltanschauung der mechanistischen äquivalent. 361 sind es innerlich zufrieden, wenn, dank noch so bedenklichen Trans- aktionen, die Apparancen vor uns selber gewahrt bleiben. Nur vor anderen scheuen wir den Schein. Die Selbstentwickelung der Idee, wie Hegel sagen würde, hat das kurzweilige Ergebnis gezeitigt, daß wir uns anderen gegenüber gerader erweisen als vor uns selbst; daß wir aus Unwahrhaftigkeit wahrhaftig sind. Demgegen- über wirkt die chinesische Art, vor anderen ebenso zu spielen wie vor sich selbst, ohne Zweifel als die aufrichtigere. Man wähne nicht, ich scherze hier bloß ; ich meine es ganz ernst. Wer an die größere Aufrichtigkeit der Chinesen nicht glauben sollte, der nehme einmal die Zeitungen zur Hand, in der sie ihre inneren Angelegen- heiten besprechen: nie ist mir. so uneitle Betrachtungsart be- gegnet, nie so rückhaltlose Sachlichkeit. Wo sie es aufrichtig meinen, dort sind sie's auch, sonst nicht; wir tun so, als wären wir es immer. Auch das ist typisch, kein Beweis der Exzentrizität, daß von den Chinesen dem Zeremonial eine Bedeutung zuerkannt wird, die dem modernen Menschen ungeheuerlich vorkommt. Allerdings kommt es in China mehr auf die Form als auf die Sache an: aber diesem Verhältnis begegnen wir überall auf einem bestimmten Entwickelungsstadium. Je mehr ein Volk noch „Naturvolk" ist, also je einfacher, urwüchsiger es sich nach der Theorie des 18. Jahr- hunderts darstellen sollte, desto mehr bedeutet ihm das Ritual. Im Lauf der Entwickelung subtilisiert sich dies Verhältnis zu- nächst; die Riten werden verstrickter, verfeinerter; bis dann ein- mal der Punkt erreicht erscheint, wo der Einzelne sich gegen die von der Gesamtheit geschaffenen Normen aufbäumt und die histo- rische Form zuletzt zerbricht. Wir Europäer befinden uns im letzten der skizzierten Stadien, die gebildeten Chinesen hingegen auf dem vorletzten; dem, wo die objektive Norm ihre äußerste Gestaltet- heit erreicht hat. Dieses stellen die Chinesen in klassischer Typik dar, klassischer noch als in Europa die Franzosen des 17. Jahr- hunderts, deren Zustand der chinesische von gestern so auffallend gleicht; ihnen gilt die Form des Geschehens recht eigentlich als dessen Substanz. Psychologisch beruht diese Auffassung darauf, daß der Mensch den Gestaltungen, die er erfand, zunächst nicht gewachsen ist und sie dementsprechend überschätzt — im Fall der Riten genau wie in dem der Maschinen (die mechanistische Welt- anschauung von heute ist der ritualistischen psychologisch äqui- 362 Kein metaphysischer Unterschied zwischen Naturformen u. Zeremonien. valent); er sieht in ihnen selbständige Wesenheiten, nicht bloß Organe oder Ausdrucksmittel seiner selbst. Biologisch aber hängt sie unmittelbar mit der Unindividualisiertheit des Menschen dieser Stufe zusammen. Wo die Klasse im Bewußtsein des Einzelnen mehr bedeutet als dieser selbst, dort gehen die Normen, die für die Gemeinschaft gelten, der persönlichen Gleichung notwendig voran ; dort hat striktes Befolgen der Sitte die gleiche metaphysische Be- deutung wie bei unsereinem die Aufrichtigkeit. Je nach der geistigen Befähigung und Kultur wird dies verschieden gedeutet: mystisch veranlagte Völker, gleich den Indern, sprechen den Riten magische Tugenden zu, phantasieärmere, wie die Franzosen, beruhigen sich bei der Sitte als letzter Instanz. Die Chinesen nun haben die tief- sinnigste Theorie ersonnen, die sich für dieses Verhältnis über- haupt erdenken ließe, und zwar tiefsinnig weniger im Sinn des Verständnisses als im bedeutsameren der Wirkung auf das Leben: sie haben gelehrt und den Glauben bekannt, daß das Befolgen der objektiven Norm den Einzelnen notwendig seiner persönlichen Voll- endung zuführt. Die Masse ist trotzdem äußerlich geblieben, aber dem höheren Durchschnitt war damit ein Weg gewiesen, der sicherer, wenn nicht schneller, zum Ziel führt, als alle, welche wir gewandelt sind. Die Bedeutung der Zeremonie in China ist eine typische, keine außerordentliche Erscheinung; sie ist typisch für eine Gesellschaft von geringer Individualisiertheit und gleichzeitig hoher Kultur. Der moderne Europäer findet es schwer, die Lebensformen einer solchen ernst zu nehmen. Aber wenn Gestaltungen überhaupt ernst zu nehmen sind, dann sind es diese auch. Für den Meta- physiker besteht kein Unterschied zwischen den Formen, welche die Natur in die Welt setzt und denen der erfinderischen Phantasie. Als Erscheinungen sind beide gleich wirklich, dem Sinne nach sind beide eins. Und wenn auch er zuweilen nicht umhin kann, die chinoiserie ein wenig grotesk zu finden, als Karrikatur allgemeiner Menschenart, so erscheint sie ihm gleichzeitig gesteigert zur Karri- katur der Schöpfung überhaupt. Alle bestimmte Gestaltung kann als Vorurteil gelten; jegliche wirkt, von irgendeinem Standpunkte aus besehen, grotesk. Es ist eine Frage der Stimmung, der je- weiligen Laune, ob man über den Menschen als solchen, dieses seltsame Zwitterprodukt, oder die speziellen Zeremonien, die er bei der Begrüßung beobachtet, zu lächeln Lust verspürt. China und Rußland; die chinesische Substanzialität. 363 DURCH SHANTUNG. Immer mehr packt mich, beeindruckt mich die Größe Chinas. Es ist ein Universum für sich, so wesentlich groß, wie kein anderes Reich, das ich betreten habe, und schon verstehe ich gut, daß seine Bewohner die übrige Welt wenig ernst zu nehmen geneigt sind. Bisweilen fühle ich mich an Rußland gemahnt, jenes andere Riesen- reich, das immerdar groß erscheinen wird, was immer ihm wider- fahren mag: was ist dieses Gemeinsame, das mir durch alle Unter- schiede hindurch so stark ins Bewußtsein tritt? Ich weiß es nicht recht ; aber ich glaube, daß es die Großzügigkeit ist, welche China im selben Sinne von allen Ländern des Ostens, wie Rußland von denen des Westens unterscheidet. Es gibt nichts Weiteres, Umfassenderes, als die „braune Ebene", und im engsten spiegelt sie sich wieder; jeder wurzelechte Russe ist wesentlich (wenn auch nicht immer tatsächlich) eine weite, großzügige Natur. So ist auch die klare, scharf um rissene chinesische Landschaft ein- förmig, rhythmisch und groß und die Bewohner tragen ihren Stempel. Auch der Chinese wirkt wesentlich weit, so trocken und philiströs er häufig sei, denn der dhinoiserle liegt eine gewal- tige Einheit zugrunde. Der überaus vielsagende Ausdruck chinoiserie ruft zunächst ja die Vorstellung von Kleinlichem wach, wie denn das Entsprechende in Birma, Siam und Japan tatsächlich klein- lichen Charakter trägt. In China spürt man durch jede Arabeske hindurch die Substanz einer mächtigen Volksseele. Und deren Macht ist unheimlich werbend. Ich weiß es gewiß : auf die Dauer würde sie von mir vollkommen Besitz ergreifen, wie sie von so vielen schon Besitz ergriffen hat. Die Substanzialität der Chinesen fällt desto stärker in die Augen, weil das Äußerliche vielfach einen Charakter trägt, den wir Europäer nur schwer in der Vorstellung mit Tiefe zu verneinen wissen ; das Zierliche, Graziöse, Verschnörkelte kommt uns als solches oberflächlich vor. Der Chinese aber ist tief; vielleicht der tiefste aller Menschen. Keiner wurzelt so tief in der Naturordnung, ist so wesentlich-moralisch; keinem bedeutet das Äußere so viel. Nur tiefe Menschen sind fähig, die Form so ernstzunehmen. Aber was der chinesischen Tiefe ihr einzigartiges Gewicht ver- leiht, ist daß sie fleischgewordene Tiefe ist ; sie ist gleichsam spiri- 364 Spiritualisierte Schwerkraft; der Hintergrund des Asiaten. tualisierte Schwerkraft. In den Meisterwerken der altchinesischen Kunst trägt der Geist einen so kräftigen Körper, wie nirgends sonst. Wie gewaltig wirken altchinesische Buddha-Statuen! Sie atmen das Kraftmaß, das ein Gott besitzen müßte, um auf Erden als Gott zu erscheinen. Etwas von dieser Kraft wohnt jedem Chinesen inne, China als ganzes aber ist durch und durch von ihr beseelt. Wer China würdigen will, muß unentwegt die Chinoiserie, die Größe des Reichs und die wurzelhafte Kraft seiner Bewohner auf einmal im Auge behalten. Die Courtoisie muß er mit der Substan- zialität, die Zierlichkeit der Kunst mit der Größe der Natur zu- sammenschauen. Wie wenig hängt doch wesentliche Größe vom Zufall der Ausdrucksgelegenheiten ab! Diese Größe wird einzig vom Sein bestimmt. China ist groß geblieben, obschon es im Kriege meist geschlagen ward, obgleich es selten eine starke politische Einheit war und wird groß bleiben, auch wenn es ein- mal aufgeteilt werden sollte. Jetzt bin ich in Asien. Ich bin nicht mehr in dem Orient, der von Griechenland über Ägypten, Kleinasien und Persien bis nach Indien und Süd-China reicht; ich bin in dem Asien, das in Rußland beginnt und alle Völker des weiten Binnenlandes zu einer großartigen Einheit verknüpft. Psychologisch ist der Russe dem Inder näher verwandt als dem Chinesen; in vielen Hinsichten schwingt die russische Seele unisono mit der alt-indischen, beide Völker stehen im gleichen Grundverhältnis zu Gott und Natur. Aber den Hintergrund hat der Russe mit dem Chinesen ge- mein. Der Hintergrund aller Asiaten ist die konkrete Unendlich- keit, die Unendlichkeit im Raum und in der Zeit. Den hat kein Europäer, kein Inder. Vergleicht man einen bedeutenden Deut- schen mit einem ihm gleichwertigen Russen, so frappiert der weitere Hintergrund, von welchem dieser sich abhebt: das ist das Asiatische an ihm» Hinter dem Europäer steht nie mehr als seine Geschichte, die ihm freilich, wo sie groß und reich und be- deutsam ist, ein Relief verleiht, wie kein anderer Mensch es besitzt. Aber dieser Hintergrund ist immerhin ein endlicher und die klarsten Umrisse ersetzen die Weite nicht. Hinter dem Orientalen steht die Legende oder das Märchen: das ist insofern mehr, als Europäer und Asiaten; Asiens nicht-anthropozentrische Weltanschauung. 365 das Mögliche immer mehr als das Wirkliche ist, aber andrerseits doch weniger, da sich dran zweifeln läßt. Deshalb hat der Orien- tale etwas Irreelles: er wirkt wie ein quasimodogenitus, der zu- gleich unendlich alt wäre. De*r Hintergrund des Asiaten ist die unermeßliche Natur, das endlose Weltgeschehen. So hat der Inder den Menschen wohl erschaut, aber seine Erkenntnis hat sich in Leben nicht umgesetzt; die Natur, die er so tief verstand, hat in concreto für ihn kaum existiert. Wie sehr existiert sie für den Russen ! Keiner fühlt sich so eins mit ihr, wie der einfache Mushik, kein Künstler hat den Menschen so plastisch im Zusammen- hang des Lebens dargestellt wie Leo Tolstoy. Die weiche, zarte Seele des Slaven steht in unmittelbarer Sympathie mit dem All, das ihm zum Hintergrunde dient. — Sympathievermögen in diesem Sinn besitzt der Chinese wohl nicht, der nüchtern-trockene; den- noch hat er den gleichen lebendigen Hintergrund. Bei ihm, dem sozialen Genie, tritt der Welt-Sinn in der Ordnung des Lebens zu- tage. Wer sonst ist darauf gekommen, die Zeremonien, die der Himmelssohn vollführt, den Ablauf der Jahreszeiten und das Ge- meinschaftsleben in einem Zusammenhang zu sehen? Wer hat dieses auch nur annähernd so tief erfaßt? Auch dem Chinesen erscheint es auf seine Art selbstverständlich, daß alles zusammenhängt. Der Asiate hat den Menschen der Natur nie fremd gegenübergestellt, sondern als Teil ihrer betrachtet. Wie ergreifend wirkt es in der Anna Karenina, daß der Tod der Heldin in ihr nicht anders be- urteilt und dargestellt wird, als der des edlen Rennpferdes vorher! Wie großen Stil verleiht ihr nicht-anthropomorpher Charakter der chinesischen Kunst! Wohl ergibt es ein wunderschönes Bild, wenn die Natur so auf die Fläche gebannt wird, wie ein Homer und ein Goethe dies vermocht haben. Aber tiefsinniger ist wohl, zwischen Mensch und Natur nicht zu scheiden und beide von innen her als unauflösliche Einheit zu verstehen. 366 Chinesisches Bauerntum. TSI NAN FU. So eindrucksvolle Bilder der Ländlichkeit, wie auf der Fahrt durch das Innere Chinas, haben sich noch nie vor mir ent- rollt. Aller Boden ist in Kultur, sorgfältig gedüngt, sauber und sachgemäß beackert, bis zu den höchsten Kuppen der Hügel hinan, die den Pyramiden Ägyptens gleich in künstlichen Ter- rassen abfallen. Die Dörfer, aus Lehm erbaut, von Lehmmauern umgürtet, wirken als Naturformen in dieser Landschaft: so wenig heben sie sich ab vom bräunlichen Hintergrund. Überall sieht man die Bauern bei der Arbeit, methodisch, bedächtig und heiter, überall wird die weite Fläche von ihnen belebt; das Blau ihrer Kittel ge- hört so notwendig zum Bild, wie das Grün der bestellten Felder und das grelle Gelb der ausgetrockneten Strombetten. Der gelbe lebendige Mensch ist aus dieser Ebene nicht hinauszudenken. Zugleich aber stellt diese einen einzigen unermeßlich großen Fried- hof dar. Kaum eine Ackerparzelle, die nicht zahlreiche Grabhügel trüge ; wieder und wieder muß sich der Pflug pietätvoll durch die Gedenksteine hindurchwinden. Einen solchen Eindruck der Wurzel- echtheit, der Bodenständigkeit gibt keine andere Bauernschaft. Hier geht das ganze Leben und das ganze Sterben im angestammten Acker auf. Der Mensch gehört ihm, nicht er dem Menschen; un- veräußerbar, läßt er seine Kinder nimmer los. Mag deren Zahl noch so sehr anwachsen, sie verbleiben auf ihm, durch immer emsigere Arbeit der Natur ihre kargen Gaben abtrotzend; und sind sie tot, dann kehren sie vertrauend in den Mutterschoß zurück. Dort aber leben sie für immer fort. Dem chinesischen Bauern, gleich dem vorhistorischen Griechen, gilt das scheinbar Tote für belebt. Die Scholle strahlt ihm den Geist seiner Vor- fahren aus, sie sind es, die seine Mühe lohnen, die ihn für seine Versäumnis züchtigen. So ist ihm der angestammte Grund und Boden zugleich seine Geschichte, sein Gedächtnis, seine Er- innerung; er kann ihn ebensowenig verleugnen wie sich selbst; er ist selbst ja nur ein Teil seiner. — Was sind alle ländlichen Idyllen, von den Georgicae bis zu Hermann und Dorothea, neben dieser Epopöe? Moralität und Naturverlauf zusammenhängend ; die Würde des Bauern. 367 Ich muß an die Verse Lautses denken: Der Mensch hat die Erde zum Vorbild, Die Erde hat den Himmel zum Vorbild, Der Himmel hat den Sinn zum Vorbild, Und der Sinn hat sich selber zum Vorbild. Der chinesischen Weltanschauung nach bilden Himmel und Erde, Weltgeschehen und Menschenleben, Moralität und normaler Naturverlauf einen einzigen festen Zusammenhang. Der Himmel steht über der Erde und die Erde über dem Menschen. Der Bauer ist der Mensch, der ihr am strengsten unterworfen ist. Insofern aber bildet er das Fundament des ganzen Zusammenhangs. Tut er nicht genau seine Pflicht, dann geraten Staat sowohl als Himmel ins Wanken. Damit erhält er eine Würde, wie kein anderes Wesen der Welt. Würde erkennt ihm im Prinzip wohl jede politische Weltanschauung zu; überall wird das Höchste vom Untersten getragen, das Höchstdifferenzierte von der amorphen Masse; das liegt in der Natur der Dinge. Für Chinesen aber hat diese Würde einen besonderen, gar wundersamen Sinn: ihr Geist setzt einen lebendigen, nicht bloß einen mechanischen Zusammenhang zwischen sämtlichen Teilen der Welt, wodurch das Höchste im Untersten nicht allein begründet, sondern gespiegelt erscheint; der chinesische Bauer könnte sich, wofern er dächte, als Träger des Himmels fühlen. Wo sonst ist das dumpfe Dasein der Masse zum Spiegel bewußter Weisheit geweiht worden? wo sonst die triebhaft befolgte Lebensroutine zum Sinnbild gedanken- vollster Harmonie? Das ist eine Organisierung des Lebens, die dem Sinne nach nie übertroffen ward. Und dieser große Sinn hat dann, wie immer, wo er wahrhaft groß ist, auch dort die Er- scheinung durchdrungen, wo er kaum verstanden worden ist. Der Zusammenhang, den die Mythe postuliert, steht im Chinesenleben tatsächlich verwirklicht da. Die differenzierten Organe, zumal die Kaiser, haben wohl häufig versagt: der chinesische Bauer war von je und ist noch heute ganz wie er sein soll. Da sieht man, wie sehr es der Geist vermag, die Welt über sich hinauszuheben, wie blind jene Naturalisten sind, welche die Ideale verleugnen und abweisen, die sich nicht als der Natur ursprünglich gemäß erweisen lassen: ob sie ihr ursprünglich gemäß sind oder nicht — sie können es werden. Der Geist säet in die Materie seine Ideale ein, und wenn die Saat aufgekommen und reif geworden ist, er- scheint das Weltall verwandelt. 368 Das Drachensymbol ; Bedeutung des Himmelssohns. In der Beherrschung der Natur sind wir Europäer China weit voraus; das Leben als ihr bewußter Teil hat dort seinen bisher höchsten Ausdruck gefunden. Und schließlich sind wir Teile der Natur ; ob als Herrscher oder als Beherrschte — die Grundsynthese bleibt die gleiche. Dieser Grundsynthese ist der Chinese sich voll- bewußt; wir sind es nicht; insofern steht er über uns. PEKING. Diese ersten Spätnachmittagsstunden in Peking habe ich am Tempel des Himmels zugebracht. Einsam ragt der gewal- tige Marmoraltar, von wenigen düsteren Kiefern umstanden, von der öden, weiten Sandfläche auf. Hie und da krächzt eine Krähe; die Gegend ist wie menschenfremd. Man spürt: hier greift die Geschichte nur an Wendepunkten des Geschehens ein. Es ist ein überaus schlichter Bau, doch von wunderbar edlen Propor- tionen; seine reine, durchgeistigte Schönheit wirkt ergreifend in- mitten der rauhen Umgebung; vom physisch Gewaltigen, vom Lastenden zieht sie den Geist unaufhaltsam himmelwärts. Allent- halben ist dem schneeigen Gestein das Emblem des Drachen ein- gemeißelt. Der Drache ist das Urbild der beginnenden Schöpfung, die erste, ätherischeste Gestalt, zu welcher der Sinn sich verdichtet hat. Der Drache ist das Symbol des Flüssigen, Durchdringenden, Allgegenwärtigen ; des Ewig-Sich-Erneuenden, Immerdar-Sich-Wan- delnden ; das Symbol für das Grundprinzip der Seele und mithin der Unendlichkeit. Der Geist des Drachen hat den Himmelstempel errichtet. Als ein Sprungbrett, zum Himmel hinanzusteigen, nicht als Wahrzeichen irdischer Schwerkraft. Ich war in der richtigen Stimmung hingelangt. Die Bilder des Bauernlebens unterwegs hatten mich vorbereitet zum Verständnis dessen, der das äußerste menschliche Glied darstellt im kos- mischen Zusammenhang. Der Kaiser auf dem Drachenthron ist als Kaiser mehr als ein Mensch: er ist das Band, welches Himmel und Erde vereinigt, wie der Bauer das Glied ist, das die Erde mit dem Menschen verknüpft. So trägt er die Verantwortung für die Natur. Ein wohlbefolgtes Ritual steht gut für die normale Folge der Jahreszeiten ; bleibt der Regen, dessen der Landmann bedarf, Der Kaiser absolut verantwortlich. 369 zu lange aus, so muß der Kaiser reumütig Buße tun. Seine Macht und Stellung steht gut für den harmonischen Einklang der Schöpfung, sein Charakter für den seiner Minister, sein Betragen für das seiner Untertanen. So ist sein Selbstherrscherrecht zugleich allumfassende Verantwortung, die ihn strengstens einschränkt und bedingt. Er haftet nicht vor Gott allein, wie die europäischen Autokraten von einst, die den Menschen gegenüber willkürlich schalten durften, auch nicht vor den Menschen allein im modernen Sinn: er haftet im Sinn des Hauptmechanismus einer Uhr. Geht diese schlecht, so tritt die Schuld allemal an jenem in die Erscheinung; jedoch nicht so, daß die Uhr schlecht gehen und das Hauptrad versagen, aber sich sonst ganz wohl befinden mag: ist jene in Unordnung, dann leidet dieses an erster Stelle; es bleibt selbsttätig stehen oder zer- bricht. So muß die Dynastie, die nicht zu regieren weiß, früher oder später weichen — sei es, daß sie selbsttätig ausstirbt oder vertrieben wird. Welch' wunderbare Konzeption ! Wieviel höher steht sie als die des Gottesgnadentums, der Stellvertretung Gottes oder der Divi- nität schlechthin, wie die römischen Cäsaren sie sich zusprachen ! Es ist die einzige, die das Problem des Zusammenbestehens ab- soluter Souveränität mit absoluter praktischer Verantwortlichkeit befriedigend gelöst hätte. Der Himmelssohn ist mächtiger als irgendein Fürst, denn er steht sogar über der Natur. Aber andrer- seits erscheint er so bedingt, wie nur irgendein verantwortlicher Minister in einer modernen Demokratie, denn er bezeichnet nur ein bestimmtes Organ eines allseitig zusammenhängenden Körpers und ist, um zu bestehen und zu wirken, auf alle anderen Organe ange- wiesen. So muß sich der Selbstherrscher beraten lassen von den Weisesten der Nation, muß er den Volkswillen berücksichtigen, un- entwegt nach dem Guten streben. Regiert er im Sinne der Selbstsucht, so schneidet er sich eben damit seine eigene Daseinsmöglichkeit ab. Diese wunderbare Auffassung des Berufs und der Stellung eines Menschenbeherrschers ist die logische Konsequenz jener Weltan- schauung, die wie nichts anderes das Chinesentum charakterisiert. Nach dieser Anschauung gehören die Gesetze der Moral und der Natur zu einem einzigen einheitlichen System. Es sind identische Normen, die das moralische Verhalten regieren, die Folge der Jahreszeiten und den Wechsel von Tag und Nacht; es ist ein einziger allumfassender Zusammenhang, der das Nicht-Menschliche Keyserling, Reisetagebudi. 24 370 Primat des Moralischen ; die chinesische Weltanschauung und Kant. und das Menschliche, das Organische und das Anorganische, das Natürliche und das Sittliche zur harmonischen Einheit in sich be- schließt. Das Moralische aber ist das Primäre. Das Tao ist mo- ralisch qualifiziert. Moralität bedeutet recht eigentlich Selbstver- wirklichung. Drum läuft die Natur Gefahr, aus dem Kosmos ins Chaos zurückzusinken, wenn die Menschen ihre natürlichen Pflich- ten versäumen, — der Väter kein guter Vater, der Gatte kein guter Gatte, der Fürst kein guter Fürst, der Untertan kein guter Untertan ist — und die fünf himmlischen Tugenden (Gerechtigkeit, Großmut, Höflichkeit, Einsicht und treue Pflichterfüllung) nicht fleißig üben. So hat auch kein Kaiser das Recht, irgendetwas an der be- stehenden Ordnung zu ändern, wenn sein moralischer Charakter ihn nicht hierzu qualifiziert. Andrerseits: ist sein Charakter, wie er sein soll, dann kommt alles von selbst ins Geleise. Im Tschong-Yong steht zu lesen: „Sobald der Kaiser seine Person in Ordnung gebracht hat, werden alle Pflichten gegen ihn erfüllt ; so- bald er den Weisen die schuldige Verehrung zollt, wird er unfehlbar richtig unterscheiden zwischen Irrtum und Wahrheit, Gut und Böse ; sobald er seinen Eltern die ihnen schuldige Liebe erweist, werden alle Zwistigkeiten aufhören zwischen seinen onkeln, seinen älteren und seinen jüngeren Brüdern ; sobald er seine Minister nach ihrem Verdienste ehrt, werden die Staatsgeschäfte prosperieren ; sobald er seine Unterbeamten richtig behandelt, werden die Literaten mit gebührendem Eifer ihre Funktionen bei den Zeremonien ausfüllen ; sobald er sein Volk wie einen Sohn lieben wird, wird dieses Volk ihm nachzueifern streben ; sobald er Gelehrte und Künstler an seinem Hofe versammelt hat, werden seine Reichtümer die richtige Verwendung finden ; sobald er fremde Besucher freundlich empfängt, werden die Menschen von den vier Ecken der Welt in seinem Reiche zusammenströmen, um teil an dessen Segnungen zu haben". Das Moralische ist die Grundkraft der Welt; sobald es zur Geltung kommt, reguliert sich das übrige von selbst. Kant sprach von zwei Dingen, die sein Herz mit immer neuer Ehrfurcht erfüllten: dem bestirnten Himmel über ihm und dem moralischen Gesetze in ihm. Dem Chinesen ist der himmlische Kosmos selbst ein Ausdruck des moralischen Gesetzes. Uns kommt es absurd vor, die Gesetze der Natur, welche not- wendig erfüllt werden, wo etwas geschieht, und die moralischen Gebote, die erfüllt werden sollen, aber meistens übertreten werden, Ideal des Nicht-Regierens; Regiment auf Grund der Ehrfurcht 371 auf einen Nenner zu bringen. Dem gegenüber ist zu erinnern, daß der Chinese, der diese Weltanschauung glaubt, keine Naturgesetze in unserem Sinne kennt; er urteilt vom Standpunkte des Land- wirtes, nach dessen typischer Ansicht die Natur ja auch das Rechte seltener tut als verfehlt; ihm ist das unbelebte Geschehen nicht eindeutiger determiniert als das belebte, das nachweislich so oder auch anders verläuft, je nach dem Charakter der Menschen. So ist es durchaus nicht irrationell, daß er die Ordnung der Welt und die Ordnung unter den Menschen auf eine gemeinsame Ursache zurückführt. Das Moralische als Urkraft der Welt übt seinen Einfluß un- mittelbar aus, besonderen Handelns bedarf es nicht. Deshalb wird von den größten Kaisern Chinas berichtet, daß sie — nicht regiert hätten. Kongfutse sagte: „Erhaben war die Art, wie Schun und Yü den Erdkreis beherrschten, ohne daß sie etwas dazu thaten". Lautse : Herrscht ein ganz Großer, so weiß das Volk nur eben, Mindere werden geliebt und gelobt, [daß er da ist. Noch mindere werden gefürchtet, Noch mindere werden mißachtet Vertraut man nicht genug, So findet man kein Vertrauen. Wie überlegt waren jene im Wählen ihrer Worte! Die Werke wurden vollbracht, die Arbeit wurde getan, Und die Leute im Volk dachten alle : „Wir sind selbständig". Moralischer Wert ist alles, wessen der wahre Herrscher zum Herrschen bedarf. Wirklich wird selbst das heutige, so zerrüttete China von moralischem Prestige allein regiert, und der allgemeinen Ehrfucht des Volks vor dem, was über ihm steht. Wie gering ist die Maschinerie ! Die Mandarine verfügen weder über Militär, noch über Polizei, um ihre Befehle durchzusetzen, und doch wird ihnen bereitwilligst gehorcht. Es genügt das Prestige ihrer Würde, von welcher vorausgesetzt wird, daß sie dem Wert entspricht, daß sie das Dasein der Ehrfurcht vor dem, Was unter ihnen steht, garantiert. Wie wunderbar ist die Idee solcher Regierung! Sie ist die höchste, die sich überhaupt denken läßt. Wäre ein Volk vollendet ge- bildet, so bedürfte es überhaupt keiner Institutionen, denn alles richtete sich von selbst. Je gebildeter es isft, desto mehr kann 24* 372 Chinesische Regierungsidee die höchste; Freiheit einst und jetzt. es sich auf den Wert des Einzelnen verlassen, desto weniger bedarf es der Maschinerie. In England sind die Richter echte Selbstherrscher; sie schaffen recht eigentlich das Gesetz; und dieses System bewährt sich, weil eben die Menschen auf der Höhe sind. In Deutschland kann man den Richtern noch keine solche Machtbefugnis einräumen, dort bedarf es fest vorgeschrie- bener Normen; in Rußland überdies der Kontrolle jeder Anwendung und Ausdeutung. In China hat der Sinn für das Moralische seine bisher größte Ausbildung gewonnen; er ist wirklich der Grund- zug dieser Nation. So sind dort, in der Idee wenigstens, Verhält- nisse möglich, die dem Abendländer übermenschlich vorkommen. Gibt es gar keine Maschinerie, deren der Herrscher zum Herr- schen unbedingt bedarf? Doch; solche Formen sind die Riten. Und hier mündet das wunderbar Tiefe, das Ewig-Menschliche wieder einmal in der CHinoiserie. Es bedarf keiner Behörden, kaum der Gesetze; alles Leben organisiert sich von selbst. Aber wenn der Kaiser während des großen Jahresopfers am Himmels- altar einen Etikettefehler beginge, dann würde die noch so gut geregelte Welt auf einmal in Unordnung geraten. Die Straßen von Peking sind nicht so schön und malerisch, wie diejenigen der Metropolen Süd- und Mittel-Chinas. Sie - sind dafür großzügiger (was nicht allein im Sinne physischer Breite gilt) und es weht in ihnen Steppenluft. Der Geist Dschengis- Khans, der großen Mandschu- und Tataren-Eroberer, nicht derjenige der chinesischen Literaten, hat dieser Stadt ihren Charakter ver- liehen, so wirkt sie gewaltig und herb. Peking ist vor allem eine Kaiserstadt: das läßt es Delhi und St. Petersburg ähnlicher er- scheinen, als dem nahen Tientsin und Tsi Nan Fu. Diese riesenhaften Tore, diese wuchtigen Mauern, diese hoch- ragenden Paläste und Pagoden: ebensoviele Wahrzeichen eines Herrschersitzes, Indem ich die weiten Strecken durchwandere, die hier Denkmal von Denkmal scheiden, und die Größe des Geists chinesischer Kaisermacht auf mich einwirken lasse, überkommt mich eine wachsend feindselige Stimmung dem neuen republikanischen Staatswesen gegenüber. Wie wenig ist es hier am Platz! Wozu haben die Chinesen es eingeführt? Freier werden sie durch das- selbe nicht werden; so frei, wie sie waren, ist Amerika nicht. Chinesischer Demokratismus ; Sinn der Revolution. 373 Die Gemeinde, das soziale Atom von China, war in ihrer Ver- waltung völlig unabhängig. Sie wählte sich selbst ihre Häupter, besorgte ihre Geschäfte selbst und zahlte regelmäßige Abgaben so gut wie gar nicht; die Summen jedoch, welche die Man- darine von Zeit zu Zeit erpressen kamen, waren verschwindend gering im Vergleich zu, dem, was sie in Zukunft wird regel- mäßig aufbringen müssen. In das tägliche Leben der Bürger griff die alte Regierung überhaupt nicht ein; sie verharrte in Nichtstun, bis daß Handeln unbedingt geboten schien. Dann er- wies sie sich freilich oft ungerecht, erpresserisch und grausam, aber das lag am jeweiligen Beamten, nicht am Prinzip, das als solches ausgezeichnet war. Ferner gab es im monarchischen China keine privilegierten Kasten, keine Aristokratie; seit Jahrtausenden stand jedem einzelnen der Weg zu den höchsten Ämtern offen. Nirgends auf der Welt ist die Regierung weniger drückend, ja merklich gewesen, nirgends haben der privaten Initiative weniger obrigkeitliche Schwierigkeiten im Wege gestanden. Daß der Ein- zelne in China trotzdem weniger frei war als in unserer Welt, lag an der angestammten Gesellschaftsordnung, nicht am Regierungssystem, und sollte jene umgewandelt werden, so hätte dies genau so gut oder so schlecht unter dem alten Regime geschehen können. Wozu also die Revolution? — Nun, sie be- deutete gewiß eine Notwendigkeit, denn die Mandschus hatten ab- gewirtschaftet ; sie waren bei dem Punkte angelangt, wo der Geist der chinesischen Verfassung einen Wechsel der Dynastie direkt ver- langt. Bei einem System, dessen Effikazität ausschließlich von der Qualität seiner Vertreter garantiert wird, kann es nicht fehlen, daß es bald zu äußerst unliebsamen Zuständen kommt, wenn jene Qualität verdirbt. Denn ob es richtig sei oder nicht, daß ein guter Herrscher notwendig von guten Beamten bedient wird — sicher ist, daß bei der chinesischen Regierungsform ein schlechter Kaiser den Staatskarren unweigerlich verfährt, denn hier gibt es keine feste Maschinerie, welche persönlichen Umständen das Gegengewicht hielte. So mußte es zu einer Umwälzung kommen. Aber daß diese mehr bedeutet hat, als die üblichen Krisen im Organismus Chinas, daß sie den Sturz des ganzen Systems herbeigeführt, — das hat an äußeren Umständen gelegen, zumal dem ansteckenden Beispiele des Westens. Und es wird dem Chinesenvolk zweifels- ohne zum Unheil gereichen, wenn nicht sein eommonsense und 374 Die drei Grundnachteile republikanischer Staats form. seine tiefe sozial-politische Kultur es davor bewahrt, dem Westen in dessen Fehlern nachzueifern. Ich bin kein Feind der Idee einer Republik. Unbedingt gebe ich zu, daß, wo die Menschen vollkommen gebildet wären, sie die beste aller Staatsformen verkörperte. Auf dem Sta- dium jedoch, in welchem sich selbst die vorgeschrittensten Völker unserer Tage befinden, führt sie das Gegenteil von dem herbei, was sie bewirken soll: anstatt einer Herrschaft der Besten die der Inkompetenz; an Stelle der Befreiung Knechtung; und an Stelle der Hebung des Gesamtniveaus dessen Herabminderung. Eine Herrschaft der Besten führt sie nicht herbei, weil der Ungebildete niemals geneigt ist, jemand als ijber sich stehend anzu- erkennen. Er wählt am liebsten den zum Regenten, dem er sich gleich dünkt; wie denn die Amerikaner, mit erfrischender Auf- richtigkeit, offen zugeben, daß sie keine hervorragenden Ver- treter in ihrem Kongresse wünschen, weil solche das Volk nicht repräsentieren würden. Nur der Hervorragende, der nicht be- deutender sondern schlauer als seine Wähler ist, der Demagog, der Intrigant, der Arrivist, hat Aussicht, beim republikanischen Regime ans Ruder zu kommen. So fehlt den Häuptern solcher Staatswesen gerade das, was die Kardinaltugend des Regierenden bedeutet: die Überlegenheit. Sie sind innerlich nie frei, haben nie den ge- lassenen Überblick, der den geborenen Herrscher kennzeichnet. Sie sind eben nicht unabhängig, müssen liebedienern vor ihren Wählern und vor der Presse. Und was schon von den Häuptern gilt, gilt natürlich in weit höherem Grade von den Gliedern. Robert de Jouvenel hat unlängst gezeigt, 1 ) wie das Parlament im Frankreich von heute in keiner Weise das Volk vertritt, sondern vielmehr einen völlig selbständigen, parasitär in ihm lebenden Organismus darstellt, dessen Teile absolut auf einander angewiesen sind, daher in erster Linie auf einander Rücksicht nehmen müssen und nur ausnahmsweise dazu kommen, überhaupt des Staatswohls zu gedenken; prinzipiell gleiches gilt von allen Republiken, und es ist nur eine Frage der Zeit, inwieweit das Prinzip sich aktualisiert. Überlegenheit und Unabhängigkeit sind, solange die Menschen bleiben was sie heute sind, in Republiken nicht dauernd lebensfähig. l ) In seinem ebenso scharfsinnigen wie witzigen Buch La re'publique des camarades (Paris, Grasset). V Tyrannis der Maschinerie in Demokratien ; Sinken des Niveaus. 375 Ich sagte ferner: die republikanische Staatsform bedingt nicht Befreiung sondern Knechtung. Wohl hat ihre Einführung ihrer- zeit überall die Befreiung von irgendeiner Knechtschaft bedeutet, aber nur um eine neue, schlimmere herbeizuführen. Alle modernen Republikaner gehen von der falschen Voraussetzung aus, daß die Menschen ursprünglich gleich seien ; so wird in den Bürgern solcher Gemeinwesen der Sinn für Überlegenheit künstlich ausgerottet. Der Weise hat nicht mehr Prestige als der Durchschnittsmensch, der Vornehme nicht mehr als der Plebejer. Ein verantwortlicher Posten wird nicht dem verliehen, der von Natur aus zu ihm be- rufen ist, sondern einem Beliebigen oder einem Schlauen. So bieten die Persönlichkeiten für das Funktionieren des Staatskörpers keine Gewähr. Was also tun? Die tote Maschinerie muß verstärkt werden; sie muß gut stehen für alles, was sonst dem Menschen- wert zu danken wäre. Deshalb finden wir extreme Demokratien ausnahmslos durch das Maschinenmäßige ihres Betriebes gekenn- zeichnet. Gestern schrieb ich, die Bedeutung eines politischen Systems stehe in direktem Verhältnis zur Unbildung der Regierten ; während der englische Richter Gesetze schafft, darf der deutsche sie nur anwenden. Dementsprechend erscheint in extremen Demo- kratien, wo die Besten kaum zum Worte kommen, die Maschinerie schier allmächtig. Das ist sie zumal in der nordamerikanischen Republik. Dort besitzt der „Caucus" mehr Macht, als irgendein asiatischer Despot. Und da die Maschine keine Seele hat, ist ihre Tyrannis schlimmer als die des härtesten Autokraten. Der dritte Punkt ist das Sinken des Niveaus, welches die Re- publik mit Unvermeidlichkeit herbeiführt; er ergibt sich fast voll- ständig aus den bisher betrachteten. Indem die Inkompetenz der Kompetenz als gleich geachtet wird, der Sinn für Überlegenheit ab- stumpft und jeder nur dem ihm gleichen die Führerrolle zuer- kennen mag, tritt die Überlegenheit tatsächlich zurück und das Niveau gleicht sich nach unten zu aus; desto mehr, als die Bei- spiele eines höheren Daseins fortschreitend seltener werden und der Nachwuchs an ideal gesinnten Bürgern spärlicher wird. Das Aufkommen so großer Überlegenheit, wie zu aristokra- tischen Epochen, ist in demokratischen Gemeinwesen — und das sind heute alle Staaten, die monarchisch regierten inbegriffen — wohl überhaupt nicht möglich, denn wo auf die Masse über- haupt Rücksicht genommen wird, sind allzu große Einzelne nicht 376 Interesse für Politik zieht herab; trüber Ausblick. lebensfähig ; aber in Monarchien sinkt das Niveau doch nie so tief herab, wie in Republiken, wo jeder mitreden darf. Hier schafft die Masse allmächtig den Zeitgeist, und da er es ist, der sich jeder neuen Generation als erstes mitteilt, so kann es nicht fehlen, daß jede folgende trivialer als die vorhergehende wird. Noch ein schwerwiegendes Bedenken spricht gegen die Republik; es knüpft an an das Recht jedes Einzelnen, in politicis mitzuentscheiden. Das Interesse für Politik hebt nur den, der sie als große ideale Aufgabe auffaßt, also den geborenen Herrscher und den berufenen Staatsmann; jeden anderen zieht es herab. Weshalb? Im Kleinen ist jeder gemeint; er wahrt seine persönlichen Interessen. Als Mit- beherrscher einer Republik wird er es auch im Großen. Nun sieht er persönliche Interessen überall und handelt entsprechend. Unter einem absoluten Regime lohnt es sich für den Privatmann nicht, sich mit großer Politik zu befassen, deswegen wuchert dort sein Eigennutz am wenigsten; in einer noch so konstitutionellen Mon- archie gibt es immerhin einige Fragen, die ihn nicht angehen. In der Republik entscheidet jeder bei allem mit. China war frei und wird geknechtet werden, das Niveau des Volkes wird sinken und an Stelle der Intelligenz wird die Kanaille treten — es sei denn, daß China, glücklicher als Europa und Amerika, die Gefahr im letzten Augenblick pariert. Wie töricht ist es, von der Einführung der Republik eine Hebung des Niveaus zu erhoffen ! Gewiß : der Unterschied im Niveau eines Kuli und eines Mandarins ist unerhört, und ersteres muß gehoben werden. Aber das wird gewiß nicht dadurch ge- lingen, daß man ihn unverzüglich emanzipiert und den ihm Über- legenen überstimmen läßt. Und selbst wenn die intellektuelle Bil- dung gewinnen sollte, die moralische wird sicher verlieren. Nun ist aber moralische Bildung die Hauptsache für jedes Volk und von allen besaß das chinesische davon am meisten. Wie über- legen erscheint der Kuli hierin dem hochmütigen Fremden, welchen er trägt und fährt! der hungernde Landmann dem Missionar, der ihm zu predigen 'sich anmaßt! Wie überlegen vor allen der Man- darin des alten Regime gegenüber den frechen jungen Leuten, die neuerdings an der Spitze des Reiches stehen! Ich denke an die Tage zurück, die ich mit den vertriebenen Großen in Tsingtau verlebte: da war kaum einer, der bei all' seinen möglichen Fehlern nicht als moralisch durchgebildet gelten konnte; der insofern nicht dazu Die große Kaiserin; psychologische Intuition der Chinesen. 377 berufen schien, an führender Stelle zu stehen. Einst reich und mächtig, waren sie nun heimatlos und arm; und trugen ihr Schick- sal doch mit lächelndem Gleichmut. Wohl habe ich sie verzweifelt, ja in Tränen gesehen: aber das war vor Trauer über das Ende der großen chinesischen Kultur, das sie herannahen sahen. . . . Ein wahnsinniger Sandsturm wütet; in den Straßen stümt es. Die Mongolen peitschen ihre Maultierzüge vorwärts, um schneller das Obdach zu erreichen ; die Chinesen in den Rickshaws tragen Tücher vor den Augen, die sich unter dem Druck des sandbeschwerten Windes wie schmutzige Schminke den Ge- sichtern anschmiegen. Keine Möglichkeit irgendetwas zu besich- tigen. Ich verbringe meine Zeit damit, die Geschichte Tsu-Hsi's, der großen Kaiserin-Witwe, zu lesen. Diese Herrscherin, die nach unseren Maßstäben bemessen, auf grauenerregende Weise gewütet hat, welcher Menschen nicht heiliger waren als Fliegen, die eine Hofdame einst ohne Umstände ertränken ließ, weil ihr Eintreten sie beim Malen gestört hatte — diese Herrscherin gilt ihrem Volke als gutherziges, ja allzu- gutes Frauenzimmer; dieses Urteil vernahm ich erst heute von einem Mandarin, welcher unter ihr gedient hatte. Ohne Zweifel, sie war eine große Natur, und solche sind niemals schlecht; sie hat das Beste gewollt, ihre Herrscherpflichten nach bestem Gewissen erfüllt; die großen Traditionen Alt-Chinas waren in ihr in außerordentlichem Grade lebendig. Sie war eine hervor- ragende Regentin, eine wunderbare Menschenkennerin, zugleich eine echte Künstlerin und vollendet gebildet in der klassischen Literatur. Aber dennoch: gut war sie nicht; sie war ein Drache, kein Lamm. Daß sie unter dem Heiligenschein der Herzensgüte fortlebt, ist sehr bedeutsam, denn sicher hat dies tiefere Gründe als jene typische Metamorphose in der Erinnerung, dank welcher sogar Napoleon zeitweilig als prud'homme und Gemütsmensch gepriesen ward. Die Hauptursache dieses Verhältnisses ist wohl die psycholo- gische Intuition, der Sinn für das Wesen eines Menschen, der alle Asiaten und vor allem die Chinesen auszeichnet. Von Indien ab habe ich es bewundern können, wie sicher der östliche Mensch jedermann instinktiv nach dem ihm entsprechenden Maßstabe mißt. 378 Warum die Chinesen Mißwirtschaft dulden. Dies Können rührt seinerseits im allgemeinen (wenn ich von be- sonderen empirischen Bedingungen absehe) von seinem Glauben an den Typus her; denn auch wir waren bessere Psychologen, so- lange wir in erster Linie nicht nach den besonderen Bestandteilen sondern dem Typus einer Seele ausschauten. Wer dies nämlich tut, muß synthetisch vorgehen, muß das Einzelne im Zusammen- hange sehen, dem muß dieser den Elementen gegenüber das Primäre sein. So dünkt es den begabten Asiaten selbstverständ- lich, eines anderen Handlungen nicht an und für sich zu werten, sondern nach dem, was sie in bezug auf ihn bedeuten. Tsu Hsi's Gesinnung nun war zweifellos edel. Sie mordete, entweder weil es ihr politisch notwendig schien, oder weil sie nichts Schlimmes darin sah (keinen Chinesen dünkt das vom Leben zum Tode Befördern als ein Außerordentliches) oder endlich weil sie es nicht gelernt hatte, ihre Impulse niederzukämpfen. Für alle diese Umstände hatten ihre Untertanen volles Verständnis. Sie begriffen, daß Gewalttätigkeit bei Menschen in hoher und höchster Stellung nicht mehr zu be- deuten braucht, als ein ärgerliches Achselzucken beim kleinen Mann. Sie wußten ferner, wie schwer es ist, bei großer Machtfülle be- herrscht zu bleiben, und stellten daher an ihre Kaiser geringere Anforderungen, als an ihresgleichen. Die Chinesen sind aus Erkenntnis tolerant, tolerant bis zur Charakterlosigkeit. Dies er- klärt, wie gerade dieses Volk, dessen Weltanschauung wie keine andere moralisch orientiert erscheint, das keinen Menschen zum Herrschen für juristisch berechtigt anerkennt, der nicht auch mora- lisch dazu qualifiziert wäre, doch in praxi mehr Mißwirtschaft duldet, als irgendein anderes von ähnlichem Kulturniveau. Die Chinesen glauben nicht, daß Menschen vollkommen sein können ; sie zweifeln an der Möglichkeit fehlerfreien Funktionierens irgendeiner Institution, stehen tief skeptisch zu aller Ver- besserung. Sie setzen voraus, daß hohe Beamte zur Gewalttätig- keit, niedere zur Schikane neigen, und sind es zufrieden, wenn die Mißbräuche und Übelstände ein gewisses — schweigend als unvermeidlich anerkanntes — Maß nicht überschreiten. Es war sehr charakteristisch, was ein hoher Beamter neulich den berüchtigten Squeeze betreffend zu mir bemerkte: man müsse zwischen pure Sqaeeze und dirty Sqeeze unterscheiden; dem, der nur soviel erpreßt, als er zu anständigem Unterhalte braucht (denn die offi- ziellen Gehälter reichen hierzu nicht aus) sei überhaupt kein Vor- Respekt vor Ordnung, Mangel an Heroismus, Unadeligkeit. 379 wurf zu machen; nur der das Maß überschreitende handele übel. Die Chinesen finden ihr noch so korruptes Regime er- träglich, eben weil sie so viel verstehen und vom Menschen nur wenig erwarten. Sie setzen den Sinn überall über den Tatbestand. Deswegen finden sie auch ihr System, so schlecht es sich bewährt, doch besser als das unserige, dessen praktische Vorzüge sie nicht leugnen, weil es dem Sinne nach höher steht. Ihres ruht auf moralischer Grundlage, unseres nicht; diese Erwägung entscheidet. Ob die Beamten tatsächlich moralisch sind, tut wenig zur Sache, so erwünscht es wäre. Und schließlich verlangen sie von der Regierung in letzter Instanz nur eins: Autorität. Autorität schlecht- hin. Das ist die logische Folge ihres Ideals des Nicht-Regierens. Jede Autorität ist besser als keine, und eine schlecht sich be- währende besser als eine gute, sofern sie dem Sinne nach besser begründet ist. Der grenzenlose Respekt des Chinesen vor Ordnung und Ge- setz bedingt zugleich sein Sich-Schicken in gelegentliche Unregel- mäßigkeit. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Erfahrung für, nicht gegen die Zweckmäßigkeit seiner Auffassung spricht. In diesem Riesenreich, in welchem noch nie radikale Maßnahmen gegen bestehende Mißbräuche ergriffen worden sind, hat im Großen mehr und dauerndere Ordnung geherrscht, als in allen energischer betriebenen Staatswesen; in diesem Land ohne Polizei, mit Behörden von zweifelhafter Integrität wird im ganzen weniger gestohlen, gemordet, veruntreut, gestritten, gehadert, als im so wohlorganisierten Deutschen Reich. Nichtsdestoweniger muß ich denen beistimmen, die gerade die Eigenschaften der Chinesen, die das Funktionieren dieses Staatskörpers gewährleisten, am un- sympathischesten finden. Dem chinesischen Mittelstande fehlt moralischer Mut, des Heroismus scheint er völlig unfähig; seine Haut trägt er niemals zu Markt, er lügt lieber, als daß er eine Wahrheit sagt, die ihm Unbequemlichkeiten verursachen könnte. Er ist das Prototyp des Utilitariers. Ja er ist es mit Bewußtsein und Stolz. Und das gilt nicht allein vom bourgeois: Lautse sagt von den Meistern des Altertums: Zögernd, wie wer im Winter einen Fluß durchschreitet, Vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet, Zurückhaltend, wie Gäste, Einfach, wie unbearbeiteter Stoff, 380 Erneuerung nur aus konfuzianischem Geist heraus denkbar. Weit waren sie, wie die Tiefe, Undurchsichtig waren sie, wie das Trübe. Und weiter: Ihre Art ist es, den Rückzug zu lieben. Die sogenannten adligen Tugenden können dort nicht auf- kommen, wo die Welt als unwandelbar gilt und Harmonie ä tout prix als Ideal. Wer einer statischen Weltanschauung huldigt, geht für kein Ideal in den Tod, strebt die Welt nicht umzuwandeln, trägt überall nur dem gegebenen Rechnung. Wer dergestalt denkt und handelt, ist gewiß nicht adelig zu nennen. — Liegt nicht eine tiefe Ironie darin, daß der Chinese gerade dank seinen unsym- pathischen Eigenschaften das höchste Beispiel sozialer Ordnung gegeben, die größte soziale Bildung erreicht, die soziale Frage buchstäblich auf lange Zeit hinaus gelöst hat? Wird nicht der „Fortschritt" auch uns fortschreitend unedler machen, da doch mit wachsender Ordnung und Lebenssicherheit auch das Sicherheits- ideal im Werte steigen muß? "^yTein, das neue System als solches wird China nicht regene- ^U rieren. Es ist gezeigt worden, wie sich der Zustand Frankreichs - trotz aller Revolutionen und Regimeänderungen seit den Tagen Ludwig XIV. kaum gewandelt hat und die geschichtspsychologische Hauptthese Gustave Le Bons: „les peuples sont göuvernes non par leurs institutions mais par leur caractere", spricht eine allge- meingültig-grundlegende Wahrheit aus. Die Mißstände in China sind nur aus dem Geist seiner Vollkommenheit heraus zu be- seitigen; seiner eigenen spezifischen Vollkommenheit, nicht der einer fremden Kultur. Wohl mag es unsere Maschinerie herüber- nehmen, unsere Institutionen, unsere Werkzeuge, unsere Methoden; auch China werden sie gute Dienste leisten. Aber sicher nur dann, wenn es gelingt, sie zum Geist der altchinesischen Kultur in innere Beziehung zu setzen. g Immer deutlicher erkenne ichs: daß es in China der Re- formen bedarf, liegt nicht am alten System als solchen, sondern an dem, daß der alte Geist ihm entwichen ist. Gleichviel, ob ideale Zustände wie die, welche von den Zeiten Yaos, Shuns und Yüs überliefert werden, je geherrscht haben — schon Konfuzius und Mencius klagten über Dekadenz! — China ist Jahrhunderte ent- Der Geist des Konfuzianismus. 38 1 lang seinem Ideale näher gewesen als irgendein historisches Volk, und noch heute lebt in ihm der Geist, der dies einstmals ermög- lichte. Nur ist er gar schwächlich geworden. Die am vornehmsten gesinnten Chinesen sind überzüchtet; ihnen fehlt es an frischer, tatenfroher Kraft; sie jammern und klagen, wo sie handeln sollten. Immerhin: welch' ein Unterschied zwischen ihnen und den Leuten, welche die Revolution ans Ruder gebracht hat ! Denen fehlt jede moralische Basis, die sind im tiefsten Sinne wurzellos. Gleich den russischen Anarchisten und Nihilisten haben sie keinen Sinn für das Historisch-Gewordene, und werden daher wohl zerstören, aber nimmermehr aufbauen können. Eine Wiedergeburt Chinas ist meiner Überzeugung nach nur aus dem Geist des Konfuzianismus heraus denkbar. Gott gäbe, daß diesem die hierzu erforderliche Potenz noch innewohnt. Leider ist der Geist des Konfuzianismus, der wie kein anderer ein Bestehendes auf der Höhe erhält, zur Erneuerung wenig ge- schickt. Gestern frühstückte ich mit einem alten Priester, der durchglüht war von Begeisterung für seine Religion, der in ihr das Heil für die gesamte Menschheit sah und Chinas Niedergang ausschließlich auf den des Konfuzianismus zurück- führte. Ich legte ihm nahe, er möge doch auftreten und mit be- geisterndem Wort das Volk aufrütteln aus seinem komatischen Schlaf. Er erwiderte, hierzu sei er nicht berufen; das sei Sache des Kaisers und der höchsten Obrigkeit; bei der Stellung, in die er hineingeboren sei, komme nur treue Erfüllung der Pflichten gegen Eltern und Familie für ihn in Frage. Und wenn alle Söhne, fügte er hinzu, ihren Vätern Pietät erwiesen, dann würde das Übrige schon von selbst in Ordnung kommen. Wieder jene trost- los-statische Auffassung, nach der sich in der Welt wohl alles im schönsten Gleichgewicht befindet, das beschleunigende Moment jedoch unfaßbar scheint, das einen niederen Gleichgewichtszustand in einen höheren umwandeln könnte ! Wie soll man unter solchen Voraussetzungen die Welt erneuern? Sie kann sich nur selbst rege- nerieren. Indem jeder seine nächstliegenden Pflichten erfüllt, ent- steht eine molekulare Umlagerung im Weltsystem, welche langsam zum höchsten Gleichgewichtszustande hinleitet. Dieser Weg hat alle Vorzüge eines Wachstumsvorgangs ; hat er zum Optimum ge- führt, dann ist dieses wohl sicherer gegründet, als auf irgendeine andere Art gelänge; daher die unerhört lange Dauer der großen 382 Erneuerung auf dem Wege der Geschichtsfälschung. Zeiten in China, daher das heute noch wunderbar feste Gefüge des chinesischen Staats. Aber ein solcher Prozeß braucht unge- heuer viel Zeit; soviel Zeit, daß unter den heutigen Umständen, wo alle Entwickelung dank dem Rekord, den Europa aufgestellt, und den neuen Verhältnissen, die sein Einfluß geschaffen hat, sehr schnell verlaufen muß, wenn sie überhaupt zum Ziel führen soll, die bloße Möglichkeit seiner Vollendung fraglich ist. Was soll also geschehen? — Daß die Erneuerung trotz allem Ange- führten aus dem Geist des Konfuzianismus heraus erfolgen soll, scheint mir gewiß; dieser Geist ist dem Volk so tief und inner- lich eingewurzelt, daß es einfach nicht glücken würde, ihn durch einen anderen zu ersetzen. Überdies wäre es ein Verbrechen, ihn ausrotten zu wollen, denn der Idee nach ist er der höchste, der irgendeiner Gesellschaft je zugrunde gelegen hat. Es läßt sich nichts Idealeres denken, als eine Gemeinschaft, deren äußere Ordnung durchaus durch die moralische Bildung ihrer Glieder gewährleistet würde, wo es mechanischer Mittel nicht bedürfte; das ist nicht allein das alt-chinesische, es ist das Menschheitsideal. Auch wir werden dereinst, so Gott will, in diesem Sinn als Konfuzianer gelten dürfen. Aber freilich müssen dem traditionellen Konfuzianis- mus neue, beschleunigende Motive einverleibt werden. Dieses dürfte, bei einiger Einsicht seitens der Führer, nicht undurchführbar sein. In den Augen des Volks steht Konfuzius so unermeßlich hoch, daß es sich jede fernere Idealisierung seiner gefallen lassen wird. Es wird sogar höchlich befriedigt sein, wenn ihm gezeigt wird, daß die neuen Ideen, deren Wirkungskraft im Guten es auf die Dauer nicht wird ableugnen können, in den heiligen Büchern vorgebildet liegen, und das Neue bereitwillig aufnehmen, das auf das Alte zurückgeführt werden kann. Es dürfte sonach die Aufgabe der Führer Jung-Chinas sein, für alle Reformen, die sie in Angriff nehmen, die Autorität Kongfutses anzurufen. Dank dem aphoristischen Charakter seiner Aussprüche wird dieses technisch leicht gelingen, sachliche Bedenken aber kommen des- halb kaum in Frage, weil einerseits Konfuzius vertieft werden wird dank der neuen Ausdeutung, die ihm so viel indisch-christ- liche Weisheit zuführen wird, und andrerseits das westlich-Prak- tische, auf konfuzianische Grundsätze bezogen, eine moralische Grundlegung erfahren wird, die es bisher nicht hatte. Natürlich würden sie sich mit solcher Umdeutung eine Geschichtsfälschung Konfuzianer und Alt-Lutheraner. 383 zuschulden kommen lassen: was tufs? welche fortschrittliche Zeit hätte keine begangen, wo sie an alten Idealen festgehalten hat? Was ist nicht aus dem Christentum alles geworden im Lauf der Geschichte! Aus der Religion des Duldens eine solche des rücksichtslosen Tuns; aus dem süßen Heiland und Erbarmer das Urbild der modernen selbstgegründeten Persönlichkeit! Jede Zeit hat ihr wirkliches Ideal mit dem überkommenen in Einklang zu setzen versucht, und das ist immer nur durch Geschichtsfälschung gelungen. Alle Erneuerer, die den „wirklichen" Christus wieder- erwecken wollen, von St. Johannes bis zu den Propheten des 'New Tfiought, sind recht eigentlich Geschichtsfälscher, da sie im Gegensatz zu ihrer Absicht ihre eigenen Überzeugungen in das wehrlose Gewesene hineindeuten. Und das ist kein Vorwurf, den ich ihnen mache, im Gegenteil: man kann dem Menschen seine historischen Wurzeln nicht nehmen ; wer in christlicher Atmosphäre geboren und erzogen ward, ist wesentlich Christ, gleichviel woran er glaubt; von den Vorstellungen, die seine Seele formten, kommt er nie los. Aber er deutet sie, wenn er seine Persönlichkeit wahren will, selbständig aus, bringt sie in Einklang mit seiner sonstigen Weltanschauung. In diesem Sinne dürfte es wohl möglich sein, aus dem Geist des Konfuzianismus heraus das chinesische Reich zu reformieren. Nur muß diesem dazu, wie schon gesagt, ein beschleunigendes Motiv eingebildet werden. Wird dies gelingen, wo doch nichts das Chi- nesentum wesentlicher kennzeichnet, als seine ausgesprochen sta- tische Gesinnung? Die europäische Geschichte beweist, daß solche Metamorphose vorkommt. Mir war von Anfang an die ausge- sprochene Ähnlichkeit des altkonfuzianischen mit dem altlutheri- schen Menschentypus aufgefallen; sie erschienen mir recht eigent- lich als eines Geistes Kinder. Wie ich über diesen Eindruck nun nachdachte, da erwies er sich als wohlbegründet: die beiden Weltanschauungen sind wirklich nahe verwandt. Auch die lutherische ist wesentlich statisch, auch sie hypostasiert die gegebenen Klassen als metaphysisch begründet oder „gottgewollt" ; auch ihr gilt Leiden höher denn Tun, Geduld mehr als Initiative, und das Hinaus- streben über die angeborene Stellung als frevlerisch; auch sie ist eine Weltanschauung des Ausharrens. So hat sie auch ähn- liche Vorzüge und ähnliche Gebrechen ins Leben gerufen. Ihre Vorzüge waren die Kultur des Familienlebens, des patriarchalischen 384 • Konfuzianismus und Protestantismus. Daseins überhaupt ; ihre Nachteile der Hang zur Reaktion, die Un- fähigkeit, das Leben neuzugestalten, sich neuen Umständen anzu- passen, die natürliche Erstarrung durch freie Initiative in Spann- kraft umzuwandeln. Aber von Luther ist doch eine Richtung aus- gegangen, welcher nichts von den Gebrechen des Luthertums an- haftet: der calvinistische Protestantismus. Das ist die Religion der Tat par excellence, die größte Anspornerin der Initiative, des Fortschritts, der selbstherrlichen Lebensgestaltung, welche es je gegeben. Kein Menschentypus der Welt ist an Effikazität dem reformiert-protestantischen vergleichbar. Heute steht dieser dem lutherischen wohl fremd gegenüber; gleichwohl ist er aus ihm hervorgegangen; und im Letzten, im Allerletzten sind beide heute noch eins. Es gibt doch einen allgemeinen Geist des Protestantis- mus, an welchem beide Konfessionen teilhaben. In Analogie mit dieser Entwickelung halte ich nicht für ausgeschlossen, daß der Geist des Konfuzianismus noch einmal eine Gestaltung aus sich hervorbringen wird, dank welcher der Chinese, ohne seine Ge- schichte verleugnet zu haben, nicht minder tatkräftig dastehen wird, wie der Amerikaner und der Schotte. Die Ähnlichkeit zwischen dem konfuzianischen und dem prote- stantischen Menschen ist wirklich frappant. Die Nüchtern- heit, die Verständigkeit des Chinesen, seine Unplastizität, seine seelische Trockenheit finden sich in nur wenig verän- derter Gestalt im protestantischen Europa und Amerika wieder. In beiden Fällen fußt die Weltanschauung auf einem seltsamen Ge- misch von Autoritätenglauben und Selbstbestimmung ; beide Typen sind ausgezeichnet durch auffallende seelische Undifferenziertheit und eine gleich auffallende Gestaltungskraft nach außen zu. Die Psyche des gebildeten Katholiken ist ja, so parodox dies dem „Aufgeklärten" klingen mag, viel reicher als die des Protestanten; die Erziehung durch ein System, wie das katholische, das den viel- fältigsten Regungen der Seele Rechnung trägt und allen Verständnis entgegenbringt, dessen Formen gehaltschaffend sind und umgekehrt Formensinn erzeugen, kann nicht umhin, die Seele zu entfalten ; während der unkomplizierte und grobe dogmatische Unterbau des Protestantismus dem Menschen wohl einen starken moralischen Halt und einen einzigartigen Ansporn zur Betätigung gibt, aber Konfuzianismus und Protestantismus. 385 sehr wenig Selbsterkenntnis und fast gar keine psychische Bildung. Der Chinese ist in eben dem Sinne dem Inder unterlegen, wie es der Protestant dem Katholiken ist. Es ist außerordentlich lang- weilig, mit Chinesen über psychologische und metaphysische Pro- bleme zu verhandeln. Immer wieder kommen sie einem mit den konfuzianischen Grundprinzipien, wie Pastoren mit der augsburg- ischen Konfession ; sie scheinen unfähig, sowohl psychische Tat- sachen als solche ins Auge zu fassen, als den metaphysischen Sinn der Gestaltung als mögliches Problem zu erkennen; ihr Verständnis für das Religiöse gar ist minimal. Gleich der durchschnittlich- lutherischen bedeutet auch die durchschnittlich-chinesische Religio- sität nicht mehr als das feste Glauben an bestimmte Offenbarungs- tatsachen und das feste Befolgen einer bestimmten Lebensroutine; ein echtes religiöses Erleben kennen sie nicht. Auch die konfuzia- nische Kirche (sofern solche Bezeichnung statthaft ist) ist, gleich der lutherischen, eines Sinnes mit der „Obrigkeit". Aber freilich: im gleichen Sinne, wie die Protestanten den Katholiken, sind die Chinesen den Indern auch überlegen. Ich kenne wenig Roheres, geistig Unbefriedigenderes, als die Glaubensvorstellungen des Cal- vinismus ; der Glaube des katholischen Köhlers steht geistig höher als der des gebildeten Puritaners : dennoch hat dieser einen Menschentypus erschaffen, der an moralischem Wert alle übrigen christlichen schlägt. Zum tätigen Leben kommt es eben nicht auf umfassende Einsicht, sondern einen möglichst eindeutigen Charakter an, und einen solchen schafft eine simplistische Lehre am ehesten. So sind die Chinesen eben deshalb moralisch so fabelhaft gebildet, weil sie sich über das Moralische nur wenig den Kopf zerbrechen und statt dessen die konfuzianischen Grundsätze, die freilich ewige Wahrheiten zum Ausdruck bringen, von sich ganz haben Besitz er- greifen lassen. Solche Methode macht uninteressant, allerdings ; aber sie macht tüchtig. So viel zum Problem des Glaubens. Was nun das Postulat der Selbstbestimmung angeht, so gilt auch das in China nicht minder als bei uns. Nur scheint es mir in der konfuzianischen Welt auf einer höheren Stufe ins Leben einzugreifen. Bei uns äußert sich das Bekenntnis zum Ideal der Autonomie gar leicht dahin, daß der Mensch nichts anerkennen will, was er nicht versteht, wem- zufolge er die Abstufungen in der Gesellschaft abweist und die Autorität auch dessen nicht gelten läßt, welcher nachweislich kom- Keyserling. Reisetagebuch. 25 386 Konfuzlanismus und Protestantismus. petenter ist als er. So günstig diese psychische Einstellung der Ausbildung der Initiative sei, so nachteilig ist sie der Kultur; wer keinem glaubt außer sich selbst, entäußert sich aller der Bildungsmöglichkeiten, welche die Erfahrung anderer enthält; er verschließt sich ferner dadurch, daß er die Schranken durchbricht, die seinem Streben von der Natur her gesetzt sind (denn es kommt doch sehr selten vor, daß einer zu größeren Dingen berufen ist, als ihm der angeborene Lebensrahmen zu vollbringen gestattete), recht eigentlich das Tor zur Vollendung, denn Vollendung ist nur innerhalb gegebener Grenzen möglich. Deshalb steht der noch so abergläubische Katholik kulturell so häufig höher als der Aufge- klärte. In China nun bedeutet Selbstbestimmung immer nur Selbst- bestimmung innerhalb eines gegebenen Rahmens. Der Chinese denkt für sich selbst, urteilt für sich selbst, tut was ihm recht er- scheint — aber nur innerhalb einer bestimmten Sphäre. Wer darauf- hin an der Autonomie als Postulats des chinesischen Bewußt- seins zweifeln sollte, der versuche es, chinesische Dienstboten so herumzukommandieren, wie dies mit europäischen üblich ist: er wird wenig Erfolg damit haben. Er wird entdecken, daß der chinesische Diener, bei allem Respekt, bei aller Dienst- beflissenheit und Treue, nur das tut, was er für richtig hält; er gehorcht nicht eigentlich in unserem Sinne: seine Stellung ist die eines Gehorchenden, aber innerhalb dieser ist er autonom ; im ein- zelnen will er entscheiden können, was er zu tun und was zu lassen hat. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von allen Berufen. — Meiner Ansicht nach ist hiermit im Prinzip des bestdenkbare Gleich- gewichtsverhältnis zwischen Auto- und Heteronomie erreicht. Gott allein frommt absolute Autonomie. Der Mensch darf sich nur innerhalb von Grenzen selbst bestimmen, wenn er an seiner Seele nicht Schaden nehmen will, welche Grenzen enger und immer enger werden von oben nach unten zu. Man darf die Parallele zwischen Konfuzianismus und Prote- stantismus nur nicht zu weit durchführen wollen; vielleicht bin ich schon zu weit gegangen darin; Ku Hung-Ming, mit dem ich letzthin häufig zusammenbin, und der in Vergleichen dieser Art wie wenige ausschweift, mag mich angesteckt haben. Zum Schluß denn noch einige Punkte, in bezug auf welche Konfuzianismus und Protestan- tismus ganz unvergleichbar erscheinen. Jenem fehlt das Pathos, das der Glaube an einen allmächtigen persönlichen Gott dem Pro- Diät und Mentalität; der Koch als Schöpfer. 387 testantenleben verleiht. So heroisch Konfuzianer sein mögen — ihr Heroismus hat nie den grandiosen Zug, der den strenggläu- bigen Protestanten und Muslim auszeichnet ; es handelt sich beim Konfuzianer auch im Höchstfall mehr um die Hartnäckigkeit des Prinzipienreiters als die Opferfreude eines großen Glaubens. Dieser Unterschied ist so groß, daß er das ganze Bild verändern würde, wenn nicht jenes Pathos den Protestanten unserer Tage ebenso fehlen würde, wie den Chinesen. . . . Der zweite radikale Unterschied zwischen Konfuzianismus und Protestantismus geht auf den unkünstlerischen Charakter dieses zurück; der Protestantismus erkennt keinen Zusammenhang an zwischen religiösem und künst- lerischem Erleben, schafft keine notwendige Beziehung zwischen Ausdrucksform und Gehalt. So hat der echte Protestant in der Regel wenig Formensinn. Der Konfuzianer besitzt solchen von allen Menschen vielleicht am meisten. So fand ich mich mit dem Mandarin, der mich jüngst zu den buddhistischen Klöstern be- gleitete und mich schier zur Verzweiflung brachte durch sein Un- verständnis für Probleme der Religion, augenblicklich wieder, als ich mit ihm in seinem Haus, bei nicht endenwollenden Tassen Tees, über das Problem des Stils unterhandelte. Nun lebe ich beinahe ganz als Chinese; die meisten Mahlzeiten nehme ich außerhalb des Gesandtschaftsviertels ein. Schon die Abwechselung als solche tut gut; eine immerdar identische Lebensweise macht den physischen Organismus philiströs, nimmt dem Geiste die Beweglichkeit. Ich bin überzeugt : wenn die Hindus nicht dreimal täglich ein gleiches Reisgericht ver- zehrten, sie wären weniger stereotyp, wenn die Abwechselung als solche kein Heilmittel wäre, so viel verschiedenartige Kuren nützten nicht; und sicher hängt es mit unserem Erfindungs- triebe eng zusammen, daß wir Europäer gleich keiner anderen Rasse der Erde nach Mannigfaltigkeit in der Nahrung Bedürfnis tragen. Was nun die spezifische Diät einer Nation betrifft, so kann aus ihr deren Eigenart allerdings nicht abgeleitet werden, wohl aber steht sie in engem Zusammenhang mit ihr. Wer der Sinnlich- keit entrinnen will, liebt Pflanzenkost, wer sie verfeinern will, zieht animalische gewürzte vor. Und so weiter. Was nun im allgemeinen gilt, ist nicht minder im besonderen wahr; immer habe ich ge- 25* 388 Alle Sinne ursprünglich gleichwertig ; Weltanschauung des Gaumens. funden, daß es während des Studiums eines Volkes ratsam ist, dessen Lebensweise nach Möglichkeit zu teilen. In China aber ist dies eine Lust. Meine Freunde bringen mich in jene abgelegenen Feinschmecker- Restaurants, die für Peking ebenso charakteristisch sind wie für Paris. Nur haben die Räume der hiesigen mehr Stil. Es sind ganz kleine cabinets particuliers, meist mit Aussicht auf die Berge der Umgegend, mit Bildern und Sprüchen behangen ; in dem Zimmer, wo wir gestern schmausten, waren es Verse Li Tai-Pe's. Dieses Gasthaus soll existieren seit den Tagen der Ming- Dynastie. Wie dem auch sei : es herrscht eine Atmosphäre der Kultur darin, die auch mich zum Teinschmectfer verwandelte. Ernst lauschte ich den Vorschlägen des maitre d'hotel, der uns die Speisen zusammen- stellte, wie ein Dichter seine Worte, und unaufhaltsam steckte mich sein reiner Koch-Idealismus an. Weshalb soll der Gaumen geringer gelten, als Auge und Ohr? Ein großer Koch ist im höchsten Sinne schöpferisch. Woher weiß er, indem er ein neues Gericht erfindet, und an sich wenig schmackhafte Ingredienzien in nieversuchten Verhältnissen zusammentut, daß sein Produkt fremde Menschen erfreuen wird? Woher weiß er, was jede Speise will? Woher kommt ihm die Erkenntnis, daß dieses zu jenem nicht paßt, wo er als Esser doch nur wenig Erfahrung hat? Wenn das nicht Genialität ist, dann ist es nichts. Ein großer Koch bekennt sich meist auch entschieden zur Theorie des l'art pour l'art. Das tat der alte Frederic in der nun kläglich ge- sunkenen Tour d'Argent. Er bediente keinen persönlich, der ihm nicht angelegentlichst empfohlen war, blickte im Ganzen auf seine Kunden herab, wie der Maler auf sein Publikum, und empfing mich, als ich das erstemal bei ihm einkehrte, mit der Bemerkung, er habe tagszuvor einem Besucher die Tür gewiesen, der zu einem gewissen Gericht Burgunder zu bestellen gewagt hatte. . . . Und der Feinschmecker — ist nicht auch er im idealsten Sinne kunstverständig? Zweifelsohne überschätzt die Menschheit die Bedeutung von Gesicht und Gehör. Ein Sinn ist so gut wie ein anderer ; es kommt darauf an, was man durch ihn erreicht. Ich kann mir denken, daß sich durch Nase und Mund eine vollkommene Weltanschauung gewinnen ließe, die in ihrer Sprache dasselbesagte, wie die Mystik Meister Eckeharts. Uns Menschen ist dies versagt, weil auch beim größten der Köche der Geschmackssinn nie den Chinesische Tafelfreuden. 389 Hauptsinn bedeutet. Doch die Tiere, bei welchen dies der Fall ist, denen die Nase den Fernsinn bedeutet, wie den Hunden und Hirschen, dürften dessen im Prinzip wohl fähig sein. Man miß- verstehe die Lage der Dinge nicht: wenn bei uns der Gourmet als Typus unter dem Denker steht, so liegt das nicht an dem, daß er seinem Gaumen lebt, sondern daran, daß dieser allzu be- schränkte Erkenntnis vermittelt. Auch das Denken führt nur aus- nahmsweise zum Höchsten; ja die meisten macht es oberfläch- licher, materieller, als sie es ohnedem geworden wären. Überaus genußreiche Stunden habe ich in diesen Gasthäusern verbracht. Die chinesische Küche ist exquisit, vom künstlerischen Standpunkte betrachtender französischen gleichwertig. Einmal wurde uns sechs Male hintereinander Ente vorgesetzt, und die Zubereitung war so fein kontrapunktiert, daß es nicht als Wieder- holung wirkte ; während ich als technisch höchste Leistung eine Speise bewundern muß, die vorzüglich aus marinierten Quallen bestand. Wie diese unsubstanziellen Geschöpfe fixiert werden konnten, begreife ich nicht. . . . Freilich verwenden die Chinesen Materialien, welcher unsereiner nicht gewohnt ist. Aber das spricht nicht gegen sie; jede Gewohnheit ist Sache der Konvention und jedes Haften an Gewohntem Beschränktheit. So schäme ich mich des, daß ich anfangs vor einem Gerichte Maden Grauen verspürte, das sich nachher als überaus wohlschmeckend erwies. Wenn ich nur nicht gar so viel zu trinken hätte! aber nie errate ich die Charaden, die mir beim Mahle aufgegeben werden, und die Landessitte verlangt, daß der also Ver- sagende mal für mal den Becher Reisweins bis zur Neige leert. Und das währt Stunden hindurch. Gang folgt auf Gang, Cha- rade auf Charade, und nie werden die Herren es müde, im Scharf- sinn miteinander zu wetteifern. Da schneidet unsereiner kläg- lich ab. Das Erraten chinesischer Rätsel setzt einen Feinsinn voraus und eine Fähigkeit, aus Andeutungen unmittelbar das ganze herauszuhören, die wohl keiner besitzt, dessen Kombinationsver- mögen durch andauernde Beschäftigung mit der chinesischen Schrift nicht bis zur Unwahrscheinlichkeit durchgebildet ward. Denn un- wahrscheinlich ist es, was meine Gastfreunde wie spielend leisten. Oft liegt die Lösung eines Rätsels im Bezug eines hingeworfenen 390 Chinesisches Gefühls- und Liebesleben. Worts auf eine unwichtige Stelle in den Klassikern: ohne weiteres wird sie gefunden, und meist von mehreren zugleich. Wer mit dem Stoff so zu spielen weiß, mag noch sehr ein Schrift- gelehrter sein — er ist gleichzeitig ein lebendiger Geist. Ja, lebendig sind diese Herren, und seien sie noch so würdige Glieder der Han- lin-Akademie. Lustig blinken ihre ausdrucksvollen Augen, uner- müdlich scheinen sie beim Zechen, und ihr Lachen ist so an- steckend, so werbend, daß ich mitlache auch wo ich nicht weiß warum. Ein berühmter Doktor erzählt, wie er sich einstmals in ein Singsangmädchen verliebt habe; zuletzt sei ihm das Leben ohne sie unmöglich geworden; und wie seine würdige Gattin bald darauf starb, habe er das Mädchen heimgeführt. Nun sei sein Haus ein Paradies. Während er seinen ernsten Studien obliege, werde er doch stets von zwitscherndem Frohsinn umgeben, und der erst mache seinen Ernst ganz produktiv. — Es leuchtet feucht in den Augen des alten Herrn. Nein, gefühllos sind die Chinesen nicht. Wie mag die Legende der chinesischen Gefühllosigkeit nur auf- gekommen sein? Nie habe ich lebhafter sprechen und herzlicher lachen gehört. Der ungebildete Europäer beurteilt den, welcher Herr seiner selbst ist, gleich als dürr und kalt; was ja auch dem Engländer widerfährt. Die Wahrheit ist, daß der Beherrschte seine Fähigkeiten potenziert, wie denn das englische Gemütsleben nicht schwächer, sondern intensiver (wenngleich ärmer) ist, als das des Deutschen. Wozu das weitere tritt, daß nur der, wer sich wirklich besitzt, sich auch wirklich hingeben kann. Die Chinesen, welche nichts außer Gleichgewicht bringt, wissen eben deshalb auszuspannen. Dann aber strömt ihre Laune über und tausend Quellen sprudeln auf einmal hervor. Die Chinesen empfinden nicht weniger tief und reich, nur anders als wir. Wenn christliche Nächstenliebe ihnen fehlt, so besitzen sie dafür ein Zusammenhangsgefühl, wie wir es nicht kennen; unsere Sympathie ersetzt Hochkultur der Ehrfurcht; wenn sie sich gelegentlich hart, verschlagen und grausam er- weisen, so sind sie im Ganzen doch viel zahmer als wir Abendländer, zu denen sie sich — der Vergleich stammt von Ku-Hung-Ming — nicht viel anders wie Haus- zu Raubtieren verhalten. Wir kommen ihnen typischerweise herzlos, roh und Individualistische Auffassung des Eheproblems ein Mißverständnis. 391 grausam vor; von ihren Voraussetzungen aus haben sie wohl recht. Aber im gleichen Sinne Recht haben wir, wenn uns ihr Gemütsleben in mehreren Hinsichten dürftig scheint. Liebe in unserem Sinn z. B. kennen sie sicher nicht. Ich gedenke des berühmten Romans P'ing - Chan -Ling- Yen, in welchem kalli- graphisches Können recht eigentlich die Rolle eines Liebestrankes spielt, jener „weidenbestandenen Straßen" (der Freudenviertel), in deren Grenzen sich weitaus der größte Teil chinesischen Liebes- lebens abspielt: den meisten Chinesen bedeutet Liebe ungefähr das, wie dem Menschen des europäischen Altertums. Noch dem heiligen Augustin waren die Stimmungen unbekannt, die wir heute als für das Lieben wesentlich ansehen. Er wußte wohl vom Begehren, vom Genuß, von der animalischen Freude an der Nähe; auch wohl vom spezifischen geistigen Charme, von der an- regenden Kraft, die Frauen ausstrahlen. Aber von der Liebe eines bestimmten Weibes um seiner selbst willen hatte er keinen Begriff. Immerhin: wieviele unter uns sind des Liebens in diesem höchsten Sinne fähig? Das meiste von dem, wovon wir glauben, daß es uns hinaushebt über die übrige Menschheit, besitzen wir nur in der Idee. . . . Meine chinesischen Freunde sind skandalisiert darüber, daß ich keine Absicht zum Heiraten bekunde: „Sie sind doch kein Wolf, kein reißendes Tier, daß Sie sich über die uni- versale Ordnung hinwegzusetzen wagen !" Ich erwidere ihnen, daß ich längst geheiratet hätte, wenn ich als Chinese auf die Welt gekommen wäre, oder auch, als Europäer, in dem Fall, wenn das Problem sich bei uns vergleichbar stellte. Aber heute tut es das nicht. Was selbstverständliche Gattungsfunktion sein sollte, be- deutet uns ein individuelles Problem, und der, dem die Ehe kein solches sein kann, weil sein Bewußtsein in den Gattungsinstinkten nicht dauernd zentrierungsfähig ist, der heiratet dann nicht. Allen Ernstes: die neue individualistische Auffassung des Ehe- problems bedeutet ein Mißverständnis, steht dem Prinzip nach unter der asiatischen. Die Fortpflanzung ist Gattungsangelegenheit, sollte dergestalt geregelt werden, daß individuelle Velleitäten nicht ent- schieden. Das Problem stellte sich anders, wenn zwischen diesen und dem Besten der Gattung ein notwendiger Zusammenhang be- 392 Nachteilige Wirkung des Ideals der vollkommenen Ehe. stände ; aber ein solcher liegt nur ausnahmsweise vor. Es ist leider nicht wahr, daß die Kinder der Liebe notwendig wertvolle Kinder wären — jedem Bastard, der Genie besessen hat, stehen tausend Minderwertige gegenüber; es ist leider nicht wahr, daß die Natur sich, wie Schopenhauer behauptet, der Neigung als Mittels be- dient, um ihre höheren Zwecke zu erreichen — denn höhere Zwecke kennt sie nicht; ihr liegt gar nichts an der Ver- edelung des Menschengeschlechts. Wohl scheint Inkompatibilität der Gatten — und auch dieses ist nicht einwandfrei erwiesen — auf die Nachkommenschaft einen ungünstigen Einfluß auszuüben ; sicher bürgt leidenschaftlichste Zuneigung nicht dafür, daß die Kinder gut geraten werden. Individuum und Gattung decken sich nicht in concreto, sie stehen zueinander vielmehr in Polaritäts- verhältnis: jenes steigert sich auf Kosten dieser, welche ihrer- seits auf Kosten jenes gedeiht; dies ist der Sinn der wohl- bekannten Tatsachen, daß große Männer selten Nachkommen hinterlassen und die Geschlechter am spätesten entarten, in denen der Typus den Einzelnen beherrscht. Von dieser Erkenntnis aus sollte das Eheproblem in Angriff genommen und gelöst werden. In Asien geschieht dies noch. Nichts könnte weiser sein, als das Heiraten als selbstverständliche Pflicht hinzustellen, der sich keiner entziehen darf, bei deren Erfüllung der Wunsch des Einzelnen nicht in Frage kommt, sondern ausschließlich das Wohl des Geschlechtes ; denn auf diese Weise wird zweierlei auf einmal erreicht: erstens die sichere Fortdauer der Rasse unter günstigsten Verhältnissen; hier sieht die Familie immer klarer als der persönlich interessierte Einzelne. [ Daß die Heiratsvermittler ein gutes Auge haben, geht unzweideutig aus der unerhörten Langlebigkeit der Familien im Osten hervor, und aus der Seltenheit des Phänomens der De- kadenz. ] Zweitens aber wird durch diese grundsätzliche Ent- scheidung des Eheproblems der Nichtberücksichtigung individueller Gefühle alles Odium von vornherein benommen. Wenn das Heiraten als selbstverständliches Stadium auf dem Lebenswege gilt, dann spielt es im Bewußtsein des Einzelnen kaum eine Rolle; er stellt sich gar nicht die Frage, ob er „wirklich" ganz glücklich sei, kann daher auch nicht ganz unglücklich werden und die typischen Vor- teile des Ehelebens werden ihm auch so zuteil: er hat ein Heim, entbehrt der Ruhelosigkeit dessen, dessen Gattungstriebe un- befriedigt blieben, sein Bewußtsein wird weit an der Sorge um Oberflächlichkeit der europäischen Liebesauffassung. 393 die Nachkommenschaft. Diese typischen Vorteile sind für den Einzelnen immer die Ausschlaggebenden, auch wenn er die Ehe unter rein individuellen Gesichtspunkten schloß. Wo sind also die Nachteile des asiatischen Systems? — Diese liegen freilich auf der Hand: eine vollkommene Ehe im europäischen Sinn kommt im Fernen Osten kaum vor, jenes fortdauernde Wachsen aneinander. Aber hier gilt es großzügig denken: sind solche Ehen etwa zahl- reich unter uns? Ich habe nur ganz wenige gesehen, desto häufiger aber bemerkt, daß das Ideal der vollkommenen Ehe die Beteiligten herabgemindert hat. Wenn Gatten sich einbilden, für einander geschaffen zu sein, ohne daß sie es sind, dann wachsen sie nicht, sondern verkümmern aneinander; ihr Bewußtsein idealisiert, was nicht idealisiert werden dürfte, hausbackene Ideale bestimmen die ganze Lebensführung und aus dem Aar wird ein Täuberich. Des- wegen steht der verheiratete Mann unter uns so häufig niedriger als der ledige, ist sogar die Frau oft weniger als das Mädchen, was doch widernatürlich scheint. Der Chinese, dem der Ehestand kein Ideal, sondern das schlechterdings Selbstverständliche be- deutet, und der sich dabei, mit dem ihm eigenen Sinn für die Naturordnung, meist als vorzüglicher Vater und Gatte bewährt, wird durch das Verheiratetsein niemals herabgemindert. Ich schrieb einmal: „wer sich fortsetzt, verzichtet auf seine Person"; das gilt auch vom Chinesen; aber dieser gibt so wenig Preis, als sich preis- geben läßt. Da sein Eheleben ihm ein Selbstverständliches dünkt, so schlägt es sein Bewußtsein nicht in Bande. Wiewohl er der Gattung mehr Rechte zugesteht als wir, ist sein individuelles Be- wußtsein von Gattungsmotiven freier. Dieses wäre denn wohl der entscheidende Punkt, der gegen unsere Auffassung des Eheproblems anzuführen ist: indem wir einerseits eine Gattungsangelegenheit zur persönlichen hinauf- heben, ziehen wir andererseits das emanzipierte persönliche Be- wußtsein in das der Gattung wieder hinüber. Der Erfolg ist absolut negativ. Die Gattung erhält sich schlecht bei uns, degeneriert oder stirbt aus, und der Einzelne ist dabei weniger frei, als im Osten. Es ist doch ein arges Mißverständnis, in der so außerordentlich individualisierten modernen Erotik z. B. einen Beweis potenzierten Selbstbewußtseins zu sehen: hier er- scheinen vielmehr generelle Triebe wie krampfhaft in die Sphäre des Selbstbewußtseins hinaufgehoben, welch' letzteres seinen 394 Liebe gilt immer Typischem; der höchstdenkbare Zustand. eigenen Charakter entsprechend verliert. Individualisiertheit in diesem Sinn ist kein Zeichen der Emanzipiertheit. Neulich kam mir ein französischer Roman in die Hände: ich kann kaum sagen, wie flach, gegen den Hintergrund des Orients betrachtet, die typisch-westliche Liebesanschauung wirkt; die Liebe zu einem bestimmten Sinnenwesen der Sinn des Lebens Das ist ein arges Mißverständnis, selbst im Fall der geläutertesten, beweist Ober- flächlichkeit sogar im Fall der tiefsten Neigung. „Nicht um des Gatten willen ist der Gatte lieb, sondern um des Selbstes willen", lehrt die Upanishad und sie, nicht die westliche Romantik ist im Recht. Freilich kann ein bestimmter Mensch einem anderen der Exponent des Höchsten sein — hierauf beruht die mögliche Gött- lichkeit der Gattenliebe — aber diese an sich bleibt reine Gattungs- sache, die zur persönlichen zu machen nur auf Kosten der Persön- lichkeit gelingt. Übrigens wird, wer das Generelle individuell auf- faßt, durch alle Erfahrung eines besseren belehrt. Die meisten geistig bedeutenden Männer klagen, daß sie von den Frauen als solche nicht gewürdigt werden, sondern nur als „Berühmte" schlechthin, oder als Produktive, als Potente, und ebenso klagen hochbegabte Mädchen, daß die Männer an ihnen nur das Typische schätzen. In der Geschlechtsliebe äußert sich eben die Gattung; eine persönliche Zuspitzung dieses Triebs bedeutet, metaphysisch betrachtet, ein Mißverständnis. Solche Zuspitzung kommt im Osten nur selten vor. Deshalb hat die Liebe dort selten so schöne Blüten getrieben, wie bei uns; nur wo ihr Sinn überschätzt wird, sprießen sie, und persönlich würde ich sie ungern missen. Aber ich bin zu ehrlich, um meine Vorliebe objektiv zu rechtfertigen: ich weiß vielmehr, daß die Stellung des östlichen Weisen, welcher der Gattung gewährt, was ihr gebührt, sein Selbstbewußtsein jedoch in anderen Sphären gründet, die höhere und förderlichere ist. .... Ich überlese, einen Tag später, das Geschriebene wieder: es ist freilich mehr in der Idee als praktisch richtig, denn darüber besteht kein Zweifel, daß unser Familienleben über dem chinesischen steht, wegen unseres tieferen Begriffs von Menschenrechten über- haupt und im besonderen der Würde der Frau. Aber ideell trifft es zu. Unsere nächste Aufgabe wäre, auf unserer höheren Indivi- dualisiertheitsstufe die Grundbeziehung zwischen Generellem und Individuellem wieder herzustellen, welche im Orient besteht. Der Die Ehe der Zukunft; der chinesische Klassizismus. 395 Fortbestand der Art darf dem Caprice der Neigung nicht dauernd anheimgestellt werden, denn dies führte mit Unvermeidlichkeit zum Rassentod. Wohl sind die Zeiten dahin, wo Mann und Weib gleich Tieren durch fremden Willen einander zugeführt werden konnten, aber sie müssen nun lernen, aus freier Wahl zu tun, was vormals für sie getan wurde. Sie müssen lernen, aus persönlichen Voraussetzungen heraus Gattungsangelegenheiten als solche zu be- treiben, sie müssen verlernen, aus individuellen Neigungen, die sie sonst freilich ausleben mögen, Konsequenzen zu ziehen, die das Überindividuelle schädigen könnten. Es ist ein allgemeiner Zustand denkbar, wo Mann und Weib so weit entwickelt wären, daß sie unwillkürlich zwischen ihrem persönlichen und ihrem Gattungs-Iche schieden und ebendeshalb zwischen beiden vollkommenen Einklang herzustellen wüßten. Heute endlich ist der Geist des chinesischen Klassizismus über mich gekommen. — Zum Geist einer lebendig- gewordenen Kultur gibt es keinen Zugang von außen her, er ist eine Monade ohne Fenster; wen er nicht besessen hat, der ergreift ihn nicht. Und er erscheint desto ausschließlicher, je mehr das Wort in ihm zu Fleisch geworden ist. Den Prote- stantismus zu verstehen, gelingt zur Not noch ohne Bekehrung; den Katholizismus versteht nur der, welcher in gewissen Stim- mungen zum mindesten katholisch empfunden hat; im gleichen Sinn ist die französische Kultur ein Abgeschlosseneres als die deutsche. Und nun gar die chinesische ! Wenn irgendeine schein- bar abstrakte Wesenheit den Anspruch auf konkrete Wirklichkeit erheben darf, dann ist es der „Geist" dieser Kultur. Er ist etwas dermaßen selbständiges, daß die Individuen, die er beseelt, kaum mehr Individuen sind: sie wirken als bloße Repräsentanten. — Was ich als äußere Anschauung schon oft erfahren hatte, das widerfuhr mir heute früh nun selbst, als ich in Begleitung eines Schriftgelehrten im Tempel Kung Fu Tses weilte. Im Vorhofe dieses Tempels, den die Seelentafeln aller Weisen des Landes zieren, sind seit der Yüan-Dynastie die großen Staats- prüfungen abgehalten worden, und der Name jedes, der sie mit Ehren überstand, steht auf steinerner Tafel verewigt. Nebenan, in lauschiger Halle, sind die Werke der neun Klassiker dem dauer- 396 Der chinesische Klassizismus. haften Marmor eingeprägt. Eben dort pflegte der Kaiser alljähr- lich seine eigenen Gedichte vorzulesen. Es weht eine Atmosphäre der Kultur an dieser Stätte, wie ich sie gleich intensiv meines Wissens nie eingeatmet habe. Unaufhaltsam drang sie durch meine Poren ein. Und indem ich mich in die Seele des Literaten hineinversetzte, der mir mit ehrfurchtbebender Stimme die Denk- mäler und Inschriften erläuterte und hie und da, mit begeistert leuchtenden Augen, berühmte Stellen aus den Klassikern vorlas, beschwor ich den Geist, nach dem ich fahndete. Welch' einzigartiger Geist! Es ist, so unerwartet dies klinge, der leibhaftige Geist der klassischen Philologie, und doch kein blasses Schemen, sondern ein ganz substantielles Gebilde, mit das dichteste, das mir in dieser Sphäre seit lange begegnet ist; seine Densität scheint mir erheblich größer, als die des Literaten, der mir zum Mittler dient. Hier ist also der Geist einer bestimmten literarischen Tradition tatsächlich zur Seele einer lebendigen Menschenklasse geworden. Ich mag mich wenden wohin ich will, welche Saite ich immer will meines Wesens zum Anklingen bringen : er läßt mich nicht los. Alles erfahre ich als Ausdruck, Erläuterung, Ergänzung oder Illustration der klassischen Weisheit, und zwar in der Form, welche diese stilistisch auszeichnet. Und seltsam: ich sollte mich beengt fühlen, tue es jedoch nicht; mir ist, als seien meine Erfahrungsmöglichkeiten durchaus nicht eingeschränkt; sie erscheinen nur wie anders gefärbt. — Aber nein: natürlich bin ich eingeschränkt, nur kann ich es nicht mehr spüren; ich habe mein normales Bewußtsein gegen ein anderes eingetauscht; und sollte als Philosoph doch wissen, daß die Rose von ihrem Stand- punkte zu übersehen außerstande ist, inwiefern sie unter dem Veilchen steht. Nur soviel kann ich unmittelbar erkennen, was der objektiven Kritik standhalten dürfte: ich bin ungeheuer viel eindeutiger als sonst; auf alle Eindrücke reagiere ich einem ein- heitlichen Plane gemäß, alle Einfälle entspringen einem identischen Quell und beim Ausdruck zumal empfinde ich gar kein Zögern: wo ich sonst nach entsprechenden Formen mühsam suche, bilde ich mich jetzt instinktiv den überkommenen ein, und habe dabei das Bewußtsein, mich durchaus eigentlich, originell und persönlich auszudrücken. Das ist ein sehr bedeutendes Erlebnis. Generell ist es mir nicht neu: der Geist des Katholizismus besitzt einen in eben dem Der chinesische Klassizismus. 397 Sinne; auch er gibt dem Bewußtsein weniger neue Inhalte, als daß er eine neue Bewußtseinsform erschafft, auch er ist so alldurch- dringend, daß er jede einzelne Seelenregung ergreift; auch er ver- mag es, alles Persönliche in objektive Formen hineinzuleiten, so daß ein noch so freier Geist sich durch die Dogmen nicht not- wendig beengt fühlt und der Spontanste, Lebendigste nicht selten an der Observanz überkommener Riten sein persönlich-ent- sprechendstes Ausdrucksmittel findet; auch er schafft recht eigent- lich eine besondere Menschenart. Aber beim Katholizismus er- scheint dies verständlicher, denn dessen Geist stellt einen hoch- entwickelten und so allseitig und fein differenzierten Organismus dar, daß er die Möglichkeiten des reichsten Individuums in sich be- greift. Der des chinesischen Klassizismus hingegen ist arm zu nennen ; der zugrunde liegenden Wurzelideen sind wenige und der Stamm ist wenig verzweigt und undicht ausgeschlagen. Wie kommt es, daß ich mich trotzdem nicht arm fühle, daß der chinesische Literat, potentiell wenigstens, ein Vollmensch ist? denn das ist der Puritaner nicht, das Kind eines gleich armen Geistes, das ist auch nicht der Buddhist, vom europäischen klassischen Philologen ganz zu schweigen, der im übrigen zum gleichen Genus gehört, wie der chinesische Literat. — Es liegt wiederum an dem, was ich wieder und wieder als das Hauptmerkmal östlicher Weisheit erkenne: an der Konzentration, der sie ihren Ursprung verdankt, und an der Konzentration, mit der sie studiert wird. Die Lehre der chinesischen Weisen ist karg und einsilbig nicht, weil sie ausschließt, sondern weil sie verdichtet; ihre Sätze stellen, so aufgefaßt, wie ein ge- bildeter Chinese sie versteht, die Essenz aller nur möglichen Er- scheinung erschöpfend dar. Und das gilt vom Ausdruck wie vom Sinne. Je tiefer ein Verhältnis erfaßt wird, desto näher gelangt man dem Schnittpunkt der Koordinaten, die zu seiner Bestimmung dienen, desto weniger Begriffe kommen in Frage. Bei unserer arithmetischen Ausdrucksweise (in der wir notgedrungen auch die chinesische Weisheit darstellen), tritt das nicht immer deutlich an den Tag; bei der algebraischen der Chinesen liegt es auf der Hand, so daß der klassische Ausdruck als einzig-möglicher erscheint vom Standpunkte jedes, welcher den Sinn erfaßt hat. Dieses aber ist ja das Ziel und der Erfolg der spezifisch-chinesischen Schul- bildung. Uns klingt es grotesk, daß einer zehn bis zwanzig Jahre beim Studium des Konfuzius allein verbringen soll: er studiert 398 Bedeutung der klassischen Philologie. eben nicht auf unsere Weise; er meditiert jeden einzelnen Satz, bis daß der Sinn sein Innerstes durchdrungen hat, und ist er dann am Ziel, so heißt das nicht, daß er den Konfuzius in unserem Sinne begriffen, sondern daß der Geist des großen Lehrers von ihm vollkommen Besitz ergriffen hat, gleich wie eine große Leiden- schaft vom Menschen Besitz ergreift. Damit erhält denn das Philo- logische einen neuen Sinn. Wenn der Geist einer Kultur als besessen vorausgesetzt werden darf, dann kommt wirklich nichts anderes in Frage, als alle Aufmerksamkeit dem Ausdruck zuzu- wenden, und wo dieser in der klassischen Literatur vollendet vor- liegt, ist philologisches Studium tatsächlich das Tor zur Humanität. Unsere Philologen erkennen europäisch-klassischen Studien die gleiche Bedeutung zu; auch sie behaupten, der klassisch Gebildete, der des Lateinischen und des Griechischen Mächtige, der Kenner des Cicero, sei allen Aufgaben des Lebens gewachsen. Aber für Europa ist das nicht mehr wahr. Der Geist Griechenlands und Roms ist gar nicht unser Geist, sondern sein Vorfahr; und so vollendet er war, anderen hilft er nicht zur Vollendung, wie der chinesische dies tut, weil er nicht gleich tief wurzelt. Dieser verkörpert den Sinn gleichsam an sich, jenseits aller Erscheinungs- form, jener in Gestalt eines bestimmten Phänomens, welches quali- tativ verschieden ist von dem, das unser Dasein abgrenzt. Deshalb kann der klassische Philolog im heutigen Europa kein Vollmensch sein, ist dort klassische Bildung nicht unumgänglich zur vollendeten Ausbildung der Persönlichkeit und wenig nütze zur Meisterung des Lebens, so wertvoll ihr Besitz sonst sei. In China macht sie den Menschen vollendet und überdies zum praktischen Leben ge- schickt. Mit Recht wurden bis zur großen Revolution alle Staats- posten von Doktoren der Philologie besetzt, galt Bestehen der literarischen Staatsprüfungen als absoluter Befähigungsnachweis. Der Chinese, der den Geist seiner Klassiker innerlich aufgenommen hatte, war dem alt-chinesischen Leben in allen seinen Äußerungen im selben Sinn gewachsen, wie in Amerika der, welcher bei sonst noch so mittelmäßigen Kenntnissen vom Geist der Initiative durchaus besessen ist. Aber freilich : dieser Geist ist ein erwachsener, fertiger Orga- nismus; er kann sich fortpflanzen, betätigen — erneuern kann er sich nicht mehr; dem China, das nicht die Welt in sich beschließt, wird er nicht mehr zum Heile gereichen. Der Chinese ein Philister ; Ku> Hung-Ming. 399 Und dann ist er, bei allen seinen Vorzügen, allzusehr ein Geist der Philistrosität. Wenn der Philolog, der Schriftgelehrte, der Literat von einer Nation als Idealtypus verehrt werden kann, dann müssen die Eigenheiten dieser Menschenart irgendwie auch vom Wesen gelten. So ist es. Ich versenke mich in den Geist, der mich besitzt: ja, er ist unbeugsam, pendantisch, starr, altklug und schrullenhaft. Mein Bewußtsein ist das eines Schulmeisters, oder genauer, eines streberischen Musterschülers, welcher stolz auf sein Angeeignetes ist. Heute könnte ich nichts Leichtsinniges vornehmen, unmöglich mich verlieben, es sei denn in eine Musterschülerin ; nimmer wagte ich's, einen Gedanken zu verfolgen, dessen Richtung nicht durch Autorität gewiesen wäre, der Sinn unabhängig vom Wort interessiert mich nicht. Und das schlimmste dabei ist, daß ich mir in dieser Gestalt sehr wohl gefalle, daß es mich gar nicht hinausdrängt aus den Schranken meines Philistertums. — Ja, ja, die Tiefe, die sich einmal ausgeprägt hat, ist eben damit zur Ober- fläche geworden. Eine kurze Zeit über erscheint diese dadurch vertieft, bald aber findet eine intime Umwandlung statt, dank welcher sie wiederum verflacht; der Geist, der sich dem Buch- staben erst einbildete, löst sich nun auf in ihm. So ist die Be- deutung jedes Kulturwerts letzthin eine Frage der Zeit. Dem Chinesen, dem es ums Ewige zu tun ist, muß es drum näher als allen anderen Menschen liegen, alle Gestaltung überhaupt zu ver- leugnen. Y'iele Stunden jedes Tages verbringe ich mit Ku Hung-Ming und dessen Freunden und Anhängern. Der Mann ist über- aus geistreich und so feurigen Temperamentes, daß ich manchesmal an einen Romanen gemahnt werde. Heute setzte er des Langen und Breiten auseinander, wie unrecht die Europäer, und besonders die Sinologen täten, die chinesische Kulturentwickelung ganz für sich, ohne Vergleich mit der okzidentalischen, zu be- trachten: denn tatsächlich seien beide nach einem identischen Schema abgelaufen. In beiden habe es ein gleichsinniges Alter- tum und Mittelalter gegeben, Renaissance und Aufklärung, Reformation und Gegenreformation, in beiden hätten Hebrais- mus und Hellenismus (um mit Matthew Arnold zu reden), Rationalismus und Mystizismus abwechy ilnd vorgeherrscht; ja, die 400 Chinesen und Europäer verglichen ; warum alle Geschichte kurz ist. Parallele ließe sich bis ins Einzelne verfolgen: so hätte es z. B. auch in China einen Bayard gegeben. Ich kenne die chinesische Geschichte nicht genügend, um die Stichhaltigkeit der Ver- gleiche nachzuprüfen und habe Ku Hung-Ming, gleich den meisten seiner Landsleute, im Verdacht, einem etwas zu billigen, an den süditalienischen gemahnenden Intellektualismus zu hul- digen. Aber soviel ist allerdings wahr: alle historischen Zustände sind durch besondere Umstände bedingte Sondererscheinungen der einheitlichen Naturformen des Menschenlebens, und da die mög- lichen Konstellationen von Umständen um einige wenige Typen herumschwanken, deren Folge einer Regel unterworfen scheint, so kann es nicht fehlen, daß alle Völker von vergleichbarer Anlage auch durch vergleichbare Stadien hindurchgehen. Nun sind West- Europäer und Chinesen durchaus vergleichbar; sie gehören in einer wesentlichen Hinsicht einem identischen Grundtypus an, dem des Ausdrucksmenschen, zu dem die Inder z. B. und die Russen nicht gehören. Also kann es nicht fehlen, daß sich in der Geschichte Parallelen nachweisen lassen. Immerhin stehe ich dem Wert sol- cher Vergleiche recht skeptisch gegenüber. Die Zeit mag einsinnig sein an sich selbst — sicher ist sie es nicht in bezug auf den Menschen; die Chinesen sind langatmig, wir kurzatmig, uns ist die Bewegtheit, jenen die Ruhe der Normalzustand: wie soll man da gegenständlich vergleichen? Wir brüsten uns unseren schnellen Fortschreitens: eben dank dem werden wir vielleicht auf immer Barbaren bleiben, da Vollendung nur innerhalb eines gegebenen Rahmens möglich ist und wir den unserigen fortwährend wechseln. Auch halte ich es noch nicht für ausgemacht, daß wir lange im gleichen Tempo fortschreiten werden: jede Lebens- richtung ist innerlich begrenzt, auch wir werden irgendeinmal am Ende sein, und wahrscheinlich früher als wir denken. Oft habe ich, zumal in, Indien, das Urteil vernommen: da alle Kulturen, die wir nachweisen können, in relativer Höhe anheben — und das ist richtig — so müßte als Grundlage derselben eine außerordentlich lange Zeitspanne langsamen Aufsteigens vorausgesetzt werden. Mitnichten. Jedem geistigen Einfall sind seine sämtlichen Konse- quenzen nicht nur in der Theorie, sondern de facto eingebildet ; sie drängen ins Aktuelle hinaus, verkörpern sich, wo der Stoff es nur irgend erlaubt, so daß, sobald der Geist überhaupt in Bewegung gerät, der Prozeß mit großer Geschwindigkeit abläuft. Daher Kungfutse und Lautse als Antipoden. 401 kommt es, daß, wo das Bewußtsein schlummert, Äonen vergehen mögen, bis irgendetwas Neues geschieht, sei es im Urzustand oder, wie in China, auf einer bestimmten einmal erreichten Kultur- höhe; wo es aber einmal erwacht ist, die Entwickelung ungeheuer schnell verläuft. Wie lange hat es gewährt vom Erwachen des Griechengeistes bis zu seiner Vollendung? hundert Jahre. Wie lange von der Entdeckung des Gleitflugprinzips bis zu seiner voll- endeten praktischen Anwendung? keine zehn. Im gleichen Sinn mag es wohl sein, daß auch wir demnächst am Ende sein werden, Halt machend auf einer Entwickelungsstufe, die derjenigen Chinas nicht entfernt so weit voran sein wird, als wir erwarten. Denn im modernen Sinne fortschrittliche Menschen sind ja auch wir erst seit einem Jahrhundert. Ku Hung-Ming läßt übrigens keine Gelegenheit verstreichen, wo er Lautse eins am Zeuge flicken kann. Seine Grundthese ist die, daß Konfuzius deshalb der sehr viel Größere sei, weil er den Sinn ebenso tief verstanden habe wie jener, sich aber nicht zurückgezogen habe aus der Welt, sondern in ihrer Meisterung seine Tiefe zum Ausdruck gebracht hätte. Wenn Kon- fuzius das wirklich gewesen wäre und geleistet hätte, was Ku von ihm behauptet, dann wäre er freilich der ungleich Größere. Allein das war er nicht. Es scheint den Naturnormen zu wider- sprechen, daß ein gleicher Mensch ganz in der Tiefe lebte und sich als mächtiger Gestalter der Oberfläche erwiese ; zu jeder dieser Aufgaben bedarf es einer besonderen physiologischen Or- ganisation und ich wüßte von keinem beglaubigten Fall, wo ein Mensch beide in gleichem Maße besessen hätte. Kung Fu Tse und Lau Tse stellen die entgegengesetzten Pole möglicher Vollendung dar; jener die Vollendung in der Erscheinung, dieser die Vollendung im Sinn; jener diejenige im Gestalteten, dieser die im Ungestalteten ; daher sind sie mit einem Maße nicht zu messen. Aber freilich muß Konfuzius den Chinesen größer er- scheinen, weil sie als Nation extreme Praktiker sind und insofern zum Tiefen als solchen kein unmittelbares Verhältnis haben. Je mehr ich von den Chinesen sehe, desto mehr fällt mir auf, wie uninteressant ihre Gedanken sind. Das Denken ist eben nicht ihr Eigentliches: ihr Dasein ist der Ausdruck ihrer Tiefe. So ist auch Ku Hung-Ming als Mensch viel bedeutender denn als Schrift- steller und Denker. Keyserling, Reisetagebuch. 26 402 Alle Chinesen physiologisch Konfuzianer ; der Taoismus. Es ist doch wahr: der durchschnittliche Taoist steht tief unter dem durchschnittlichen Konfuzianer. Der Chinese, wie er sich heute darstellt, ist eben wesentlich (fast möchte ich sagen: physiologisch) Konfuzianer; verleugnet er den Geist, des Kind er ist, so übt er damit Untreue gegen sich selbst. Das zeigt sich schon rein äußerlich an der Brüchigkeit der volkstümlichen taoistischen Theorie, selbst wo sie von allen magischen und fetischistischen Beimengungen frei erscheint. Heute setzte mir ein angesehener Priester auseinander: das Tao sei zwar das Un- gestaltete, aber immerhin sei der Sinn der Welt ihre prästabilierte Harmonie; so daß Versenkung nicht eigentlich zur Vereinigung mit dem schöpferischen Urgrund führt, sondern zum Unisono mit der objektiven Weltordnung. Auch dieser taoistische Priester war ohne es zu wissen Konfuzianer. Hat man sich einmal mit seinem tief- sten Selbst identifiziert, dann weiß man von keiner gegebenen Ordnung mehr; vom Atman her stellt sich das vermeintlich-ab- geschlossene Dasein als schöpferische Entwickelung dar, und das Schöpferische liegt jenseits aller Normen; für jeden Brahmanen verstünde sich dies von selbst. Dem Taoisten aber bleibt, trotz des Tiefsinns der taoistischen Lehre, die konfuzianische „Harmonie" seine Grundidee. Er weiß nur Objektiviertes zu fassen; als reines Subjekt erleben kann er nicht. Nun scheint mir die spezifische Form des Taoismus überhaupt wenig geschickt, einen höheren Menschentypus zu gestalten; sie ist zu weit, zu vieldeutig dazu; insofern hat es nicht viel zu sagen, daß der taoistische Mönch unter dem buddhistischen sowohl als dem christlichen steht. Aber daß alle Chinesen, mit denen ich zu verkehren Gelegenheit habe, die Taoisten mit inbegriffen, der wundersamen Lehre Lautses so gar kein tieferes Verständnis ent- gegenbringen, läßt immerhin auf eine typische Schwäche des Sub- jektiven bei ihnen schließen; ihnen fehlt es an metaphysischem Bewußtsein. Das befremdet mich nicht. Bei allen Völkern, deren typisches Streben auf Konkretion ging, war, in geringerem oder höherem Grade, Gleiches der Fall; bei den Hellenen z. B. und den Franzosen. Wessen Grundinstinkt die Tendenz zum Ausdruck ist, der wird sein Sein wie kein anderer objektivieren, wird je nach seinen besonderen Anlagen der größte Künstler, der edelste Mensch, das vollkommenste politische Wesen sein, aber verstehen wird er Chinesen extreme Ausdrucksmenschen ; Lautse als Narr. 403 sich nich^ tief; sobald er nachdenkt, gerät er außer sich, und nimmt nur das Äußere wahr. So kommt es, daß die Denker der Völker, welche die größten Künstler hervorbringen, in der Regel Ratio- nalisten sind. Bei den Griechen trat dieses Verhältnis nicht ein- deutig zutage, wegen des Dionysischen in ihnen, das gerade im Fall ihrer Philosophen dem Apollinischen vielfach die Wage hielt; bei den Chinesen äußert es sich in extremer Form, weil eben die Chinesen extreme Ausdrucksmenschen sind. Es gibt wohl keine innerlichere, tiefsinnigere Kunst, als die von China, aber nirgends wirkt das Denken trockener. Wie unerträglich langweilig und dürr sind die Reden des Mencius! Unwillkürlich zaubern sie einem das Bild des pedantischesten aller Schulmeister vor Augen. In Wahr- heit aber war Mencius gewiß ein gar feingebildeter Herr, von vollendeter moralischer Kultur, von nuanciertestem Formensinn, bei dem alles Äußerliche von innen her beseelt erschien. Nur war ihm das Denken kein entsprechendes Ausdrucksmittel; denkend konnte er sein Selbst nicht zur Darstellung bringen. Das Philosophieren ist den Chinesen gewissermaßen un- natürlich, obschon sie von allen Menschen der Welt das philoso- phischeste Leben führen; ihre Weisheit äußert sich" in dem, was sie lebend darstellen, nicht in den Gedanken, die sie sich über das Dargestellte machen. Trotzdem haben sie einige der tiefsten Denker hervorgebracht, von denen wir wissen. .Was mögen das für Menschen gewesen sein? Ich denke mir, sie hatten viel vom Narren und Charlatan; es müssen typische, ja extreme Bei- spiele des Zusammenbestehens von großer Weisheit und großer Unzulänglichkeit gewesen sein. Wenn der Weise im Tao-Teh-King ausruft {Vom Sinn 20, „Abseits von der Menge", nach Wilhelms Obersetzung): „ich bin unschlüssig, ohne Zeichen für mein Han- deln, wie ein Kindlein, das noch nicht lachen kann ; ich habe das Herz eines Toren. Ich bin unruhig, wie das Meer, bin müßig wie ein Taugenichts" — so ist das, glaube ich, nicht nur ironisch zu verstehen; er wird, mit jenem seltsamen Mangel an Eitelkeit, der Chinesen so häufig auszeichnet, ein getreues Bild seiner selbst entworfen haben. Jedenfalls gibt es zu denken, daß das chinesische Volk, dessen Sinn für menschliche Größe an Sicherheit unerreicht dasteht, die taoistischen Weisen mehr als Zauberer denn als „Edele" und „Vollendete" fortverehrt. 26* 404 Taoistische Heilige ; ein chinesischer Religionsstifter. Dennoch könnte es taoistische Heilige gegeben haben, die als die größten aller gelten dürften. Im Taoismus liegt eine Über- legenheit vorgebildet, wie weder im Buddhismus, noch im Christen- tum, noch auch im Brahmanismus : er bezeichnet nämlich das einzige Yoga-System, das Vollendung und Seligkeit nicht in Gleichung gesetzt hätte. Wie sehr hat es den indischen und christlichen Yogis zum Verhängnis gereicht, daß sie ein Zusammenfallen des höchsten Zustandes mit dem glückseligsten fordern! diese Erwartung ver- eitelte ihr Bestreben, von sich selbst wirklich frei zu werden. Glückseligkeit kann nur in Funktion des Egoismus definiert werden ; sie ist kein möglicher Zustand dessen, der sein Ich überwunden hat. Das haben die Taoisten allein erkannt. Hat es je einen ge- geben, der diese Erkenntnis in Leben umzusetzen wußte, so dürfte dies wohl der Überlegenste aller Heiligen gewesen sein. Wie die Natur aller Schemen spottet! Ich bildete mir ein, die Möglichkeiten des Literaten im Geist er- schöpft zu haben, und nun begegnet mir ein Mann, dessen bloßes Dasein meine Verallgemeinerungen Lügen straft : ein Literat mit glühender Seele, von sublimiertester Spiritualität! In China wie überall sind viele Schwarmgeister heute damit be- schäftigt, eine neue Weltreligion ins Leben zu rufen, und hier, wie überall, sind diese Propheten meist uninteressant. Es sind Gelehrtennaturen, welche die (vermeintliche) Erkenntnis des ein- heitlichen Sinnes, der allen höheren Religionen zugrunde liegt, berauscht hat, und die daraufhin, anstatt harmlose Lehrbücher der vergleichenden Religionskunde zu schreiben, als Weltver- besserer auftreten. Der Mann nun, mit dem ich diesen Nach- mittag verbrachte, ist von echter Religiosität beseelt; er er- innert in vielem an Calvin, nur — was in China allein wohl mög- lich scheint — durch manchen franziskanischen Zug besänftigt. Er sieht das Grundgebrechen Chinas in eben dem, was jedem nach- denklichen Besucher als erstes auffällt: daß der Sinn in der Form erstorben ist, und lebt nur für das eine, neuen Geist dem Buch- staben einzuflößen. Der Geist, den er meint, ist dem johanneisch- christlichen nahe verwandt. Aber selbstverständlich sieht er im Konfuzianismus die Form, in der sich der Sinn am besten ver- wirklichen läßt. Er ist eben Chinese und ein gebildeter dazu, und Konfuzianismus und Christentum. 405 er wäre es nicht, wofern er anders dächte. Ihm ist das Lose des Taoismus, das allzu weiche des Buddhismus nicht kongenial. Was aber das Christentum betrifft, so seien, meinte er, dessen freilich unantastbare Wahrheiten in einer dem Chinesen fremden Sprache ausgedrückt. Übersetze er sie nun in die seinige,, so er- gäbe sich nichts anderes als — der Konfuzianismus, vielleicht nicht der traditionelle, aber der, welchen er meint; weswegen von einer Einführung des Christentums füglich abgesehen werden könne. Während ich ihm zuhörte und das Mienenspiel seines wunder- bar durchgeistigten Antlitzes verfolgte, dessen Sprache ich un- mittelbar verstehen konnte, mußte ich voll Beschämung der Missio- nare gedenken, welche solche „Heiden" zu „bekehren" wagen. Wenn sie doch erst lernen wollten, bevor sie lehren! Gewiß: ganz recht hatte mein Unterredner nicht; das Äußerste des Christentums geht im Konfuzianismus nicht auf. Aber dieses Äußerste werden die Chinesen wohl nie begreifen, ebensowenig wie die Europäer jemals in das Innerste der Inderreligion ein- dringen werden; hier liegen biologisch-historische Schranken vor. Allein, diese Schranken beengen ja nicht das religiöse Erleben, sie schränken nur das geistige Gesichtsfeld ein. So kann ein orthodoxer Konfuzianer Gott gerade so nahe sein und dem Göttlichen in ihm genau so wahrhaftigen Ausdruck verleihen, wie der erleuchteteste unter den Indern; er kann es gerade, sofern er im Rahmen seiner Natur verbleibt. Wie schön ist ein guter Chinesenkopf! Hier sieht man Äußerstes an Ausdruckswert erreicht — und mit wieviel ein- facheren Mitteln als bei unsereinem ! Der Europäer muß schon bedeutend aussehen (z. B. kantige Züge, wirre Haare, einen ver- beulten Schädel besitzen), wenn er bildnerisch wirksam sein soll; die Chinesen sind über das Bedeutend-Aussehen hinaus. Hier ist in einfachen Kurven, in gelassenen, ungespannten Zügen eine höchste Bewegtheit verdichtet. Ein guter Chinesen- kopf wirkt, so seltsam dies klinge, neben einem gleich guten europäischen als der klassischere. 406 Chinesen unkirchlich aber nicht irreligiös. Überhaupt fehlt es hier, was immer von der Irreligiosität der Chinesen behauptet wird, nicht an Männern und an Ver- einen, die ihre Kraft in den Dienst einer religiösen Erneu- erung Chinas gestellt haben. Dennoch kann ich jetzt vollkommen verstehen, daß die Missionare die Chinesen als irreligiös be- urteilen: denn kirchlich -religiös ist keiner, selbst unter den eifrigsten Reformern nicht; keiner scheint einer neuen Kon- fession zum Siege verhelfen zu wollen. Wahrscheinlich ist solches Militieren dem Chinesentemperamente zuwider: so intransigent- konservativ der Konfuzianismus gesinnt sei — praktisch hat er den Buddhismus so bekämpft und schließlich überwunden, daß er die fremde Lehre in sich hiaeinbezog, daß er behauptete, sie sei ein Ausdruck eben seiner, der konfuzianischen Weltauffassung. Wohl sind von Zeit zu Zeit Verfolger und Eiferer aufgetreten, und man hat sie gewähren lassen, wie alles in diesem Reich, bis daß sie von selber aufhörten ; aber der durchschnittliche gebildete Chinese ist nicht weniger tolerant als der Inder. Immer muß ich an ein Gespräch zurückdenken, das ich mit einem ungewöhnlich eifrigen, polternden alten Konfuziuspriester hatte: freilich, sagte er, sei der Konfuzianismus der absolut vollkommene Ausdruck für die Wahrheit; aber die Wahrheit an sich, dem inneren Sinn nach, besäßen wir Christen selbstverständlich auch ; darüber sei kein Wort zu verlieren. Man halte solche Gesinnung der eines lutherischen Pastors gegenüber, der mit einem Katholiken zu ver- handeln hätte! Die neuen religiösen Stimmungen in China scheinen mir nun ganz wesentlich durch ihr Akonfessionelles, durch ihre Unkirch- lichkeit ausgezeichnet. Das ist die natürliche Folge jener typisch- chinesischen Auffassung, auf die ich schon in Kanton hinwies, daß die Kirche als „Anstalt" betrachtet wird, als eine praktische, äußer- liche Institution, die mit der religiösen Gesinnung nichts innerlich zu schaffen hat. Wie protestantisch ist auch dieser Zug! Dem Protestantismus war die Kirche immer eine „Anstalt", von Gott eingesetzt, um die Welt in Ordnung zu erhalten; so konnte es nicht fehlen, daß jede Neubildung im Zeichen der Innerlichkeit die Tendenz zur Loslösung von der Kirche in sich trug, was inner- halb des Katholizismus, dem der Kult ein Innerliches bedeutet, nie der Fall war. Was im Schoß des christlichen Protestantismus Warum die Kirche im Protestantismus an Bedeutung verliert 407 wohl mehr und mehr geschieht, aber nur selten offen eingestanden wird, ist der selbstverständliche Weg des chinesischen. Hier sieht man, wie nüchterne Überlegung unter Umständen zum gleichen Ziel führen kann wie schöpferische Intuition. Unzweifelhaft ist das religiöse Gefühl beim Chinesen schwach entwickelt; dennoch hat er von allen Völkern vielleicht am klarsten erfaßt, was für die Religion nicht wesentlich ist. Im Prinzip hat die Kirche mit der Religion tatsächlich gar nichts zu schaffen; die Verknüpfung dieser zwei Dinge ist (im begrifflichen Verstände) ein Sekundäres; Gottes- dienst ist unter allen Umständen Magie. Nun ist Magie eine über- aus wichtige Naturwissenschaft und in der Ausübung ein edles Kunstgewerbe, aber sie hat keine religiöse Bedeutung. Religiös sein heißt nach höchster Selbstverwirklichung streben; mit dem göttlichen Licht alle Erscheinung durchleuchten wollen. Solches Streben kann durch Magie gefördert werden, aber diese an sich bleibt ein rein Technisches. Wo nun die Grundanlage eine nüchterne ist, wie beim Chinesen und beim Nordeuropäer, wo überdies das Selbständigkeitsgefühl so hoch entwickelt ist, daß der Mensch nicht mehr Hilfe annehmen will, als er schlechterdings nicht entraten kann, dort führt die Entwickelung mit Unvermeidlichkeit immer weiter fort von der Magie; mithin von Kirche, Kult und Konfession. Weshalb erreicht der konfuzianische Mensch so oft einen so hohen Grad der Vollendung? diese Frage drängt sich mir mehr und mehr auf, mit je mehr gebildeten Chinesen ich zusammenkomme. Einen wahrhaft großen Mann, einen „Edelen" nach dem Sinn des Konfuzius, habe ich bisher wohl nicht kennen gelernt ; von keinem meiner Bekannten kann ich behaupten, er hätte mir als Natur imponiert. Aber befremd- lich viele unter den Herren stehen doch auf einer menschlichen Höhe, wie ich solcher in anderen Breiten nur ausnahmsweise begegnet bin. — Das muß wohl am Konfuzianismus liegen. Ich will diese düstere Dämmerstunde eines Tages, an welchem plündernde Soldaten ein Ausfahren nicht ratsam erscheinen lassen, mit der Durchdringung dieses Problems verbringen. Der chinesische Idealmensch wird definiert durch das Kultur- ideal seiner Nation: das Ideal der Konkretisierung; der innerste Sinn soll in der Erscheinung erschöpfend zutage treten. Nun hat 408 Weshalb der konfuzianische Mensch so oft vollendet erscheint jeder Einzelne am Tao teil, und bezeichnet als besonderes Phä- nomen ein Glied der universalen Harmonie: also kann er sich selbst nur dann verwirklichen, wenn er im Einklang mit der Welt- ordnung handelt, und das will weiter sagen: indem er sein Leben strikt nach objektiven Normen regelt. Darf ich nun weiter voraus- setzen, daß das Befolgen der Normen, die ich anerkenne, tat- sächlich das höchste Maß von Selbstverwirklichung bedingt, dann kann nicht ausbleiben, daß ich, indem ich ihnen gemäß handele, vollendet werde, wer immer ich als Individuum sei. Hiermit wäre mein Problem wohl gelöst: der konfuzianische Mensch steht so häufig auf einer ungewöhnlich hohen Kulturstufe, weil sein höchstes Ideal ein Ideal der Norm ist, so daß jeder Normalmensch prinzipiell als berufen gilt, es zu verwirklichen; und weil ferner die gegebene Fassung des Ideals dem Chinesen unmittelbar den Weg zu seiner Verwirklichung weist. Alle Völker und Religionen haben Ideale aufgestellt, welche allen vorbildlich sein sollen. Jeder von uns sollte Christus gleichkommen, jeder Inder wie Krishna oder Buddha sein. Aber jeder kann nicht zum Heiligen werden, er strebe noch so in- brünstig darnach, weil es hierzu einer besonderen Begabung be- darf, die er nicht hat, wemzufolge speziell die Christen es für ausgeschlossen halten, daß sie ihr höchstes Vorbild je erreichen könnten. So bleibt es praktisch in der Regel unwirksam. Wirkt es aber, so tut das den meisten nicht gut: keinem tut es gut, sein zu wollen, was zu seiner Natur nicht gemäß ist. Der katholische Priester ist in der Idee dem protestantischen unstreitig überlegen; der Geistliche sollte so weit sein, daß er versuchungslos im Zölibat leben kann, sein Geschlechtstrieb sollte restlos umgesetzt sein, aller natürlichen Bindungen sollte er entraten, rein für andere leben können. Aber in der Mehrzahl der Fälle kann er es nicht, um so seltener, als die religiöse Anlage ausnahmslos mit einer starken Sinnlichkeit zu paar geht, weswegen es gut war, daß mit der Reformation ein anderer, billigerer Priestertypus die offizielle Sanktion erhielt. Der konkrete Wert eines Ideals hängt schlechter- dings davon ab, wie es sich zu den gegebenen Möglichkeiten ver- hält; nur solche, die zur Natur in günstigem Verhältnis stehen, die erreichbar sind im Prinzip — nur solche fördern. Letzteres nun trifft für die Chinesen in wundersamem Maße zu. Ihr Ideal setzt keine außerordentliche, sondern eine durchschnittliche Das Ideal der Norm ; Kangfutses Ablehnen des Außerordentlichen. 409 Natur voraus, wie sie jeder sich zutrauen darf, realisiert sich in der vollendeten Ausbildung einer durchschnittlichen Anlage. So schreckt es a priori keinen ab, ist keinem von Natur aus uner- reichbar, verhilft vielmehr jedem, der ihm ernstlich nachstrebt, zur Verwirklichung dessen, was er ist. Es ist höchst merkwürdig, wie Konfuzius alles Abnorme einfach von sich weist. Er sagt: „Das Unerkennbare erkennen, Außerordentliches leisten ; überhaupt Taten vollbringen, die den kommenden Jahrhunderten Bewun- derung einflößten: das ist etwas, was ich nie versuchen würde". Und anderweitig: „der Weg des Tao liegt nicht außerhalb oder abseits vom normalen Menschenleben". Ausdrücklich rät er ab von einer Oberschätzung des Ideals. Im Tschong Young sagt er: „jetzt weiß ich, weshalb wahrhaft moralisches Leben ein so sel- tenes ist; die Weisen halten das moralische Ideal für etwas Höheres als es tatsächlich ist, und die Toren wissen es nicht zu würdigen; die Edelen streben zu Hohes an, wollen hoch über ihr normales Selbst hinausleben, und die Unedlen sind nicht streb- sam genug". Konfuzius scheint ängstlich darum besorgt, daß das Ideal überschätzt werden könnte. Nicht der Himmelsstürmer sei der Idealmensch, sondern der, welcher das nächstliegende tut, der Bescheidene, der nur vorstellen will, wozu er berufen ist; nicht das Genie sei der höchste Mensch, sondern wer in seiner beliebig beanlagten, aber bis zum äußersten durchgebildeten Person die Norm vollkommen zum Ausdruck bringt, denn das Einzeldasein sei Spiegel der universalen Harmonie. Desto größeren Nach- druck legte er auf den Ausdruck. Ein Weiser, der innerlich hoch stehe, dürfe doch nicht als vollendet gelten: er müsse sich mit Würde geben; der Weise, welcher sich mit Würde gäbe, dürfe auch noch nicht als vollendet gelten: die Würde müsse zur Anmut sublimiert sein. Die Tiefe könne erst als Tiefe gelten, wenn sie die ganze Oberfläche durchleuchte. — Wie soll einer, dem die Lehre Kong Fu-Tses Gottes Wort ist, dessen Erziehung so angelegt ward, daß dieses Wort ihm sein eigenstes Lebensprinzip bedeutet, nicht den Weg zur Vollendung betreten? wie soll er, sintemalen dieses Wort tatsächlich die Essenz aller praktischen Lebensweisheit einschließt, der Vollendung nicht häufig nahe kommen? Jeder Normalmensch muß als Konfuzianer weiter gelangen, denn als Brahmane oder als Christ; nur die Unnormalen bleiben ungefördert. Der Unternormale bleibt tiefer unter der 410 Das chinesische Vollendungsideal der Norm am förderlichsten. Norm zurück, als er unter christlichen Voraussetzungen bliebe, weil diese ihm mehr Hoffnung geben ; die Entwickelung des Über- normalen wird gehemmt ; und der Abnorme findet gar kein Ver- ständnis. So sind unter Chinesen die Originale seltener als anders- wo, die ungebildete Masse ist stumpfer, die gescheiterten Exi- stenzen sind preisgegeben. Aber die Norm erreicht häufiger einen höheren Grad der Vollendung, als irgendwo in der ganzen Welt. Ist die konfuzianische Alternative in einer Welt, die nun ein- mal nicht rund ist, nicht die bestmögliche, einmal gesetzt, daß es ein allgemeingültiges Ideal geben kann? — Vollendung ist das Äußerste, was Sterblichem anzustreben gewährt ist, also muß auf sie aller Nachdruck gelegt werden. Das ist auch das Humanste, was sich tun läßt, denn Vollendung ist jedem prinzipiell erreich- bar, ferner das Weiseste insofern, als unter Voraussetzungen, die solche Entwickelung begünstigen, Menschen groß werden können, die es unter keinen anderen würden; man gedenke der Größe und Tiefe, welche unbedeutende Frauen manchmal auszeichnet, jener naiven unschuldigen Größe, vor der sich der weiseste Mann so gerne beugt. Und hier nun komme ich auf das letzte Moment, das entscheidend für den Konfuzianismus spricht: dieser schafft die potenziertesten Menschen. Fast immer ist das Wachstum der weiblichen Seele den äußeren Hemmungen des Familienlebens zu danken gewesen: im gleichen Sinn verdanken die Konfuzianer ihr hohes Menschheitsniveau ihrem ungeheurlich starren System. Nie wären die Herren, die ich meine, in westlichen Breiten geboren und auferzogen, zu einer annähernd gleichen Durchbildung ge- langt; diese danken sie ihrer statischen Weltanschauung. Nach chinesischen Begriffen steht das Weltall still; es ist vollkommen an sich, nicht zu vervollkommnen; so scheint im letzten nichts zu wollen möglich. Nun drängt aber das Leben unaufhaltsam aufwärts, bleibt ein progressiv-dynamisches Prinzip, auch wo es statisch gedeutet wird; so findet trotz allem ein Fortschreiten statt. Nur verläuft es nicht nach außen, sondern nach innen zu. Es kumuliert sich die psychische Energie, die in der Initiative keine Auslösung findet, weshalb durchschnittliche gebildete Chi- nesen durch eine innere Gespanntheit ausgezeichnet sind, wie im Westen nur hie und da ein Ausnahmemensch. Die Chinesen danken ihre Überlegenheit ohne Zweifel dem konfuzianischen „Ideal der Norm". Ein ersprießlicheres allgemeines Wird der Konfuzianismus den Westen erobern ? 411 Ideal läßt sich nicht denken. Auch dem Westen beginnt dies neuer- dings deutlich zu werden: mehr und mehr wird von der öffent- lichen Meinung das Normale dem Abnormen vorgezogen, das asketische oder Heroen-Ideal durch das der Naturgemäßheit er- setzt, die Vollendung über den Zustand gestellt. Die Kanoni- sierung, die Goethe fortschreitend in deutschen Landen erfährt, beruht zum großen Teil auf eben dem Umstände: von allen großen Männern, die wir haben, ist er am meisten Normalmensch gewesen, schließt er am wenigsten Existenzen aus. Wird der Konfuzianismus einmal zu uns gelangen? Unmöglich ist es nicht. Er ist die Weltanschauung der Norm und tief und wesentlich verstanden, dem Geiste und nicht dem Buchstaben nach aufgefaßt, zweifelsohne die beste Weltanschauung für alle Massen. Über eines darf man sich aber keinen Illusionen hin- geben: die Weltanschauung der Norm zieht nicht hinan, be- günstigt keinen hohen Idealismus, steigert nicht. Alles, was den höchsten Stolz des Westens ausmacht, verdankt er dem, daß er Unmögliches begehrt hat; der Konfuzianer will immer nur das Mögliche. Hier muß man sich eben für eine von zwei Alternativen entscheiden: entweder man will den Übermenschen — dann nimmt man keine Rücksicht auf die Masse ; so war es bis vor kurzem im Okzident; alle äußersten Ideale, die christlichen inbe- griffen, waren auf eine auserwäblte Minderheit zugeschnitten. Oder man will die Masse, wie sie ist, der Vollendung zuführen — dann sieht man von den höheren Typen ab. Es ist kaum zu be- zweifeln, daß unsere demokratische Welt früh oder spät die letztere Alternative, deren Ideal der vollendete Normalmensch ist, ergreifen wird, falls sie sich überhaupt ein Vorbild konstruiert. Und das wird sie tun. Weniger als je ist sich die Menschheit heute dessen bewußt, daß die Ideale gar nicht Vorbilder sein sollen, die jeder Einzelne nachzuahmen hätte, sondern Verkörpe- rungen der Grundtöne des Lebens, auf die hin jeder seine persön- liche Note abstimmen soll; weniger denn je scheint sie heute reif dazu, das Postulat der üniformität zu verleugnen und sich jenem höchsten Zustande zu nähern, wo jeder Ton nur als er selbst erklingen will, im harmonischen Verhältnis zu den Grund- tönen, die ihrerseits mächtig und rein ertönten; ferner denn je ist das moderne Leben dem Ideal einer Symphonie .... — Immerhin wäre es selbst dann, wenn das Ideal der Norm zum 4 1 2 Nachteile des Ideals der Norm ; Goethe und Dr. Johnson. # absoluten proklamiert würde, ein Fehler, den Konfuzianismus, so wie er ist, nach Europa einzuführen: um in Konfuzius die Norm idealisiert zu sehen, muß man Chinese sein. Nur Individuen von geringer Individualisiertheit können so viele Bestimmungen als allgemeingültig anerkennen, nur Geister von geringem Schwung der Phantasie durch ein so nüchternes Vorbild begeistert werden, nur Wesen von großer Ausdrucks- aber geringer Begriffsanlage an einem so dürftigen System Befriedigung finden. So seltsam dies lauten mag: je mehr Menschen, abstrakt verstanden, ein Ideal der Vollendung zuzuführen geschickt ist, desto weniger allgemein- vorbildlich erscheint der jeweilige konkrete Ausdruck. Christus und Buddha verkörpern wahre Menschheitsideale, so wenig ihnen die allermeisten unmittelbar nacheifern dürfen; Konfuzius kann nur Chinesen ein Vorbild sein; unsere Begeisterung weckt er nicht. Das spricht nicht gegen ihn, sondern beweist nur einmal mehr die Ausschließlichkeit alles Konkreten. Engländer verstehen unseren Goethe-Kultus schwer; es befremdet sie, daß ein ausgesprochener Pedant, ein umständlicher, schwerfälliger Kleinstädter einem Volk das menschlich Höchste bedeuten kann; und wirklich war Goethe unter anderem auch das, was jene an ihm auszusetzen finden. Aber in eben dem Sinn erscheint uns ungeheuerlich, daß England seinen Abgott an — Dr. Johnson fand; einem originellen, dick- köpfigen Durchschnittsbriten, der mehr Vorurteile hatte, als irgend- ein Angelsachse nach ihm, dem Begründer jenes Voreingenommen- heitskultus, der seither wie nichts anderes zur Charakteristik des englischen Mittelstandes gehört, dem roi des culstres, wie Sainte- Beuve ihn treffend benannte, dem Manne, der wohl von allen, deren Erinnerung die Menschheit aufbewahrt, mit der größten, tiefsten Überzeugung am meisten Gemeinplätze ausgesprochen hat. — Das ist das Schicksal jedes konkretisierten Ideals der Norm. Die letzten Tage, die ich für Peking übrig habe, verbringe ich auf Ausflügen in die Umgebung. Wie großzügig ist diese Natur! wie mächtig erweitert sie das Selbstbewußt- sein ! Die rhythmische Einförmigkeit der Landschaft gibt ihr den Anschein unbegrenzter Ausdehnung, die klare, trockene Luft macht alle Entfernung illusorisch; mir ist, als reichte mein Blick bis an die Grenzen der Welt. Wäre ich zu Peking als Erbe des Drachen- Chinesisches Kaisertum. 4 1 3 throns geboren — mir erschiene es wohl selbstverständlich, daß ich der Gebieter des Erdballs bin; zumal es der Beweise nicht be- dürfte. Aus der Geschichte des Altertums erhellt, daß das bloße Dasein des Kaisers genügt, um die Welt in Ordnung zu erhalten. Von der Wiege auf würde mir Schun als Vorbild vor Augen ge- halten werden. Dieser heilige Mann hat nur dagesessen, sein Ant- litz gen Süden gewandt ; und es herrschte vollkommene Harmonie. Die Jahreszeiten hielten ihre Fristen ein, alle Söhne dienten ihren Vätern, alle Gatten liebten einander, alle Beamten waren redlich und treu. Mir würde immer wieder versichert: wenn ich nur meine Person zur Vollendung brächte, dann würde der Kosmos sich von selber richten. Und wenn ich mir klar machte, was das sagen will, welch' ungeheure Bedeutung mir innewohnt, und dann hinausblickte in die weite Natur ringsum, dann dächte ich frei- lich: ich bin groß! Allein ich dächte es ohne Hybris, in aller Bescheidenheit; ich dächte es vielleicht in aller Demut. Ich hätte das gleiche Gefühl, das den Bergbesteiger überkommt, wenn er endlich vom Gipfel seiner Sehnsucht um sich blickt: des Großseins, ja, aber in- mitten eines so ungeheuer viel Größeren, daß er tatsächlich viel- mehr im Bewußtsein seines Kleinseins schwelgt. Ich, der Kaiser, bin ja nur ein Rad im unendlichen Weltmechanismus; das Größte, das Schwungrad vielleicht, aber doch nur ein Glied im Betriebe. Und in Demut gedächte ich daraufhin der Unbeschränktheit meiner Gewalt. Weswegen heißt man mich unbeschränkt, wo ich doch für die ganze Schöpfung verantworte, wo eine geringfügige Nach- lässigkeit meinerseits unsägliches Unheil zur Folge hätte? Man heißt mich unbeschränkt, weil Keiner über mir steht. Irgend- wo muß die letzte Instanz doch erreicht sein. Alle moralische Wirksamkeit fußt auf Autorität, wo diese nicht unbedingt ist, dort fehlt sie ganz. Die Barbaren, die Christen, so vernehme ich, schieben jene unbedingte Autorität auf einen Gott ab, den niemand jemals gesehen hat. Das muß die Erfindung eines schlauen, aber ungerechten Kaisers gewesen sein, der es sich leicht machen wollte ; oder bei dem der moralische Sinn nicht genügend ausge- bildet war. Ich würde mich schämen, die äußerste Verantwortung nicht zu tragen. — Ich fahre hinaus aus der Psyche des Himmelssohns und hinein in einen der Vielen, die als Neugierige, vom Fernen Westen 414 Chinesische und amerikanische Autokratie. daherkommend, die Kaiserstadt des Fernen Ostens heimsuchen. Welch' überraschende Entdeckung! Von einem ganz Großen bin ich in einen ganz Kleinen hineingewandert, und finde, daß dessen Selbsteinschätzung tausendmal größer ist. Er erkennt nichts über sich an; er hält sich für den höchstdenkbaren Menschen, den berufenen Weltbeherrscher. Überdies aber für unverantwortlich; er steht außerhalb des Naturzusammenhangs. — Welcher Autokrat ist der ehrwürdigere, der Kaiser, der bewußt die Verantwortung für den Weltprozeß trägt, oder der freie Amerikaner, der sich deß rühmt, die Welt zerschmeißen zu können? HANKOW. Auf dem Wege von Peking hierher ward der Zug unver- sehens von Soldaten angehalten. Es war eine selbständige Division, die sich weder zur Republik noch zum Mand- schuhause bekannte, die sich offenbar langweilte und die wenigen Abwechslungsmöglichkeiten, welche sich darboten, gierig ergriff. Erst sah es nicht unbedenklich aus, wie wenig die Zugführer selbst Bedenken zeigten: die Soldaten stürmten mit gefälltem Bajonett in die Waggons hinein, und machten Miene das Gepäck zu per- quisitionnieren. Allein sie taten nichts; mitten im Sturm schienen sie auf irgendetwas zu warten; und wie dann die „Friedens- stifter" kamen und mit sanfter Miene in sie hineinzureden be- gannen, da schienen sie zu haben, was sie wollten. Es dauerte Stunden, bis die Verhandlungen abgeschlossen waren; doch dann ließ man uns ungeschädigt ziehen. Welch' seltsame Soldateska! Während meines Aufenthaltes in Kanton tobte dort der Kampf zwischen Regierungstruppen und Piraten ; aber gelegentlich wurde Pause gemacht, und dann ver- kehrten die Feinde so friedlich miteinander, als ob sie gar nicht im Streite lägen. In Hankow wird erzählt, daß die Fuß- ball spielenden Residenten letzthin durch die Kugehl, die vom nahen Schlachtfelde herüberschwirrten, belästigt wurden; sie schickten dem ihnen am nächsten postierten General eine Bot- Chinesische Verachtung des Kriegshandwerks. 4 1 5 schaft zu mit der Bitte, ob er das Schießen nicht lassen könne, bis daß sie ihren Match beendet hätten ; und wirklich soll dieser ihrem Wunsche Folge geleistet haben. — Die Chinesen scheinen •Krieger zu sein, wie man Schuster oder Strumpfwarenhändler ist, d. h. ohne irgendwelche Idealität mit dem Waffenhandwerk zu verknüpfen; und während sie es ausüben, scheinen sie mit dem Herzen kaum dabei. Was Wunder in einem Reich, dessen Volk seit Menschengedenken den Frieden \ tout prix als höch- stes Ideal bekennt? In der chinesischen Literatur stellt sich der Feldherr selten als Held, desto häufiger als Raufbold und Bramarbas dar, und gewöhnlich als roher Patron schlechthin. Nie ist es in China als Schmach empfunden worden, wenn ein Feldzug verloren ward ; immer wurde den Waffen des Geistes über der Faust der Vorrang zuerkannt. Eine hübsche Legende berichtet, wie Gesandte eines Barbarenkönigs einst zum Kaiser kamen um ihm mit Krieg und Eroberung zu drohen. Dieser wußte anfangs nicht recht, was er erwidern sollte, denn von dem Unwert seines Heers war er überzeugt und über das fremde nicht genügend unterrichtet. Da fiel ihm der Dichter ein, der gerade an seinem Hofe weilte: der verstünde gewiß eine solche Antwort aufzusetzen, daß die Gesandten erschreckt von dannen ziehen würden. Der Dichter war, wie gewöhnlich, des Weines voll; nur mit Mühe gelang es zuletzt der Kaiserin, unter Mithilfe ihrer allerschönsten Frauen, ihn aus dem Rausche aufzurütteln. Doch wie er dann endlich begriff, um was es sich handelte, da erfand er aus dem Stegreif solch' feine Rede, zugleich vom Geist so überlegener Kraft beseelt, daß die Gesandten wahrhaftig entsetzt von dannen zogen und ihrem Herren berichteten: solcher Macht sei sein Heer nicht gewachsen. — Mehrfach hatte ich im Gespräche mit Man- darinen bemerkt, daß sie physischen Mut nicht bewunderten, sondern verachteten. Zwar gaben sie zu, daß er zeitweilig von Nutzen sei, und daß man Leute unterhalten müsse, die ihn besitzen; nur seien dies keine höheren Menschen; Freude am Streit beweise Vulgarität. Der Soldat galt ihnen als tief unter dem Gelehrten stehend, mehr dem Bulldoggen als dem Menschen vergleichbar. Sicher gravitieren auch wir einem Zustand entgegen, woselbst die Tugenden des Kriegers an Bedeutung verlieren werden, indem die Gebrechen dieses Typus größer erscheinen werden, als seine Vorzüge; und in vielen Hinsichten ist er erstrebenswert. Aber 4 1 6 Der Traum vom ewigen Frieden ; Vorzüge des Duells. wir werden seine Vorteile teuer bezahlen: philiströs, opferunfreudig werden, an Adel der Gesinnung verlieren. Leider bedeutet, so wie die Dinge einmal liegen, das Ideal des ewigen Friedens ein absolutes nur für das Himmelreich. Wir Erdbewohner bedürfen des Ansporns materieller Gefahr, wenn wir des Idealismus fähig bleiben sollen. Wie wenig rund ist, trotz Galilei, die Welt! Das Duell ist eine arg barbarische Einrichtung, welche verschwinden muß; schon heute widerspricht sie unserer ganzen sonstigen Lebens- anschauung. Dennoch stehen die Menschentypen, die sich schlagen, in vielen Hinsichten über denen, die darüber hinaus sind. Ihr Vorurteil verbietet ihnen auf alle Fälle, natürlicher Furchtsamkeit nachzugeben, lehrt sie handeln der Erkenntnis gemäß, daß es höhere Werte als das Leben gibt und erzieht sie vor allem, indem es sie zwingt, dem Gegner gleiche Siegeschancen zu gewähren, zur Achtung fremder Persönlichkeit im höchsten Sinn. Vor mir wälzt der Yangtse seine schmutzigen Fluten. Tau- sende von schwitzenden Kulis rackern sich ab auf den Dampfern und Dschunken, verladend, schleppend, tragend, schiebend, stoßend, ziehend, zerrend. Solches Leben frommt dem Chinesen besser als der Kampf für das Vaterland. Sein Idealismus tritt zutage in der Art, wie er die Mühe des Alltags trägt. AUF DEM YANG TSE. Nun schwimme ich auf dem gütigen Strom, ohne den die unermeßlichen Landstrecken, die er durchfließt, ebensoviele Wüsteneien wären. Sein Gefälle ist bedeutend ; allein es ist, als bewegten sich die Wasser kaum, so groß und schwer ist ihre Masse, gleichwie der Flug der Wildgans neben dem des Zaunkönigs langsam wirkt. Auf den Ufern des Yang Tse grünt es, wächst es, gedeiht es überall. Wohin ich blicke, ist das ver- ständige Schaffen des Bauern zu spüren ; wohin ich mich wende, erscheint er als die Hand der Natur. Das ist das eigentliche China, das unsterbliche. Seit ich seine Blüte kennen gelernt, erkenne ichs mit doppelter Deutlichkeit: die Wurzel der gesamten chinesischen Kultur ist ihr Bauerntum. Der Konfuzianismus als sublimierte Bauernweisheit. 4 1 7 Stellte das konfuzianische System nicht deji vergeistigten Ausdruck eines wurzelechten Naturzustandes dar, nie hätte es zum Skelett ganz Chinas werden können. Die Geschlechter, die zu den Zeiten Shuns und Yaus den Acker bestellten, sitzen heute noch auf der ererbten Scholle, ihres Stammbaums tief bewußt. Nur selten wandert einer aus. Wo der Bauer sich zeitlebens abgemüht, dort wird er auch der Erde zurück- gegeben. Der Acker ist die Wiege ganz Chinas. Einen erblichen Adel gibt es nicht. Dann oder wann glückt es diesem oder jenem, die großen Prüfungen zu bestehen, und der rückt dann zu höheren Stellungen auf. Die Masse bleibt ewig wie sie war. Ich kenne keinen, der länger unter chinesischen Bauern ge- weilt und sie nicht von Herzen zu lieben, ja zu verehren gelernt hätte. In ihnen sind die Tugenden der Patriarchenzeiten wirklich lebendig. Was Konfuzius und Menzius gelehrt, stellt ihr Leben wie selbstverständlich dar. Hier ist alle äußere Ordnung wirklich ganz aus der Gesinnung heraus geboren, ja hier erscheint kein System auch nur denkbar, daß nicht in natürlichen Trieben be- gründet wäre. Wann wären unter urwüchsigen Verhältnissen staat- liche Gesetze notwendig gewesen, um die Beziehungen zwischen Familiengliedern zu regeln? Es ist den Eltern natürlich, ihre Kinder zu lieben und umgekehrt; es ist einer Sippe natürlich, zu- sammenzuhalten. Je dichter nun eine Bevölkerung ist und je fried- licher und vernünftiger veranlagt, desto mehr wird das Natürliche zum Sittengebot. Es liegt dermaßen auf der Hand, daß ein Dasein wie das ihre nur bei harmonischem Zusammenarbeiten gedeihen kann, daß es als frevlerisch, weil naturwidrig wirkt, die Harmonie zu stören; es liegt ferner dermaßen auf der Hand, daß die unvermeidliche Ordnung niemanden bedrückt, der sie als Verwirk- lichung seiner Wünsche bewillkommnet, daß es unumgänglich er- scheint, die natürlichen sozialen Impulse nach Möglichkeit aus- zubilden. So ist denn die Liebe zwischen Familiengliedern, die Ehrfurcht vor Alter und Autorität, von den chinesischen Bauern so intensiv gepflegt worden, daß sie längst zu den formgebenden Momenten ihrer Seelen geworden sind. Nun liegt dem naiven Menschen nichts näher, als ins Unbegrenzte hinaus zu verall- gemeinern ; so ist das ganze große Reich nicht allein, nein das Weltall als ein Zusammenhang begriffen worden, der auf den natürlichen Beziehungen zwischen Familiengliedern beruht. Wenn Keyserling, Reisetagebuch. 27 418 Der Konfazianismus als Bewußtseinsform Chinas. die Söhne den Vätern die schuldige Ehrfurcht erweisen, dann wird es auch rechtzeitig regnen. Diese uraltchinesische Bauernweisheit, deren sich das einfache Volk wohl kaum bewußt war, so sehr es sie lebte und handelte, ist dann in den Meistern des Altertums explizit geworden. Und da diese eben das lehrten, was dem Handeln der Menschen ohnehin zugrunde lag, so geschah zweierlei: ihre Satzungen wurden ohne weiteres als richtig anerkannt, und sie wurden, nun sie auch dem Bewußtsein gegenwärtig waren, mit doppelter Aufmerksamkeit befolgt. Auf diese Weise geschah es, daß der Konfuzianismus mehr und mehr zur Bewußtseinsform Chinas heranwuchs, nachdem er längst schon seine Daseinsform dargestellt hatte, und mit dem Fortschritt der Nation sich wohl differenzierte, klärte, verkünstelte, aber nie seinen ursprünglichen Sinn verlor. Das war möglich nur dank dem besonderen historischen Um- stände, daß die Chinesen von Alters her bis heute eine Bauern- nation geblieben sind, daß sich dort keine mächtigen Kasten ge- bildet haben, deren Lebensnormen den bäuerlichen entgegen- standen ; daß die noch so komplizierte Verfassung der späteren Zeiten dem Sinne nach bis heute patriarchalisch geblieben ist. So gerieten die Satzungen Kung Fu-Tse's und Mong Tse's nie in Widerspruch mit der praktischen Nützlichkeit; so blieben sie „zeitgemäß". Je tiefer einer zu denken fähig war, desto mehr mußte er über ihre Weisheit staunen; so hat sich ihr Prestige im Lauf der Jahrhunderte ständig vermehrt. Und das war not- wendig, wenn sie die alte Wirkungskraft behalten sollten. Die Ideen der alten Meister waren, so tief sie im Menschlichen wurzelten, doch allzu einfach ; nur unkomplizierte, ursprüngliche Seelen gehen in der Naturordnung restlos auf. Aber freilich bleibt sie das Fundament auch der entwickeltesten. Dank nun dem Prestige, das die konfuzianischen Sätze genossen, sahen sich die subtilsten Geister veranlaßt, sich tief in ihren Sinn hineinzuversenken, wodurch das in ihnen lebendig blieb oder aufs Neue lebendig wurde, was dem Bewußtsein nichtchinesischer Kulturmenschen nur. ganz ausnahmsweise gegenwärtig ist; daher die naturhafte Tiefe, welche noch so verfeinerte Chinesen meistens auszeichnet. Bei ihnen ist der Sinn für das Ursprüngliche stets lebendig, das Verhältnis der Kinder zu den Eltern und umgekehrt wird so tief erfaßt, wie in Europa nirgends mehr; die Naturtriebe Moralität als gebildete Natur ; die soziale Frage. 419 werden entsprechend kultiviert. Daher bei den Verfeinertesten immer noch ein lebendiger Sinn für das Einfache und Ursprüng- liche, bei Dekadenten noch ein lebendiger Begriff für den Sinn der Moralität. Ich habe nie einen Chinesen gesehen, dem Moralität etwas anderes bedeutet hätte als gebildete Natur. Trotzdem ist freilich kein Mandarin ein so guter Konfuzianer wie jeder Bauer des Yang Tse-Tals, eben weil der Konfuzianismus ursprünglich nur dem Bauernhorizonte gemäß ist. Aber solange es keine Kasten in China gibt, solange der Bauer der Chinese bleibt und als solcher seinen Charakter nicht ändert, werden die Eigentümlichkeiten nicht aussterben, dank welchen der Chinese noch heute als der moralisch gebildetste Mensch erscheint. Solange .... Wird der Bauer auch nach der neuesten Um- wälzung der Alte bleiben? Und wenn nicht, was dann? Mit tiefer Wehmut blicke ich auf die Felder und Dörfer ringsum, auf die un- ermüdlichen Landleute, die längs dem Yang-Tse-Gestade ihren altgewohnten Beschäftigungen nachgehen. Eine Armut, wie sie für den Chinesenbauern typisch erscheint, ist freilich ein absolutes Übel — aber wie soll sie überwunden werden ohne Anspornung des individuellen Egoismus, wodurch die moralische Grundlage der wunderbaren chinesischen Zivilisation, der allmächtige Familien- sinn, zerstört würde? Für den Schmutz ist wenig anzuführen: aber wie soll Reinlichkeit einziehen, bevor der Wohlstand ge- wachsen ist? Entsetzlich ist es fürwahr, daß soviele Menschen Jahr für Jahr an Hunger und Seuchen zugrunde gehen; aber wo soll der Bevölkerungsüberschuß hin, wenn die Selbstregulierung der Natur zerbrochen wird? Allerdings ist ein höherer Gleichgewichts- zustand denkbar, als der bisherige ihn darstellt, aber es wird Jahrhunderte währen, bis daß er herbeigeführt ist, und bis dahin wird das Elend größer werden, als es früher war. Was ist der Kern des sozialen Elends bei uns? Daß die Menschen zu viel wissen, um innerhalb der engen Verhältnisse, in denen sie leben, glücklich zu sein, und nicht genug wiederum, um einzusehen, daß der Zu- stand nur im Laufe langer Zeiträume verändert werden kann, wes- halb es keinen Sinn für sie hat, gewaltsam aus ihm hinauszu- streben. In Amerika ist es sicherlich angezeigt, jeden einzelnen lernen zu lassen, so viel er nur will, denn dort sind die Verhält- nisse noch so weit, daß jedes Talent sich durchzukämpfen Aus- sicht hat; im engeren Europa sind sie's nur ausnahmsweise, wes- 27* 420 Die Tragödie des Fortschritts. wegen es besser wäre, wenn die Versuchung nicht über die Maßen gesteigert würde. Im übervölkerten und entsprechend armen China nun, mit seiner starren Gesellschaftsordnung, wird das, was für Europa ein Verhängnis ist, ganz sicher den Charakter einer Kalamität annehmen. Also wird es mit dem traditionellen Glück der Chinesen unter allen, auch den günstigsten Umständen, zu Ende sein. Der Weg des Fortschritts stellt sich als eine endlose Serie intimer Tragödien dar. Das Glück hängt ausschließlich von inneren Umständen ab, ist von außen nicht herbeizuführen: insofern er- scheint Fortschreiten als zwecklos, ja schädlich. Ein gegebener unabänderlicher Zustand löst auf die Dauer von selbst die innere Einstellung aus, dank welcher er erträglich wird; unter wechselnden Verhältnissen ist der innere Mensch außer Gleichgewicht. Nun besteht die Aufgabe darin, einen inneren Zustand zu erringen, der allen äußeren gerecht würde, d. h. praktisch von ihnen unabhängig wäre, und das heißt: einen Zustand höchster Kultur. Während also unter stationären Verhältnissen jeder Einzelne potenziell des Glückes teilhaftig war, ist es unter wechselnden nur der höhere Mensch. Hier befindet sich die Masse zu dauerndem Unglücklich- sein verdammt. Vielleicht ist das die Absicht der Vorsehung, sofern es eine gibt, denn sicher entwickelt sich der Mensch im Unglück schneller als im Glück; vielleicht ist es gut, daß nunmehr eine Periode wachsenmüssenden Elends über die Menschheit herein- gebrochen ist. Aber tragisch ist es, daß sie diese Periode als eine solche größeren Glückes willkommen heißt, denn die unver- meidliche Enttäuschung wird die Unbefriedigtheit ins Ungeheure steigern. Die reflektorische Stellung des wohlwollenden Kulturmenschen diesem Schicksal gegenüber ist die eines Aufhaltenwollens. Des- halb sind alle wirklich gebildeten Chinesen reaktionär. Aber sie wären weiser, wenn sie ihr Mitleid niederkämpften. Sie sollten nach Möglichkeit den künftigen Gleichgewichtszustand antizipieren und der Masse als Beispiel vorhalten, denn nur so werden sie ihr wirklich helfen. Die Ideale von einst haben abgedankt; die vergangenen Typen der Vollendung können nicht mehr als vor- bildlich gelten. Den Gebildeten, den Aristokraten liegt es in China wie überall ob, nicht eine vergangene Vollkommenheit zu perpe- tuieren, sondern aus ihrer besseren Einsicht heraus sobald als Moralität und Zweckmäßigkeit. 42 1 möglich den Typus herauszugestalten, welcher der Menschheit von morgen die Wege weisen kann. Der Kapitän erzählt mir von der Zeit, wo er als junger Offizier den Yang-Tse auf- und abfuhr: damals sei alles anders gewesen. Wie anders war es dazumal, mit den chinesischen Kaufherrn zu verhandeln! Unverbrüchlich hielten sie ihre Kontrakte ein, ja meist genügte eine mündliche Ab- machung; und ehrlich und zuverlässig waren sie, wie nur irgend- eine englische Firma. Heute müsse man ihnen genau auf die Finger passen ; sie betrögen, wo immer sie könnten. Das sei der Erfolg des Kontakts mit dem amerikanischen Geschäftsbetrieb. — Nun, die Amerikaner sind es nicht allein, die schlechte Sitten nach dem Osten verpflanzt haben; die allermeisten Europäer benehmen sich dort auf eine Art, die sie zu Hause unmöglich machen würde. Je mehr ich sehe und erfahre, desto gewisser wird mir: wo die innere Bildung keine außerordentliche ist, erhält sich das Gute genau nur insoweit, als es nachweislich zweckmäßig ist. In allen geschlossenen Gemeinschaften ist es das Zweckmäßigste, wes- wegen Völker sowohl als Standesgenossen, Zünfte sowohl als Verbrecher, wo immer sie weitblickend genug sind, ein gewisses Minimum an moralischen Grundsätzen untereinander einhalten. Und das Gute erweist sich als desto zweckmäßiger, je reger der Verkehr und je größer der Umsatz wird, so daß innerhalb ganz großer Geschäftsbetriebe die Solidität nicht selten absolut ist. So sind wir modernen Europäer, so lange wir untereinander verhandeln, vermutlich die ehrlichsten Makler, die es je gab. Aber daß unsere Moralität nichts Primäres, sondern lediglich das Produkt der Verhältnisse ist, erweist sich mit abschreckender Deutlichkeit, sobald wir uns außerhalb unseres eigenen Kreises betätigen: dort gebärden wir uns als richtige Raubtiere. „Piraten" heißen uns die gebildeten Chinesen unter sich, und die Bezeichnung ist sicher nicht zu scharf. Seit ich im Osten geweilt habe, kann ich leider nicht mehr daran zweifeln, daß unsere moralische Bildung schlechterdings äußerlich ist. Glücklicherweise erweist sich das Gute auf die Dauer überall als das Zweckmäßigste, so daß der Weiße auch im Orient irgend- einmal nicht umhin können wird, sich anständig und ehrenhaft zu 422 Moralische Bildung der Chinesen. benehmen. Aber es ist doch beschämend zu denken, daß die Mehr- zahl unter uns moralisch ganz roh geblieben ist trotz Christentum, Humanitätsideal und noch so zweckmäßigen Systemen. Zerschlüge ein Gott auf einmal unseren äußerlichen Apparat, wir stünden als reine Barbaren da. Den Chinesen brauchte solch' drohender Gott keinen Schrecken einzuflößen : was ihnen an Moralität inne- wohnt (und das ist mehr, als die meisten von uns besitzen), ist innerlich, nicht äußerlich bedingt. Gewiß ist es vom Äußer- lichen nicht unabhängig — wäre es das, die Chinesen müßten Halbgötter sein; ohne den Zwang eines engsten Zusammenlebens unter schwierigen Verhältnissen wäre die Bildung des Individuums nie so weit gediehen; sind die Kaufleute heute weniger ehr- lich als ehedem, so tragen sie damit gleichfalls den äußeren Umständen Rechnung. Aber der Sinn für das Moralische stellt einen primären Faktor ihrer Seele dar, nicht einen sekundären, wie bei uns. So erscheinen sie, vom Standpunkte Gottes aus betrachtet, uns moralisch überlegen auch dort, wo sie unmoralischer handeln. Während meines Aufenthaltes in China kam mir wieder- um öfters die These Paul Dubois' in den Sinn, daß ein un- sicheres Gefühl für den Unterschied zwischen Gut und Böse ein Zeichen von Dummheit sei; es handele sich um ganz objektive Verhältnisse, die man entweder erkenne oder nicht, über die es jedoch ebensowenig zwei gleichwertige Ansichten geben könne, wie darüber, ob 2x2 4 oder 5 ausmachen. So „dumm" (oder richtiger „ungebildet") in dieser Hinsicht, wie die allermeisten europäischen Männer (die Frauen sind viel gebildeter), scheint kein Chinese; mag er noch so bedenkenerregend handeln — das Handeln hängt vom Charakter ab — er weiß wohl immer, was recht wäre. Er weiß es aber, weil diese Seite seiner Seele dank dem Konfuzianismus auf hoher Bildungsstufe steht. Wäre es nicht an der Zeit, daß auch wir unsere Kinder konfuzianisch erzögen? Früh oder spät kommt es sicher dahin; hoffentlich geschieht es nicht zu spät. Unsere hochfahrenden Ethiker und Moralisten sollten alle ein Jahr lang gezwungen werden, mit gebildeten Chinesen umzugehen (gleichwie ich allen religiös Interessierten nahegelegt habe, ein Jahr in Benares zuzubringen): die, deren Seelen nicht völlig blind sind, werden mit Erstaunen gewahren, daß diese Herren, so „unmoralisch" sie nach europäischen Begriffen sind, so viel sie schauspielern, verheimlichen, lügen, so ungeniert sie in Züchtung auf Charakter schafft nur Rohmaterial. 423 Bordellen verkehren, ja so wenig imponierend in der Regel ihr Charakter ist, an moralischer Bildung doch unvergleichlich viel höher stehen, als die meisten unserer Landsleute. Der bloße Begriff einer moralischen Bildung ist dem Durchschnittseuropäer fremd. Er wähnt, mit dem „Charakter" sei alles gesagt und getan. Was bedeutet aber Charakter? Die Festigkeit eines gegebenen psychischen Gefüges. Nun ist diese Festigkeit eine reine Frage der Physiologie und hat mit Moralität nichts zu schaffen. So schön es ist, wenn ein moralisch Gebildeter Festigkeit beweist, so entsetzlich ist es, wenn ein Roher gleiches tut. Wir haben durch Züchtung auf Charakter ein besseres Seelen-Rohmaterial in die Welt gesetzt, als der ganze Osten es aufweisen kann. Aber mehr ist bis heute nicht geschehen. Es wäre Zeit, mit der Ausbildung anzuheben. Ich wünschte, den Missionen würde seitens der Regierungen ein Riegel vorgeschoben. Ihre einzelnen Glieder sind oft ganz ehrenwert, allein sie stehen an moralischer Bildung fast ausnahms- los zu tief unter denen, die sie „bekehren" kommen, um nicht viel mehr zu schaden, als zu nützen. Zu gebildeten Leuten soll man keine Rüpel als Lehrer aussenden; selbst wenn diese die besseren Menschen sind. Auf dem Yang-Tse wütet der Sturm. Wenn ich mit ge- schlossenen Augen daliege und den Stimmen der Luft und des Wassers lausche, überkommt mich die Einbildung, daß ich auf dem Ozean sei. Und wenn ich dann aufblicke, so enttäuscht mich das Schauspiel eines zerschrammten, kaum zersplitterten schmutzigen Wasserspiegels. Es ist besser, die Augen geschlosen zu behalten. — Wie ich sie nun nach einer Weile wieder auftue, das Bewußtsein ganz von den Tönen eingenommen, da ist mir, als hätte alles sich verwandelt: ich sehe gewaltige Wogen unter mir, ein tobendes Meer; nur schwebe ich so hoch über ihm, daß jene ganz klein erscheinen. Es ist ein altbeliebtes Spiel von mir, Kleines groß und Großes klein vorzustellen ; ein Spiel, das viel Kurzweil bereitet. In Sand- gerinseln Canons, in Lachen Meere zu sehen — dazu bedarf es keiner Anspannung der Einbildungskraft und die innere Berei- cherung, die man dabei erfährt, ist groß. So kann man gewaltigen Naturereignissen beiwohnen, ohne je seine Scholle verlassen zu 424 Pfütze und Ozean; Shen Chi-P'ei. haben Und doch hilft alle Phantasie über unsere wesentliche Begrenztheit nicht hinaus. Welcher Unterschied besteht denn „an sich" zwischen einer Pfütze und dem Ozean? Nur einer der abso- luten Größe. Tatsachen sind beide im gleichen Sinn, an Pro- blemen ist der Ozean nicht reicher; jedes Atom ist ein Sonnen- system, kann ohne weiteres so vorgestellt werden. Gleichwohl ruft nur das, was groß ist in bezug auf uns, von selbst große Ge- fühle wach. Das zeigt, wie kläglich abhängig wir von äußerer Anregung sind. Eine gewaltige Erschütterung hebt leicht den Phi- lister hoch über ihn selbst hinaus; andrerseits kann das Genie nur inmitten einer günstigen Umwelt seine Bestimmung voll- kommen erfüllen. — Man sollte so weit gelangen, daß man von den Zufälligkeiten des äußeren Milieus ganz unabhängig ist; das heißt, man sollte sein inneres Milieu — seinen gegebenen psycho- physischen Organismus — so vollkommen beherrschen, daß man durch willkürliche Umstimmung desselben, wie der Achtfuß seine Hautfärbung bestimmt, eben das mit Sicherheit erreichte, was sonst nur durch kluge Abwägung äußerer Einflüsse einigermaßen zu bewerkstelligen ist. SHANGHAI. Ich habe also Shen Chi-P'ei gesehen, den Literaten, von dem ich so viel gehört hatte. Die Erwartungen, die ich an seine Be- kanntschaft knüpfte, waren groß. Fast jedesmal, wo das Ge- spräch zu Peking auf europäische Verhältnisse kam, und ich die Ansichten chinesischer Freunde zu berichtigen Veranlassung fand, sahen diese sich bedeutungsvoll (an und riefen aus: das hat uns Shen Chi-P'ei auch gesagt; nur wollten wir ihm nicht glauben, da er, so gelehrt er immer sei, sich mit der westlichen Kultur nur oberflächlich befaßt hat. — Was mußte das doch für ein Mann sein, der ohne zu wissen das Meiste verstand! — Der Augenschein, die persönliche Fühlung hat mir keine Enttäuschung gebracht. Shen Chi-P'ei ist die größte Erfüllung chinesischer Möglichkeit, die ich gesehen; er ist tatsächlich ein „Edler", wie Kong Fu-Tse ihn gezeichnet hat. Ein Greis mit dem Feuer Allgemeine Bestimmung des Chinesentums. 425 eines Jünglings ; ehrwürdig und ernst, wie es dem Weisen ziemt, und dabei anmutig in seinem Gebaren, wie ein Mädchen; voll- endet in der Form und zugleich ganz Tiefe und Sinn. In einem wunderbar hohen Grad bringt Shen jenes Ideal der ' Kon- kretisierung zur Darstellung, das für die chinesische Kultur vor allem charakteristisch ist. In ihm ist alle persönliche Tiefe zur typischen Form und Oberfläche geworden; keine Gebärde, die dem Buch der Riten nicht gemäß wäre, und doch auch keine, die nicht eben ihn, nur ihn zum entsprechenden Ausdruck brächte. Seine Unterhaltung ist wunderbar belehrend. Nie bin ich unter Chi- nesen so tiefem Verständnis des Nicht-Chinesischen begegnet, vom Chinesischen zu schweigen. Und dabei ist Shen einer der extremst- orthodoxen Konfuzianer, die ich gekannt; neuerungsfeindlich, re- aktionär, ein Literat alten Schlages, der das Fremde kaum für kennenswert hält. Er ist eben so tief in sich selbst hineingelangt, daß alles Menschliche sich für ihn von selbst versteht, daß ganz wenige äußere Anhaltspunkte ihm genügen, um jeden menschlichen Sinn a priori vorwegzunehmen. Wieder einmal sehe ich's: jede Gestalt, auch die begrenzteste, ist eine mögliche Fassung des Un- begrenzten. Ich bin glücklich, dieses Bild menschlicher Vollendung mit meinen leiblichen Augen gesehen zu haben. Schon lange trug ich mich damit, eine allgemeine Bestimmung des Chinesentums zu geben, aber ich wartete immer noch ab, ob mir nicht eine Tat- sache begegnete, die eine Erweiterung des Kreises erforderte. Einer reicheren Natur und einer vollendeteren Kultur, als Shen sie verkörpert, werde ich in China nicht mehr treffen. So darf ich heute, die konkrete Anschauung vor Augen, mit gutem Gewissen an die Ausführung meines Vorhabens gehen. Es gilt zusammen- zufassen und von einer einzigen Lichtquelle her zu beleuchten, was ich während meines Aufenthaltes in China unzusammenhängend be- merkt und aufgezeichnet habe. Wohlbemerkt: um eine Bestimmung des Chinesentums, nicht des Chinesen ist mir heute zu tun; um das, was sich einerseits in abstracto fassen läßt, andrerseits für die ganze Menschheit sym- bolische Bedeutung hat. Die konkrete chinesische Substanz ist ein Absolutum, das weder abgeleitet, noch als Vorbild vorgezeichnet werden kann ; sie, das Eigentliche, bleibt außerhalb meiner Be- trachtung. Nur soviel darüber, unter dem frischen Eindruck Shen 426 Der Chinese wenig individualisiert, Intellektualist. Chi-P'ei's: die chinesische Substanz ist ein Großes; eine Entelechie, die an Potenz, wenn nicht an Reichtum, kaum übertroffen dasteht. Der Chinese ist ohne Zweifel weniger individualisiert als der Europäer; ein Shen steht einem Kuli viel näher, als bei uns ein Intellektueller einem Landarbeiter; dieses springt um so mehr in die Augen, als die Unterschiede zwischen den Klassen- typen in China ungeheuer viel größer sind als bei uns, was dem vorherbezeichneten Verhältnis entgegenwirkt. Der größte, über- legenste Chinese ist nicht Persönlichkeit im Goetheschen Sinn. Damit sind ihm bestimmte unüberschreitbare Grenzen gesetzt: alles das liegt jenseits seines Vermögens, was differenziertes Ein- zigkeitsbewußtsein voraussetzt: also individuelle Charakteristik, individualisierte Liebe, zumal jene unendliche und doch rein per- sönliche Liebe, welche Christus jeder einzelnen Seele entgegen- bringen soll; seine Carität stellt, wo vorhanden, kein persönliches Verhältnis zum Einzelnen dar, sondern, gleich der stoischen Humanität, ein abstraktes zur Allgemeinheit. Aus eben dem Grunde fehlt ihm das Persönlich-Schöpferische, als welches unbedingt Einzigkeitsbewußtsein voraussetzt; aus eben dem Grunde ist er Intellektualist. Intellektualismus entsteht überall als subjektives Spiegelbild objektiv bestehender Gleichförmigkeit; wo eine un- individualisierte Menschheit (welche, wohlbemerkt, nie die früheste ist! Naturvölker sind viel individualisierter als Chinesen) hohe Verstandesanlagen besitzt, bekennt sie sich ausnahmslos zum Ideal, der Uniformierung, der Systematisierung, zum Postulat un- begrenzter Verallgemeinerungsmöglichkeit, denn nichts liegt dem Intellekt ursprünglich so nah, wie das Generalisieren. Wo nun die Tatsachen dies Verfahren durchaus rechtfertigen — je un- individualisierter ein Volk, desto mehr werden allgemein-abstrakte Bestimmungen dem Einzelnen gerecht — dort verstärkt sich die ursprüngliche Neigung in der Zeit. Damit ist dem möglichen Geistesleben eine weitere Schranke gesetzt: der Chinese als Intellektualist hat kein bewußtes Verhältnis zum Metaphysisch- Wirklichen; er bleibt, sofern er reflektiert, an der Oberfläche der Dinge haften. Sehr bedeutsam ist nun, daß der Chinese uns trotz dieser Schranken in allen wesentlichen geistigen Hinsichten ebenbürtig ist: Wesenserfassung und Wesensausdruck setzen keine Individu- Der Chinese trotz nied. Naturstufe d. Kulturideal a. nächsten gekommen. 427 alisiertheit voraus. Als Mystiker kommt er den größten Europäern und Indern gleich, denn mystische Erkenntnis bedeutet Erfassen des tiefsten Lebensgrunds, welcher überall ein gleicher ist. Zum absolut Guten und Schönen steht der. Chinese in unmittelbarstem Verhältnis, weil die Verwirklichung des absoluten Ideals ausschließ- lich Funktion der Vollendung und unabhängig vom Charakter der Elemente ist. "Überall, wo Wesentliches in Frage kommt, ist von Beschränktheit bei ihm nichts zu spüren. Das Wesen liegt eben tiefer als die Individualität. Diese Wahrheit hat China für immer bewiesen. Insofern er wenig individualisiert ist, kann man wohl sagen, daß der Chinese auf einer niedrigeren Naturstufe steht als wir. So wenig ich dem Evolutionsdogma sonst hold bin: sicher entwickelt sich der Mensch als geistiges Wesen im Sinne fortschreitender Differenziation, und auf diesem Wege sind wir weiter gelangt als der Chinese. Ebenso sicher sind wir weniger weit als er in der Kultur, denn diese hängt ab vom Grade, bis zu welchem ein ge- gebener Naturzustand durchgebildet ward. An Durchgebildetheit ist der Chinese der erste, vorgeschrittenste Mensch; seine sämt- lichen Anlagen sind durchgeistigt, überall erscheint der Ausdruck vollendet. So beweist Chinas Beispiel ein weiteres: daß Kultur in einer anderen Dimension als der Fortschritt liegt. Es beweist noch ein Drittes: daß es letzthin allein auf Durchbildung ankommt, denn auf und trotz seiner niederen Naturstufe ist der Chinese der Verwirklichung des Menschheitsideals näher gekommen, als wir bisher. Demnach bedeutet das Chinesentum einerseits ein Überbleibsel aus vergangenen Entwicklungsstadien, andrerseits eine Vorweg- nahme des Zukunftsideals. Für mich besteht kein Zweifel darüber, daß der Höchstgebildete künftiger Zeiten dem traditionellen Kon- fuzianer näher stehen wird als dem modernen Menschen, daß die soziale Ordnung der Zukunft der chinesischen ähnlicher sehen wird als dem, was unsere Utopisten erhoffen. Wohl wird der Mensch der Zukunft autonom sein; äußere Schranken wird es wenige mehr geben, und die bestehenden werden als pis-aller verurteilt werden, wie dies in China seit Jahrtausenden geschieht. Aber der Mensch wird sich dann selbst, aus eigener höherer Einsicht heraus, be- schränken; er wird überindividuell, nicht individualistisch denken. Dieses Stadium vollendet-überindividuellen Denkens wird aber dem- 428 Chinas Kultur und das Zukunftsideal. jenigen unterindividuellen, auf welchem China steht, verwandter sein als unserem heutigen. Das traditionale Chinesentum verhält sich sonach zum höchst- denkbaren Menschheitszustande nicht viel anders, wie die mythisch gefaßte Weisheit antiker Weisen zur wissenschaftlichen Bestä- tigung ihrer in exakterer Form. Dem Sinne nach über die Rishis hinauszugehen ist schwer möglich; aber die gleichen Erkenntnisse lassen sich besser fassen. So wird auch die chine- sische Kultur dem Sinne nach nie übertroffen werden. Was nun den Ausdruck betrifft, so hängt dessen Unzulängliches in allen prinzipiellen Hinsichten mit ihrem Intellektualismus zusammen. Das Ideal der Konkretisierung, an sich ein absolutes für diese Welt, verwirklicht sich in China nicht in der Vollendung unver- gleichlicher, einzigartiger Seelen, sondern in der vollendet dar- gestellten Norm; dies bedingt, daß das Tiefste im Menschen un- ergriffen bleibt. Das Höchste wäre, das Konkretisierungsideal ver- mittelst des reinen Subjekts zu realisieren. Des Menschen Tiefstes ist reine Subjektivität, unobjektivierbar, unerfaßbar von außen her; in und aus ihr gilt es unmittelbar zu leben. Der Chinese tut es nur mittelbar, durch Selbsthingabe an eine objektivierte Weisheit. Eine solche nun, so tief und umfassend sie sei, wird Besonderem nicht gerecht, sie weiß nur von Typen; sie muß veräußerlichen, da sie nicht von der einzelnen Seele ausgeht, sondern den abstrakten Be- ziehungen, die zwischen vielen bestehen, sie muß nivellieren, da sie nur auf das Allgemeine Rücksicht nimmt; und die Harmonie, die sie schafft, entsteht auf Kosten des Reichtums. Gelingt es uns dereinst, vermittelst freier Initiative vollentwickelter Individuali- täten, die unbefangen ihre persönliche Vollendung arlstreben, eine gleich vollkommene Harmonie zu begründen, wie sie in China besteht, so wird das soziale Ideal verwirklicht sein. Noch ein Wort zur Frage unserer größeren Originalität den Völkern des Ostens gegenüber. Sie bedeutet keinen unbedingten Vorzug, denn sie wird durch ein entsprechend schlechteres Er- innerungsvermögen kompensiert. Ost und West verkörpern zurzeit die entgegengesetzten Pole des lebendigen Geschehens, den der Neuerung und den des Gedächtnisses. Die Stereotypie der Natur ist nichts anderes als Erinnerung, ihr Neuschaffen recht eigentlich Erfinden, und beide zusammen scheinen notwendig zum Fort- bestand der Welt. Aktuell aber schließen sich Neugestalten und Gedächtnis und Erfindungsgabe als Pole des Geschehens. 429 Festhalten fertiger Gestalten aus. Fast jeder schöpferische Geist hat über ein schlechtes Gedächtnis geklagt, den meisten Gedächtnis- kräftigen fällt wenig ein. Das Erinnerungsvermögen der Völker des Ostens ist ungeheuer; fast ließe es sich als Unfähigkeit zu ver- gessen definieren. Gleichermaßen ungeheuer ist dort die Dauer- haftigkeit einmal geprägter Lebensform und deren physische Vitalität. Die Kulturgestaltungen degenerieren im Osten ebenso langsam, wie die der Natur auf der ganzen Welt. Wir nun entarten, sobald es mit uns nicht vorwärts geht. Das macht, daß wir ein schlechtes Gedächtnis haben. Nur insofern wir forterfinden, erscheint unser Fortbestand gesichert. — Werden wir ad indefinitum forterfinden können? Oder dereinst hinüberschwenken zum entgegengesetzten Pol des Geschehens? Oder gar ganz verschwinden von diesem Planeten nach kurzer, übereilter Laufbahn? — Niemand vermag's zu sagen. Morgen verlasse ich das Reich der Mitte ; was nehme ich mit von dannen? Belehrung mehr, als ich im Lauf von Jahren werde verarbeiten können. Dennoch fühle ich mich unbefriedigt: so viel China mir gegeben, verwandelt hat es mich nicht; ich scheide beinahe als der gleiche, als der ich kam. Entgegen meiner eigensten Veranlagung bin ich hier vom Anfang bis zum Ende Betrachter geblieben ; so viel ich mich in die Chi- nesen hineinversetzt habe — die Periode des Andersseins scheint merkwürdig wenig für mich bedeutet zu haben. Wie seltsam: China hat mich doch mehr beeindruckt, als irgendein Land; es hat mich unermeßlich viel gelehrt; ich habe es überdies von Herzen liebgewonnen. Und doch scheide ich mit einem leichten Gefühl des Ressentiments. Wenn ich nun nachdenke über dieses Gefühl, so komme ich bald genug auf seinen Grund. Ich habe von China im selben Sinne weniger gehabt als von anderen, objektiv uninteressanteren Län- dern, wie Agra für mich bedeutungsarm gewesen ist im Vergleich zur Wildnis der Himalayas und alle Kunst überhaupt und von je im Vergleich zur Natur. Indem ich Menschenkunst, die höchste ausgenommen, betrachte, gelange ich nie aus meinen ursprünglichen Möglichkeiten hinaus; ich lerne wohl neue Sprachen reden, mich in bekannten besser ausdrücken, ich werde mir Seiten meiner selbst 430 Die Chinesen als menschlichste Menschen. bewußt, über die ich sonst vielleicht hinwegfühlte — in meinem Menschentum mit seinen engen Grenzen bleibe ich befangen. Dieses typische Mißgeschick nun hat mich in China in ungewöhnlichem Maße ereilt, weil die Chinesen von allen Menschen die — mensch- lichsten sind; sie haben es von allen am weitesten gebracht in der Ausprägung ihrer Eigenart. Und wenn sie andrerseits auch das Allgemein-Menschliche dem Eigentümlichen, und jenem das mehr- als-Menschliche in vielleicht unerreichtem Grade eingebildet haben, so bringt es doch gerade das Erschöpfende des Ausdrucks mit sich, daß das resultierende Bild ein solches der Allzumenschlichkeit ist. Die moralische Bildung so weit durchzuführen, daß die äußere Ordnung als notwendiges Ergebnis interferierenden freien Wollens erscheint, ist freilich ein Äußerstes — aber zugleich ein Allzu- menschliches, denn nur Menschen vollenden sich in der sozialen Gemeinschaft. Das Gefühlsleben so weit zu stilisieren, daß ein objektives Ritual als entsprechender Ausdruck der subjektiven Impulse erscheint — das ist gleichfalls ein Äußerstes, aber auch gleichfalls ein Allzumenschliches: denn Urbanität kommt nur für Menschen in Frage. Wohl hat der Chinese, als der wurzelhafteste Mensch, von allen den universalsten Hintergrund, aber das Uni- versale ist bei ihm ins Rein-Menschliche hineingepreßt, wodurch dieses in unerhörtem Grade potenziert erscheint. Nun bin auch ich, bis auf weiteres, ein Mensch; und weile ich in einer Atmo- sphäre potenzierter Menschlichkeit, so wird auch meine Be- schränktheit potenziert. Ich laufe Gefahr, in meiner Eigenart aus- zukristallisieren und davor fürchte ich mich. Wäre die chinesische Zivilisation wenigstens schwer verständ- lich als Phänomen, wie es die indische in hohem Grade ist, dann besäße sie trotzdem anregende Kraft. Ameisen müssen an- deren Ameisen wohl uninteressant vorkommen, weil jede einzelne das Ameisentum so vollkommen erschöpft, wie eine Statue des Phidias die Möglichkeiten hellenischer Körperbildung, so daß keine der anderen etwas Neues bietet, — aber mich fördert ihre Anschauung doch, weil eine Einfühlung in das noch so „Allzu- ameisenhafte" mich immerhin aus dem „Allzumenschlichen" hinaus- zieht. Zu den Chinesen nun stehe ich wie eine Ameise zur an- deren; von allen Nationen sind sie die unmittelbar verständlichste. Die Nüchternheit ihrer Grundveranlagung, das Vorherrschen des gesunden Menschenverstandes über der Phantasie, ihre Freude Kultur und Ursprünglichkeit. 431 am Selbstverständlichen, ihr Kult für das klassische Ideal bedingen es, daß keine ihrer Gestaltungen, so verschnörkelt sie aus der Ferne besehen scheint, dem, der sie eindringlich betrachtet, die mindesten Verständnisschwierigkeiten bereitet. Es gibt kein chine- sisches Ideal, das nicht jedem Menschen ein Vorbild sein könnte, es gibt sogar keine chinoiserie , der nicht jeder gerecht werden könnte. So gibt es auch nichts in der Atmosphäre der chinesischen Kultur, das den Geist als solchen anregte: sie bestärkt einen, im Gegenteil, in der Routine des Menschentums. Freilich ist die chinesische Natur überaus großartig ; die wenigen Male, da mich ihr Geist erfaßte, bin ich innerlich ge- waltig gefördert worden. Aber in China hat der Mensch, wie nirgends anderswo, die Natur in den Hintergrund gedrängt ; hier herrscht die Kultur souverän. In Europa ist dies nicht halb so sehr der Fall, trotz der größeren Effikazität unserer Kulturme- thoden, weil dort der Mensch, um die Natur zu beherrschen, sich in ihren Sinn hineinversetzt und dessen Äußerungen dadurch ge- steigert Hat; in China sieht man intensivste Menschenkultur einem gleichsam inerten Boden aufgeprägt. Deshalb hilft die Anschauung der Natur nur ausnahmsweise "über das Menschliche hinaus. Wie tragisch, daß das Höchste an sich selbst den Geist nicht mehr anregt, sondern abstumpft! Die vollkommen aus- gedrückte Urkraft spürt man nicht mehr, wo alle Möglichkeiten erschöpft sind, bleibt dem Geiste nichts zu wollen übrig. Der „russische Mensch" gilt dem heutigen Westeuropäer von allen als der ursprünglichste; das ist, weil er von allen begabten der unfertigste, dem Chinesen am meisten entgegengesetzt ist. Wesent- lich ursprünglicher als dieser ist er nicht. Wenn ich in China etwas gelernt, so ist es dies, daß Vollendung die Spontaneität nicht zu beeinträchtigen braucht (so häufig sie es tut); der Zivilisierte braucht nicht unlebendiger zu sein als der Barbar. Der Anschein der wesentlichen Leblosigkeit geprägter Form rührt lediglich daher, daß sie den Beschauer nicht anregt. Pflanzen und Tieren spricht keiner Ursprünglichkeit ab, die doch in ihrer Sphäre vollendeter sind, als irgendein Mensch jemals war, eben weil sie ihn anregen; um sie zu verstehen, muß er von der Erscheinung den Weg zum Sinn selber schaffen, weshalb hier eben das ihn bewegt dünkt, was ihm bei seinesgleichen starr und leblos vorkommt. Aber diese Einsicht ändert nichts an der Tatsache, daß das Vollendete den 432 Natur und Geist. Geist nicht zum Fortschaffen reizt. Deswegen ist das Gebildete weniger bedeutsam für uns als das Naturwüchsige, deshalb scheide ich mit geringerer Förderung von der zivilisiertesten Menschheit, die es gibt, als ich aus Ceylons Urwäldern schied. Die Anschauung der chinesischen Zivilisation wirft viel Licht auf das Verhältnis von Natur und Geist. Wie ichs schon in den Himalayas niederschrieb: die Schöpfung bringt ihr Prinzip wohl zum Ausdruck, aber ist es nicht. Die Erscheinungen der Kultur sind nun als solche ihrem geistigen Urgründe nicht näher als die der Natur; auch sie sind „Natur", nicht „Geist"; auch hier ist es, sobald die Gestaltung vollendet, vorbei mit der Spontaneität. Zwischen toten Institutionen und dem Sternenheer besteht, vom metaphysischen Grunde her betrachtet, kein Unterschied; in der Routine des Rechtsverfahrens äußert sich nicht mehr lebendiger Geist als im Kreisen der Himmelskörper. So ist auch die chine- sische Zivilisation in ihrer heutigen typischen Gestalt „Natur", nicht „Geist"; sie ist keine Form von Freiheit. Alle Freiheit erfüllt sich in der Gebundenheit. Ich aber habe genug zurzeit von aller Erfüllung; ich sehne mich nach der Wol- lust der Erneuerung; ich sehne mich fort vor allem vom Allzu- menschlichen. Fast wollte ich, ich hätte Japan schon hinter mir, und schiffte mich nach der Südsee ein, in der es so wundersame Pische geben soll. VI. JAPAN. Keyserling, Reisetagebuch. 28 Einfluß der Natur auf die Kunstentwickelung. 435 DURCH YAMATO Ich beginne meinen Aufenthalt in Japan mit einer Fußwanderung durch Yamato, die Provinz des Landes, mit der seine ältesten und heiligsten Erinnerungen verknüpft sind. Es ist die Zeit der Pilgerfahrten zu den buddhistischen Heiligtümern ; alle Straßen und Waldungen sind belebt, halb Japan scheint auf Ferienausflügen begriffen. Ich teile, so weit es irgend geht, das Leben meiner Reisegefährten, suche mit ihnen zu denken und zu fühlen, mit ihren Sinnen wahrzunehmen. An geschmeidigem Reichtum dürfte Japans Natur wohl un- übertroffen sein. Überraschend viel Coniferenarten gibt es hier, wunderbar mannigfaltig gestaltet ist das Laubholz ; und die Nuan- cierung, welche die Verteilung der Farben und Formen auf ver- schiedene Höhen- und Tiefenlagen selbsttätig erzielt, könnte keine Absicht künstlerischer komponieren. Was Wunder, daß der Japaner viel Sinn für die Naturform besitzt! Gleichwie der, den ein günstiges Geschick inmitten von Kunstschätzen aufwachsen ließ, die er nicht als eine fremde Herrlichkeit, sondern als seine natür- liche Umgebung betrachten durfte, bei nur mittelmäßigen Anlagen von Hause aus einen Geschmack und ein Auge besitzt, das sich künstlerisch weit höher begabte Sprossen barbarischer Länder nur ausnahmsweise aneignen, — in eben dem Sinne fördert eine reichgegliederte Natur. In Breiten, wo Licht- und Farbenkontraste so groß sind, daß die feineren Abstufungen unbemerkt bleiben, bringt es das visuell begabteste Volk nicht so weit in der Land- schaftsmalerei, wie in Gegenden mit günstigeren Lichtbrechungs- verhältnissen ; nicht umsonst ist die des Westens in Holland, 28* 436 Der Mensch ist zugleich Pflanze, Felsen und Meer. nicht in Italien aufgekommen und am weitesten gelangt. Japan nun zwingt das Auge zur Perzeption eben der Farben- und Form- verhältnisse, die für die japanische Kunst charakteristisch sind ; diese spezifische Nuance ist dort gegeben. Und ist sie einmal aufgefaßt, verstanden, dann schafft ein künstlerischer Geist unwill- kürlich in ihrem Sinne fort. Dieses nun, dieses Fortkomponieren im Geist und Sinn der Natur ist von den Künstlern des Fernen Ostens seit Alters mit einem Verständnis betrieben worden, wie nie bei uns. Es ist, als wäre das eigene Schönheitsstreben der Natur sich in ihnen bewußt geworden, als sei der Mensch hier das be- sondere Organ, vermittelst dessen sie ihre letzte Vollendung erzielt; hier verantwortet er gleichsam für den äußersten Zusammenklang. — Woher dieses wunderbare Können? Es geht auf die Methode des Sehenlernens zurück. Chinesische und japanische Maler sind Yogis ; sie betrachten die Natur nicht von außen her, sondern versenken sich in sie, wie sich der Mystiker in Gott versenkt. Dadurch geraten sie aus dem Menschlichen hinaus und werden eins mit dem Geiste der Dinge. Der Mensch ist ja nicht allein Mensch — er ist zugleich, mit verschiedenen Teilen seines Wesens, Tier, Pflanze, Felsen und Meer; nur wird er sich dessen selten bewußt und weiß nur als Mensch zu empfinden. Lernt er es indes, mit dem eins zu werden, was als ein scheinbar Fremdes außer ihm lebt, dann kann er es auch aus sich heraus hervorbringen. So wohnt ostasiatischen Landschaftsbildern recht eigentlich Land- schaftsleben inne, so gelingt es dem Japaner wie spielend, die Natur als Natur doch künstlerisch zu verwenden. Die unerreichte Vollendung japanischer Blumenarrangements rührt daher, daß der eigene Geist der Blumen den Strauß zum Strauße windet; forst- männisch bewirtschaftete Waldungen sind in Japan nicht häßlich, wie in Deutschland, weil hier der Mensch, anstatt den Bäumen seine Meinung aufzudrängen, sie in dem unterstützt, was sie selber am liebsten täten. Die natürliche Rotation der Gewächse wird be- rücksichtigt, von den besonderen Bedingungen des Terrains nie abgesehen. Und bildet ein überständiger Baum an einem Abhang eine schöne Silhuette, nun, so wird er dort stehen gelassen, auch wenn er, forstmännisch beurteilt, fallen sollte. Freilich, um es im Naturverständnis soweit zu bringen, muß man eben Japaner sein. Ich glaube nicht, daß ein Gärtner irgend- eines anderen Volks im japanischen Sinne Bäume zu zwergen Das Zwergen der Bäume ; Poesie des Hinterwäldler tums. 437 wüßte, ohne jede Vergewaltigung der Natur; so weit ich sehe, gibt es keine lehrbare Methode dafür, beruht es ganz auf innerem Verständnis. Jeden Morgen sieht sich der Baumzüchter seine Pflänzlein sorgfältig an, und beraubt sie dann — eines Blattes oder Triebes! Weshalb gerade dieses? er vermag es selbst nicht zu sagen ; jedoch er weiß, daß eben dieses Organ extirpiert werden muß, auf daß der innere Wachstumsimpuls über die vor- gesetzten Dimensionen nicht hinausführte, und der Erfolg gibt ihm fast jedesmal Recht. Solches Intuitionsvermögen läßt sich wohl nicht erklären; man muß es als Wunder gelten lassen. Aber sicher erscheint mir immerhin, daß die wunderbare Nuanciertheit der japanischen Natur, die Veränderung in der lebendigen Ge- staltung, welche in Japan die geringste Terrainverschiebung mit sich bringt, ein wichtiges Moment bedeutet hat bei der Entwickelung der vorhandenen Anlagen. Schon beginne auch ich zu beobachten, wie ich früher nie beobachtet habe; mir ist, als wäre ich bis vor wenigen Tagen blind gewesen. Und genieße die Wundergabe des Schauens so intensiv, daß ich die sonst so will- kommenen Dämmerstunden nicht ohne Mißmut hereinbrechen sehe. Jetzt durchwandere ich entlegene Täler, die der Fuß des weißen Mannes kaum jemals betritt. Den Dorfbewohnern bin ich ein Gegenstand nicht endenwollender Kurzweil. Freundlich sind sie und gefällig so sehr sie's nur sein könnten, allein sie lachen, wohin ich mich nur wende, wegen meiner für ihre 'Be- griffe übermenschlichen Körpergröße. Heute früh, als ich einen steilen Bergpfad hinanstieg, fühlte ich mich plötzlich von rück- wärts geschoben ; wie ich mich umwandte, stürzten zwei bild- hübsche Mädel lachend davon: sie hatten feststellen wollen, wie schwer ich sei. — Es ist doch etwas Wundersames um das Hinter- wäldlertum. Ich kenne es gut von meiner Heimat her. Jedesmal, wenn ich auf mein abgelegenes Waldgut fahre, finde ich Gelegen- heit zu ehrfürchtigem Staunen darob, wie bedeutsam im kleinsten Kreise das noch so Alltägliche wirkt, wie ungeheuer die enge Perspektive den Sinn des Nichtalltäglichen steigert. Mein Auf- seher sieht die herumziehenden Arbeiter von den Inseln, die einen anderen Dialekt des Estnischen sprechen als er, kaum als Men- schen an; Kraniche sind sie ihm. Er berichtet mir: neuerdings 438 Der Konzentrische wesenhafter als der Exzentrische ; Lafcadio Hearn. lebt hier ein gewisser Michel — man weiß nicht genau woher er kommt — seine Art ist auffällig — ganz richtig scheint es nicht mit ihm zu sein. Dieser Michel erweist sich dann als der trivialste aller Durchschnittsmenschen, aber vom Hintergrunde des Könno- schen Hinterwäldlertums hebt er sich ab, so typisch-großzügig, so plastisch, wie ein homerischer Held. — Und wie voll- kommen sind die Hinterwäldler! Bei ihnen allein vielleicht unter den kleinen Leuten unserer Zeit bilden Form und Gehalt noch eine Einheit. Um in weiten Verhältnissen vollkommen zu sein, muß man viele Generationen hinter sich haben, die langsam ihren Gesichts- und Wirkungskreis erweitert haben; mit einem Mal, von heute auf morgen, gelingt es nicht. So wirkt in der modernen schnellebigen Welt, in welcher der Bauernsohn so oft als reicher Bürger endet, allenfalls das Exzentrische interessant; nicht umsonst stellen die Dichter unserer Zeit mit Vorliebe Ver- brecher, Psychopathen und Hochstapler dar. Das bedeutet natür- lich ein faute de mieux: Vollendung im Konzentrischen ist das Höhere. Das Exzentrische schließt wesentlich aus, das Konzen- trische wesentlich ein, weshalb der konzentrische Mensch unter allen Umständen der Reichere, Tiefere, . Wesenhaftere ist; er allein vermag in seiner Erscheinung das Tiefste unverkümmert zum Ausdruck zu bringen. Unter Hinterwäldlern wahrt jeder seine Eigenart, wird diese jedem bereitwilligst zugestanden; in der weiten amorphen Masse wollen alle wie alle sein. Die wesent- liche Gestaltlosigkeit bedingt desto sklavischeres Hängen an der Konvention. In der Quersumme gleichsam wird die Form ge- sucht, die keine einzelne Ziffer für sich besitzt. Das japanische Hinterwäldlertum ist mir sympathischer, als irgendeines, das ich jemals sah. Ihm eignet alP das Süße, Zarte, Sinnige, Gemüt- und Reizvolle, das mir den kleinen Mann dieser Breiten, seit ich Lafcadio Hearn gelesen, so liebenswert er- scheinen ließ. Die kleinen Leute hier sind liebenswert. Ihre Höflichkeit ist ohne Zweifel eine des Herzens, von Gewinnsucht und Übervorteilungsstreben habe ich nichts gespürt. Vielleicht zeigen sie mir auch ihre besten Seiten, weil ich, einem Winke meines Begleiters folgend, eines jungen Dichters aus Kyoto, mich so zu ihnen verhalte, wie daheim als Feudalherr zur patriarchalisch denkenden Bauernschaft. In den entlegenen Tälern von Yamato ist das Mittelalter noch nicht vorüber; dort ist die Ära von Kinder er Ziehung ; Konfuzianismus und japanische Rücksichtskultar. 439 Meiji kaum noch angebrochen; dort erwarten die Bauern vom Herrn noch Überlegenheit, Großzügigkeit, Distanz, jenes Bewußt- sein so absoluten Darüberstehens, daß es eben deshalb im Ver- kehr die äußerste Familiarität gewähren läßt; dort wollen sie noch aufschauen können. Wie gern habe ich mich in eine Rolle zurück- versetzt, die zu spielen unsere Welt immer weniger Gelegenheit gibt! Und der praktische Erfolg war der, daß sich überall Leute fanden, die mir Dienste leisteten und Gefälligkeiten erwiesen, ohne Bezahlung dafür annehmen zu wollen. Ich raste in einem wohlhabenden Dorf, an schäumendem, forellenreichen Bache. Wo in der Welt ist der kleine Mann auch nur annähernd so gebildet wie in Japan? Was immer er tut, zeugt von Kultur; nichts Unsauberes, Häßliches duldet er; exquisiteste Rücksicht bestimmt das Verhalten aller zu allen. Und was zumal die Kinder betrifft, so habe ich gleich reizende nirgends gesehen. Kaum je erweisen sie sich ungebärdig, was offenbar darauf beruht, daß sie mit vollkommenem Verständnis behandelt und doch nie- mals verwöhnt werden: schon den kleinsten wird Rücksichtnahme auferlegt. Unglaublich wenig Selbstsucht waltet hier; jeder scheint freudig für andere zu leben, seinen Teil dazu beizutragen, daß das Ganze möglichst harmonisch würde. Nicht anders in der Idee ist es in China. Wie der Konfuzianis- mus nach Japan kam, da haben ihn seine Bewohner sofort über- nommen als verklärten und vertieften Ausdruck dessen, was seit je bei ihnen gang und gäbe war, und der vollkommene Ausdruck hat dann seinerseits eine Vertiefung und Konsolidierung der Sitte bewirkt. Immerhin: iwelcher Unterschied gegenüber dem Reich der Mitte! Der Konfuzianismus ist bedächtige Bauernweisheit, die japa- nische Rücksichtskultur scheint mir ein Instinktives, fast möchte ich sagen, ein Tierisch-Triebhaftes zu sein. Die Japaner sind reinlich, wie Katzen reinlich sind, sie sind höflich im Sinn der Pinguine, nehmen Rücksicht aufeinander mit der gleichen Selbstverständ- lichkeit, mit welcher Mütter ihre Kinder lieben; so eignet diesen Äußerungen die Vollkommenheit des Tiers. Die Japaner haben nichts von der chinesischen Tiefe und Gravität. Sie scheinen mir oberflächlich, phantasiearm, in beinahe unmenschlichen Grade matter-of-fact; gleichzeitig aber von ungeheurer Sensitivität, von 440 Ein bäuerlicher Weiser; christlicher Charakter seiner Sympathie. einer Empfindlichkeit im weitesten Sinne, wie kein Chinese sie besitzt. Ihr ganzes Empfindungsleben scheint im selben Sinne „durchlässig", wie es bei uns nur im einen Fall des Mitleids ist. Bei ihnen beruht auf physiologischer Sensitivität, was beim Chi- nesen auf metaphysischer Besonnenheit. Ich gedenke Sontoku Ninomiyas, jenes bäuerlichen Weisen, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so unvergleichlich viel für seine Landsleute getan und bedeutet hat, dessen Lebens- beschreibung und Lehren die Regierung seither als Evangelium im Volk verbreitet; 1 ) jenes schlichten Landmanns, welcher, kaum daß er sich hinaufgearbeitet hatte aus bitterster Not, ein Leben vollkommener Selbstlosigkeit begann, und bis zur Stunde seines Todes rastlos und ausschließlich darum bemüht war, die Verhält- nisse anderer zu sanieren : dem Buchstaben nach war er ein echter Konfuzianer, wie er sich denn selbst für nichts anderes hielt. In Wahrheit war er ein völlig Einziges, ein Mann, wie er in ganz Asien nur auf Japans Boden möglich war. Ihm fehlte der weite Horizont des chinesischen Weisen, dessen Allverständnis und Weltgefühl; philosophisch betrachtet war er oberflächlich. Aber dank seinem Sympathievermögen und der Energie, welche diesem zur Ver- fügung stand, hat er praktisch, wenn auch im noch so Kleinen, mehr vollbracht. Sontoku war im Tiefsten recht eigentlich Christ; seine Probleme waren die der christlichen Nächstenliebe. — Sollte hier die Hauptursache dessen liegen, weshalb Japan sich so schnell und erfolgreich hat verwestlichen können? Auch wir sind ja weniger besonnen und tief als Chinesen und Inder; wir sind nur energischer und sensitiver. Wahrscheinlich ist das, was man christliche Liebe heißt, weit mehr physiologisch als theolo- gisch bedingt. Wirklich: in vielen Beziehungen ist der Japaner uns nahe verwandt; jetzt, wo ich darauf aufmerksam ge- worden bin, fällt es mir mehr und mehr auf. Auch seine Energie ist kinetisch, auch sein Bewußtsein nach außen zugekehrt, vor allem aber ist er ebenso neugierig und neuerungssüchtig wie ') Dieses Werk heißt Hotokuki; eine englische Übersetzung hat Todasu Yoshimoto unter dem Titel A Peasant Sage of Japan bei Longmans, Green & Co. in London veröffentlicht. Was aus uns unter chinesischem Einfluß geworden wäre. 44t wir. Ob es nicht, metaphysisch betrachtet, Zufall bedeutet, daß seine Kultur trotzdem ein Ausdruck chinesischen Geistes ist? — Ich habe mich während dieser Tage, die ich ununterbrochen in Ge- sellschaft der Pilger zubrachte, bemüht, in die Seele des Japaners einzudringen, und das Wenige, was ich bisher erkannt, erlaubt mir schon kaum mehr Zweifel daran, daß dieses Volk unter anderen Einflüssen ganz anders geworden wäre. Desto dankbarer bin ich dafür, daß seine Geschichte eben so und nicht anders verlaufen ist: seinen einzigartigen Reiz verdankt es unstreitig der chinesischen Schule; alle Gestaltungen, die mich erfreuen, sind mir der Idee nach von China her bekannt. Und so frage ich mich, wie wir nor- dische Barbaren uns wohl entwickelt hätten, wenn wir anstatt unter griechisch-römischen unter chinesischen Einfluß geraten wären: wären wir am Ende weiter als wir sind? — „Christen" wären wir vermutlich auch dann, unter irgendeinem Namen; auch energisch, aktiv und erfinderisch; ästhetisch und moralisch sicher gebildeter. Wir wären weniger vorgeschritten in der Technik und Fabrikstädte gäbe es -auf Erden noch morgen keine. Aber Wäre irgendein wesentlicher Nachteil daraus entstanden, daß die Ger- manen nicht von Rom sondern von Loyang ihre Kulturgüter be- zogen hätten? — Ich weiß nicht recht. Ich kann hier schwer objektiv urteilen, weil mir am Europäer hauptsächlich auffällt, was ihm fehlt, und am Asiaten, was ihn vorteilhaft auszeichnet. IM KLOSTER VON KOYA SAN. Ich beschließe meine Wanderung durch Yamato mit einer Pilger- fahrt nach dem Berge Koya-San, dessen Gipfel das berühm- teste Kloster Japans ziert. Es liegt im tiefen Schatten viel- hundertjähriger Coniferen. Nie sah ich heiligeren Hain. Von allen Bäumen, die ich kenne, ruft die Cryptomeria am zwingendsten und stärksten religiöse Assoziationen wach. Sie hat das Düstere der Zypresse, das Hoffnungsfreudige des Lebensbaums; zugleich das Hehre, Kosmisch-Gewaltige, Naturhaft-Unsterbliche der Tanne. Das Kloster ist eine typisch japanische Anlage; es sind nied- rige Holzhäuser mit schöngeschwungenen Dächern, von zierlichen 442 Koya-San; Geschichte des 'japanischen Buddhismus. Gärten umringt; ich erwartete eine gleiche Atmosphäre des Fein- sinns und der Lieblichkeit einzuatmen, wie sonst bisher, wenn ich ähnliches vor Augen hatte. Statt dessen umweht mich eine Luft, die mir von Europa her wohlbekannt ist, aber die ich trotz allem, was ich zugelernt, in Japan einzuatmen doch nicht erwartet hätte: die Luft christlich-mittelalterlichen Klostertums. Es liegt etwas Herrisches, ja Kriegerisches, Machtvolles, Weltgewaltiges in dieser Luft trotz der sanften Anmut aller Einzelgestaltung. Die Mönche hier kann ich mir ebensogut kämpfend als betend vorstellen, die Äbte am besten als Kirchen fürsten im mittelalterlichen Sinn. Und das ist ein buddhistischer Wallfahrtsort! — Wie fern bin ich jenen heißen Gegenden gerückt, wo sanfte braune Menschen vor friedlich- thronenden Buddhas Blumen opfern! Der Geist, der zu Koya herrscht, ist kein Geist des Duldens und Nichtwollens, kein Geist der Sehnsucht aus dem Drang der Welt hinaus; er ist dem Geiste Indiens ganz fremd. Er ist wesentlich eins mit dem, der unsere Vorfahren von den Karolingern an bis zum Ausgang des Mittelalters beseelt hat. Ich vergegenwärtige mir, was ich von der Geschichte des japanischen Buddhismus weiß. In dem Grenzgebiet zwischen Indien und Zentral-Asien, dem Lande Gandhära, entwickelte sich im Lauf der ersten Jahrhunderte nach Christo eine wundersame Religion. Der Filiation des Buchstabens nach war sie Buddhismus, dem Geiste nach eine Abart der Bhakti, der emotionalistischen Ausdrucksform des Brahmanismus, welcher die Gottheit persön- lichen Charakter trägt und Glauben und Liebe als Kardinal- tugenden gelten; aber den dogmatischen Vorstellungen nach war sie ein für Indien völlig Neues: eine Erlöserreligion im Sinn des Christentums. Damals erfüllte Erlösungssehnsucht die ganze Welt. Allenthalben kamen Gemeinschaften auf, deren Mittel- punkt ein gewesener, gegenwärtiger oder künftiger Messias war, Offenbarungserwartung schwängerte die Luft und der Zeit- geist erschien von einer Einheitlichkeit von Alexandrien bis zum Fernen Osten, wie dies seither wohl nie mehr der Fall gewesen ist. 1 ) Indische Lehren waren bis nach Ägypten gelangt und um- ') Man lese nebeneinander: E. A. Gordon „World Healers or the Lotus Gospel and its Bodhisattvas, compared with early christianity" (in Japan erschienen, aber erhältlich in London bei Eugene L. Morice, Cecil court, Charing Cross Road) und Max von Wulf: Ober Heilige und Heiligenverehrung Parallele Entwickelung von Buddhismus und Christentum. 443 gekehrt, syrisch-kleinasiatische, unter diesen das Christentum in seinen vielfachen Abarten, drangen mit den Händlern bis gen China vor, der hellenistische Ideenkreis faßte mit griechisch-parthischen Fürsten im Kabul-Tale festen Fuß, was zur Folge hatte, daß alle lokalen Religionen vom universellen Geist jener Epoche wenn nicht umgestaltet, so doch befruchtet wurden. Auf diese Weise entwickelte sich im Westen das Christentum — ursprünglich der beschränkte Glaube einer obskuren Sekte — zu einer grandiosen allumspannenden Weltreligion; gleiches geschah mit dem Buddhis- mus in Gandhära. Der Mensch Gautama verwandelte sich zum Gott, welcher zum Heil aller Kreatur Menschengestalt angenommen hatte, die spezifisch indische Lehre von der Erlösung durch Er- kenntnis machte mehr und mehr der damals katholischen einer Erlösung durch den Glauben Platz, und der Buddhismus wurde zuletzt aus einer philosophischen Weltanschauung, die weder Gott noch Seele kannte, zu einer Kirche, die sich von der christlichen in nichts Grundsätzlichem unterschied. Es wird wohl nie entschieden werden können, welchen Ein- flüssen bei dieser Wandlung die Hauptrolle zugekommen ist; aber bei der großen Plastizität des Mahäyäna, bei der allgemein- orientalischen Neigung, Gestaltungen metaphysisch nicht ernst zu nehmen und der spezifisch-indischen, innerhalb des Verschiedenen das Gemeinsame zu betonen, darf wohl vorausgesetzt werden, daß alle Einflüsse mitgewirkt haben, die überhaupt in Frage kamen; unter anderen der des Christentums, das in seinen gnostischen, ophitischen und nestorianischen Abarten in Mittel-Asien eben da- mals zu einer geistlichen Großmacht heranzuwachsen begann. Dennoch blieb das Mahäyäna auf lange hinaus rein indisch dem Wesen nach; Indiens überlegener Geist beseelte den Vorstellungs- körper, welcher Abstammung dieser immer sein mochte. Auch in China blieb der neue Buddhismus wesentlich indisch. Aber wie er nach Japan gelangte, da verwandelte er sich bald von Grund aus: er wurde (was in China kaum geschehen war) nachhaltig beein- flußt vom praktischen Geist des Konfuzianismus, welcher kurz vorher nach Japan gedrungen war, und bald vermählt und teil- weise verschmolzen mit dem einheimischen Götter- und Ahnen- in den ersten christlichen Jahrhunderten (Leipzig 1910, Fritz Eckardt Verlag). Man wird staunen über die Gleichartigkeit der Gestaltungen jener Zeit vom Nil bis zum Ochotskischen Meer. 444 Wandlungen des Christentums ; sein beharrendes Wesen. dienst. Dieser war eine Soldatenreligion. Dem Rittersinne paßte sich der Buddhismus in Japan mehr und mehr an. Daher kommt es, daß sein Geist hier so sehr an den unseres Mittelalters er- innert. Der japanische Buddhismus ist allerdings grundverschieden von dem, welchen der Asket Gautama einstmals begründet hatte. Aber wer daraufhin sagt, er sei gar nicht Buddhismus, sondern Christentum, dem könnte ein Japaner mit Recht entgegenhalten, daß dann auch unser Christentum nicht als Christentum gelten dürfe. Der Erlöserbegriff, den beide Religionen heute gemeinsam haben, eignet dieser ursprünglich nicht mehr als jener: erst Paulus hat den jüdischen Messias zum hellenistischen aiüiqQ trans figuriert. Die Seele jenes ägyptischen Mönchtums, dessen Beispiel mehr zur Bekehrung des Westens beigetragen hat, als alle Evangelien und Apostelbriefe, war nicht Jesu, sondern ägyptisch-neuplatonische Weisheit; die Lehre des Origenes (von der Gnosis zu schweigen) war dem Geiste Irans und Hindustans gemäßer als dem Palästinas und was schließlich unter die Barbaren des Nordens drang und zum Glauben der Kreuzfahrer ward, ist ein vom Urchristentum völlig verschiedenes. Dennoch geht jener auf dieses zurück — wesentlicher auf dieses als auf scheinbar Verwandteres, so daß wir ein volles Recht haben, uns Christen zu heißen. Die spirituellen Kräfte, welche tätig in das geschicht- liche Leben eingreifen, nehmen verschiedene Gestalt an je nach den Naturen, in welchen und durch welche sie wirken; sie können das, weil keine bestimmte Gestalt ihnen notwendig und wesent- lich eignet. Das Erlebnis der Liebe im christlichen Verstand kann dem Weib wie dem Mann, dem Täter wie dem Dulder, dem Priester wie dem Kriegsmann zuteil werden und bei jedem prägt es sich anders aus, so sehr, daß die Äußerungen sich oft stracks widersprechen. Dennoch fühlen sie sich als eines Geistes Kinder und dies mit Recht: die Modalität des Erlebens als solche macht den Christen, nicht dieses oder jenes Bekenntnis, diese oder jene Verhaltungsart; die aber hatten weder Hindus noch Neuplatoniker gekannt, die geht einzig auf Jesus zurück. Eine be- stimmte Qualität der Liebe ist das eigentliche des Christentums, die aber ist sich gleich geblieben durch alle Wandlungen in der Erscheinung hindurch, von Jesu Tagen bis zu unserer Zeit. So ist auch der japanische Buddhismus, trotz aller fremden Einflüsse, Wesen des Buddhismus; inwiefern es eine Vorsehung gibt. 445 die seinen empirischen Charakter geformt haben, wesentlich Bud- dhismus. Er ist es vielleicht nicht ganz im gleichen Sinn, wie das Christentum Christentum ist: die spezifische Carität, die ihn beseelt, ist mehr allgemein-indisch als spezifisch-buddhistisch, mehr Krishna vielleicht als Gautama gemäß; aber diese indische Liebe durchdringt ihn durchaus. Und wenn sie sich in Japan sehr anders darstellt als in Indien, so ist das eine Parallelerscheinung dessen, was innerhalb der Christenheit geschah: auch die buddhi- stische, gleich der christlichen Liebe, ist vielfacher Gestaltung fähig, beide bleiben wesentlich, was sie sind, wie immer sie sich darstellen mögen. Wohl erscheinen die Gestaltungen weder hier noch dort als gleichwertig vom absoluten Ideale her gesehen, aber sie erweisen sich doch praktisch als gleich heilsam, zumal vom Standpunkt der buddhistischen Carität, die da verlangt, daß jegliches Phänomen nur am Maßstab seiner eignen möglichen Vollendung gemessen werde. Jungen, energischen, tätigen Männern ist nicht zuzumuten, daß sie Liebe und Mitleid empfinden sollen wie eine Maid; sie sollen vor allem im Sinn des Guten handeln. Wenn sie kämpfen, so sei es um ein Ideal, wenn sie aufbrausen, so geschehe es aus Zorn ob der Bedrückung von Schwachen; so wird das Ideal auch von ihnen der Verwirklichung näher gebracht. Und dieses schneller als man denkt. Stetiges Handeln im Sinn einer Idee, und werde diese noch so wenig verstanden, bereitet deren Bewußtwerden vor; noch so haßbeseeltes Kämpfen für das Ideal der Liebe bildet die Liebesfähigkeit aus. Es steckt tiefe Wahrheit in dem Mythos von einer „Vorsehung", die in stiller, langsamer Arbeit, oft allem Anschein entgegen, doch alles zum Guten lenkt: die spirituellen Kräfte, die mit Christus und Buddha in die Erscheinung traten, wirken wirklich ununterbrochen fort, und statt schwächer zu werden im Lauf der Zeit, werden sie mächtiger von Jahrtausend zu Jahrtausend. Wunderbar, wunderbar, wie ein gleicher Sinn überall eine ähnliche Gestaltbildung bedingt. Leider steht unsere Zeit solchen Prozessen noch recht verständnislos gegenüber. Die Geschichte des Christentums wird häufig als fortschreitende Entartung beurteilt, weil die Entwickelung vom Urchristentum abgeführt hat, und nicht anders diejenige des Buddhismus. Ich lasse für den Augenblick die Auffassung gelten, daß Urchristentum und Urbuddhismus die höchsten Stadien verkörpern: selbst unter 446 Katholizismus tiefer als Urchristentum. dieser Voraussetzung bedeutet es ein Mißverständnis, die späteren Bildungen niedrig einzuschätzen, weil ein höchster Zustand nur wenigen Auserwählten erreichbar ist und eine Welt- religion, welche alle erlösen will, auch auf alle Rücksicht nehmen muß. Sie muß vorläufige Zustände gelten lassen, muß den Menschen liebevoll durch dieselben aufwärts führen, muß ihm Mut zu- sprechen, wo er verzagen will. Das hat die christliche Kirche, ge- rade in ihrer mittelalterlichen Gestalt, auf meisterhafte Weise ver- standen und geleistet und nichts anderes bezweckten die späteren Formen der buddhistischen. Aber Urchristentum und Urbuddhismus verkörpern gar nicht die höchsten Menschheitszustände, womit das ganze Argument zusammenfällt. Christus und Buddha waren möglicherweise die größten aller Menschen und haben beide wahrscheinlich ihre äußerste Vollendung erreicht, aber sie waren eben doch bestimmte Menschen, ihre Vollendung war die eines bestimmten Typus, des asketischen, schloß alle übrigen Voll- endungen aus. Dementsprechend waren Urchristentum sowohl als Urbuddhismus nicht berufen dazu, der Mensch h e i t die Wege zu weisen. Sie mußten entweder beschränkte Sekten bleiben oder aber, wenn sie weitere Wirkungen anstrebten, ihren Horizont er- weitern. Diese Erweiterung hat in beiden Fällen stattgefunden und in beiden Fällen hat das die Religion vertieft. Die katholische Kirche ist gegenüber der urchristlichen das tiefere System. Es klingt ja wohl wie ein bedenklicher Kompromiß, dieses Be- gründen des Krieges auf die Liebe, der Intoleranz auf die Weit- herzigkeit, der Unzulänglichkeit auf die Vollkommenheit im Jen- seits: in Wirklichkeit führt sie damit nicht Niederes auf Höheres zurück, sie führt das Niedere dem Höheren zu und weiht das Unzulängliche zur Etappe auf dem Wege zum Ziel. Fern davon, daß die „wahre Lehre" im Urzustände begraben liege, winkt jene vielmehr als Zukunftsideal. Unstreitig werden die Aussprüche Jesu heute tiefer verstanden, als dies je früher geschah. Aber das bedeutet nicht, daß wir besser erkennen, wie Jesus es meinte, sondern daß wir den wahren, d. h. objektiv richtigen Sinn seiner Weisheit tiefer erfassen, gleichviel ob Jesus selber sich seiner bewußt war oder nicht. Wahrscheinlich war er es nicht; seine unmittelbaren Jünger waren es sicher nicht und Mißverstehen hat lange die meiste christliche Gestaltung regiert. Aber dieses Miß- verstehen hat der Erkenntnis den Weg bereitet; ohne Katholizismus, Die „wahre Lehre" als Zukunftsideal; japanische Sekten. 447 Reformation und Gegenreformation, ohne Dogmenstreit und Text- kritik wären wir nie dahin gelangt, den reinen Sinn des Christen- tums zu schauen. — Im gleichen Verstände bedeutet der nördliche Buddhismus, ganz wie seine Bekenner es haben wollen, keine Ent- artung, sondern die Krönung des Hinäyäna. Schwerlich gehen die meisten seiner Lehren auf Gautama zurück. Aber sie sind der Wahrheit sehr viel näher. Ich kenne wenig Tieferes, als die Lehren des Acvagosha, 1 ) nichts Hellsichtig-Umfassenderes, als das Mahäyäna-System, und dieses liegt der japanischen Kirche zugrunde. Aber freilich ist diese nicht das, was sie unter Indern vielleicht geworden wäre; wie bei uns, hat auch hier Mißverstehen die äußere Gestaltung regiert. Alle die Auswüchse, Miß- und Rückbildungen, die bei uns für den Katholizismus einerseits, den Protestantismus andrerseits tharakteristisch sind, können auch innerhalb des japanischen Bud- dhismus von heute nachgewiesen werden. Es gibt Sekten, die sich vorzüglich mit Thaumaturgie befassen, andere, wo ein hieratisches System alles individuelle Leben erstickt, wieder andere, die alle überkommene Weisheit verwerfen und den einzelnen ganz seiner persönlichen Meinung überantworten. Selbst das Äußerste, was sich erwarten ließ, ist nicht ausgeblieben: aus einer Religion, die auf Einsicht den Hauptnachdruck legt, ist eine des blinden Glaubens geworden. Zu einer solchen bekennt jeder sich am liebsten, dem das Denken Schwierigkeit verursacht. Was ursprünglich nach Japan kam, war eine Weltanschauung, die nur Indern, dieser philo- sophischen Nation par excellence, als solche gemäß erscheinen konnte; sie mußte sich wandeln, um unter Japanern zu bestehen. So geschah es auch. Früh traten Reformer auf, die das vieldeutige Mahäyäna zu bestimmten Lehren formten, die dem Japanertempera- mente besser entsprachen; immer mehr wurde Erlösung durch den Glauben zum Grunddogma des nördlichen Buddhismus. Und heute droht die Shinshu-Sekte, die oberflächlichste von allen, nach der bloßes Anrufen des Namens Amidas und Vertrauen auf die Wirk- *) Sein Hauptwerk liegt bisher unter dem Titel The awakening of Faith in zwei englischen Übersetzungen vor: einer von Teitaro Suzuki (Chicago 1900, The open court Publishing Company) und einer von Timothy Richard (im Band The new testament of Higher Buddhism, Edinburg 1910, T. u.T. Clark). Die beiden Übersetzungen ergänzen sich insofern, als Suzuki den viel- deutigen chinesischen Text als Philosoph, Richard als Theologe interpretiert hat. 448 Verwandtschaft der ja panisch-buddhistischen mit der katholischen Kirche. samkeit dieser Übung genügen soll, um dem Gläubigen die ewige Seligkeit zu gewährleisten, alle anderen in Japan zu verdrängen. Es ist mir viel wert, daß ich mit dem japanischen Buddhismus am ersten auf seiner Hochburg persönlich bekanntgeworden bin: hier dominiert seine Eigenart absolut über dem, was er mit anderen Buddhismen gemein hat. Nie hätte ich für möglich gehalten, daß aus Indischem dermaßen — Westliches werden könnte: denn westländisch weit mehr als asiatisch wirkt auf mich die Religion der Mönche von Koya-San. Diese sind mittelalterlich-christlichen dem Typus nach erstaunlich ähnlich; gerade ihr bestes scheint weit eher eines christlichen als des buddhistischen Geistes Kind, wofern ich diesen aus dem abstra- hiere, was ich auf Ceylon und in Birma geschaut. Es gibt so etwas wie einen spezifischen Ekklesiastikerkopf, der sich bei allen Völkern wiederfindet. Immerhin: niemand möchte einen Brahmanen mit einem katholischen Prälaten verwechseln. Ein japanischer Abt nun könnte ohne weiteres als letzterer passieren; seine Züge sind von naheverwandtem Geist geformt. Das kommt augenscheinlich daher, daß beide Religionen in verwandtem Sinn Objektivationen bedeuten. Selbst die Tantrikäs, die Ritualisten unter den Hindus, welchen strikte Observanz als einziges Heils- mittel gilt, sehen die Erscheinung immerhin als Mäyä an, nicht als notwendig mit dem Wesen verknüpft. Dem Katholiken ist die Kirche der wahrhaftige Leib des Christentums, von dessen Seele nur durch den Tod zu trennen, und ähnliches scheint beim japa- nischen Buddhismus der Fall. Zwar bekennt dieser kein ent- sprechendes Dogma, im Gegenteil: soweit er Weltanschauung ist, nimmt er die Erscheinung nicht ernster als der Brahmanismus; auch in Japan gelten sich ausschließende Konfessionen als gleich orthodox. Aber der hieratische Sinn der Chinesen, deren Ur- neigung, allen Gehalt in der Erscheinung unmittelbar und restlos auszuprägen, hatte dem Buddhismus schon früh einen hochorgani- sierten Körper erschaffen, der dann in Japan, unter beweglicheren Menschen, aus einem Kunstwerk mehr und mehr zu' einem leben- digen Wesen erwuchs. Aber die beiden Kirchen — die katholische und die buddhi- stische — unterscheiden sich doch sehr wesentlich von einander. Katholische Gestaltung Vernunft-, buddhistische gefühlsgeboren. 449 Bei jener ist die Objektivation verstandgeboren. So irrational ihre Dogmen sein mochten — deren Verknüpfung und Ausge- staltung hat reine Vernunft besorgt. Es ist ein einiger Geist strengster Vernunftgemäßheit, der alle christliche Gestaltung des Mittelalters beseelt, von der Theodicee bis zur geistlichen Hier- archie, von den Kathedralen bis zur Summa des Thomas von Aquin; nie, weder vor- noch nachher, hat die Menschheit so viel auf Symmetrie gegeben, auf Klarheit und rationalen Zusammen- hang. Die japanische Objektivierung des Geistes in der Kirche ist ganz unintellektual, weshalb alle die Vorzüge dieser abgehen, welche Rationalität allein gewährt. Dafür ist sie in höchstem Grade unmittelbar-künstlerisch; ihre Formen sind nie Allegorien, immer Symbole und haben alle Vorzüge eines Ausdrucks, dessen Ele- mente gefühlsgeboren sind. Ungeheuer überzeugend wirken sie; wie selbstverständlich erkenne ich sie an; unwillkürlich tritt meine Seele in Koya-San auf buddhistisch zu Gott in Beziehung. Und ich beginne zu ahnen, daß, soweit Konfuzius recht hat, die japanische Kirche als Krönung der indischen Weisheit gelten darf. Kungfutse lehrte, daß nur die Weisheit als vollendet zu betrachten sei, welche als Anmut in die Erscheinung trete: das ist hier geschehen. Es ist der echte Geist des Mahäyäna, allumfassend, ernst und tief, welcher diesen Buddhismus beseelt, — aber seine Er- scheinung ist eitel Schönheit und Anmut. Und das befremdet mich nicht: nie vielmehr habe ich mich dem Tiefsten der indischen Weisheit näher gefühlt, als während der Anschauung japanischer Buddhabilder. Nur seltsam: was mich so stark berührt, scheint den Japanern gar nichts zu sagen; nirgends spüre ich ein unmittelbares Erleben der Harmonie von Erscheinung und Sinn; es ist, als hätten sie nicht gewußt, was sie taten, indem sie den Geist des Mahäyäna objektivierten. Und indem ich nun nochmals meine Blicke über das Kloster schweifen lasse mit seinen goldstrotzenden Tempeln, seiner so dekorativen Klerisei, im großartigen Rahmen des Crypto- merienhains, da verwandelt sich mir die Wirklichkeit auf einmal zum Bühnenbild. Nein, diese Kirche in all ihrer Größe und Schön- heit ist ganz unsubstanziell. Sie bedeutet doch nichts, außer als Kunst. Das ganze Pathos der katholischen geht ihr ab. Wo der Christ lebt, stellt der japanische Buddhist nur dar. Wobei dieses Darstellen freilich möglicherweise sein äußerst-mögliches Erleben bedeutet. . . . Keyserling, Reisetagebuch 29 450 Nicht-Ernst japanischer Pilger, Formensinn. Zusammen mit den Pilgern, die gemeinsam mit mir nach Koya aufstiegen, besichtige ich die heiligen Stätten. Wie sehr unterscheiden sich diese Wallfahrer von indischen! Nur den bejahrteren unter den Frauen scheint es in religiösem Sinne ernst zu sein; die jüngeren betrachten ihre Reise nicht viel anders als die Männer: als vergnüglichen Ferienausflug, auf dem es viel des Neuen zu sehen gibt, und tragen das Pilgerkleid hauptsächlich aus Stilgefühl oder aus Freude an der Mummenschanz. Den Sagen und Wundergeschichten, die mit den einzelnen Tempeln verknüpft sind, lauschen sie mit jener halbskeptischen Gläubigkeit, mit der halbwüchsige Kinder Märchen zuhören, und die Andacht, die sie vor der Stätte überkommt, wo Köbö Daishi, der Gründer des Klosters, ein großer Zauberer und Wundertäter, noch heute leben soll, des Tages seiner Auferstehung harrend, enthält mehr Neu- gierde als Weihe. Es ist auch etwas viel, was dem Koya-Pilger zu glauben zugemutet wird. Die Shingon-Sekte, der dieses Kloster gehört, betreibt von allen am meisten Magie und der stehen die Japaner von heute ganz skeptisch gegenüber. Sogar die geist- lichen Herren scheinen vom Kultus nicht allzuviel zu halten. Sie reden am liebsten über Fichte und Kant, und gleiten über meine dogmatisch-kultischen Fragen mit einem leisen Lächeln hinweg. Aber alle, Priester wie Gemeinde, machen doch bei den religiösen Veranstaltungen mit; nicht einer will Spielverderber sein. Sie haben zu viel Sinn für die Form, um nicht alles Ritual mit künstlerischem Ernste zu befolgen. Ihr Ernst ist recht eigentlich der des Komö- dianten, der sich mit Leib und Seele in seine Rolle hineinversetzt hat. Heute früh hatte ich im Tempel, wo ich hause, die Frühmesse versäumt. Als ich dem Abte mein Bedauern darüber aussprach, erklärte dieser sich sofort bereit, sie noch einmal für mich zu zelebrieren, da mich das uralte, über Indien wahrscheinlich aus Ägypten stammende Ritual gewiß interessieren würde. Natür- lich geschah dies aus Courtoisie, und ich weiß ihm von Herzen für sie Dank, um so mehr, als dieser Gottesdienst tatsächlich zu den merkwürdigsten gehört, denen ich beigewohnt habe. Immer- hin zweifele ich, ob ein Priester, dem es innerlich ganz ernst ist, in der Höflichkeit so weit gegangen wäre. Japanische Religiosität. 45 1 Es ist schon richtig: religiöse Tiefe im indischen Sinn fehlt dem Japanergemüte. Nirgends spüre ich etwas von dem inneren Erleben, das die Gesichter der Pilger von Benares oder Räme- shvaram verklärt; und die Gespräche gar, die ich mit geistlichen Herren über die Mahäyäna-Lehre gepflogen, verliefen ganz ohne Belehrung für mich. Aber doch scheint mir der Buddhismus in Japan weit mehr lebendige Bedeutung zu haben, als man nach den ersten flüchtigen Eindrücken glauben sollte. Wohl ist der Japaner nicht im indischen Sinne religiös, auch nicht im christ- lichen, dazu gebricht es ihm an Erkenntnistiefe und Einbildungs- kraft; wo er nicht nachdenkt, dort glaubt er, wie das einfache Volk überall, an gewisse wunderbare Tatsachen und Begeben- heiten, und wo er zu denken gelernt hat, zweifelt er. Allein das Denken ist ihm nichts Wesentliches: sein Eigentliches, Tiefstes tritt im Empfinden zutage. Ich sage: in seinem Empfinden, nicht in seinen Gefühlen, seiner Seele, seinem Gemüt; in der Art wie die Oberfläche, nicht die Tiefe seiner Psyche auf die Eindrücke der Innen- und Außenwelt antwortet. Das Innenleben des Japaners spielt sich der Hauptsache nach im Reich der Empfindungen ab, wie beim Kind und der jugendlichen Frau. Hier äußert sich auch seine Religiosität. Das Glauben des Kindes ist kein tiefes Glauben, und doch führt es geradeswegs zu Gott. Seine Art aber ist die lieblichste von allen. So hat die japanische Religiosität, die vom Geiste her gesehen, flach erscheint, im Reich des Empfindens und der Stimmung Wirklichkeiten geschaffen, die zum köstlichsten Besitz des Menschengeschlechts gehören. Es gibt nichts Duftigeres, als die religiöse Lyrik des Landes der Aufgehenden Sonne, nichts Süßeres, als die Konzeption der Liebe, welche Amida und Kwannon versinnbildlichen, nichts Sinnig-Zarteres, als die Vorstellungen, die der japanische Buddhist mit dem Leben nach dem Tode verknüpft. Die Missionare, die das Christentum am tiefsten verstehen und zu- gleich am tiefsten in den höheren Buddhismus eingedrungen sind, sind daher einig in der Überzeugung, daß, wenn unsere Ideen von der Gnade und Liebe auch die tiefsinnigeren an sich sein mögen, die japanischen Vor- und Darstellungen derselben die schöneren sind. Das Konkretisieren spielt sich eben im Reich der Empfindungen ab; in dieser Sphäre steht der Japaner von allen Menschen vielleicht am höchsten. Kein Wunder daher, daß er im Einzelfall, trotz wesentlicher Oberflächlichkeit, an reli- 29* 452 Japanisches Bewußtseinszentrum ruht im Empfinden. giösem Empfindungsvermögen alle anderen übertrifft. Vor allem gilt dies von der Japanerin: ich kann mich nicht satt sehen an den lieblichen Kindern, die sich ehrfurchtstoll vor den gol- denen Tafeln neigen. Von Glauben in indischem Sinne wissen sie nichts; sie wissen wohl nicht einmal, ob sie glauben; sie lachen, wo sie ernst sein sollten. Und doch beseelt sie unver- kennbar die Liebe, deren Ideal Avalokitecvara verkörpert. Fast möchte ich behaupten, sie alle empfinden, wie in Indien vielleicht nur ein Krishna, bei uns nur ein Franz von Assisi empfunden hat; und in ihrem opferfreudigen Dasein, im Verhalten zu ihren Näch- sten üben sie aus, was geistig zu erfassen über ihre Kräfte geht. Dieselben Pilger, die beim Besuch der buddhistischen Heilig- tümer so wenig Weihegefühl bekundeten, erscheinen be- wegt und ergriffen jetzt, wo ein sachkundiger Führer sie durch den Friedhof geleitet. Es ist der beeindruckendste, den ich gesehen; kein Land Europas besitzt ein gleichartiges Denk- mal patriotischer Pietät. Wir folgen einer Allee gigantischer Cryptomerien, die eine gute Meile entlang über den Gipfel des Koya hinführt; bei jedem Steinmonument eines Einzelnen oder eines Geschlechtes macht unser Führer Halt und nennt die Namen. Und da ist keiner, der nicht mit Japans Geschichte auf ewig verknüpft wäre, und keiner der großen Söhne Japans fehlt. Die berühmten Daimyo-Clans haben hier ihre steinernen Wahr- zeichen; hier ruhen die großen Heerführer und Staatsmänner. Wohl sind nicht alle tatsächlich auf dem Koya beigesetzt, aber alle haben auf ihm ihre Gedenksteine und so ist es, als schlum- merte ganz Japan hier. . . . Ich blicke auf die Pilger, die kürzlich noch so leichtsinnig lachten und schwätzten. Jetzt erscheinen sie wie umgewandelt. Ihr Tiefstes, Innerstes ist aufgerührt. Die zier- liche Oberfläche durchleuchtet tiefster Ernst. Heute zum ersten Male habe ich mit Japans Seele Fühlung gewonnen. Sie tritt nicht im Verhältnis des Einzelnen zu Gott zutage, nicht im Glauben an ein Transzendentes, nicht in dessen geistiger oder lebendiger Verwirklichung: sie äußert sich in dem, wie der Japaner zu Japan steht. Patriotismus ist das Tiefste des Japaners. Sein Verhältnis zu seiner Heimat, deren Größe, deren ruhmreichem Fortbestand bedeutet das gleiche, wie dem Inder sein Japanischer Patriotismus; was Tiefe ist. 453 Verhältnis zu Brahman, dem Chinesen seine Gliedschaft im All. Unsereinem fällt es nicht leicht, sich in diese Tiefe hineinzuver- setzen: uns ist sie keine mehr. Aber jeder hat doch Augenblicke gekannt, wo aus dunklem Grund uralte Gefühle in sein Bewußtsein übermächtig einströmten, wo ihm Bluts- und Volksgemeinschaft als tiefere Bindungen erschienen, denn das Verhältnis zu Gott oder zum All. In diesen Momenten war er dem Japaner verwandt. We; aus der Erfahrung solcher Zustände heraus die Japaner- seele zu erfassen sucht, dem stellt diese sich nicht mehr als ober- flächlich dar; der erkennt, daß auch aus ihr das Tiefste, Äußerste spricht- Nur redet sie in einer uns fremden Sprache. Wir können kein Konkretum als tiefsten Sinn verehren, uns kann Loyalität kein Äußerstes sein, wir verstehen die metaphysische Einheit von Land, Volk, Staat, Nation, Familie und Herrscherhaus, die dem nicht allzu verwestlichten Japaner noch heute die lebendige Grundvor- aussetzung ist, nur mit dem Verstände, und das Gefühl der abso- luten moralischen Verpflichtung dem Heimatland als solchem gegenüber dürfte kein noch so patriotischer moderner Europäer in Friedenszeiten kennen. Das Gefühl, das aus den Versen Take Hirose's, des Helden von Port Arthur spricht: Unendlich, wie der Dom des Himmels über uns Ist, was wir unserem Kaiser schulden; Unermeßlich, wie die Tiefsee unter uns Ist, was wir unserer Heimat schulden. Die Zeit ist nun da, unsere Schuld zu bezahlen, wird er nur nachempfinden, wenn die Kriegsgefahr zeitweilig sein Bewußtsein umgewandelt, die Monade zur Zelle im Volkskörper umgeschaffen, wenn er zeitweilig aufgehört hat, als autonome In- dividualität zu existieren. Ihm ist die individuelle Seele das letzte irdische Gewand des Metaphysisch-Wirklichen. Auf sie beziehen sich für ihn alle idealen Forderungen, ihr gegenüber aber erscheint das Vaterland als Oberflächliches. Es ist ein Oberflächliches, vom erkennenden Geiste her gesehen, aber dies bedingt doch nicht, daß die Menschen, die wie die Japaner empfinden, flach wären: ihre Vaterlandsliebe bedeutet ein Allertiefstes. Tief ist jede Lebensäußerung, die im Grunde des Lebens wurzelt. Deswegen sind wohl nur solche Gedanken tief, welche objektiv auf den Grund der Dinge zurückgehen — also wirklich tiefe Gedanken in des Wortes gewöhnlicher Bedeutung — aber in den Sphären des 454 Individualismus erzeugt Weltbürgertum. Wollens und des Fühlens ist Tiefe unabhängig von der objektiven Profundität; dort hängt sie ab von dem Grad, in dem die subjektive Erscheinung das subjektive Wesen spiegelt. Nun wird des Japaners Subjektivität durch die vorhin bezeichneten Vorstellungen definiert; für ihn gibt es kein über-sie-hinaus. Folglich sind sie tief in bezug auf ihn. Ein wesentlich oberflächliches Volk hätte weder das Riesenreußenreich geschlagen, noch vor allem den zähen Opfer- mut gehabt, des es bedurfte, um sich in dreißig Jahren von Grund aus zu reorganisieren. Im Patriotismus kommt des Japaners Tiefstes zum Ausdruck. Dieses Tiefste ist, vom Geiste her gesehen, allerdings ein Ober- flächliches, und insofern bleibt das allgemeine Urteil über ihn, daß er der Tiefe entbehrt, zu Recht bestehen. Überall, wo die Erscheinung auf seinen lebendigen Grund, auf Japan, nicht zurück- geführt werden kann, versagt sein Verständnis, seine Leistungsfähig- keit. Religiös im Sinne des Inders, philosophisch im Sinne des Deutschen, überhaupt tief im Sinn der Spekulation ist er nicht und kann er nicht sein. Aber hier, wenn irgendwo, tritt die Wahrheit zutage, daß jede Erscheinung innerhalb ihrer Grenzen den Atman zum Ausdruck bringen kann. Die Vollendung der Rose bedeutet vor Gott gleiches, wie diejenige Buddhas; jene steht Gott näher als dieser ihm stand, ehe denn er vollendet ward. So ist der voll- endete japanische Patriotismus metaphysisch mehr wert als die höhere Einsicht des Westländers, die auf halbem Wege stehen blieb. Und weiter: die Vollendung der Rose ist ein Absolutum; kein Mensch wird diese je erreichen ; im Sinn der Rose steht er unter ihr. So sind die individualisierteren und tieferdenkenden Völker, wo sie der Ausnahmezustand des Volkskriegs nicht zurückentwickelt, als Patrioten den Japanern unterlegen. Die Inder sind ganz unpatriotisch, da ihr Bewußtsein die Gestaltung tief unter sich sieht, die Chinesen gleichfalls, weil ihr Ideal von China zu hoch ist, um von den Zu- fällen der Geschichte tangiert zu werden; wir Weißen aber, einst den Japanern nahe verwandt, werden in deren Sinne fortschreitend unpatriotischer, (trotz des Anscheins vom genauen Gegenteil, her- vorgerufen durch die Selbstätigkeit des bewußten Geists, der durch nationalistische Theorie ihr entsprechende Gefühlsregungen weckt, und die Interessensolidarität aller im modernen Staat), weil die Heimat auch dem vollendet individualisierten, gleichwie dem voll- kommen vertieften Menschen, kein Äußerstes bedeuten kann, weil Buddhistische und mittelalterlich-christliche Kunst. 455 Individualismus notwendig Weltbürgertum erzeugt. — Das ist ein Fortschritt vom Standpunkte der Erkenntnis. Aber er schwächt den physiologischen Zusammenhang. Dem völkischen Idealzustande steht das Japan von gestern näher als unsere Zukunft. Ich studiere die Gesichter einiger Offiziere, die mit mir durch den Friedhof schreiten; unverkennbar sind sie Samurais. Aus ihren Augen blickt eine Lebensanschauung, die in Europa nur mehr posthume Söhne vergangener Jahrhunderte bekennen. — Ich frage nach einem überaus prächtigen Denkmal, das kürzlich erst errichtet worden ist. Es gilt dem Andenken der im mandschurischen Kriege Gefallenen, sowohl der Russen als der Japaner. — Den Feind zu ehren, ist edelste Ritterart. NARA. Nun schwelge ich in religiöser Kunst. Meinem Gefühl nach hat der Buddhismus das Höchste dieser Art auf Erden hervorgebracht, und viele von dessen herrlichsten Denk- mälern sind in Japan, in und um Nara und Kyoto, zu finden. Wie unspirituell wirken neben jenen Gemälden, wo Amida als die Idee des Lichtes selbst das irdische Dunkel verklärt, der Sonne gleich über den Bergen aufgehend, neben jenen sinnenden und segnenden Buddhas, in denen der Frieden der Seele seine vielleicht endgültige Verkörperung erfahren hat, die höchsten Gebilde der christlichen Phantasie! An Empfindungstiefe standen die schlichten Künstler unseres frühen Mittelalters den buddhistischen wahrschein- lich nicht nach, aber ihr Gefühl brach sich an ihrem Verstand. Sie waren dazu erzogen, die Gestaltungen ihres Glaubens entweder wörtlich aufzufassen — als historische, ja naturwissenschaftliche Tatbestände, die als solche ein Letztes bezeichneten, — oder aber sie allegorisch zu interpretieren, und beide Auffassungen machten Unmittelbarkeit unmöglich. In seltenen Fällen hat sich ihr religiöses Gefühl in der Ausführung biblischer Vorwürfe trotzdem unmittel- bar geäußert, und die wirken dann desto ergreifender; ihre meisten Werke sind nur mittelbare Ausdrücke. Den Buddhisten, gleich allen Abkömmlingen des Indergeistes, waren Dogmen und Mythen 456 Keine Kunst absolut bodenständig. nie mehr als Ausdrucksmittel; nie galten sie ihnen als Substanzen; weswegen buddhistischen Künstlern gelingen konnte, was christ- lichen niemals gelang. Wohl alle Grundkonzeptionen der ostasiatischen religiösen Kunst sind indischen oder gräko-indischen Ursprungs, und das, was zu Borobodur und Angkor Vat von indischer Arbeit erhalten ist, rechtfertigt die Annahme, daß die Hindus auch als Bildner einstmals groß waren. Immerhin: erhalten ist von ihren Werken fast nichts. Das Bedeutendste, was es an geistlicher Kunst im Osten gibt, ist von chinesischen Meistern geschaffen worden, und ihren fruchtbarsten Boden haben deren Ideen nicht in China son- dern in Japan gefunden. Es bedeutet kein Zeichen tiefen Ver- ständnisses, immer wieder auf die Nicht-Bodenständigkeit der japanischen Kunst hinzuweisen: keine Kunst war je absolut auto- chthon; sowohl die griechische als die indische als die chinesische Plastik war insofern vom Auslande abhängig, als ihre Höchstent- wickelung erst einsetzte, nachdem Anregungen von außen den heimischen Genius befruchtet hatten. Allerdings ist die japanische religiöse Kunst bis zum Schluß von ihren Vorbildern abhängig geblieben, hat diese niemals erreicht und nichts Neues aus dem Alten herausgebildet; insofern kann man sie mit der chinesischen wohl nicht vergleichen. Aber echt ist sie trotzdem durchaus, als ein wahrhaftiger Ausdruck des Innerlichen, ja sie ist letzteres in einem weiteren Sinn, als gleiches in China der Fall war. Die Aus- drucksform, die einem am besten entspricht, braucht man nicht notwendig erfunden zu haben; man braucht auch Überkommenes nicht zu ändern, auf daß es der eigenen Persönlichkeit gemäß sei. Fast der ganze Orient zitiert, wenn er einem unmittelbaren persönlichen Erlebnis Ausdruck verleihen will und dies bedeutet bei ihm nicht, wie unter uns, entweder Impotenz oder Geschmack- losigkeit, sondern das Sich-Wieder-Erkennen der Seele in gewissen einfürallemaligen Gestaltungen, gleichwie die Natur sich in gleich- bleibenden Formen immerfort in unverminderter Ursprünglichkeit erneut. Die Formenwelt nun der buddhistischen Kunst entspricht der japanisch-buddhistischen Religiosität so vollkommen, wie sie im schon damals durch und durch konfuzianischen China wahr- scheinlich nur im Falle weniger Ausnahmeseelen entsprochen hat, — gleichviel ob diese Korrespondenz präxistierte oder umgekehrt a posteriori durch den Einfluß des Buddhismus auf die Japaner- Buddhistische Kunst als Normalausdruck japanischer Religiosität. 457 psyche geschaffen ward — so daß sie in Japan überall ein getreues Sinnbild des geistlichen Lebens darstellt. Es ist japanische, nicht chinesische Seelenstimmung, die aus den süßen Kwannonbildnissen spricht, die diskrete und doch reiche Chromatik der Mandaras ist der Abglanz japanischer, nicht chinesischer Innerlichkeit. Man könnte sagen: wenn alle Formen und Farben bis auf die letzte auf dem Kontinent erfunden worden wären, und es hätte keine Japaner gegeben, die sie zu sich hinübernahmen, so wäre der letztmögliche Zusammenhang zwischen Kunst und Leben unge- knüpft geblieben. In Japan ward die buddhistische Kunst zum normalen Ausdruck des religiösen Empfindens; für einen Fra Angelico in Toscana hat es dort hunderte gegeben. Viele Heilige und Kirchenväter waren gleichzeitig Maler und Bildhauer; die Mehrzahl der Statuen und Gemälde, die in den alten Tempeln vorgewiesen werden, sind von Priestern und Mönchen geschaffen worden. Man wird einwenden: aber die Japaner sind nicht spirituell; wie soll ihnen die spirituellste aller Künste gemäß sein? Hierauf ist zunächst vorbeugend zu erwidern, daß wenn die heutigen Japaner selten spirituell sind, hieraus nicht folgt, daß die Dinge immer so lagen. Der Begriff eines Volkes, einer Rasse entspricht immer nur innerhalb bestimmter Zeitgrenzen einer gegebenen Definition Die Juden von heute würden keine Bibel erdichten, den amerikanischen Geschäftsleuten des 20. Jahrhunderts ist nicht anzumerken, daß ihre Urahnen aus religiösen Motiven über den Ozean entwichen waren, um ein Reich der Heiligen auf Erden zu begründen. Wohl darf das unvermischte Blut als Konstante in der Gleichung berücksichtigt werden, aber die Veränderlichen sprechen deutlich mit und geben nicht selten den Ausschlag. Die Variable der Christianisierung hat im Lauf der Jahrhunderte, trotz aller vorhandenen Konstanten, die noch so verschiedenen Rassen des Westens psychisch dermaßen vereinheitlicht, daß der Nicht-Europäer sie kaum von einander unterscheiden kann. Ähnliches hat der Buddhismus bewirkt. Zwar hat er, seinem weicheren Charakter gemäß, das äußere Leben auch nicht annähernd so stark beeinflußt. Dafür hat seine größere Spiritualität zu Wirkungen geführt, die das Christentum im gleichen Maße nie erzielt hat: er hat von Hause aus unspirituelle Völker, in einigen ihrer Äußerungen zum mindesten, spirituell gemacht. Die antimetaphysischen Chinesen haben als 458 Äußerster Ausdruck eines Spirituellen stets von Materialisten gefunden. buddhistische Künstler Höhen metaphysischen Wissens erklommen, wie kaum ein anderes Volk; und die Japaner, deren geistige Rassen- konstante wohl von jeher matter-of-factness war, sind durch das Licht des Mahäyäna auf Jahrhunderte hinaus so sehr erleuchtet worden, daß gerade ihre matteroffactness zu spirituellen Leistungen führte. Schließlich ist das religiöse Erleben ebenso reine Empirie, wie das des Weltkindes; nur vollzieht es sich in einer anderen Sphäre, zu der aber jedem der Eingang offensteht. Ein Lichtstrahl vom Kleinod auf der Stirn des Buddha hat ihn den Japanern ge- wiesen. Solang sie sich von ihm erleuchten ließen, haben sie Gött- liches schauen und vollbringen können. Heute, angesichts der Herrlichkeiten Naras, habe ich endlich Klarheit gewonnen über das Problem, das mich seit Koya be- schäftigt: wie es nur möglich ist, daß die Japaner, die doch „nicht wissen, was sie tun", in vielen Hinsichten als Vollender der indischen Weisen gelten dürfen: es hängt unmittelbar zusammen mit dem anderen, daß die allwissenden Inder sich kaum je voll- wertig ausgedrückt haben und Ähnliches von den Deutschen gilt; daß die bisher dauerhaftesten Gestaltungen des europäischen Geists nicht von den tieferen Germanen, sondern Romanen herrühren; und sein Sinn ist der, daß der äußerste Ausdruck eines Spirituellen nie von spiritualistisch, sondern von materialistisch gesinnten Völkern gefunden wird. [ Ich verwende hier den Begriff „materialistisch" natürlich in einem viel weiteren Sinne, als dies üblich ist; als Ge- samtbezeichnung für alle der Erscheinung als solcher zugewandte Geistesrichtung. ] Zur Herrschaft über die Materie bedarf es der Organe, die ihr vollkommen gewachsen sind, zumal ent- wickelter Sinne; der Geist als solcher tut es nicht. Da nun ein gleicher Mensch nie gleich vollkommen als Geist und als Sinnen- wesen ausgestattet ist, da zwischen beiden Anlagen vielmehr ein antinomisches Verhältnis besteht, so hat der materialistisch Ge- sinnte in der Erscheinungswelt am meisten Erfolg. Nun ist aber auch der Ausdruck eines Spirituellen unter allen Umständen in der Sphäre der Phänomene belegen; den besten findet nicht der Durchgeistigteste sondern der, welcher den Geist am besten zu materialisieren weiß: und der ist wieder der Materialist. Zwar erkennt er das Spirituelle als solches nie von selbst, aber ward es ihm gezeigt, dann erfaßt er es am besten: weswegen die vollendetesten Fassungen geistlicher Wahrheiten von Dichtern, Warum die Meisterwerke buddhistischer Kunst aus Ost-Asien stammen. 459 nicht von Heiligen und Philosophen stammen. Nun ist aber der Geist in jedem Einzelnen gegenwärtig, jeder kennt ihn, ob er's weiß oder nicht. So erklärt es sich, daß materialistische Völker, denen von selbst nie spirituelle Einsichten aufgegangen wären, deren Ausdruck, kaum daß sie mit ihm bekannt wurden, verstanden und gewürdigt haben. Der höhere Buddhismus fand in China und Japan sofort Verständnis, und nicht lange nachher seine sublimsten Ausdrucksformen, weil eben die Völker des Fernen Ostens über ein unvergleichliches Ausdrucksvermögen verfügen und die Grund- ideen, die sie nie gefunden hätten, vorlagen. Die materialistische Grundanlage der Chinesen und Japaner gibt somit kein Rätsel auf in bezug auf ihre religiöse Kunst, sondern macht diese im Gegenteil begreiflich. — Was nun Japan im besonderen angeht, so steht es zu China im typischen Verhältnis des Schülers, der das Werk seines Meisters vollendet. Der Pionier bricht sich durch die Materie mühsam Bahn; selten lebt er lange genug, um sich ganz auszusprechen, selten liegt ihm auch daran, das Letzte zu sagen. Sein Schüler, dort anhebend, wo jener aufhören mußte, führt aus, was er vorgezeichnet hatte. Und ist er subtilen Geistes, mit Verständnis für das eigene Leben der Form, dazu von Ge- schmack und Sinn für die Nuance, so wird ihm zuteil, die Kon- zeption seines Meisters, die als solche seine Kräfte weit überstieg, zur äußersten Vollendung zu bringen. Das ist es, was die besten der religiösen Künstler Japans auf dem Gebiet der buddhistischen Formenwelt geleistet haben; ihnen verdankt diese ihren Schmelz, ihre Süße, ihre franziskanische Innigkeit. Tief religiös, wie die Inder, sind die Japaner niemals gewesen; aber innig religiös, gerade im franziskanischen Sinne, waren sie wohl. Der Heilige Geist hat sich ihnen als solcher nie geoffenbart, aber er hat ihr Empfinden verklärt. Und vermittelst dieses verklärten Empfindens Bildnisse geschaffen, die ihm gleichsehen, wie sonst nichts auf dieser Welt. Wieder einmal, angesichts der Kunstschätze Naras, über- mannt mich der Eindruck der Katholizität des Geistes der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Was war das für eine grandiose Synthese, welche indische Weisheit, griechische Formen, alexandrinische Lehren, christoide Dogmen in sich be- 460 Höherer Buddhismus und Christentum. schloß! Im Tempel von Horiüji thront ein Buddha aus Korea: die spezifisch ost-asiatische Erscheinung verdichtet in sich gleich- wohl allen Sinn, der zwischen Nil und Indus je erfaßt ward. . . . Und dabei handelt es sich nirgends um Eklektizismus. Jener wundersame Impuls zur Liebe, der im Westen den Stoiker zum Christen, den Stolzen zum Demütigen umschuf, der im Herzen des Judentums, das nur von Gerechtigkeit wußte, die sublimste Gnadenreligion entstehen ließ, der den selbstgenügsamen Asketen des frühen Buddhismus zum Bodhisattva verwandelte, welcher den Eid schwur, nicht ins Nirwana einzugehen, solang noch eine Menschenseele unerlöst in irdischen Banden schmachtete, hat wirklich verschmolzen, was in der Theorie allenfalls vereinbar schien. Aber wenn ich nun die beiderseitigen Endprodukte dieses Prozesses im Geist vergleiche — das Christentum im Westen und im Fernen Osten den japanischen Buddhismus — dann muß ich mich wieder einmal neigen vor der größeren Erkenntnistiefe und der höheren künstlerischen Ausdrucksfähigkeit des Morgen- landes. Um wie viel wahrer ist die Lehre des Mahäyäna als die so gleichsinnige des Christentums! Wo bei uns bornierte Afrikaner und unphilosophische Römer, günstigstenfalls wortklauberische Griechen die Lehre fortbildeten, haben dies im Osten weise Inder getan; und wo bei uns wörtliche Auffassung und allegorische Ausdeutung des christlichen Mythos dessen Formen zu einer Art Hieroglyphenschrift verballhornte, die außerstande war, ein Ge- meintes unmittelbar auszudrücken, hat der künstlerische Feinsinn des Orients aus nahezu identischen Gestaltungen eine Sprache ge- schaffen, die mit wohl unerreichter Unmittelbarkeit das Ewige als Erscheinung offenbart. Amida ist nichts anderes als unser Er- löser, Kwannon nicht verschieden in 3er Idee von jener Maria, die den weiblichen Aspekt göttlicher Liebe inkarniert; Sukhavati ist identisch mit unserem Himmel. Aber während diese Mythen der Christenheit bis zum heutigen Tag naturwissenschaftliche Tat- sachen geblieben sind, oder schlimmer noch, als Allegorien von ihr verstanden werden, hat sie der Osten nie anders als symbolisch aufgefaßt. In Indien philosophisch-bewußt, in China halb bewußt, halb instinktiv; in Japan wahrscheinlich ganz unbewußt, mit der kindlichen Naivetät des echten Künstlers. Immer wieder komme ich auf das Wort des Gekreuzigten zurück: sie wissen nicht, was sie tun. Die Japaner sind sicher ganz unschuldig am Wunder ihrer Mahäyäna und Theosophie; Unüberwindlichkeit der Rassenanlage. 461 geistlichen Kunst; desto unschuldiger, als sie ja wirklich haupt- sächlich anderen nachgeahmt haben. Aber ihre „Kopien" sind spiritueller als unsere Originale. Im Sinne der Spiritualität ist und bleibt das Maximum die indische Weisheit und deren vollkommenstes Ausdrucksmittel der chinesisch-japanische Künstlersinn. Wie wenig nützt hier Ver- standesbegabung! Ich denke zurück an meine Erlebnisse in Adyar und an die Lehren der modernen Theosophie. Die sind beinahe identisch mit denen des Mahäyäna, und dessen intellektuellem Ge- halt sind die Theosophen wohl besser gewachsen als die Japaner. Gleichwohl steht der japanische Buddhismus turmhoch über der modernen Theosophie. Die gellt mit den indischen Lehren nicht weiser um als unser Mittelalter mit den griechisch-christlichen: auch sie faßt wörtlich auf oder allegorisiert; auch ihre Synthese ist ein äußerliches Aggregat. Die Rassenanlage scheint doch un- überwindlich; Angelsachsen bleiben Angelsachsen, ein praktisches aber unspirituelles Geschlecht, selbst wo sie sich zum Mahäyäna bekehren. Möchten nun auch die Japaner Ost-Asiaten bleiben, trotz ihres Triebes zur Verwestlichung. Ja, die Rassenanlage ist ein Äußerstes überall, wo Glaubens- und Einbildungskraft nicht außerordentlich groß sind. Bei den Japanern sind beide ausnehmend gering, weshalb das Blut bei ihnen ungewöhnlich viel bedeutet. Es ist nicht wahr, wie oft es behauptet wird, daß sie, als Nachahmer, in hohem Grade ver- wandelbar wären; zur Verwandlung bedarf es der Phantasie. Sie sind sich vielmehr gleicher geblieben durch allen Wechsel hindurch, als irgendein Volk. Welchem Einfluß sie sich auch hin- gaben — dem koreanischen, chinesischen oder europäischen — wesentlich verändert hat sie das nicht. Wie dies mit besonderer Anschaulichkeit die Geschichte des japanischen Buddhismus illustriert. Die Mönche von Nara waren berüchtigt wegen ihres Raub- rittertums. Nicht im mindesten hatte die sanfte Weisheit der Inder auf die kriegslustigen Reisigen erschlaffend eingewirkt — jene hatte sich vielmehr deren Gesinnung anbequemt. Beinahe so- gleich verschmolz der Buddhismus mit dem eingeborenen Ahnen- und Götterkult, legte sich bald darauf einen richtigen Kriegsgott 462 Katholische und buddhistische Heilige; Franziskaner tum. an, und nicht lange währte es, bis daß die buddhistischen Klöster den Regenten mehr zu schaffen machten als die unruhigsten Vasallen. Nur auf den Teil und die Seiten der Japaner hat die indische Weisheit als solche unmittelbar eingewirkt, denen sie von vornherein entsprach: auf die Frauen und auf den Künstler- sinn. Die Japanerin ist geborene Buddhistin, in ihrem sanften Dulden, ihrer selbstlosen Innigkeit; und als Künstler ist der Japaner dem Inder nahe verwandt. Immer deutlicher erkenne ichs: in bezug auf das japanische Volksleben bedeutet die buddhistische Kirche, soweit sie wirklich buddhistisch ist, nur einen künstlerischen Rahmen, nicht mehr. Aber gerade darum wohl hat sie dem Einzelnen, zumal der Frau, hie und da so sehr Persönliches bedeutet. Die katholische Kirche war vor allem ein Staat; sie hat mehr Völker als Einzelne erzogen, mehr der Menschheit als dem Menschen ein Hort sein wollen. Deshalb fehlen katholischen Hei- ligen die intimen Züge, welche buddhistische so lieblich erscheinen lassen. Ein einziger unter jenen scheint diesen vergleichbar: der Heilige Franz. Es ist die Zeit der Wistaria-Blüte. Bis zu den Spitzen der trotzigen Tannen im Park ranken sich die lieblichen Schling- gewächse auf. So haben sich das Rauhe und das Süße in Japan stets wunderbar ergänzt. Dem Weib die Liebe, dem Mann der Kampf; für sie der Buddhismus, für ihn das Shintö. Aber für beide Bushido, der Geist stolzer, aufwärtsstrebender Reinheit: von den möglichen Formeln, die das Widerspruchsvolle zur Ein- heit versöhnt, scheint mir diese nicht die schlechteste zu sein. Schon mehrfach berührte ich den franziskanischen Charakter des Tiefsten und Besten an der japanisch-buddhistischen Religiosität; bei diesem Konvergenzpunkt östlich-westlichen Wesens muß ich doch etwas länger verweilen. Ohne Zweifel hat das Süße, das Liebliche, das Zarte hier wie dort den gleichen Grundgeschmack; freilich hat es im Fernen Osten den höheren Grad der Durchbildung erreicht. Aber das Franziskanertum er- schöpft sich nicht im Süßen. Ich muß an eine Bemerkung Alfred Webers denken: der entsprechende Ausdruck eben des Geistes, der einst im Franziskanerorden seinen Körper fand, sei heute — die Heilsarmee. Wahrscheinlich ist dem so. Nicht der Asiaten psychisch magerer als wir. 463 ganze Geist des heiligen Franziskus geht im Innig-Süßen auf. Und für das andere, das Leidenschaftlich-Tatkräftige, fehlt im Osten das Äquivalent. Missionare würden natürlich sagen, dieser Unterschied gehe auf die Überlegenheit der christlichen Lehre zurück, und so viel ist gewiß: sehr ähnliche Grundideen haben in christlicher Verkör- perung ungleich größere Kraft bewiesen. Aber woher komm1> letzten Endes diese größere Kraft? worauf beruht es, daß franzis- kanischer Geist in Japan nur Süßes, in Europa sowohl Süßes als Gewaltiges hervorgebracht hat? Wohl schwerlich auf der Lehre Christi an und für sich, sondern auf der Naturanlage derer, von denen sie Besitz ergriff; die Mahäyäna-Lehre hätte unter uns wahrscheinlich gleiches gewirkt. Ich vergegenwärtige mir die Seele des heiligen Franz: mit solchem Feuer hat die Liebe in keinem Japanerherzen je gebrannt; solche Leidenschaft hat kein Heiliger des ganzen Orients, wenn ich den Islam ausschließe, je gefühlt. Was den christlichen Bhakta vom asiatischen letzt- lich unterscheidet, ist das sehr viel größere Energiequantum, über das er verfügt. Somit beruhen die Vorzüge des Christentums vor dem Buddhismus, soweit solche in Frage kommen, wohl vielfach auf physiologischen Umständen; auf dem dichteren, dankbareren Stoff, mittels dessen sein Geist sich hat auswirken können. Nie bin ich unter Asiaten einem Menschen begegnet, dessen psychischer Körper so voll und reich wäre, wie bei uns schon im Fall des höheren Durchschnitts; alle, soweit ich sie kenne, sind psychisch mager im Vergleich mit uns. Von diesem Gesichtspunkte aus entfalten sich, wie mich be- dünkt, recht interessante Ausblicke auf unseren vermeintlichen Materialismus und des Ostens vermeintliche Spiritualität. An den Tatsachen ist natürlich nicht zu rütteln, aber ihre Bedeutung ist doch nicht ganz die, welche ihnen gemeiniglich zuerkannt wird. Wohl stellt sich Spiritualität im Orient meist spiritueller dar als im Abendland, aber daraus folgt nicht notwendig, daß jener wirk- lich dem Geiste näher sei: es braucht nur das daraus zu folgen, daß er einen mageren Körper trägt. Sicher ist diese Deutung in vielen Fällen richtig, und was Japan betrifft, vermutlich durchaus. Auch vieles von dem, was an Indien bewundernswert scheint, mag hier seine wahre Ursache haben: es ist nicht eben schwer, zu ver- zichten, wenn man dürftige Leidenschaften hat. So viel steht außer 464 China* s Größe; ein japanisches Trauerspiel. Frage: je reicher der Körper, desto bessere Ausdrucksmöglichkeiten hat der Geist. Das beweisen unser Beethoven, unser Bach; denen kommt nichts Östliches gleich. Das beweist am eindrucksvollsten wohl China. Wo immer es möglich erscheint, Chinesisches mit Japanischem einerseits, mit Indischem andrerseits zu vergleichen, überall also, wo entweder ein identischer Geist den jeweiligen Kulturgebilden zugrunde liegt oder wo identische Ausdrucks- mittel benutzt wurden, beeindruckt die größere Substantialität der chinesischen Gestaltung. Sie wirkt nicht nur robuster, stofflich- bedeutsamer, ist nicht allein schärfer umrissen, kraftvoller aus- geführt — sie wirkt wie aus größerer Tiefe beseelt. Um die Tiefe an die Oberfläche zu bringen, bedarf es eben der physischen Kraft; und je mehr Oberfläche auf den Grund zurück- geführt oder vom Grunde her durchleuchtet wird, desto deutlicher tritt dies hervor. Die Chinesen sind die substantiellsten der Asiaten; sie sind die einzigen Menschen, die ich wüßte, deren psychischer Körper den Vergleich mit dem unserigen aushält. Deshalb hat die orientalische Spiritualität ihren irdisch stärksten Ausdruck in China gefunden. KYOTO. Noch bin ich tief ergriffen von der Tragödie, die sich auf den Brettern vor mir abgespielt hat. Es war ein berühm- tes historisches Drama, meisterhaft geführt, meisterhaft dargestellt, schon insofern ergreifend; aber was mich überwältigte, war das Rathos der Stimmung, die das Psalmodieren alter Volks- weisen zur stummen Pantomine, welche die eigentliche Handlung in rhythmischen Abständen ablöste, über dem ganzen verbreitete: ich erlebte eine vollendete Evokation des Mittelalters. Dieses liegt in Japan ja nicht weit zurück; noch sind die ihm entsprechenden Bewußtseinszustände und Ausdrucksformen den Alten aus persönlicher Erfahrung vertraut, so daß es in Japan leichter gelingt, als in Europa, seinen Geist zu beschwören. Und dann trug dieser hier überhaupt viel krasseren Charakter, wement- sprechend seine Gestaltungen stärker wirken. Ich glaube nicht, Das japanische Mittelalter; Konvention als Natur. 465 daß die Tugenden des Samurai aus so tiefen Wurzeln sprossen, wie die des fränkischen Rittersmanns; Vasallentreue, Ehrgefühl und Todesverachtung bedeuteten bei diesem wahrscheinlich mehr. Aber dank der eigentümlichen japanischen Anlage, welcher Darstellung und Sein nahezu gleiches bedeuten, der stilisierende Übertreibung natürlich ist, traten sie bei jenem pittoresker in die Erscheinung, weshalb das japanische Mittelalter an szenischem, überhaupt an künstlerischem Wert das unsere übertrifft. Der Inhalt des Schau- spiels, dem ich beiwohnte, ist ungefähr wie folgt: Der Lehnsherr hat einem Vasallen-Clan eine wertvolle Schriftrolle anvertraut. Das- jenige Glied desselben, das sie bewahrt, beweist einer Dame seines Hofs mehr Zuneigung, als seiner stolzen Gattin gefällt. Diese beschließt, die Rivalin zu verderben. Zu diesem Zweck ent- wendet sie die Rolle, so daß der Vertreter des Lehnsherrn, der sie gleich darauf zurückfordern kommt, die Kiste leer findet. Irgend jemand muß den Schatz gestohlen haben. Die Schloß- herrin bezichtigt das verhaßte Fräulein dieser Tat und züchtigt sie drauf — die größte Schmach, die eine Edelgeborene befallen kann — vor versammeltem Hof mit ihrem Schuh. Auf diese Er- niedrigung hin verübt die Verleumdete Selbstmord. Deren treue Dienerin jedoch rächt ihren Tod, indem sie die moralische Mör- derin mit der gleichen Sandale wieder schlägt und dann in ritterlichem Zweikampf fällt. — Die Fabel ist einfach genug, und für unsere Begriffe wenig bedeutsam; uns scheinen ferner die tragischen Motive nicht in der Tiefe der Menschennatur, sondern in oberflächlicher Konvention begründet. Aber diesen Menschen war die Konvention Natur. Und wer unter dem Ein- fluß vollendeter Bühnendarstellung von der Atmosphäre des japanischen Mittelalters innerlichst ergriffen ward, dem tritt aus dem scheinbar Gekünstelten das Reinmenschliche ebenso er- greifend-nackt entgegen, wie aus der griechischen Schicksals- tragö^ie. Auch das „Schicksal" war schließlich Konvention — wir glauben nicht mehr an seine Macht; auch die Leidenschaften, wie sie seither als Motive verwandt werden, sind keine not- wendig bedingenden Ursachen — denn der Mensch kann über ihnen stehen; bloß darauf kommt es an, wo er tatsächlich steht. Identifiziert er sich wirklich und vollkommen mit einem törichten Vorurteil, dann gewinnt dieses die Tiefe der Natur. Die Intensität des Erlebens nun war beim mittelalterlichen Menschen so groß, Keyserling, Reisetagebuch. 30 466 Das Ende des Edelmanns; Tierarten als Vorurteil. daß seine Vorurteile mehr Pathos bedingen, als unter Modernen metaphysische Tragödien. Ich empfinde so etwas wie Wehmut. Erklärlich genug: so sehr ich auch Geistesmensch bin — die Grundinstinkte des Ritters spüre ich dennoch sehr lebendig in mir, und diese passen nicht mehr in diese Zeit; des Edelmannes Tage sind gezählt. Welche Verblendung, darin das Zeichen eines unbedingten Fortschritts zu sehen! Allerdings beschließen die typischen Züge des Edelmanns keine absoluten Werte, aber solche wohnen keiner Gestaltung inne; alle sind nur bestimmte Lebensformen, als solche nicht wesentlich notwendig, bedingt, beschränkt, dem Wandel unterworfen und in der Betrachtung zumal beim Menschen leicht als zufällig zu er- kennen, weil die Grenzen, die hier einen Typus vom anderen scheiden, geistige sind: Einseitigkeiten, Eigentümlichkeiten, Vor- urteile. Allerdings erscheint der ritterliche Ehrbegriff der Theorie als Vorurteil, aber Gleiches gilt von der Standesehre des Kauf- mannes, und erst recht von der „Voraussetzungslosigkeit" des Freidenkers. Die Frage ist, welche Vorurteile die besseren sind? Im Prinzip ist es vielleicht sinnlos, so zu fragen: ein Hirsch zu sein, ist vom Standpunkte des Pferdes ein Vorurteil und um- gekehrt; alle Gestaltungen sind ein Ausdruck des Innerlich-Not- wendigen im Rahmen des Äußerlich-Möglichen, ergänzen sich wechselseitig, verwandeln sich mehr oder weniger korrelativ. Aber es gibt dennoch bessere und schlechtere Vorurteile in dem Ver- stand, daß nicht jede Konstellation die Realisierung gleicher Werte zuläßt und manche überhaupt verloren gehen, wenn eine bestimmte Lebensform ausstirbt. In diesem Sinne steht der Ritter turmhoch über den Typen, welche heute unaufhaltsam an seine Stelle treten; an moralischem Mut, Idealismus, Selbstverleugnung, an Treue, Gesinnungsadel und Nichtachtung materieller Vorteile kommt keiner ihm gleich. So daß die Menschheit durch das Aus- sterben des Ritters einen unersetzlichen Verlust erleidet. Wohl beginnt heute ein Typus auszukristallisieren, welcher, ähnlichen Geistes wie der Ritter, diesem insofern überlegen ist, als er durch weniger spezielle Vorurteile zusammengehalten wird und der individuellen Anlage mehr freien Spielraum gewährt: das ist der intellektualisierte und universalisierte englische Gentleman. Aber der ist noch viel schwieriger darzustellen als jener, wes- wegen fraglich bleibt, ob er je dominieren wird. Es bedarf Warum die Aristokraten heute entarten. 467 einer ungeheueren angeborenen Kultur, die in unseren Tagen aus- schweifender Blutmischung selbst die Träger größter Namen nicht besitzen, und einer Fähigkeit der bewußten Selbstbeschränkung, welche den Idealen des emanzipierten Durchschnitts stracks zu- widerläuft, um in diesem höchsten Sinne Edelmann zu sein. Noch sind die wenigsten zur Freiheit reif, noch sind weitaus die meisten Herdenmenschen und unfähig, sich außerhalb gemeinschaftlicher Bindungen zu vollenden. So treten sie, wo sie die alten zer- rissen haben, in neue Zusammenhänge ein, die viel oberflächlicher begründet sind als die historisch gewordenen. Heute schließen sich die Reichen zusammen: es war besser, als dies die Edlen taten. — Ich werde bitter. Wie sollte ich es nicht werden, da ich mitansehen muß, wie der Zug der Zeit die Typen, welche die edelsten sein sollten, unaufhaltsam niederzieht? Unter den Trägern großer historischer Namen gibt es schon erschrecklich wenig echte Aristokraten mehr. Es liegt in der Natur der Dinge begründet, daß ein Organ, das sich nicht entsprechend betätigen kann, ent- artet. Dieses geschieht auf zwei Wegen, je nachdem ob der Nachdruck auf dem „entsprechend" oder dem „betätigen" ruht: die starren Reaktionäre degenerieren, weil sie gar nichts tun; die fortschrittlichen hingegen, weil sie, wo sie ihrer Eigenart ent- sprechend nicht mehr leben können, sich auf anderen Bahnen ver- suchen, und auf diesen, wo die ererbten Instinkte versagen, direk- tionslos sind. Heute müssen sich die meisten Landedelleute als Kaufleute betätigen. Da sie nun von Natur keine sind, und nur durch Verstandesüberlegungen dabei geleitet werden, so lügen sie in metaphysischem Sinn, wo sie Geschäfte machen, was sich in der Erscheinung darin äußert, daß sie oft unvornehmere Geschäfts- männer sind als die Händler von Beruf. Im Blut liegt ihnen allein die ritterliche Standesehre, die spezifische Moralität des Händlers ist ihnen ein Fremdes, weshalb sie auf ihrer neuen Bahn nur allzu oft einer niedrigeren Klasse angehören, als die Vertreter alter Kaufmannsgeschlechter. Die Typen der Menschheit sind nicht ver- tauschbar und leider nur in geringem Maß verwandelbar. Hier bietet Japan das belehrendste aller Beispiele. In diesem Land ist die Moderne unmittelbar auf das Mittelalter gefolgt, die Ära der ökonomischen Gesichtspunkte unmittelbar auf die des Kreuzritter- tums. Was war die Folge? — Unter Rittern ist der Krämer stets verachtet, und Verachtung erstickt den Edelsinn im Keim. Also 30* 468 Warum Edelleute oft unvornehme Geschäftsmänner. waren die japanischen Kaufleute im Gegensatz zu den chinesischen typischerweise niedrig gesinnt. Die Ritter nun haben im Kriege ihren Ritterwert schlagend bewiesen; und daß die typisch-ritter- liche Gesinnung auch heute noch lebendig ist, habe ich selbst zu erfahren vielfach Gelegenheit gehabt; oft hat mich die Ähnlich- keit des japanischen mit dem baltischen Edelmann frappiert: dort wie hier eine fast donquichotteske Verachtung des Geldes, hier wie dort eine sonst kaum mehr anzutreffende Großzügigkeit und Großmut. Aber heute sind die meisten Samurais materiell nicht in der Lage, auf die alte Art fortzuexistieren, heute müssen sie sich, um nicht zu verhungern, am ökonomischen Wettbewerb be- teiligen, und hier werden sie durch keine sicheren Instinkte orien- tiert. So verlassen sie sich ausschließlich auf ihren Geschäftsver- stand und da dieser nur weitsichtig ist, wo er von fester Charakter- basis aus arbeitet, so ist der Erfolg eben der, welcher allen vor Augen liegt: noch bin ich im Osten keinem weißen Geschäftsmann begegnet, der den Japaner nicht für einen niedrigen, gemeinen, ganz unzuverlässigen Gesellen hielte. — Während nun die mittel- alterliche Tragödie sich auf den Brettern abspielte, erschienen die Gesichter aller, auch der europäisch gekleideten Japaner verklärt; es vibrierten Saiten in ihnen, die das moderne Leben nicht mehr zum Anklingen bringt. Und diese Saiten sind die tieferen, volleren, reineren — in Japan wie auf der ganzen Welt. Der Charakter Kyotos ist verschieden von dem aller Städte, die ich in Japan bisher besucht: es ist der einer Metropole, die alle Formen des Lebens im weiten Reich zu großartiger Einheit zusammenfaßt. Ich besichtige die Sehenswürdigkeiten: die Denkmäler der Hofkultur, prunkhafter Vasallenmacht, eines groß- artig-verschwenderischen Prälatentums und jenes herben, männlichen Kriegersinnes, der die endgültige Erhebung Japans herbeigeführt hat; und staune über die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, in denen das Leben sich hier einst geäußert hat. Welche Ähnlichkeit bestand zwischen den exquisit gebildeten Höflingen, mit ihrer femininen Empfindsamkeit, ihrem zartsinnigen Künstlertum und den rauhen, männlichen Samurais? Zwischen den amazonenhaften Kaiserinnen der alten Zeiten, den großen Künstlerdamen des Mittelalters, welchen Japan das beste seiner Literatur verdankt, und den spartanisch gesinnten Rittersfrauen? Jeder dieser Typen kann Kyoto und Versailles ; Hof sc kränzen und Pinguine. 469 als besondere Menschengattung gelten, ist auch immer so beurteilt worden. Und vergleiche ich mit dem gegliederten Japan von einst das einförmige von heute und gedenke zugleich der nahen Zu- kunft, wo die Nivellierung vollendet sein wird, so überkommt mich wieder eine Stimmung der Bitterkeit. Gar zu töricht ist das Mißverständnis, daß die Aufhebung der sozialen Abgrenzungen die Differenzierung des Menschen begünstigen soll! Freilich begünstigt sie die individuelle Differenzierung — aber was bedeutet diese im Verhältnis zur typischen, die sie im Keim erstickt? Unter höchstindividualisierten Völkern geschieht es nur ausnahmsweise, daß eine Individualität als solche wertvoll sei; umgekehrt sind die Typen, die aus noch so unpersönlichen auskristallisieren, ohne Ausnahme Träger von Menschheitswerten, welche verloren gehen, wenn die Grenzen zwischen den Typen verschwommen sind. Der Mensch ist nun einmal ein Unterschieds- wesen, wird sich seiner Eigenart nur in bezug auf Andersartiges bewußt; aus diesem Grunde blüht höhere Kultur nur tn aristo- kratischen Gemeinwesen. Die Unterschiede zwischen Individuen, die in demokratischen die zwischen den Typen ersetzen, sind zu gering und vor allem zu oberflächlich, um im gleichen Maße anspornend zu wirken. Diese Wahrheiten illustrieren die Japaner wie kein zweites Volk. Sie sind, wie alle Kenner übereinstimmend behaupten, ausgesprochen unpersönlich, haben auffallend wenig Sinn für das Individuelle. Um so mehr verlieren sie, indem sie sich der Möglichkeit typischer Gestaltung begeben. Der Hofmann von einst war raffiniert im Gegensatz zum rauhen Samurai, und dieser männlich und stark im Gegensatz zum verfeinerten Daimyo; die Edelfrau war streng und selbstbeherrscht im Bewußtsein ihrer Überlegenheit über ihre naturwüchsigen Dienerinnen. Heute fühlen alle Japaner sich mehr und mehr als gleich, streben vor allem dar- nach, „moderne Menschen" zu sein. Und das macht sie zusehends banaler. ... Aber noch herrscht in Kyoto die psychische Atmosphäre der alten Zeit, noch dominiert in ihr der Geist der Residenz. Mir wird zu Mut, wie manchmal in Versailles, wenn ich im Lichte der Oktobersonne durch die halbverwilderten Alleen schritt. Ich fühle mich als Hofmann; die Etikette schematisiert meine Im- pulse; Schein ist mir höchste Wirklichkeit, Formel Wesen. Und diese Verfassung beengt mich nicht: hier bedingt gerade sie größt- 470 Japanische Zimmereinrichtung; Wesen des Geschmacks. mögliche innere Freiheit. Im Versailles Ludwig XIV. konnte allein der vollendete Höfling unbefangen sein. Ähnlich war es in Kyoto. In dessen verkünstelter Gesellschaft, von Puppenkaisern vorgeblich beherrscht, von Favoritinnen regiert, Intrigen durch- setzt, war nur die Schranze ganz in ihrem Elemente. Aber diese erschien erstaunlich substantiell. Dank der japanischen Anlage, die in so seltsamer Weise Sensitivität, Phantasielosigkeit und Matter- of-factness in sich vereint, konnten die Höflinge hier vollkommen echt sein. Sie waren so echt wie die Pinguine, die auf den Eis- feldern der Süd-Polarregion ihre Tage in Höflichkeitsbezeugungen zubringen. In den höchstgestellten Kreisen des alten Japan pflegten Zimmer- einrichtungen und die Trachten der Frauen im Zusammenhang - mit dem Kreislauf der Jahreszeiten eine zyklische Verwand- lung zu erfahren. Nie war ein Interieur dort sommerlich gestimmt, während es draußen schneite und stümte, nie hätte eine japanische Orande-Dame zur Zeit der Wistaria-Blüte ein Gewand getragen, das der Stimmung des Chrysanthemums entsprach. Die Idee ist die gleiche wie die der chinesischen „Harmonie", nur hier nicht in der Tiefe oder von der Tiefe her, sondern an der Oberfläche zum Ausdruck gebracht, wie der Maler den Sinn der Dinge in ihrem „farbigen Abglanz" auffängt und wiedergibt. Um den Himmel hat sich der Japaner wenig gekümmert; dafür hat er, dank seinem wundersamen Naturgefühl, seine Erde zum Paradiese umgewandelt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein gezwergter Baum sich mißhandelt fühlen könnte, wie ein auf französisch zurechtgestutzter dies sicher tut: er dürfte seinem Gärtner viel- mehr danken, da dieser seine Natur, ohne Gewaltsamkeit, so um- wandelt, daß sie ihrer Umgebung vollkommen angepaßt erscheint. Jeder Mensch von Geschmack jedenfalls, welchem Gleiches wider- führe, wäre dankbar. Der „Sinn" dieses Natursinns, um mit Laotse zu reden, ist der Grundton aller asiatischen Welt- und Lebensanschauung. Die Inder haben ihn in ihrer Philosophie, Religion und Musik zum Ausdruck gebracht, die Chinesen in ihrer ganzen Kultur, die Japaner vor allem in der Gestaltung des Sichtbaren; in dieser Beziehung sind sie durchaus Asiaten. Der ganze Osten betrachtet den Menschen als Bestandteil der Natur und verhält sich dem- Japanische Bau und Gartenkunst. 471 entsprechend, während es für uns zunächst bezeichnend ist, daß wir die Gliedschaft verleugnen. Ohne Zweifel ist seine Grund- anschauung die tiefere. Nur aus asiatischem Weltgefühl kann eine allumfassende, nichts verleugnende Religion und Philosophie her- vorgehen, es allein ermöglicht im Prinzip eine vollkommene soziale Organisation; nur wer asiatisches Weltgefühl besitzt, wird im höchsten Sinn geschmackvoll sein. Was ist Geschmack denn anderes, als ein sicheres Bewußtsein der Proportion? Wessen Auge in Japan gebildet ward, wird in Europa selten aufblicken mögen. Wie barbarisch sind unsere Überladungen! wie selten steht ein Gegenstand dort, wo der Zusammenhang ihm den Platz anweist! wie drängen sich die Gemälde einem auf! Und wie selten ist sich ein Europäer dessen bewußt, daß das Zimmer für den Menschen da ist und nicht umgekehrt, daß er und nicht der Vorhang oder das Bild an sich darin zur Geltung kommen soll! Sogar die japa- nische Baukunst leistet im selben Verstände Wertvolleres als unsere moderne, wie geringfügig ihre Schöpfungen sonst seien. Ein japanischer Tempel ist in seine Umgebung hineinkomponiert, von dieser überhaupt nicht loszulösen; und da dieses mit Meisterschaft geschah und jedes Gebäude mit seinem Hintergrund zusammen als Einheit wirkt, ist das Gesamtbild ästhetisch befriedigender als es unsere an sich meist besseren Bauten bieten. Charakterischer- weise verläßt den Japaner sein Geschmack, sobald er europäische Sitten und Kleidung annimmt: die sind ihm eben innerlich fremd, kann er nicht vom Zusammenhang her verstehen. Und im gleichen Sinn bezeichnend ist es wohl, daß die Tempel meist stark über- laden sind: die sind nicht für den Menschen da, sondern für super- lativische Wesen, von denen jener sich keine deutliche Vorstellung bilden kann. Der Mensch besucht sie auch nur bei festlichen Gelegenheiten, wo die gehobene Stimmung einen prächtigeren Rahmen ohnehin erheischt. Heute wohnte ich dem Jahresfest des Nishi-Hongwanji-Tempels bei. Dort ward ganz außerordentlicher Pomp entfaltet. Aber so gerade müssen religiöse Feiern nach japanischer Auffassung sein — wesentlich außerordentliche Ver- anstaltungen — und zu solchen geben die prunkhaft reichge- schmückten, goldschimmernden, buntlackierten Tempel einen stil- gerechten Rahmen ab. Japanische Gärten aber sind absolut schön, es sind die voll- kommen schönen Gärten, ein Ausdruck nicht minder klassischen 472 Qenji Monogatari ; der Naturprozeß nicht abzukürzen. Geists, als griechische Götterbilder. Weshalb zwergt der Japaner Bäume? Nicht aus Vorliebe für das kleine an sich, sondern auf daß sein noch so winziges Stück Land, gleich einer Landschaft Millets, unendliche Perspektiven eröffne. Wo daher, wie in den kaiserlichen Anlagen Kyotos, Raum die Fülle vorhanden ist, hat man die Bäume im Hintergrund am Himmel anstoßen lassen und nur dem Vordergrunde zu fortschreitend ihre Wachstums- impulse proportional der Entfernung eingeschränkt, so im Großen das gleiche Bild unendlicher Weite erzielend, das der Arme im Kleinen realisiert. — Und wieviel mehr kann erreicht werden durch Eingehen auf die Eigenheiten der Natur als durch ihre Ver- gewaltigung! Vermittelst einiger Steine, weniger Pflanzen, eines kleinen Gerinseis zaubert der Künstler hier Schönheiten in einen gleichgültigen Raum hinein, die so mancher berühmten Sehens- würdigkeit fehlen. . . . Während ich, die heißen Tagesstunden hin- durch, in diesen Zaubergärten raste, lese ich im Genji Monogatari, dem mittelalterlichen Roman, der ein so vollkommenes Bild vom Fürstenleben Japans gibt: dieses Raffinement hat kein I^Iof des Westens gekannt; auch wohl kein chinesischer. Was jene Kultur charakterisierte, war eine Verknüpfung, die eben nur in Japan möglich war: zwischen tierartig-sicherer Auffassung des Sinnlichen und deren äußerster künstlerischer Verarbeitung. Wenn Prinz Genji eine Mondscheinstimmung genoß, so träumte er nicht gleich einem persischen Dichter: er merkte auf wie ein Raubtier, das auf der Lauer liegt, aber empfand das Bemerkte zugleich als feinsinniger Ästhet. Immer mehr fängt mich der Charme dieses ästhetisch-reiz- vollsten aller Länder. Wie sonst im Reiche der Gedanken die Ideen, so ergreifen hier die Gegenstände der Außenwelt von mir Besitz und modulieren die Stimmung meiner Seele, bis daß sie aus eigenem Drang in deren Tonart fortkomponiert. * Ist es, weil ich in Japan ganz den Sinnen lebe, daß ich mich täglich jünger werden fühle? So wird es sein. Wir sind nun ein- mal für die Welt in diese Welt hineingeboren, zur Benutzung, nicht zur Verleugnung irdischen Könnens, und müssen es büßen, wenn wir zu früh jenseits der Sinne existieren wollen. Nachdem das Leben seinen irdischen Zenith überschritten hat, erfüllt es Bedeutung der harmonischen Proportion. 473 sich wohl mehr und mehr in einem Dasein rein geistiger Art Solange die Kurve jedoch auf Erden noch ansteigt, heischt die Sinnlichkeit gebieterisch ihr Recht. Der Naturprozeß will sich nicht abkürzen lassen. Aber das ist es nicht allein und nicht vor allem, was den Tonus meines Lebens in Japan so sehr hebt: es ist die einzig- artige Befriedigung, daß ein Leben in und mit den Sinnen im Reich der Aufgehenden Sonne gewährt. Hier, wie nirgends sonst auf der Welt, ist das Äußere auf das Innere, die Natur auf den Menschen abgestimmt, so daß die möglichen Eindrücke von vorn- herein in harmonischem Verhältnis zu den möglichen Empfin- dungen stehen; und hier, wie nirgends sonst, ist dieses harmo- nische Verhältnis in den objektiv besten Rhythmen realisiert. Die Zahl solcher Rhythmen ist nicht unendlich: wie nur Kombinati- onen der Elemente in bestimmten Zahlenverhältnissen zu dauer- haften chemischen Verbindungen führen, wie nur Himmelskörper von bestimmtem Gewichtsverhältnis und in bestimmtem Abstand von einander des Vereinigens zu einem Systeme fähig sind, so ist auch das Größtmögliche an Schönheit, Befriedigung und Glück an bestimmte rhythmische Verhältnisse geknüpft. In der objek- tivierten Kunst, zumal der Musik, kann diese Darstellung leicht durchgeführt werden; je klassischer eine Komposition, desto mehr erscheint sie durch eben die Rhythmen bestimmt, welche draußen im Himmelsraum die Harmonie der Sphären regieren. Im Fall der subjektiven Empfindungen jedoch, wo ein objektiver Nachweis nicht zu erbringen ist, wird jeder, dessen Organisation genügend fein ist, eine gleiche persönliche Erfahrung machen. Keinen wüßte ich, der in Jaques-Dalcrozes rhythmische Gymnastik tiefer einge- drungen wäre und nicht von einer unerhörten Lebenssteigerung berichtet hätte, die er durch sie und in ihr erfahren: sie realisiert eben das objektive Optimum in der Rhythmik des menschlichen Gebärdenspiels; kein Künstlergemüt wüßte ich, dem sich die Schönheit eines Meisterwerkes nicht als ein objektives Absolutum darstellte, und last bat not least — das Glück, das zwei Menschen einander gewähren können, hängt überall vom Grade ihrer physio- logischen und psychischen Sympathie ab, das heißt dem Verhält- nisse, in dem die Saiten ihrer Naturen zusammenklingen. Genau in diesem Verstände ist das Verhältnis, in dem in Japan die objek- tivierte Kultur zur menschlichen Subjektivität steht, ein bestmög- 474 „Harmonie" in China und Japan. liches. Freilich muß man Japaner geworden sein, um dieses Optimum ungeschmälert zu empfinden; aber man wird eben in Japan zum Japaner; kein aufnahmefähiges Gemüt entgeht dieser Verwandlung. Und merkt .er alsdann, daß die fremdartige ost- asiatische Gestaltung auch ihm als objektives Optimum zu er- scheinen beginnt, dann wird ihm auch klar, wie wenig dieser Stil als solcher bedeutet. Es sind die Verhältnisse innerhalb der Konvention, die ihn beglücken; die gleichen wären auch auf griechisch darstellbar; und daß er in Japan das Japanische am meisten genießt, beweist nur, wie sehr dieser spezifische Stil dem ambiente gemäß ist. Ich denke an China zurück. Nein, die Vollendung, die ich heute im Auge habe, ist spezifisch japanisch, nicht chinesisch, und ob auch jede einzelne schöne Gestalt im Reich der Mitte erfunden ward; die Lebenssteigerung, welche die Anschauung Japans bewirkt, wird China in seinen größten Zeiten nie haben auslösen können. Wie belehrend ist dieser Vergleich! Wahrhaftig: das allermeiste von dem, was an der japanischen Kultur objektiv wertvoll erscheint, ist in China erfunden nicht nur, sondern auch ungleich tiefer verstanden worden. Nie haben die Japaner die Bewußtseinslage erreicht, welche die Gestaltungen der buddhi- stischen Kunst aus sich heraus gotthaft hervorbringen konnte, nie den Sinn des Rituals verstanden, welcher der Chinoiserie einen so tiefen Hintergrund verleiht. Aber in Japan, nicht in China, hat der Sinn die Erscheinung bis zum äußersten durchdrungen. Eine Süßigkeit ist der Grundton der Atmosphäre japanischer Buddhatempel, die kein chinesisches Heiligtum kennt, und dem Chinesengeist, der die einzelnen Formen erfand, vielleicht unfaß- lich ist; die Idee der Rücksicht, die in China aufkam und dort die tiefstbegründete systematische Ausgestaltung fand, trägt in Japan den vollkommensten Körper. Dem Chinesen fehlt die natürliche Sensibilität, das feinvibrierende Nervensystem; trotz seines hochentwickelten ästhetischen Sinns hat er nie tinter dem Schmutz gelitten, trotz wunderbar tiefen Verständnisses der Harmonie diese Idee nie seinen Empfindungen eingebildet. Er ist höflich wie keiner, seine ganze Lebensroutine ist auf Rücksicht aufgebaut; aber diese äußert sich im Befolgen objektiver Höf- lichkeitsnormen, ohne Beachtung dessen, was im Bewußtsein der anderen vorgehen mag. Eine Chinesin, wird mir erzählt, die einer Abstrakte und lebendige Rücksichtnahme ; das Menschheitsorchester. 475 Europäerin ihren Besuch machte, befremdete diese dadurch, daß sie, anstatt sich vor ihr zu verneigen, ihre Bücklinge nach der entgegengesetzten Seite ausführte, womit sie ihrer Gastgeberin den Rücken kehrte: diese hätte eben, der Etikette gemäß, auf der entgegengesetzten (südlichen) Seite des Zimmers stehen sollen; daß sie nicht tatsächlich dort stand, war jener gleich. — In Japan ist gerade die lebendige Rücksicht bis zum äußersten durch- gebildet; nirgends auf der Welt erscheint das Empfinden so fein nuanciert. So trägt die chinesische Erfindung erst hier ihre schönsten Früchte. In Japan ist die Idee der Harmonie der lebendig- beweglichen Erscheinung eingebildet; nichts geschieht, außer in harmonischen Proportionen, nichts steht da, außer am rhythmisch besten Ort. So fühlt man sich wohl und beglückt, wohin man sich wendet. Schließlich kommt es überall in der Welt doch am meisten auf Kleinigkeiten an. Eine Nuance scheidet Taktlosigkeit von Takt, eine Nuance Zuvorkommenheit von Frechheit. Der Japaner hat den ausgebildetesten Sinn für das Kleine. So konnte er, nachdem das Große ihm gegeben war, Ergebnisse erzielen, die einem Größeren unerreichbar blieben. Die Kehrseite freilich .... doch ich will mir meine Stimmung des Beglücktseins nicht verderben. Wozu soll denn ein Mensch oder ein Volk alle Vorzüge besitzen? Die Völker dieser Erde ergänzen sich. Die einen spielen den Baß, die andern den Diskant; einige wenige schlagen die Grundtöne an, viele andere singen die Melodie. Die Menschheit ist ein vielstimmiges Orchester; der Philosoph lauscht ihrem Zusammenspiel. Und wenn er reisen muß im Raum, um den Eindruck der Einheit zu gewinnen, so liegt darin kein ernsterer Einwand gegen die Weltordnung als in dem, daß sich die Einheit einer einzelnen Melodie nur im Verstreichen in der Zeit realisiert. Ich erkenne mich nicht mehr: nicht allein, daß ich stundenlang bei Antiquaren und Kuriositätenhändlern herumstöbere — ich kaufe ein und denke über Zimmereinrichtungen nach. Das ist ein ganz ungewohnter Zustand. Noch nie, daß ich wüßte, ist mir an Besitz gelegen, am wenigsten dessen, was meinen Augen wohl- gefällt. Meinem persönlichen Bedürfnis entspricht es besser, wenn das Schöne sich dort befindet, wo ich es sehen kann, aber nicht 476 In Japan alles Sichtbare auf den Menschen zugeschnitten. muß, bei Freunden oder in öffentlichen Sammlungen; steht es immer vor mir, so stört es mich, und desto mehr, je größer sein Eigen- wert. Dann muß ich Rücksichten nehmen, meinen Lebensstil dem Kunstwerke anpassen; vor allem fühlt sich meine Phantasie in solcher Gegenwart nicht frei. Wie soll ich aus unbewußter Tiefe unbefangen Gedanken zutage fördern, wenn der Raum vor mir nicht leer ist, wenn meine Sinne wieder und wieder von Voll- endetem außer mir gefangen werden? Allerdings: das bloß Gefällige wirkt nicht so bannend; dafür bedarf ich seiner nicht. Meinen Freundinnen bin ich wohl gram, wenn sie ihren Lebensrahmen nicht möglichst schön gestalten, denn während ich bei ihnen weile, ist mein Bewußtsein der Außenwelt zugekehrt und leidet unter deren Mängeln; vom meinen verlange ich bloß, daß er mir nie zum Bewußtsein komme: das soll seine Voll- kommenheit sein. — Hier nun, unter dem Einflüsse Japans, werde ich zum Genießer, zum Kunstliebhaber. Hier ist eben alles Sicht- bare auf den Menschen zugeschnitten; alle Natur wirkt als Rahmen des Menschenlebens, jeder Gegenstand ist zum Gebrauche da, jedes Kunstwerk setzt den Beschauer voraus. So kommt es, daß der von der Außenwelt sonst noch so Unabhängige, im Falle er eindrucksfähig ist, sich bedrückt und ungemütlich fühlt, sobald etwas in diesem Sinne nicht stimmt, daß ich zu Kyoto meine Gedanken unwillkürlich darauf richte, wie ich mich mit meiner Umgebung in den ästhetisch besten Einklang versetzen könnte, ja während dessen im Glauben lebe, diese Bedürfnisse hätte ich auch daheim. — Ich muß lachen über mich selbst. Ein klein wenig weniger Selbstkritik, und ich könnte mir wahrhaftig einbilden, ich sei ein Kunstverständiger. Heute früh, auf der Eröffnung einer Auktion, schaute ich zu, wie japanische Kenner Porzellan besich- tigten. Was diese bemerkten, dafür bin ich wahrscheinlich blind, allein mir schien im Augenblick ganz ernstlich, als dürfte ich mit- reden über Porzellan und wirklich scheine ich etliche Male nicht falsch geurteilt zu haben. Das verdanke ich ausschließlich der Suggestion des Milieus; von Natur fehlt mir jeder Sinn für Kunst- gewerbe. Aber ich bin es wohl zufrieden, wenigstens auf Augen- blicke in der Haut eines Mannes von Geschmack gesteckt zu haben, weil mir dadurch eine neue Seite der japanischen Veranlagung deutlich geworden ist. Goethe bemerkt irgendwo, das Theater habe die zweischneidige Eigenschaft, im Beschauer die Einbildung wach- Der Schlüssel zum Geheimnis japanischen Kunstschaffens. 477 zurufen, auch er könne dramatisch produzieren. Woran liegt das? Offenbar daran, daß der Mensch wenigen Geschehnissen gleich intensive Aufmerksamkeit schenkt," wie dem Ablauf eines Bühnen- spiels; und wirklich Gesehenes liegt, vom Geiste her betrachtet, auf einer Ebene mit dem Eingefallenen. Also scheint es dem Zu- schauer unwillkürlich, er hätte das Drama eines anderen selbst verfaßt, oder — da dies nachweislich nicht der Fall ist — er sei doch einer gleichen Leistung fähig. Ganz so gelangt in kunst- sinniger Umgebung auch der Barbar irgendeinmal zur Überzeugung, daß er „eigentlich" ein Kunstkenner sei, denn hier beachtet er das, was ihm sonst entgeht. Hiermit ist aber dieser Gedankengang nicht abgeschlossen: durch Erziehung der Aufmerksamkeit zum Beobachten bestimmter Dinge entwickelt sich das Vermögen, sie wirklich zu sehen; ja er führt noch weiter: man wird durch andauerndes Aufmerken schöpferisch. Dieses nun scheint mir der Schlüssel zum Verständnis des japanischen Kunstschaffens zu sein. Die Japaner sind von Hause aus nicht produktiv in dem Sinne, wie es die Chinesen einstmals waren; aber sie sind auf die Dauer schöpferisch geworden, weil Phantasie und Technik, Pro- duzieren und Rezipieren einem ideellen Zusammenhange ange- hören. Eine starke Phantasie schafft sich die Ausdrucksmittel, wo die Technik vollkommen ist, dort strömt der Geist, der Sinn von selber ein; wer vollkommen beobachtet, wird am Ende durch Einfälle überrascht. Die Japaner sind von Hause aus nun zweierlei: unvergleichlich scharfe Beobachter und Virtuosen alles technischen Könnens. Dank welchem sie sich nicht allein die Errungenschaften aller der Völker, denen sie es gleichtun wollten, haben aneignen können — es ist ihnen gelungen, ohne daß sie eigentlich Ideen hätten, doch Ideen darzustellen, sogar solche, die keiner vor ihnen gehabt hat. Wie sehr ich bereits Japaner bin! Ihre Sinne sind die meinigen geworden; wie selbstverständlich wende ich die Kategorien ihrer Ästhetik an, bemerke und beachte ich tausenderlei, was mir sonst niemals auffällt; vom Denker scheine ich mich ganz und gar zum Augenmenschen verwandelt zu haben. Und ich staune über den Reichtum der sichtbaren Welt. Bisher hatte ich häufig gefunden, daß diese mehr verschleiert als 478 Die Welt des Sichtbaren eine Welt für sich. enthüllt; daß die Wirklichkeit, welche das Auge berührt, arm ist neben der von Geist und Seele. Nun aber erkenne ich, daß sie ganz wunderbar reich ist, daß es nur von der Anlage des Beschauers abhängt, wieviel sie ihm bietet und bedeutet; im Spiel der Farben und Linien kann genau so viel Sinn zutage treten, wie in der geistreichsten Gedankenverknüpfung. Aber aller- dings ist es ein Sinn anderer Art. Es heißt, die Götter redeten in Farben miteinander; das mag wohl sein; dann aber reden sie von anderem, als wir. Ich weiß nicht ob Menschen, welche dauernd mit den Augen leben, sich dessen so bewußt werden, wie ich: die Welt des Sichtbaren ist eine Welt für sich; die Er- lebnisse des bildenden Künstlers sind mit denen des Denkers auf keinen konkreten Generalnenner zu bringen. Daher bedeutet es eine absolute Bereicherung meines Daseins, daß ich für den Augenblick als japanischer Maler auffassen kann. Für den Augenblick: denn lange wird diese Einstellung nicht anhalten. Gewiß lebt in mir die Möglichkeit zum Japaner- tum, wie denn alles Natürliche dem Menschen eingeboren ist; jeder kann, willkürlich oder unwillkürlich, zeitweilig Tiger oder Reh, Wasserfall, Erdbeben oder Pflanze sein; es kpmmt bloß darauf an, auf welche Elemente seines Wesens er den Nachdruck legt. Aber auf die Dauer ist jegliches Individuum nur in der Ein- stellung, die es als solches definiert, existenzfähig; sie allein ist dem Tiefsten in ihm ein zuverlässiges Ausdrucksmittel, weshalb sich Einfühlung in gar zu Fremdartiges leider selten als so pro- duktiv erweist, wie es der Theorie nach sein sollte — sie führt nicht dahin, wohin man wollte. Heute Nachmittag, wo ich durch Stunden auf waldigem Hügel saß, unter blühenden Azaleen, vor mir die weite Fläche des Biwa-Sees, habe ich das wieder einmal am eigenen Leib erfahren. Ich stellte mich zum Augen- menschen ein; ich versenkte mich in die reine Form der Pflanzen;, bald vermochte ich sie so zu sehen, wie ein japanischer Maler sie sieht, und der Sinn jeder Linie ward mir offenbar. Aber wie ich tiefer und tiefer konzentriert ward, da verschwand das Sichtbare; nicht absolut, aber seinem selbständigen Eigen-Sinne nach, mit dem allein Kunst es zu tun hat. Immer deutlicher begann ich zu erfassen, was mir überhaupt, mehr und mehr, zur eigentlichen Wirklichkeit wird: der Erscheinung Möglichkeit; wieder einmal kam ich mit der Potenz in unmittelbaren Kontakt, die von Innen Meta physiker und Gott; der japanische Tanz. 479 her das Da- und Sosein bedingt, das Werden und Vergehen regiert; und wenn dann Blitze der Reflexion vorüberschössen, dann wun- derte ich mich, wie so oft, warum es mir denn versagt ist, in der reinen Möglichkeit mein persönliches Zentrum zu haben, und indem ich mich aktualisiere, bald das Ganze, bald nichts, und bald ein beliebigei Teil zu sein. Und auf die Verwunderung folgte, wie immer, die Betrübnis. Es ist tragisch, in seinem Verstehen dem Können voraus zu sein. Weshalb bin ich kein Gott? — Nur, weit es mir an physischer Kraft gebricht; das verfügbare Energie- quantum ist es, sonst nichts, das den Metaphysiker vom Gotte unterscheidet. Besäße ich genügende Mittel, so würden meine Ideen von selbst zu physischen Gestalten werden, und während meine Gedanken wanderten, löste Welt auf Welt sich ab. — So aber kann ich nicht einmal, so lange es mir beliebt, Japaner sein; die Grenzen, die ich in der Idee nicht anerkenne, beherrschen mich doch. Aus jeder neuen Gestalt entpuppt sich zuletzt doch wieder der alte Keyserling, und dieses meist lange bevor ich deren Mög- lichkeiten erschöpft hätte. Was also tun? — Wäre ich eine rein betrachtende Natur, so könnte ich mich wenigstens hinwegtäuschen über den Tatbestand, wie dies die meisten Mystiker getan haben: ich könnte so konsequent nicht handeln, so andauernd in Gedanken im Reiche des Möglichen wohnen, daß ich des Bewußtseins meiner Schranken verlustig ginge, bis daß der Prozeß des Geschehens sie einmal wirklich sprengt. Aber ich bin leider viel zu aktiv, als daß solches für mich in Frage kommen könnte. Mir bleibt nichts Besseres übrig, als den unüberwindlichen Keyserling zu einem soweit biegsamen Werkzeuge zu erziehen, daß ich auf sein Dasein während der Arbeit wenigstens keine Aufmerksamkeit zu verschwenden brauchte. Daß ein gleichvollendeter Rhythmus, wie auf byzantinischen Mosaiken, von lebendigen Menschen dargestellt werden könnte, hätte ich mir nimmer träumen lassen, bevor ich einem japanischen Tanzfeste beigewohnt. Die Lautenschlägerinnen rechts, die Trommlerinnen links vom Amphitheater aufgereiht, in identischer Stellung dasitzend, identische Bewegungen im Takt vollführend, bildeten zusammen einen lebendigen Fries von voll- kommener rhythmischer Einheit. Und die Geishas, die bald auf * 480 Die Geisha als Prie Sterin ; was sie allein vermag. der Bühne, bald längs dem Zuschauerraum ihre stilvollen Tänze aufführten, wirkten, so viele ihrer waren, wie die Engel auf mittelalterlichen Paradiesesdarstellungen, nur als Wiederholungen eines ewig gleichen Symbols. Mehr als je habe ich's bei dieser Gelegenheit gespürt: erst in rhythmischer Stilisierung wird die Natur vollkommen sie selbst; erst in der vereinfachenden Kurve erfüllt sich der Reichtum des Lebens. Ich empfand wie ein Weit- werden meiner selbst, wie ein Schwinden aller Hemmungen und Schranken; mir war, als löste sich aller Drang in beseligender Harmonie. Die begleitende Musik klang Europäerohren nicht schön, aber das Schauspiel selbst war Musik. Hier habe ich's zum ersten Mal erfahren, daß bewegte Farben und Linien das gleiche zu wirken vermögen, wie die Schwingungen der Töne. Das europäische Ballet ist ein zu Äußerliches, um solche Wirkung hervorzurufen; das Gebärdenspiel unserer Musiktänzerinnen ist Kopie oder Inter- pretation, kein unmittelbarer Ausdruck. Im Prinzip sollte das, was Jaques-Dalcroze erstrebt, das Ideal verwirklichen können, allein ich fürchte, es wird es nur zur Hälfte tun, weil unsere Tänzerinnen, wie immer sie geschult werden, bewußte Individualitäten bleiben; der Europäer kann nicht vergessen, daß er eine „Persönlichkeit" ist In Japan nun wird das Ideal tatsächlich verwirklicht, weil die Darstellerinnen — Geishas sind; Geschöpfe, dazu geboren und erzogen, ohne Selbstbewußtsein Stimmung zu erzeugen; eine Ara- beske, eine Begleitung selbstlos darzustellen; nie an sich und für sich zu sein. Es kommt dem, der ihnen zuschaut, nicht in den Sinn, daß sie Einzelseelen besitzen; sie sind, was sie darstellen sollen — angeschlagene Töne auf einer Saite, Farbenflecke, Metopen, Mosaiken; Elemente ohne Eigen-Bedeutung. — Wohl dem Volk, das die Geisha also hinaufhebt! das sie, anstatt sie verachtend auszustoßen oder nur als Genußmittel zu nutzen, zur Priesterin weiht: so schafft das an sich vielleicht Niederste am Höchsten mit. Die Geishas haben das Privileg und die Pflicht, die alther- gebrachten Formen zu pflegen; damit sind sie die Hüterinnen des Allerheiligsten. Indem sie wieder und immer wieder die Zeremonien und Tänze aufführen, die der vollendete Ausdruck der Seele Alt-Japans sind, erhalten sie diese lebendig durch alle Zeit. Und das vermöchten nur sie, die leichtsinnigen, losen. Nur dieser Menschentypus vermag Element zu sein, wie dies bei Riten Die Teezeremonie; England und Japan; Form schafft Inhalt. 481 und Zeremonien erforderlich ist, denn nur er ist metaphysisch genommen selbstlos ; nur Geishas existieren buchstäblich beziehungs- weise, sind buchstäblich ohne Persönlichkeit. Daher können sie, was autonomere Typen nicht können: das Überpersönliche im Gleichnis vollendet darstellen. Vor der Tanzaufführung fand die Teezeremonie statt. Es war ein wunderbares Erlebnis für mich, zu beobachten, welch tiefes Verständnis das einfache Volk dem komplexen Ritual entgegen- brachte. Solange dieser Formensinn lebendig bleibt, wird Japan seine Seele nicht verlieren. Was aber soll werden, wenn es auch hierin dem Beispiel des Westens folgt? In Europa versteht sogar der Papst den tiefen Sinn der Form nicht mehr, von den Königen und Fürsten zu schweigen; einzig die britische Nation stellt bis heute eine rühmliche Ausnahme dar. Bei ihr hat voll- endete Klugheit gleiches gezeitigt, wie bei anderen der künst- lerische Instinkt: sie weiß, daß die Form Inhalt nicht nur dar- stellt, sondern schafft, und setzt diese ihre Erkenntnis desto ener- gischer in Praxis um, je mehr die Inhalte an und für sich an Macht verlieren. Heute, wo keiner mehr recht an das Gottes- gnadentum der Obrigkeit glaubt, wird deren ursprüngliches Prestige desto stärker im Äußerlichen zum Ausdruck gebracht, denn der Augenschein wirkt zurück auf das Herz. Je loser tatsächlich die Bande zwischen den Teilen des Reiches werden, je mehr die Ein- zelnen sich individualisieren, desto mehr stellt die Regierung das Symbol in den Vordergrund. So wird der König, tatsächlich nur ein Beamter unter anderen, mit weit geringerer Machtbefugnis ausgestattet, als seine Minister, wo es darauf ankommt, mit einem Schein der Majestät umringt, um den in Schah Dschehan beneiden könnte. Freilich ist solches Mittel nicht überall mehr wirksam. Die Engländer sind willig, die Form in sich schaffen zu lassen, was die Deutschen z. B. nicht sind. Das beweist nicht, daß der Deutsche freier, sondern daß der Engländer gebildeter ist. Bei allem Innerlichen schafft die Bedeutung allererst den Tatbestand; in der Bedeutung, die einer Form frei zuerkannt wird, offenbart sich eine neue, höhere Sphäre der Wirklichkeit, und die Form ruft deren Bewußtsein auch in den Seelen wach, die sie von sich aus nimmer erschaut hätten. Noch ist diese Wahrheit den Japanern selbstverständlich: wird sie es bleiben? — Ich befürchte das Keyserling, Reisetagebuch. 31 48? Fü r die meisten kommt nur typische Vollendung in Frage. Schlimmste, weil sie sie nicht verstehen; sie handeln ihr gemäß, ohne zu wissen, was sie tun. Stellen sie einmal die Frage nach dem Sinn, wie dies früher oder später sicher geschieht, so scheint gewiß, daß sie sie falsch beantworten werden; als Positivisten werden sie schwerlich gelten lassen, was dem Verstände nicht unmittelbar begreiflich ist, und viel schwerer als wir, die soviel mystischer veranlagten (der Japaner beurteilt den Europäer all- gemein als auffallend abergläubisch) den Sinn symbolischer Wahrheiten einsehen. Um nun noch einmal auf die Institution der Geishas zurück- zukommen (sie sind wirklich eine Institution: ihre Meisterschaft in der Etikette wird patentiert, und das System hat die Allerhöchste Sanktion) : unsere Sozialreformer entsetzen sich darüber, daß es derartiges heute noch gibt; wenn die Geishas tatsächlich keine Persönlichkeiten sein sollten, so müßten sie zu solchen erzogen werden; es sei eines Menschen unwürdig, nur Element zu sein. Du lieber Gott! Die meisten sind Elemente, können nur als solche ihre Vollendung finden, zumal die Geisha-Naturen. Ich will die altjapanische Gesellschaft nicht als Ideal hinstellen, aber wahr ist gleichwohl, daß deren Prinzip unter den gegebenen empirischen Umständen den Elementen einen weit höheren Grad der Selbst- verwirklichung ermöglicht, als das unserige. Hierbei gedenke ich nicht allein der Courtisanen, die in Europa, dank unserem abscheu- lichen System, soviel tiefer herabgedrückt erscheinen als in Japan: ich gedenke aller Gesellschaftsklassen. Unser Ideal ist die Voll- endung des Individuums; vielleicht ist es das höchste. Aber eine andere Frage ist, auf welchem Wege diese Vollendung am besten zu erreichen sei? Die allermeisten, auch im Westen, sind zu wenig individualisiert, als daß sie den eigenen Trieben folgend voll- kommen werden könnten; (dies galt sogar vom Italien der Re- naissance). Und da der moderne Zeitgeist das Streben nach typischer Vollendung nicht mehr begünstigt, so werden die Indi- viduen zwar selbständiger, aber im gleichen Verhältnis unaus- geprägter als sie ehedem waren. Am deutlichsten äußert sich dies bei der Frau. Ihr fällt es, entsprechend ihrer Natur, noch schwerer als dem Mann, ihre Vollendung in und durch sich zu finden; die größten Frauengestalten, die es gegeben, sind durch Hingabe erwachsen — an einen Mann, an Gott, ein Ideal. Nun wollen sogar die niedersten „ganz sie selbst" sein. Die Betörten Japan bei Nacht; die japanische Hetäre. 483 begreifen nicht, daß sie in viel höherem Grade sie selbst würden, wenn sie sich stolz zum Typus bekennten, dem sie angehören, und in diesem ihre Vollendung suchten; denn diese Form, durch die Weisheit von Geschichte und Natur zugleich geprägt, würde gerade ihrem Individuum zu stärkerer Verwirklichung verhelfen, als das meist nur undeutlich erschaute und selten mit genügender Konsequenz verfolgte persönliche Ideal. Wie viel niedriger stehen die meisten modernen Frauen als die einer noch nicht fernen Ver- gangenheit! Den höchsten Typus des heutigen Europa verkörpert die hochgeborene Französin. Sie allein eben wird noch so erzogen, daß sie darstellen soll, bis daß sie ist. Nun habe ich so manche Nacht in japanischen Gast- und Tee- häusern zugebracht, bin ich so manchen frischen Morgen in niedrigem, mattenbedecktem Raum erwacht. Japan bei Nacht ist voll des intimsten Reizes. Das äußere Bild der Straßen hält den Vergleich mit chinesischen wohl nicht aus; sie sind einförmig, dunkel und still und selten wird das Auge, wie dort, durch malerische Volksbilder angezogen. Japans Nachtleben spielt sich jenseits der Straße ab. Hier, hinter papierenen Wänden, von außen noch als Schattenspiel erkennbar, hört heiteres Treiben von der Dämmerstunde bis zum späten Morgen nicht auf; Nacht ein, Nacht aus klingt Lautenspiel und helles Mädchenlachen ge- dämpft auf die Gasse hinaus. Wie stimmungsvoll waren jene Nächte in den ländlichen Her- bergen, wo es selten gelang, eine Stunde des ungestörten Schlafes zu erhaschen, weil die Pilgerscharen unter und neben mir des Lachens und Plauderns nimmer müde wurden! wie stimmungs- voll jene späten Stunden in der Stadt, wo ich in abgelegenem Viertel von den Anstrengungen des Tages Erholung suchte, in- dem ich dem zirpenden Gesang der Geishas lauschte oder der kunstvollen Pantomime geschminkter, bunter Kinder zuschaute l Wie stimmungsvoll ist hier gerade das, was in Europa des Stimmungswerts so sehr entbehrt! Flaubert behauptet zwar: il manque quelque chose ä celui qui ne s'est jamais reveille dans un lit sans nom, qui n'a pas vu dormir sur son or eiller une tele qu'il ne verra plus; aber damit kann er nur das Schreckhafte gemeint haben, dessen Höhepunkt die danse macabre ist, denn dem Leben 31* 484 Reinheit der Atmosphäre japanischer Freudenhäuser. der Hetären Europas fehlt der Lieblichkeits-Reiz, welchen echter Frohsinn besitzt. Geächtet, erscheinen sie verbittert, sofern sie nicht von Hause aus stumpfe Tiere sind; sie sind zu bewußt, zu besorgt, um wirklich heiter zu sein, daher wirkt ihre Fröhlichkeit agressiv, und ihre Liebe steht, wie groß ihre Kunst auch sei, doch immer im Zeichen des Gemeinen. In Japan scheint sogar den niedrigsten Dirnen Gemeinheit fremd. Hier geht alle Weib- lichkeit auf Anmut aus, wird zur Anmut als Selbstzweck erzogen; und da das Weib nichts Entehrendes darin sieht, sich für Geld dem fremden Manne hinzugeben, und der Mann nichts Beschä- mendes darin, daß er Freudenhäuser besucht, so herrscht in diesen eine Atmosphäre harmloser Heiterkeit, wie bei uns etwa bei Kindern unter dem Weihnachtsbaum. Es ist belehrend, die Europäer zu beobachten, die zum erstenmal ein japanisches Lupanar besuchen: anfangs tragen ihre Züge auch hier jenen häßlichen Ausdruck, der sich auf dem Gesicht jedes Mannes zeigt, der den Pfad des Lasters betritt; aber lange hält er bei den Stumpf esten nicht an; bald werden sie harmlos-heiter, wie die Mädchen, und ihnen schwindet jedes Bewußtsein dessen, daß sie nach den Begriffen ihrer Heimat auf schlechten Wegen wandeln. Hier ermißt man die Wahrheit des Worts, daß den Reinen nichts unrein mache. Für die Japaner versteht es sich von selbst, daß die geschlechtlichen Bedürfnisse befriedigt werden, im Akte selbst sehen sie nichts Häßliches; die Mädchen kommen sich nicht ehrlos vor, die den Beruf wahlloser Nächstenliebe ausüben. Und da sie also denken und empfinden, so haftet nicht allein ihnen selbst nichts Unreines, Häßliches an — der Gast nimmt einen Abglanz ihrer Reinheit aus dem Bordelle mit nach Haus. Wie tief steht unser typisches Empfinden in diesen Dingen unter dem japanischen! Allerdings ist es ein objektiver Übelstand, daß es Prostituierte gibt und Nachfrage nach ihnen, allein ganz abzustellen wird er niemals sein; so wie die Menschen- natur einmal beschaffen ist, kann kein Versuch, den außerehelichen Geschlechtsverkehr zu unterdrücken, glücken, wird jeder aufgehobene Übelstand durch einen neuen, häufig schlimmeren ersetzt. Ist es da nicht. besser, dem Übel dadurch zu begegnen, daß man ihm, wie in Japan, den Charakter eines solchen nimmt? Ich weiß wohl, auch dieses hat Übles zur Folge, wie denn alles in diesem Leben einiges Übel nach sich zieht. Aber da die Männer vor der Ehe niemals enthaltsam leben werden und ihr polygamer Instinkt nie Japans Lösung des Prostitutionsproblems. 485 absterben wird; da immerdar Weiber zur Welt kommen werden, die einzig im Rahmen des Hetärendaseins existieren und glücklich werden können: ist es da nicht ersprießlicher, dem Tatbestand eine Stellung entgegenzubringen, die ihn nicht noch schlimmer macht als er schon ist? In Japan steht nichts dem entgegen, daß eine Dirne rein an Seele bleibe; so braucht sie den, der sie besitzt, nicht zu vergiften. In Japan gibt es einen Weg aus dem Freuden- haus ins bürgerliche Dasein zurück. In Japan ist deren Ende nicht notwendig trostlos, deren Daseinsmöglichkeit an Jugend- frische gebunden schien. Der Courtisanenstand ist öffentlich an- erkannt; er wird geachtet in seiner Art, wie jeder andere; gleich jedem anderen, ist auch er ein geschlossenes Ganzes einerseits und andrerseits auf Stoffwechsel angewiesen. Ja, er hat eine öffentliche Aufgabe, was ihm jenes spezifische Selbstgefühl gibt, dessen kein Stand entraten kann. Ich schrieb schon von dem Pri- vileg, das die Geishas besitzen, durch Bewahrung der Tradition in Tanz, Gebärde und Spiel die Seele Alt-Japans wachzuerhalten. Eine ähnliche ideale Aufgabe, die auch entsprechend gewürdigt wird, scheint sich so manches Bordell gestellt zu haben; in manchen von ihnen wird das Höchste gepflegt, was an Stil und Bildung überliefert ist. Ein Mädchenhaus zu Kyoto gehört zu den histo- rischen Denkmälern; seit Jahrhunderten steht es da, von der ur- sprünglichen Dynastie verwaltet. Hier pflegten die Großen des Landes einzukehren, um in heiterem Kreis der Sorgen zu vergessen, oder auch um im Geheimen vertraut schwerwiegende Beratungen abzuhalten; kostbare Wandmalereien berühmter Meister schmücken die Gemächer, von denen jedes, wie in Englands Königschlössern, einen Namen hat. Unter den Bewohnerinnen aber herrscht die exquisiteste Etikette. Nirgends sind die Damen feiner erzogen, tragen sie geschmackvollere Gewänder, reden sie gewähltere Sprache; sie bewahren die Tradition des höfischen Stils. Und dieses Verdienst wird vom Staat insofern sanktioniert, als sie das Recht haben, bei der Kaiserlichen Jahresfeier als erste im Zuge zu schreiten. Japans Stellungnahme geschlechtlichen Fragen gegenüber steht innerhalb der Grenzen, in welcher sich meine heutige Be- trachtung bewegt, nicht niedriger, sondern höher als die unsrige. Wohl bezeichnet die bestehende Wirklichkeit nicht die höchst- mögliche Verkörperung des Ideals — fern davon — , aber das 486 Das Keuschheitsideal als Exponent sinnlicher Brutalität. Ideal als solches ist das höhere; dem Sinne nach wüßte ich keine bessere Stellungnahme als die japanische. Tatsächlich gravitieren denn auch unsere Reformbestrebungen, so wenig dies deren Vor- kämpfer wahrhaben möchten, automatisch dem japanischen Ideale zu. Es soll die „Unmoral" ausgerottet werden, was schlecht gelingt, unterwegs aber wird Besseres erreicht: die gefallenen Frauen werden mit freundlicheren Augen angesehen; es wird das Mög- lichste getan, um das Selbstbewußtsein eter Hetären zu heben; der unverheirateten Mütter harrt weniger und weniger das trost- lose Los, das ihnen ehemals gewiß war. Was bedeutet dieses anderes, als daß auch die christliche Menschheit einzusehen anfängt, daß einem naturgemäßen Übel nur dadurch abzuhelfen ist, daß man ihm den Charakter des Übels, soweit als nur irgend möglich, nimmt? — Das gefallene Mädchen, das sich seines- Falls nicht schämt, braucht in der Stufenleiter der Wesen nicht nieder- zusteigen. Besser als zu moralisieren, ist eine Welt zu erschaffen, in der alles Negative zum Positiven umgewandelt wird. Jede Ge- staltung kann ein Positives bedeuten; an uns ist es, diese Sinn- gebung zu vollziehen. Der neue Sinn erzeugt dann aus sich selbst einen neuen, besseren Tatbestand. , Ich spinne die Betrachtungen von gestern weiter fort: jener Chinese hatte doch nicht so unrecht, der da behauptete, der eigentliche Grund dessen, weshalb die Europäer sich zum Keuschheitsideale bekennten, sei ihre den Asiaten gegenüber un- geheuere Brutalität; ihnen müsse ein Ideal vorgehalten werden, das ihrer eigentlichen Natur stracks zuwiderläuft, während sich die sanfteren, meist vegetarisch lebenden und daher weniger ani- malischen Bewohner des Ostens ohne Gefahr zu einer natür- licheren Auffassung bekennen dürften. Es ist wirklich wahr: so brutalsinnlich, wie der durchschnittliche Europäer, ist im Orient kaum der abnorme Einzelne, und wo der „Zeitgeist" keine künst- lichen Schranken schafft, dort ist die Atmosphäre Europas in einem Grade sinnenerregend, welcher jeden, der eine Weile fern von ihr gelebt, pathologisch beeinflußt; es ist nicht zu viel zu be- haupten, daß die Luft auf einem bal blatte in Frankreich schwüler ist, als die in einem japanischen Freudenhaus. Nichts gibt es an der europäischen Frau, vom durchbrochenen Strumpf bis zur Rein- heit und Unschuld, die sie zur Schau trägt, das nicht aufs Raffi- Prüderie des Puritaners dem Zynismus des Libertins äquivalent. 487 nierteste darauf berechnet wäre, das Begehren des Mannes zu reizen; jedes Kleidungsstück mehr, das sie anlegt, wirkt als eine Aufforderung mehr, es ihr abzuzwingen. Und da unsere soziale Kultur, was immer man sage, ihren eigentümlichen Charakter der Rolle verdankt, die das Weib in ihr spielt, so ergibt das eine Zu- spitzung des ganzen Daseins auf das Erotische hin. Man denke ja nicht, letztere sei die Folge der freieren Auffassung in Sachen der Liebe, die in der Neuzeit mehr und mehr zur Vorherrschaft gelangt: Negation und Position weisen psychologisch immer auf Gleiches hin; die Prüderie des Puritaners bedeutet genau das- selbe wie der Zynismus des Libertins. So sehr, daß, wie mein chinesischer Freund ganz richtig bemerkte, unser Bekenntnis zum Ideal der Keuschheit recht eigentlich der Exponent unserer maß- losen Sinnlichkeit ist. Seine weitere Behauptung, daß wir des Keuschheitsideals be- dürften, um uns halbwegs im Zaume zu halten, trifft freilich nur bedingterweise zu, schon deshalb, weil nichts den Reizwert der Liebe so sehr steigert, als ihre vorausgesetzte Sündhaftigkeit; gleichwohl enthält die These mehr Wahrheit als man denken sollte. Unter Franzosen, bei welchen die erotische Betätigung den geringsten psychischen Widerstand findet, herrscht einerseits wohl mehr Aufrichtigkeit und insofern Reinheit, als unter Eng- ländern und Deutschen, und eine Kultur der Sinne, die dort nicht entstehen kann, wo ihr Dasein aus Vorsatz ignoriert wird; aber andrerseits spielt das Erotische bei ihnen eine solche Rolle, daß man sich wohl die Frage stellen mag, ob ein wenig mehr Hypo- krisie und Barbarei im ganzen nicht unschädlicher wären, als eine Lebensanschauung, die gerade weil sie der gegebenen Natur ge- nau entspricht, deren Veredelung große Hindernisse in den Weg stellt. Ein gleiches gilt, abgeschwächt, vom katholischen Deutsch- land und Österreich. Die Nord-Germanen nun sind gewiß nicht unsinnlicher als die vorhergenannten; wo es so scheint, beruht es auf geringerer Differenziertheit, nicht auf Schwäche der Triebe; aber da bei ihnen, dank ihrer protestantischen Erbanlage, beim Lieben zumeist das Gefühl des Sündigens mitschwingt, so daß die Vorurteilsfreiesten es doch nur in Ausnahmefällen wagen, sich die Zügel ganz schießen zu lassen, so benehmen sie sich im ganzen erstens besser, als ihrer Natur entspricht, und werden auf die Dauer auch wirklich besser, weil Erziehung die Anlagen um- 488 Der Orient unsinnlicher als der Okzident. wandelt. Die Brutalität setzt sich in Spannkraft um. Insoweit ist es wohl wahr, daß es uns gut tut, an die Sündhaftigkeit des Bei- schlafs zu glauben. Es gibt keine bessere Illustration der körperlichen und seelischen Blindheit, welche die meisten Reisenden auszeichnet, als die von ihnen zu uns verpflanzte Anschauung der „Sinnlich- keit" und „Laszivität" der Asiaten gegenüber der Christenheit: das genaue Gegenteil hiervon ist wahr. Niemand wird die Tiere, die keinerlei psychische Hemmungen kennen, der Sinnlichkeit im üblen Sinne zeihen; im gleichen Verstände sind die Völker des Ostens unsinnlich im Vergleich zu uns Abendländern; sie sind es noch im weiteren, daß ihre Triebe viel weniger brutal sind, wie die unserigen. Wahrscheinlich wird im Osten verhältnismäßig mehr kopuliert: unter den gegebenen klimatischen Verhältnissen ist das natürlich; wohl scheint bei einigen Nationen — den Chinesen vor- nehmlich und den Indern — die ars amandi in hohem Grade ent- wickelt: aber nicht die Tatsache als solche entscheidet, sondern die Bedeutung, welche ihr beigelegt wird. Und das Erotische bedeutet dem Orientalen viel weniger als uns. Es versteht sich für ihn von selbst, daß er geschlechtliche Bedürfnisse hat, von selber, daß er sie befriedigt; und da dem so ist, beschäftigt es sein Bewußtsein kaum. Noch einmal: um wie viel unsinnlicher ist die Atmosphäre eines östlichen Freudenhauses als die eines europäischen Balls! Zeigt eine Frau bei uns nur ihren Schuh, so bedeutet das mehr, als wenn eine Japanerin sich auszieht; die f einstgebildeten Damen unserer Großstädte sind agressiver im Verkehr mit Männern, als eine Dirne des Ostens es jemals wagen würde. Und denke ich gar an Indien zurück! Wie wunderbar weise hat dieses Volk die sexuelle Frage gelöst, wie weise gerade vom Standpunkt spirituellen Fortschreitens, um das es ihm so viel ernster zu tun ist, als der scheinheiligen Christenheit! Nie wird dort versucht, der Natur Gewalt anzutun, weil man dort seit Jahrhunderten weiß, was Freud erst seit kurzem entdeckt hat, daß verdrängte Vorstellungen ver- derblicher wirken als noch so schlimme, die man sich unbefangen eingesteht; dort werden mönchische Anwandlungen bei jedem, der nicht zum Yogi berufen scheint, übel angesehen, bevor er Groß- vater ist, das normale Sich-Auswirken des Naturtriebs wird nicht gehemmt, sondern begünstigt; alle Schranken fehlen, welche die Voraussetzung der Sündhaftigkeit oder Häßlichkeit der Liebe Ideale Lösung der sexuellen Frage in Indien. 489 schafft. Dafür werden andere aufgerichtet durch die Voraussetzung ihrer Heiligkeit. Als ein Göttliches gilt sie an und für sich, so daß erotische Bilder in Indien nie zur Porno-, sondern zur Ikonographie gehören; in jedem Einzelfall aber wird sie noch besonders geweiht. Der eheliche Verkehr ist mit so viel religiösen Vorstellungen verwoben, daß das Sinnliche durch und durch spiritualisiert, und eben das, was das Christentum als Konzession an das sündhafte Fleisch betrachtet, zum Mittel geistlichen Fort- schritts wird. Sogar der Umgang mit Dirnen wird geheiligt dort, wo er unvermeidlich scheint (was er in Indien, wo jeder früh heiratet, in viel geringerem Grade ist als bei uns). Die Büßer, die das Gelübde der Keuschheit geleistet haben, sind nicht immer von den Fesseln der Sinnlichkeit ganz frei; unterdrücken sie diese künstlich, so besteht die Gefahr, daß ihre Phantasie, anstatt reiner und reiner zu werden, je schmutziger und schmutziger wird, wie beim Heiligen Antonius. So befriedigen sie ihre Triebe als Opfer, indem sie Hetären benutzen, die sich ihrerseits um Gottes- willen hingeben. Nun bestimmt die Sinngebung überall den Charakter des Tatbestandes: so wird, dank dieser noch so sophistischen Auslegung, sofern sie nur in gutem Glauben ge- schieht, das Zurückfallen in die Bande der Natur nicht zur Fesse- lung des freiheitsdurstigen Geistes. — Die Folge von dem allen ist die, daß in Indien, von den Fürstenhöfen einzig abgesehen, eine Atmosphäre der Nicht-Sinnlichkeit herrscht, die allein schon ver- ständlich macht, weshalb dort Philosophieren und religiöses Medi- tieren so wunderbar gut gelingen. Der Sinn aller Einschränkung des Geschlechtslebens ist lediglich der, daß es keine größere Rolle spielen soll in der Gesamtökonomie, als ihm von Hause aus ge- bührt; und besser als durch alle Repression wird einer Hyper- trophie des sexuellen Momentes, die freilich zu einer richtigen Vergiftung führen kann, dadurch gesteuert, daß die normale Aus- lösung des Triebes gesichert und gerechtfertigt wird. Bei uns geschieht dies in der Ehe allein. Daß der Osten es verstanden hat, die gleiche Regelung auch außerhalb der Ehe durchzuführen, so daß in Freudenhäusern eine ebenso reine Atmosphäre herrscht wie in einer guten westlichen Familie, wird ihm ewig zum Ruhme gereichen. Denn so ist es. Man führe so viel Tatsachen als man will zum Beweis orientalischer Unmoral an — sie beweisen nichts und können nichts beweisen, weil die Bedeutung es ist, auf die 490 Die künftige Freiheit der Frau. allein alles ankommt, und die japanische Laxheit ungefähr gleiches bedeutet, wie die Keuschheit frigider Engländerinnen. Dieses schöne System ist nicht anwendbar bei uns; nicht weil wir besser, sondern weil wir einerseits zu brutal, andrerseits von asketisch-christlichen Vorstellungen zu sehr befangen und vor allem, weil wir zu matter-of-fact sind; uns scheinen Tatsachen an sich bedeutsamer als ihr Sinn. Aber wir bewegen uns doch größerer Unbefangenheit entgegen. Wenn zunächst einigermaßen übertrieben für die Schönheit des Liebens als solchen, das Sich-Ausleben, das Recht jeder Frau auf Mutterfreuden gestritten wird, wobei die althergebrachten Schranken in Bausch und Bogen als Vorurteile verworfen werden, so bedeutet dies das normale stürmische Vor- stadium zur sachlich-freien Auffassung der Zukunft. Ohne Zweifel wird der Ehestand weniger und weniger als conditio sine qua non zum Kinderhaben gelten; weniger und weniger wird die Tatsache der Virginität über Unehr und Ehr des Mädchens entscheiden; immer freier wird das Weib, gleich dem Mann, seinem persönlichen Gesetze folgen können. Die alten sozialen Gestaltungen werden deshalb nicht aussterben, sie werden fortleben wie nur je zuvor, sogar quantitativ kaum eine Einbuße erleiden. Nur werden neben ihnen auch andere als normal gelten, wie denn der wesent- lichste Kulturfortschritt darin besteht, daß der Mensch immer weniger Lebensformen abzulehnen braucht, um sein Sonderdasein als berechtigt zu empfinden. Über die Japanerin kann seitens jedes, der nur ein bischen Stilgefühl besitzt, der also vom Schmetterling nicht die Leistungen des Nilpferdes verlangt, nur eine Meinung sein : daß sie eines der vollendetesten, eines der wenigen ganz voll- kommenen Produkte dieser Schöpfung ist. Ich will es nicht unter- nehmen, ihre Vorzüge im einzelnen zu schildern: das ist schon oft von Meisterhand geschehen. Hier könnte ich auch schwer objektiv sein; die Atmosphäre japanischer Weiblichkeit ist mir dermaßen sympathisch, daß ich ihrer Nachteile kaum gewahr ge- worden bin. Es tut gar zu wohl, Frauen zu schauen, die nichts als Grazie sind; die nichts scheinen als was sie sind, nichts vor- stellen wollen, als was sie wirklich können, deren Gemüt bis zum Äußersten gebildet ist. - Im Grunde ihrer Seele wollen nicht all- Die Japanerin als erster Frauentypus dieser Zeit. 49 1 zuviele Mädchen Europas mehr und anderes als ihre Schwestern im Fernen Osten — sie wollen gefallen, weiblich-anziehend wirken, und alles übrige, die geistigen Bestrebungen inbegriffen, ist ihnen Mittel zum Zweck. Wie viele derer, die scheinbar nur geistig interessiert sind, atmeten nicht auf, wenn sie dieses umständliche Reizmittel, dessen sie in ihrer Welt schwer entraten können, lassen und sich wie Japanerinnen geben dürften! Aber gerade dieses ge- länge ihnen schwer, gelingt denen nicht, die es versuchen. Die modernen Mädchen sind schon zu bewußt, um vollkommen zu sein in Form der Naivetät, zu wissend zu einem Dasein reiner Grazie, vor allem als Naturen auch zu reich, um sich überhaupt leicht zu vollenden. An Lieblichkeit kann sich keine modern-westliche Schön- heit mit einer wohlerzogenen Japanerin messen. Nun ist freilich der ästhetische Wert nicht der einzige, welcher in Frage kommt, und kann als höchster nur dort gelten, wo die Form die Erfüllung des ganzen Gehalts bedeutet, wie im Falle der besten Typen Alt-Chinas. Bei der Japanerin tut sie das nicht; diese kann als Persönlichkeit nicht ernst genommen wer- den, und insofern haben die recht, die sie unter die Europäerin stellen. Dagegen aber ist zu erinnern, daß jede Vollendung besser ist als keine; so vollkommen manche Europäerinnen sind, deren Typus vergangenen Zeiten angehört — unter modernen wüßte ich noch keine, die mehr als eine flüchtige Skizze ihres spezifischen Ideals bezeichnete. So muß ich für diese Zeit der Japanerin die Palme zuerkennen. Bald wird auch die Japanerin, die ich meine, der Vergangen- heit angehören, wie es die europäische Grande-Dame schon heute tut. Kein ästhetisch empfindender Mensch wird diesem Schicksal ohne Wehmut entgegensehen, mit ihr schwindet einer der süßesten Reize der Erde dahin, und nichts Gleichwertiges wird sie so bald ersetzen, wie sehr man sich darum bemühen mag. Gewiß nimmt die Europäerin im Leben eine höhere Stellung ein, als sie; mehr Möglichkeiten stehen ihr offen, mehr Züge ihres Wesens sind aus- gebildet und unser Familienleben zumal steht der Idee nach viel höher als das asiatische. Aber was zumal Japaner meist vergessen, ist, daß die Vorzüge unseres Zustandes zunächst hauptsächlich in abstracto vorhanden sind, und daß der Wert abstrakter Wesen- heiten ganz davon abhängt, inwieweit sie dem Konkreten an- gemessen sind; das bessere System schafft nicht notwendig eine 492 Vorzüge ein Positiveres als Gebrechen. bessere Wirklichkeit. Dafür vernichtet es Wirklichkeit nur allzu- leicht. So wie sie ist oder war, erscheint die Japanerin vollkommen; wo ihre Bewußtseinslage ihrem Zustande entspricht, ist sie genau so glücklich wie die Amerikanerin; sie ist ferner ihren Vorzügen nach das unmittelbare Produkt der herrschenden Verhältnisse. Wenn diese sich wandeln, werden jene mit verschwinden. Ob sie dafür an die Stelle gewinnen« wird, was ihr bisher fehlte, scheint desto fraglicher, als unsere Frauen noch nicht entfernt so weit sind, daß man sagen könnte: sie verdienen durchaus ihren n^uen weiten Rahmen. Jeder bestimmte Zustand wirkt positiv auf das Leben ein: dieser Satz hat axiomatische Gültigkeit; positiv in dem Sinne, daß er bestimmte Gestaltungen bedingt, die kein anderer ermöglicht hätte. Manche dieser Gestaltungen sind erfreulich, andere un- erfreulich, im absoluten Sinne vollkommen ist keine, weil alle Be- stimmungen zugleich Begrenzungen sind. Was aber nie übersehen werden sollte, ist, daß die Vorzüge etwas viel Positiveres bedeuten als die Gebrechen. Nach der negativen Seite hin scheinen der Natur nicht viele Möglichkeiten offen zu liegen; einerseits erhält sich das Absteigende schwer und kann sich durch Vererbung nicht potenzieren, andererseits verdient das Negative auch insofern seinen Namen, als es Verkümmerung bedingt, weswegen alle Typen nach unten zu konvergieren; die gebrochenen oder ver- unglückten Existenzen sehen sich allerorts und zu allen Zeiten ähnlich. Nach oben zu hingegen scheint es gar keine Grenzen möglicher Mannigfaltigkeit zu geben. Man vergegenwärtige sich einmal den Reichtum an verschiedenartigen Qualitäten, den der Wechsel innerhalb schwieriger Verhältnisse im Menschen hat ent- stehen lassen: das aufsteigende Leben schafft sich überall Bahn; in Korrelation zu den sich wandelnden Verhältnissen blüht Mal auf Mal eine neue Schönheit auf, deren jede nur einmal, unter be- stimmten, nie wiederkehrenden Verhältnissen möglich war. So ist die Vollkommenheit der Japanerin das unmittelbare Produkt der Stellung im Leben, die sie durch Jahrhunderte einnahm; was immer gegen diese einzuwenden sei — ihr, nur ihr verdanken wir die Japanerin, wie sie ist. Wie kläglich ist das Argument: sie verdiene, da sie so reizend ist, ein besseres Schicksal! Man verdient nie, was einem die Schönheit nimmt. Mögen die neuen Verhältnisse in abstracto unermeßliche Vorzüge haben — der Japanische Laxheit. 493 Frauentypus von einst wird unter ihnen nicht fortbestehen, und Japan wird schwerlich einen neuen, dem einstigen gleichwertigen hervorbringen, jedenfalls nicht entsprechend dem jüngst-europä- ischen Ideal, da das gegebene psychophysische Maß zu diesem Schnitt nicht ausreicht. Die Idee des Fortschritts mag in Form einer geraden Linie darzustellen sein: der wirkliche, soweit er sich nachweisen läßt, verläuft in Form einer bewegten und viel- fach gebrochenen Kurve; sie bricht wieder und wieder ab, weil jeder Menschentypus in der Regel nur einer Art Vollendung fähig ist. Noch ein Wort zur vielverschrieenen Laxheit der Japanerin in erotischer Beziehung. Dem Europäer kommt es ungeheuerlich vor, daß ein Mädchen seine Reinheit verkauft, um anderen Pflichten nachzukommen. Sicher darf dies nicht so verstanden werden, daß die Japanerin das ideale Wesen sei, das sein Höchstes um eines objektiv noch Höheren willen preisgibt (obgleich ihr anerzogener Mangel an Egoismus so groß ist, daß ihr Verhalten oft den Ein- druck tiefsten metaphysischen Wissens macht; die Geisha erinnert oft täuschend an eine Heilige). Nein, ihr gilt Reinheit wirklich weniger als der Europäerin. Allen Völkern des Ostens gilt das Nachgeben dem Naturtriebe als ein Selbstverständliches ; wird dieser eingeschränkt, so geschieht es aus äußeren Gründen, unsere inneren Hemmungen fehlen ihnen. Aber hier frage ich: ist das europäisch Ideal der Reinheit wirklich so hoch? Seinen historischen Grund hat es an der frühchristlich-asketischen Anschauung, nach welcher Geschlechtsverkehr Sünde sei, und diese ist falsch; seinen dauernden Halt findet es, soweit ich sehe, an rein utilitarischen Erwägungen: die Unberührtheit des Mädchens ist einerseits eine Konzession an, andrerseits ein Spekulieren auf den Egoismus der Männerwelt. An und für sich liegt wohl nichts dem Weib normaler- weise ferner, als die Unberührtheit zu idealisieren: ihm ist viel- mehr Hingabe das Ideal, muß es ihm sein, da die Gattungstriebe in seinem Bewußtsein vorherrschen. Soll nun wirklich Unberührt- heit als solche ein Höchstes sein, dann läuft dies schnurstracks auf eine Apotheose der Selbstsucht hinaus. Man idealisiere wie man will: der Kampf des Weibes um seine Reinheit ä tout prlx ist nichts als Selbstbehauptung — und in diesem Zusammenhang besteht wohl kein Zweifel, daß die Japanerin, die sich einem Freudenhaus verkauft, um dem Bruder durch ihren Erwerb das 494 Japanische Auffassung weiblicher Reinheit. Kämpfen für das Vaterland möglich zu machen, das höhere Wesen ist. Die Europäer würden anders urteilen, wenn sie feiner emp- fänden: selten wissen sie zwischen Reinheit im Sinn von Treue und Reinheit im Sinne von Unberührtheit (als physisches Faktum) zu unterscheiden. Im ersteren Sinne steht die Japanerin keiner Europäerin nach : es gibt nicht keuschere Frauen als sie. Und daß sie im letzteren laxer denkt — sollte das nicht, anstatt auf Fri- volität, auf sicherere Instinkte und unbefangeneres Denken schließen lassen? Beginnen nicht auch unsere besten Männer und Frauen mehr und mehr in dieser Hinsicht japanisch zu empfinden? — Man vergleiche unsere Vorstellung von Dezenz mit der japanischen. Unsere Frauen ziehen sich zum Ball beinahe nackend aus, mit der offenkundigen Absicht zu reizen, würden aber vergehen vor Scham, wenn ein Fremder sie im Bade überraschte. Die Japanerin zeigt sich ohne Scham aller Welt entkleidet im Bad, gewänne es aber niemals über sich, sich zum Feste provozierend anzuziehen: auf die Absicht komme doch alles an. . . . Welche Auffassung ist die tiefere, die reinere? . . . ISE. Ich weile an der heiligsten Stätte des Shintö-Kultes, am Tempel Amaterasu O-Mikami's, der göttlichen Ahnfrau des Kaiser- hauses. Wie viel mehr Atmosphäre hat dieser einfache, block- hausartige, strohgedeckte Bau, der alle zwanzig Jahre neu er- richtet wird, als die goldstrotzenden Buddhatempel! Hier hat Japans bester Geist sein Heiligtum. Der Geist der Schlichtheit, der Reinheit, der Loyalität, der Aufopferung für Kaiser und Vater- land, zugleich der Kühnheit, des Wagemuts, des ritterlichen Aben- teuerfilms; der Geist des Japaners, wie er sich selbst im Spiegel seines Idealismus sieht. Jeden Pilger, der dem Heiligtume naht, überkommt er; er ergreift ihn, erhebt ihn, weitet ihn aus, entrückt ihn seinem kleinlichen Ich; nun fühlt er sich eins mit der un- endlichen Reihe derer, welche vor ihm waren, eins in Japan, dem unsterblichen Reich. Auch mich ergreift dieser Geist; aus der Tiefe meines Bewußtseins steigen kaum gekannte und doch vertraute Japans bester Geist; die Ahnenverehrung. 495 Gefühle auf, schließen sich zusammen zu einer neuen Seele, der Seele etwa eines Griechen des Uraltertums. Ja freilich bin ich nur ein Glied der unendlichen Lebenskette, freilich eins mit allen, welche vor mir waren; ja freilich wurzelt mein Sinn nicht in mir, sondern im Überindividuellen, im Geschlecht, dem ich entstamme, das ich verkörpere, und das ich fortzusetzen ver- pflichtet bin; und suche ich nach einem Symbol dieses Über- individuellen, das ich so deutlich spüre und doch so schwer be- stimmen kann, dann komme ich von selbst auf den Begründer meines Stamms, den fernen Ahn, dem alles spätere Leben seine Entstehung dankt. Er ist es, der alle Nachfahren beseelt, der in mir fortwirkt; ihm schulde ich vor allem Ehrfurcht, Liebe und Dank. Und indem ich seiner betend gedenke, werden die edelsten Regungen meiner Seele wach. Ich will es ihm gleichtun, dem hochherzigen Heros, will seiner würdig sein. Er war aller Voll- kommenheit teilhaftig, weit größer als ich mir ihn ausmalen kann. Besser kann ich ihm nicht dienen, als indem ich dem Höchsten zustrebe, und aller Idealismus wird mir so Anlaß zum Kult. — Wie töricht, die Ahnenverehrung als Aberglauben zu belächeln! Wohl kennzeichnet sie ein früheres Stadium, allein sie bringt, wo sie echt und lebendig ist, ein Wirklichkeitsbewußtsein zum Aus- druck, wie auf höheren Naturstufen nur höchste Religiosität. Es ist wirklich so, daß der Mensch mit allem, was vor ihm war und nach ihm sein wird, innerlichst zusammenhängt; das ist dem natur- nahen Urmenschen bewußter als dem Spätling. Auf höheren Stufen ist es nur die Frau, in deren Bewußtsein die Urbezüge des Lebens lebendig fortleben; sie allein noch fühlt sich unmittelbar eins mit ihrem Geschlecht; ihr Verstand ist selten eigenwüchsig genug, um die naturhaften Gefühle zu ersticken. Und dann sind es die Erben einer alten Tradition, die bodenständigen Adels- geschlechter, deren Sinn bewußt im Überindividuellen wurzelt: hier sorgen Verantwortungsgefühl und Stolz dafür, daß der Ur- geist erhalten bleibt. Das Bewußtsein nun des Weibes und des Edelmanns ist nicht oberflächlicher, es reicht tiefer hinab als das des entwurzelten Intellektuellen. Wohl ist ihre Tiefe nur eine Tiefe — die der Natur; das Einheitsbewußtsein des Ahnen- verehrers reicht nicht hinaus über sie: aber wo die Seele noch physiologisch gebunden ist, kann es kein unmittelbares Bewußt- sein des Atman geben. Wohl sind die Vorstellungen, in denen 496 Tiefer Sinn des Vorfahrenkults. sein Wirklichkeitsbewußtsein sich verkörpert, selten tiefsinnig: aber von primitiven Menschen ist nicht zu verlangen, daß ihre Gedanken ihren Ahnungen adäquat wären. Deshalb findet der verstandbefangene Betrachter an den Formen des Vorfahren- kultes selten Gefallen, zumal am japanischen, dessen Ideengehalt kaum zu fassen ist, Dem Japaner liegt das Denken so wenig, er hat so wenig Sinn für das Abstrakte, empfindet so wenig Ver- druß über intellektuelle Unzulänglichkeit, daß es ein hoffnungs- loses Beginnen erscheint, seinen Nationalkult eigentlich zu be- greifen. Dieser ist, dem Äußeren nach beurteilt, ein seltsames Ge- misch von Ahnen- und Natur-Verehrung, von Magie und von point d'honneur, von Sitte und Sehnsucht nach dem Höchsten, von rohem Aberglauben und urwüchsigem Wirklichkeitssinn; wenn einem von Japanern erklärt wird, die Mikadoverehrung basiere darauf, daß dessen Vorfahren über ihrer aller Vorfahren ge- herrscht hätten, so ist das keine Erklärung, kaum eine Erläuterung: es ist eine bloße Darstellung des Tatbestandes, den der, welcher nichts Ähnliches aus eigenem Erleben kennt, niemals begreifen wird. Nichtsdestoweniger ist die Mikadoverehrung ein Tiefstes, bedeutet sie wirklich ein metaphysisch Äußerstes. Die spezifische Erscheinung ist eben nur ein Ausdruck und ein nur Japanern gemäßer, ihnen aber entspricht er wie kein anderer es täte. Dieser Tage wurde im bakteriologischen Institut von Tokyo ein Shintö- Schrein für Robert Koch enthüllt. Keiner der Professoren und Studenten, die alle vermutlich Agnostiker sind, dürfte annehmen, daß Koch ein Gott geworden sei; nicht viele vielleicht glauben an sein Fortleben nach dem Tode. Ihnen allen aber erschien die Errichtung eines Tempels und ein Kult nach dem Shintö-Ritual als entsprechendster Ausdruck ihrer Verehrung für den großen Gelehrten. Freilich tut die Regierung gut, nach Kräften auf ein Wieder- aufleben des Shintö-Kultes hinzuwirken: wie kein anderer ruft er die tiefsten Schwingungen der Japanerseele wach oder bringt sie, wo vorhanden, zum Ausdruck. Es ist neuerdings von Chamberlain darauf hingewiesen worden, daß der Shintöismus, wie er heute als Staatsreligion herrscht, eine neue Erfindung sei; über 1000 Jahre entlang sei der Buddhismus die japanische Religion gewesen, und was heute als Urglauben gelehrt werde, sei ein künstliches Fabri- kat. Die Tatsachen werden damit wohl richtig bestimmt sein — Wesen, Wert und Geschichte des Shinto. 497 aber wie wenig ihr Sinn! Nur deshalb war es möglich, in weniger als 50 Jahren ein Artefakt als ererbten Glauben einzuführen, weil dessen Form dem innersten Leben der Japanerseele gemäß war; man hätte versucht, das Christentum also einzubürgern — nie wäre es gelungen. Auch ich bin der Meinung, daß die besonderen Kult- und Glaubensgestaltungen Erfindungen der Priester sind; irgendeiner muß sie doch erfunden haben. Aber dort, wo es jenen gelang, ihre Erfindungen einzuführen, brachten diese allemal eine allgemeine Tendenz zum bestmöglichen Ausdruck. Ja, die Regie- rung handelt weise daran, daß sie die Shintö-Religion mit allen Mitteln kräftigt und unterstützt; und sie weiß gewiß, weshalb sie dieses tut. Japan befindet sich in der nicht ungefährlichen Lage, daß ein ausgesprochen unindividualisiertes, unpersönliches Volk sich dem Einflüsse einer Zivilisation, welche äußerste Indi- vidualisiertheit zur inneren Voraussetzung hat, unbedingt hinge- geben hat. Deren Außenseite kann ihm nur Gutes bringen; das hat Japan bereits glänzend bewiesen. Aber wenn ihr Geist von den Japanern zu früh Besitz ergreift, dann steht Schlimmes bevor. Sie sind nicht so weit, daß jeder von sich aus im Sinn des Ganzen handeln könnte; ihr metaphysisches Wissen hat noch keine andere Äußerungsmöglichkeit, als die durch physiologisches Zusammen- hangsgefühl hindurch. Verliert dieses Volk sein primitives Grup- penbewußtsein, sein Selbstgefühl im Sinn der cite antique, dann zerfällt sein Zusammenhang. Alle Japaner, in denen der Geist Alt-Japans {Yamato damashii) nicht mehr lebt, sind abstoßend oberflächlich. MYANOSHITA. Zum erstenmal, seit ich in Japan bin, steigen Erinnerungs- bilder aus den Himalayas auf in mir. Wie ich, in hoch- gelegenem Talkessel, vor einem Sturzbach träume, der sich von steilem Fels durch üppigstes Pflanzengeranke in die Tiefe ergießt, da muß ich an die Bergwälder zurückdenken, die ich seinerzeit mit solchem Entzücken durchstreift. Auch hier ist der Rahmen des Ganzen großartig an und für sich: die Höhen ringsum Keyserling, Reisetagebuch. 32 498 Warum Japan nicht großartig ist. sind kahl und wild, von dampfenden Schwefelquellen durchsetzt; über die Vorberge winkt der Schneegipfel des Fuji herüber; dunkele Fichtenwälder bedecken die tiefergelegenen Abhänge. Und auch dort fehlt das Liebliche nicht: die überreiche Vege- tation schafft wieder und wieder verschwiegene Lauben, wo nichts den farnumwucherten Quellen den idyllischen Charakter stört. Woher kommt es, daß ich hier dennoch gar nicht die Empfindung des Großartigen habe? — Daran tragen die listigen Menschlein die Schuld, die diesem Lande ihre Eigenart aufgeprägt haben: ihr Naturverständnis ist so ungeheuerlich groß, daß sie ihre Um- welt ästhetisch unterjocht haben. Wie ein einziger Farbenfleck den Sinn eines Gemäldes bestimmen und umwandeln kann, so hat der Japaner durch zielbewußtes Einfügen seines Daseins in das der ihn umgebenden Natur deren Grundton so völlig auf sich selbst hinüberverlegt, daß das Große nur mehr als Füllung des Kleinen wirkt. Damit aber ist das Großartige aus der Welt hinausverwiesen. Gewiß stellt die Fähigkeit des Japaners, das Große im Kleinen zu erkennen, zu erfassen, aufzusaugen und wiederzugebären, vom Standpunkte des Absoluten her gesehen, etwas ganz Großes dar. Sein exquisites Naturgefühl bedeutet das gleiche, wie das Welt- gefühl beim Inder oder bei uns, also kann nur der Tor in seinem Fall im Nichtvorhandensein des letzteren ein Gebrechen sehen. Ja man kann weiter gehen: was will der Mystiker sagen, wenn er behauptet, seine Seele gehe ins Unendliche ein? nicht daß der Tropfen im Ozean verschwindet, sondern umgekehrt, daß das Weltmeer von einem Tropfen aufgesogen wird — und eben das leistet in ihrer Sphäre, mit ihren Mitteln, die japanische Kunst. Doch ändert diese Überlegung nichts daran, daß innerhalb der Möglichkeiten des Japanertums das Großartige nirgends Platz findet; angestrebt mag es werden, erreicht wird es nie, weil eben Kleines nie großartig wirken kann. Wenn das Ameisenvolk seinen Haufen mit einer Todesverachtung verteidigt, die unter Menschen vielleicht niemals zu finden ist, so bewundern wir das — aber groß erscheint es uns nicht; alles kommt auf die Proportionen des Urzusammenhangs an. Beim Chinesen weist jedes einzelne auf das Tao zurück; dementsprechend hat auch die chinoiserie den Himmel zum Hintergrund. In Japan bleibt alles im Rahmen des Menschenlebens beschlossen, und die oberste Synthese ist Japan, nicht das All. Daher wirkt das Mädchen wunderbar leben- Kleines wirkt nie groß ; Bedeutung des Quantitativen. 499 dig, das schluchzend für den Liebsten in den Tod geht, und ebenso der strenge Samurai, der aus gekränktem Ehrgefühl Selbstmord übt; alle intimen Tragödien sind im Bilde. Heroismus im Großen weist über den Rahmen hinaus. Man soll die Bedeutung des Quantitativen nicht unterschätzen. Steigen wir einmal vom Standpunkte des Absoluten herab — und das müssen wir tun, so oft wir der einzelnen Erscheinung gerecht werden wollen — dann müssen wir zugeben, daß ein Unterschied besteht zwischen Totalität und Einzelheit, zwischen dem Chrysan- themum und dem weltenschaffenden Gott. Wohl ist alles Leben- dige gottartig; auf seine Weise tut jeder bei der Weltenschöpfung mit, und da er im Zusammenhange schafft, offenbart jeder voll- endete Ausdruck unmittelbar des Ganzen Sinn. Allein wer im Großen wirkt, ist von anderem Kaliber als der Kleinkünstler. Mit einem einzigen Gedanken ruft der Gott Milliarden von Schwin- gungen hervor, und was die Biene dann leistet, muß jener erst ermöglicht haben. Wahrscheinlich ist Gott im einzelnen unver- mögend; schwerlich wäre er ein guter Miniaturist. Sicher ist er auf seine Art beschränkt, eben weil er nur alles vermag und das Besondere daher kleineren Leuten überlassen muß — wie er es denn, wohl schwerlich ohne zwingenden Grund, von jeher getan hat. Gewiß, das Große ist eben deshalb beschränkt, und zwar im selben Sinn, wie dies vom Kleinen gilt; aber trotzdem ist es mehr als das Kleine. Solange wir in der Erscheinungswelt ge- fangen sind — und wer weiß, ob wir je aus ihr hinausgelangen? — so lange müssen wir das gelten lassen; so lange der bloße Begriff einer Steigerung Sinn besitzen soll, so lange bleibt dem Quantitativen sein objektiver Wert. Drum ist das Großartige mehr als das Liebliche, und sei dieses noch so vollendet. In den Hima- layas trägt die Natur Züge, die nur aus kosmischen Vorausset- zungen zu begreifen sind; die ganze Landschaft spottet mensch- licher Maßstäbe; mag die Flora noch so üppig wuchern, sie wirkt nur wie ein Anflug von Patina auf gewaltigem ehernen Gefäß. In Japan wüßte ich nichts, was nicht vom Menschen her ver- standen werden könnte. Wohl trägt auch hier die Natur gelegent- lich große Züge, aber groß ist nur der äußere Rahmen und der Nachdruck ruht auf dem Bild. Der einzelne Blütenzweig, gegen den Hintergrund des leeren Raums gehalten — das Lieblings- motiv so vieler japanischer Künstler — ruft wohl das Gefühl der 32* 500 Inwiefern Gott mehr ist als der Blütenzweig. Unendlichkeit wach in uns. Aber es ist doch der blühende Zweig, der dieses bewirkt, und er gibt dem Gefühle seine Färbung. Die Begriffe unserer Zeit scheinen mir, was diese Fragen betrifft, einigermaßen verwirrt zu sein. Im Bewußtsein der Wahr- heit, das alles Vollendete das Unendliche zum Ausdruck bringt, ist man dahin gekommen, die Unterschiede in anderen Dimen- sionen zu übersehen; der Blütenzweig wird dem Gotte gleich- gesetzt. Das wäre an sich noch kein Unglück: was verschlägt es, was die Kritiker behaupten? aber es wird schließlich doch zum Verhängnis, insofern es die Schaffenden verdirbt. Rainer Maria Rilke, eine feinfühlige, zarte Natur, hat gelegentlich, wo er von fallendem Herbstlaub sang, die Gottheit geoffenbart. Doch wo er direkt von dieser spricht, dort redet er an ihr vorbei. Rilke gehört zu denen, welchen die Blume der greifbarste Ausdruck des Ewigen ist. Vom Göttlichen unmittelbar zu künden, sollte er großzügigeren Geistern überlassen. N1KKO. Es gibt doch Großartiges in Japan. Die Landschaft Nikkös, mit ihren schroffen Felsen, ihren tosenden Wasserfällen, ihren gigantischen Tannen und Cryptomerien ist grandios; und sie wirkt so vor allem, weil sie gewaltiges Menschentum ein- rahmt. Im Jyeyasu-Tempel weht ein Geist der Großheit, wie ich solchen seit Peking nicht mehr wehen gespürt. Jyeyasu, der Begründer der Tokugawa-Dynastie, die über zweieinhalb Jahrhunderte unter der Schein-Oberhoheit der Mi- kados die Geschicke des Landes gelenkt hat, war ein gewaltiger Mann; den gewaltigsten aller Weltteile vergleichbar. Und wie quantitative Verschiebung in der ganzen Natur qualitative Ver- änderung mit sich bringt, so hat in ihm der japanische Herrscher- typ eine grundsätzliche Metamorphose erfahren: nun war es weder mythischer Nimbus noch höfisches Prestige, weder der Vorteil der Geburt noch die Klugheit oder der starke Arm, welcher der Macht ihren Hintergrund gab — es war jene echt herrschaftliche Über- legenheit, die alles einzelne in sich beschließend, doch über ihm thront; jene intrinseke Majestät, die alle ganz großen Könige aus- Die Größe der Tokugawas; Bild und Rahmen. 501 zeichnet. Diesen Geist hat Jyeyasu seinen Nachkommen vermacht; noch heute waltet er über Nikko, über den Grabdenkmälern der Tokugawas und ihrer Vasallen, eine psychische Atmosphäre be- dingend, wie sie an keiner anderen Stätte Japans herrscht. Wunderbar, daß dieser eine Mann einen Typus hat schaffen können, der gegenüber allem sonstigen Japanertum in einer an- deren Dimension belegen scheint! Und wunderbar vor allem, daß dieser Typus fortgedauert hat! Ich kenne kein eindrucksvolleres Beispiel dessen, wie ausschlaggebend der Rahmen für den Cha- rakter des Bildes sein kann. Je nach der äußeren Lage, in der ein Mensch sich befindet, werden andere Kräfte in ihm frei; das Lebensprinzip modifiziert seine Erscheinung entsprechend seiner Ausdrucksmöglichkeit. Prestige, Macht, Reichtum, das gläu- bige Aufschauen von Untergebenen sind ebensoviel gestaltende Kräfte, welche die Seele bilden und erziehen und oft von heute auf morgen eine radikale Metamorphose herbeiführen. Diesen Tatbestand erkennt der Volksmund an, indem er sagt: wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand; nur vergißt er dabei eines wesentlichen: daß nicht jeder, mit noch so viel Ver- stand, jedes Amt gut verwalten wird. Das Entscheidende ist der lebendige Geist, welcher sich des Verstandes bedient, und dieser ist bei jedem ein Konstantes, nur in seltenen Ausnahmefällen der Steigerung fähig; der Geist, in dem einer erzogen ward, dominiert meist bis zuletzt. Das ist der wahre Sinn des* Legitimitätsge- dankens, zugleich des Mißtrauens gegen den homo novus: auf einen Jyeyasu, einen Acoka, einen Napoleon kommen Tausende von begabten Emporkömmlingen, die ihrer neuen Stellung nicht gewachsen waren. Um die Kräfte, welche die Herrscherstellung vielleicht in jedem freiwerden läßt, voll auszunutzen, muß diese einem selbstverständlich sein, muß das Herrscherbewußt- sein mit dem normalen zusammenfallen; und so an sich zu glauben, wie dies erforderlich ist, auf daß einem ein jüngst erst Undenkbares selbstverständlich würde, vermag nur der seltene Genius. Dies gibt dem in einer Stellung geborenen einen abso- luten Vorzug vor dem Emporkömmling, gibt dem unbedeutenden Erbherrn eines Staates noch ein pres vordem bedeutenden Parvenü. Ich habe im Laufe meines Lebens die Mentalitäten der verschiedenen Menschentypen, mit denen mich das Schicksal zusammenbrachte, recht aufmerksam studiert: regierende Fürsten, Staatsmänner, 502 Bild und Rahmen; Sinn des Legitimitätsgedankens. Geldkönige, aufsteigende Talente: bei allen zum Herrschen Gebo- renen, die nicht entartet waren, habe ich eine normale Bewußt- seinslage angetroffen, die einem gewöhnlichen Sterblichen wohl erreichbar, aber nie normal ist, und absolute Überlegenheit bedingt. Natürlich hat auch sie ihre spezifischen Grenzen; wo der Rahmen dem Bilde nicht entspricht, wie dies ja heute mehr und mehr der Fall wird, tritt die Überlegenheit als Unterlegenheit in die Er- scheinung. Aber die Berufenheit geborener Herrscher zum Herr- schen springt dennoch so sehr in die Augen, daß ich mich oft kopfschüttelnd gefragt habe, wie die Menschheit wohl so blind sein kann, wo sie Rennpferde und Milchkühe züchtet, die Regenten- zucht aufgeben zu wollen. Die Gegenprobe führt zum gleichen Ergebnis. Wo ich Gelegenheit hatte, den Aufstieg eines bedeuten- den Mannes zu verfolgen, dort konnte ich zunächst jedesmal ein Wachsen des Menschen konstatieren: sein eigentliches Wesen fand mehr und mehr Ausdrucksmittel; aber sobald die Erweiterung des Rahmens über einen gewissen kritischen Punkt hinausgeführt hatte, welcher je nach seinem Kaliber näher oder ferner lag, dort wurde er auf einmal wieder kleiner; seine Mittel waren größer geworden als er selbst. Die Grenze dieser Verkümmerung bezeichnet das Zerrbild des Parvenüs. — Jyeyasu hatte sein Geschlecht in eine Stellung emporgehoben, die der Bedeutung nach einzig dastand in ganz Japan. Er selbst war einer der wenigen Emporkömmlinge, der nicht nur zum Aufstieg, sondern dem Leben auf der Höhe prädestiniert waren. Seinen Lebensrahmen hinterließ er seinem Geschlecht. Und dieser Rahmen hat soviel formende Kraft be- wiesen, daß die Shoguns über zweihundert Jahre lang einen großen Stil besessen haben, wie kein Japaner weder vor noch nach ihnen; und daß heute noch über ihren Gräbern der Geist der Großheit weht. Das Mikadotum ; Vorzüge der Autokratie. 503 TOKYO. Die Kaiserstadt. ... Sie ist ganz seelen- und stillos, trotz der großartigen Anlagen, die aus der Shogunzeit stammen, trotz all' des Schönen, das sie sonst enthält; Tokyo ist eine moderne Stadt in des Wortes trivialster Bedeutung. Und dabei ist sie, gerade sie, die Residenz eines mythischen Herrschers, eines Monarchen, dem sein Volk eine höhere Stellung zuerkennt, als die Chinesen dem Himmelssohne; eines Kaisers, dessen Gottesgnadentum recht eigentlich den Sinn der Göttlich- keit hat! Höchst seltsam, dieses Zusammenbestehen des Primor- dialen mit dem Modernen. Daß die Mikados ihr Prestige durch die Jahrhunderte hindurch bewahrt haben, wo sie fast gar keine Machtbefugnis hatten, wo sie Puppen in den Händen der Haus- meier waren und wie Unterbeamte ein- und abgesetzt wurden, er- scheint nicht verwunderlich, wenn man die Bedeutung des Mikado- tums in den Augen des Volkes richtig auffaßt: sie gehörten einer anderen Daseinsebene an, als ihre Untertanen, so verschlug es nicht viel, was im menschlichen Sinne mit ihnen geschah; sie galten jenen Göttern gleich, die man zerschlägt, wenn sie Miß- fallen erregen, die aber gleichzeitig höhere Wesen bleiben. Aber daß ihr Prestige noch heute im alten Sinne fortbesteht, wo sie, wie andere Regenten auch, im Staatskörper eine bestimmte Rolle spielen, das ist ein wohl Niedagewesenes. Japan ist fortgeschritten, weil ein mythischer Herrscher es ihm gebot; bis vor kurzem diktierte der Hof die öffentliche Mei- nung; die kaiserlichen Edikte noch so trivialen Inhalts wurden mit der Andacht gelesen, die Offenbarungen des Himmels gegenüber anständig ist; die bedeutendsten Staatsmänner alten Schlages emp- fanden hierin nicht viel anders als das gemeine Volk. Es kann nicht geleugnet werden, daß dieser Zustand Japan zum Heil ge- reicht hat. Überall, wo die Individuen sich nicht emanzipiert fühlen, wo sie geneigt sind, höhere Mächte in persönlicher Sym- bolik vorzustellen, wo überdies die Glaubenskraft genügt, bedeutet Selbstherrschertum die beste Regierungsform. Dort verkörpert der Herrsche^ buchstäblich den Eigenwillen der Nation, dort wird sie sich buchstäblich in ihr ihrer selbst bewußt; dort sind sie und 504 Kaiser mehr als normale Menschen; Nachteile der Republik. er tatsächlich innerlich eins. Denn dort wächst die Person des Autokraten, dank dem schöpferischen Glauben seiner Untertanen, von selbst über normales Menschenmaß hinaus. Die Weisen Indiens lehren: genau soweit, wie eine Seele zu Gott hinanstrebt, komme dieser ihr entgegen. Eben dieses ist wahr in bezug auf das Ver- hältnis von Herrscher und Volk: je mehr dieses dem Herrscher zugesteht, desto mehr entwickelt er sich dem Ideale seiner Untertanen entgegen. Die russischen Zaren stellten bis vor nicht gar lange einen höheren Menschentypus dar, als die konstitutio- nellen Monarchen West-Europas, denn sie wurden von einem ge- waltigen Glauben getragen. So hat sich Mutsuhito, von Hause aus eine Durchschnittsnatur, als großer Mann bewährt, weil Göttliches von ihm erwartet wurde. Wieder einmal gedenke ich dessen, was mehr wert ist, die Monarchie oder die Republik, und wieder einmal sehe ich mich veranlaßt, mich zum monarchischen Prinzipe zu bekennen. Wie gut bewährt es sich doch, wenn der Mensch seinen Vorgesetzten überschätzt! Gleichviel ob dieser die ihm gezollte Verehrung ur- sprünglich verdient oder nicht: wenn er nicht gar schlecht ist, so verdient er sie auf die Dauer; jeder wohlgesinnte Monarch ist im Laufe der Zeit zu einem bedeutenderen Menschen herange- wachsen, als es neun Zehntel seiner Untertanen sind. Indem diese jedoch ihren Herrscher als Wesen höherer Art verehren, han- deln sie besser und werden sie mehr, als sie unter anderen Be- dingungen würden: aus Rücksicht auf andere setzt auch der Mittelmäßige sein Äußerstes dran, aus Rücksicht auf sich selbst nur der Höchstgebildete. In der Republik ist ferner jeder im Prinzip souverän, kann jeder zum Ersten im Lande aufrücken: so sieht sich keiner zur Selbstbeschränkung angeleitet; Ehrgeiz, Herrschsucht, Wille zur Macht wuchern über alle Grenzen hinaus, und diese Wucherungen gefährden die Seele. Wie eindeutig alle Tatsachen die Vorurteile unserer Epoche Lügen strafen! Die Japaner vom alten Schlage fühlen sich nicht als Individuen im modernen Sinn, und sind menschlich doch viel wertvoller als die meisten Modernen. Ich gedenke der Verse Lautses: Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd, Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel und Erde ist, Daß sie nicht sich selber leben. Darum können sie dauernd Leben geben. Japanische Große. 505 Also auch der Berufene: Er setzt sein Selbst hintan, Und sein Selbst kommt voran. Er entäußert sich seines Selbst, Und sein Selbst bleibt erhalten. Ist es nicht also: Weil er nichts Eigenes will, Darum wird sein Eigenes vollendet? Nun habe ich auch Große des Landes kennen gelernt: die sind mit den kleinen Leuten kaum auf einen Nenner zu bringen. Die Besten unter ihnen haben etwas Alt-Römisches, Scharfes, Klares, Selbstverständlich-Überlegenes; alle aber ab- solut nichts Künstlerhaftes, nichts Süßes, Feinsinniges, Zierliches: sie sind vielmehr hart und könnten grausam sein. Die allgemein- japanischen Eigenschaften der Merkschheit, des sicheren Blicks, des schnellen Verstehens alles Handgreiflichen scheinen bei ihnen einem anderen Zusammenhang einverleibt: was sonst den Künst- ler macht, kommt hier dem Spion zugute, die Fähigkeit Rück- sicht zu nehmen, dem Diplomaten, die Geschmeidigkeit dem Reorganisator; hier tritt die Zähigkeit der Rasse als stählerner Wille zutage, während ihre matteroffactness Realpolitiker so ex- tremen Charakters schafft, wie solche bei uns kein Macchiavellis- mus jemals erzeugt hat. Somit stellt sich das Problem, wie das Japan Lafcadio Hearns so großer politischer Leistungen fähig war, überhaupt nicht; dieses Japan hat die Umwandlung nur mitgemacht; eingeleitet und durchgeführt ist sie durch andere worden, denen weitsichtiges Schaffen ebenso natürlich ist, wie dem kleinen Mann das Zwergen seiner Bäume. Immerhin sind die Führer in Japan nicht ganz Führer in unserem Sinn, und das ist das Japanische an ihnen: sie sind weniger Faktoren als Exponenten; wie groß ihre individuelle Bedeutung zuweilen sei, ihre Wirkungskraft beruht auf ihrem Vertietertum. Im Fall des Kaisers liegt dieses Verhältnis auf der Hand: nicht nur in Japan, überall auf der Welt, wo diese Stellung noch mit einem mythischen Nimbus umwoben ist, kommt es mehr darauf an, daß einer, als wer der Herrscher ist; als Brennpunkt des Volksglaubens wirkt er auf alle Fälle 506 Japanische Große; das demokratische Ideal. schöpferisch. Das gleiche gilt von den Staatsmännern, die Japan groß gemacht haben. Höchstwahrscheinlich standen und stehen sie alle als Persönlichkeiten unter dem, was die Qualität ihres Werks voraussetzen läßt; sie konnten -es schaffen, weil sie vom Volk getragen wurden. Wo das Bewußtsein des Einzelnen weniger Selbst- als Gruppenzugehörigkeitsbewußtsein ist, dort sieht er in seinen Führern keine Außer-ihm-stehenden, sondern recht eigentlich Organe seiner selbst, und gehorcht ihnen, als ob er sich selbst befehlen würde. So liegt die Gewähr für den Führerberuf in Japan zum allergrößten Teil in der Vollendung der Volksorganisation. Das will sagen: solange diese im Stande ist, werden geborene Führer nicht aussterben. Diese tragen hier denn auch eine Über- legenheit zur Schau, wie sie anderswo heute kaum vorkommt; Graf Okuma ist sich seines Einflusses im selben Sinne bewußt, wie ein Kaiser seines Gottesgnadentums und dieses Bewußtsein als solches wirkt als Kraft. Was ich hier über das tatsächliche Verhältnis zwischen Führern und Geführten in Japan anführe, klingt wie eine Darstellung des demokratischen Ideals. Ist es nicht bezeichnend, daß dieses noch von keiner Demokratie, wohl aber schon oft von aristokratischen Gemeinwesen verwirklicht worden ist? Solange das Individuum individualistisch denkt — und das ist wohl das Hauptkennzeichen der Demokratie — solange ist eine vollkommene Organisierung der Gesamtheit unmöglich. Freilich ist das Ideal im Prinzip auch dort verwirklichbar, wo die Persönlichkeiten autonom geworden sind; aber dazu müssen diese einen Grad innerer Bildung erreicht haben, von dem bei den heutigen Demokratien noch das leiseste Voranzeichen fehlt. Meine Eindrücke schließen sich mehr und mehr zu einem Gesamtbild zusammen. So viel ist mir ganz klar: die Japaner, oder vielmehr die sozialen Schichten derselben, die politisch in Frage kommen, sind keine Orientalen, wenn deren Begriff so verstanden wird, daß er das Wesentliche des Chinesen und des Inders auf einmal einschließt; sie stehen uns näher, als den Chinesen und haben insofern ein Götterrecht, uns nach- zueifern. Ihre Ähnlichkeit mit China beruht zum größten Teil auf der Importierten chinesischen Kultur; der Naturanlage nach sind Japaner uns ähnlicher als den Chinesen. 507 sie, gleich uns, ein fortschrittliches Volk, wie dies ja auch ihre Geschichte vom Anfang an bis auf heute unzweideutig zum Aus- druck bringt; genau in dem Sinn, wie sie uns heute nacheifern, sind sie vormals bei Korea und China in die Schule gegangen. Daher darf die Verwestlichung Japans nicht im gleichen Lichte betrachtet werden, wie diejenige Indiens oder Chinas. Als ich durch das Binnenmeer einfuhr, war ich nicht wenig überrascht durch den Eindruck, in eine mir ganz neue, von der chinesischen durch eine tiefe Kluft geschiedene Welt hineinzukommen; mir schien, als umwehte mich eine Luft wie die im griechischen Ar- chipel, eine Luft unternehmenden Seef ahrertums ; ich spürte nicht allein nichts von der kosmischen Ruhe, dem majestätischen Frieden des Chinesentums, sondern auch nichts von dem Japan, das Lafcadio Hearn geschildert hat. Dieses Japan existiert allerdings. Aber doch darf ich heute sagen, daß mein erster Gesamteindruck richtig war: das Wesentliche am Japanervolk ist das Unternehmende, Ausnutzende, Praktisch-Geschmeidige, nicht die Japonerie. Der Japaner ist typischerweise kein Schöpfer, aber er ist auch kein Nachahmer, wie gemeiniglich behauptet wird — er ist wesent- lich ein Ausnutzer und zwar im Sinn des Jiujitsukämpfers : der Jiujitsu ist das Symbol des Japanertums. Wessen bedarf es, um Meister dieser Kunst zu sein? Keiner schöpferischen Initiative, dafür einer außerordentlichen Beobachtungsgabe, des augenblick- lichen Verständnisses für die empirische Bedeutung jedes Eindrucks und der Fähigkeit, aus diesem sofort den größtmöglichen prak- tischen Nutzen zu ziehen; es bedarf im äußersten Maß jenes besonderen Zusammenarbeitens von Kopf und Hand, wo alle Er- kenntnis momentan zur zweckmäßigsten Reaktionsbewegung führt, wo alle Erinnerung sich motorisch äußert. Auf gleichem Können beruht alle spezifisch-japanische Kultur, gleiches bedeutet das japanische „Nachahmen". Der Japaner ahmt eigentlich gar nicht nach — er profitiert, wie der Ringkämpfer aus einer Gebärde seines Gegners Vorteil zieht; er kopiert nicht, sondern er wechselt seine Einstellung; ihm ist es gegeben, sich mit unvergleichlicher Leichtigkeit aller Erscheinung dergestalt einzubilden, daß er ihre Sonderart (nicht ihr Wesen!) innerlich versteht, zu sich selbst in organische Beziehung bringt und sie dann nutzt, soweit sie zu nutzen ist. So hat er einst die chinesischen Kulturgestaltungen ausgenutzt. Vielleicht hat er sie nie wesentlich verstanden, aber auch 508 Definition des Japanertums; japanische Unbeeinflußbarkeit. bloß äußerlich nachgeäfft hat er sie nie — er hat sich in ihre Er- scheinung vollkommen hineinversetzt und dann in chinesischer Ein- stellung gelebt. Allen Formen sind spezifische Möglichkeiten imma- nent, die sich verwirklichen in relativer Unabhängigkeit davon, ob ihre jeweiligen Träger sie verstehen, ob sie ihnen etwas bedeuten oder nicht: so haben die Japaner vieles Chinesische dessen eigenstem Geist entsprechend fortgebildet. Sie waren nie vom chinesischen Geiste beseelt; sie trugen bloß chinesische Leiber. So sind sie innerlich fast unberührt geblieben. Schon früher wies ich darauf hin, wie wenig sie sich innerlich verwandelt haben trotz aller Einflüsse, denen sie sich hingaben: das liegt an ihrer vorher gekennzeichneten Anlage. Der Japaner darf von allen Menschen der Erde am meisten Fremdes sich aneignen, ohne Schaden be- fürchten zu müssen, weil er im Tiefsten unbeeinflußbar ist. Die chinesische ist Ausdrucks-, die japanische Einstellungs- kultur: ein schrofferer Gegensatz läßt sich kaum denken; wo jene in der Tiefe wurzelt, erschöpft sich diese an der Oberfläche. Der Japaner ist unsubstantiell, kein Zweifel: wo die Attitüde die letzte Instanz ist, dort fehlt es an innerem Gehalt. Eben hierin aber liegt Japans Bedeutsamkeit begründet:, es zeigt, wie weit man kommen kann ohne wesenhaft zu sein. Man kann unglaublich weit kommen. Die Japaner haben Werte in die Welt gesetzt, die ohne sie unver- körpert geblieben wären, eine Kultur der Oberfläche geschaffen, wie es keine reizvollere je gab. Darum ist es ungerecht, bei ihren Unzulänglichkeiten zu verweilen. Substantialität ist überall nicht häufig; auch unter Indern kommen Japaner vor, soweit diese durch ihr Negatives definiert werden; aber die unsubstantiellen Nicht-Japaner haben die Vorzüge des Japaners nicht. Kein Wesen kann etwas für seine Anlage; es gibt Geschöpfe, die das letzte Wesen zum geistigen Ausdruck bringen, es gibt andere, deren Äußerstes die Einstellung ist. Gott gelten sie allesamt gleich, sofern sie vollendet sind in ihrer Art. Wir Menschen aber sollten endlich lernen, jedes Geschöpf dessen Eigenart gemäß zu bewerten, nur das von ihm zu verlangen, wessen es fähig ist. Die Japaner dürfen sich getrost verwestlichen, welches Inder und Chinesen nicht dürfen, weil es sich bei ihnen um keine wirk- liche Verwandlung, sondern nur um eine fechterische Neuein- stellung handelt. Immerhin ist mit dieser Erkenntnis ihr Problem nicht erschöpft: bei aller Versalität hat der Japaner eine Seele, und Japans Hauptgefahren. 509 scheint diese auch geringeren Gefahren ausgesetzt, als von den meisten gilt, die sich fremden Einflüssen hingeben, so ist sie doch nicht gefeit; wird sie aber überhaupt getroffen, dann steht es schlimmer mit ihm als mit jedem anderen. Zwei Grundgefühle dürfen nie zersetzt werden, wenn Japan nicht zugrunde gehen soll: das eine ist sein Naturgefühl, das andere sein spezifischer Patriotismus. Über beide Punkte habe ich mich schon ausgesprochen; hier brauche ich nur Gesagtes zusammenzufassen und meinem heutigen Zweck entsprechend zuzuspitzen. Das Naturgefühl des Japaners entspricht dem Weltgefühl des Inders und dem Harmoniebewußt- sein des Chinesen; es ist die gleiche Synthese en miniature, hat den gleichen tiefen Grund, und entschwände sie seinem Bewußt- sein, so verlöre er eben damit den Zusammenhang mit seinem tiefsten Selbst. Alles, wodurch er das Ursprüngliche zu ersetzen versuchen wollte, wird eine Oberflächenerrungenschaft bleiben, ohne unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Seele. Ein Inder versuche sich zum Griechen umzuwandeln: er würde dadurch sicherlich flach; nicht deshalb, weil seine ursprüngliche Art, den Menschen als Teil der Natur zu sehen, gegenüber der hellenischen, welcher diese ein Äußerlich-Bildhaftes bleibt, die objektiv tiefere ist, sondern weil er die griechische Weltanschauung auf sein Tiefstes zu beziehen außerstande wäre. Beim Japaner ist die gleiche typische Gefahr bedeutend größer, weil sein Gesichtskreis viel beschränkter ist, weil ungleich weniger Phänomene einer Ver- knüpfung mit seiner Seele fähig sind. So würde Naturalismus die japanische Kunst nicht allein herunterbringen, wie bei uns, rondern buchstäblich töten, so macht Unhöflichkeit den Japaner nicht bloß unangenehm, wie jeden anderen, sondern flach. Pflegt also Japan sein Naturgefühl nicht desto mehr, je intensiver es uns in anderen Hinsichten nacheifert, so kann es geschehen, daß sich sein Organis- mus eines Tages entseelt befindet. — Das andere Gefühl, das Japan um keinen Preis verlieren darf, ist seine Vaterlandsliebe; die eigen- tümliche, in Europa ausgestorbene, nur in Kriegszeiten kurzfristig wiederauflebende Gefühlssynthese zwischen Individuum, Gruppe, Heimat und Herrscherhaus. Die Japaner sind noch nicht Indivi- duen 2xi unserem Sinne; ihr Zentrum ruht in der Gruppe; daher wird ihnen Verwestlichung zunächst nur so lange frommen, als die neue Organisation auf die alte Basis bezogen werden kann. 5 1 Gefahren und Nachteile der Verwestlichung. Während das Fortschreiten bei uns eine Folge der Individualisie- rung war, ist es in Japan bis heute ein Ausdruck unter anderem des unindividualisierten Gruppenbewußtseins gewesen, und könnte zum Stillstand kommen oder zur Zersetzung führen, wenn der Einzelne sich seiner selbst im westlichen Sinne bewußt würde. Letzteres beginnt schon; und es beginnt zu früh. Die junge Ge- neration gibt den Führern viel zu denken, denn bedenklich neigt sie dazu, ihre alte Basis zu- verleugnen. Sollte dieser Prozeß sich nicht aufhalten lassen, so kann es geschehen, daß der bewunderns- werte Bau Mutsuhitos. und seiner Minister zusammenstürzt. Also muß er aufgehalten werden, um jeden Preis. Das bezweckte Nogi, indem er sich entleibte — er hoffte, seine Tat möchte die an- gestammten Samuraigefühle bei den Jungen aufs neue zum Auf- flammen bringen; das betreibt die Regierung, indem sie sich nach Kräften bemüht, eine Renaissance des Shintö herbeizuführen. Möchte es ihr gelingen; Japans Zukunft macht mir Sorge. Je un- vermeidlicher es scheint, daß die alte Basis zerfällt, desto mehr rniuß das mögliche dafür getan werden, daß neue Verknüpfungen zwischen Körper und Seele entstehen, damit ein haltbarer Neubau wenigstens begonnen worden ist, wenn das alte Haus zu Staub zerfällt. ... Ja, Japan darf sich verwestlichen; aber nachdem ich solange streng objektiv gewesen bin, drängt es mich, auch meinem persönlichen Empfinden Luft zu machen, und da spreche ich's denn aus: persönlich bedauere ich es tief, daß dieses Land sich verwestlicht; das modernisierte Japan ist ganz reizlos; die Atmosphäre Tokyos zumal ist niederdrückend trivial. Die normale Entwickelung führt leider nicht notwendig aufwärts. Gleichwie einzelne Individuen als Kinder im besten Sinne sie selbst sind, weitere als Erwachsene, wieder andere als Greise, so gibt es für jedes Volk einen Entwickelungszustand, der ihm am besten liegt; entwächst es diesem, in noch so günstiger Richtung, so verliert es an Reiz, Bedeutung und Wert. In diesem Sinne ist es mit den Franzosen seit dem 18. Jahrhundert abwärts gegangen, obgleich von Dekadenz noch heute nicht die Rede sein kann; im gleichen Sinne wird England, dessen Höhepunkt das 19. war, fortan an Kulturbedeutung abnehmen. Jeder bestimmte Zu- stand gibt der Seele bestimmte Ausdrucksmittel, von denen nur einige ihr in dem Verstand gemäß sind, wie ein bestimmtes Können Nationale Höhepunkte ; Japanern steht der Ernst nicht an. 511 einem spezifischen Geist. Der Augenblick oder die Epoche, wo innere Anlagen und Gelegenheiten sich entsprechen, bezeichnet den Höhepunkt einer Nation; da äußert sich das Nationalgenie. Später gleicht sie, mehr oder weniger, einem Raphael ohne Hände. Die Japaner leisten auf ihrer neuen Bahn Erstaunliches; was die Leistung als solche betrifft, so ist nicht einzusehen, warum sie es uns dereinst nicht gleichtun sollten. Aber dieses Leisten be- deutet nichts. Hier arbeiten sie mit dem Verstand allein, oder allgemeiner, mit den Werkzeugen ihrer Seele, ihr inneres Wesen spricht nicht mit; und ich kann mir nicht vorstellen, daß die Zeit eine wesentliche Besserung bringen wird. Aller Wahr- scheinlichkeit nach wird sich die japanische Seele in der Sprache okzidentalischen Könnens nie unmittelbar und vollwertig aus- drücken lernen; sie wird günstigsten Falls stammeln in ihr, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie verstummt; aus dem feinsinnigsten, künstlerischesten Menschen mag noch der dürrste werden. Vom Standpunkte seiner Substanz her beurteilt, tut der Japaner unrecht, gar zu ernsthafte Dinge zu treiben: er realisiert sich am besten, indem er spielt; alles wirklich Originale liegt auf der Linie des äywv, des Sports, der heiteren Künstlerschaft. Hier offenbaren sich die Tiefen seiner Seele. Wo er Wichtiges anstrebt im Sinne der Welt, dort wirkt er abstrakt. Einige der führenden Geister des japanischen Buddhismus weilen in Tokyo. Ich habe die Gelegenheit benutzt, meine aus Gesprächen und Lektüre der heiligen Schriften ge- wonnenen Anschauungen zu berichtigen und zu erweitern, und will nun versuchen, ein zusammenfassendes Urteil über ihn ab- zugeben. Je eingehender ich mich mit der Mahäyäna-Lehre befasse, desto mehr beeindruckt mich ihr philosophischer Wert. Gegen den Sinn ihrer Grundlagen wüßte ich gar nichts zu erinnern, wie vieles an der Einzelgestaltung verfehlt und veraltet sei, und in ihrer Entwickelung konvergiert sie so sehr mit dem, was mehr und mehr aus der christlichen Weltanschauung wird, daß man bei- nahe sagen kann, sie bezeichne den Indifferenzpunkt zwischen öst- lichem und westlichem Geist. Die Pffilosophie Acvagoshas verhält sich zur altindischen ungefähr wie diejenige Hegels zu Parmenides oder 512 Die Mahäyäna-Lehre ; Afvagosha und Bergson. diejenige Bergsons zu Spinozas; das heißt, in ihr erscheint ab- strakter Statismus durch lebendigen Dynamismus ersetzt, und das bedingt einen absoluten Erkenntnisfortschritt. Die alten Inder meinten ja wohl Gleiches wie die Begründer der Mahäyäna-Lehre, allein sie wußten sich nicht entsprechend auszudrücken; dem letzten Sinn des Geschehens zugewandt, sahen sie von diesem ab und gelangten so zu einer Theorie des ewigen Seins, das im Gegensatz zum Fluß des Erscheinenden bestände. Acvagosha hat dann die gleiche methodologische Tat vollbracht, die später Hegel und Bergson, einen jeden auf seiner historischen Stufe, zu Bahn- brechern gestempelt hat: er hat den Zusammenhang von Sein und Werden wieder hergestellt, den ein vorläufigeres Denken gewalt- sam zerrissen hatte. Acvagosha erkannte, daß Sein und Werden nur verschiedene Aspekte einer identischen absoluten Wirklichkeit bedeuten; daß also das metaphysische Sein und das „Werden und Vergehen" zusammenfallen und die Dauer in der Zeit insofern ein Absolut-Wirkliches ist. So ist er auch zu eben dem kritischen Ergebnisse gelangt, zu dem eine gleiche prinzipielle Erkenntnis in unseren Tagen Bergson geführt hat: daß der metaphysische „Sinn" nicht außerhalb des konkreten Werdens zu suchen sei. Bergson ist bisher nicht weiter gegangen; das Reich des Sollens hat er noch nicht berührt. Aber tut er es einmal, dann wird er wohl Gleiches behaupten, wie Agvagosha vor 1700 Jahren ver- kündet hat: daß, sintemalen der metaphysische Sinn nicht außer- halb des konkreten Werdens zu suchen ist, auch alle idealen Forderungen innerhalb desselben zu verwirklichen seien. Damit wird Bergson freilich nichts Neues lehren, da eben diese An- schauung das Leitmotiv aller christlichen Weltanschauung ist. Als jener aber ein Gleiches tat, beschrieb er gegenüber der alt-in- dischen Weltanschauung, so logisch die Entwickelung war, die ihn dahin geführt hatte, eine regelrechte volte-face: die Stimmung der Weltverneinung schlug in eine der Weltbejahung um. Wenn das Höchste innerhalb des Werdens — gleichviel auf wieviel höheren Stufen, der des Arhat, des Bodhisattva, des Buddha — ver- wirklicht werden soll, dann ist den Idealen des Yogis, die alle auf den Wunsch, aus der Erscheinung hinauszugelangen, zurück- gehen, ihr eigentlicher Seinsgrund genommen; dann erscheint die Färbung des Samsära als keine düstere mehr, ja dann ist der Ge- schichte ihr Sinn zurückgegeben oder vielmehr ein neuer, höherer Die Mahäyäna-Lehre ; Rehabilitierung der Geschichte. 513 Sinn verliehen. Nach der altindischen Weltanschauung fehlte dem Historischen als solchen jeder Sinn, da sie ein Fortschreiten nur im Verstände des Sich-Befreiens aus der Erscheinung würdigte und keinen empirischen Zustand als solchen über einen anderen stellte; dem Gläubigen der Mahäyäna-Lehre stellten sich ge- schichtliche Aufgaben. So setzte eine Entwickelung ein, die der- jenigen des Christentums bis ins Einzelne parallel geht. Der nörd- liche Buddhismus eroberte unaufhaltsam die Welt; er empfand es als seine Mission, die Menschheit zu bekehren, während der süd- liche, gleich dem Hinduismus, sich nie solche Aufgabe zuge- sprochen hat. Dementsprechend paßte er seine Lehren und Methoden den gegebenen Verhältnissen an, und der Geist der Menschenkenntnis und der Politik vermählte sich mit dem der Religiosität; dieses führte mit Notwendigkeit zur konfessionellen Organisation und weiter zur Sektenbildung; und je mehr der pragmatische Gesichtspunkt das Erkenntnisstreben überwog, desto ähnlicher wurde die jeweilige Dogmatik der christlichen. Die Lehren des Christentums und der meisten Sekten des höheren Buddhismus sind dermaßen ähnlich, daß die führenden Missionare zur Ansicht neigen, dieser sei tatsächlich Christentum; eine Fort- bildung der Lehre Jesu Christi, nicht Gautama Buddhas. 1 ) Bis zu einem gewissen Grade mag sie zutreffen. Aber die erstaunliche Konvergenz innerhalb der Dogmenentwicklung kann sehr wohl auch ohne direkte historische Abhängigkeit zustandegekommen sein : die Geister des Mahäyäna und des Christentums waren nahe verwandt; so kam es unter ähnlichen Verhältnissen notwendig auch zu ähnlichen Bildungen. Immerhin: von Gleichheit beider Reli- gionen kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil die kon- fessionelle Gestaltung im Falle des Buddhismus keine letzte In- stanz bedeutet; sie ist ihm, der hierin bis zuletzt echt indisch geblieben, ein Vorläufiges, ein Übersteigbares. Will man durchaus *) Man lese: Timothy Richard, The new testament of Higher Buddhism (Edinburgh 1910, T. & T. Clark), Arthur Lloyd, The Creed of Half Japan (London 1911, Smith, Eider & Co.) und das schon empfohlene Werk E. A. Gordons „World Healers a or the Lotus Gospel und its Bodhisatvas compared with early christianity. Von diesen Werken ist das erstgenannte das geistig bedeutendste, während das letzte den Vorzug hat, von einer Frau zu stammen, die sich mit tiefster Sympathie in die japanischen Glaubensvor- stellungen hineingelebt hat. Die spezifische „Farbe" des japanischen Bud- dhismus wird derjenige, der selbst nie in Japan war, aus ihrem Werke am ehesten herausfühlen. 33 Keyserling, Reisetagebuch. 5 1 4 Mahäyäna-Lehre und Zukunftsreligion. seinen christlichen Charakter betonen, so muß man sagen: die Mahäyäna-Lehre ist das Christentum, wie es sich unter indischen Weisen entwickelt hätte. Philosophisch steht sie turmhoch über dem Westländerglauben; aber an Effikazität hält sie den Vergleich mit ihm nicht aus. Sie ist zu allumfassend, um eindeutig zu wirken. Die Kirche zumal, die auf ihrer Grundlage in Japan besteht, ist gar unsubstantiell, mehr Kunst als Leben, mehr schöne Form als Sinn. Aber an der ist die indische Lehre unschuldig: diese Kirche ist einzig Japans Werk. Von allen überlieferten Religionen steht der Mahäyäna-Bud- dhismus in der Idee der Lehre am nächsten, welche die Gott- sucher unserer Tage als Religion der Zukunft herbeibeschwören: er ist wesentlich undogmatisch, hat tiefes Verständnis für den Wert des Kults, schließt keinerlei Erkenntnis aus, hat allen Tem- peramenten etwas zu bieten; er ist weit und tief, wie der Brahma- nismus, und zugleich weltkundig und tatkräftig, wie das Christen- tum. Aber efben weil er vielleicht ein Zukunftsideal verkörpert, ist er dem gegenwärtigen Zustande nur bedingt gemäß; das er- kenne ich desto deutlicher, je mehr ich mit Vertretern dieses Glaubens zusammenkomme. Seine Form ist zu weit, zu wenig anliegend, um Durchschnittsmenschen zu formen; er ist kein ent- sprechendes Gefäß für eine beschränkte Spiritualität, zumal eine so wenig intellektuell geartete, wie die japanische. Ich glaube nicht, daß irgendeiner unter Japanern, weder unter den heutigen noch unter denen von einst, dem philosophischen Gehalt der Mahäyäna-Lehre je gerecht geworden ist. Sie haben diese einst zu sich importiert, wie sie heute unsere Technik bei sich einführen; von je her haben sie das beste auf jedem Gebiete schnell und sicher erkannt und sich nach Möglichkeit zunutze gemacht. Aber assimi- lieren kann sich der Mensch doch nur das, was seinem eigenen Naturelle gemäß ist, und das tat im Falle des Japaners die in- dische Mystik nie; nur das Emotionelle und das Praktische der Mahäyäna-Religion sind in Japan zu Lebenskräften geworden. Alle spezifisch japanischen Sekten des Buddhismus sind wesent- lich unphilosophisch, und die unter den geistlichen Herren von heute, die sich mit dem spekulativen Elemente in ihm befassen, tun es als reine Gelehrte; das Lebendige in ihm verstehen sie nicht. Japanische und europäische Religiosität ; die Zen-Sekte. 515 Im übrigen aber sind die Japaner nicht wesentlich irreligiöser als wir, denen sie überhaupt viel ähnlicher sehen, als Chinesen und Indern. Die Gebildeten unter ihnen glauben in der Regel an keine bestimmte Religion, wie die meisten Europäer von heute auch, und hier wie dort sind die einfachen Leute köhlergläubig; beide werden, im Gegensatz zu den Indern, meist zu Agnostikern, sobald ihr Denken sich emanzipiert, weil ihnen der Weg zu Gott durch die Erkenntnis hindurch noch nicht gangbar ist und das Denken die Unmittelbarkeit des Erlebens zunächst beeinträchtigt; ganz gleich den japanischen, haben auch unsere religiösen Führer fast ausnahmslos zu den Typen des Emotiven und des Praktikers gehört, und waren mittelmäßige Denker und Erkenner. Nur tritt das für beide Welten Typische in Japan extremer in die Er- scheinung. Vielleicht nur einmal, in der Gestalt des Heiligen Franz, hat der Bhakta bei uns eine vollendete Verkörperung er- fahren; unter Japanern unzählige Male; ihr zartsinniges, weib- lich nuanciertes Empfindungsleben bot der Liebe eine einzig- artige Verkörperungsmöglichkeit. Und selten waren unsere reli- giösen Führer so extreme Praktiker, wie nicht wenige unter den- jenigen Japans. Mir ist heute das Glück zuteil geworden, mit dem bedeutendsten Vertreter dieser letzten Gattung bekannt zu werden, dem Abte Soyen Shaku von Kamakura, dem Haupte eines Zweiges der Zen-Sekte. 1 ) Die Zen-Sekte ist die philosophischeste des höheren Buddhismus; sie lehrt unmittelbares Versenken in Gott, unab- hängig von Bücherweisheit und Kult; ihre Theorie ist fast iden- tisch mit der Shankaras, ihre Praxis richtige Yoga-Praxis. Diese Lehre, von Bodhidharma in China eingeführt, war ursprünglich die reinst-indische von allen. Aber gerade weil sieVerinnerlichung und nichts anderes lehrt, hat sie bei verschieden beanlagten Nationen grundverschiedene Ergebnisse gezeitigt, wie denn Yoga immer die vorhandenen Anlagen potenziert. Ihre indischen Bekenner machte sie als Erkenner tief. In China bewirkte sie ein einzig- artiges Aufleben des Naturgefühls; die größten Meister der Land- schaftsmalerei waren Adepten der Zen-Methodik. In Japan ward sie zur Hauptschule des Heroismus. Die Japaner, denen Philo- sophie wenig sagt, haben früh erkannt, daß nichts die Seelenkräfte *) Seine von Suzuki unter dem Titel Sermons of a buddhist abbot in» Englische übertragenen und 1906 in Chicago bei der Open Court Publishing! Company erschienenen Predigten sind überaus lesenswert 33* 5 1 6 Meditation als Vorschule des Herrschens. mehr steigert und stählt, als solches Training; so gingen gerade die Krieger, die Samurais, besonders gern zu Zen-Mönchen in die Schule. Höjö Tokimune, der Held, der die Mongolen-Horden Kublai-Khans zurückschlug, pflegte Stunden in Meditation zu ver- bringen. Noch heute gilt gleiches: mehrere der ersten Männer des heutigen Japan sind Schüler Soyen Shakus gewesen. Ich besuchte ihn in seinem Tempel zu Kamakura. Nie habe ich den Eindruck solcher Innerlichkeit gehabt, gepaart mit gleich martialischer Tat- kraft; dieser zartgebaute Mönch ist eine durch und durch mili- tärische Erscheinung. Wie muß er die Truppen begeistert haben, die er durch die Mandschurei hindurch begleitete! — Die Art, wie er das Meditieren lehrt, ist hart. Die Schüler sitzen in einem großen leeren Raum in Buddhastellung beisammen; dazwischen promeniert der Abt, einen Stock in der Hand, und schläft einer ein, so setzt es Schläge; ermüdet einer, so darf er nicht etwa vor Ablauf der Stunde rasten, sondern nur ein paar Male mit erhobenen und gefalteten Händen ernst und schweigend in die Runde gehen. Nachher aber stellt der Lehrer in erbarmungslosem Kreuzverhör fest, ob der Schüler sein Thema wirklich gemeistert hat. — Ich sprach mit dem ehrwürdigen Abt über den Sinn dieses Übens. Er ist ein philosophischer Kopf, der die geistige Bedeutung der Zen-Lehre voll versteht. Aber seine Gesinnung ist die eines Praktikers. Nicht das sei das Ziel, im Lichte zu verharren, sondern im Streben nach ihm seine Kräfte so zu stählen, daß sie allen idealen Aufgaben dieses Lebens gewachsen würden. — Wie „westlich' ist der Geist, der aus ihm sprach! Ich denke an den amerikanischen New thought: nicht viel anders faßt dieser das Christentum auf, wie Soyen Shaku die Lehre Sakyamunis. Und dann gedenke ich lächelnd-resigniert der Relativität des Wertes aller Begriffsbildung .... Gestern, meinem vorletzten Tage auf japanischem Boden, hielt ich den Professoren und Studenten der philoso- phischen Fakultät einen Vortrag über meine Erfahrungen in der indischen Yoga und über die lebendige Bedeutung dieser Kunst. Die Fragestellung kam meinen Zuhörern befremdlich vor; anscheinend war es ihnen bisher nicht eingefallen, die Weisheit der Alten nicht bloß textkritisch, von außen her, sondern von Nur Ungewohntes regt an; der Segen der Nicht-Uniformität. 517 innen her zu studieren. Aber was einer der Herren mir erwiderte, war sehr beachtenswert: sie (die Japaner) wären an die buddhisti- schen Grundvorstellungen dermaßen gewöhnt, daß sie unwillkürlich über dieselben hinwegläsen. Genau so, in der Tat, geht es vielen unter uns mit den christlichen, und das ist gewiß ein wichtiges Motiv des Interesses, das Europa jüngst den Religionen des Ostens entgegenbringt. Es ist das Christentum überdrüssig geworden, wie solches irgendeinmal allem Vertrauten gegenüber geschieht, vermag seine Tiefen nicht mehr zu würdigen. Nur das Nicht- Gewohnte wirkt anregend; es löst lebendigere Schwingungen aus selbst dann, wenn die Gleichsinnigkeit des Neuen mit Gewohntem zutage liegt, welche Wirkung sogar bestehen bleibt, wenn unver- züglich (wie überaus häufig geschieht) daran gegangen wird, ge- wohnte Vorstellungen in das Ungewohnte hineinzudeuten. So finden die japanischen Gelehrten mehr Anregung am Christentum als am Buddhismus und überschätzen jenes dementsprechend, während wir heute zum entgegengesetzten Fehler hinneigen. Aber bedeutet dies einen Einwand gegen das Interesse am Fremden? Freilich nicht; am wenigsten im Fall der Religion. Hier kommt es auf Reali- sieren an, auf das allein, und wenn eine fremde Form hierzu bessere Dienste leistet als die ererbte, so ist sie selbstverständlich zu übernehmen. Meist bedeutet dies Übernehmen ja doch nur einen Umweg zum Alten zurück, wie denn im Westen schon heute ersichtlich ist, daß die Begeisterung für Indien letzthin dem Christentum zugute kommt. (Keine seiner jüngsten und tief- sinnigsten Auffassungen wäre möglich gewesen ohne noch so un- bewußte Beeinflussung durch den Geist der indischen Philo- sophie.) Im übrigen aber beweist dies Phänomen einmal mehr denn Segen der Nicht-Einförmigkeit. Der Mensch bedarf eines Fremden, das er überschätzen mag, um seiner Eigenart nicht satt zu werden, sie lebendig zu erhalten und am Erstarren zu ver- hindern, und dieses Wechselspiel bedingt im Großen die Harmonie. Könnten Dichter gedeihen, wenn sie zu Helden nicht aufschauten? und Staatsmänner, wenn sie jene nicht überschätzten? wären die Deutschen, was sie sind, die universellst gebildete Nation, ohne ihren (heute freilich überwundenen!) Fehler, das Fremde dem Eigenen vorzuziehen? Gerade der, dem es um Zusammenarbeiten zu tun ist, hat am wenigsten Ursache, dem Wahnideal der Unifor- mierung anzuhangen, denn eine lebendige Harmonie ist nur mög- 5 1 8 Indische und christliche Yoga; das Prinzip der Einmaligkeit. lieh in der Bewegtheit von Satz und Gegensatz. — Mir wurde, um auf meinen Vortrag zurückzukommen, nach dessen Abschluß ein- gewandt, daß ich die Belehrung, die mir die Brahmanen gaben, auch von den christlichen Mystikern hätte erfahren können. Darin irrten sich nun freilich die Herren. Wie wahr es im allgemeinen auch sei, daß das Fremdartige als solches stimulierend wirkt, wie häufig es vorkommen mag, daß der Vorliebe für das Indische kein tieferes Motiv zugrunde liegt — die christliche Yoga hat nicht die gleiche Bedeutung für uns Moderne wie die indische; und zwar weil jene ausschließlich mit der subjektiv-emotionalen Sphäre operiert, und durch das Gefühl keine Erkenntnis zu gewinnen ist. Wer sich in Inbrunst nach der Mutter Gottes sehnt, wird sie ein- mal vielleicht zu sehen bekommen — aber nie wird sich fest- stellen lassen, ob das Gesicht einer objektiven Wirklichkeit ent- spricht. Das Wunderbare an der indischen Yoga nun ist die voll- endete Rationalität ihrer Methodik. Wohl wissen wir noch nicht, ob sie mit Sicherheit dahinführt, wohin sie führen soll, und ob die Erscheinungen, die mit ihr zusammenhängen, richtig erkannt und gedeutet sind; aber in allen Fällen besteht die prinzipielle Mög- lichkeit, die Exaktheit der Behauptungen an der Hand der Lehre selbst zu prüfen. Dies sichert den indischen Lehren zur Selbstver- vollkommnung gegenüber den gleichsinnigen christlichen den größeren Wert. Die heutige Menschheit ist schon so sehr intellek- tualisiert, daß nur mehr Verstandenes Aussicht hat, ihr Innerstes zu ergreifen; und die Inder allein haben verstanden, was aller tiefen Menschen einige Erfahrung war. Wir Europäer sehen dies mehr und mehr ein. Werden die Völker des Ostens, sofern sie ihrem Erbe untreu wurden, Gleiches tun? — Vielleicht nicht; denn das scheinbar bloße Abwechselungsbedürfnis, welches unserer Indomanie und der japanischen Christomanie zu- grunde liegt, beruht seinerseits auf einem Tieferen: dem Gesetz, nach dem eine bestimmte Gestaltung einem gleichen Volk nie zwei- mal zum Gefäß des Höchsten wird. Die griechische Kunst ist noch heute der Welt ein geistiger Sauerteig, aber nicht Griechen sind es, die sie fortpflegen; das gleiche gilt von der Formenwelt der Renaissance, der byzantinischen und buddhistischen Kunst; eben das von Denk- und Glaubensformen. Auch hier gilt jenes Prinzip der Einmaligkeit, welches alles Leben regiert: jedes be- stimmte Wesen als solches muß sterben, und sein Unsterbliches Verjüngungsstreben dieser Zeit. 519 beharrt allein in fortwährender Neuverkörperung. So viel ist jeden- falls gewiß, daß unsere Orientalisierung, und die Okzidentali- rung des Orients, welche heute im weitesten Sinne vor sich gehen, ein viel Tieferes bedeuten, als bisher erkannt worden ist; sie be- deuten jene Erneuerung der Ausdrucksmittel, die allein Verjüngung möglich macht. Daß aber ein allgemeines Verjüngungsbedürfnis vorliegt, beweist, daß die Welt tatsächlich wieder neu wird; eine Zeit, die bloß fortsetzt oder abschließt, kennt kein Erneuerungs- streben. Weder Buddhisten noch Christen in ihren historischen Formen stellen Schlußstadien dar, Niedagewesenes will entstehen und sucht krampfhaft, gleich der zum Erdenleben wiederkehrenden Seele, nach passenden Eltern. Offenbar stehen wir am Eingang einer ähnlichen Epoche, wie sie die ersten Jahrhunderte nach Christo bezeichneten. Auch damals fand allseitige Wechselwirkung statt, auch damals vermählten sich Ost und West und wie damals so wird auch diesmal der Erfolg eine Erweiterung der Lebensbasis sein. Denn wenn die Gestaltungen, die aus der Verschmelzung her- vorgingen, an sich noch so ausschließlich waren — Christentum sowohl als Buddhismus sind, was sie sind, nur als Erben alles des, was ihnen vorausging. Allein die verschiedenen Entelechien an sich werden ewig verschieden bleiben; die jeweiligen Gründe von Ost und West sind unvertauschbar, unübernehmbar; 1 ) assimilieren wir uns das Wissen jener, so bedeutet das nicht, daß wir uns seine Seele an- eignen, sondern daß wir unserer eigenen neue Organe schaffen, und gleiches gilt mutatis mutandis für den Orient. Betrachten wir das Problem der Beeinflussung, wie solche zu kritischen Zeiten stattfindet, hinsichtlich dessen, was sie für eine gegebene Seele bedeutet, so gilt der Satz: fern davon, Wesensveränderung zu bedeuten, stellt Übernahme des Fremden vielmehr den zu gewissen Perioden kürzesten Weg zur Selbstverwirklichung dar. Wir wären nie zu „Westländern" geworden, wenn die Germanen nicht einst einen syrischen Glauben übernommen hätten; wir werden uns auf unserer Bahn vollenden erst nach Befruchtung und Verjüngung durch den indisch-chinesischen Geist. Hoffentlich liegen die Dinge in Japan ebenso. Die Regeneration, die der fremde Einfluß auf die Dauer bewirkt, wird unabwendbar durch eine Periode scheinbaren *) Man vergleiche hiezu meine Rede Ober die innere Beziehung zwischen den Kultur problemen des Orients und Okzidents, Jena 1913, Eugen Diederichs. 520 Symbolische Bedeutung der japanischen Unzulänglichkeit. Niedergangs eingeleitet; so wird es wohl noch ein Weilchen dauern, bis daß die Japaner mit unseren Mitteln selbständig schaffen wer- den: heute wirken sie noch unlebendiger als wir. Auch wir sind ja noch Sklaven unserer Erkenntniswerkzeuge. Die spezifisch- europäische Yoga (die Beobachtung der Außenwelt) hat zur Er- schaffung eines ungeheueren Apparats geführt, den zu beherrschen es einer gleichwertigen Innerlichkeit bedürfte; und diese fehlt auch uns noch eben deshalb, weil unser Streben bisher nach auswärts gerichtet war; auch wir werden, Goethes Zauberlehrling gleich, von den Geistern geknechtet, die wir erschufen. Daß nun unsere Gebrechen bei den Japanern noch deutlicher zutage treten, ist nur natürlich. Früh oder spät, und wahrscheinlich schneller als man denkt, werden auch sie sich, auf ihre Weise, von Knechten zu Herren hinaufarbeiten. Für uns nun aber ist gerade die Unzulänglichkeit der Japaner auf unserem Wege interessant; sie ist vielleicht bedeutsamer für die Menschheit überhaupt, als ihre größten Triumphe wären: sie illustriert mit unvergleichlicher Deutlichkeit das Haupt- und Grundgebrechen der Zivilisation, welche heute die Welt erobert. In der Tat, die Enthusiasten des Fortschritts zielen auf eben das, was den modernen Japaner entwertet, als auf einen Idealzustand hin. Was sie überwinden wollen, ist nicht ihre Roheit sondern ihre Menschheit, den ererbten Glauben, daß kein irdischer Gewinn der Seele Schaden aufhebt, wonach sie streben, ist jenes Dasein rein-instrumentalen Charakters, das der verwestlichte Ostasiate ver- körpert. Dieser steht heute ohne jeden kulturellen Ballast da; er sieht in seinem Menschen nur ein Mittel, um reich und mächtig zu werden, glaubt schlechterdings nur an den Erfolg. Und hat vollkommen recht damit, sofern seiner „Weltanschauung" überhaupt Berechtigung zugestanden wird, denn von allen Menschen, die es je gegeben, hat er bei weitem die schnellste Karriere gemacht. Dank absoluter Hingabe an das rein-Äußerliche hat er in einigen dreißig Jahren vollendet, wozu das idealbeschwertere Europa Jahr- hunderte benötigt hat: also liegt es in der Natur dieser Zivilisation, dem Seelenlosen am holdesten zu sein. VII. NACH DER NEUEN WELT. Selbstüberschätzung des Menschen. 523 AUF DEM STILLEN OZEAN. Langsam gleitet das Schiff in jenes Weltmeer hinaus, über welches der Mensch nicht größere Macht besitzt als der Delphin. Wie wonnevoll, seine Sonderstellung vergessen zu dürfen! wie sehr erweitert es die Basis des Erlebens! Nie habe ich länger in Kulturzentren geweilt, ohne daß zuletzt ein Gefühl des Widerwillens von mir Besitz ergriff: nicht gegen die Kultur als im Gegensatz zur Natur, sondern gegen das Menschliche. Allerdings hat der Mensch allerlei für sich anzuführen, aber wozu dabei verweilen? was bedeuten die Vorzüge einer Tierart im Zusammenhang der Welt? Man lacht gern über den Gelehrten, dessen Lebensinteresse sich in der Ameise erschöpft; ich finde den einseitigen Kulturforscher genau so lächerlich. Sintemalen man Mensch ist, muß man wohl oder übel, seine Menschenbestimmung erfüllen: Kinder zeugen, Vieh züchten, Staaten lenken, Bücher schreiben, je nach dem; genau im selben Sinne, wie man Tannen- nadeln zusammenzutragen hätte, wenn man als Ameise zur Welt gekommen wäre. Aber überdies sein freies Interesse im Menschen- tum aufgehen lassen — das ist zu viel. Die andauernde Selbstüberhebung zumal des weißen Men- schen ruft in mir, als Reaktion, die Neigung wach, ihn über Ge- bühr gering zu schätzen. Der Asiate nun überschätzt sich nicht an- nähernd so sehr, wie jener; in Indien habe ich auch gar keinen Widerwillen gegen den Menschen gespürt. Aber in Indien hat er seine Spezifität der Erscheinung kaum aufgeprägt; dort heben sich die Menschen von der übrigen Schöpfung nicht anders ab, wie eine Tierart sich von der anderen abhebt. In Japan dominiert ihre Eigenart; zwar nicht entfernt so unangenehm-aufdringlich, t24 Glück der Einsamkeit ; das Ich als Meer. wie bei uns, aber doch. Drum freue ich mich, so lieb ich Japan gewann, daß die Stunde der Abfahrt gekommen ist. Schon sinken die Höhenzüge unter den Horizont hinab. Die Möven, die uns begleiteten, kehren um. Noch eine kurze Stunde, und die letzte Erinnerung an das Festland wird verschwommen sein. Das ist das Weltmeer. Seit Tagen kein Dampfer, kein Segler; vor Tagen werden wir keinem begegnen. Ich verbringe die längste Zeit am Bug, um mich von meiner mensch- lichen Umgebung möglichst loszulösen. Immer wieder stelle ich mir vor, wo ich bin, was der Ozean bedeutet; wie hier, nur hier, das Leben vom Silur ab ununterbrochen fortgedauert hat. Und immer mehr fängt mich der Zauber des Unermeßlichen. Ich fühle mich sehr, sehr glücklich. Das ist, weil ich voll- kommen einsam bin und nichts mich hindert, alle Grenzen und Schranken zu verleugnen. Wie kann man sich nur vereinzelt fühlen, solange man einsam ist? Vereinzelungsbewußtsein ist ja gerade das Ergebnis von Zusammensein. Nur wo man sich zu mehreren befindet, wird man an seinen Grenzen festgehalten, erbarmungslos auf diese zurückverwiesen. Ist man allein, so schwindet alle Einzelheit. Dann entschwingt sich das Bewußtsein der Person. Dann kehrt keine Richtung in sich selbst zurück. Dann wird man weit wie die Welt. Und wenn ich nun, anstatt auf zielbewußtem Dampfer, auf steuerloser Planke triebe — würde mir da nicht anders zumute sein? Wohl kaum, so lange der Körper nicht gar zu vernehmlich spräche und seine Not der Seele aufdrängte. Denn was für ein Unterschied besteht, vom Geiste her betrachtet, zwischen dem Ozean und jenem Ich, auf dem ich zeitlebens getrieben bin? Die Menschen vergleichen ihr Leben gern mit einem Schiff, das vom Ich gesteuert, im Strom des Geschehens dahin schwimmt: ich kann dieses Bild nicht gegenständlich finden. Mein Ich ist schon Meer genug; mein Ich ist das Meer im Sinn des üblichen Gleich- nisses; je nachdem, welchen Kurs ich darauf einhalte, gestaltet sich mein sichtbares Leben. Über meine Vorstellungen und Gefühle bin ich ursprünglich nicht Herr — die kommen und gehen, nach un- übersichtlichem Naturgesetz; mein Wille ist eine unpersönliche Macht, mein Intellekt desgleichen; und mein Bewußtsein ist ein Jedem ein bestimmtes Quantum Schuld zugemessen. 525 weites Reich, dessen Grenzen ich nicht kenne, kaum ahne. Mir ist wirklich innerhalb meiner selbst wie auf dem Meer zumut. Unentwegt muß ich zwischen meinen Trieben hindurchsteuern, das Ziel fest im Auge, sonst könnte ich Schiffbruch leiden. Meine Person ist Außenwelt in bezug auf mein Subjekt; ich bin sie nicht, ich bewege mich bloß in ihr. Und habe ich einen inneren Fort- schritt gemacht, so bedeutet dies, daß ich auf dem Meere weiter- gekommen bin; der frühere Ort steht da in der Erinnerung. Der Mensch durchreiset seinen Körper; die Materie wechselt, nur die Richtung beharrt. Er durchpilgert gleichermaßen seine Seele. Je mehr er aufnimmt, erlebt, erfährt, desto besser kennt er sich. Am Ziel ist, wer das Reich seiner Seele so kennt und beherrscht, wie der Wiking das Meer. Gestern habe ich gar seltsamen fliegenden Fischen zugeschaut, die erschreckt aus dem Kielwasser aufstoben. Ähnliche Erschei- nungen produziert meine Psyche auch. Auch in meinem Bewußt- sein schnellen gelegentlich Einfälle empor, die im Unterbewußten wahrscheinlich zu Hause sind, mir selbst aber überraschend kommen; und auch in mir leben Wesenheiten, die Rochen und Haifischen ahnein. Ich weiß es wohl: die gefährlichen Elemente, die früher so oft von mir Besitz ergriffen, jetzt aber kaum je mehr in die Erscheinung treten, es sei denn, ich lasse mich im Traume gehen, sind nicht gestorben; ich begegne ihnen bloß nicht mehr. Jeder totgeglaubte Dämon würde im selben Augenblick mit un- verminderter Kraft auf mich losstürzen, wo ich ahnungslos seinen Wechsel beträte. Weiß ich freilich, wohin ich mich wage, dann brauche ich die Dämonen nicht zu scheuen. An sich sind sie über- aus sehenswert. Man muß sie nur kennen, dann kann man mit ihnen sogar spielen. Nicht ohne Befriedigung denke ich an die Fehltritte zurück, die ich mir in meinem Leben habe zuschulden kommen lassen: hätte ich sie damals nicht begangen, ich stünde heute als ein Schlechterer da. Auch das kann ich nicht im Tiefsten bedauern, daß anderen durch sie Schmerz widerfuhr. Ein bestimmtes Quan- tum Schuld ist jedem von vornherein zugemessen, der ernsthaft nach Vollendung strebt; das soll er auch von vornherein auf sich nehmen. Damit tut er, metaphysisch verstanden, eben das, was Jesus im Sinne der Geschichte leisten wollte, als er die Sünde der ganzen Menschheit auf seine Schultern nahm. — 526 Wer bin ich? das Unsterblichkeitsproblem. In der Tat, wer bin ich? — Wieder klingen die alten Probleme an; nur dieses Mal undeutlicher, unbestimmter als sonst, als würden die geistigen Schwingungen von den Schwellungen des Weltmeers gedämpft. — Vom Phänomen her gesehen, bin ich die Vorstellung, die mich jeweilig beherrscht. In metaphysischem Sinne existiere ich, Hermann Keyserling, wohl überhaupt nicht. Es gibt nichts Konkretes in mir, daß nicht in mir entstanden wäre und vergänge, nichts, dem sich nicht entwachsen, das sich nicht ändern ließe, mit dem ich mein Ewiges identifizieren könnte. Alle und jede Erscheinung ist „Natur", vom Charakter bis zur Stimmung des Augenblicks; was ich als „mich" betrachte, ist der Fluß meiner Vorstellungen, wie er sich darstellt in einem gegebenen Augenblick. Diese Vorstellungen nun sind bald inneren, bald äußeren Ursprungs, und welche von ihnen zum Träger meines beharrlichen Ichbewußtseins wird, hängt nicht von ihrer Herkunft ab,- sondern davon, mit welcher Intensität ich sie verkörpere; die Verkörperung ist das ausschlaggebende Moment. Darnach bestände, vom Atman her gesehen, zwischen der Originalität des Genies und dem Gehorsam des Kindes kein Unterschied. Nun ist aber keine Verkörperung dauerhaft; das einzig Beständige ist die Richtung, welche die Serie der Inkar- nationen einhält. Diese allein also wäre schlechthin inneren Ur- sprungs, könnte allenfalls als das „Selbst" gelten; oder dieses Selbst wäre das, was eine Wandlung in bestimmter Richtung bedingt. Allein mit dieser Auffassung sind die Verständnis- schwierigkeiten nicht gehoben. Gesetzt, ich wäre die Richtung oder das richtunggebende Moment: dieses Selbst ist dann jeden- falls nichts Persönliches; gleichviel, ob es im letzten Grunde eine Ansicht des Alleins oder eine selbständige Monade sei — hierüber sind alle Auseinandersetzungen müßig — es ist nicht das, was irgendein Mensch als „Ich" empfinden könnte. Hier setzen denn die Schwierigkeiten des Unsterblichkeitsgedankens ein. Das Problem der Fortdauer ist natürlich ein phänomenolo- gisches, kein metaphysisches Problem, aber gerade als solches spottet es jeder begreifbaren Lösung, weil das, was als persön- liches Ich empfunden wird, der Knotenpunkt unendlich vieler Tendenzen ist, von denen das Selbst nur eine bezeichnet, und ge- rade die unter ihnen, die am meisten persönlich betont erscheinen, Mögliche Wiederverkörperung ; Fortdauer nicht unvermeidlich. 527 so die Meinungen, Gefühle, Gedanken und Willensentschlüsse, nachweislich nicht ins Unendliche auslaufen. Am einfachsten läge die Frage, wenn ich mich als meine Aufgabe oder mein Ideal oder meinen Weg zu ihm betrachten dürfte: in dem Falle lebte ich buchstäblich fort in der fortschreitenden Wirkung meiner Ideen; in dem Falle fiele die Unsterblichkeit Jesu z. B. mit der Entwicklung des Christentums zusammen. Heute liegt mir diese Auffassung näher als jede andere. ^Seit meiner frühesten Kindheit diene ich einem Ideal, das ich zwar anfangs nicht bewußt erkannt hatte, das aber doch damals schon meinem Lehen die Richtung gab; von Anbeginn an habe ich das intime Bewußt- sein des Sollens gehabt (das sich im Einzelfalle als ein solches des „Dürfens" oder „Nichtdürfens" äußerte), und dieses Bewußt- sein dominiert so sehr, daß ich noch heute, obgleich sonst durch- setzerisch genug und ohne jede Neigung zur Aufopferung, meine Person unbedenklich hingeben würde, wenn ich einem begegnete, als dessen Diener oder Werkzeug ich die Aufgabe glaubte besser fördern zu können. Meine Aufgabe also wäre mein eigentliches Ich; als die Wirkung, welche die gelöste Aufgabe ihrerseits aus- löst, würde ich nach meinem Tode fortdauern. Im Falle ich nun meine Aufgabe nicht ganz erfüllen und mich folglich in meiner Wirkung nicht erschöpfen könnte, wäre das Eintreten einer weiteren Fortlebensmöglichkeit denkbar: mein persönliches Be- wußtsein fiele mit der gleichen Aufgabe ein zweites Mal zu- sammen. Daß es keine solche Wiederverkörperung gibt, kann nie- mals bewiesen werden, da der Nächste, der die gleiche Aufgabe antritt, wiederum als „Ich" empfände, und also die Form sowohl als der wesentliche Inhalt des Bewußtseins in beiden Fällen identisch wären — wenn es auch ebenso wenig zu beweisen ist r daß sie tatsächlich stattfindet. Mir persönlich liegt, wie gesagt, keine Auffassung heute näher als die, daß eine objektiv wirkliche Idee durch verschiedene Verkörperungen hindurchschreitet; daß der Mensch genau so unsterblich ist wie sein Ideal und genau so wirklich wie die Kraft, mit der er ihm dient; ich kann nicht glauben, daß Fortdauer unvermeidlich sei. Die Meisten sind nach dem Tode wirklich tot, d. h. sie sind keine Bewußtseins- träger mehr, gleichviel ob sie objektiv fortexistieren; nur wenige überdauern eine begrenzte Geschichtsperiode. Ersteht aber einer» der eine grundlegende Weltidee in seiner Person zu verkörpern 528 Das Weltmeer regt buddhistische Gedanken an; der Albatros. weiß, wie dies Buddha und Christus vermocht haben, dann lebt er persönlich fort in alle Ewigkeit. Das sind „indoide" Gedanken. Nichts ist charakteristischer für eine Weltanschauung, als welchen physischen Hintergrund sie fordert, hervorruft oder verträgt. Ich wollte hier auf dem Ozean mit der Lektüre der Bibel beginnen, um auf diese Weise auch geistig nach dem Okzident zurückzuschwenken ; allein aus diesem Plan ist nichts geworden und wird nichts werden, solange mir das Weltmeer gegenwärtig ist. Gegen diese Weite gehalten, wirkt die Zuspitzung, die das Bewußtsein im Christentum erfahren hat, als Beschränkung, die das ganze Ambiente Lügen straft. Ich habe es schon ausgesprochen und wiederhole es hier, daß vom Standpunkte des Handelnden, Schaffenden das Christentum tiefer als der Bud- dhismus ist, weil jene Lehre den Handelnden tiefer macht; die Gottheit ist auch so zu finden, daß man die Erscheinung zur äußersten Vollendung zu bringen trachtet, ja für jeden Nicht- Kontemplativen ist dies der kürzeste Weg zu Gott. Wer nun auf Leistung bedacht ist, der muß auch auf sich halten, der muß sich sogar überschätzen, da sonst die Tatkraft erlahmt; daher ist es kaum zu vermeiden, daß sich der Karma-Yogi als Individuum über- schätzt und mißversteht. . . . Aber auf dem Ozean ist die Stim- mung des Handelnden nicht lebensfähig; dort zentriert sich das Bewußtsein unwillkürlich im All, wie der Tropfen im Meer, allen Eigenwillen verleugnend. Nicht so zwar, daß es sich über alle Er- scheinung hinausschwingt, sondern so, daß es nur bei den ganz großen phänomenalen Zusammenhängen verweilen mag. So ent- stehen auf dem Weltmeer unwillkürlich buddhistische Gedanken- gänge: denn keiner hat den Zusammenhang der Erscheinungen tiefer erfaßt und eindrucksvoller dargestellt, als der Tathägata. "K "T icht satt sehen kann ich mich am Flug der Albatrosse, |\| deren uns nun schon sieben das Geleit geben. Manchmal -*■ ^ bleiben sie auf Stunden zurück, wohl um abseits belegene Jagdgründe abzusuchen oder ein wenig auf den Wellen einzunicken; dann sind sie auf einmal wieder da, als wäre der Dampfer indes überhaupt nicht weiter gekommen. Und wie sie segeln! Dieser Gleitflug scheint mir die Vollkommenheit selbst zu sein. Sind sie einmal im Schwung, wird nie mehr eine Ruderbewegung vollführt: Fähigkeiten der Tiere; der Albatros als Ideal. 529 durch bloßes Ändern des Winkels, den ihre Schwingen mit dem Meeresspiegel bilden, durch rythmisches Sichheben und Sich- senken, durch kluges Benutzen der Luftströmungen erzielen sie, mit geringstem Kräfteverbrauch, eine Geschwindigkeit, der die Zeit nichts anzuhaben scheint. Wunderbar sieht es aus, wie diese lebendigen Segelschiffe kreuzen; am schönsten vielleicht, wenn eine scharfe Kurve beschrieben werden soll und der Vogel zu dem Zweck, sich überwerfend, einen Flügel tief ins Wasser taucht, um stärkeren Widerstand zu finden. Diese Hochseevögel gehören zu den bewundernswertesten Naturschöpfungen. Wesen, die, ohne Wassertiere zu sein, des Festlands nicht bedürfen; die auf den Wellen rasten, vom Wind getragen werden; denen die einförmige Weite des Weltmeers ein ebenso übersichtliches Gebiet ist, wie dem Städter der Bezirk, den er bewohnt. Ohne Zweifel sind sie mit Sinnen ausgerüstet, von denen wir keine Vorstellung besitzen. Die Grundtatsachen der Geographie sind ihnen irgendwie a priori bekannt; sie sind Meister der Meteorologie; unmittelbar empfinden sie die Entfernung, die sie jeweilig von fester Erde scheidet. Dabei sind sie für unsere Begriffe dumm. Ohne Sextant, ohne Verstand, ohne irgendeins der Werkzeuge, die dem Kulturmenschen zur Verfügung stehen, und vermutlich ohne deutliches Bewußtsein, weiß der Mbatros doch besser auf dem Meer Bescheid, als der erfahrenste Kapitän. Es wäre gut, wenn die Menschheit etwas zurückhaltender würde mit dem Herabsehen auf die Fähigkeiten des Tiers. Es gibt viele Arten, zur Welt in Beziehung zu stehen, und die unsere ist nicht in allen Hinsichten die beste. Jedes Wesen ist eingespannt in den Totalzusammenhang und besitzt in allge- meinen Umrissen die Eigenschaften, deren er zur Selbstbehauptung bedarf. Wo die Stellung nun eine sehr ungünstige ist, dort bedarf es der bedeutendsten Fähigkeiten. Die Amöbe ist in vielen Hin- sichten begabter als wir; der Wurm, welchem ständig Zerstücke- lung droht, regeneriert sich wie ein indischer Gott; wahrscheinlich kann der Mensch mancherlei, um das ihn die Götter beneiden. Absolute, unkompensierte Vorzüge sind in diesem Universum nicht nachzuweisen. So mag man im Albatros ein Ideal verehren, das •dem Menschen unerreichbarer ist, als der Zustand des Gottes. Keyserling, Reisetagebuch. 34 530 Exzentrische Fische; Zweckmäßigkeit erklärt nicht alles. HONOLULU. Das Aquarium zu Honolulu gilt mit Recht als eins der Wunder dieser Welt. Dort gibt es Fische, so glänzend wie Juwelen, so seltsam umrissen, wie die Gebilde japa- nischer Groteskenzeichner, bunt und farbenfroh wie Schmetter- linge und Kolibris. Dort lebt im Wasser all' die gleißende Pracht, welche sonst nur das Luftreich bevölkert. Ich bemühe mich, den Sinn dieser Gestaltung zu durchdringen. Biologisch handelt es sich insofern um kein Sonderproblem, als die Farben nicht wirklich extravagant sind; vielfach tragen sie zur Deckung bei. Die tiefblauen, sammtglänzenden Fische mit den Vogelschnäbeln müssen in der Tiefe unsichtbar sein, gleicher- maßen wohl die gelben; die bunten jedoch, die sich im kahlen Glasbehälter dem Auge fast schmerzhaft aufdrängen, verlieren gewiß, gegen den Hintergrund der Korallen betrachtet, ihren auffälligen Charakter. Sodann bewegen sie sich mit äußerstem Geschick. Als Hauptmerkwürdigkeit der Sammlung gilt ein mondförmiger, zweidimensionaler, schwarzgelb gebänderter Fisch, dessen Rückenflosse sich zur Flagge verlängert. Diese ist so un- verhältnismäßig lang, daß sich ihr Träger nur schwerfällig be- wegen kann, denn der Wimpel wird zum Spiel jeder Strömung. Nun hält sich aber das schlaue Geschöpf grundsätzlich nur in Felstorwegen auf, und bewegt sich darin auf solche Weise, daß das Farbenspiel seiner Schuppen dem Glitzern des Glimmers gleicht, und die Flagge als Cölenteratenf angarm wirkt, dem jeder Räuber behutsam ausweicht. — Soviel liegt auf der Hand. Allein das Problem der lebendigen Gestaltung ist mit dem Hinweis auf ihre Zweckmäßigkeit nicht gelöst. Die Farben der hawaianischen Fische sind nicht von allen denkbaren die zweckmäßigsten — das aber müßten sie sein, wenn die Zweckmäßigkeit alles erklären sollte; sie bezeichnen durchaus keine Notwendigkeit, denn auch mit weniger Aufwand hätten Schutzfärbungen erzielt werden können; ja sicher wäre ein geringerer vorteilhafter gewesen, denn alle die aufgeputzten Wesen, die sich an keinen festen Stand- ort halten, die ihren Hintergrund häufig wechseln, sind in den Wassern des Pacific kaum weniger sichtbar und gefährdet, als es Phantastik in Natur und Kunst. 531 der Hakengimpel in nordischer Schneelandschaft ist. Der Zweck- mäßigkeitscharakter definiert nur die Grenze nach unten zu; das heißt, kein Organismus ist so ausgestattet, daß er nicht fortkommen und sich fortpflanzen könnte. Aber wenn das Leben mancher unter ihnen nicht leichter ist, als das des Proletariers unter Menschen, sind andere wiederum unverhältnismäßig günstig gestellt. Ich kann mir die Farbenpracht der pacifischen Meeresfauna nur dahin deuten, daß die Natur nicht minder als der Mensch ihre Freude am Phantastischen hat. Indem ich diese Tiere auf mich einwirken lasse, ist mir, als spürte ich den gleichen Geist, der einen Gauguin und einen Robert Louis Stevenson beseelt hat. „Geist" ist ja in allem Lebendigen wirksam; bei den Pflanzen und Tieren besitzt er in der physischen Sphäre noch die Freiheit und Erfindungsgabe, die beim Menschen beinahe ganz auf die psychische beschränkt er- scheint. So entstehen jene Wunderwerke der Organisation, gegenüber welchen der Menschenleib so unbefriedigend wirkt, so erklärt sich die vollkommene Angepaßtheit der Tiere an ihre Umgebung, ihre Wandlungsfähigkeit, ihr Regenerationsvermögen; diese Er- scheinungen bedeuten in der physischen Sphäre eben das, wie Er- findungen und Kunstschöpfungen in der psychischen. Und wie der Mensch bald rein Praktisches schafft, bald wieder Praktisches, das gleichzeitig gefällt und auch Gefälliges als Selbstzweck, oszilliert auch die Natur zwischen den Polen des Nützlichen und des Erfreulichen und versagt es sich nicht, wo die allgemeinen Verhältnisse dies gestatten, der Phantasie ein wenig die Zügel schießen zu lassen. Aber um wie viel sicherer sind ihre In- stinkte! So phantastisch ihre Einfälle seien — nie setzt sie In- Sich-Unwahres, Lebensunfähiges, Sinnloses in die Welt, sie hat nichts Futuristisches; sie leidet auch nie an der Unart so vieler Künstler, es bei der Skizze bewenden zu lassen. Manche Fische erwecken wohl die Vorstellung, als verdankten sie mehr einer Laune des Augenblicks als einer wurzelhaften Idee ihren Ursprung, als seien es gleichsam Gelegenheitsgedichte; und das sind sie insofern wohl auch, als ihre sinnvolle Daseinsmöglichkeit an eine bestimmte Situation gebunden erscheint, wie der schwarzgelbe Flaggen fisch an enge Felsspalten. Aber als Ausdruck sind sie gleichwohl vollendet; nirgends hat die Ausführung versagt. Wieder einmal führen meine Betrachtungen zu einem ab- fälligen Urteil über das Menschentum. Natürlich verkörpern wir 34* 532 Der Mensch als Barbar gegenüber den Fischen der Sudsee. reichere Möglichkeiten als die Tiere, aber wie wenige haben wir bis heute in Wirklichkeitswerte umgesetzt! wir wirken als reine Barbaren den Fischen der Südsee gegenüber. Uns eignet die Gabe der Selbstbestimmung: wer nützt sie aus? Bei Benares sah ich einmal dem Heimtreiben einer Perlhuhnherde zu: der Hirt, einen Wedel in der Hand, fegte sie buchstäblich vor sich her, und genauer paßt sich kein Segel der wechselnden Windrichtung an, als seinen Capricen diese hundertköpfige Vogelschar. Sind wir Menschen irgendwie anders? Insofern vielleicht, daß uns nicht jeder führen kann; steht kein Berufener an unserer Spitze, dann tun wir selbständig genug. Aber auch die Perlhühner hätten nicht so gute Ordnung gehalten, wenn kein Mensch, sondern ein Hund hinter ihnen her gewesen wäre. Sobald der richtige Mann die Führerschaft übernimmt, verzichten neunundneunzig unter Hundert begeistert auf ihre Autonomie. . . . Wie kläglich überschätzt sich der Mensch! Die Dichter glauben ein Monopol darauf zu besitzen, dem Sint der Dinge Ausdruck zu verleihen: tatsächlich hat es vom Alterturr an bis zum heutigen Tag noch keine zehn gegeben, die einer beliebigen Rose hierin gleichgekommen wären. Wohl ließe sich in der Sphäre des Psychischen mehr erreichen, als in der schwerfälligeren, unbiegsameren Körperwelt, aber wird es erreicht? Nur zu selten. Doch ich kehre noch einmal zur Frage der Zweckmäßigkeit zurück. Es ist lehrreich, unter den seltsamen Wesen, die dieses Aquarium bevölkern, einer Gestalt zu begegnen, die nicht natur- gemäß wirkt. In einem der Glasbehälter sind japanische Zier- fische untergebracht. Die sind ebenso herangezüchtet worden, wie gefüllte Nelken; es sind Produkte der menschlichen Phantasie. Lieblich genug schauen sie aus in den schöngeschwungenen Vasen, in denen sie in Japan zur Schau gestellt werden, aber in eine weitere Umwelt passen sie nicht hinein. Ihre Schwänze taugen nicht mehr zum Steuern, sind zu kraftlosen Anhängseln aus- gewachsen; ihre Augen sind müde und übergroß, wie die von Schoßhündchen; die allzugerundeten Leiber können kaum mehr das Wasser zerteilen. Wie hilflos benehmen sich solche Wesen schon in einem Meer en miniature! die können nur durch Kunst erhalten werden; sich selbst überlassen, stürbe ihr Geschlecht in wenigen Wochen aus. Diese Anschauung macht einem recht deut- lich, was es mit dem Ideal der Naturgemäßheit für eine Bewandtnis Künstliche Tiere; ein Feuermeer. 533 hat. Freilich sollen wir nicht „zurück" zur Natur, denn sie selbst bleibt ja nimmer stehen; aber wir sollen nur in solcher Richtung vorwärtsschreiten, die in keine Sackgasse ausläuft. Bei den Vor- fahren der japanischen Zierfische war Letzteres der Fall. AM KILAUEA-KRATER. Ein Schauspiel wie dieses mochte der Mond wohl bieten, bevor er erloschen war; auf Erden gibt es nichts Ähn- liches. Ein Vulkan, jedoch kein feuerspeiender Berg, son- dern ein Feuermeer; ein Meer, wie es manchmal im Norden tobt, wenn die Frühlingsstürme die Eisdecke zerschlagen haben. Ein wildes Gewoge, Geschäume, Gespritze, Gewirbel um die schmelzenden Schollen herum. Und die Lava rauscht und singt, als ob sie die See wäre. Bei Tage ist das Schauspiel nicht allzu eindrucksvoll; der Kessel ist weit, aber doch begrenzt, das Material wirkt so über- mächtig, daß man unwillkürlich an Hochöfen denkt und die aufgestörte Phantasie ihre Steigerung nicht dem Unendlichen zu, sondern nach der Richtung des Begrenzten hin vollendet. Aber seitdem die Sonne sank, wird das Bild von Stunde zu Stunde ge- waltiger. Der Kraterrand ist unsichtbar geworden; die Schlacken sind undurchsichtig; es scheint, als hebe das Feuer sich vom un- endlichen Welträume ab; man glaubt aus nächster Nähe dem Ge- siede der Sonne zuzusehen. Einen Augenblick wird mir unheimlich zumut: solches zu sehen, ist dem Menschen eigentlich versagt; ich sollte beim ersten Hinblicken verzehrt worden sein. Statt dessen liege ich ungefährdet am Rande des Feuerschlundes und sehe gemächlich, wie ein Gott, dem Beginn der Dinge zu. Jemand spricht von der Hölle. Dies ist ein Gleichnis, das mir hier nie in den Sinn käme. Der Vesuv mag es wohl herauf- beschwören, weil er einer reichen Welt des Lebens mit Verderben droht; dort symbolisiert das Feuer wirklich den Tod. Hier jedoch kann vom Tode nicht die Rede sein, weil Leben noch gar nicht vor- handen ist; hier wohnt man jenen Urereignissen bei, zu deren Zeit es noch keines gab. So empfindet man am Kilauea weder Entsetzen 534 Das Feuer kein feindliches Element; die Krater göttin. noch Entzücken, keine menschliche Stimmung kann hier bestehen; mir ist zumute, wie dem Urgeist zumut gewesen sein mag, da er über den Wassern schwebte. Ich denke mir: wenn ich mich in dieses Feuer hinabstürzte, unmöglich könnte ich dadurch zu Schaden kom- men ; denn da ich hier zuschauen kann, so bin ich offenbar ein Geist. Dieses Feuer hat überhaupt nichts Feindliches; kein Urfeuer hat dieses an sich selbst. Wenn alle westliche Mythe das Vulkanische mit der Hölle assoziert und ihre häßlichsten Ausgeburten dem heiligsten der Elemente zugeteilt hat, so liegt das daran, daß deren Erfinder zum Vulkanischen nie in ein Verhältnis getreten waren; sie kannten es nicht. Wozu später die barbarisch-christ- liche Gepflogenheit trat, alle Natur nur als Mittel zum Zweck zu deuten, als Werkzeug zur Belohnung oder zur Bestrafung. Die Hawaianer haben hier besser gedichtet. Der Mythos des Kilauea lautet wie folgt: Pele, eine wunderschöne Maid, hat sich einst in das Feuermeer gestürzt, um einem häßlichen Freier zu entrinnen. Seitdem lebt sie darin als dessen Seele, zugleich als Schutzgöttin des ganzen Archipels. Nie bricht der Kilauea aus ohne triftigen Grund: in Weisheit lenkt Pele des Landes Geschicke. Sie hat Kamehameha auf den Thron gebracht, indem sie dessen Feinde im Schwefeldampf erstickte, und nie tut sie dem Schuldlosen ein Leid. Sie ist eine gütige Göttin; kommt je und je der Augenblick heran, wo sie aus inneren Gründen aufbrausen muß, dann warnt sie ihre Kinder beizeiten. Sogar den Weißen, die doch schlecht mit ihr umgehen und ihr mehr als einmal näher kamen, als Ehr- furcht erlaubt, ist noch nie durch sie ein Unglück widerfahren; mehr als einmal sind verwegene Steiger, die schon im Abstürzen begriffen waren, dem Tode doch noch entronnen, was ohne über- natürlichen Eingriff nie geschehen wäre. Der Anfang der Dinge bleibt ein Wunder. 535 AUF DEM LAVAFELDE VOR DEM K1LAUEA. (Früh morgens). Jedesmal, wenn ein neuer Morgen anbricht, scheint mir, als hübe das Weltgeschehen von vorne an. Die Dämpfe und Nebel verwischen die Einzelgestaltung; die Grenzen zwischen den Dingen verschwimmen; und die große heilige Stille, betont, nicht gestört durch den Ruf eines einsamen Vogels, verbreitet über die Natur die Stimmung des Urbeginns. Noch nie aber habe ich so stark den Eindruck des Uranfangs gehabt, wie hier. Drüben in den Wolken spiegelt sich das Feuermeer; Feuer strahlt von der Sonne auf die Felsvorsprünge herüber; von der erstarrten, violett- farbenen Lava steigen zögernd gelbe Schwefeldämpfe auf. Und wie die Sonne ein wenig höher gestiegen ist, gewahre ich silberne Tropik-Vögel, gleich Geistern aus einer anderen, besseren Welt, über der weiten, dunklen Einöde kreisen. Primordial wirkt auch die Vegetation. Was hier fortkommt, sind nur Pflanzen, welche den Schwefel lieben; seltsame, flei- schige Gewächse von fahlen Farben, aber mit brennendroten Blüten geschmückt. Hie und da ein Riesenfarn, oder ein ver- krüppeltes Bäumchen von neuerem Muster, das offenbar zu früh zur Welt gekommen ist. Nicht viel anders mag es damals aus- gesehen haben, als die Erde zuerst zur Wohnstatt des Lebens ward. Wie mag dieses entstanden sein? Hierüber nachzusinnen, verlohnt sich nicht; es ist doch nicht auszudenken. Vielleicht ist die Darstellung der Genesis noch die gegenständlichste. Darüber kommen wir ja doch nicht hinaus, daß das Leben hier aufgetreten ist, sobald es möglich war, und dann gleich in mannigfaltiger Gestalt. Wie sehr lächerlich macht sich die Wissenschaft, in- dem sie das Wunder hinwegerklären will! Wäre es nicht noch viel wunderbarer, wenn Wagner von ungefähr einen Homunkulus zustandebrächte, als wenn die Weltschöpfung dem Bericht der Bibel gemäß verlaufen ist? wenn das wesentlich Zweckmäßige und Sinnvolle — das Leben — ein Ergebnis reinen Zufalls wäre? Wie es entstanden ist, das weiß in nicht. Auch Brahma weiß es nicht, wie die schöne indische Sage bezeugt. Und ich gestehe, daß 536 Der Mythos als letztes Wort. es mich verdrießen würde, wenn der Hergang je plausibel ge- macht werden könnte. Ich liebe das Wunder, ich will es; wohl gerade deshalb, weil ich in so vielen Hinsichten ein Fanatiker der Exaktheit bin. Kant liebe ich vor allem deshalb, weil seine Grenz- bestimmung mittelbar das Dasein einer schlechterdings unbegreif- lichen Wirklichkeit erwiesen hat; denn mir ist es, wie allen ehrlichen Leuten, ganz unmöglich, mir eine Welt vorzustellen, die wesentlich anders wäre, als die menschliche, unmöglich, in concreto zu verstehen, was es heißt, daß Raumentfernungen z. B. nichts transient-Wirkliches seien. So bin ich auch, jedesmal, wo ich dessen gedenke, recht herzlich dankbar dafür, daß der Ur- beginn auf keine Weise erklärt werden kann, daß hier wenigstens der Mythos wohl für immer das letzte Wort behalten wird. Nun ist ein Mythos so wahrscheinlich wie der andere, sofern er nur in sich wahrscheinlich ist: warum sollte der Anfang nicht so ge- wesen sein, wie es das Grauen dieses Morgens war? — Lautlose Stille; Feuerschein; Wasser- und Schwefeldämpfe über dunkeler, erkaltender Flur. Und plötzlich, zum ersten Mal, und doch als könnte es nicht anders sein, tönte aus unbestimmter Ferne der Lockruf des ersten Vogels herüber. Ich versetze mich in jene Zeiten zurück, da ich als junger Geolog die Gebirge durchstreifte. Lange währten sie nicht; un- aufhaltsam zog es mich fort vom Gestein zum lebendigen Wort. Wie widerwillig leistete ich zuletzt die übernommenen Arbeiten! Heute hätte ich nicht übel Lust, zu meinem Ausgangspunkt zurückzukehren. Wie viel größer, hoheitsvoller, weiter ist selbst die tote Natur als alles Menschenwerk! Hier ist alles im Großen erschaffen worden, wird alles im Großen erhalten. Mir kommt das Wort Mohammeds in den Sinn: „Wahrlich, die . Erschaffung des Himmels und der Erde ist ein Größeres, als die Erschaffung des Menschen; aber die Meisten verstehen dies nicht." Ja, sicher bekommt es uns besser, uns in die Werke der Natur hinein- zuversetzen, als in die gewaltigsten des menschlichen Genies. Der Geolog, der die Alpen betrachtet, übersieht mit einem Blicke des Verständnisses Billionen ereignisvoller Jahre; er schaut förm- lich, im Spiegel des verdichtenden Augenblicks, wie die Berge geworden sind, wie eine Fauna die andere abgelöst, wie es schließ- lich zum Bilde von heute kam. So erlebt er im Geiste die Ur- aufführung der grandiosen Symphonie des Lebens: erst wurden Die Uraufführung der Lebenssymphonie. 537 einige wenige Töne angeschlagen, dann fielen immer mehr, immer reichere, vollere Stimmen ein, es entstanden komplizierte Melodien, die wieder und wieder von anderen abgelöst wurden, nach einem zeitlichen Plan, der nur vom abgeschlossenen Ganzen her verständlich ist. Ihn befremdet nicht die scheinbare Antinomie von Simultaneität und Sukzession, von Veränderung und Beharr- lichkeit: in den unwandelbaren Typen ist der Kontrapunkt reali- siert, der alle Melodik innerlich beherrscht, ohne diese in ihrer Freiheit zu behindern. So bedeutet ihm das Schauspiel der Natur weit mehr, als dem empfänglichsten der Künstler. Wenn ich vor vielen Denkern einen Vorzug habe, so ist es der, daß ich Naturforscher im Großen gewesen bin. Philosophen studieren sonst wohl Griechisch, oder Sanskrit, oder vergleichende Literatur .... das ist gut, aber förderlicher scheint, sich in das Werden der Welten zu versenken. In den Gesetzen der vernunftlosen Kristall- bildung schlummert schon die ganze Musik; alle künstlerischen Ideen sind im Keimplasma symbolisch vorgebildet. Von der ersten Regung der Sehnsucht, dit das gestaltlose Chaos durchzitterte, führt eine ungebrochene Kette der Entwickelung bis zur Ilias und zum Parthenon. NACHTS AM KRATER. Heute Nacht halte ich Wache bei der Weltschöpfung. Über mir in der Unendlichkeit glitzern die Sterne; in unermeß- licher Ferne unter mir rauscht das Feuermeer — so fern, daß seine Grenzen ein Universum einschließen mögen. Ich ermüde nicht. Was sich da vor mir abspielt, ist mehr als das gewaltigste Schicksal. Seit Stunden schaue ich gespannt in den Krater hinab und suche mich in sein dynamisches Prinzip hineinzuversetzen. Im qualitativen Verstände ist die Aufgabe nicht schwer; die Kräfte, die hier ihr Spiel treiben, sind sämtlich in meinem Körper wirk- sam, ihre Gesetze sind auch meine Gesetze. Allein ihr Maß macht die Aufgabe dennoch unmöglich. Ein großes Quantum bedingt ein neues Quäle. Mag das Atom noch so sehr „an sich selbst" 538 Die Weltschöpfung; Wahrscheinlichkeit der biblischen Darstellung. ein Sonnensystem sein — es besteht gleichwohl ein Unterschied zwischen ihm und dem Stern, dessen Bruchteil es bildet. Den Intensitätsgrad bekannter Kräfte nun, der im Wirken des Vulkans zum Ausdruck kommt, vermag ich nicht innerlich zu erleben; zu beschreiben, zu begreifen, zu erklären ist er leicht. Doch das meine ich nicht. Wieviel leichter wäre die Weltentstehung im Sinne irgend- einer Mythe zu erfassen! Jede, auch die kindlichste unter ihnen, ist menschlich wahrscheinlicher, als die Phänomenologie des Radiums, denn die Schöpfung aus dem Nichts durch den Willen eines Gottes ist das gesteigerte Spiegelbild dessen, was jeder Mensch in jedem Augenblick vollführt. Ich denke an irgendetwas — sofort steht es da in meiner Vorstellungswelt; das heißt doch, ich habe aus dem Nichtsein spontan ein Sein gebildet. Ich habe ein genau so Ungeheures vollbracht, wie Jahweh, als er die Welt erschuf. Und was ich so erschaffe ist auch immer von vorn- herein „sehr gut", jedenfalls viel besser, als ich es jemals ausdenken könnte. Das „Nicht-sein", aus dem ich ein „Sein" hervorzauberte, ist natürlich nur stofflich zu denken; also stehe ich auch in diesem Sinne dem Demiurgen prinzipiell nicht nach. Freilich ist der Gedankenstoff bedeutend bildsamer, als der, welcher die Berge zusammensetzt; doch wenn es überhaupt möglich ist, die Materie durch den Geist zu beeinflussen, dann muß es auch mit schwereren Massen gelingen, ganz abgesehen davon, daß diese letztlich wohl auch aus Gedankenstoff bestehen. Mittelbar leistet der Mensch in dieser Hinsicht schon viel, aber ich bin über- zeugt, daß er auch unmittelbar weit mehr vermöchte, als heute für möglich gilt — kaum weniger, als die indischen Yogis be- haupten. Konzentration der Aufmerksamkeit ist Verdichtung psy- chischer Energie; der Neurastheniker kann sich nicht konzen- trieren: wo klafft also der Bruch, welcher Schöpfung im Sinne Jehovahs prinzipiell als unmöglich dartäte? Wenn ich mit voll- kommener Verdichtung sämtlicher Kräfte, über die mein Bewußt- sein günstigsten Falls verfügt, den Befehl gäbe: es werde Licht, so würde es wohl Licht werden. Ich halte diesen Gedanken für den Augenblick fest. Es macht mir Vergnügen, zu versuchen, durch meinen Willen die Eruption im Schach zu halten. Ein klein wenig ärgert es mich, daß mir dies nicht gelingt, so leid es mir andrerseits täte, wenn das Warum ich den Vulkan nicht auslöschen kann. 539 herrliche Schauspiel unter mir ein vorzeitiges Ende nähme. Woran hängt mein Unvermögen? vermutlich an einer Kleinigkeit, einem Kniff; wahrscheinlich ließe sich, bei genügender Kenntnis der Natur, ein Vulkan mit ebensowenig Kraftanstrengung zum Er- löschen bringen, wie eine elektrische Birne; wahrscheinlich ge- länge es sogar unmittelbar, ohne Hilfsapparate. So ungeheuer die Kräfte da unten sind — die größte von allen, die intraatomistische Energie, ist nicht im Spiel. Gelänge es mir, was sicher nicht schwierig ist, nur ein Kubikmeter Lava zu zersetzen, so könnte der Vulkan schön zusehen, wo er bliebe. — Nein, von Leben ist hier keine Spur. Was ist Leben? Ein immaterielles Prinzip, das die Materie gestaltet. Dann müßte es eigentlich gelingen, dem Vulkan eine Seele zu erschaffen. Immer mehr neige ich zur Auffassung, daß das Leben ein Allgegen- wärtiges ist, das sich äußert, sobald die nötigen materiellen Be- dingungen erfüllt erscheinen (welche Bedingungen es freilich, zum Teil wenigstens, selber schafft). So offenbart sich die geistige Persönlichkeit, sobald das Gehirn herangereift ist; so durchseelt der Ausdruck ein Gebild, sobald eine bestimmte Linie gezogen ward; so schleicht sich tiefer Sinn in einen nichtssagenden Satz hinein, wenn ein einziges Wort geändert wird. Und das Befremd- liche, Beängstigende ist: diese Beseelung kann durch reinen Zu- fall geschehen. — Übrigens wüßte ich kaum größere Wonne, als Seelen zu schaffen. Mit jeder Idee, die der Mensch in die Welt setzt, erhält die Materie einen neuen Sinn. Allen Ernstes: wie wäre es, wenn ich diesen Vulkan beseelte? — Aber vielleicht ist er es bereits, dem hawaianischen Mythos entsprechend, und mir fehlt bloß das Organ, dies zu erkennen. — — Nun ist es tiefe Nacht. Die Lava ist stetig gestiegen, in immer weiteren Kreisen das Festland einschmelzend. Je dunkler der Hintergrund wird, desto heller erglänzen die Flammen. Die rote Farbe — bei Tag die herrschende — ist nun verschwunden. Jetzt ist das Ganze eine Symphonie in Schwarz und Gold. Selt- sam! Hier, angesichts dieses Weltenbrandes, kommt mir japanische Lackarbeit in den Sinn. Offenbar ist es ein gleiches Prinzip, das in einem Falle das Gold, im anderen das Magma auf dunklem Grunde verteilt. Ich bin doch ein wenig eingeschlummert. War es das Echo eines unbewußten Traums, den die Gespräche der 540 Gedanken der Nacht; die elyseischen Gefilde. Touristen angeregt: wie ich die Augen auftat, erschien das Flammenmeer von nackten Leibern bevölkert. Das soll wohl die Hölle sein. Aber nein: keiner der brennenden Sünder scheint ge- quält. Die Flammen tun ihnen nichts; sie haften an ihnen harm- los wie Schatten. — — — Der Morgen graut. Wieder, wie am ersten Schöpfungstage, werden Himmel und Erde von einander abgeteilt. Unsicher und bleich eilt der verspätete Mond in hohem Bogen vor der lachenden Sonne fort. Drunten im Kessel ist auf die Hoch- flut die Ebbe nachgefolgt. Das Meer ist zusammengeschrumpft, erscheint träge, wie abgelebt. Das Gold hat sich in trübes Rot verwandelt. Der schwarze Hintergrund, vor kurzem eine endlose Welt, entpuppt sich nun als schmutzig-graue Schlackenkruste. AN DER BAI VON WAIKIKI Die Hellenen wiesen den Seligen eine Insel zur Heimstatt an: was bewiese wohl besser ihr naturhaft-sicheres Ein- bildungsvermögen? — Im menschlichen Sinne möglich ist nur das Vorstellbare; vorstellbar aber erscheint ein Dasein, wie es die Seligen führen sollen, nur auf einsamer Insel im Meer. In vollendeter Abgeschiedenheit sind schweifende Wünsche nicht lebensfähig; dort ereignet sich nichts, was zur Geschichte werden könnte, dort bedeutet die Zeit nichts mehr. Der erdgebundene Mensch, zumal der Grieche mit seinem unbezähmbaren Schaffens- drang, würde seelisch verschmachten an solcher Statt; den Seligen, Wunschlosen, Zeitentrückten bedeutete es das Paradies. Das Leben auf Hawai nimmt unwillkürlich den Charakter der Mythe an. Der Europäer, der wesentlich geschichtliche Mensch, wirkt hier wie eine Fliege auf einem Aquarell. Die Hawaianer jedoch, die im Bilde sind, kommen mir seltsam unwirklich vor; oder wirklich vielmehr im Sinn des Traumerlebnisses. Es besteht kaum ein Unterschied zwischen dem, was ich mit Augen sehe, und dem, was ich in den alten Heldensagen lese. Diese Menschen sind so, wie sie nur im Mythos lebensfähig scheinen: warmherzig Die ersten Menschen nicht primitiVy sondern Götterkinder. 541 und sorglos, leichtsinnig und gut, vbn Fest zu Fest ihr Leben vertändelnd; dabei aber furchtbar im Krieg, grausam, mitleidslos, wenn er zum Streite kommt. Sie leben einerseits von dem, was Baum und Strauch ihnen gutwillig darbringen, harmlos wie Schmetterlinge, — sind andererseits Menschenfresser, waren es wenigstens vor hundert Jahren noch. So waren auch die olym- pischen Götter. König Kamehameha, der Alexander der Südsee, dessen Taten tausend Lieder feiern, war ein Herrscher wie Zeus, groß, gewalttätig, grausam, dabei aber auch gut und harmlos, leichten Sinnes, im ganzen unverantwortlich wie ein Kind. Die Kämpfe, die unter seiner Führung stattfanden — Kärnpfe blutig- ster Art, bei denen ganze Stämme zugrunde gingen — waren doch mehr als Turniere gemeint, denn als ernste Schlachten; oder als Schlachten, wie die Götter sie vor Troja untereinander geschlagen haben. Diese Menschen von Fleisch und Blut nahmen den Tod nicht ernster als die Olympier. So sollen die ersten Menschen gewesen sein nach den gleich- lautenden Berichten aller Mythen. Daß sie wirklich so gewesen wären ist wohl auszuschließen, aber höchst bedeutsam scheint mir, daß dies der Charakter ist, den die Dichtung ihnen ausnahmslos bei- gelegt hat. Die ersten Menschen waren nicht primitiv, sondern Götterkinder, und das heißt: mehr und weniger zugleich als es die Menschen sind. Daß die Götter — oder genauer diese Götter, die Divinitäten vom Schlage der Olympier — sowohl mehr,, als auch weniger sind als wir, geht aus allen Mythen gleichsinnig hervor. Aber die Inder allein haben zu zeigen gewußt, worin dies plus und dies minus bestehen: von den drei Elementen, sattwa, rajas und tamas, welche die Welt zusammensetzen sollen, geht das zweite, rajas, die Energie, im Übermaß in den Bestand der Götter ein, während das dritte, die Inertie, ganz fehlt. Sintemalen nun gar keine Träg- heit vorhanden ist, die Kraft also gar keinen Widerstand findet, sind die Götter, bei allen Vorzügen, die vollkommene Ungebunden- heit gewährt, in zwiefachem Sinne doch beschränkt: sie sind oberflächlich, unverantwortlich, da kein Tun sie innerlich berührt, was immer es in anderen Sphären anrichten mag; und sie sind unfähig über das Göttertum hinauszuwachsen. Während also der Mensch gerade dank dem Geiste der Schwere sich bis zur Er- leuchtung (dem Vorherrschen der Sattwa) durchringen kann, ge- lingt dies dem Gotte nur dann, wenn er als Menschenkind wieder- 542 Inwiefern Götter weniger als Menschen sind. geboren wird und die Gelegenheiten dieses Standes ausnutzt. Ich wüßte keine bessere Bestimmung dessen zu denken, was dem Begriff eines Naturgottes entspricht; genau im indischen Sinne ist ein solcher wirklich weniger als der Mensch. Und genau in dem Sinne ist der Urmensch, das Götterkind, sowohl mehr als auch weniger denn wir. Uns aber fällt vor allem das „mehr" in die Augen, wie solches denn immer geschieht, wo ein wirklicher Zu- stand mit einem bloß vorgestellten verglichen wird, deshalb be- deutet uns der mythische Urzustand ein Ideal. Wir sehnen uns nach Unbeschränktheit, nach Verantwortungslosigkeit, gleichviel welchen Preis wir dafür zu zahlen hätten — eben weil unser Leben ganz Verantwortung ist. So ertappe auch ich mich dabei, daß ich den Hawaianer bewundere; es dünkt mich bloß über- menschlich, nicht auch untermenschlich, so göttermäßig leben zu können. - Dieses schreibe ich in tiefer Nacht, von einem hawaianischen Festmahl eben heimgekehrt. Es war wild und stimmungsvoll zu- gleich. Mit seltsam ergreifender Stimme trug ein Barde uralte Sagen vor, während wir Gäste, um eine einzige Schüssel geschaart, wie Tiere mit den Händen die Fische zerrissen und federn- geschmückte Tänzerinnen ihre Unterleiber in wahnsinnigen Kurven einherschwenkten, ohne daß Oberkörper und Kopf nur die leiseste Bewegung dabei verraten hätten. Dies ist freilich die Insel der Seligen. Tag aus Tag ein scheint die Sonne gleich belebend auf Berg und Tal her- nieder. Abend für Abend spielen kühlende Winde mit den Wipfeln der Casuarinen. Jahr aus Jahr ein stehen Bäume und Sträucher in Blüte, sind die Früchteträger von Früchten bedeckt. Der Ozean aber gehört vollends der Welt der Unsterblichen an. Donnernd und drohend rollen die Brandungswellen heran — und doch spielt der Mensch mit ihnen, als ob sie nur aus Schaum be- ständen. Da draußen am Riff sind sie so hoch, daß sie einen Walfisch erschrecken möchten. Allein die ewig heiteren Ha- waianer fürchten sich nicht: sie benutzen die Wellen als Reittiere, sie jagen auf ihnen dem Ufer zu, auf dem Kamme balancierend, voltigierend, gleich Tritonen in einem Meeresidyll. Sind diese schönen, bräunlichen Männer, die sich im Ozean Wellen als Reittiere; der amphibische Mensch. 543 wie Fische zu Hause fühlen, Menschen wie wir? — Ganz sind sie es wohl nicht; ein jedes Element bildet besondere Wesen heran. Der Mensch als Reiter oder als Taucher, als Bewohner der Wüste und der Berge, ist jedesmal ein anderes Geschöpf. An wasser- bewohnenden Menschen kannte ich bisher nur den Wasserbe- zwinger, d. h. das Landtier, das sich durch List auch das Wasser unterworfen hat; der wirklich amphibische Mensch kommt heute allein in der Südsee vor. Hier nun ist er so vollkommen in seiner Art, daß er deshalb übermenschlich wirkt. Der Hawaianer, der mir im Ozean die Wege weist, ist schön wie ein Gott, von riesenhafter Gestalt und ein berühmter Haifischkämpfer; noch soll er. jeg- lichem Hai, der ihm begegnet, mit seinem Speer die Augen aus- gestochen haben. Dabei ist er sanftmütig und mild, und Abends, wenn die Kokospalmen seufzen, singt er schwermütige Weisen vor sich hin. — Wieder einmal schweifen meine Gedanken nach Griechenland hinüber. Wie wunderbar sicher schuf doch die helle- nische Phantasie! Was die Natur in der Südsee gebildet, ist ein Abbild des griechischen Ideals. Wahrscheinlichere, lebensfähigere Götter, als diejenigen Griechenlands, sind auf Erden nie erdichtet worden. Das hätte kaum anders kommen können. Die elyseischen Ge- filde sind das Reich der Subjektivität; hier schafft die Stimmung Wirklichkeit, setzt alle Wirklichkeit sich in Stimmung um; hier wird die Welt augenblicklich so, wie die Will- kür des Augenblicks sie vorstellt. Was sonst nur meteorhaft mein Bewußtsein durchzieht, verweilt nun; Capricen ballen, leichte Wünsche vertiefen sich; aus unsicherem Nebel verdichtet sich ein Stern. So ist inmitten des Wellenspiels, im Paradiese der Palmen- haine und der purpurnen Riesenblumen eine Neigung in mir auf- gegangen. Bedeutet sie ein Ernsthaftes, ein Wirkliches? Wie soll ich das wissen? Die Grenze zwischen Realität und Phantasieschöpfung ist mit Sicherheit nirgends zu ziehen. Wie oft ist mir eine Wirklichkeit zum Traum zerronnen, und umgekehrt wie oft ein Traum zur Wirklichkeit geworden! Wie oft habe ich ins Leben bewußt hineingedichtet, indem ich beliebige Menschen in fiktive Zusammenhänge hineinbezog: solange diese standhielten, waren 544 Ober die Liebe; Dichtung und Wirklichkeit. jene höchst bedeutsam für mich; und wie oft hat umgekehrt eine Situation genügt, um ein Gefühl zu wecken, das dahinschwand, sobald sein Anlaß vergangen war! Wesentlich anders ist es nie. Eine Liebe, deren Grundmotiv wildes Begehren ist, ist nicht tiefer und sicherer begründet als ein Caprice des Intellekts; auch hier hängt das Gefühl von äußeren Umständen ab, und verflüchtigt sich, wenn diese sich verändert haben. An sich sind psychische Wirklichkeit und Einbildung gegeneinander kaum abzugrenzen; die entscheidende Frage ist die, wo des Menschen Bewußtseins- zentrum ruht. Identifiziert er sich mit seinen Trieben, dann ist er natürlich seine Leidenschaft; identifiziert er sich mit einer Fik- tion, dann ist diese ihm höchste Wirklichkeit; fußt sein Bewußt- sein wesentlich in Gattungsbezügen, dann bedeutet die Familie sein eigentliches Ich. Auf daß nun Liebe überhaupt ein absolut Wirkliches bedeuten könne, muß der Mensch sich unbedingt mit seiner Person identisch fühlen. Das vermag ich aber nicht mehr. Wohl geschieht es in rhythmischen Abständen, daß be- bestimmte Triebe die Oberhand gewinnen, und ein sekundäres Zentrum sich zum Mittelpunkt meines Seins konstituiert; allein dieser Zustand dauert nicht; ist die Periode vollendet, dann nimmt mein Bewußtsein seine normale Lage wieder ein. Von dieser aus aber erscheint meine Person mir als Außenwelt, die ich nicht ernster nehme, als irgendwelche äußere Verhältnisse, mit denen ich zu rechnen habe. . . . Nun weile ich im Reich der Subjektivität. So wird die Nei- gung, die in ihm entstand, mehr denn je eine Dichtung sein; wahr- scheinlich hat sie gar keinen objektiven Hintergrund. Allein im Augenblicke, da sie mich beherrscht, dünkt sie mich wirklich genug. Wieder erlebe ich jenen wunderlichen Zustand, wo das Weltall durch wenige persönliche Koordinaten vollkommen be- stimmt erscheint, wieder überkommt mich jene Unsicherheit, die sich wohl jedes Mannes bemächtigt, der sich plötzlich auf dem Meer der Gefühle schwimmen sieht — einem Elemente, das ihm, im Gegensatz zum Weibe, von Hause aus so wenig vertraut ist. Aber doch erkenne ich, mitten im Schwimmen drinnen, daß ich in diesem Meere nie ertrinken könnte. In dieser mythischen Um- gebung nimmt alles Leben mythischen Charakter an. Nereiden und Tritonen sind mit der Liebe nicht unbekannt, doch was dem Men- schen Ernst ist, bedeutet ihnen ein Spiel; ihrem Lieben fehlt das Rückschwenkung nach dem Westen. 545 Element der Trägheit, das Irdisch-Bindende, das Gemüt. Nicht änderst steht es mit der, die mir heute Herz, Seele und Sinne beherrscht. Wohl transfiguriert sie mir im Augenblick die Welt; allein ich zweifele, daß ich litte, wenn ihr Objekt auf einmal nicht mehr wäre. . . . NACH AMERIKA. Jetzt gilt es keine Zeit verlieren: bis ich in Kalifornien ange- langt bin, muß meine Seele sich allen Bindungen des Ostens entwunden haben; sonst erklingen dort unreine Töne in mir, wie wenn ein noch so schöner Akkord durch das Pedal in eine Melodie anderer Tonart hinübergedehnt wird. Es gilt mich zu- sammennehmen, denn leicht wird mir die Umstellung nicht werden. Nicht allein keine Sehnsucht zieht mich nach Amerika — ich fürchte mich, mir graut vor diesem Land. Aber persönliche Nei- gungen und Abneigungen sind niemals ernst zu nehmen, sie be- weisen immer nur die Beschränktheit dessen, der sie hat. Ohne Zweifel sind die Vereinigten Staaten sehenswert, finden sich dort Möglichkeiten verwirklicht, wie nirgends sonst, und nur beim Positiven lohnt es zu verweilen. Aber wenn ich nun in ablehnender, unsympathetischer Stim- mung in San Francisco lande, dann werde ich dieses Positiven nicht gewahr werden, werde ich mich in den Geist des Landes nicht hineinversetzen können. Es ist nicht möglich, ohne liebende Hingabe auch nur irgendetwas zu verstehen; solange die leiseste Neigung zur Kritik im Mittelpunkte des Bewußtseins lebt, ist es aussichtslos, einem Fremden gerecht zu werden. Wie stelle ich's nur an, um im Lauf einer knappen Woche meine Ver- fassung von Grund aus zu verändern? Ich muß eine Psychoanalyse vornehmen; feststellen, was der sachliche Grund meines persön- lichen Empfindens ist. Wenn ich diesen erkannt habe und damit die Unmotiviertheit meines ablehnenden Verhaltens — denn es gibt nichts, was eine subjektive Verstimmtheit objektiv recht- fertigte — dann werde ich meiner unersprießlichen Stimmung wohl Herr werden. Keyserling, Reisetagebuch. 35 546 Die Amerikaner als typischeste Westländer. Wenn ich mir's nun recht überlege, so finde ich, daß ich nicht dem Amerikanischen als solchen Antipathie entgegenbringe, son- dern dem Abendländertum überhaupt; und jenem nur insofern, als es dessen extremster Ausdruck ist. Wir Europäer dünken uns von den Amerikanern durch mehr als den Ozean geschieden: desto lehrreicher war mir die Erfahrung, daß der Asiate nur insoweit einen Unterschied bemerkt, als diese ihm die typischeren Europäer scheinen; seiner Ansicht nach verkörpern sie keinen anderen Geist als wir, sondern den gleichen in eindeutigerer Gestalt. Ohne Zweifel ist er im Recht; das Wesentliche eines Volks im Sinn des Unterschiedlichen erkennt der Fremdling immer am besten. Also muß ich wohl voraussetzen, daß ich in der Erscheinung des Amerikanertums das Wesen des Westländers verabscheue. Was ist nun dieses Wesen im Unterschied von dem des Asiaten? Die üblichen Schlagwörter vom materialistischen Westen im Gegensatz zum spiritualistischen Osten, von unserer Würde- losigkeit, Hast und Gier im Gegensatz zur Weltüberlegen- heit, Würde und Ruhe der Orientalen, von unserem Tatendrang gegenüber ihrer Erkenntnistiefe, ergreifen es nicht. Allen noch so berechtigten Einwänden gegen unsere Art begegnet der Hinweis darauf, daß unsere Idealität unzweifelhaft die größere ist, wes- wegen alles, was bei uns nicht ist, noch werden kann; leicht kann es geschehen, daß der Materialismus unserer Zeit noch einmal als günstiges Stadium auf dem Wege zur Spiritualisierung betrachtet werden wird, denn das Materielle verkörpert dem Westländer ein Ideal und zieht ihn daher, ob er will oder nicht, hinan. — Auch daß er auf die Mittel zum Leben größere Aufmerksamkeit ver- wendet als auf das Leben selbst, unterscheidet ihn nicht wesent- lich vom Orientalen. Auch wir sehnen uns letztlich nach dem „Einen was not tut", diese Sehnsucht wird immer mehr zur Dominante unseres Strebens, nur wollen wir überdies die Er- scheinung vervollkommnen, und wenn dieser Wille zurzeit im Vordergrunde steht, so liegt das daran, daß der Mensch nicht zwei Ziele zugleich mit gleicher Energie verfolgen kann. Falsch ist es auf jeden Fall, uns unsere Sucht, die Erscheinungswelt zu vervollkommnen, zum Vorwurf zu machen: hierauf beruht viel- mehr unsere Überlegenheit, denn das östliche Verfahren, sich von ihr um des Sinnes willen abzuwenden, ist billig im Vergleich zu dem unserigen, das allen Sinn in der Erscheinung zum Ausdruck Größere Idealität des Westens; alle Formen verflüssigt. 547 bringen will. Freilich haben wir unser Ideal noch nicht verwirk- licht, aber wir werden es sicher dereinst verwirklichen, denn wir bewegen uns geradeswegs ihm zu. — Nein, die Umstände, welche die üblichen Schlagwörter bezeichnen, bestimmen nicht meine Antipathie; das weiß ich gewiß, denn die Effikazität unserer Zivilisation habe ich nie als negatives Moment empfunden. Lärm und Hast gibt es auch im Osten übergenug; aber im Westen führen sie zu mehr. Es handelt sich offenbar um ein anderes; und dieses andere, das mein ablehnendes Verhalten tatsächlich bedingt, ist, wenn ich recht sehe, der Umstand, daß im Westländer alle Formen flüssig geworden sind; das muß es sein, denn ich empfinde keine Ab- neigung gegen die, welche, als Individuen oder als Klassentypen, eine vollendete Gestaltung darstellen. Der Gegensatz zwischen Orient und Okzident, mit dem ich mich in diesen Betrachtungen zu befassen habe, stammt ja erst aus der Zeit, da wir im Eilmarsch fortzuschreiten begannen oder genauer: hat immer nur zu den Perioden bestanden, da wir in schneller Umwandlung begriffen waren. Zwar hat er der Idee nach immer existiert: im Prinzip ist der Westen immer beweglich gewesen, auf Neuschöpfung und Neugestaltung bedacht, der Osten immer einem statischen Gleich- gewichtszustande zugeneigt; wie vom Standpunkt der griechisch- orthodoxen Kirche Katholizismus und Protestantismus als eines Geistes Kinder erscheinen (die Reformation mit ihren Folgen nur als äußerste Konsequenz jenes Triebes zur Erneuerung und Wand- lung in der Zeit, welcher die weströmische Kirche von jeher gekenn- zeichnet hat), so läßt sich wohl überall und jederzeit wenigstens der Keim zu dem Gegensatze nachweisen, der heute zwischen Ost und West besteht. Aber dieser Keim ist erst neuerdings ausgereift. Zwischen der Antike und den Glanzzeiten asiatischer Kultur,, zwischen dem Frankreich des 17. Jahrhunderts und dem China etwa der Sung-Dynastie bestand, soweit das Aktuell-Gegebene in Frage kommt, nur ein Unterschied der Erscheinung, nicht des Wesens; auch im Abendlande hat bis zum Anbruch der Neuzeit das statische Ideal dominiert, sogar im alten Hellas und dem Italien der Renaissance, denn das Leben daselbst, so bewegt es war, orientierte sich doch an zeitlos gültigen Werten. Wenn wir moderne Europäer Ost und West als prinzipielle Gegensätze einander gegen- über stellen, so halten wir tatsächlich weniger den Orient dem 35* 548 Vollendung oder Erfolg? Der Zug ins Quantitative. Okzident, als das klassisch-mittelalterliche Ideal dem der Moderne entgegen, das ein wesentlich protestantisches ist; und das heißt: das Ideal der Vollendung dem Fortschrittsideal. Hiermit habe ich es wohl: ich ziehe das Orientalen- dem Okzidentalentum vor, weil ich die Vollendung in jeder Form höher schätze als den Erfolg. Im modernen Menschen, und in erster Linie dem Amerikaner, sind alle Formen flüssig geworden. In der neuen Welt gelten die altbewährten Unterschiede zwischen den Klassen und Typen nicht mehr; was einstmals ein Definitives war, stellt sich heute, wo überhaupt vorhanden, als Stufe dar, auf welche jeder hinauf- oder hinabsteigen mag. Damit sind aus Lebensformen Bühnenrollen geworden. Eine Rolle nun besitzt keine Bildungskraft; man legt sie an und ab, wie ein Gewand; sie ganz ernst zu nehmen scheint unmöglich. Dieses ironische Verhältnis zur Gestaltung wäre ein Höchstes dann, wenn vertieftes Seinsbewußtsein mit ihm zupaar ginge und der Akzent des Lebens auf diesem ruhte. Beim Modernen aber liegt er auf einem ganz anderen: dem Rollenwechsel an sich, dem Vorwärtskommen. Deshalb ist er kein höherer Mensch. Hie und da sind mir Geister begegnet, die den Haupteinwand gegen die Moderne in dem erblicken, daß sie die Quantität der Qualität vorziehe; daß sie keinerlei Grenzen anerkenne, wo doch Selbstbescheidung in irgendeiner Form die Basis aller wahren Werte sei. Freilich trifft dieser Einwand zu; was ich selber gesagt, ist dem Sinne nach wesentlich das gleiche. Allein die Fassung, welche Quantität und Qualität in gleichsam ewigen Gegensatz setzt, verfälscht die Wahrheit. Daß der Moderne unersättlich scheint, bezeichnet kein Unglück, weil auch dieses anelqov mit Un- vermeidlichkeit an irgendeinem Punkt seine Grenze finden, was seinerseits automatisch Selbstbescheidung einleiten wird; und in- dessen wird die quantitative Norm gehoben. Der Zug ins Rein- Quantitative ist ein Vorläufiges, wird sich aus äußeren sowohl als inneren Gründen von selbst in andere Tendenzen umsetzen, so- bald die neue Menschheit ihre Flegeljahre hinter sich hat. Es be- weist Phantasielosigkeit, im Überschreiten der altbewährten Gren- zen ein Verhängnis zu sehen, denn keine verkörpert als solche ein Ideal; an sich bezeichnen alle einen Nachteil; je weiter sie hinaus- geschoben werden, desto besser. Das wirklich Bedenkliche ist, daß unsere Zeit Erfolg und Vollendung verwechselt; daß sie die alten Werte nicht verleugnet, sondern dieselben auf einer höheren Der Amerikaner als größter lebender Barbar. 549 Stufe, als alle früheren Epochen, zu verwirklichen wähnt; daß sie ihren Zustand nicht als vorläufig, sondern ideal beurteilt. Dieser Umstand bedingt die Minderwertigkeit ihrer Vertreter. Die Natur verwirklicht und vollendet sich in der Gestaltung; wo sie noch ungestaltet, d. h. unfertig ist, dort tritt das Wesen nicht rein zutage: daher das Unreife des Okzidentalen im Ver- gleich zum Orientalen. Nun kann ein noch so unreifer Bengel, wo er nicht mehr als ein Bengel sein will, sehr liebenswert erscheinen; abstoßend wirkt er nur, wo er sich als Vollmensch gibt, dies aber kennzeichnet das Amerikanertum. In Europa erkennt man es mehr und mehr, daß das Flüssige, so wie die Menschen einmal sind, nur als Übergangszustand nicht vom Übel ist, und strebt daher über die Flüssigkeit hinaus, denn noch liegen uns die Beispiele höheren Menschentums nicht fern. Der Amerikaner ahnt nur in Ausnahmefällen, daß es ein Höheres als den Fortschritt gibt. Des- halb wirkt er wie kein anderer barbarisch. Hiermit hätte ich wohl festgestellt, weshalb ich dem West- ländertum nicht hold bin, und mein Empfinden schelten kann ich nicht. Hiermit hätte ich aber zugleich den Ansatz gefunden, von dem aus ich mein negatives Verhalten in ein positives dürfte umwandeln können. Ich war in China zum Ergebnis gelangt, daß die Chinesen auf einer höheren Kultur- aber auf einer niedrigeren Naturstufe ständen als wir; daß der höhere Grad der Vollendung bei ihnen mit einem geringeren Grad des Fortgeschrittenseins zupaar ginge. Hieraus folgt, daß wenn wir von unserer Naturstufe aus den gleichen Grad der Vollendung erreichten, wie die Chinesen, wir diesen durchaus überlegen sein würden; was seinerseits den Übergangszustand rechtfertigt. Von einer fertigen Gestalt zu einer neuen führt der Weg nur durch Gestaltloses hindurch, von einer Vollkommenheit zu einer anderen nur durch Unzulänglichkeit. Das moderne Europa hat die alten Formen zerbrochen; damit begab es sich auf lange Zeit der Möglichkeit vollendet zu erscheinen; es verfiel zurück in die Barbarei, in der es noch mitten inne steckt, ja vermutlich noch lange immer tiefer einsinken wird; im Sinn der Vollendung geht es gewiß nicht vorwärts mit uns. Aber ebenso gewiß geht es vorwärts im Sinn der Naturentwickelung, und damit treten Vollendungsmöglichkeiten in die Welt, welche den Kultur- völkern des Ostens nicht innewohnen. Diese Möglichkeiten sind 550 Apologie der Unzulänglichkeit. der Verwirklichung noch so fern, daß nur der Embryolog sie mit einiger Sicherheit vorausbestimmen könnte; was sich heute dem Blicke zeigt, ist meistens häßlich. Aber unser Zustand ist viel- versprechend, kein Einsichtsfähiger kann das leugnen. Von diesem Gesichtspunkte aus will ich fortan dem Abendländertum entgegen- treten. In Adyar, wenn ich nicht irre, habe ich mich des längeren über die allgemeinen Beziehungen zwischen Vollendungs- und Fortschrittsstreben auseinandergesetzt. Damals legte ich den Hauptnachdruck darauf, daß der Ehrgeiz, biologisch weiterzu- kommen, direkt abführt von der möglichen Vollendung, daß indes Vollendungsstreben umgekehrt den Fortschritt indirekt begünstigt. Aber diese einfachen Bestimmungen erschöpfen die Frage nicht; der Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungsrichtungen ist vielfältig und verstrickt. Heute will ich mir über die merkwürdigste Beziehung, die ich zwischen ihnen erkennen kann, Klarheit ver- schaffen. Vergleiche ich die fertigen Kulturen des Orients mit unserer werdenden, so finde ich, daß der innere Mensch innerhalb jener wohl ungleich gebildeter ist, daß in dieser dafür das, was im Orient die höchste Subjektivität kennzeichnet, zur objektiven Macht exteriorisiert erscheint. Ich glaube nicht, daß irgendein nicht hochbegabter Christ so tief zu lieben weiß, wie ein indischer Bhakta, so human empfindet, wie der typische Buddhist, von mora- lischem Sinn so tief beseelt ist, wie ein hochstehender Konfuzianer; dafür sind bei uns die Liebe, die Moralität und die Humanität zu objektiven Mächten geworden, und das sind sie im Osten nicht. Während bei uns der innerlich noch so rohe bis zu einem gewissen Grade gezwungen ist, im Sinn des Höchsten zu handeln, zwingt nichts den Asiaten, gebildet zu erscheinen, wo er es nicht ist, wes- halb das praktische Verhalten östlicher Durchschnittsmenschen mehr zu wünschen übrig läßt als das der westlichen. Wir handeln im Ganzen besser als wir sind. Wir sind mit unseren Institutionen unserem Wesen voraus- geeilt. Unser Verstand hat als für Alle wünschenswert erkannt, was aus innerem, persönlichen Drang nur ein Heiliger anstreben würde, und eine Maschinerie erfunden, welche die Realisierung Seltsame Beziehung zwischen Vollendung s- und Fortschrittsstreben. 551 des Ersprießlichen automatisch sichert. Die Nachteile dieses Weges liegen auf der Hand: die Möglichkeit, das Gute von außen her zu verwirklichen, macht oberflächlich, denn wo sie vorliegt, dort gewöhnt der Mensch sich daran, alles Heil von äußeren Umständen zu erwarten und vernachlässigt entsprechend seine innere Bildung. Aber unser Weg hat auch sehr große Vorzüge, und bei diesen allein will ich heute verweilen, da mir ja darum zu tun ist, eine sympathetische Stimmung dem Westen gegenüber in mir zu wecken. Jede Seele ist vielfacher Gestaltung fähig, entwickelt sich verschieden, je nachdem, welche ihrer Bestandteile zur Vorherrschaft gelangen, und die Form, die sie schließlich gewinnt, hängt in hohem Grade davon ab, in welcher Umwelt sie wächst — wie in wilden Zeiten die meisten verwildern, weil alle Gelegen- heiten der Bestie hold sind, so gewinnt in günstiger Umgebung bei den Meisten das Beste die Oberhand; deshalb ist es ein Glück, wenn die äußeren Verhältnisse möglichst gute sind. Es ist un- zweifelhaft möglich, von außen nach innen zu wirken, ja, im Falle uneinsichtiger Wesen gibt es nur diesen einen Weg, sie des Höchsten teilhaftig werden zu lassen. Die alten Kulturen verlangten in diesem Sinn, daß der Unmündige dem Wissenden blind ge- horche, und allerdings war es besser, die Masse also zu bevor- munden, als sie ihrem eigenen Gutdünken zu überlassen, um so mehr, als sie eine dritte Möglichkeit nicht kannten. Unsere Zivilisation nun hat eine solche ins Leben gerufen: innerhalb der modernen Organisation des äußeren Lebens erweist sich das Gute als immer zweckmäßiger; selbst Schurken macht heute die Klugheit in Geschäften solid; der stumpfste Geist wird durch die Erfahrung zur Erkenntnis genötigt, daß es in unserer Welt im ganzen und auf die Dauer vorteilhafter ist, sich dem Ideal entsprechend zu verhalten. Mag dieser Umstand noch so sehr einem gröbsten Utili- tarismus zugute kommen, — immerhin wirken die idealen Forde- rungen als reale Mächte und formen die Seelen, so daß ein unter halbwegs günstigen Verhältnissen erwachsener Durchschnitts- moderner unwillkürlich humaner und rechtlicher denkt als seine Altvorderen. Nun findet eine naturnotwendige Höherentwickelung der Menschheit in moralischer Beziehung nachweislich nicht statt; ihre moralische Erbanlage ist im Ganzen die Gleiche, wie vor Jahrtausenden; aller ethische Fortschritt der Massen geht auf geistige Einflüsse zurück, die als solche nur den Einzelnen betreffen 552 Absoluter Vorzug unserer Zivilisation. können und, von seiner Physiologie her gesehen, außenher stam- men. Deshalb bedeutet der durch unser System bewirkte Erfolg, daß der seelisch Unmündige sich — gleichviel weshalb — aus eigenem Antrieb zum Guten bekennt, ein überaus Wichtiges. Denn damit erwacht in ihm eine innere Kraft, die frei dem gleichen zustrebt, worauf der Druck von außen hinarbeitet, und auf diese Weise hebt sich, langsam aber unaufhaltsam, das all- gemeine Niveau. Nach dem orientalischen System muß der un- mündig geborene unmündig bleiben, und so hoch der Mündige stehe — ein Erwachsen der Masse erscheint ausgeschlossen; die Menschheit als Ganzes verharrt auf der ursprünglichen Daseinstufe. Innerhalb des unserigen besteht die Möglichkeit, daß gerade die Masse dahin gelangte, wo bisher nur Bevorzugte standen; und die ist eben dadurch geschaffen worden, daß die äußeren Umstände es dem Unmündigen nahelegen, aus eigenem Antrieb dem Guten nachzueifern, so daß geistige Mächte ihn nun hinausführen können über die Grenzen seiner ererbten Natur. Dank diesem Umstand ist ein erstaunlich hoher Prozentsatz nicht hochgeborener Weißer innerhalb eines Jahrhunderts auf eine Stufe hinangestiegen, wie solche die Shastras dem indischen Qudra erst nach Jahrtausenden rastlosen Strebens durch unzählige Wiedergeburten hindurch in Aussicht stellen. Von hier aus wird nun sehr deutlich, inwiefern das Streben nach Fortschritt der Vollendung doch zugute kommt. Wohl ist diese auf jenem Wege nicht zu erreichen; dies bedingt das Bar- barentum des Modernen. Aber das Streben nach Fortschritt inner- halb eines Kultursystems, in dem die höchsten Ideale als ob- jektive Mächte wirken, bringt es andrerseits dahin, daß mehr und mehr Menschen auf die Naturstufe gelangen, auf der in Indien allein der Brahmane steht. Auch dieser wird ja nicht vollendet geboren — was seinen Vorzug macht, ist eine bessere Erbanlage, die ihm ermöglicht, unmittelbar, ohne Umwege dem irdisch- Höchsten nachzustreben; unser Kultursystem kann es einmal dahin bringen, daß alle Menschen als Brahmanen anheben werden. Dies muß dem Gleichheitsideal zugute gehalten werden, so sehr es die Menschheit sonst herabdrückt und oberflächlich macht. Stellte der jetzige Zustand einen Endzustand dar, dann müßte er bekämpft werden; das Nivellement nach unten zu, das die Demo- kratie zunächst mit Notwendigkeit bewirkt, zieht eine ungeheure Demokratie als Arbeitshypothese ; moderner u. indischer Evolutionismus. 553 Entwertung der Menschheit mit sich, deren Andauer den Ruin bedeuten würde. Allein sie wird nicht andauern; die Demokratie bedeutet nur eine Arbeitshypothese, die sich, wenn die Zeit dazu gekommen, von selbst erledigen wird. Kaum daß das Gesamt- niveau sich genügend erhoben hat, werden neue Schichtungen entstehen, neue Berge sich auftürmen, neue Talkessel sich bilden; nur wird die neue Aristokratie auf höherem Niveau beruhen, als es die alte tat, deren Eigenschaften nunmehr zum Erbteil der Masse geworden sein werden. Überhaupt hat der Demokratismus viel Gutes; jede auf dem Entwicklungsgedanken aufgebaute Weltanschauung formt optimistische Menschen, und nichts beschleunigt den Er- folg so sehr, wie Selbstvertrauen. Was nun den modernen Evo- lutionismus von allen bisherigen auszeichnet, ist die Kürze des zur Entwicklung verlangten Zeitmaßes. Die altindische Weltanschau- ung, welche ganz gleich der modern-demokratischen lehrt, daß jeder im Prinzip des Höchsten fähig sei und daß die Kasten nur Etappen auf dem Wege des Fortschritts bedeuten, verklausulierte ihren Freibrief dahin, daß jedes gegebene Leben in seinem an- geborenen Rahmen verharren müsse und ein Durchbrechen der Kaste nur von Leben zu Leben, durch den Übergangszustand des Todes hindurch, denkbar sei; im gleichen Sinn räumt jeder nicht ganz bornierte Aristokrat wohl ein, daß ein Aufrücken der Familien stattfindet, so daß es ungerecht wäre, den Vorgeschrittensten die Aufnahme in seine Standesgemeinschaft zu versagen — hält aber zugleich daran fest, daß es mindestens dreier Generationen bedarf, um einen Gentleman hervorzubringen. Der moderne Demokratismus hiergegen behauptet, daß der Prozeß in einem Leben durchlaufen werden kann. Es ist nun einerseits wohl gewiß, daß derart schnelles Wachs- tum nicht ersprießlich ist; ganz wenige Menschen vertragen es, aus einem engen in einen weiten Rahmen hinüberversetzt zu werden; wäre es anders, die modernen Europäer und Amerikaner wirkten weniger roh. Aber andrerseits potenziert der demokra- tische Glaube den Optimismus so ungeheuer, daß dieser zu einer elementaren Kraft erwächst, deren Tugend das scheinbar Unmög- liche möglich macht. Er bewirkt, was noch immer nicht selten der 554 Der Optimismus als Macht ; geistiges Aufkreuzen der Masse. „ursprünglichen Gleichheit aller Menschen" zugeschrieben wird, daß die alten, durch die Geburt gesetzten Schranken heute wirklich weniger als früher gerechtfertigt erscheinen; dank ihm ist wirklich wahr, daß der Entwickelungsprozeß sich abkürzen läßt. Und wenn zunächst mehr die Nachteile des Flüssiggewordenseins der alten Formen ins Auge fallen, so bedenke man, daß dieses nach kurzer Zeit voraussichtlich schon anders sein wird; bald wird es in den vorgeschrittensten Ländern ganz niedere Volksschichten überhaupt nicht mehr geben; alle werden geschult, bis zu einem gewissen Grade sogar gebildet sein. Und wenn über diesem Ereignis auch nur eine Generation verstrichen sein wird, dann werden Empor- kömmlinge im alten Sinn nicht mehr erstehen, denn ganz unvor- bereitet zu einer höheren Lebensstellung wird keiner mehr sein. Das demokratische Ideal bedingt ein geistiges Aufkreuzen der niederen Volksschichten; bald werden sie in weitem Maße veredelt sein. Ist dieses aber erreicht, so wird der Glaube an die Gleich- heit aller von selbst vergehen und die Basis geschaffen sein für die aristokratische Ordnung der Zukunft. Unter den Weisen Alt-Indiens galt als eine der Grundeigen- schaften, die ein Jüngling besitzen mußte, um der Aufnahme als Chelä wert zu gelten, die Genußfähigkeit. Das ist wohl nur ein anderer Ausdruck für optimistisches Temperament. Wer nun qualifiziert erschien zur Aufnahme, dem wiesen sie den Weg, im Laufe eines Lebens so weit zu kommen, wie er sonst nur im Laufe der Jahrtausende durch viele Körper hindurch gelangt wäre; auch die indische Weltanschauung gibt also die Möglichkeit zu, die Entwickelung abzukürzen. Aber sie statuiert sie nur für einen unter Millionen; die demokratische setzt sie für alle voraus. Das scheint verwegen. Doch wenn man bedenkt, wie niedrig das höchste Ideal, das die Demokratie bisher aus sich entwickelt hat, ^im Vergleich zum indischen ist, dann neigt man zur Zustimmung. Dieses Ideal können wohl alle vielleicht erreichen. Und sind sie erst dort, so werden höhere von selbst an ihrem geistigen Hori- zonte aufgehen. Exzentrizität als Naturbasis der Originalität. 555 Wo mehr als zehn Amerikaner versammelt sind, kann man sicher sein, daß einer unter ihnen ein crank ist; eine Original von der exzentrischen Sorte. Auch auf diesem Dampfer habe ich einen entdeckt: einen Missionar, dessen Spezialität der Dämonenglaube ist. In China will er gesehen haben, wie die Geister toter Mädchen von anderen Besitz er- greifen, und wie Taufe allein diesem Verhängnis vorbeugen könne; auf diese Idee und deren Ableitungen reist er seither. — Während ich heute, in sympathetischer Verfassung, dieser Erscheinung nach- sann, fiel mir ein, daß ich unter Asiaten auch nicht einem crank begegnet bin. Der Fakir könnte, äußerlich betrachtet, wohl als Exzentrik gelten: aber seine Art ist ganz unpersönlich; er folgt einem exzentrischen System, ohne selbst nur im mindesten exzen- trisch zu sein. Die spezifisch individuelle Note fehlt. Diese Note dominiert unter uns; desto mehr, je typischer- westlich wir sind. Und im gleichen Verhältnis blüht unter uns der crank. Das Streben nach Individualisiertheit kann unter Durchschnittsmenschen nicht zu wertvollen Ergebnissen führen; diese werden nur exzentrisch, wenn sie „sie selbst" sein wollen, und wirken unvollkommener als noch so beschränkte Klassentypen, weil die Tradition immer weiser ist als der mittelmäßige Einzelne. Ja, aber andrerseits können nur dort, wo alle „sie selbst" sein wollen, wo die Rechtmäßigkeit dieses Strebens vorausgesetzt wird, wirklich große Neuerer emporkommen; im alten China wäre ein Edison undenkbar gewesen. Dieselben Umstände, welche das Zerrbild des Exzentrik begünstigen, kommen auch dem Genius zu- gute. Oberflächlich betrachtet, ist eben auch dieser ein Crank. Das Streben nach Anders-Sein ist die notwendige Voraussetzung aller erfinderischen Originalität. Somit müssen wir uns wohl dabei bescheiden, unsere im Ein- zelfalle höhere Originalität durch eine größere Unvollkommenheit des Durchschnitts erkauft "zu sehen. Jede Neuerung qua Neuerung ist ein Kulturfeindliches, insofern als Kultur das Fleischgeworden- sein eines gegebenen Geistes bedeutet und einem Neuentstehenden das Fleisch noch fehlt. Neuerungsstreben macht ferner oberfläch- lich; wessen Aufmerksamkeit auf die Verwandlung der Erschei- nung geheftet ist, verliert leicht indes die Fühlung mit seinem Grund. Je erfinderischer wir wurden, desto mehr sind wir ver- 556 Neuerungsstreben macht oberflächlich. flacht und sollten wir noch lange diese Entwicklungsrichtung ein- halten, so könnten wir verderben. Allein ich kann nicht glauben, daß es noch lange so fortgehen wird. Ich bin vielmehr überzeugt, daß unser Verlieren an Tiefe den gleichen Sinn hat, wie das vor- läufige Minusmachen dessen, der ein Landgut verbessert: es handelt sich in Wahrheit um Investierung. In uns werden, unter ungeheueren Kosten, neue Organe herangebildet; wo früher die Gruppe der Träger aller Kulturgedanken war, soll es fortan der Einzelne sein. Diese Neuorganisation bedingt ein vorläufiges Verzichten auf die Erträge, die durch die alte Ordnung gesichert schienen. Aber wenn die neuen Betriebe erst im Gange sind, dann wird das Gut vielleicht das Zehnfache abwerfen. Wohl schwerlich wird die weiße Menschheit der Zukunft aus lauter Edisons bestehen; aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Zahl der cranks stetig abnehmen und einem neuen Typus Platz machen, der einerseits so wurzelecht, wie der alte Klassentypus, andrerseits so selbstbestimmt erscheinen wird, wie der extremste moderne Individualist. Nur der Ober- flächliche bekennt sich nämlich zum Individualismus, der Vertiefte fühlt unmittelbar den Zusammenhang. So wird die Zukunft schein- bar wohl zu einer Wiederherstellung der alten Ordnung führen. Die Exzentriks werden abnehmen, die Durchschnittsmenschen aus- geglichener erscheinen. Und doch wird es sich um ein völlig Neues handeln: alle werden Individualitäten sein. Dann wird die indivi- duelle Form der Masse die gleiche Vertiefung ermöglichen, wie bisher nur die typische. Dieser Tage schreibe ich, als wäre ich Evolutionist, als glaubte ich so fest an den Fortschritt, wie ein Yankee. Das tue ich wirklich, sofern es sich um Abendländer handelt, und soweit von Fortschreiten überhaupt die Rede sein kann. Daß unser Fortschritts- begriff dem Naturprozeß unangemessen sei, erscheint gewiß, und diese Erwägung erledigt Spencers Theorie. Nicht bloß Pflanzen und Tiere bleiben von sich aus durch Äonen die gleichen und ver- wandeln sich bloß in Reaktion auf eine sich wandelnde Außenwelt — auch von den Menschen gilt gleiches überall, wo kein „Jenseits" des Physiologischen ihr Leben regiert; so weist die russische Geschichte vom fünfzehnten Jahrhundert bis auf gestern, vom Menschen und seinen Motiven her besehen, nur Wiederholungen auf. Aber jene Theorie hätte so großen Anklang nicht gefunden, wenn sie dem Intellekte nicht gemäß wäre. Dieser ist wesent- Evolutionstheorie falsch; Realgrund des Fortschrittsgedankens. 557 lieh zielstrebig, notwendig fortschreitend; er steht nie still, ist un- fähig sich zu bescheiden, jedes Erkannte weist auf neue Erkennt- nisse hin, die sich schnurstracks dem Ideale zubewegen. Wo In- tellekt daher das Leben dominiert, muß dieses fortschreiten seinen Normen gemäß. Wir Westländer haben uns jenem ganz ver- schrieben ; unsere besondere Natur ermöglicht uns, seiner Eigen- bewegung in hohem Grad zu folgen, seine Ideale sind unsere Ziele; also verändern wir uns gemäß dem Fortschrittspostulat. Wie weit dies gehen wird, bleibt abzuwarten; die an sich konservativ ge- sinnte Physis mag den Forderungen des Geistes Schranken setzen, die er nicht überwinden kann. Immerhin ist Fortschreiten ins Un- begrenzte hinaus denkbar. Und da Glaubensinhalte reale Mächte sind und Ideale überaus mächtige Attraktionszentren, so mag die Zukunft der weißen Menschheit noch Erfüllungen bringen, die keine Gegenwart versprach. Mit den Missionaren kann ich mich aber trotz besten Willens nicht befreunden. Freilich gibt es große und edle Menschen in diesem Beruf, aber sie sind gar undicht gesäet und erfüllen ihn dann auch entsprechend schlecht: sie wollen nie eigentlich „bekehren". Es ist und bleibt eine Beschrän- kung, seine Meinung anderen aufzudrängen, was sich praktisch deutlich genug darin erweist, daß alle richtigen „ Missionare be- schränkt sind. Hier an Bord habe ich mich mit einigen unterhalten, welche jahrelang in China gewohnt haben: die haben es tatsächlich zu Wege gebracht, von den Vorzügen des Konfuzianismus nichts zu merken! Solche Blindheit ist wahrlich gottbegnadet, nur auf übernatürliche Weise zu erklären. Die christlichen, zumal die protestantischen Missionare sind mit verschwindenden Ausnahmen verständnislos, engherzig und seelisch roh. Wie kläglich wenig gilt von ihnen, was von den Aposteln des Bahaitums gilt, denen BahaVllah, ihr Messias, die schöne Weisung gab: „O Kinder von Baha ! Verkehrt mit allen Völkern der Welt, mit den Bekennern aller Religionen im Geist vollkommener Freudigkeit. Erinnert sie daran, was allen frommt, aber hütet euch davor, das Wort Gottes zum Stein des Anstoßes oder zur Quelle gegenseitigen Hasses zu machen. Wenn ihr wißt, was der andere nicht weiß, so 558 Einzigartig formende Kraft des Christentums. sagt es ihm mit der Zunge der Freundlichkeit und Liebe. Nimmt er es an und auf, so ist das Ziel erreicht; weist er es ab, so betet für ihn und überlaßt ihn sich selbst; nie dürft ihr ihn belästigen " Wahrscheinlich sind die Missionare des Anfangs unserer Zeit- rechnung nicht viel besser gewesen. Und wenn ich nun dessen gedenke und der Höherentwickelung, die sie trotzdem eingeleitet haben, dann wird meine Stimmung denen von heute gegenüber milder. Freilich ist es ein Unglück, daß sie Indien und China heim- suchen, denn die Bewohner dieser Länder stehen teilweise geistig, teils moralisch und teils spirituell zu hoch über denen, die sie be- lehren kommen, als daß sie irgendwie förderlich wirken könnten. Aber zu roheren Völkern mögen sie gehen; denen werden sie ebenso nützen können, wie ihre Vorgänger unseren barbarischen Vorfahren genützt haben. Ja, denen werden sie sich förderlicher erweisen, als die Verkünder tieferer Weisheit es vermöchten, denn unzweifel- haft eignet dem Christentum eine einzigartige formende Macht; es ist die einzige spiritualistische Religion, welche solche besitzt. Und sie besitzt sie anscheinend ganz unabhängig von der Qualität derer, welche sie verkünden, und von dem geistigen Wert ihrer Dogmen, denn dieser Wert ist, verglichen mit dem des Brahma- nismus und beider Buddhismen, gering. Er hat sich sogar stetig verringert im Lauf der Jahrhunderte, denn wenn die frühesten Kirchenväter spirituelle Einsicht besaßen, so gilt dies schon wenig von Luther und Calvin, und gar nicht von den Handwerkern und Schwarzarbeitern, die in Amerika als Religionstifter auftraten. Aber nahezu im gleichen Verhältnis, wie der geistige Wert des Christen- tums sank, ist der praktische, die Effikazität, gestiegen. Es kann nicht geleugnet werden, daß der Protestantismus Menschen von größerer Idealität formt, als der Katholizismus, und daß die noch so alberne Dogmatik der amerikanischen Sekten den Geist des Christentums in ihren Bekennern zu einer Macht herangebildet hat, wie er dies früher nie gewesen ist. Wie ist dies zu verstehen? — Eben dahin, daß der Geist des Christentums ein Geist der Praxis ist, weswegen es nicht allzuviel bedeutet, an welche dogmatische Vorstellungen er jeweilig geknüpft erscheint. Von hier aus allein ist es möglich, dem Christentum gerecht zu werden. Es ist nicht wahr, daß die Lehren Jesu Christi an philosophischem Tiefsinn ein Maximum bedeuteten; selbst das Der Geist des Christentums als Geist der Praxis. 559 Johannes-Evangelium wirkt unzulänglich, verglichen mit der Bhagavat-Glta. In den Lehren Sri Krishnas und der Mahäyäna- Religion stehen die Grundideen des Heilandes des Westens in tieferer Fassung da, erscheinen' überdies in einen Zusammenhang hineinbezogen, der jenem wohl ganz verborgen geblieben war, und ihnen doch erst ihren eigentlichen Sinn gibt. Vom Standpunkt metaphysischer Erkenntnis her betrachtet, stellt das traditionelle oder buchstäbliche Christentum sich als ein ganz Vorläufiges dar. Aber es ist überhaupt keine Religion der Erkenntnis, sondern eine der praktischen Tat, und als solche überragt sie alle anderen. Wie ich's schon schrieb: unter den christlichen Völkern allein sind die Ideen der Liebe, der Humanität, der Barmherzigkeit zu objektiven Mächten geworden und dies bedeutet, daß das noch so unvoll- kommen erkannte Metaphysisch-Wirkliche durch das Christentum in der Erscheinung besser verwirklicht wird, als durch irgendeinen anderen Glauben. Dessen Stifter waren eben wohl oberflächlichere Erkenner, aber tiefere Täter als Krishna und Acvagosha; ja, inso- fern beide Teile die Erscheinung gestalten wollten, waren jene die tieferen schlechthin, denn in der Sphäre des aktuellen Lebens ist die Fassung einer Idee die absolut beste, die sich am besten bewährt — gleichviel, wie weit sie geistig befriedigt. Dies ist der Sinn jener Überlegenheit des Christentums, welche die Geschichte beweist, so sehr der einseitige Geistesmensch an ihr zweifeln mag. Und dieses rechtfertigt zugleich die Mission. Die beschränk- ten Menschen, welche ausziehen ihre unmaßgeblichen Meinungen anderen Leuten aufzudrängen, verkünden durch ihr Sein doch ein echtes Evangelium: das der Arbeit und der schöpferischen Tat. Sie geben ein Beispiel hohen Opfermuts, nie ermüdender Initiative, unbeirrbarer Konsequenz, des festen Willens dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Das ist ja das Wesentliche der westlichen Kultur, daß sie nichts als unabänderlich gelten läßt. Wir halten für mög- lich, die Welt von Grund aus umzuwandeln, unsere höchsten Ideale der Wirklichkeit einzuverleiben. Dieser Geist der Kampflust, des Muts, des Optimismus ist dem Orient fremd; er steht Menschen- kraft zu skeptisch gegenüber, er weiß zu viel .... Oder hat er am Ende Wichtiges übersehen? Hätte ich, bei meinen bisherigen Betrachtungen, den Nachdruck auf den falschen Ort gelegt? — Die ersten amerikanischen Möven kommen geflogen. Die psychische Wasserscheide ist überschritten, unaufhaltsam zieht es mich zu. 560 Christentum die höchste Verkörperung des Geists der Freiheit. okzidentalischer Seinsgestaltung zurück. Und nun erkenne ich, daß die praktische Überlegenheit des Christentums ihrerseits Ausdruck eines unbedingten metaphysischen Vorzugs ist: es verkörpert, wie keine andere Religion, den Geist der Freiheit. Auf zwei Weisen allein kann der naturbedingte Mensch sich frei erweisen: indem er innerlich ja sagt zum Geschehen, und indem er ihm initiatorisch die Richtung gibt. Dementsprechend resümieren die christliche Ethik zwei Gebote: daß jeder sein Kreuz auf sich nehmen soll und jeder furchtlos und opferfreudig kämpfen für den Sieg des Guten. Diese leiten wahrhaftig einen jeden zu einem Leben der Freiheit an. Wenn die Inder, die tiefsten Erkenner, praktisch ver- sagen, so liegt dies daran, daß sie innerhalb der Erscheinung ihr freies Wesen nicht auszuprägen wissen. Anstatt ihr Kreuz auf sich zu nehmen, gedenken sie seiner Unwesenhaftigkeit, was sie ebensowenig entbindet, wie das Verleugnen eines unliebsamen Ver- wandten die Verwandtschaft aufhebt; anstatt ihre Erkenntnis ihrer Wesenseinheit mit Brahman, der sich in dieser Welt immer voller und voller manifestieren will, zur Tat werden zu lassen, indem sie überall Initiative bekunden im Sinn des Gottgewollten, schauen sie bloß zu, wie Gott sich selber hilft. Wir nun wissen nicht entfernt so viel wie jene; aber Christi Lehre leitet uns an, unbewußt im Sinn ihres Wissens zu leben. So sind wir zur Tat berufener als sie. Wir sind Gottes Hände. Diese Hände als Hände sind blind und ihre Blindheit hat viel Unheil angerichtet. Aber werden sie einst geführt vom erkennenden Geist, so wird ihnen gelingen, soweit solches überhaupt möglich ist, das Himmelreich auf Erden zu begründen. VIII. AMERIKA. Keyserling, Reisetagebuch. Das „Sollen" als typisch-westlicher Begriff. 563 SAN FRANCISCO. Im Westen zurück. Wie gut, daß ich als Erstes den fernen Westen zu Gesicht bekam! Diese Welt ist so extrem okziden- talisch, daß die innere Umstellung, deren es bedarf, um in sie einzudringen, die Bilder des Orients selbsttätig verdrängt. So sehe ich mich über den unglücklichen Übergangszustand, da das Bewußtsein von Altem und Neuem in unreinem Gemenge über- völkert ist, auf einmal hinausgehoben. Am ersten Tage nahm ich den Tee, in der Vorstellung, ich müßte noch am- gestern haften, in dem entzückenden japanischen Teehaus, das dem Spaziergänger am goldenen Tore Rast ge- währt. Was kam mir da als erstes in den Sinn? daß die ge- zwergten Bäume sich darnach sehnten, zu Riesen auszuwachsen! Nie kam mir solche Vorstellung in Japan; sie ist dessen Geist zuwider. Also hatte ich schon am ersten Tag das Verhältnis zum Orient verloren. Die Luft Kaliforniens muß eine ungeheure Bil- dungskraft besitzen. Ich beobachte, was in mir vorgeht: es ist eine richtige Metamorphose. Das Bewußtsein des Seins tritt zurück, es potenziert sich dasjenige des Werdens; und schon treten die Imperative in den Vordergrund, die im Subjektiven überall die objektiven Naturtendenzen spiegeln: man soll werden, soll wachsen, soll fortschreiten; offenbar lag dieses Sollens- gefühl meinem Eindruck zugrunde, der vom so ganz unwahr- scheinlichen Wachsenwollen der japanischen Zwergpflanzen kündete. Dabei fällt mir ein, daß ich im Osten niemals „gesollt" habe. Wäre ein Kant, ein Fichte, im Orient möglich gewesen? Ich glaube nicht. Wo das Bewußtsein des Seins überwiegt, dort ist die Not des Entstehenwollens unbekannt; dort können Homun- 36* 564 Absoluter Vorzug der westlichen Lebensform. kulusgefühle nicht aufkommen; dort scheint es unnötig zu gebieten: „Werde was du bist". Der Tatbestand ist dort wie hier prinzipiell der gleiche, allein der Mensch stellt sich anders zu ihm. Der Misse- täter im Osten kennt kein Sündigkeitsgefühl, der Streber hat dort dennoch Geduld; wer sich noch so brünstig nach Vollendung sehnt, sich der Unzulänglichkeit der Gegenwart noch so bewußt ist, ver- spürt doch selten den inneren Drang, die Entwickelung abzukürzen. Man sagt, der Orientale habe Zeit. Die Wahrheit ist, daß ihm das Zeitbewußtsein fehlt; deshalb stellen sich ihm die Wesens- probleme unabhängig von ihrer temporellen Aktualisierung. Nie würde ein Chelä es aushalten, ein Menschenalter bei seinem Guru abzuwarten, ob er nicht der Erleuchtung teilhaftig würde, wenn die Zeit ihm ein Wirkliches wäre; wo sein Bewußtsein überhaupt an der Erscheinung haftet, also z. B. im Zustand der Verliebtheit, ist der Hindu nicht geduldiger als wir. Das Typische für den Inder ist eben, daß er sich seines eigentlichen Seins als solchen normalerweise bewußt ist, so daß der Sünder sich wesentlich als Heiliger fühlen kann, der Anfänger als Vollendeter, der Narr als Weiser, weshalb es nicht unerläßlich erscheint, das Sein im Werden auszuprägen. So haben weder die indischen, noch die chinesischen Weisen in unserem Sinn Gebote aufgestellt; sie haben gesagt: wenn du das tust, so wirst du vollendet; wenn du so bist, dann hast du es erreicht; wenn du den Fehler begehst, dann wird deine Entwickelung aufgehalten. Nie sagten sie: du sollst das tun. Der Orient kennt kein „Sollen", weil er „ist"; wir, die unaufhaltsam werdenden, sehen das Sein in der Form eines „Gesollten" vor uns. Wie seltsam, wieder einmal zu sollen! Nun werden neue Werte zu bestimmenden: die Leistung wird entscheiden über den Wert des Seins, der Erfolg über den des Wollens. Nun erhält die Erscheinung einen absoluten Sinn, da das Absolute in ihr zum Ausdruck kommen soll. Die Zustände des Daseins stellen sich nicht mehr als gleichwertige Gegebenheiten dar: nun ist der Reiche mehr als der Arme, der Starke mehr als der Schwache, der Weise mehr als der Narr. Es gilt nicht mehr, eine gegebene Stellung auszufüllen, sondern die denkbar günstigste zu erringen. Welche Daseinsform ist vorzuziehen, die östliche oder die west- liche? Darf ich noch urteilen? schon bin ich nicht mehr unbefangen; schon will ich so stark wieder werden, entstehen, erschaffen, ge- stalten, vollenden, schon füllt das Wollen als solches so sehr mein Analyse des Westländerbewußtseins ; Expansionstrieb. 565 Bewußtsein aus, daß ich mich in eine andere Existenzart nur schwer hineinversetzen kann. Aber soviel scheint wohl unbestreitbar: für diese Welt hat der Westen das bessere Teil erwählt. Um das Recht, das ideell ewig gilt, zur Geltung zu bringen, bedarf es der Gewalt, an sich selbst ist es machtlos; zur Darstellung noch so wahrer Ideen sind materielle Mittel nötig. So sehr die östliche Lebensmodalität dem Erkenner frommt, zur Umsetzung des Er- kannten in Taten ist die westliche besser. Vom Standpunkte dieser Welt ist es Chimäre, wenn der Sünder sich als Heiliger fühlt — es muß heilig werden, seine Erscheinung ändern, wenn es sein Wesen hier verwirklichen will. Das Werden aber beherrscht nur, wer es ernst nimmt, sich bewußt mit seinen Phasen identifiziert; nur der beschleunigt es, wer seinen Willen fest aufs Ziel richtet, und dies vermag nur, wer es in Form eines irgendwie Gesollten vor sich sieht. Die Inder, in der Ideenwelt zu Hause, haben sich nur treiben lassen vom Strom des Geschehens. Wir wissen ihn zu lenken. IM YOSEM1TE-TAL. Wirklich entrückt bin ich dem Orient doch noch nicht: er bildet den Hintergrund meines Abendländer-Erlebens, dank welchem dieses ein Relief erhält, das ihm sonst abging. So finde ich es nicht selbstverständlich, es fällt mir auf, daß mein Selbstgefühl sich mehr und mehr in den Grenzen meiner Person zusammendrängt. Großartig ist die Natur, die mich um- gibt; in gleicher Landschaft, in Indien oder in China, hätte ich mein Ich schon längst im All verloren. Mit den Felsen würde ich mich lasten fühlen, die in steiler Mauer das Schwemmland des Yosemite einfassen; ich erlebte mich als Seele der Fälle, deren Wasser- massen nach vielhundertfüßigem Sturz das Tal als zartes Nebel- bild erreichen; in jeder Tanne strebte ich himmelwärts. Hier bin ich nicht selbstverständlich eins mit dem, was mich umgibt; ich scheide zwischen mir und den Felsen, die Wasserfälle sehe ich außer mir, der Geist der Wälder ist mir ein Du. Und versetze ich mich absichtlich in das hinein, was doch wesentlich zu mir ge- hört, so ist mir, als eroberte ich es. Mein Weltgefühl äußert sich 566 Sinn des westlichen Eroberertums. als Trieb zur empirischen Expansion. Ich kann nicht mehr hinein in die Natur, ohne mein Ich mit hineinzunehmen; dessen Gewebe scheint zu dicht geworden, als daß es sich als Geist in ihr ver- breiten könnte. Dementsprechend gesteigert erscheint mein Daseinsgefühl. Die Kraft, welche jüngst erst den Weltraum ausfüllte, ist nun in den Grenzen meines Individuums zusammengedrängt. Dadurch erhält dessen Energie einen Stärkegrad, wie ich ihn in Indien nie- mals erlebt habe. Wohl bin ich ursprünglich nicht eins mit der Welt rings um mich her, doch was sollte mich hindern es zu werden? Warum sollte ich den Himmel nicht erstürmen, den Erdkreis nicht einnehmen? Mir ist, als vermöchte ich alles, was ich nur will, und es drängt mich, es zu beweisen. — Dieses also wäre der Sinn des westlichen Eroberertums! Wir stellen das Problem im Rahmen von Raum und Zeit, das der Inder unab- hängig davon zu lösen trachtet, aber es ist doch ein gleiches Problem! Ich fühle mich auch nicht oberflächlicher geworden, als ich in östlicher Gestaltung war, wenngleich die bestimmten Aufgaben, die sich mir stellen, allesamt an der Oberfläche der Dinge haften. Wie seltsam, daß ein gleicher innerer Sinn so grund- verschiedenen Ausdruck finden kann : dort als mystische Erkenntnis, hier als Trieb zur Eroberung; dort als allverstehendes Genügen, hier als blinder Drang zum Erwerb. Aber der Sinn ist wohl überall Einer, und es hängt von den Umständen ab, ob er als Raubtier oder als Reh, als Selbstlosigkeit oder Begehren, als Ver- stehen oder Tun zutage tritt. In Californien wird mir zum erstenmal deutlich bewußt, welcher Art die Verhältnisse sind, die das Phänomen des West- länders ermöglichen, denn hier treten sie in extremer Ausprägung zutage. Diese Luft ist ungeheuer vitalisierend; noch nie habe ich über gleich viel kinetische Energie verfügt. Und fasse ich den Eindruck meines inneren Erlebens mit der Anschauung der Pflanzenwelt zusammen, dieses wahrhaftigsten Ausdrucks der elementaren Lebensbedingungen, so erkenne ich unmittelbar, in- wiefern das Vitalisierende dieser Welt anderen Sinnes ist als das der Tropennatur. Nirgends scheinen die äußeren Verhältnisse der Flora günstiger zu sein, als in der Treibhausatmosphäre Ceylons; dennoch bedeuten sie für das Leben, von dessen Standpunkte aus, kein Optimum. Dort ist es niemals stark; das Individuum ist Bedeutung der Individualisierung. 567 nicht ausgeprägt; unaufhaltsam wuchern die Elemente über den Plan des Ganzen hinaus, das vereinigende Band erschlafft, der Intensitätsfaktor leidet. Bei Gewächs und Mensch tritt Gleiches in die Erscheinung: bei abnormem Ausbreitungsvermögen Konzen- trationsmangel. Die Grenze zwischen Individuum und Gattung verschwimmt, das Einzelne verliert sich in der Masse. Gleich den Lianen wuchern die Geschlechter, wie das Unkraut die Gebilde der Phantasie; nur ausnahmsweise kommt es zu scharfumrissenen, innerlich festen, starken und eindeutigen Gestalten. — In Cali- fornien drängt alles zur Individualitätenbildung. So günstig die äußeren Umstände seien, das innere Moment dominiert. Der fabel- haft fruchtbare Boden treibt keinen Dschungel, sondern einzelne Baumriesen hervor. Die größere Individualisiertheit, die den Westen dem Osten gegenüber auszeichnet, bedeutet sonach weniger Beschränkung, als Potenzierung der Lebensmöglichkeiten; oder genauer ausgedrückt: der Verlust an üppigem Reichtum kommt der inneren Spannkraft zugute. Gleichwohl spüre ich es hier mehr denn je, gerade hier, wo sich die Natur dem Westländersinn am holdesten erweist, inwiefern der Orient uns voraus ist. Es fällt mir über die Maßen schwer, ein geistiges Dasein zu führen; nur mit übergroßer An- strengung kann ich mich hier auf Ewigkeitsprobleme konzentrieren; die große Natur um mich herum findet kaum ein Echo in meiner Seele. Das liegt nur zum geringen Teil daran, daß ich mich in der Wildnis befinde, in einer Welt, in der noch nie gedacht ward; es liegt hauptsächlich an den intimen Vorgängen, die sich in meinem Organismus abspielen und dem Bewußtsein übermächtig aufdrängen. Ich spüre mich wiederum wachsen, als ob ich mein physisch-orga- nisches Leben neu begänne; ich fühle mich in den Zustand zurück- versetzt, da meine Lebenskraft mit der Bildung des Körpers vollauf beschäftigt war. Aller Geist scheint im Körperlichen gebannt. Dementsprechend ist alles Streben stoffgebunden; wollte ich jetzt himmelan, ich könnte es nur im Sinn der Tanne tun. — Unsere Welt ist eine Kinderstube verglichen mit der östlichen. Seltsam, daß derartiges einem an Bäumen so deutlich werden kann. Sie sind doch alt genug, diese Riesen, die doppelt und dreimal so hoch, wie in Europa, über den Erdboden hinausragen. Aber sie gehören einer jungen Rasse an. Sie sind ein Urausdruck des Lebens, gleicK den vorsintflutlichen Riesentieren. Ich würde mich kaum sonder- 568 Warum und inwiefern wir Materialisten sind. lieh wundern, wenn hier ein Megatherium meinen Weg kreuzte, und kein Schauer der Ehrfurcht vor grauem Altertum überkäme mich dabei, sondern ein Gefühl heiterer Befriedigung darüber, wie jung diese Welt noch ist. Wir sind mehr materiell als spirituell gesinnt, weil wir aus der Periode physischen Wachstums noch nicht heraus sind; wir sind Materialisten im Sinn von Kindern. Aus eben dem Grunde äußert sich unsere Energie zunächst hauptsächlich in blindem Tätigkeitsdrang. Lebte ich länger in diesem Land, auch ich ent- wickelte mich wohl zum Unternehmer; mein Geist bildete sich mehr und mehr der Materie ein, und die Idealität des Philosophen verwandelte sich in die des Conquistadors. — Ich kann nicht behaupten, daß diese Welt mir persönlich kongenial wäre. Und doch bin ich mir über Eines klar: ist es das Streben des Geistes, die Erscheinungswelt zu durchdringen, ist es Bestimmung des Menschen, diese Durchgeistigung herbeizuführen, dann hat unser Materialismus mehr Zukunftswert als der Spiritualismus Hindu- stans. Dieser steht der Natur machtlos gegenüber. Er meistert sie nicht; darum kann er sie nicht spiritualisieren. Uns kann dies gelingen. Nur führt unser Weg zunächst ins Herz der Materie. Wir müssen hinein, hindurch durch alles das, worüber der Osten sich hinausschwang. Wir müssen zeitweilig Materialisten sein. In diesen Wäldern ist kein höherer Menschenschlag denkbar, als derjenige Lederstrumpfs. Prachtvoll heben sich Roughriders, Indianer und Cowboys vom Hintergrund der wilden Land- schaft ab, in der alles so groß und so weit und zugleich so ein- fach ist; geistigere Typen wirken als Kümmerer. Hier gilt es kühn und geschwind, entschlossen und skrupellos sein; die Pro- spektortugenden sind die Tugenden schlechthin. Wie sehr lebt der Conquistador im modernen Amerikaner fort! Raubwirtschaft treibt dieser mit Wald und Feld, Raubwirtschaft mit den Menschen. Er ist kaum weniger freizügig und ungebändigt, wie einst der Trapper. Ich versetze mich in jene Knabenjahre zurück, da nichts mich mehr vergnügte, als im Walde zu schweifen, da die Jagdpassion meine stärkste Leidenschaft war und der reisende Abenteurer in fernen Weltteilen mein verstiegenstes Ideal verkörperte. Jeder Knabenhaftigkeit der Amerikaner. 569 ordentliche Junge hat diesen Zustand durchgemacht; er bezeichnet den normalen Bewußtseinsexponenten der Periode stärksten Wachs- tums. Was soll man denn anderes erstreben, wo der Arm täglich länger wird, als täglich weiterzugreifen? und erstrebte man es nicht — wie sollte er genügend erstarken? Allzu früh allzu hohe Ideale zu bekennen, tut nicht gut. — Ja, jugendlich wirkt er, fast primordial, der Mensch des Fernen Westens. Darnach sollten auch die wirklichen Schwächen der Amerikaner beurteilt werden. Allerdings sind sie Barbaren und trotz beneidenswert vorge- schrittener Institutionen höchst gefährlich für den Bestand unserer Kultur: dem Schulbuben sind gewisse Begriffe noch fremd, er kann nichts Schlimmes daran sehen, daß er einen kostbaren Gegenstand zerschlägt. Allerdings wirkt es mitunter recht komisch, wenn eine so unreife Nation die Allüren einer erwachsenen annimmt: aber noch habe ich keinen Bengel gesehen, der sich nicht weiser als seine Eltern gedünkt hätte. Die auswärtige Politik der Vereinigten Staaten ist Schülerpolitik, ihre Poesie Primanerromantik. So soll es im Augenblick auch sein; wer kein richtiger Junge war, reift nie zum Manne heran. Und dann versagen Kinder doch nur dort, wo sie es mit Erwachsenen zu tun haben, diesen unverständlichen und verständnislosen Wesen; wo sie untereinander verhandeln, unter ihren eigenen natürlichen Voraussetzungen, dort machen sie es meistens sehr gut; ihre größere Unbefangenheit läßt sie mit- unter sogar als die absolut Weiseren erscheinen. So hat Amerika eine Reihe innerpolitischer Probleme besser als wir gelöst, ist das öffentliche Gewissen dort unbestechlicher. Die Massen urteilen dort eben, wie Knaben in moralischen Fragen urteilen: primitiv, in Bausch und Bogen, von wenigen einfachen Voraussetzungen aus, insofern häufig unweise und meistens grausam, doch dem Sinne nach selten ganz falsch. Der Europäer kommt sich leicht alt vor, wenn er sich mit dem Amerikaner vergleicht. Er fühlt, wie viel er hinter sich hat, wie sehr seine mögliche Zukunft von der Geschichte voraus- beschränkt ist. Viele naheliegende und in der Theorie leicht durch- führbare Verbesserungen in unserem Zustand werden nicht mehr durchzuführen sein, es sei denn durch zerschlagende Gewalt. Wenn dieses Bewußtsein den Europäer niederdrückt, dann gedenke er des Orients und der Art, wie unsere Welt sich diesem darstellt. Er sieht keinen anderen Unterschied zwischen Europäer- und 570 Unsere Welt erst gestern entstanden. Amerikanertum, als daß ihm dieses typischer erscheint; auch wir muten ihn als ungefüge große Kinder an, die noch viel, viel zu lernen, und viel, viel Zeit vor sich haben. Und er hat Recht. Wir modernen Westländer sind wesentlich jung. Reicht unsere Tradition auch fast so weit zurück, wie diejenige Indiens — heute vertreten wir eine Welt, die erst gestern entstand. Die Welt- anschauung des Fortschritts, der Demokratie ist ein vollkommen Neues, steht der, welche sie ablösen kam, kaum näher als der chinesischen; sie aber hat uns geformt. Die letzten hundert Jahre haben die weiße Menschheit wieder jung gemacht. Indem sie den Akzent sozialer Bedeutsamkeit von den Ober- auf die Unterschichten verlegten, die am Erbe der Jahrtausende kaum teil hatten, haben sie Gleichsinniges bewirkt, wie zu Beginn unserer Ära der Bar- barenansturm; indem sie das Ideal aus dem Reich des Seins in das des Werdens hiaüberzogen, haben sie auch den ältesten, sofern sie ergriffen sind vom modernen Geist, die Lebensmodalität der Jugend mitgeteilt. Der ganze Westen steht heute in den Flegel- jahren. Und ist das nicht erfreulich? — Aus Jugendgebrechen wächst man heraus; das Decendententum, die Neurasthenie unserer Tage sind im ganzen keine Alterserscheinungen, sondern Wachs- tumskrisen, gleich Bleichsucht und Weltschmerz; was als zu- nehmende Verrohung beklagt wird, bedeutet in Wahrheit, daß neue, urwüchsige Kräfte ins Dasein treten. Freilich schmerzt der Gedanke, daß die historische Rolle des Bildungsadels Alt-Europas ausgespielt ist; allein irgendwann muß jeder Jüngeren Platz machen. Und dieses Abtreten bedeutet ja nicht den Tod: in edler Muße, unbekümmert um weltliche Ziele, mag das abendländische Kulturmenschentum noch lange fortblühen und dabei eine Ab- klärung erleben, die es im tätigen Leben nie gefunden hätte. Ja es mag dann erst sein Bedeutsamstes leisten vom Standpunkt der Zukunft: gedenken wir des, wenn uns Wehmut übermannt, daß es Juden und Griechen waren, nicht Goten und Vandalen, denen die germanische Welt ihre richtunggebenden Impulse dankt. Unsere Abhängigkeit von physischen Verhältnissen. 571 IM MARIPOSA-HAIN. Hier stehen die gewaltigsten Bäume der Welt. Gegen sechs- hundert Exemplare der Sequoia gigantea, zwei- bis drei- hundert Fuß hoch, fünf bis zehn Meter stark, bilden zu- sammen einen heiligen Hain, wie ihn ehrfurchtgebietender keine Romantik erdichten könnte. Es ist düster drinnen und kühl, trotz der Augustsonne, die im Mittag steht, ihre Strahlen finden den Weg durch die buschigen Kronen kaum hindurch; wie in ewiger Abendbeleuchtung glänzt das Rot der Stämme durch die Dämme- rung. Die Giganten stehen da, aufrecht und frisch, als wären seit dem Tage ihres Aufkommens nicht Jahrtausende dahingestrichen. Nicht einsam, denn unter ihnen drängt sich das junge Volk; nicht abgestorben der Gegenwart, denn Jahr für Jahr fällt ihre Saat zur fernen Erde hernieder; nicht alt, denn ihnen droht kein natür- licher Tod. Mich überquillt eine Welle tiefsten Glücksgefühls. Die Erde ist doch noch nicht altersschwach! Noch vermag sie Gewaltiges zu erhalten, Gewaltiges zu schaffen! Zum ersten Mal schaue ich ohne Wehmut zu Großem auf. Nie habe ich in paläontologischen Sammlungen ohne Bitternis die Reste vorsintflutlicher Herrlichkeit betrachtet, nie ohne Schmerz der Riesen gedacht, die unsere Zeit noch hie und da, aus Atavismus oder Zufall, hervorbringt: denn nur zu sicher dünkte es mir, daß die Schöpferkraft unseres Planeten abstirbt, daß bald nur mehr Zwerge und Kümmerer auf ihm werden dauern können. Nun sehe ich, daß der jüngste der Erdteile noch die Urkraft der Urzeit besitzt. Dankbar begrüße ich ihn als den Hort unserer Zukunft. Keine Menschheit war je so sehr von physischen Verhältnissen abhängig, wie die weiße von heute; das ist, weil diese sich ein Problem gestellt hat, wie keine vor ihr: sie will sich ad indefinitum fortverändern. Anstatt sich an vorgegebenen Zuständen Grenzen zu setzen, strebt sie über alle hinaus, so daß keine erfolgte An- passung ihr ein Endgültiges bedeutet. Nun ist al?er nur der jugendliche Körper veränderungs- und anpassungsfähig, und auch er nur bis zu einem gewissen Punkt; deshalb kristallisieren alle Erwachsenen irgend einmal aus, haben alle Kulturvölker ihre Ent- 572 Wir bedürfen einer ewig jungen Welt. Wickelung an irgendeinem Punkte eingestellt, ferneres Neuwerden frischerem Blute überlassend. Für uns ist ideell keine solche Grenze abzusehen; der besondere, flüssige Charakter unserer Zivili- sation läßt jedes feste Ziel, jeden Stillstand undenkbar erscheinen, verlangt Neueinstellung schier jeden Augenblick, mutet jedermann zu, solange er mittun will, veränderlich zu bleiben — dies aber bedeutet: vollkommen jung zu bleiben sein Leben lang. So ist unser Problem in erster Linie ein physisches. Das ahnen viele: wie nie vorher wird heute das Körperliche idealisiert; schon werden Evangelien gepredigt, in welchen Gesundheit eben die zentrale Stellung einnimmt, wie die Liebe im christlichen. Aber was diese Apostel meist vergessen, ist, daß der Mensch als physisches Wesen tief verwoben ist in den Zusammenhang der Natur und ohne sie wenig vermag. Schon Verjüngung gelingt selten anders als durch Verpflanzung in jüngeren Boden: ewige Jugend wäre nur denkbar in einer Welt, welche selbst ewig jung bliebe. Um Körper zu gewinnen, wie wir sie heute brauchen, von grenzenloser Spann- kraft, von nie versagender Plastizität, bedürfte es einer unendlich vitalisierenden Umwelt, einer Welt so jung, wie sie am fünften Schöpfungstage war. — Diese scheint hier vorhanden; die ameri- kanische Natur besitzt noch ungeschwächt der Urzeit Schöpferkraft. Wie sie es schon vermocht hat, widerstehendste Rassen einzu- schmelzen und in kurzer Frist aus schier beliebigen Typen Ameri- kaner zu machen — keine Menschenvarietät, sondern eine richtige Menschenart — so mag ihr auch zugemutet werden, daß sie den Körper erschafft, welcher der stetig sich steigernden geistigen Spannung gewachsen und fähig wäre, sich immerdar fortzuver- ändern. In Amerika, wenn irgendwo, werden wir unsere Entwickelung vollenden. Bald wird Europa sein letztes historisch-bedeutsames Wort gesprochen haben. Tradition an sich ist eine Fessel, die von Geschlecht zu Geschlecht fester bindet, zuletzt erstickt, und Europas Geschichte ist schon so lang, daß ein radikales Frei- und Neu- werden auf seinem Boden kaum mehr glücken wird, mögen sich seine Einwohner noch so sehr verjüngen. Auch dieses Mal wird sich die alte Wahrheit erweisen, daß neue Kulturen nur auf neuem Boden wachsen; auch am jüngsten historischen Wendepunkt wird das Problem der neuen Form nicht vom Reifsten sondern vom Rohesten gelöst werden. Und daß es so kommen muß, leuchtet Wir beginnen eine neue Schöpfungsepoche. 573 für diesen Fall unmittelbar ein: indem wir Abendländer es unter- nahmen, nicht, wie alle Kulturen bisher, unser Leben bloß am Ideenreich zu orientieren, sondern dieses dem Erdreich einzuver- leiben, beginnen wir recht eigentlich eine neue Schöpfungsepoche; wir heben als geistig-seelische Wesen eben dort an, wo die Physis in der Trias anhub. Deshalb paßt der neuweltliche Mensch in den Sequoia-Hain, diese Oase der Vorwelt, besser hinein, als in die Ruinenfelder Roms. Ich blicke die Baumriesen entlang: wie symbolisch ist diese Gestaltung! Persönlichkeiten wie sie brauchen Raum; sie können nicht so dicht nebeneinander wohnen, wie geringere Wesen, sind notwendig hochfahrend und exklusiv. Das Unterholz des Mariposa- Hains, verkümmert, zukunftslos, würfe gewiß, wenn es denken könnte, die soziale Frage auf. In den Tropen verfiele es nie darauf. Dort ist es nicht soweit individualisiert, um aus dem Natur- zusammenhang hinauszustreben, wird sich darum etwaiger Bedrückt- heit kaum bewußt. Weshalb hat das Ideal der Gleichheit den Westen entzündet, wo es unter den bedrücktesten Orientalen noch nie aufrichtige Anhänger fand? Weil unsere Entwickelungsrichtung immer wachsender Ungleichheit zuführt, im Orient hingegen die äußerste Gleichheit der Gelegenheiten besteht, die auf Erden über- haupt denkbar erscheint: der Zustand, wo jeder, wer er auch sei, an der Stelle verharren muß, in der er geboren ward, wo keiner besondere Chancen hat. Im modernen Westen darf jeder das Äußerste wollen; dieses erreichen immer nur wenige und die übrigen murren dann. Unsere Art, das Problem des Lebens zu stellen, ist nicht falsch, aber sie schließt eine endgültige Lösung aus; will man keinen statischen Gleichgewichtszustand unabänder- lich ungleicher Lebenslagen gelten lassen, so muß man sich immer- dar fortbewegen, denn Gleichheit im Sinn eines statischen Gleich- gewichtszustandes unabänderlich gleicher Lebenslagen kann es nicht geben; sie widerspricht der Natur der Dinge. Die modern - okzidentalische Stellung des Lebensproblems — gleiche Gelegen- heiten für jedermann — bedingt ewigen Kampf. 574 Das Allvermögende der Kräfte des Alltags. AM GRAN CANON DES COLORADO. Vor dem ungeueren Bilde des Gran Canon muß ich an Kants Definition des Erhabenen denken: erhaben sei ein Gegen- stand, dessen Betrachtung das Gemüt dazu bewegt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu deuten. Hier sind die Ideen, die das anorganische Geschehen regieren, mit einer Klarheit, Großzügigkeit und Kraft zur Dar- stellung gebracht, wie nirgends sonst. Hier hat ein einziger Strom in rastloser, stetiger Arbeit ein weites Hochplateau so tief und gründlich erodiert, daß der Mensch, der vom Gesimse des Canons, vom ursprünglichen Flußbette her, auf das heutige blickt, nach unten zu ein ähnliches Bild gewahrt, wie himmelwärts in den Vor- bergen der Himalayas; was er sieht, ist eine Hochgebirgslandschaft in der Unterwelt. Dieses Werk eines ruhig dahingleitenden Flusses wirkt erhabener, als alles, was plutonische Gewalten je vollbracht, weil es ohne außerordentliche Mittel erschaffen ward; hier erkennt man, ehrfürchtig erschauernd, wie allvermögend die Kräfte des Alltags sind. Am Gran Canon des Colorado treten die Bahnen, die das Geschehen wandelt, mit unvergleichlicher Klarheit an den Tag, denn die entscheidende, bestimmende Kausalreihe wird von anderen kaum durchkreuzt. Hier hat keine Katastrophe vorge- arbeitet, kein Leben die Ecken abgerundet und übermalt. Alles erscheint im ganz Großen unternommen und ausgeführt. Der Colo- rado hat sämtliche Formationen, von der glazialen bis zur archaischen hinab, durchstochen. Nur seinem Momentum und der Schwerkraft gehorchend, ist er zielbewußt, schlicht und geradaus, vorgegangen, ohne andere Werkzeuge als die er von Natur besaß, ohne kleinliche Rücksicht und ohne Gewaltsamkeit. Wo die Bahn ihm gleichmäßig freilag, hat er sich ausgebreitet, ganze Provinzen flachen Landes dabei zu Gebirgen umwandelnd; wo nur ein Weg in Frage kam, dort hat er seine Kraft zusammengefaßt und die Ausdehnung in Spannung umgesetzt; überall aber war das Ergebnis sehr gut. Hier hat wohl die Idee der Wasserkraft, wie Plato sagen würde, ihren vollendeten Ausdruck gefunden. Die Wasser- kraft ist leblos: symbolisch-wirkungsvoller könnte dies kaum zum Ausdruck kommen, als hier geschieht, in diesem größten aller Natur und Vernunft. 575 geologischen Aufschlüsse, in dem sich der Strom durch das Leben aller Zeiten hindurch seinen Weg gefressen hat. Die anorganischen Kräfte sind abwärts gerichteten Sinns, sie laufen wie ein Uhrwerk ab, unvermögend sich selbst aufs Neue aufzuziehen: in grandiosem Sinnbild stellt dies der Canon dar, wo das Hochgebirge dem Hades angehört und nicht aufgetürmt, sondern ausgeschnitten erscheint. Hier steckt hinter dem Werk kein lebendiger Geist, hier tritt kein Zweck in ihm zutage. Planlos ist es begonnen, planlos vollendet worden. Und doch ist es ein Denkmal höchster Weisheit. So klug als nur irgendein Techniker hat der Strom alle Hindernisse überwunden, tiefer als jeder Architekt den Eigen-Sinn der Materie verstanden, nicht schlechter als ein größter Landschaftsmaler das Einzelne zum Ganzen in notwendige Beziehung gesetzt. Die Ge- setze des berechnenden Verstandes sind eben keine anderen als die Normen der Weltordnung selbst; die Natur handelt immer vernunftgemäß; sie bedarf keiner vernünftigen Leitung. So ist Vollkommenheit ihr Schicksal überall, wo sie Begonnenes ganz durchführen darf. Der Gran Canon des Colorado ist nicht allein in diesem Sinne schön: die strengen, von kosmischer Vernunft gezogenen Linien erglänzen in einer Farbenpracht, wie kein Venezianer sie hätte reicher, kein Turner phantastischer erdichten können. Diese tote Welt scheint des ewigen Lebens teilhaftig. Jeden Augenblick drückt sie neue Stimmungen aus, jede Stunde wechselt ihr Cha- rakter. Was unterscheidet die Schönheit, nach der wir streben, von der, die in der toten Natur so herrlich verwirklicht erscheint? — In dieser ist sie ein mechanisches Ergebnis; der Kosmos ist der Endzustand des Chaos, es gibt kein „über ihn hinaus". Das Ideal der Schönheit ist eine treibende Kraft, es weist uns himmelwärts. Das letzte Wort der Natur, ihr Vermächtnis gleichsam ist die Zauberformel, die dem Geiste höhere Welten erschließt. Wie ein Lächeln spielen die zarten, schmelzenden Farben auf dem tiefgefurchten Antlitz des Gran Canon. Schaut nicht auch manches Menschengesicht im Todesschlaf verklärter aus, als je im Leben? Ich stelle mir vor, daß wie heute wir Menschen ehr- furchtsvoll vor diesem Wunder des Todes stehen, so einst höhere, verklärtere Geister voll Andacht über der Leiche der Erde schwe- ben werden. Unsere mächtigsten Denkmäler werden noch ragen, wenn es längst keine Menschen mehr gibt. Bisweilen werden 576 Der heutige Mensch von der blinden Natur beherrscht. ihnen die Strahlen der röter gewordenen Sonne den Abglanz des Lebens verleihen. Vielleicht werden die Taten des Geists am er- habensten wirken, wenn ewiger Tod des Lebens Unrast abgelöst haben wird. Sinnend blicke ich in die Unterwelt. Kant spricht von der Unerreichbarkeit der Natur, die erhaben wirke . . . . Ist die Natur noch unerreichbar? Hat der Mensch sie nicht schon heute übertroffen? Gelänge ihm nicht, was der farbige Strom in Jahrmillionen geleistet, in einem Jahr? — Morgen glückt es ihm sicher. Es gibt keine materiellen Hindernisse mehr, die prinzipiell unüberwindlich wären. Selbst der Wunsch des Archi- medes, sein dö* fim nov crr«, wird dereinst wohl erfüllt; am Ende der Zeiten zieht dieser Planet, um der Schmach der Zerkrümelung zu entgehen, vielleicht vor, zu freigewählter Stunde zu zerspringen. Allein der heutige Mensch herrscht nicht als Gott, sondern als Erdgeist. Materiell dominiert er die Natur, er übersieht sie nicht; anstatt sie seinen Idealen gemäß zu lenken, tut er meist nur das, was die Elemente selber von ihm heischen. Er gleicht jenen Fluß- göttern, an welche die Alten glaubten, deren Herrscherwille mit dem natürlichen Gefälle zusammenfiel. Ja er ist unweiser als diese insofern, als er den Umständen weniger Rechnung trägt, weniger schön und weniger dauerhaft bildet; hätte er den Gran Canon gegraben, dieser wäre kein Wunder der Schönheit, er gliche einer Fabrik in Ruinen und die Ruine hielte nicht lange stand. Der moderne Mensch läßt sich von der blinden Natur, deren Eigen- willen er nur halb versteht, sein Streben diktieren. Über grenzen- lose Kräfte verfügend, strebt er ins Grenzenlose, des uneingedenk, daß sein Leben streng an Grenzen gebunden ist. Sein Ideal paßt er seinem Vermögen an, nicht umgekehrt; er will unendlichen Reichtum, unendliche Macht, und da er diese für sich nicht zu nutzen weiß, so verschreibt er sich ihnen. Das Geld wird dem Geschäftsmann zum Selbstzweck, dem er sich opfert, den Völkern die Macht; das Interesse des Kapitals verfügt bewußtlos Misse- taten, die kein Verbrecher willkürlich vollführte, das Machtstreben der Staaten, in Rüstungen objektiviert, führt zu Vernichtungskriegen, ob auch alle Individuen nur Frieden wollen. Was Jahrhunderte organisch aufgebaut, wird in Sekunden zersprengt; was bewußter Eigene Erfahrung fährt weiter als Bevormundung. 577 Wille organisiert, dient dem Geist nicht des Lebens, sondern des toten Stoffs. Unser Zeitalter ist eins der Zerstörung wie keins zuvor, weil der Mensch Kräfte nutzt, die für ihn zu groß sind. Die Mahatmas, die stillen Übermenschen des Himavat, be- herrschen sie seit je; doch sie überantworten ihr Geheimnis nur dem Chelä, der sie wohltätig zu brauchen weiß. Nun ist es der törichten Masse verraten worden .... Dennoch ist dies, so wie die Dinge heute liegen, nicht zu beklagen. In einem Zeitalter, wo keine Kastenunterschiede gelten, wo es heißt: gleiche Gelegen- heiten für jedermann!, kann nicht mehr die Rede davon sein, daß dem Menschen nur das zuteil wird, wozu er innerlich" reif ist: er muß vielmehr heranreifen an der Erfahrung. Deren harte Schule macht schließlich sogar den Narren klug. Sicher bezeichnet sie, wo es nicht Einzelne sondern Alle zu belehren gilt, auch den kürzesten Weg. Die Erfahrungswissenschaft hat für die Aufklärung der Massen mehr getan, als die Weisheit der Adepten; die Frei- heit, welche jeden seine Dummheit ausleben läßt, hat jene schneller gefördert als brahmanische Bevormundung. So wird gerade der Mißbrauch der Naturkräfte am schnellsten zu ihrer weisen Be- nutzung führen. Wenn die Mittel zur Zerstörung allzu groß ge- worden, wird kein Volk mehr leichtsinnig den Krieg erklären; die Folgen grenzenloser Ausbreitung werden klar beweisen, daß der Mensch zur Selbstbeschränkung geboren ist. Die Natur der Dinge führt am Ende überall zu eben dem, was die Erkenntnis der Weisen antizipiert hatte. So darf man nicht verzagen; unsere Zukunft ist licht, wie ent- setzliche Prüfungen uns auch inzwischen heimsuchen mögen. Hat der Mensch einmal gelernt, die Kräfte außer sich so zu regieren, wie der Weise seine Leidenschaften beherrscht, dann wird der Erdgeist sich zum Halbgott verwandeln. Dann werden die blinden Mächte ein dankbares Mittel sein, das Ideal in der Erscheinung zu verwirklichen. Keyserling, Reisetagebuch. 37 578 Westlicher und östlicher Natur sinn. DURCH CÄLIFORNIEN. Indem mich der Zug durch Californiens Obstfelder trägt, muß ich ans Gutachten Mong-Tses zurückdenken: besser, als gute Ackergeräte beschaffen, ist günstiges Wetter abwarten. Hätten die Einwanderer also gedacht, Californien, heute der Garten der Erde, wäre Wüste geblieben; von der Natur ist es zur Wüste be- stimmt Die Niederschläge sind dermaßen spärlich, daß nur Wüsten- gewächse, Yuccas und Zwergkiefern, von selbst gedeihen; der Boden ist von der Sonne ausgedörrt; die Wasser, die im Frühjahr und Herbst von der Sierra Nevada herabstürzen, haben sich längst tiefe Betten ausgegraben und berieseln die weite Fläche nicht mehr. Der Mensch nun hat ihnen neue Wege gewiesen; wo sie nicht ausreichen, pumpt er aus künstlichen Brunnen das nötige Naß herauf; so ist Californien heute die vielleicht fruchtbarste Landschaft der Welt. — Das ist unser, westlicher Natursinn im Gegensatz zum ostasiatischen. Wir fügen uns nicht ein in ihr Bestehendes, wir wandeln sie um. Um dieses jedoch zu erreichen, müssen wir sie tief verstanden haben; nur ihren eigenen Gesetzen gemäß läßt sie sich unterwerfen und regieren. So sind auch wir ihrem Herzen nicht fremd. Nur verhalten wir uns anders zu ihr. Der Ostasiate ist ihr innigster Versteher. Der Chinese behandelt sie wie ein liebender Sohn, der voll Pietät und Aufopferung auch die väterliche Härte gern erträgt, und sich nie eine Kritik gestattet; der Japaner wie eine Freundin die andere; er läßt sie gelten, liebt sie, so wie sie ist, doch er hilft ihr, sich möglichst vorteilhaft dar- zustellen. Unser Verständnis ist dem des — Schulmeisters ver- gleichbar. Wir versetzen uns in ihre Eigenart hinein, doch nur zu dem Zweck, sie unseren Idealen entsprechend umzuwandeln. Sie soll anders, besser werden als sie war. Gleich allen Schul- meistern leiden wir an Verständnislosigkeit für das Individuelle. Es gelingt uns wohl allgemeine Typen heranzuzüchten — also Äcker, Wiesen, Wälder als solche, Beamte zu bestimmter Funktion — auch eine durchschnittliche Natur zu ihrer höchsten Vollendung zu bringen (ein fruchtbares Wiesenland ist schöner als ein un- fruchtbares), aber eine bestimmte, außerordentliche Natur ihr selbst entsprechend zu behandeln, glückt uns, dem Schulmeister- schicksal entsprechend, schlecht. Überall, wo absolute Zweck- Wissenschaft als Vor lauf er in der Kunst. 579 mäßigkeit erreicht erscheint, ist Schönheit der unabwendbare Er- folg. Die amerikanischen Kulturländereien sind meistens häßlich, weil hier auf das Eigenartige noch gar keine Rücksicht genommen wird. Aber das wird kommen. Die Amerikaner sind noch Kinder, große ungefüge Buben, tief drinnen in den Flegeljahren; von ihnen ist nicht zu verlangen, daß sie so rücksichtsvoll wie Ost-Asiaten seien. Sie werden es werden mit der Zeit. Denn das ist ein Miß- verständnis, daß unser Verhältnis zur Natur diese notwendig ver- unzieren muß: sie tut es nur deshalb, weil wir unseren Weg noch nicht bis zum Ende durchmessen haben. Die japanische Landwirtschaftskunst entzückt das Auge, weil in ihr das spezifisch- japanische Verhältnis zwischen Mensch und Natur seinen voll- endeten Ausdruck fand — nicht weil dieses Verhältnis an sich das günstigste wäre. Ob ich mich als ihr bestimmter oder be- stimmender Bestandteil verhalte, ist gleichgültig im Prinzip; nur darauf kommt es an, daß ich die harmonische Proportion entdecke. Und das wird uns einmal allgemein gelingen, wie es uns im be- sonderen schon vielfach gelang. Es ist falsch, die Stellung des wissenschaftlich verstehenden Europäers der des künstlerisch ver- stehenden Ostasiaten entgegenzustellen: die wissenschaftliche ist die vorläufigere Attitüde. Wenn der Japaner nicht als Forscher scharf beobachtet hätte, nie hätte er es zur Technik gebracht, die ihn heute als Gärtner unvergleichlich macht. Das Wissenschaft- liche fällt bei ihm nur weniger auf, weil er weniger weit darin gegangen ist als wir, und sich somit auf einem früheren Stadium der produktiven Synthese zugewandt hat. Wir dringen tiefer ein in die Natur; mit dem schöpferischen Zusammenfassen haben wir noch kaum begonnen. Aber sind wir einmal so weit, sind wir zugleich so weit herangereift, daß Freude an der Natur die Gier überwiegt, dann zweifle ich nicht, daß wir das spezifische Ver- hältnis, in dem wir zum Nicht-Menschlichen stehen, nicht minder vollkommen darstellen werden, wie die Japaner das ihre. 37 J 580 Mörderische Wirkung des Fortschritts. IM YELLOWSTONE PARK. Ich blicke von einem schimmernden Sinterhügel, den die Geysirn im Lauf der Jahrtausende aufgeschichtet, auf die weite Prairie hinaus. Es ist die Stunde, da die Bisons ihre Abendwanderung antreten. Sie schreiten vereinzelt, jeder für sich, in weiten Ab- ständen voneinander; aber alle halten den gleichen Kurs ein, un- beirrbar, wie wandernde Vögel. Was ist es, daß diese Tiere alle Länderkunde vorwegnehmen läßt? Ich weiß es nicht; keiner weiß es wohl. Denn auch die Menschen, die gleiches vermögen, wissen es nicht. Vor wenigen Jahrzehnten war eine einzige Herde Büffel nicht selten viele tausend Kopf stark; heute leben keine hundert auf der weiten Fläche des Yellowstone Parks und in ganz Amerika weniger, als vormals eine mittelgroße Herde ausgemacht hätte. Wir haben sie ausgerottet. Und wie ich nun den Letzten dieser Riesen zuschaue, die in die Prärie so wunderbar hineinpassen, da erbebe ich vor Empörung. Was wird die Welt um unseretwillen arm! Wohl umfriedigen wir zum besten der Tiere weite Land- striche, weisen wir den Rothäuten Reservationen an; aber das hält ihren Untergang nicht auf. Die Büffel verkümmern in der Umzäunung, die Indianer entarten, seit sie den Kriegspfad nicht mehr betreten dürfen ; beide sterben unaufhaltsam aus. Bald werden alle malerischen Typen der Vorzeit angehören, wird die ganze Erd- oberfläche mitteldeutschem Kulturland gleichen — gleichmäßig ab- geteilt, schablonenmäßig bebaut, nur von Menschen und Rassevieh bewohnt. Ich weiß: ohne Selbstmord zu begehen, werden wir diese unsere Wirkung nicht hindern. Aber welche Verblendung, solchen „Fortschritt" erfreulich zu finden! Es ist entsetzlich, daß die Erde von Tag zu Tag einförmiger wird. Denn dies bedeutet ja keine Umsetzung der vorhandenen Energie, sondern absoluten Energieverlust, weil für das, was verloren geht, kein Ersatz an die Stelle tritt. Das Leben ist nicht im selben Sinn verwandelbar, wie die Elektrizität. Jeder Typus bedeutet ein Einziges, verkörpert eine Möglichkeit, die es nur einmal gab, nie wieder geben wird. Mag daher das Geschlecht der Europäer, der Kühe, Pferde und Edelschweine in Zukunft noch so gesegnet werden — damit würde Die arische Menschheit als Zerstörerin. 581 die Lücke nicht ausgefüllt, welche die Ausmerzung der übrigen Gestaltungen in die Schöpfung hineingefressen hat. Die Welt wird mit jedem Tag ärmer. Das dies der eigentliche Sinn des Fortschritts ist, illustriert mit erschreckender Deutlichkeit Amerika, weil hier der Weiße am stärksten im Sinn des Zweckmenschen typisiert erscheint. Nirgends ist die Natur so großartig wie hier; hier scheint alles im großen erschaffen, alles Große lebensfähig, nur das Große den Verhältnissen gemäß; dieses Grundverhältnis hätte, so sollte man glauben, alle geistigen Werte potenzieren müssen: statt dessen sind alle aus dem Auge verloren worden, bis auf den einen, einzigen der Quantität. Nur Größen und Zahlen beeindrucken den Yankee, nur ihnen strebt er nach. Diese Ver- armung seiner Psyche ist die notwendige, unabwendbare Folge des ausschließlichen Strebens nach Erfolg. Und was er tut, wird immer mehr auch zum Streben Europas. Schon hat eine vielverbreitete neue Philosophie das „ökonomische Prinzip" zum Ideal des Denkens ausgerufen — somit das Selbstverständliche zum höchsten Gut. Wir werden immer dürftiger und ärmer und diese Dürftigkeit rottet den Reichtum aus. Jede bestimmte Entwickelungslinie ist aus- schließlich, aber unsere wohl die erste, welche die anderen unwill- kürlich zerstört. Sie ist mit dem Fluche belastet, über die blinden Kräfte der Natur so große Gewalt zu besitzen, daß sie vernichten muß, sogar wo sie erhalten will. Der moderne Weiße hat mehr bewußte Freude an der Natur als irgendein Mensch, er interessiert sich tiefer als irgendeiner für fremde Eigenart. Trotzdem stirbt das, was er nicht ist oder braucht, wohin er sich wende, unauf- haltsam aus. Die arisch-europäische Menschheit hat nicht viel weniger Ver- derben und Mord auf ihrem Gewissen, als die türkisch-mongolische, obgleich nur diese vielleicht Zerstörung als Selbstzweck betrieben hat. Die Römer errichteten ihr Weltreich auf den Trümmern der alten, so eigenartigen Mittelmeerstaaten. Darauf schleiften die Germanen dessen ganzen Bau. Deren Urenkel vernichteten die Kulturschöpfungen der Araber, dann die der Inkas und Azteken. Und wenn seither die Absichten besser wurden, so haben sich die Zerstörungsmittel dermaßen vervollkommnet, ist ferner unsere Zivilisation an sich so totbringend geworden für alle, die nicht in und zu ihr geboren sind, daß vom Erfolg eher das Gegenteil gilt. Hegel lehrt nun, Fortschreiten über Leichen sei eben der Weg, 582 Hegels Irrtum; Macht als Böses. den der „objektive Geist" zu wandeln habe, um sich vollkommen zu verwirklichen, das jeweils führende Volk, als Träger der „Idee", komme allein in Betracht und sei berechtigt alle übrigen zu zwingen oder auszurotten: er hätte Recht, wenn geschichtliche Bedeutsam- keit wirklich alle Werte in sich beschlösse. Allein ganz abgesehen davon, daß diese ohne Vorurteil überhaupt nicht bestimmt werden kann, überdies nur nachträglich und unter der sehr zweifelhaften Voraussetzung, daß, was irgendwie geschah, zum besten geschah und notwendig so kommen mußte, welche Voraussetzung ihrerseits impliziert, daß materieller Erfolg ein Gottesurteil zum Ausdruck bringt, darf als gewiß gelten, daß historische Führerschaft in keiner- lei notwendiger Beziehung zum spirituell und geistig Bedeutsamen steht. Indien und China, beide von ungeheurer Bedeutung, haben doch in der weltgeschichtlichen Bewegung, wie Hegel sie versteht, keine Rolle gespielt. Daß Christus und Buddha zu historischen Faktoren wurden, erscheint zufällig in bezug auf sie. Der geschicht- liche Prozeß an sich ist eines Sinnes mit dem biologischen; an diesem Umstand ändert nichts, daß unter Menschen nicht allein physische sondern auch psychische Organismen (Ideale, Glaubens- inhalte) sich gegenseitig ergänzen und bekämpfen. Sintemalen der ideelle Prozeß, an sich unabhängig vom biologischen, doch ver- mittelst dieses verläuft, läßt sich a posteriori überall, wo Bewegung statthat, zwischen diesem und jenem eine Beziehung herstellen. Aber wesentlich besteht sie nicht; das Biologische ist nur ein Mittel, und werden dessen Normen zu geistigen Zielen hypostasiert, so wirkt dies Unheil. Dann kommt es zu menschenunwürdigen An- schauungen wie die, daß es nichts Höheres als das Staatswohl gibt, daß Macht Selbstzweck ist, jedes Mittel erlaubt im Völker- verkehr, daß eine bestimmte Rasse das Recht hat, alle anderen zu knechten, und daß der moderne homo technicus, der zum Zweck seiner persönlichen Bereicherung die ganze Schöpfung ruiniert, damit Gottes Willen erfüllt. Fern davon, daß Macht (im Sinn von Zwingenkönnen und -wollen) an sich Gutes bedeute (wie alle Fortschrittsgläubigen stillschweigend annehmen müssen, denn nur dank der materiellen Macht siegt Hegels „Idee" sowohl als die „christliche" Zivilisation), ist sie vielmehr, wie dies Jakob Burck- hardt bisher am tiefsten begriffen hat, wesentlich böse und macht auch böse. Noch keine irdische Macht ward ohne Verbrechen begründet, noch keine behauptet ohne Gewaltsamkeit in irgendeiner Notwendigkeit des Bösen. 583 Form; ihr Lebensgesetz ist teuflischer, nicht göttlicher Art. Des- halb will und wird es niemals gelingen, Weltgewaltigkeit zum sittlich und geistlich Guten in naturnotwendige Beziehung zu setzen. Unsere westliche Zivilisation, als die weltgewaltigste von allen, die es je gab, ist von Hause aus nicht gut sondern böse: deshalb bringt sie nicht nur Verderben allen denen, die sich ihr nicht an- zupassen wissen — sie verdirbt auch ihre Träger. Diesem typischen Erfolg wird dort gesteuert, wo die Macht geistige und sittliche Ideale zu verwirklichen dient, und hierzu dient sie glücklicher- weise immer mehr. Wo sich der Mensch ihrem eigensten Geist verschreibt, wird er zum Teufel. Nun ist gewiß, daß das Böse seine bestimmte und notwendige Funktion hat in der Weltökonomie. Vernichtung allein bahnt den Weg zu radikaler Erneuerung. Wenn es ernstlich vorwärts gehen soll, muß der Naturprozeß des Werdens und Vergehens zuweilen beschleunigt werden. Nur Revolutionen sprengen altersstarre For- men, nur das vorzeitige Ende von Generationen, wie der Krieg es bedingt, zerreißt den Faden bindender Tradition. Weltkulturen wären niemals entstanden, wenn eine Menschenart andere nicht bezwungen und so, aus dem Dschungel wildwachsender Formen, bestimmten zur Herrschaft verholfen hätte. Endlich sind — um das Äußerste nicht ungesagt zu lassen — Tod und Töten normale Naturvorgänge; Raubtiere müssen rauben, und scheinen ebenso daseinsberechtigt wie Pflanzenfresser; die durch Kriege, Kata- strophen und Seuchen bedingte Beschleunigung und Vergrößerung des Lebensumsatzes ändert qualitativ gar nichts am Charakter des Geschehens und quantitativ wenig insofern, als sich im Großen das meiste kompensiert; die Ablösung der Faunen und Floren durch die geologischen Epochen hindurch beweist schon allein, daß jede bestimmte Gestaltung irgend einmal notwendig zugrunde geht und ob solches langsam, durch die Macht der sich wandelnden Ver- hältnisse geschieht oder plötzlich dank dem Einbruch eines Attila, bleibt sich wohl gleich. Die höchsten Ewigkeitswerte sind wesent- lich sterblich im Sinne der Zeit. Offenbar steht der indische Mythos, nach welchem Schaffen und Zerstören korrelative Attri- bute der Gottheit darstellen, der Wahrheit sehr nahe: zu Zeiten ist das Böse gottgewollt. Allein der Mensch soll nie Shiwas Stellung usurpieren; was diesem frommt, darf er nicht wissentlich wollen ; die Unabwendbarkeit des Sterbens rechtfertigt den Mörder 584 Der Mensch darf nicht Shiwas Stellung usurpieren. nicht. Gleichwie Geburt und natürlicher Tod jenseits der Macht- sphäre persönlichen Wollens liegen, so übersteigt der Plan, nach dem das Lebensganze fortwird, individuelle Beurteilung. Im Reich der vernunftlosen Geschöpfe gelangt er überall, wo kosmische Zu- fälle oder menschliche Willkür ihn nicht durchkreuzen, zu voll- kommener Verwirklichung; wunderbar weise wirkt die Selbst- regulierung der Natur. Unter Menschen ereignete sich Gleiches dann, wenn jeder Einzelne das ihm gemäße täte. Dann wirkte Gott sich mittels freien Menschenwollens aus, es geschähe das von ihm aus erforderliche, kein notwendiger Konflikt, kein Fatum bliebe aus, doch der Einzelne wäre ohne metaphysische Schuld und im Großen diente alles zum Besten. Allein der Mensch tut nur selten, was er sollte, desto seltener, je bewußter er handelt. Und unter- nimmt er es gar vom Plan des Ganzen aus, den er zu kennen wähnt, das Geschehen zu bestimmen, so beschwört er Unheil. Es kommt zu wahnwitzigen Kriegen, zu allvernichtenden Umwälzungen ; die Selbstregulierung der Natur wird zerstört, der Unsinn siegt. In vielen, nur zu vielen Beziehungen hat der weiße Mann also auf Erden gehaust. Immerhin ist sein Wirken in anderen dennoch gottgewollt. Offenbar hat sich das allgemeine Gleichgewicht der Kräfte soweit verändert, daß wir, sofern wir ja sagen zu uns selber, vorherrschen müssen; offenbar ist vieles Wertvolle, das wir zerstören, in unserer Welt ohnehin nicht lebensfähig, ist eine Zeit gekommen, wo auf Kosten des noch so schönen Alten Neues entsteht und kein Hadern mit dem Schicksal dies aufhalten kann. Dies aber bedeutet, daß es tatsächlich so etwas gibt, was man ein „Recht des Stärkeren" heißen mag. Um moralisches Recht handelt es sich hier freilich ebensowenig, wie bei irgendeinem materiellen Kräfteausgleich, im Gegenteil: Vergewaltigung, an Lebendigem ausgeübt, ist immer böse, jede Gewalttat schlägt als solche dem Recht ins Gesicht, der gerechteste Strafvollzug verletzt das sittliche Gefühl in irgend- einem Sinn. Aber Kräfte sind eben Wirklichkeiten, die sich aus- wirken ihren Eigengesetzen gemäß; auf ihrer Daseinsebene gelten ausschließlich diese. Und so oft Böses das Gute bezwingt, Rohes das Vollkommene, so oft das moralische Bewußtsein dadurch ver- letzt wird und das Denken versagt im Versuch, den Sinn der 'Avdyxrj zu begreifen — manchmal gelingt es doch, die Heilsamkeit des an sich Bösen nicht allein im Kleinen, wie beim Rechts- und Straf- Das Recht des Stärkeren. 585 zwang, sondern im ganz Großen einzusehen. So gerade hinsichtlich des „Rechts des Stärkeren". Die Geschichte lehrt, daß aus den gewaltigsten Kriegerstämmen oft die idealgesinntesten Kultur- völker werden. Dies aber erklärt sich, wenn ich nicht irre, folgen- dermaßen: physische Überlegenheit ist nur auf moralischer Basis dauerhaft. Ohne Mut richtet Kraft nichts aus; ohne Opferwillen, Disziplin, Organisiertheit, hilft auch Mut nicht. Handele es sich hier um noch so einseitige Vorzüge — sie grenzen die Naturbasis ab, die einer Fortentwickelung zum Höchsten am fähigsten scheint. Die Germanen, welche die alte Welt zerstörten, waren grausam und roh, aber auch mutig, loyal und opferfreudig; dies befähigte sie, bei vorhandener Geistesbegabung, im Lauf der Jahrhunderte stetig besser zu werden, während Griechen und Römlinge, verfeinert, aber feige und falsch, an Zersetzung verdarben. Nur der Stolze, der sich selbst achtet, respektiert auch andere; aus den gewalttätigen Angelsachsen hat sich das rechtlich gesinnteste Volk Europas ent- wickeln können, weil alle Tugend beim Ich anhebt und von ihm aus ihren Kreis erweitert, weil der primitive Glaube an persönliches Vorrecht den Keim enthält einer Anerkennung von Recht überhaupt — während unter den Russen, die von jeher gutherzig waren und sich niemals ein Recht zur Unterdrückung anderer zuerkannten, denen die Weltanschauung des Urchristentums im Blute liegt, noch heute Willkür herrscht. Die Natur des Starken allein gewährt geistigen Mächten ein zukunftsreiches Verkörperungsmittel. Inso- fern wird es, solange irdische Entwickelung anhält, zumal so oft es neuanzuheben gilt, auch ein Recht des Stärkeren geben. .... So urteilt der Verstand. Doch als ästhetisches Wesen beklage ich es tief, daß der Weltprozeß so und nicht anders ver- läuft. Gern gäbe ich alle technischen Errungenschaften hin dafür, daß ich die Prairie in ihrer alten Herrlichkeit, so wie sie war bevor das Bleichgesicht der Rothaut den Vernichtungskrieg erklärte, auch nur für einen Abend schauen dürfte. Immer mehr, in dieser wilden, vitalisierenden Natur, werde ich mir meines Gewaltmenschentums bewußt. Wir Abendländer sind Kämpfer, wesentlich dies. Während der Chinese an eine prästabilierte Harmonie zwischen Mensch und Kosmos glaubt, die es zu wahren gilt um jeden Preis, während der Inder, was er auch 586 Westländer wesentlich Gewaltmenschen. tut, sich selbst zurückbehält und so nicht teilnimmt innerlich am Daseinskampfe, stehen wir überzeugt mitten in ihm. Uns kümmert nicht der Zusammenhang, wir sind Elemente, wollen es sein und uns als solche durchsetzen. Dem Geist des Kampfes entsprießt unser Schlimmstes wie unser Bestes. Ihm entsproß unser Eroberer- und Räubertum, ihm die Reformbewegung, die Wissenschaft, die soziale Gesinnung. Weil wir wesentlich Kämpfer sind, bescheiden wir uns bei keiner Autorität, wollen wir frei forschen, jeder für sich entscheiden. Der Krieger kennt keinen Kompromiß, er will siegen oder unterliegen, seine Devise ist: er o<^r ich. Solang ich im Orient weilte, erschien unser Kämpfertum mir durchaus in ungünstigem Licht. Wie sollte es nicht? Der Kämpfer ist wesentlich Zerstörer, wesentlich blind, parteiisch, ungerecht, verständnislos. Der Weise — und an ihm ist alles Leben des Ostens orientiert — kämpft nie; er steht über den Parteien, den Zusammenhang aller Gestaltung übersehend, in ihm zentriert, und wäre unwahr gegenüber sich selbst, indem er sich mit irgendeiner identifizierte. Aber woher seine Überlegenheit? — Diese Frage hatte ich mir im Orient niemals gestellt. Beantworte ich sie nun, so erweist es sich, daß ich dem Westen damals Unrecht tat. Nicht der farblose Zweifler ist ja der Weise, nicht der Gleichgültige, der Kalte, der Unentschiedene, im Gegenteil: von allen Wesen steht der leichtfertige Skeptiker dem Weisen am fernsten. Wenn dieser nicht kämpft, so geschieht dies nicht, weil er Streiten von vornherein als zwecklos abwiese, sondern weil er schon aus- gekämpft hat, weil er mit sich und der Welt im Reinen ist; der Diskussionsprozeß, der sonst draußen verläuft und selten zu einem endgültigen Abschluß führt, -hat sich für ihn im Stillen seiner Seele vollendet. Und von dieser Erkenntnis aus erfasse ich erst den ganzen Tiefsinn der indischen Mythe, daß die Vorstufe des Brahmanen der Kschattrya, der Ritter sei: ohne Kampf gibt es keine Erkenntnis; erst wer als Krieger ehrlich gefochten hat, er- scheint reif zum Gottesfrieden der Weisheit. Dies erklärt sich dadurch, daß die Entscheidung eines Streits nicht bloß ein mechanisches Ergebnis ist, sondern zugleich orga- nische Veränderung bedingt. Wenn Überzeugungen im allgemeinen erst nach erfolgter Diskussion klar feststehen, wenn Völker, nach- dem die Waffen entschieden, Veränderungen in den Machtverhält- nissen willig anerkennen, die sie kurz vorher als unannehmbar Kampf allein führt zur Erkenntnis. 587 abwiesen; wenn der von jeher Starke erst in der Widerwärtigkeit zum Helden erwächst, so beruht dies darauf, daß die Seelen im Kampfe anders werden. Und nur so werden sie es. Bloß theo- retische Einsicht beeinflußt das Innere nicht. Man kann noch so deutlich die Notwendigkeit einer Neuordnung einsehen, und doch unfähig erscheinen auf sie in praxi einzugehen; man mag alle Tugend erkennen und doch ein Schurke bleiben. Wahrscheinlich besaßen Christus und Buddha ihre Weisheit mit dem Verstand lange bevor sie erleuchtet wurden; trotzdem datiert ihre Mission erst von dieser Stunde. Sie aber war eine solche des bitteren Kampfs. Vom Bösen versucht, mußten beide ihn erst besiegen: dann erst waren sie frei. Das heißt, dann erst war ihre Menschen- seele soweit verwandelt, daß sie dem höchsten Wissen zum Werk- zeug dienen konnte. Nur einem unter Milliarden ist es beschieden, zum Buddha zu werden, in den wenigsten liegt es, über ihren Ausgangsort überhaupt erheblich hinauszukommen; deshalb gewährt eine sta- tische Gesellschaftsordnung, die den natürlichen Rangklassen leid- lich Rechnung trägt, für jede Gegenwart das erfreulichste Bild. Der Einzelne, an seinem Typus orientiert, findet leicht seine Voll- endung, und im Ganzen herrscht Harmonie. Aber solche Ordnung ermöglicht kein Fortschreiten : nur der geborene Weise wird weise in ihr, jeder verharrt auf der Stufe, auf welche die Natur ihn stellte, die Menschheit bewegt sich gar nicht von der Stelle. In einer Kampfeswelt stehen jedem alle Möglichkeiten offen. Indem jeder für sich, in voller Aufrichtigkeit, dafür eintritt, was er für richtig hält, und das anstrebt, wozu er sich berufen glaubt, erprobt er an der unmittelbaren Erfahrung, was in ihm liegt, jedem Keim volle Entwickelungsgelegenheit bietend. Und indem alle sich auf gleiche Art erproben, findet im Großen eine Auseinandersetzung statt, welche notwendig vorwärts führt. Die Natur der Dinge be- dingt, daß jeder Fehler sich irgendeinmal rächt, alles Falsche sich schließlich als falsch erweist, alles Morsche irgend einmal verdirbt, und umgekehrt, daß alles Wertvolle seinen Wert bewährt und jede Wahrheit sich selber beweist — wenn jener Natur nur Gelegenheit geboten wird, sich auszuwirken. Diese aber wird ihr geboten, so- bald die Menschen den Mut zum Wagnis haben. Da die besonderen Kämpfer immer blind sind, beweist der Prozeß im einzelnen wenig genug. Reaktionäre und Umstürzler, Sozialisten und Indi- 588 Wert des Mutes zum Irrtum. vidualisten, Altgläubige und Freidenker — wie viele der Faktoren immer seien, deren Widerstreit die Dialektik des modernen Wer- dens ausmacht — haben sämtlich Recht zu irgendeinem Teil und im Ganzen sämtlich Unrecht. Sie sind jeder nur ein Element eines gewaltigen Prozesses, dessen Plan kein Sterblicher zu übersehen vermag, und keiner erreicht je das, wofür er kämpfte. Aber auch kein Kampf war jemals umsonst. Jeder Idealgesinnte tut in noch so bescheidenem Umfange mit bei der Verbesserung der Welt, jedes Widerstreben dem Übel schwächt dessen Macht, jedes Opfer kommt der Zukunft zugute. Und das Ganze entwickelt sich, stetig trotz aller Reaktionen, in der Richtung aufwärts, die von der Natur der Dinge gewiesen wird, in dem Sinne zwar, daß die Zu- Standsbesserungen, die zu gegebener Zeit und an gegebenem Orte möglich sind, auch wirklich eintreten. Weder die Männer von 1790, noch die von 1848 haben erreicht, was sie erstrebten, und das war gut, denn sie begehrten vielfach Unsinniges; aber dank ihnen sind wir erheblich weiter als sie waren. Die sozialistische Doktrin als solche ist verfehlt, allein ohne sie wären wir der gerechteren Neu- ordnung der Verhältnisse, welche möglich scheint, nicht schon so nahe. Fortschritt ist aber nur möglich in einer Kampfeswelt; in einer statisch-friedlichen gibt es keine Evolution. Jeder Einzelne soll nur aufrichtig sein, den Mut zum Irrtum, zum Wahn, zur Beschränkung, ja zum Verbrechen haben; das Weitere besorgt die Natur der Dinge, oder auf indisch ausgedrückt, das Karma-Gesetz. Der Weg des Kämpfers mutet arg mechanisch an, und ist es auch; der Einzelne figuriert hier nur als Element, ohne Verständnis für das Ziel, und das Heil kommt von außen. Allein der Masse ist ein höherer Weg nicht gangbar; mögen Ent- wickeltere den der Erkenntnis oder der Liebe wandeln — für jene kommt nur Karma-Yoga in Frage. Nun ist die von uns erdachte und betriebene von allen die tiefsinnigste. Bei ihr handelt es sich nicht um passive Hingabe an vorgesetzte Normen, um die erwartete Rückwirkung von Dogmen, Übungen, Riten, sondern um opfer- frohe Initiative. Und keine nur denkbare führte die Menschenmehr- heit schneller zum Ziel. Wie prahlerisch die Behauptung im Ganzen sei, daß wir es so herrlich weit gebracht — zugegeben muß werden, daß seitdem unsere beschleunigte Entwickelung begann, unglaub- lich viel geschehen ist. Man vergegenwärtige sich die Lage der englischen, oder gar der irischen unteren Volksklassen vor hundert Unsere Kultur wesentlich Kultur der Aufrichtigkeit. 589 Jahren, die der Fabrikarbeiter überall vor noch weit kürzerer Frist, und gedenke dabei vor allem der Rückwirkung, die das Elend auf ihre Seelen ausübte: man wird nicht leugnen können, daß wir heute in einer neuen, besseren Welt leben, einer Welt höheren Wohl- stands nicht allein, sondern würdigerer Gesinnung. Diese aber ist erschaffen worden durch Kampf allein, durch durchsetzerischen Egoismus; sie wäre unerschaffen geblieben, wenn chinesische Ord- nungsliebe oder urchristliches „Nicht-Widerstreben dem Übel" die Willen gelenkt hätten. In einer Kampfeswelt führt Egoismus am schnellsten zum Ziel. Wie ist dies möglich, wo er im letzten doch ein Mißverständnis bedeutet? Eben darum: die Natur der Dinge erweist ihn als solchen, und bildet ihn um; aus mörderischer Kon- kurrenz entsteht notwendig, früh oder spät, Kollaboration. Wie schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die sich bekämpfenden Eisen- werke Belgiens und Deutschlands ein Abkommen trafen, welches jedem ein bestimmtes Maß, und nicht mehr, zu produzieren ge- stattet, so wird es einmal überall kommen in unserer Welt. Gerade deshalb, weil wir geborene Gewaltmenschen sind. Somit lassen sich Bedeutung und Eigenart der modern-okziden- talischen Kultur mit einem Begriff erschöpfend bestimmen: sie ist Kultur der Aufrichtigkeit. Mehr als alle Menschen gestehen wir uns ein, was wir wollen und sind. Was immer wir vor- läufig gelten lassen mögen — eigentlich und letztlich glauben wir an uns selbst allein und rasten nicht, bis unsere Stellung in und zu der Welt mit unserer individuellen Überzeugung harmoniert. Dem- gemäß sind Überzeugungstreue und empirische Wahrhaftigkeit uns höchste Ideale. Wir wissen nicht, wie die Inder, metaphysische Wahrhaftigkeit mit Lügenhaftigkeit nach außen zu vereinen, oder gleich den Chinesen, unverbrüchlich treu eine vorgeschriebene äußere Ordnung einzuhalten, ohne zu fragen, inwiefern sie uns selbst entspricht: unserer Gesinnung gilt als besser, an persönlichem Irrtum zugrunde zu gehen, als einer unverstandenen Wahrheit zu dienen, besser durch mutiges Auswirken dessen, was wir glauben, in metaphysischen Sinn zu lügen als eine empirische Unwahrheit zu reden. Auch hier leitet uns die Grundidee, die aller westlichen Kulturgestaltung zugrunde liegt: daß Menschenbestimmung sei, den Sinn der Erscheinung restlos einzubilden. 590 Unsere Irrtumer müssen Segen bringen. In China verweilte ich bei den Nachteilen der Aufrichtigkeit. Diese fördert den Einzelnen weniger als blinde Hingabe an ein Äußeres, sofern dieses einem objektiven Optimum entspricht und die persönliche Meinung irrig ist; in diesem Sinn rührt unsere Roheit zum großen Teil von unserer Aufrichtigkeit her. Aber unsere Barbarei hat andrerseits mehr Zukunft, als jede auf Autorität begründete Kultur, weil Mut und Wahrhaftigkeit, und sie allein, notwendig vorwärtsführen, weil vor allem sie allein den Entwicke- lungsprozeß beschleunigen. Der Natur der Dinge nach müssen auch unsere Irrtümer Segen bringen. Ich überfliege im Geist die Geschichte unserer Wissenschaft und Philosophie. Auf wieviel Abwegen sind wir nicht schon ge- wandelt, wieviele Umwege haben wir nicht gemacht! Wievieles Vorläufige haben wir als letztes Wort gefeiert, mit wieviel ein- seitigen Formeln den Sinn der Welt zu erschöpfen gewähnt! Aber jeder Fehltritt hat doch Gutes zur Folge gehabt. Indem die einen nur Sein anerkannten, die anderen nur Werden, erfuhr jede Mög- lichkeit im Kampf der Schulen eine so scharfe Herausarbeitung, daß ihr Zusammenhang heute vollkommen deutlich scheint. Indem kühne Revolutionäre die überkommene Moral verwarfen und un- befangen die Selbstsucht zum Panier erhoben, zwangen sie die übrigen, die Gründe ihrer entgegengesetzten Überzeugung aufzu- suchen, wonach das Wahre sich als desto wahrer erwies und mancher Irrtum aufgehoben ward. Der Kirchenfeindschaft, der Freigeisterei, der Antireligiosität verdankt man's vor allem, daß heute endlich der Sinn religiösen Glaubens einzuleuchten beginnt, womit denn das, was vormals dunkler Glaubensinhalt war, zur lichten Erkenntnis wird. Jede Kritik bringt Segen auf die Dauer, so einseitig sie sei, soviel Schönes sie im Augenblick zerstöre. Denn auch hier heißt es: stirb und werde! Nur aus zersetztem Samen erwächst neues Leben, nur aus der Zersetzung des blind Übernommenen entsteht deutliches Wissen. Wenn der Mensch autonom werden soll, voll verantwortlich für alles, was er will, denkt und tut, dann muß er seiner Gründe voll bewußt werden. Alle Dogmen als solche muß er sprengen, alles Vorurteil, auf alle Rückversicherung in der Rassenerfahrung verzichten. Diesem Pro- zeß war die Neuzeit gewidmet; der geistige Kosmos ist damit wieder einmal in ein Chaos zurückverwandelt worden, es gärt und kocht in ihm und was schließlich kommen wird, ist im Einzelnen Nur unser Weg führt zur vollkommenen Autonomie. 591 nicht abzusehen. Aber das allgemeine Ziel ist schon gewiß: unsere Kultur der Aufrichtigkeit muß dahin führen, daß die auf Hetero- nomie beruhende Harmonie sich zuletzt in eine auf Autonomie begründete umsetzt, daß alles Wahre, was vormals auf Autorität hin geglaubt ward, zur persönlichen Erkenntnis wird und das per- sönliche Selbstbewußtsein durchaus zum Träger des Menschheits- willens. Und sie allein kann dahin führen. Mögen das indische, das chinesische, das katholisch-christliche System noch so erfreuliche Bilder erreichter Vollendung darbieten — sie bergen keine Ent- wickelungsmöglichkeit. Ein Neues kann nur auf unserem Wege werden. Der jüngste und typischeste Abendländer, der Amerikaner, ist der aufrichtigste Mensch; dies erkauft seine Unkultur. Aus ihm kann noch alles werden. Wie wenig das Vorläufige als solches den Vergleich mit dem Vollendeten verträgt — in einer Welt des Werdens hat es Daseinsberechtigung. Und schließlich steht dieses Vorläufige der äußerst denkbaren Vollendung näher in der Idee, als die indische Vollkommenheit. Ich rufe mir meine Betrachtungen über deren Eigenart ins Gedächtnis zurück: der Inder, des Sinnes tief bewußt, hat nie für notwendig befunden, bei dessen Ausdruck den Eigen-Sinn des Mittels zu berücksichtigen, nie Kongruenz beider Bedeutsamkeiten postuliert; dementsprechend gelten ihm Tatsachen und Einbildungen, Wirklichkeiten und Mythen, Lügen und die Wahrheit reden, Aberglauben und exaktes Wissen als gleich, sofern nur der Sinn an sich erfaßt erscheint. Allein dieser realisiert sich ganz nur dort, wo er restlos die Erscheinung durch- dringt, wo keinerlei Widerspruch zwischen Innerem und Äußerem besteht. Deshalb sind Einbildungen und Tatsachen, Lügen und Wahrheiten nicht gleichwertig; der widerstreitende Ausdruck nimmt dem Sinn seine Wirkungskraft; hierher rührt das Versagen der Inder als Menschen und im praktischen Leben. Der Abendländer nun ist Fanatiker der Exaktheit; daher sein beispielloser Erfolg in der Erscheinungswelt. Vom Sinn weiß er noch wenig. Allein erfaßt er ihn je, dann wird er ihm auch zu vollkommenem Ausdruck verhelfen, die vollkommene Harmonie herstellen zwischen Wesen und Phänomenalität. 592 Die Mormonenkirche. SALT LAKE CITY. Wie ich im Bureau des Mormonentempels, des Beginns des mittaglichen Orgelkonzertes harrend, in den aus- gestellten Büchern und Traktaten blätterte, wandte sich die Verkäuferin zu mir und fragte, ob mir das neue Evan- gelium schon gepredigt worden sei? — Ich erwiderte, daß mir die Schriften der Mormonen allerdings bekannt seien. — Sind Sie davon schon überzeugt, daß sie Gottes Wort enthalten? Und ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, fuhr sie fort: das eben ist das Wunderbare unserer Religion, daß sich über den göttlichen Ursprung ihrer Offenbarung ohne Umschweif Sicherheit erlangen läßt. Gott hat durch Joseph Smith verheißen, daß Er jedem, der Ihn in Wahrhaftigkeit um Auskunft angeht, unmittelbar Bescheid erteilen wird. Und Er hält Wort: so bin ich bekehrt worden. Ich bin ein Münchener Kind; zufällig gelangte ich dazu, einem Mormonenmissionar zu lauschen; der wies mir den Weg, wie ich mir über den göttlichen Ursprung des Buches Mormon Gewißheit verschaffen könne. So fragte ich Gott — und siehe da: Er ant- wortete mir sogleich mit einem vernehmlichen Ja. Seitdem bin ich hier und sehr glücklich. — Gerührt sah ich sie an. Sie gehörte dem üblichen Typus der Bekehrten an, wie er gleichsinnig und gleichartig alle Erweckungskirchen füllt; aber so rührend sim- plistische Vorstellungen hatte ich noch nie mit eigenen Ohren bekennen gehört. In dieser Hinsicht steht die Mormonenkirche ohne Zweifel an der Spitze aller geistlichen Institutionen. Wie pathetisch ist die Geschichte der Mormonenpolygamie! Es war Joseph Smith geoffenbart worden, daß die Familienbande im Himmel fortbeständen; damit war die Vielweiberei insofern als bestehend anerkannt, als der, welcher auf Erden nacheinander mehrere Frauen heiratet, dieselben im Himmel alle auf einmal besitzen werde. So bedeutete die nächstfolgende Offenbarung, daß der Mann auch auf Erden viele Frauen haben solle, dem Sinn nach nur ein Korollar zur vorhergehenden. Gleichwohl wirkte dieses Gebot auf die Gemüter der Frommen niederschmetternd; es wider- stritt allen Vorurteilen ihrer biederen Angelsachsenseelen. Allein die Gottesfurcht siegte, und schweren Herzens legten sich alle Unzulänglichkeit aller westlichen Religionsstifter. 593 mehrere Frauen an. Bald setzten die Nachstellungen ein; es begann eine Zeit so erbitterter Verfolgung, daß die Kirche vernichtet zu werden drohte. Da erbarmte sich der Herr; Er offenbarte dem Präsidenten Wilford Woodruff, daß. die Vielweiberei nunmehr auf- hören dürfe. „So sind die Heiligen der letzten Tage", heißt es in einer kanonischen Schrift (Mormonism, by B. H. Roberts, published by the Church p. 57), was die Vielweiberei betrifft, weder für ihre Einführung noch auch für ihre Abstellung verant- wortlich. Der Herr hat sie erst geboten, allen menschlichen Vor- urteilen zum Trotz; dann, sich der Leiden erbarmend, die der Gehorsam über seine Getreuen brachte, erlaubte Er zur Monogamie zurückzukehren. Es ist Gottes Sache, für die von ihm ausgehenden Befehle einzustehen." — Ich muß über das Urteil denken, das der Swami Vivekänanda über alle ihm bekannten Religionsstifter des Westens fällte: bei ihnen allen sehe man echte Erleuchtung auf seltsame Weise mit possierlichem Aberglauben verquickt; sie seien wohl von Gott inspiriert, aber psychisch zu ungebildet gewesen, um das Geoffenbarte rein aufzufassen und richtig zu verstehen. So ist es. Im Mormonentum tritt in extremer Form zutage, was im Prinzip von aller religiösen Gestaltung der westlichen Mensch- heit gilt. Unzweifelhaft waren Joseph Smith und Brigham Young ebenso echte Propheten, wie Moses, Wesley, Luther und Calvin; sie waren nur überaus unwissend und ungebildet. Aber wesentlich unterscheiden sie sich darin, darüber sei man sich klar, von unseren Größten nicht. Was soll man z. B. zu Luther sagen, welcher das, was allen tief religiösen Geistern vor ihm das Wesen der Religion verkörperte, als vorübergehende, sekundäre, ja bedenkliche Er- scheinung verworfen und eben das, was vor ihm stets als abgeleitete Wirkung ihrer galt, als ihr Wesen beurteilt hat; welcher gelehrt hat, daß Religion nichts anderes sei und nichts Höheres bedeuten könne als blinden Glauben an Gott und Benutzen der Heilsmittel Wort und Sakrament? 1 ) Man kann nur verlegen schweigen ob des Verständnismangels dieses großen Mannes. Herrlich tief war seine persönliche Religiosität, doch seine Gedanken über das Religiöse hafteten sämtlich an der Oberfläche. Und nun Calvin: ist seine Dogmatik nicht ungeheuerlich? Ungeheuerlich fürwahr ist die Idee einer ewigen Verdammnis, die von Ewigkeit her von einem x ) Vgl. Adolf Harnack Reden und Aufsätze II pp. 300, 302. Keyserling, Reisetagebuch. 38 594 Okzidentalen nicht Vorsteher sondern Täter. allbarmherzigen Gott zu seiner Ehre über die machtlose Seele ver- hängt sein soll. Allein Calvin war ein sonst hochgebildeter Mann, und Luther ein Genius: deshalb leuchtet aus ihren noch so flachen Vorstellungen immerhin der Geist der Tiefe hervor, so daß man durch alle Torheit hindurch fühlt: sie wußtens besser als sie's aussprechen konnten. Bei den angelsächsischen, zumal den über- seeischen Reformern spürt man nichts Ähnliches. Die angel- sächsische Rasse, in vielen Hinsichten die entwickelteste der Welt, steht religiös auf einer ganz primitiven Stufe. Sie ist so unphiloso- phisch, so unpsychologisch, überhaupt so undifferenziert und un- reflektiert, was das Leben der Seele betrifft, daß sonst bedeutende Briten sich anstandslos zu Religionsformen bekennen, die unserem Urteil nach kaum mehr Köhlern gemäß sein sollten. Kein angel- sächsischer Religionsstifter war je philosophisch urteilsfähig, und gehörte er gar den niederen Volksschichten an, war er überhaupt ungebildet und ungeschult, wie die meisten amerikanischen Refor- matoren, dann entstanden Systeme wie das mormonische. Noch einmal : wer da Indien kennt oder sonst weiß, was religiöse Bildung bedeutet, dem stellen sich Auswüchse wie sie in Rußland die Duchobortsen, in Norddeutschland die Pietisten und in Amerika die Mormonen verkörpern, als nichts Außerordentliches dar; viel- mehr als leidlich typische Ausdrucksformen der religiösen Erfahrung im Westen. Wir Okzidentalen sind nicht Versteher sondern Täter. Die- selben Mormonen, deren religiöse Vorstellungen so kindisch wirken, haben eine Kulturarbeit geleistet, wie kaum ein Volk; in knapp einem halben Jahrhundert haben sie die Salzwüste in einen Garten umgewandelt. Sie sind ferner ausgezeichnete Staatsbürger, recht- schaffen, ehrlich und fortschrittlich. Solch praktische Vorzüge eignen den Indern nicht, bei all' ihrer größeren Einsicht. Offenbar besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen dem philoso- phischen Werte einer Idee und ihrer Bedeutung für das Leben, läßt sich von jenem aus über diese nichts präjudizieren. Der Präde- stinationsgedanke ist eine Monstrosität: er hat gleichwohl die stärksten Männer der Geschichte gebildet; die ganze Effikazität des modernen Menschen geht auf die Weltanschauung Johann Calvins zurück. Die lutherische Auffassung der Religion ist befremdlich flach: aus ihr oder innerhalb ihrer ist gleichwohl die tiefste Gernütskultur Europas erwachsen, und ihr Geist liegt der Musik Bedingungen der Wirkungskraft religiöser Ideen. 595 Johann Sebastian Bachs sowohl als der großen deutschen Speku- lation zugrunde. Die katholische Kirche mit ihrem Gegensatz gegen alle Selbständigkeit, mit ihrer primitiven Mythologie und ihrer Fortschrittsfeindlichkeit bedeutet noch heute die beste psycho- logische Bildungsanstalt, mithin die beste Schule der Selbsterkennt- nis, die wir haben. Und der Brahmanismus, mit seiner wunder- baren Erkenntnistiefe, hat sich als unfähig erwiesen nicht allein das praktische Leben der Masse auch nur annähernd so günstig zu be- einflussen, wie die roheren Religionsformen des Westens, sondern er hat auch die Erkenntnis im ganzen weniger gefördert als das Luthertum. Es geht eben nicht an, bei der Beurteilung einer religiösen Idee von den empirischen Verhältnissen abzusehen, innerhalb derer sie wirken soll. Ihre Wirkungskraft hängt ab von dem Grade, in welchem sie den Willen der Menschen beeinflußt; dieser seinerseits von der prästabilierten Sympathie zwischen den religiösen Vorstellungen und den Neigungen; diese ihrerseits von dem Milieu, in dem sie aufwuchsen, und so fort. Allgemein läßt sich allenfalls das folgende sagen: wo die Geistesbildung gering, die Intensität des Wollens aber groß ist, erweisen sich primitive Vorstellungen als die besten; wo das umgekehrte Verhältnis waltet, dort sind alle Vorstellungen wirkungslos; nur wo beide auf an- nähernd gleich großer Höhe stehen, entscheidet der geistige Wert mehr oder weniger über die Effikazität. Auf diesem letzten Stadium befindet sich neuerdings ein Teil der europäischen Menschheit. Aber dieser Teil ist geringer, als man denkt; auch unter uns from- men den meisten primitive Vorstellungen am besten. W" esentlich interessanter erscheint das amerikanische Sektenwesen, wenn man es nicht an sich selbst, son- dern als Exponenten und Repräsentanten okzidenta- lischer Religiosität betrachtet; denn hier wie überall treten die typischen Züge des Abendländers in Amerika stärker zutage als in Europa und haben vorgeschrittenere Entwickelungsstadien erreicht. Was unterscheidet unsere Religiosität grundsätzlich von der indischen? Daß in ihr, im Gegensatz zu dieser, das Principium individuationis die Gestaltung herrschend bedingt. Die Religion hat es im Westen mit dem Verhältnisse des Einzelnen als solchen zu Gott zu tun; über dem Einzelnen, zum Menschen zu, gibt es 38* 596 Grundcharakter der okzidentalischen Religiosität. keine Instanz. Damit wird das Individuelle zum Wert. Gleichviel, wie dies Verhältnis im besonderen verstanden werden mag — im Sinn eines unendlichen Werts der Menschenseele schlechthin (Christus), der Persönlichkeit als höchsten Glücks (Goethe), des Übermenschen (Nietzsche), des Gottmenschen (Johannes Müller, New thought), den jeder Einzelne aus sich herausbilden oder in sich wecken soll — es ist die Wertbetonung des Individuellen als solchen, die der okzidentalischen Religiosität ihren eigen- artigen Charakter gibt. Hierauf sind die meisten und jedenfalls die wichtigsten Unterschiede zwischen östlichem und westlichem religiösen Wesen zurückzuführen. Nirgends gibt es mehr Sekten, als in Indien; nirgends sind die Unterschiedsmerkmale be- stimmter herausgearbeitet; aber da das Unterschiedliche nicht wertbetont erscheint, so ergeben sich aus dem Tatbestand die Konsequenzen nicht, die ein gleiches im Westen immer zur Folge gehabt hat. Bei uns hat Unterschiedlichkeit immer Feindschaft be- dingt, sieht eine Sekte auf die andere herab, bekriegt sie, verfolgt sie, sucht sie auszurotten oder zu bekehren; wenn der Wert an die individuelle Form gebunden sein soll, dann entwertet natür- lich die jeweilig anerkannte sämtliche anderen, woraus sich die Berechtigung, ja die Pflicht ergibt, sie so oder anders aus der Welt zu schaffen. Wo hingegen das Individuelle nicht als Wert, sondern als Sonderausdruck eines Höheren aufgefaßt wird, dort ist der Intoleranz, der Ausschließlichkeit, der Bekehrungswut, ja dem bloßen Missionseifer der Boden unter den Füßen entzogen. Deshalb hat sogar die Mahäyäna-Religion, die ihren Anhängern Missionieren zur Pflicht macht, nie Intoleranz geübt: dem indischen Geist widerstrebt es absolut, eine Sondergestalt an sich als Wert zu beurteilen. Nun ist kein Zweifel, daß die indische Auffassung prinzipiell die richtige ist: das Individuelle ist an sich kein Wert. Aber es kann zum Träger von Werten gemacht werden, und geschieht solches, so erhält es eine spirituelle Dichtigkeit, die sein Wesen von Grund aus verwandelt. Daher die ungeheure, einzigartige Effikazität, die den westlichen Geist in alP seinen Äußerungen kennzeichnet. Was hat die bloße Tatsache des „Verschiedenseins" bei uns von je für Kräfte entfesselt! Man denke an die Kämpfe zwischen Christen und Ungläubigen, Katholiken und Protestanten, Traditionalisten und Fortschrittlern: so wenig sie innerlich be- Intoleranz Schöpferin der Gewissensfreiheit. 597 rechtigl erscheinen, so ungeheure Wirkungen haben sie ausgelöst, und zwar segensreiche Wirkungen. Jeder Kämpfer sah eben in seinem Sonderbekenntnis das einzigmögliche Gefäß der absoluten Wahrheit, er füllte es mit dem gesamten Gehalt an Idealen, den er besaß, und ward sich derer so deutlicher und innerlicher be- wußt, als dies möglich gewesen wäre, wenn er sie an sich und parteilos kontempliert hätte. Hierher rührt es, daß unsere be- schränktere Erkenntnis für den Menschheitsfortschritt mehr bedeutet hat als die tiefere und weitere der Inder: was wir wußten, haben wir unserem persönlichen Leben eingebildet und auf diese Weise unseren Ideen die ganze lebendige Kraft persönlichen Wün- schens und Strebens mitgeteilt. Auf diese Weise löst sich das Rätsel, weshalb Albasche und Cromwellsche Unduldsamkeit mehr zum Sieg der Gewissensfreiheit beigetragen haben, als eines Eras- mus Allverstehen: Toleranz läuft praktisch auf Gleichgültigkeit hinaus, kann die Welt daher von sich aus nicht verändern, während jedes einseitige Wirken, dank den Gegenwirkungen, die es auslöst, darauf hinarbeitet, daß sich der alte Gleichgewichtszustand in einen neuen umsetzt. Auf diese Weise löst sich auch das Paradoxon, auf das ich im Laufe dieser Aufzeichnungen öfters hinzuweisen Gelegenheit fand — das Paradoxon, daß der Wert einer Idee als Idee so wenig ihren praktischen Wert garantiert, daß beschränkte, ja ungeheuerliche Vorstellungen sich oft segensreicher erwiesen haben als tiefere — : wo der Akzent des Wesens auf der Erschei- nung ruht, ist diese transfiguriert; sie bedeutet nun, was zu ihrem Eigen-Sinn in gar keinem Verhältnis, ja kaum in Beziehung steht; sie wird zum Ausdruck des Absoluten. So haben die Völker des Westens, trotz ihrer Seelenblindheit, ihrer Beschränktheit, ihrer Einseitigkeit und Intoleranz, ja man kann beinahe sagen, wegen ihrer, von allen am meisten bisher für die Menschheit als Ganzes geleistet; sie allein haben es unternommen und verstanden, die Ideale, die sie fortschreitend erkannten, in dieser Welt auch fortschreitend zu verwirklichen. Das Medium dieser Verwirklichung war nichts anderes als der Parteigeist, das Grundmotiv der Glaube an den absoluten Wert und die Substanzialität des Individuellen; aber die wirkende Kraft war das Ideal. So führt der normale Weg des Fortschreitens von selbst aus den Beschränkungen hinaus. Niemand wohl ist in engerem Sinne religiös gewesen, als die amerikanischen Pilger- 598 Wesen der wesilich-christlichen Lebensanschauung. väter; lange hat jenseits des Ozeans die grausamste Intoleranz geherrscht; furchtbar zumal waren die Verfolgungen, welche die Mormonen ausstehen mußten. Aber weil das principium individua- tionis in Amerika auf die Spitze getrieben ward, brach diese dort am frühesten ab. Sekten über Sekten entstanden dort, jede wähnte sich zuerst im Alleinbesitz der Wahrheit, schloß sich streng von allen übrigen ab. Aber da von allen Amerikanern die schlechthin ige Freiheit des Individuums als Grundprinzip einer politischen Welt- anschauung anerkannt ward, so konnte es auf die Dauer nicht fehlen, daß ein Individuum das andere gelten ließ; Duldsamkeit löste langsam aber auch unaufhaltsam die ursprüngliche Unduld- samkeit ab. Damit nun war etwas angebahnt, was unzweifelhaft einen Höhepunkt in der bisherigen Menschheitsentwickelung be- zeichnet: eine Praxis, welche ideell auf der indischen Weitherzig- keit fußt, die alles Besondere als selbstverständlich gelten läßt, aber de facto von der ganzen Kraft beseelt wird, die persönliches Wollen beruft. Mit anderen Worten: die neueste Entwickelung der westlichen Menschheit führt unter Wertbetonung des Individuellen zum gleichen Zustand, wie unter Indern die Nichtachtung des Indi- duums. Wird die westlich-christliche Lebensstimmung jemals vom Geist metaphysischen Wissens beseelt, dann mag sie wohl noch dereinst das vollkommenste Leben aus sich hervorbringen, das hinnieden theoretisch denkbar erscheint. Wenn die christliche Liebe bis heute ebensoviel Unheil wie Heil verursacht hat, so liegt dies daran, daß sie noch allzu sehr mit dem naturhaften Gefühl zusammenfällt, das mehr ein Nehmen- als ein Gebenwollen ist und beinahe durchaus mit einem weiteren Egoismus zusammenfällt. Wenn die christliche Stellung zum Sterben im Ganzen unedler wirkt, als die buddhistische, so beruht dies darauf, daß sie den Nachdruck nicht auf das Opfer, sondern das Behalten legt, auf Vergeltung des Leids und ein Wiederfinden alles Verlorenen in einer besseren Welt. Allein keine dieser Auffassungen hängt mit unserer Lebensanschauung notwen- dig zusammen. Was diese wesentlich kennzeichnet, unabhängig von allen zeitbedingten Vorstellungen, sind die Wertbetonung des Individuellen und das Jasagen zum persönlichen Schicksal; diese jedoch, vom Geiste wahren Wissens beseelt, bedingten ein höheres und volleres Leben, als das indische Detachement. Auch die Inder reden vom Opfer, das jeder bringen soll: doch was bedeutet das Christliches Sterben, christliche Liebe. 599 Aufgeben dessen, woran einem nichts liegt? Wer das Leben nicht ernst nimmt, hat leicht verzichten. Das Nicht-Ernstnehmen aber beweist, außer in seltenen Ausnahmefällen, Unaufrichtigkeit. Wir sind nun einmal Individuen, irdische, leidensfähige Wesen, hängen mit unserem ganzen empirischen Bewußtsein zusammen mit dieser Welt; also lügen wir, indem wir behaupten, sie wäre uns nichts; oder lügen wir nicht, so offenbaren wir damit in den meisten Fällen, nicht daß wir weltüberlegen sondern stumpf und gefühllos sind. Jedenfalls aber beweisen wir physiologische Opferunfähigkeit. Als Opfer kann nur das Hingeben gelten, welches weder auf größeren Gewinn hin geschieht, noch ein als wertlos erkanntes betrifft. Im freudigen Opfern-körmen und -wollen allein nun sind wir „ent- worden", wie Meister Eckhart sagt, unseres Ich entkleidet, und insofern praktisch eins mit Gott — keine Lebensstellung aber legt solch wahres Opfern näher als die westlich-christliche. Sie ermög- licht in der Idee die weitaus freieste zum Tod. Wer da stirbt, gibt wirklich sein Leben hin; denn mag seine Seele fortleben — der Mensch, als welcher er sich kennt und anderen lieb ist, ist auf immer dahin. Im vollen Bewußtsein dessen gern zu sterben oder ein geliebtes Wesen willig hinzugeben, bedeutet buchstäblich ein Überwinden des Todes, denn wer so schenken kann, rein hin- geben ohne wieder nehmen wollen, ist hinaus damit über alle Natur. — Nicht anders steht es mit der christlichen Liebe. Besser ent- schieden als sich und die Welt gleich gering zu schätzen, ist seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, schon deshalb, weil sich selbst doch jeder liebt. Nur muß die Liebe, um einen Ausdruck meta- physischen Wissens zu bedeuten, rein geberisch sein, ein sonnen- haftes Strahlen, Wärmen, Lebenspenden, ohne Vorbehalt, Absicht und Ausschließlichkeit. Weil sie dieses nicht ist in der christlichen Welt, sondern im Ganzen ein Ausdruck von Selbstsucht, bietet diese ein häßlicheres Schauspiel dar, als die gleichgültigere des Orients. Allein sie kann es, muß es werden bei fortschreitender Erkenntnis; der psychische Körper ist da, bedarf bloß der Durch- geistung, und diese geschieht schon. Ist sie aber vollendet, dann wird das göttliche Licht an der christlich gestimmten Seele ein vollkommenes Medium besitzen. Anstatt, wie in Indien, nur in der geistigen Sphäre zu leuchten, oder in der des Empfindens, wie im buddhistischen Japan, oder allein, wie im Westen bisher, dem Handeln die Richtung zu weisen, wird es den ganzen, vollen Men- schen beseelen. 600 Vorzug d. amerikanischen vor d. europäischen kleinen Mann. OSTWÄRTS. Nun durchschneide ich den Kontinent in eilendem Zug; in Windeshast fliegt die neue Welt an mir vorüber. Und wieder einmal erfahre ich's: zur Auffassung des Wesent- lichen ist die Zeit uns hinderlich. Die großen Linien treten desto schärfer hervor, je mehr das Einzelne verflimmert und verschwimmt. Dem Idealzustand, dem unsere jüngste Entwickelung zustrebt, ist Amerika, trotz des vorläufigen Charakters des meisten in ihm, entschieden näher als Europa. Hierbei habe ich selbstverständlich nicht den alleskaufenkönnenden Kulturprotz im Auge, der sich selbst für die Krone der Schöpfung hält — der ist unwesentlich in jeder Hinsicht, kaum echter in seinem Gewand europäischer Bildung, als der anglisierte Hindu; sondern den hartarbeitenden, dem Erfolg im Großen nicht allzunahen kleinen Mann, auf den die demokratische Weltanschauung eigentlich zugeschnitten ist. Der ist seinem transozeanischen Genossen menschlich weit überlegen. In Amerika fehlt eben das Meiste dessen, was den in ungünstiger Lebensstellung geborenen Europäer verbittert und verringert. Hier sind die Verhältnisse so weit, daß jeder Einzelne Aussicht hat, seinen Weg zu machen, und so bestärkt wird in seinem Mut und seiner Aufrichtigkeit; hier bieten sie ihm andrerseits die harte Schule, deren jeder von Hause aus Unmündige bedarf, um das moralische Recht zur Selbstbestimmung zu erringen. Und kommt hier einer aus kleinen Anfängen hoch hinauf, so mag er zu seiner höheren Stellung ebenso reif erscheinen, wie der in ihr Geborene, weil Zu- rücksetzung und Furcht vor solcher vielfach die Haupthindernisse sind einer sonst naturgemäß der äußeren nachfolgenden Seelen- erhebung und, umgekehrt, freudig anerkanntes echtes Verdienst das Selbstbewußtsein ähnlich beeinflußt wie ererbter Adel; denn un- zweifelhaft bedeuten Klassenschranken und -Vorurteile ein reines Übel überall, wo sie nicht wirklich d. h. physiologisch bestehenden Unterschieden entsprechen. Hier, wenn irgendwo, wird auf demo- kratischer Basis echte Kultur erblühen. So gilt in Amerika schon in hohem Maß die Anschauung, die überall wird gelten müssen, wo die moderne Entwickelung ihrer Vollendung naht: daß alle Arbeit gleich ehrenvoll sei. Natürlich Alte Arbeit gleich ehrenvoll. 601 beruht dies zunächst auf force majeure, nicht auf höherer Einsicht, weshalb es nicht zu verwundern ist, daß hier andrerseits krassere Kastenvorurteile herrschen, als bei uns; aber die Konstellation der Umstände, daß jeder ganz auf sich selbst gestellt, sein Brot ver- dienen muß, ferner jeder der höchsten Bildung teilhaftig werden kann und jeder sich selbst als Souverän fühlt, bringt es notwendig mit sich, daß in den Augen des amerikanischen Volks die Aus- füllung einer noch so niederen Stellung das Gentlemansein nicht ausschließt, was seinerseits zur Folge hat, daß alle Arbeit geadelt und das Selbstbewußtsein des Geringsten gehoben erscheint. Damit ist der Weg zu einem Idealzustande betreten: wird er erreicht, so würde damit die Wahrheit, daß alles Äußerliche gleichgültig ist, ihre höchstmögliche Verkörperung finden. Dem Inder ist das Äußerliche in dem Sinn gleichgültig, daß ihm alle Erscheinung als gleich wertlos gilt: ersprießlicher ist unzweifelhaft, alle Erscheinung als gleich wertvoll zu beurteilen, und das ist die Richtung, in welcher die amerikanische Entwickelung sich bewegt. Beide Stel- lungnahmen bedeuten metaphysisch gleiches, da durch beide die empirischen Rangordnungen aufgehoben werden, aber durch letztere wird die Erscheinung sinnvoll gemacht — „das Himmelreich wird auf Erden verwirklicht" — während erstere sie vollends aushöhlt. Die orientalische Auffassung der Gleichgültigkeit alles Äußerlichen drückt die, welche gezwungen sind, in äußerlicher Be- tätigung aufzugehen, also sämtliche arbeitenden Klassen, zu sinn- losen Existenzen herab; die amerikanische ermöglicht es dem ge- ringsten Kuli, sich als Vollmensch zu fühlen und zu betätigen. Hier, im amerikanischen Arbeitertypus, erscheint ein Fortschritt verwirklicht, der mehr als Fortschritt im üblichen Sinne ist: hier handelt es sich um ein Vorwärtsgekommensein nicht bloß im Sinn des Erfolges, sondern vor allem der Vollendungsmöglichkeit. Wenn jeder äußere Rahmen als gleich wertvoll gilt, dann ist der Beweg- lichkeit ihr Verhängnischarakter genommen; dann mag im Durch- schreiten der Lebensordnungen dieselbe innere Bildung gewonnen werden, wie sonst nur durch Verharren in den gegebenen. Und sie wird schon erzielt. So sehr der „gebildete" Amerikaner noch Barbar ist, so gebildet wirkt das einfache Volk. Die Schaffner, mit denen ich hie und da Unterhaltung pflege, imponieren mir mehr, als mir irgendein Westländer seit Jahren imponiert hat. 602 Demokratie bedingt nicht Herrschaft der Inkompetenz. Eine weitere Hinsicht, in welcher Amerika uns auf unserer Bahn voraus erscheint ist die, daß hier die Demokratie nicht not- wendig Herrschaft der Inkompetenz bedingt. Natürlich strebt sie darnach als nach ihrem Ideal: schon brandmarken die Labour- Unions den, der mehr leistet als seine Mitarbeiter, als unfair, schon werden, wie in Europa, gleichmäßig hohe Löhne unabhängig von der Leistung gefordert, und zeitweilig wohl auch erzielt werden. Aber schwerlich wird es in der neuen Welt zu so trostlosen Dauer- zuständen kommen, wie sie uns mit Sicherheit bevorstehen. Das Mächtigerwerden der niederen Volksschichten in Europa ist deshalb so unheilschwanger, weil der noch so selbstbewußt und selbst- bestimmt gewordene Proletarier doch an der überkommenen Vor- stellung festhält, daß die höheren Schichten verpflichtet seien, für ihn zu sorgen. Diese Vorstellung war berechtigt, solange kein freies Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern bestand, sondern ein patriarchalisches oder sonst bevormundendes; sobald der Arbeiter als selbständiger Kämpfer in die Arena tritt, entbehrt sie der Grundlage und führt, wo sie im Gesellschaftsorganismus dennoch fortbesteht, zu verhängnisvollen Folgen. Bei uns streben die Proletarier nichts Geringeres an als den Ruin aller Wohl- habenden. Offiziell tun sie das in Amerika auch, aber dort werden sie nicht viel Unheil damit anrichten, weil gerade die Vorstellung, die alles Unheil bei uns von innen her bedingt, dort fehlt: es setzt keiner als selbstverständlich voraus, daß die Wohlhabenden für die Ärmeren zu sorgen verpflichtet seien; dort besteht das Vertrags- verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer rein; dort erwartet jeder alles von sich selbst allein, und der scheinbare Klassen- kampf ist in Wahrheit ein Kämpfen der Interessen. Amerika hat den ungeheuren Vorteil vor uns, daß dort die Entwickelung von vornherein individualistisch eingesetzt hat, während sie in der alten Welt nur ganz allmählich zu einer solchen wird. Jeder Aus- wanderer, der sich über den Ozean begab, war mit Überzeugung sich selbst der nächste; er wies es ab, für andere zu schaffen. Aber ebensosehr widerstrebte es seinem Stolz, von anderen Hilfe zu erwarten. In einem armen Lande hätte diese Grundverfassung auf die Dauer wohl zu mißtrauischer Verbissenheit geführt; im überreichen Amerika entwickelte sie sich zu immer freimütigerem, optimistischerem Selbstvertrauen, so daß das Gefühl des Neides und des Ressentiments daselbst noch heute zu den Seltenheiten Rücksichtslosigkeit als Vorstufe der Humanität. 603 gehört. Der Amerikaner setzt nicht voraus, daß andere für ihn zu sorgen hätten: dieser Satz resümiert den Vorzug, den die neue Welt vor der alten hat. Nur unter dieser Voraussetzung kann freier Wettbewerb zu Gutem führen; auf dieser Grundlage allein kann eine dauerhafte Gesellschaftsordnung aufgebaut werden, in welcher alle gleiche Rechte besitzen. Denn nur, wenn jedem das Recht zugestanden wird, seinen eigenen Vorteil rücksichtslos zu wahren, kann der Herrschaft der Inkompetenz vorgebeugt werden, kann die Idee der Demokratie eine effektive Aristokratie herbeiführen. Freilich ist das psychologische Moment, mittelst dessen allein die neue Ordnung verwirklicht werden kann, nichts anderes als der Egoismus: das erklärt den Tiefstand alles dessen in Amerika, was das Bewußtsein höherer Synthesen, als es das Individuum ist, voraussetzt. Humanität im tieferen Sinne ist unter Ameri- kanern selten zu finden, so wohlwollend und gutmütig und sogar hilfsbereit sie meistens sind; selten fühlt sich einer innerlich ver- pflichtet, einem anderen beizustehen, es sei denn, er sei Humani- tätsspezialist; wer nicht zu arbeiten vermag, nun, der mag Hun- gers sterben. Aber es gilt zu begreifen, daß dieser Mangel die unvermeidliche vorläufige Erscheinungsform einer sich festigenden Selbstbestimmtheit bezeichnet und vom Standpunkt einer besseren Zukunft her betrachtet, menschlich wertvoller ist, als Humanitäts- duselei. Eine individualistische Gesellschaftsordnung ist undenk- bar auf Grundlage von Mitleidsmoral; nur dort kann sie Gutes bedeuten, wo jeder alles von sich, und nichts von anderen erwartet. Diese Grundverfassung setzt eine völlige Ummodelung der Euro- päerpsyche voraus und bis sie vollendet ist, werden die Schatten- seiten mehr als die Lichtseiten der neuen Lage dem Beobachter auffallen. Aber hie und da ist sie schon vollendet, und dort bietet sich einem ein durchaus erfreuliches Bild. Die Menschen, welche ungebrochen durch die grausame Schule des amerikanischen Da- seinskampfs hindurchkommen, sind hart und elastisch wie Stahl; sie sind innerlich gespannt, wie sonst niemand. Aber da sie alles von sich, und nichts von anderen erwarten, so geben sie, wo sie edel sind, desto lieber; so wird Humanität, bisher eine Rückver- sicherung, zum reinen Geschenk. Es ist nicht unmöglich, daß in Amerika, nachdem die Flegeljahre überstanden, der allzu wild- wüchsige Egoismus vom Leben zurechtgestutzt ward, eine vom 604 Amerikanische Landwirtschaft. westlichen Standpunkt höchste Zivilisation erblühen wird, die eben nur unter diesen historischen Voraussetzungen denkbar scheint: eine schlechterdings individualistische Zivilisation, wo keiner etwas vom anderen erwartet, und dennoch alles, was er nur kann, für die Gesamtheit tut. Nun trägt mich die Bahn durch endlose Felder und Weiden- gelände dahin. Noch nie habe ich so extensive Wirtschaft gesehen, und selten rationeller betriebene. Kein Landwirt von Kansas scheint Sport in der Ökonomie zu treiben, wie es der europäische immer noch tut, der aus Freude an der Sache so häufig teurer wirtschaftet — zu großartig baut, Unvorteilhaftes erhält, fruchtbares Land aus ästhetischen oder Pietäts-Rücksichten nicht nutzt usw. — als ihm ersprießlich wäre; aber auch keiner scheint kleinlich-praktisch, pennywise, bauernschlau, reaktionär aus Mangel an Wagemut: nur das unbedingt Zweckmäßige geschieht, dieses aber aus voller Hand. Und seltsam: diese großzügigen Wirt- schaften, die nichts als Betriebe zum Zweck des Gelderwerbs sein sollen, bieten häufig schönere Landschaftsbilder dar, als die nord- europäischen, an denen so viel mehr Liebe beteiligt ist. Das macht, daß nicht nur der oberste praktische, sondern auch der oberste ästhetische Grundsatz der Ökonomie ihre Rentabilität ist, weshalb unpraktische Verschönerungen gar oft als Verhäßlichungen wirken. Ich denke an die Gespräche amerikanischer Landwirte zurück, die ich im Laufe meiner Reisen hie und da zu überhören Gelegen- heit fand. Ja, das sind großzügige Leute, und zwar typischer- weise, während einer es bei uns bisher nur ausnahmsweise ist. Ihnen allein unter Landwirten erscheint es selbstverständlich, daß Initiative das beste Betriebskapital» ist, daß Weitblick, selbst auf Kosten des Nächstliegenden, einträglicher ist als noch so scharfäugige Kurzsichtigkeit. Es sind starke, zielbewußte Männer. Aber ihnen fehlen alle die moralischen Eigenschaften, die den Landwirt, der auf ererbter Scholle sitzt, in Ländern alter Kultur so sehr adelt. Dem Erbherrn eines Rittergutes, dem besitzenden Sproß eines alteingesessenen Bauerngeschlechts ist sein Betrieb, und leite er ihn noch so sehr nach rein ökonomischen Gesichtspunkten, eine Herzensangelegenheit; er fühlt sich ihm verpflichtet. Melioriert er seine Äcker und Wiesen, . so geschieht es mehr um dieser-als um seinetwillen; oder denkt er an sich, so meint er nicht seine Das Ethos des Acker baue rtums. 605 Person, sondern sein Geschlecht. So hat sein Tun den tiefen Hintergrund, den das Wurzeln im überindividuellen Naturzusammen- hang allein verleiht, so werden in seinem Wesen die Eigenschaften großgezogen, welche das Bewußtsein dieses Wurzeins zum Aus- druck bringen, und das sind die besten. Das ist es, weshalb der Beruf des Landwirts bei uns mit Recht als von allen praktischen der edelste gilt: daß er den Menschen wie keiner vertieft und wurzelecht macht. Aber mit gleichem Recht gilt er in den Vereinigten Staaten Amerikas nur als eine Industrie unter anderen: bedeutet Landwirt- schaft nichts außer dem, daß Geld mit ihr zu verdienen ist, dann hat sie auch nicht mehr Sinn. So steht der amerikanische Land- wirt menschlich nicht höher, als der Industrielle auf der ganzen Welt, und das will sagen: er ist als Typ vollkommen oberfläch- lich; eine Gelderwerbsmaschine; ja er stellt vielleicht den unan- genehmsten Ausdruck des modernen Industrierittertums dar, weil man bei ihm unwillkürlich nach den Zügen ausschaut, die den Landwirt sonst vorteilhaft vom Industriellen unterscheiden und durch ihr Fehlen entsetzt wird. — Und von hier aus nun denke ich an China zurück. Welch' überwältigender Unterschied! Wenn die Landwirtschaft in Amerika ein Gewerbe unter anderen, in Europa ein Gewerbe auf moralischer Grundlage ist, so ist sie in China ein Ausdruck des Moralischen schlechthin; dort fällt ihr materieller Vorteil kaum ins Gewicht. In China gehört der Einzelne der Familie, die Familie dem Geschlecht, das Geschlecht dem Grund und Boden, auf dem es sitzt; denn dieser ist ja seinerseits nichts Unlebendiges, sondern das irdische Symbol aller Vorfahren, um deren Grabhügel der Pflug im Zickzack fährt. Vom Stand- punkte des materiellen Vorteils betrachtet, erscheint die chine- sische Landkultur als sinnlos; sie bedeutet ein Minusmachen ohne Ende. Aber sie soll auch kein Erwerbsmittel sein: sie soll nur der moralischen Natur des Menschen ihre normale Betätigung sichern. Ihr verdankt der Chinese in der Tat seine einzigartigen moralischen Eigenschaften. Und betrachtet man von hier aus seine Betriebsart, dann erweist sie sich der amerikanischen als über- legen. Diese macht reich, aber sie macht flach und dürr; jene fristet nur Elend fort, aber sie züchtet überlegene Menschen. Und doch ruht in der amerikanischen Auffassung der Land- wirtschaft der Keim zu einem höheren Zustande, als er in den Ländern alter Kultur jemals verwirklicht ward: dem Zustand, 606 Die fortschreitende Entmaterialisierung des Geistes. wo das Bewußtsein der tiefsten Zusammenhänge des Lebens an kein materielles Substrat mehr gebunden erscheint. Je freier und tiefer selbstbewußt ein Mensch, desto mehr naturhafte Schranken darf er verleugnen, unbeschadet seines inneren Werts. Der höchste Mensch, den wir vorstellen können, ist vollkommen detachiert; er kennt keine geographische Sentimentalität, keine Vorliebe für diese oder jene Sitte, kein Vorurteil gegen irgendeinen Beruf, über- haupt* keine Ausschließlichkeit in seinen Gefühlen; und das be- deutet bei ihm nicht, daß er kalt und gleichgültig wäre, sondern daß er das Stadium innerer Durchbildung erreicht hat, wo der Mensch im Sinne Gottes lieben kann, der ja auch keine Unter- schiede gelten läßt. Die Richtung aller Kulturentwickelung weist dahin. Immer mehr befreit sich der Geist von der Materie, in der er ursprünglich involviert war, in jedem folgenden Kulturstadium steht der Einzelne ungebundener da. Geschähe diese Entwickelung nun so, daß die alten Formen zersprengt würden, nachdem der neue Inhalt ausgereift ist, dann führte sie geradlinig aufwärts. Aber sie geschieht nicht also, und aus guten Gründen. Auf daß das Neue sich entwickeln könne, muß das Alte vergehen, wenn jenes erst als Keim existiert. Deswegen bedingt aller äußere Fortschritt zunächst einen inneren Rückschritt, desto mehr, je weiter die Entwickelung der Form derjenigen des Gehalts vor- ausgeeilt ist. Dies ist der Sinn der fortschreitenden Barbarisierung, die mit der weißen Rasse eben jetzt vor sich geht. Wir haben über der neuen Form das Bewußtsein des Gehaltes überhaupt ver- loren. Über ein Kleines aber wird es wieder wachsen, und dann wird es auch innerlich mit uns vorwärts gehen. Deswegen darf es nicht allzu tragisch genommen werden, wenn die Landwirt- schaft, indem sie sich modernisiert, ihrer erzieherischen Kraft verlustig geht, wenn die Familienverbände sich lockern, der Be- rufs- und Klassenidealismus abflaut, ja der Patriotismus in Friedens- zeiten immer weniger als Dominante der Volksseele erscheint: überall handelt es sich um ein Zerfallen der Form, auf daß ein neuer Inhalt sich heranbilden könne. Wenn einerseits die Form, wo sie gefestigt ist, den Inhalt meist überdauert, eilt andrerseits die neue dem Inhalt voraus; dies aber ergibt ein schlimmes Über- gangsstadium. Wir sind in einem solchen mitten drinnen. Wir sind oberflächlicher, als irgendeine Menschenart, materiell ge- sinnter, dürftiger; dieses allgemeine Charakteristikum unserer Zeit Ist Initiative besser als Hingabe ? 607 tritt in Amerika karrikiert in die Erscheinung. Aber wir sind nur deshalb oberflächlicher, weil unser Tiefstes in die neue Gestalt noch nicht hineingewachsen ist, nur deshalb materieller, weil un- serer Spiritualität das entsprechende Ausdrucksmittel noch fehlt, nur deshalb dürftiger, weil wir unseren Reichtum nicht aufzu- schließen wissen; und die Amerikaner wirken nur deshalb schlimmer noch als wir, weil bei ihnen die Spannung zwischen Form und Gehalt noch größer ist. Aber irgendeinmal wird das unerfreuliche Stadium hinter uns liegen. Und am frühesten wahrscheinlich in der Neuen Welt, weil dort im Kampf mit dem Alten keine Kraft vergeudet zu werden braucht und der innere Gehalt sich ohne Rückblick der neuen Form wird einbilden können. Je weiter ostwärts ich gelange, desto intensiver erscheint die Kultur, desto selbstherrlicher der Mensch im Naturzusammen- hang; fast möchte man glauben, hier bestimme er durchaus ohne seinerseits bestimmt zu werden. Geringeren Witterungs- zufällen hat er durch regulierende Eingriffe (Wasserableitung, Stauung, Düngung) vorgebeugt, katastrophalen durch Versicherung; sein Acker trägt nicht, was er mag, sondern was er soll, seine Kühe sind milchergiebiger, als ihrer Natur entspricht, fehlende Hände ersetzen Maschinen. Und durch vorausschauende Abstimmung seiner Privatproduktion auf die Erfordernisse des Weltmarkts hat er recht eigentlich im ökonomischen Weltzentrum Fuß gefaßt, so daß er sich ohne weiteres dem anschmiegen und dergestalt zu seinem Vorteil nutzen kann, wem er sonst als einem Fatum unter- läge. Meine Gedanken ziehen zaumlos diesen Möglichkeiten nach, ich verliere sie aus den Augen. Auf einmal entdecke ich, daß sie zum Gegenpol des amerikanischen Lebens hinübergeschweift sind, dem Zustande, der nicht in schöpferischem Tun, sondern in Hin- nehmen und Erleiden wurzelt. Und wie es in solchen Fällen leicht geschieht, sehe ich diesen jetzt in einseitig günstigem Licht. Die spezifische Kultur, welche dort erwächst, wo der Mensch sich der Natur nicht überlegen dünkt, wo er sich, im Gegenteil, unterworfen fühlt einem übermächtigen Geschicke, wird in Amerika niemals entstehen, — und doch umfaßt sie einen großen Teil des Höchsten, was die Menschheit für sich anzuführen hat. Wie edel ist der Stolz des Wüstensohns, der sich vom Schicksal schlechthin ab- 608 Jede Gestalt kann das Wesen ausdrucken. hängig glaubt! Wie tief ist das Naturgefühl des indischen, des russischen Bauern, die sich beide als geringste Elemente fühlen im All! Und wie Erhabenes hat das gleiche Wurzelbewußtsein in China hervorgebracht! Nein: Demut, Bescheidenheit, Nichtigkeits- gefühl bedeuten nicht, wie Amerika wähnt, ein durchaus Negatives, auch sie können Quellen sein der höchsten Kraft. Sie waren es zu allen Glanzzeiten des Christentums. Ich gedenke der Bachschen Musik: diese Tiefe, diese Kraft offenbart sich nur dort, wo der Mensch sich nicht als Herr, sondern als Knecht empfindet; nicht als wesentlich Handelnder, sondern als einer, mit dem wesentlich geschieht. Die Bewußtseinseinstellung, die der jüngsten Weisheit des Westens als einzig richtige gilt, ist in Wahrheit nur eine unter vielen, und ihre Vorzüge ändern an der Tatsache nichts, daß sie die Erlebnisse eines Lautse und eines Augustin, eines Bach und eines Luther, eines Tolstoy und eines Buddha ausschließen. O über die Relativität aller Gestaltung! Jede ist fähig, das Tiefste zum Ausdruck zu bringen, aber keine sagt alles und keine absolut mehr, als andere, scheinbar geringwertige. Gewaltiges wirkt das Bewußtsein, mit der Gottheit eins zu sein: gewaltiges nicht minder der Glaube an die eigene Erbärmlichkeit. Beide Auf- fassunger. des Verhältnisses von Mensch und Gott sind eben empi- risch gleich richtig, oder können es doch sein. Sündbewußtsein entsteht notwendig bei seelischer Vertiefung, weil bei deutlicherem Innewerden des Atman auch die persönliche Unzulänglichkeit fort- schreitend deutlicher wird; wer sich mit seiner Person, nicht seinem überpersönlichen Selbst identifiziert, der muß erfahren, daß nicht er handelt, sondern daß mit ihm geschieht, daß er allen Fortschritt der „Gnade' 4 ' dankt. Keine Form tangiert den Atman an sich selbst: nur darauf kommt es an, wie tief der Mensch sich selbst in be- liebiger Form realisiert. Wie die Mystiker Persiens aus den rohen Suren des Koran sublime Weisheit herauslasen, wie die Ilias den Griechen als Moraltextbuch galt und die züchtigste Christenheit an den verfänglichsten Stellen ihrer Bibel niemals ein Ärgernis fand, so kann jede Gestalt zum Ausdrucksmittel des Höchsten werden; aber in jeder stellt dieses sich besonders, ausschließlich und einzig dar. Die jüngste Auffassung des Christentums wird die älteren nie überflüssig machen. Unheilbar Kranken frommt Leugnen des Krankseins nicht; die kommen geistlich weiter durch den Glauben an eine Prüfung. Als Jüngerin der christlichen Wissen- Es gibt eine Moira. 609 schaft wäre Adele Kamm nie zur Heiligen geworden, sie hätte sich im Gegenteil verhärtet in fruchtlosem Widerstand. Den Vor- zügen der Karma-Lehre stehen die Nachteile entgegen, daß sie alles Unglück als Sühne mithin als Abschluß deutet, wodurch dieses seines produktiven Einflusses verlustig geht, und in ihren Bekennern die schlimme Neigung großzieht, in jedem Mißgeschick eines anderen eine verdiente Strafe zu sehen. Wer mit dem New Thought den positiven Charakter des Übels leugnet, macht die günstigen Wirkungen, die es als Strafe, Prüfung oder \nsporn aufgefaßt ausübte, erst recht unmöglich, und wird im übrigen der Tatsache nicht gerecht, daß es unstreitig kein absolut-Negatives ist: des einen Unheil bedeutet immer zugleich eines anderen Heil, denn kein Einzelnes hat seinen Sinn in sich, es empfängt ihn vom Ganzen. Hinnehmen, Ausharren, Mit-sich-Geschehen-lassen hat sein absolut-Gutes. Und es erweist sich als einzig-ersprießliche innere Stellung zum Weltprozeß zu kritischen Zeiten, wo Naturkata- strophen, Revolution und Krieg alles Wollen des Einzelnen zu- nichtemachen, wo das Fatum alle Menschenordnung zerreißt. Denn es gibt wirklich ein überpersönliches Schicksal, fasse man es als Vorsehung auf im christlichen Sinn, als Rassen-Karma, oder un- befangener und gegenständlicher, als Moira, eine allgemeine kos- mische Notwendigkeit, die Resultante alles des, was je geschah, die meist unmerklich waltet und oft zusammenfällt mit den Ergeb- nissen menschlicher Voraussicht, sich manchmal jedoch zu souve- räner Persönlichkeit verdichtet und völlig eigene, unerkennbare Ziele verfolgt, — der Moira gegenüber aber hilft alles Pochen auf Selbstherrlichkeit nichts. Und selbst wenn es anders wäre, selbst wenn die ganze moderne weiße Menschheit sich zum amerikanischen Optimismus bekehren könnte, bedingte dies doch keinen absoluten Fortschritt: es bedeutete nur, daß zu gewisser Zeit eine bestimmte Gestalt dem Leben die besten Gelegenheiten bietet, daß der Hippos dem Hipparion gefolgt ist; und bewirkte zugleich das Aussterben der Form der Größe, die uns an Luther, Augustin und Bach so einzig verehrungswert scheint. Der selbstherrlich-selbstbewußte Mensch, gleich allen Voll- endungstypen, schließt die übrigen nicht ein sondern aus. Gleich- wohl ist es gut, daß er zum Ideal ward: dies bezieht aller Dasein auf einen tieferen Grundton. Der Atman ist schöpferische Spon- taneität; wer sich selbstherrlich weiß, wurzelt tiefer in ihm als Keyserling, Reisetagebuch. 39 610 Gott als Ich und als Du; Überwindung des Schicksals. wer sich abhängig fühlt. Indem der Mensch sich aus einem wesent- lich bestimmten zum bestimmenden Teil der Natur verwandelt, durchmißt er in der Sphäre des praktischen Lebens die gleiche Entwickelung, die den Theisten zum Mystiker hinaufführt. Empi- risch hat jener so recht wie dieser; Gott wird als Du oder als Ich erlebt, jenachdem wo das Bewußtszentrum ruht; doch wer Ihn als Ich erlebt, erlebt Ihn tiefer. So wurzelt der selbstherrlich- Bestimmende überhaupt unmittelbarer im Sein als der hinnehmend- Erleidende. Und daß dem so ist, beweist hier nicht allein, wie beim Mystiker, das subjektive Gefühl, sondern die objektive Er- fahrung: diese tut dar, daß der Mensch wirklich zum Herrn der Schöpfung berufen ist. In unserer Welt besitzt die Moira nicht ein Tausendstel der Macht, über die sie unter den Griechen verfügte, welche hemmungslos ihre Leidenschaften auslebten und dergestalt selbst die Gewalten schufen, die sie verdarben; die Elementarkräfte haben wir uns zum großen Teil botmäßig gemacht. Gewinnen wir je gleiche Herrschaft über uns selbst, und üben sie mit vollem Verständnis aus, so mag es dahin kommen, daß einer pessimisti- schen Weltansicht, weil kein Erleiden mehr verhängnisvoll er- schiene, aller Boden entzogen sein wird; daß der Mensch, äußerlich Herr der Natur, über allen Zufällen innerlich erhaben, des Sinns des Guten wie des Bösen voll bewußt, der Vorsehung Amt über- nimmt. In Amerika schweift meine Einbildungskraft unaufhaltsam in eine bessere Zukunft voraus. Dies beweist, wie sehr der Fort- schrittsbegriff dieser Welt gemäß ist. Hier hat das reflek- tierende Bewußtsein das ganze Leben soweit durchdrungen und erfaßt, daß seine Eigenart bestimmt, seine Normen das Geschehen regulieren und seine Ideale als schöpferische Kräfte wirken. Wie- viel Macht besitzt der Geist über die Natur! An Originalität, Be- weglichkeit, Erfindungsgabe stehen die führenden Völker der Moderne den alten Griechen hundertfältig nach. Allein die Ent- wickelung dieser, so vieldimensional sie war und so weit sie führte, fand nicht unter dem Zeichen des Fortschritts statt. Sie lebten richtungs- und hemmungslos ihre Gaben aus, unbefangen wie die indische Phantasie, und nach knapp zwei Jahrhunderten der Herr- lichkeit waren sie am Ende; seitdem faulten und verdarben sie Beruf der modernen Menschheit. 6 1 1 nur, so viel geistige Fermente sie auch weiter ausschieden. Jene nun pflanzen ihre Ideale unter dem Fortschrittsgesichtspunkt syste- matisch dem Leben ein, was den physiologischen Prozeß, der an sich endlich ist, dem unendlichen geistigen unterordnet. Darum ist keine Ursache abzusehen, weshalb sie je im Ganzen verderben und sich fortzuentwickeln aufhören sollten. Die neue fortschrittliche Menschheit hat zum Beruf, in pro- gressives Leben umzusetzen, was von den Ideen aller Zeiten im Guten irgend fortwirken kann. Zu diesem Umsetzen ist sie, ihrer besonderen Physiologie nach, einzig begabt, so sehr sie in anderen Hinsichten versage. Die hellenischen Ideale sind realere Mächte in unserer Welt als in der antiken; irgend einmal wird gleiches von den indischen Einsichten gelten. Heute freilich sind kaum die Vorarbeiten zum ersten Anfang dessen erledigt, was unsere Be- stimmung scheint, die gegenwärtigen Zustände bedeuten embryonale Phasen. Wer in ihnen aufgeht, leistet wenig für die Dauer. Ich persönlich bin von zu alter Kultur, um am Vorläufigen Befriedi- gung zu finden; ich könnte nicht Bastillen stürmen, auf Barrikaden kämpfen, weil ich weiß, daß es dabei nichts Wesentliches gilt. Zum Revolutionär-, zum Pioniertum bedarf es der Blindheit. Allein wo ständen wir, gäbe es die Blinden nicht? Die Phagozyten, die im Blut todbringende Mikroben bekämpfen, wähnen gewiß, dieser Krieg sei ein Endzweck; und dächten sie anders, kein Mensch würde leben. Mehr als alle haben die Sehenden Grund, die Blinden zu achten, denn ihnen danken sie ihre Daseinsmöglichkeit. Der Versteher ist möglich nur deshalb, weil Millionen von Unverstän- digen sich opfern. Eine Welt, in der deren Meinung dominiert, kann ihn freilich nicht freuen, aber worauf hat er auch Anspruch? Nous n'avons pas le droit d'etre fort difficiles, schrieb schon Renan. Dans le passe, aux meilleures heures, nous n'avons ete que toteres. Cette tolerance, nous V obtiendrons bien au moins de Vaveriir. Un regime democratique borni est, nous le savons, facilement vexatoire. Des gens d'esprit vivent cependant en Amerique, ä conditio n de n'etre pas trop exigeants. Noli me tangere est tout ce qu'il faut demander ä la Democratie. Et peut-etre la vulgarite ginirale sera- t-elle un jour la conditio n du bonheur des elus. 39> 612 Seelenlosigkeit ermöglicht vollstes Leben. CHICAGO. Meine freundliche Stimmung ist dahin. Chicago ist fürchter- lich. Alles Leben hier geht auf in maschinellem Betrieb, so sehr, daß selbst der Zugereiste sicji ihm unwillkürlich einfügt, aus Furcht, sonst zugrunde zu gehen. Und sein Instinkt irrt nicht: wer in Chicago nicht Apparat sein kann oder will zu bestimmter Funktion, mit seinem ganzen Wesen ihr verschrieben, der muß verderben. Ich bin tief deprimiert. Gegen die Mechanisierung des Lebens an sich habe ich nichts, im Gegenteil: ich wünschte, daß alles Mechanisierbare möglichst bald möglichst vollständig mechanisiert würde, auf daß der Geist für das Übermechanische desto mehr Kraft und Muße übrig behalte; wie die antike Kultur ihren hohen Vollendungsgrad dem dankte, daß Sklaven den Gebildeten alle Arbeit abnahmen, die ohne freie Initiative geleistet werden konnte, so wird die moderne erst dann zu vergleichbarer Reife gelangen, wenn Maschinenbetrieb den Menschen entlastet haben wird. Das Fürchterliche an dieser Welt ist der Umstand, daß sich das Leben im Mechanisierbaren erschöpft; hier knechtet das Werkzeug den Menschen, der es beherrschen soll. Wie kam es dahin? — Der Menschenmangel machte es zunächst zur Notwendigkeit, alles Me- chanisierbare zu mechanisieren; dann bannte die Rentabilität dieser Betriebsart alles Interesse mehr und mehr; so daß das Über- mechanische zum Leben immer überflüssiger erschien und mehr und mehr im Bewußtsein zurücktrat. Leider ist es ja nicht wahr, daß ein seelenloses Leben kein volles Lebensbewußtsein geben könne: alle verfügbare Kraft und Intensität kann im Maschinen- mäßigen aufgewandt werden, so sehr, daß eben der, welcher mir unsäglich dürftig vorkommt, sich subjektiv als Vollmensch fühlt und herabsieht auf die blutlosere „Seele". Der Vorwurf gegen die Mechanisierung ist unberechtigt, daß sie die Menschen im biologischen Verstände unlebendig mache: der Chicagoaner ist durch und durch vital, wähnt seine Lebensführung eben deshalb allen anderen überlegen, weil sie das Daseinsgefühl wie keine andere steigere. Das tut sie wirklich, weil sie alle vorhandene Kraft in einen engsten Kanal der Betätigung hineinzwängt, wodurch jene eines ungeheuren Intensitätsgrades teilhaftig wird. Die Der Amerikanismus erniedrigt den Menschen zum Tier. 613 amerikanischen Geschäftsleute sind echte Yogis insofern, als sie alle Aufmerksamkeit auf Eines konzentrieren und alle typischen Früchte der Yoga werden ihnen im Prinzip auch zuteil, als da sind: Potenzierung der Lebenskraft und des Lebensgefühls, Steige- rung der Fähigkeiten, Vergrößerung des psychischen Betriebs- kapitals. Das Entsetzliche an diesem Amerikanertum ist, nicht daß es die Menschen unlebendig macht, sondern daß es den psychischen Organismus in unerhöhtem Grade vereinfacht. Dieses Amerikaner- tum beweist, daß sich ohne Seele, ohne geistige Interessen, ohne Gefühlskultur ein innerlich volles Leben führen läßt. Natürlich läßt sich das; kein Molch, kein Wurm sehnt sich über seinen Zu- stand hinaus. Wenn es heißt, die beschränkten Menschen seien die glücklichsten, so besagt das gleiches: es ist viel einfacher, sich in kleinem Rahmen der Ganzheit seines Lebens bewußt zu werden als in großem. Aber die Beschränktheit verkörpert kein Ideal; ideal wäre der Zustand allein zu nennen, in dem der Mensch sich vermittelst des Weltalls seiner Ganzheit bewußt wurde, in dem er nichts auszuschließen brauchte, um ganz er selbst zu sein. Das Furchtbare am Amerikanismus ist, daß es den Menschen arm macht. Wie er alle Werte auf den einen der Quantität redu- ziert, so reduziert er die ganze Psyche auf einen Apparat zum Geldverdienst. Damit drückt er den Menschen zurück auf die Stufe des niederen Tiers. Betrachtet man den Tatbestand in diesem Licht, so erscheint er dermaßen entsetzlich, daß man ihn für gefahr- los halten möchte. Tatsächlich besitzt er ungeheure Werbekraft, gewiß die größte dieser Art zu unserer Zeit. Er besitzt sie erstens, weil jedem am Erfolg liegt, und die amerikanische Lebensformel diesem am günstigsten ist; wer keine Zeit mit Idealen, Ideen und Gefühlen verliert, wer keine gemütlichen und moralischen Hem- mungen kennt, kommt am schnellsten vorwärts. Allein nicht hierin liegt die Hauptanziehungskraft: diese beruht darauf, daß in der Form des Amerikanismus jeder, auch der dürftigste Geselle sich der Fülle seines Daseins bewußt wird; diese Formel ist so eng, so beschränkt, daß sie Jedes Lebenskraft spannt. Hierin nun liegt eine furchtbare Gefahr: heute leuchtet der Menschheit ein niederer Zustand als höchster voran. Wird dieses Ideal nicht bald entthront, so führt es uns unfehlbar zur Barbarei, keiner vorläufigen, sondern einer endgültigen. 614 Äußerste Ausnutzung von Menschen und Zeit. Meinen Besuch im Schlachthof habe ich gemacht; kein er- freuliches Unternehmen. Und doch bin ichs zufrieden: in größerer Vollkommenheit werde ich Maschinerie kaum wieder funktionieren sehen; in den Stock Yards scheint mir das äußerst Denkbare an Ausnutzung von Menschen und Zeit erreicht. So wenig Zeit wird hier verloren, daß ein Schwein in einigen zwanzig Minuten vom Leben zur Wurst befördert wird, ein Schaf in sechsundzwanzig Minuten zerlegt und ein Ochs in fünfunddreißig. Jeder Arbeiter tut ein Bestimmtes, in festgesetzten Abständen; jeder tut es auf die bestmögliche Art. Von Mensch zu Mensch vermitteln Maschinen. So kann ein einziger Schlächter in einer Stunde bequem ein halbes Tausend an ihm vorbeigehißter Schweine abstechen, und entsprechend geschwind geschieht alles übrige. Wie ich dastand und zuschaute, fiel mir die Parabel Dschuang- Tses vom Metzger ein. Der Fürst Wen Hui hat einen Koch, der für ihn einen Ochsen zerteilte. Er legte Hand an, drückte mit der Schulter, setzte den Fuß auf, stemmte das Knie an: ritsch! ratsch! trennte sich die Haut, und zischend fuhr das Messer durch die Fleischstücke. Alles ging wie im Takt eines Tanzliedes und er traf immer genau die Gelenke. Der Fürst Wen Hui sprach: „Ei vortrefflich! das nenn' ich Geschicklichkeit!" Der Koch legte das Messer beiseite und antwortete, zum Fürsten gewandt: der Sinn (das Tao) ists, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit. Als ich anfing, Rinder zu zer- legen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte ichs soweit gebracht, daß ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor mir sah. Heute verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht mehr auf den Augenschein. Der Sinne Wissen hab' ich aufgegeben und handele nach den Regungen des Geistes. (R. Wilhelms Über- setzung.) — Ja, es ist wahr, solche Geschicklichkeit hat metaphy- sischen Sinn: sie bezeugt, daß die Bewegungen der Hände un- mittelbar vom Prinzip des Lebens gelenkt werden; ob die Einheit mit ihm sich in vollkommenem Schlachten, in vollkommener Er- kenntnis oder in vollkommenem Sein manifestiert, hängt von dem Ziele ab, das einer sich steckt. Auch die Schlächter von Chicago, gleich dem Koch des Fürsten Wen Hui, müssen sich dem Tao ergeben haben, um so Außerordentliches zu leisten. Aber ent- Die Wiederherstellung der Sklaverei. 615 setzlich wäre es, wenn ihre Art der Vollkommenheit fortan als Ideal menschlicher Entwicklung gelten sollte. Die Stock Yards sind ein schreckhaft lehrreiches Sinnbild dessen, was an den Zielen der modernen Zivilisation verfehlt erscheint. Das ideale Verhältnis zwischen Körper und Geist wäre dort erreicht, wo mit jeder Gebärde die Seele zu vollendetem Ausdruck käme, wie beim Bühnenspiel der Düse. In unserer Welt stellt es sich mehr und mehr so dar, daß die ganze verfügbare Kraft in ein Werkzeug über- fließt, wodurch dieses wohl Fabelhaftes leistet, der Mensch jedoch zu existieren aufhört. Der moderne Zweckmensch verkörpert den genauen Gegenpol des indischen Weisen: zieht dieser sich aus dem Äußeren ganz zurück, um in sich desto wirklicher zu sein, so ver- zichtet jener auf die Innerlichkeit, um in der Außenwelt Äußerstes zu leisten. Ihm verdanken wir die Wunder der Technik, eine un- bedingte Bereicherung dieses Planeten; insofern muß man ihn gelten lassen. Man muß ihn gelten lassen, wie man den Fakir gelten läßt, den Clown, den Schlangenbändiger. Aber aufblicken darf man zu ihm nicht. Ihm fehlt das, was allererst den Menschen macht Die Spirale der geschichtlichen Entwickelung hat auf erhöhter Stufe zu einer Wiederherstellung der Sklaverei geführt. Wieder wird der Mensch nach seiner Leistung allein beurteilt, wieder hat er nur Marktwert, und zwar gilt dies heute nicht bloß von Zwangs- arbeitern, sondern von allen, denn im griechischen Verstände Freie gibt es nicht mehr; wer sich bei uns am unabhängigsten wähnt, sieht sich doch selbst kaum anders an, wie ein Phöniker seine Kriegsgefangenen. Wird auch der Kannibalismus wieder aufleben? In unserer aufgeklärten Welt stehen diesem gewiß weniger seelische Hemmungen entgegen, als unter abergläubischen Wilden. Es ist allzu wahr, was Tagore sagt: nirgends war Menschenfleisch und -seele je so billig, wie im modernen Westen. Keine Zivilisation hat je der ganzen Schöpfung gegenüber eine so entwertende Stel- lung eingenommen, wie die unsere, die ausschließlich des Nutzens gedenkt. Überantworten wir uns ganz der Logik dieser Entwick- lungsrichtung, so wird der Verstand, je mehr sie sich entfaltet, desto mehr das Menschengeschlecht entseelen. 616 Der kunstliche Mensch als Ideal. Ist nicht das ideale Ziel der Evolution, die in den Schlächtern von Chicago einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, — der künstliche Mensch? — Helmholtz pflegte zu sagen, daß er dem Optiker, der ihm einen so unvollkommenen Apparat, wie die Linse des Menschenauges, überbrächte, die Tür weisen würde: im selben Sinn ist denkbar, daß alle objektive Leistung durch eine Artefakt besser ausgeführt werden könnte, als durch einen lebendigen Orga- nismus, und in der Idee kann diese Ersetzung durch ein Besseres bis zum ganzen Menschen gehen. Ein solches Kunstprodukt ist einmal konzipiert worden: es ist Halady, die Heldin von Eve future, der visionären Dichtung Villiers de Plsle Adam's. Villiers setzte willkürlich nur die Möglichkeit, einen künstlichen Menschen zu erschaffen, in dem Mechanismen von absoluter Präzision alle lebendigen Organe ersetzten; und siehe da: aus ihr ergab sich mit Notwendigkeit, daß sein lebloser Automat an Leistungsfähigkeit das höchste Leben übertreffen müßte. Während der begabteste Geist doch irrt, war Halady irrtumsunfähig; sie reagierte auf jede Situation auf die absolut beste Art, antwortete unfehlbar richtig, tat immer das unter den gegebenen Umständen schlechthin zweck- mäßigste, und so fort. Sie wäre Gott gewesen — wenn sie ein Ich besessen hätte. In der Tat strebt die fortschrittliche Entwickelung gleich not- wendig zwei entgegengesetzten Zielen zu, dem Automaten und dem Gott; und der Weg, der an den Stock Yards sein Sinnbild hat, führt schnurstracks zu jenem. Wenn die Leistung alles, die Seele nichts bedeuten soll, dann steht ein vollkommener künstlicher Mensch unstreitig über dem natürlichen. Diese Erwägung scheint mir lehrreich» Unsere fortschrittliche Entwickelung, welche wesent- lich unabhängig von innerem Weiterkommen verläuft, hat ihren psychologisch-technischen Seinsgrund an der fortschreitenden In- tellektualisierung des Lebensprozesses; diese nämlich bedingt eine unaufhaltsame Vergegenständlichung dessen, was ursprünglich ein rein Zuständliches war. Indem der Mensch sich begrifflich klar wird über das Geschehen in und außer sich, über das, was es bedeutet, wohin es führen könnte und sollte, erhebt er sich dar- über, sieht er es außer sich, gewinnt an seinen Begriffen die Mittel, es anzupacken, und gleichzeitig die Macht, ihm von sich aus die Richtung zu geben. Nun mag er seine Wünsche in Betriebe und seine Ideale in reale Mächte umwandeln. So sind bei uns Liebe Idealautomat, Mushik und Gott. 617 und Gerechtigkeit in Institutionen, das Wissen in der Technik objektiviert, das Können in Organisationen und Fabriken. Dieser Prozeß, bis in seine äußerst denkbaren Konsequenzen durchgeführt, ergäbe eine vollständige Objektivation aller Lebenskräfte, so daß Subjektivität überhaupt nicht in Frage käme und alles freie Streben durch Automatismen vorweggenommen erschiene. Halady, der Idealautomat, wird kaum je erschaffen werden; aber unzweifelhaft verkörpert sie nicht allein das Arbeiter-Ideal jedes Betriebsbesitzers (man denke an das Taylor'sche System!), sondern das persönliche so manches sich freidünkenden modernen Menschen Solche Einseitigkeit ruft naturgemäß die komplemen- täre Gegenbewegung hervor: so verehren heute viele, und nicht die Schlechtesten, ihr Ideal im russischen Bauern, dem urwüchsigen Menschen, welcher jeder Organisation schlechthin unfähig erscheint, bei dem keinerlei Objektivation, nicht einmal die des Pflichtbegriffs, Verständnis findet, welcher ausschließlich seiner planlosen Subjek- tivität gehorcht. Allein weiser wohl wäre es, sein Ideal weder im Automaten, noch im Mushik, sondern-im Gott zu begründen: einem Wesen, dessen vergeistigte Seele allen intellektualen Objektivatio- nen überlegen wäre, sie frei von innen her beherrschte. An und für sich ist Intellektualisierung ein Gutes. Mag sie vorläufig manches Wertvolle zersetzen — aus dem Zersetzten geht Wert- volleres hervor, denn unstreitig ist es besser, klar zu wissen als nicht zu wissen, was man tut. Ein höheres Bewußtsein bedingt notwendig eine höhere Welt. Was den Fluch unserer Intellek- tualisierungsphase ausmacht, ist, daß wir, der Gegenstände außer uns Herr geworden, uns nun selbsterschaffenen Vergegenständ- lichungen unterworfen haben. Bald werden wir uns über sie er- heben, bald — hoffentlich — erkennen, daß unser Fortschritts- streben, vom Geist des Wissens gelenkt, anstatt dem Unbewußtsein des Automaten, der Allwissenheit zuführen kann. NEW YORK. Die moderne Großstadt ist immerhin ein Wunderbares. Wir Menschen haben heute keinen Grund mehr, zu Ameisen und Bienen aufzuschauen: was die an Zusammenarbeiten leisten, leisten wir auch. Und auch wir sind ohne Frage im Ganzen zu 618 Freiheit durch Besiegung der Natur. kollektivem Dasein geschaffen. Wem frommt die Einsamkeit? Dem Heiligen, dem Denker; schon dem Künstler nur zeitweilig; sämt- liche übrigen leben zu vielen voller als allein. Viele Formen der Vergesellschaftung gab und gibt es; jede weist spezifische Vorzüge auf. Das moderne Großstadtleben nun ist wie kein anderes dem modernen Durchschnittsmenschen angemessen. Hier entsprechen sich Lebenstempo und Gelegenheiten, Bedürfnisse und Befriedi- gungsmöglichkeiten, Notwendig- und Wünschbarkeiten wirklich ganz so gut, wie dies für Ameisen in ihrem Haufen gilt. Noch hie habe ich es so leicht gefunden, mich in einer Metropole zu orientieren, wie in New York. Die äußeren Lebens- notwendigkeiten sind so vollkommen hergerichtet, daß es scheint, man habe nur irgendwohin zu wollen — und schon ist man dort. Alles geschieht mit ungeheurer Schnelligkeit, und doch empfindet man gar keine Hast — weniger Hast jedenfalls als in London oder Berlin; man lebt geschwinder, ohne daß dies Unrast bedingte. Es wird eben nicht nur keine Zeit verloren: das Leben ist so gut organisiert, daß man keine verlieren kann, und dies Bewußtsein gibt der angepaßten Seele die gleiche Ruhe, wie dem Inder das Gefühl, unendlich lange Zeiträume vor sich zu haben. — Das ist die Lösung des äußeren Lebensproblems, die einzige, die für West- länder in Frage kommt. Der Inder ist innerlich freier als wir, weil er auf die Außenwelt keine Aufmerksamkeit wendet; er ist frei auf Kosten seiner Macht über sie. Wir hatten, um diese Macht zu erlangen, unsere innere Freiheit vorläufig preisgegeben, und dies so sehr und in so steigendem Maße, daß sich mehr und mehr Stimmen erhoben, die da „zurück" riefen. Sie vergaßen, daß ein „Zurück" biologisch unmöglich ist und erst recht dem Verderben zuführen würde: haben wir uns einmal mit der Außenwelt ein- gelassen, dann heißt es, wir oder sie; unsere Mentalität, wie sie geworden, verschließt uns, außer in seltenen Ausnahmefällen, die Möglichkeit auf indisch zu entsagen. Unser Weg zur Freiheit führt über die besiegte Natur. Und in der Tat: wo diese wirklich besiegt ist, stellt Freiheitsmöglichkeit sich automatisch ein; dies beweist New York, beweist das ganze Amerikanerleben überall, wo es einen vollendeten Ausdruck gefunden hat. In Amerika wird, auf entgegen- gesetztem Weg, geradezu das Ideal des Inders erreicht. Das Leben hier erscheint im allgemeinen, verglichen mit dem europäischen, wesentlich vereinfacht, obgleich Komfort hier noch mehr gilt als Beste Lösung des äußeren Lebensproblems. 619 dort und viel allgemeiner verbreitet ist: das Überflüssige wird nach Möglichkeit ausgeschaltet, das Notwendige auf die ökono- mischeste Art beschafft; in den Gasthäusern z. B. wird man kaum überhaupt bedient. Weshalb nur? — Ursprünglich beruht dies gewiß auf force majeure, der Notwendigkeit, mit wenig Menschen- kräften auszukommen und von diesen, bei größtmöglicher Achtung ihrer Wünsche, den äußerstdenkbaren Gewinn zu erzielen; aber jetzt besteht das Regime der Einfachheit auch dort, wo es vermieden werden könnte und zwar deshalb, weil die meisten sich an dasselbe gewöhnt und eingesehen haben, daß sich auch ohne überflüssigen Aufwand, und zwar im ganzen besser, leben läßt. Vollkommene Organisation leistet ebensoviel wie ein Sklavenstaat. Während ein solcher aber seinen Herrn demoralisiert, übt die moderne Lebens- vereinfachung, die alle vernünftigen Wünsche befriedigt, aber ein Sich-gehen-lassen auf Kosten anderer ausschließt, eine ähnlich stählende Wirkung aus wie die Askese. Das ist in der Tat die Lösung des äußeren Lebensproblems, die einzige, die für uns Abendländer in Frage kommt. Ist unsere Lösung nicht die beste schlechthin? .... Ich gedenke eines anderen Ausdrucks des gleichen Verhältnisses, unserer Vorstellung von Menschenwürde gegenüber der indisch-russischen der Belanglosig- keit des Individuums; zweifelsohne ist es ersprießlicher, vor sich und anderen gleiche Ehrfurcht zu empfinden, als beide gleich gering zu schätzen. Metaphysisch bedeuten beide Auffassungen gleiches; aber die unsere allein verleiht dem Sinn in der Erscheinung adä- quaten Ausdruck. Nicht nur im Leben der Staaten, in jedem Leben erscheint das Recht zum Dasein darauf begründet, daß es gewahrt wird; nicht weil die Macht Recht schaffe sondern weil dieses im Entschluß zur Wahrung seinen psychologischen Körper hat. Wer sich nicht achtet, gibt sich damit Preis — gleichviel ob jemand da ist, dies auszunutzen. Daher kommt es, daß bei Völkern ohne Würdebewußtsein eine fortschreitende Entwürdigung vor sich geht, während solche, die sich selbst respektieren, ob ursprünglich noch so roh, automatisch innerlich weiter kommen; daß die gewalttätige westliche Menschheit, nicht die sanftere Rußlands und Indiens, einen Zustand herbeigeführt hat, wo sich im Ernst von allgemein anerkannten Menschenrechten reden läßt. 620 Warum das amerikan. Christentum den Reichtum schätzt. Immer mehr beeindruckt mich diese Stadt. Was die äußere Organisation des Lebens betrifft, steht Amerika, in seinen großen Metropolen, ohne Zweifel an der Menschheit Spitze. Ein hoher Grad von Komfort wird ohne sein Zutun jedem zuteil, dies aber hebt unwillkürlich das Niveau der Lebenshaltung. Hier kann der Arbeiter mit Selbstverständlichkeit Ansprüche an das Leben stellen, die ein europäischer Bürger extravagant fände. Nicht allein, daß er besser ißt, trinkt, wohnt, sich kleidet, als dieser, daß er unter besseren hygienischen Bedingungen lebt — er findet es selbstverständlich, seine geistigen Bedürfnisse in einem Grad be- friedigen zu können, die bei uns mancher Höhergestellte sich versagen muß. Wohlstand gilt in Amerika als das Normale. Dies bedeutet etwas absolut Positives. Woher kommt es, daß es gerade hier, nur hier bisher, zu dieser Lösung des Lebensproblems gekommen ist, die für uns Abend- länder die beste schlechthin ist? Vieles hat hierbei mitgewirkt, der natürliche Reichtum des Landes, der alles Streben reichlich lohnt, die größere Energie, über welche der Mensch in ihm verfügt, und anderes mehr; aber an erster Stelle doch wohl, so seltsam dies klinge, die Religion. Alle wichtigeren, sonst noch so ver- schiedenen Formen des amerikanischen Christentums stimmen näm- lich in dem einen überein, daß die Gnade Gottes am materiellen Erfolge auf Erden einen leidlich genauen Prüfstein und Gradmesser habe. Der Gottwohlgefällige muß reich werden; andrerseits: wer nicht reich werden will, der wuchere nicht mit seinem Pfund, arbeite nicht ernsthaft zur Ehre Gottes mit: wer sich bescheidet, sei lau. Was solche Anschauung religiöse Naturen, wie es die Amerikaner angelsächsischer Abkunft meistens sind, im Erwerben anspannen muß, liegt auf der Hand, um so mehr, als der ideelle Ansporn an den Banken, die alle ursprünglich im Konfessionellen rückversichert waren und den zu gewährenden Kredit an der Sekten- angehörigkeit und dem religiösen Eifer ihrer Kunden abschätzteil, einen sehr reellen Hintergrund hatte. Dem amerikanischen Christen- tum fehlt jede Animosität gegen den Reichtum. Wenn der Calvinis- mus schon von vornherein gegenüber dem Luthertum weltzugekehrt erschien, so ist er es in Amerika noch mehr geworden. Zuerst hieß es: man müsse zwar reich werden, doch nur zur Ehre Gottes; seinen Reichtum genießen dürfe man nicht; hieraus erwuchs, da mit dem Wohlstand als Normalzustand des Begnadeten. 62 1 Besitz doch etwas geschehen mußte, die so paradoxale kapita- listische Lebensanschauung, nach welcher das persönliche Leben dem unpersönlichen Kapitale dienen soll. Allmählich verklang die puritanische Grundstimmung; mehr und mehr ward der Wille zur Macht, der Wunsch zu genießen auch hier zum eingestandenen Er- werbsmotiv; aber der religiöse Ursprung der amerikanischen Stellung zum Besitz ist noch heute deutlich zu spüren, noch heute wirkt die Idee, daß Gottseligkeit und Wohlstand zusammenhängen : das äußert sich eben darin, daß der Wohlstand als Normalzustand gilt; dieser wird hier, wenn auch noch so unbewußt, genau im gleichen Ver- stände hochgeschätzt, wie von anderen Sekten die Armut und die Niedrigkeit. Es ist nicht wahr, daß Reichtum dem besseren Ameri- kaner das höchste Gut bedeute, so sehr dies bei vielzuvielen zu- treffen mag: ihm bedeutet er den Exponenten des Höchsten, was einen gewaltigen Unterschied bedingt. Gleichviel, was er unter diesem Höchsten verstehen mag: die Gnade Gottes, die selbstherr- liche Persönlichkeit oder die Energie und den Wagemut schlecht- hin — ihm gilt Wohlstand als Normalzustand des Begnadeten und dies gibt dem Streben nach irdischen Gütern einen spirituellen Hintergrund und einen Sinn, der ihm alles Odium nimmt. So wird der Reiche vom Armen in Amerika nicht gehaßt sondern be- wundert; so findet es dort der Reichgewordene selbstverständ- lich, zum allgemeinen Besten Summen auszugeben, die jedem Euro- päer, der sich ein gleiches leisten könnte, Entsetzen einflößen. Es ist ja leicht, über eine Weltanschauung Worte des Spotts zu finden, welche irdisch-materiellen Erfolg als Gradmesser gött- licher Gnade beurteilt, schon allein deshalb, weil das Dogmen- gefüge, das sie hält, kaum die leiseste Kritik verträgt; Jesu leib- liche Auferstehung zumal ist keine einwandfreie Glaubensstütze. Aber weiser erscheint es, zu begreifen, daß diese Neufassung des Problems vom gegenseitigen Verhältnis des Materiellen und des Spirituellen eine kopernikanische Tat bedeutet — eine Tat von so ungeheurer Bedeutung, daß ihre möglichen Folgen noch gar nicht abzusehen sind. Die Ideale sind nichts Festes, Vorgegebenes, einfür- allemal Bestehendes : der Mensch setzt sie aus sich heraus in die Welt und je nachdem was und wie er idealisiert, erhält die Erscheinung einen neuen Sinn; ein gleiches Phänomen wird, je nachdem man es versteht, zum Ausdruck des Niedersten oder des Höchsten. Bisher galt Reichtum als antispirituell oder als spirituell neutral, was in 622 Die Heiligung des Erwerbsstrebens. der Tat die nächstliegende Auffassung ist. Er ist antispirituell insofern, als Streben nach irdischen Gütern in der entgegengesetzten Richtung rührt als das nach Verinnerlichung, und ihr Besitz ein Genußleben erleichtert; spirituell neutral insofern, als er von Hause aus ein Leben im Geist, wo nicht hindert, doch jedenfalls nicht fördert. Die höheren Religionen haben sich im ganzen ablehnend zum Wohlstand gestellt. Dies hatte sein Gutes überall, wo ent- weder Armut der Normalzustand war, wie im nördlichen Europa bis vor Kurzem, wo also materielles Streben von vornherein zum Mißerfolg verurteilt war, oder aber in jenen heißen Zonen, wo Streben widernatürlich ist. Sobald Streben in der Regel von Er- folg begleitet wird, sobald Reichtum als allgemein-erreichbares Ziel winkt, überall ferner wo Streben als solches zum National- charakter gehört, wirkt eine weltabgekehrte Lebensansicht schäd- lich. Denn da neunundneunzig von hundert Menschen Behagen der Vollendung vorziehen, führt das Fortgelten asketischer Ideale not- wendig dahin, daß das intime Wollen zum vorausgesetzten Sollen in dauernden Widerstreit gerät, was seinerseits schlimme Folgen nach sich zieht. Wer an den überkommenen Idealen festhält, hat dauernd ein schlechtes Gewissen — wohl das Unerfreulichste, was einem Menschen widerfahren kann; wer an ihnen verzweifelt, verzweifelt damit am Idealen überhaupt, wird zum krassen Ma- terialisten; und wer an ihnen zwar zweifelt, aber nicht verzweifelt, dessen Wesen erhält jenen Grundzug der Gebrochenheit, der wie wenig anderes den modernen Kulturmenschen charakterisiert; allen miteinander aber fehlt es an der Idealität, die allein vor- und auf- wärts führt. Was nun tun, um dem Übel zu steuern? — Zwei Wege und nicht mehr stehen offen. Der eine besteht in der Abkehr vom Streben nach materiellen Gütern, der andere in der Heiligung dieses Strebens. Der erste, der immer wieder gepredigt und be- treten wird, führt nicht zum Ziel und kann nicht hinführen, weil Entsagen dem Europäer unnatürlich ist; nicht einer unter Millionen weißer Menschen wird die Armut wählen, wo ihm der Reichtum erreichbar scheint. Also bleibt allein der andere Weg. Auf diesem marschiert die westliche Menschheit unbewußt schon lang. Aus jeder Reform ist das Christentum weltzugekehrter hervorgegangen. Wenn der Katholizismus das Leben in der Welt zwar gelten ließ, aber das mönchische doch als das höhere hinstellte, verneinte Luther das Mönchsideal und sprach das Leben in Beruf und Verkörperung des spirituellen Ideals im temporellen Streben. 623 Ehe heilig. Immerhin predigte er nicht Streben nach Erfolg in der Welt, sondern Sich-Bescheiden in den Grenzen der gegebenen Lebensstellung; ihm galt Leiden noch höher als Tun. Calvin ging weiter. Zunächst erhob er das Tun über das Leiden, ja er machte jenes zur Pflicht; dann aber weihte er — und das war das Ent- scheidende — die Effikazität zum Prüfstein der Auserwähltheit. Damit ward dem Erfolge ein für allemal spirituelle Bedeutung zuerkannt, womit der Bruch zwischen Wollen und Sollen im Prinzip geheilt erschien. Faktisch gelang diese Heilung zwar nicht so bald, weil dem der starre Bibelglaube des alten Calvinismus ent- gegenstand, auch war das entscheidende Moment in den Vor- stellungen der älteren Sekten noch schwach herausgearbeitet. Diese Arbeit haben die späteren geleistet, leisten gerade die jüngsten am erfolgreichsten. So naiv, so roh die Vorstellungen der Christian scientists, der verschiedenen New-thought-Szkten im einzelnen seien — diese religiösen Bildungen haben das ungeheure Verdienst, daß sie die Verkörperung des spirituellen Ideals im temporellen Streben definitiv vollziehen, und zwar in der simplistischen Form, welche allein Massen beeinflussen kann. Wenn kurz und bündig gelehrt wird: wer den Christus in sich entdeckt, der wird auch reich, wird gesund, und zum Vollmenschen im Sinn dieses Lebens, so mag das theoretisch nicht einwandfrei sein — sicher beeinflußt es die Massen im Guten; es lehrt sie die Möglichkeit, ihr Streben nach Gütern dieser Welt mit idealem Streben zu vereinen. Daher der ungeheure Erfolg dieser Lehren und ihre im ganzen so günstige Wirkung. Nietzsche hat prinzipiell gleiches erstrebt wie der New thought, und seine Lehren sind philosophisch befriedigender; gleiches erstreben die meisten neueren Weltanschauungen, ob religiös oder areligiös; aber die amerikanische hat den unermeß- lichen Vorzug für sich, daß sie die alten Glaubensvorstellungen bewahrt und ihnen nur einen neuen Sinn erteilt (dies gilt auch von der William James' ; diese setzt, vielleicht ohne es zu wissen, die neuchristlichen Grundvorstellungen voraus). Nie wird es ge- lingen, das Christentum in uns zu überwinden; dagegen wehrt sich ein übertausendjähriger Atavismus; alle neuen Ideen werden sich mehr oder weniger offenkundig in alten Formen verkörpern müssen, um weitreichende Wirkungskraft zu erlangen. Die Brücke zwischen dem modernen Geist und den alten Vorstellungen ge- funden zu haben, bezeichnet die Großtat Johann Calvins; jenen 624 Genügsamkeit kein Vorzag. mehr und mehr in diesen zu verkörpern, ist das Streben aller späteren Bildungen. Daß diese aber wirklich auf richtiger Bahn sind, ist heute schon klar. Es gibt nicht nur keine freudigeren, unbefangeneren Menschen, als die durch diese Vorstellungen ge- formten — es gibt keine idealeren; sie vor allen sind berufen dazu, dem modernen Leben den spirituellen Gehalt zu geben, der ihm im ganzen so sehr fehlt. Schon heute ist Amerika auf diesem Wege so weit voran- geschritten, daß dort Wohlstand als Normalzustand gilt. Hiermit erscheint, praktisch wie ideell, vom Standpunkt dieser Welt ein unbedingter Fortschritt erzielt: stellt sich die allgemeine Alter- native, an der Fülle oder am Mangel Genüge zu finden, dann ist die erstere vorzuziehen. So viel besser in der Tat Genügsamkeit sei als Abhängigkeit von bestimmten günstigen Umständen, zumal als Leiden an der Unbefriedigtheit — im Ganzen ist wohl gewiß, daß Bedürfnislosigkeit dem Erdbewohner nicht frommt, daß diese als Anlage keine Tugend ist und erzwungen selten Gutes wirkt. Denn wer nichts wünscht, ist meist dürftig organisiert, jedes Organ strebt nach Betätigung, jeder Trieb nach Ausdrucksgelegen- heit; und wer sich bescheidet, gibt Wachstumsmöglichkeiten preis. Ja schlimmer noch: in engen Verhältnissen können sich nicht allein die meisten Anlagen nicht allseitig entfalten, jene hemmen gerade die Entwicklung der edelsten; ein freies, vollausgeschlagenes Menschen- tum ist immer nur auf dem Boden der Befriedigtheit gediehen. Weshalb? Weil die Bedürfnisse einer Natur, solange diese besteht, durch Grundsätze nicht eskamotiert werden können, weil sie gestillt werden müssen, auf daß der Geist seine Freiheit erlange. Sind sie es nicht, so finden Stauungen statt, Verdrängungen, Selbstver- giftungen der Seele; was sich in Schönheit hätte vollenden können, verbildet sich nun zu scheußlicher Mißgestalt. So löst verdrängte Sinnlichkeit unausweichlich obszöne Bilder aus, verbissene Krän- kung hämische Rachegedanken; so zieht Armut, schmerzlich als solche empfunden, unvermeidlich Neid, Mißgunst und Ressentiment heran. Dies denn heiligt den Materialismus unserer Ära: indem bewußtermaßen nur möglichst günstige Lebensverhältnisse für alle erstrebt werden, wird tatsächlich ein edleres Leben angebahnt. Je erfreulicher jene, desto weniger Nahrung findet das Häßliche, desto mehr das Edle; es ist ein allgemeiner äußerer Zustand denk- bar, in welchem Mißgunst, Mißtrauen und Ressentiment, als Glück kein Ziel, aber das beste Mittel. 625 Absurda, lebensunfähig erscheinen werden. Insofern kann Armut allerdings als absolutes Übel gelten, und Streben nach Reichtum, gemäß der amerikanisch-christlichen Lehre, als gottwohlgefälliger denn Bescheidung beim gegebenen. Der heutige unerfreuliche Zu- stand der weißen Menschheit rührt nicht daher, daß sie Bedürf- nisse hat, noch weniger daher, daß sie dieselben nicht befriedigen könnte — keine hat in letzterer Hinsicht unter nur annähernd gleich günstigen Bedingungen gelebt — ; sie rührt daher, daß deren Befriedigung ihr noch nicht selbstverständlich ist. Dieser unglück- liche Übergangszustand wird bald überwunden sein. Dann aber wird sich erweisen, daß die Früchte, die nur der Weltverneiner bisher geerntet, auch dem Weltbejaher zuteil werden können, daß, so wenig Glück als Ziel menschlichen Strebens gelten kann, es doch das beste Mittel ist zu seiner Erreichung. Aber freilich ist in Amerika die Kluft zwischen äußerem Vorgeschrittensein und innerer Vollendung noch weiter als in Europa. Beim Verpflanzen wurden die alten Wurzeln des Europäers verschnitten und die neugebildeten sind noch nicht tief in die Erde eingedrungen; auch wurden der Hauptmasse nach unveredelte Gehölze verpflanzt, die auf dem fetteren Boden, ohne Schulung, an Rassigkeit noch eingebüßt haben: so darf es nicht weiter wundernehmen, daß der höheren Zivilisation ein niedrigeres Kulturniveau entspricht. Auch in der alten Welt bedeutet Voll- kommenheit der Einrichtungen in bezug auf den Menschen wenig genug. Die Objektivierung der idealen Forderungen in Institutionen hat bei allen Vorteilen den Nachteil mitbedingt, daß jene an subjektiver Wirkungskraft verloren haben. Wir sind oberflächlicher als die Inder, weil bei uns die geistigen Mächte an die Oberfläche gezogen worden sind, wo sie nun automatisch funktionieren, ohne die Seele notwendig in Mitleidenschaft zu ziehen, während sie bei jenen in deren Tiefe wirken und daher, wo überhaupt lebendig, innerlichst beeinflussen. Aber beim Europäer bleibt immerhin spür- bar, daß das Äußerliche von innen hervorgesprossen ist. Man nehme einen noch so ausgesprochenen Zweckmenschen: ist er aus altem Stamm, so hat er den Humanismus unserer Klassiker, den Idealis- mus des Entdeckungszeitalters, die hohe Ethik des Mittelalters, Keyserling, Reisetagebuch. 40 626 Fortschritt führt nicht zur Vollendung. zuletzt die antike Kultur zum lebendigen Hintergrund, dies aber gibt ihm eine geistige Atmosphäre und seinem Tun eine Bedeut- samkeit, welche besteht, auch wo sie seinem Bewußtsein ganz entgeht. So spürt man durch alle europäische Oberflächlichkeit hindurch die mögliche Tiefe, in jedem maschinellen Betrieb seine mögliche Beseeltheit; man hat bei den äußeren Einrichtungen, die zunächst auf nichts Innerliches hinweisen, das Gefühl, das man neuen Organen gegenüber hat, mit denen man noch nicht umzu- gehen weiß: man fühlt, noch geht es nicht, aber es wird bald gehen. Denn unsere Geschichte steht dafür Gewähr. Der Louvre steht gut dafür, daß der Eiffelturm dereinst ein lebendiges Sym- bol bezeichnen wird, die Kathedralen bürgen dafür, daß Fabriken werden dem Geist dienen können. Dieses trostreiche Gefühl über- kommt einen in Amerika nicht. Die allermeiste Tatsächlichkeit ist Tatsächlichkeit schlechthin, ohne lebendige Bedeutung und ohne Hintergrund. Dieses Gefühl ist gewiß nur bedingt gerechtfertigt; zwischen amerikanischen und europäischen Zuständen besteht kein Unter- schied des Wesens sondern nur des Grades. Die so verschwende- risch ausgestatteten amerikanischen Universitäten sind ohne geistige Atmosphäre, die amerikanischen Prachtbauten ohne Symbolik, die Amerikaner selber nur zu oft bis zur Seelenlosigkeit flach, weil hier die auch bei uns bestehende Diskrepanz zwischen Äußerem und Innerem noch größer ist. Die Amerikaner sind innerlich roher und jünger als wir und äußerlich weiter: so treten die Nachteile dieses schiefen Gleichgewichtszustandes bei ihnen deutlicher an den Tag. Es wäre auch ganz in der Ordnung so und kein Wort darüber zu verlieren, wenn nicht die Neue Welt, anstatt der alten, nachzu- streben, dieser voraneilte und mehr und mehr zu ihrem Vorbild würde. Dieser Umstand weckt sorgende Gedanken. Ich denke zurück an alles Positive und Negative, was ich an den Vereinigten Staaten wahrgenommen, an die vielen Vergleiche zwischen Orient und Okzident, die ich angestellt, an die allge- meinen richtunggebenden Ideen, die sich in meinem Bewußtsein mehr und mehr im Laufe meiner Wanderungen präzisiert haben. Es ist allerdings Zeit, daß die westliche Menschheit erkenne, daß sie auf dem Wege des „Fortschritts" das „Eine, was not tut" nicht finden wird; sie gewinnt nur vollkommenere Ausdrucksmittel da- für. Daß solche ihr zu eigen werden, ist freilich gut; nichts wäre Vollendung als einziges Ziel. 627 törichter, als sie verleugnen zu wollen. Nachdem dieses aber ge- schehen, ist das Lebensproblem nicht etwa gelöst, sondern es stellt sich in unveränderter Gestalt. Das einzige absolute Ideal des individualisierten Lebens wird durch den Begriff der Vollendung bestimmt. Der Vollendung nun ist der noch so vorgeschrittene Moderne ferner, als irgendein Wesen. Er steht ihr ferner nicht allein als der Chinese, als der Mensch der Antike und des Mittel- alters, er steht ihr ferner als der Australneger, und viel ferner als jede Pflanze und jedes Tier. Solang er dies nicht einsieht, sondern im Wahn befangen bleibt dank seinem „Fortschreiten" wesentlich weiterzukommen, wird kein äußerer Gewinn ihm zu innerem Heil gereichen; sein Mensch wird fortverflachen und -verkümmern pro- portional dem Zuwachs seiner Mittel. Erkennt er es hingegen und wendet es um, dem einzig wahren Menschenziele zu, dann, aber allerdings nur dann, wird das bisherige Verhängnis ihm zum Segen umschlagen. Es ist nicht notwendig, daß materielle Macht, so böse sie an sich sei, der Seele schade, nicht wahr, daß Verstandeskraft zersetzen muß; jene kann zum Organ göttlicher Güte werden, diese zum Mittel geistlicher Wiedergeburt. Es ist ein Irrtum, daß die Bewegtheit unseres Lebens Vertiefung ausschließe, denn alles Leben ist bewegt, nicht richtig, daß unser Streben ins Unbegrenzte, da Vollendung doch an Grenzen gebunden sei, solche prinzipiell un- möglich mache, denn Grenzen des Strebens und des Strebenden sind zweierlei; jeder Einzelne wird immer früh genug seine Grenze finden. Vom Standpunkte des Geistes ist es eins, ob einer einen festen oder einen flüssigen Körper trägt. Gelangen wir nur dahin, auf unsere Art vollkommen zu werden, unseren so wunderbar reichgestalteten Leib durchaus zum Ausdruckmittel des Geistes zu machen, so werden auch wir am Ziele sein. Nach Vollendung sollen wir streben, nach Vollendung allein. Nicht nach „Erneuerung", der Lieblingslosung moderner Welt- verbesserer. Nach Erneuerung streben, heißt das Heil von einer neuen Sondergestalt erwarten — einem neuen Mythos, einer neuen Lebensform, einem neuen Menschentypus, der aus dem alten hervorgehen soll. Wenn aber etwas gewiß ist, dann ist es dies, daß das Heil von dort her nicht mehr kommen wird. Das Ideal der Erneuerung bedeutet nichts anderes, als die äußerste Subli- mierung des Fortschrittsideals; es konnte fördern, solange der Mensch das Wesen unmittelbar zu sehen noch nicht gelernt hatte. 40* 628 Das Heil kommt nicht von neuer Gestaltung. Damals bedeutete die Geburt einer neuen Form in der Tat die Offenbarung eines neuen Inhalts. Vom antiken Heidentum zum Christenglauben fand äußerlich zwar nur ein „Fortschritt" statt, aber dieses Fortschreiten bedingte gleichzeitig ein „Vollenden" insofern, als sich die Masse in dieser neuen inneren Form viel tiefer ihrer selbst bewußt wurde. Immerhin: schon damals be- deutete Bekehrung ungefähr das, wie in der Geometrie eine Hilfs- konstruktion; Marc Aurel stand, so wie er war, nicht niedriger als der/ heilige Ambrosius, hätte durch Glaubenswechsel nicht ge- wonnen; schon damals gereichte solcher nur Nicht -Wissenden zum Heil. Heute aber wissen die meisten viel zu viel, um durch Formveränderung zu gewinnen, zu viel, um eine Form noch soweit ernstzunehmen, daß diese ihre Gestaltungskraft voll ausüben kann. Es erstehe morgen ein geistliches Genie, das die bestmögliche Religion verkündete — seine Tat wird nicht an- nähernd mehr das bedeuten, wie diejenige Luthers; seitdem der Sinn an sich den Menschen bewußt zu werden beginnt, wird es Zeit für sie, die Aufgabe umzustellen. Es gilt nicht mehr, neue Formen in die Welt zu setzen, um sich vermittelst ihrer tiefer zu realisieren, sondern unmittelbar nach Wesenserkenntnis zu streben, das aber heißt: seinen tiefsten, innersten Gehalt in beliebigem Rahmen zum Ausdruck zu bringen. Strebt der Mensch nur nach Erfüllung, nach Vollendung, dann ergibt sich das weitere von selbst; dann kommt es mit Unvermeidlichkeit, je nach den Um- ständen, zur „Erneuerung", zur „Bekehrung", zur Wiedergeburt"; dann ersteht ganz von selbst, wenn die Zeit es verlangt, auch die neue historische Gestalt. Mögen es der Zahl nach noch so wenige sein, welche wissend über Name und Form hinaus sind, unwissent- lich sind wir's alle; ein Endziel kann Gestaltung an sich uns nie mehr sein. Nach Vollendung sollen wir streben, nach Vollendung allein. Als Abendländer sind wir spezifische Geschöpfe von ausschließ- licher Anlage, die ihr Sonderschicksal erfüllen müssen. Nie werden wir unseren physiologischen Grenzen entrinnen, nie wird uns frommen uns selber untreu zu werden, jeder Versuch, aus unseren historisch bedingten Schranken auszubrechen, kann nur schaden. Wir sollen nicht zerschlagen wollen was wir erschufen, aus theo- retischen Erwägungen heraus keine gewaltsamen Veränderungen vornehmen, sondern organisch fortwachsen dem Zustand entgegen, Die Westländermission. 629 der unserem Sonderstreben als dessen Krönung winkt. Aber wir sollen jetzt, da wir erkannt haben, daß unser empirisches Ziel kein Selbstzweck ist und unsere Eigenart kein absoluter Wert, unmittel- bar in und aus dem Wesen leben lernen. Dann erst, dann aber sicher, wird unser „Fortgeschrittensein" zum Ausdruck des „Einen, was nottut" werden, damit zur vorgeschobenen Etappe auf dem Wege zum Menschheitsziel. Dann wird sich erweisen, daß, so viel Unheil wir bisher über die Welt gebracht, dank unserem wahn- witzigen Streben, die ganze Schöpfung unserer Eigenart zu unter- werfen, es doch wahr ist, daß wir berufen sind zu einer hohen Mission. Dann wird sich nämlich, dank uns, die Einheit des Lebens- ganzen, sein unzerreißbarer wesentlicher Zusammenhang, wie nie zuvor im Reich des Erscheinenden ausprägen. Diese Ausprägung hat Indien nie überhaupt versucht. Chinas Leistung, sonst so be- wunderungswürdig, krankte daran, daß es als Menschen nur Chi- nesen gelten ließ. Was aber des Westens frühere Universalitäts- bestrebungen betrifft, so scheiterten sie daran, daß er trotz rich- tiger allgemeiner Tendenz den Ansatz verfehlte, aus dem Allgemein- und Sonderprobleme auf einmal zu lösen sind. Die der Spätantike mündeten in Elektizismus und Synkretismus ein, innerhalb des Christentums verdichteten sie sich zur Wahnidee, daß eine Kirche das ganze Menschengeschlecht umfangen könne; im 17. Jahrhundert gewannen sie in der ungenauen Vorstellung Form, daß alle Denk- und Glaubensgestaltungen Erscheinungen eines einheitlichen, jedem gleichmäßig eingeborenen „natürlichen Lichtes" seien, und ver- siegten im 18. in schaler Gleichmacherei. Wir nun besitzen den Ansatz, aus dem allein alles Einzelne vom Ganzen her bestimmt werden kann: in der Objektivierung, welche die geistigen Mächte durch uns erfuhren, ist die einzig haltbare Verbindung geschaffen worden zwischen Ideen- und Erscheinungswelt. Unsere Erkennt- nisse sind objektiv; die Beziehungen, die zwischen den verschie- denen Phänomenen entdeckt wurden, bestehen unabhängig von allem Meinen; die Gesetze, welche wir feststellten, gelten an sich: also kann es gelingen, das Leben nicht mehr einer persönlichen Formel gemäß, sondern seinem Eigen-Sinn nach zu verstehen und zu ge- stalten. In uns hat die Menschheit die Bewußtheitsstufe erstiegen, welche Name und Form notwendig übersieht. Damit ist geistiger Ausschließlichkeit für immer der Boden entzogen, ein allgemeiner Zustand angebahnt, wo alles Einzelne, bei überzeugter Verfolgung seines Sonderziels, sich doch als Glied des Ganzen wissen wird. 630 Die künftige Solidarität der Menschheit. Schon heute ist es jedermann möglich, sich über Sinn und Bedeutung jeder Erscheinung im Zusammenhang Gewißheit zu verschaffen, folglich auch möglich virtuell, sich im Zusammenhang zu behaup- ten; schon heute braucht einer anderes nicht mehr abzulehnen, um unbefangen er selbst zu sein. Dies alles muß schließlich zu einer in der Geschichte unerhörten Verbreiterung der Lebensbasis führen, zugleich zu einer niedagewesenen Vertiefung jeder einzelnen Lebens- tendenz. Wenn es vormals hieß: Nationalgefühl oder Weltbürger- tum, so wird bald eines das andere bedingen; die verschiedenen Kultur- und Glaubenstypen werden einander mehr und mehr als Ergänzungen achten lernen; das „Er oder Ich" früher Stufen wird sich in immer vollerem Maße in bewußtes Zusammenarbeiten um- setzen. Und dies beinahe unabhängig von allem guten Willen, weil das Leben an sich ein zusammenhängendes Ganzes ist und das Bewußtgewordensein eines wirklichen Verhältnisses mit Not- wendigkeit dessen gesteigerte Darstellung nach sich zieht, dank immer inniger vermittelnden Objektivationen. Schon sind in Gestalt der Wissensinhalte, des Geldes, der wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeit Grundlagen da, auf denen Verständigung im Prinzip unvermeidlich ist; bald wird Gleiches von den Rechtsbegriffen gelten. Die Objektivationen wirken ihrerseits auf das Subjektive zurück. Mehr und mehr führende Geister verleugnen alle national- kulturelle Ausschließlichkeit, täglich machtvoller wird das Zusam- menhangsgefühl aller arbeitenden Massen; eines gebenedeiten Tags wird sich die Menschheit durchaus solidarisch wissen, durch allen notwendiger Kampf und Gegensatz hindurch. Diese bessere Welt herbeizuführen — nicht die ganze Schöpfung zu verwestlichen — ist unsere Westländermission; unsere besondere Physiologie, unsere Geschichte beruft uns wie niemand sonst dazu, in Leben umzu- setzen, was Inder bisher am tiefsten erkannten. Aber unsere Lebens- formel bleibt doch eine unter anderen, und wenn wir auch glauben dürfen, daß sie die vom Standpunkte der Geistesverwirklichung glücklichste ist, weil sie einerseits vollkommene Durchdringung der Erscheinung durch den Sinn postuliert, anderseits in der Idee die umfassendste Gestaltung zuläßt, so dürfen wir doch niemals vergessen, daß v kein Phänomen die anderen resümiert, kein Wert alle erschöpft, eine Art der Vollendung die übrigen ausschließt, daß Totalität das Ziel aller Entwickelung ist und dem Einzelnen nie mehr gelingen kann, als sich innerhalb enger Grenzen zu vollenden. Sinn geistigen Strebens nicht irdische Erfßllung. 631 Vernunftgemäßer Voraussicht nach müßte die Symphonie des Geistes auf Erden fortan immer schöner erklingen. Immer reiner müßten die Einzelstimmen tönen, immer besser untereinander har- monieren, auf immer vollere Grundtöne abgestimmt; die ursprüng- lich chaotische, zeitweilig barocke, dann wieder überdifferenzierte Schöpfung müßte zuletzt in vollendeter Klassik ausklingen, jener monumentalen Einfachheit, die allen Reichtum in sich beschließt. Wandel ist des Lebens Weg, immer neu ist es erschienen; wird seine Entwicklung fortan vom immer tiefer bewußten Geiste ge- lenkt, so müßten vorläufige Formen immer mehr endgültigen Plat^ machen, müßte die Differenziation langsam umschlagen in Inte- gration. Allein, Vernunfterwartungen werden nicht immer erfüllt. Die altgriechische Vorstellung, nach der es Hauptabsicht der Götter sei, alles Edele auf Erden auszurotten, wird dem Charakter der Wirklichkeit leider besser gerecht, als die Vorsehungsidee. Ein dummer Zufall mag die Entwickelung irgendwann abschneiden, Katastrophen, Seuchen, Barbaren mögen wieder und wieder den Geist seiner besten Träger berauben, bis zum Erduntergang mag es bei Ansätzen bleiben. Dieser Planet war von je eine Stätte der Anfänge, nicht der Erfüllungen. Mit der Spätantike schien ein Zeitalter endgültiger Universalität hereinzubrechen und es erfolgte Barbarisierung; individualistische Kultur blühte in Hellas, im Italien der Renaissance, blüht heute wieder, und wie die früheren alle plötzlich abstarben, so mag es auch diesmal kommen. Die Evolution des Geistes hat kein zuverlässiges Mittel an dieser Welt, in der tausend verschiedensinnige, einander feindliche Entwicklungsreihen sich kreuzen. Sein eigentliches Ziel liegt überhaupt nicht in ihr. Das Unendliche, das wir ins Endliche zu bannen trachten, entrinnt uns ewig; die Vollendung, der alles Lebendige als seiner höchsten Erfüllung nachstrebt, ist keine Erfüllung im irdischen Verstand, denn Verfall folgt ihr und Tod, kein Ideal ward jemals restlos verwirklicht — käme es aufs Erreichen an im Rahmen von Zeit und Raum, dann wäre aller Idealismus sinnlos. Aber er ist es nicht. Sein Sinn liegt in einer anderen, geistigen Welt, der wir wesent- licher als dieser angehören, und alles Streben hienieden dient nur dazu, im Geist zu wachsen: auf dem Wege zum Ziel, das ein zeit- lich-Imaginäres ist, wird unser Eigentliches wirklich. Wir sollen das Himmelreich auf Erden begründen wollen; je näher wir dem kommen im Überwinden materiellen Widerstands, desto mächtiger 632 Vollkommenheit der Erde nicht Selbstzweck. wird der Geist; auf einer vollkommen gemachten Erde könnte er sich vielleicht vollkommen manifestieren. Aber die Vollkommenheit der Erde ist nicht Selbstzweck: dies gilt es zu begreifen, um der Wirklichkeit nicht Unrecht zu tun. Freilich endet alles Leben mit dem Tod, ist alle Vollendung hinfällig, kurzfristig und die meiste vom zeitlichen Standpunkt zukunftslos. Aber es kommt nicht an auf die Zeit. In jeder vollkommenen Lebensverwirklichung aktua- lisiert sich das Ewige, wird das Wesentliche erreicht, zu dem zeitliche Entwickelung nur das Mittel war. Insofern kann man sagen, daß der Fortschritt in der Idee ein Wesentlicheres ist als der reale Fortschritt, obgleich jener sich nur in diesem realisiert, und daß es nicht wesentlich darauf ankommt, ob- kosmische Zu- fälle dem Geist volle Verwirklichung auf Erden gestatten. Wir dürfen Meister Eckhart Glauben schenken, wenn er verheißt: „Gebricht dir's nicht am Wollen, sondern allein am Vermögen, wahrhaftig! vor Gott hast du alles getan." Das Schiff, das mich heimträgt nach Europa, fährt gerade an der Freiheitsstatue vorbei. Wie vielen ist ihr Anblick die Verheißung eines neuen, besseren Lebens gewesen! wie vielen Millionen symbolisiert sie ihr Ideal! Ich denke zurück an die Gespräche mit Ausgewanderten, die ich gehabt: da war nicht einer, der nicht mit Stolz erfüllt gewesen wäre darob, ein freier Amerikaner zu sein. ... Ich kann im Zustande der Neuen Welt von heute nichts Ideales sehen; sie ist nicht wirklich freier als die alte. Weniger Freiheit als Willkür herrscht in ihr — die Will- kür nicht Eines zwar, wie in asiatischen Despotien, sondern die jedes Einzelnen, was nicht besser ist. Das allgemeine Wahlrecht hat in verfeinerter Gestalt das Faustrecht wiedererweckt: durch Geigen auf Stimmungen und Trieben, durch suggestive Einwirkung, durch das mechanische Ergebnis schlauer Intrigen wird hier ent- schieden, wer regieren soll, welcher Entscheidungsmodus sich von dem der Raubritterzeit genau nur insoweit unterscheidet, wie Ver- führung von Vergewaltigung. Beamtenbestechung und -bestechlich- keit sind wenig seltenere Erscheinungen als in Rußland. Der „Wille des Volks" äußert sich im ganzen als Regiment der Inkom- petenz. Die Macht, die überlegenen Menschen nicht zuerkannt wird, ist toten Maschinen (trusts, caucus, Wahlbureaus) zuteil Wesentliche Freiheit des Menschen. 633 geworden und die Voraussetzung der Gleichheit aller, nicht nur vor Gott und dem Gesetz, sondern als Menschen untereinander, hat das geistige Niveau herabgedrückt in unerhörtem Grad. Die meisten der Vorzüge Amerikas vor Europa, auf die ich in meinen Be- trachtungen hinwies, bestehen vorläufig nur in der Idee Dennoch sehe auch ich in der Freiheitsstatue ein Symbol: sie be- zeichnet die erste, noch so mißverständliche Verkörperung des politischen Ideals. Jeder Mensch ist wesentlich frei; das heißt, sein allerinnerstes Wesen unterliegt schlechterdings nur seiner Bestimmung. Von den zwei Schachern, die neben ihm am Kreuz dem Tod entgegen- schmachteten, konnte Jesus nur einem das Paradies versprechen, dem, dessen Wille ihm entgegenkam; für und über den anderen, welcher sein Herz vor ihm abschloß, vermochte er nichts. Bis zum tiefsten Subjekt reicht keine Macht von außen hinab. So hat man den erst wirklich überzeugt, der nicht bloß nachgab unter dem Druck der Suggestion, sondern selbständig erwählte, was man ihm vorhielt; so kann man ein Weib wohl vergewaltigen, aber unmög- lich zu willentlicher Hingabe zwingen und nur der, dem es sich freiwillig gab, besitzt es wirklich. Dieses innerste, schlechthin autonome Ich ist aber nicht von vornherein Mittelpunkt der be- wußten Person: ursprünglich existiert es nur als Keim, es ent- wickelt sich allmählich, wächst langsam hinein in diese und bis es mit ihrem Zentrum verschmolzen ist, kann man nicht sagen, daß der Mensch aus seiner Freiheit heraus lebe. Die junge Seele reagiert bloß triebhaft auf äußere Einwirkungen; ihr eigentliches Selbst schläft, und wo es erwacht, ermangelt es der Initiative. Mehr als ja oder nein zu sagen zu dem, was mit ihr geschieht, vermag es nicht, und da dieses Urteilen bei kaum vorhandener Intellektualität nur ausnahmsweise der Erkenntnis entspringt, so muß man sie leiten. Auf dieser Stufe bedeutet hellsichtig aus- geübte reine Gewalt, die auf das Meinen und Wollen keine Rück- sicht nimmt, die beste Behandlung. Auf höherer wird jene füglich durch die Rückwirkung psychischer Bindungen — von Glaubens- sätzen, Vorurteilen, Pflichtvorstellungen — ersetzt, die, von außen oktroyiert, passiv aber doch bewußt-zustimmend hingenommen werden; hier erlebt der Mensch sein Wesen mittelbar im Spiegel- bild auslösender Objektivationen. Auf der höchsten, die der voll- endeten Geburt des Selbst entspricht, kann der Mensch kein äußeres 634 Der Weg zur Freiheit, Motiv mehr als Letztes anerkennen, hier weiß er, daß, wozu man ihn auch zwänge, was immer er triebhaft täte, nichts durch ihn geschieht, solang sein freier Wille, in verstehendem Bewußtsein dessen, was er will, nicht die Initiative hat; hier lebt er unmittel- bar, nicht mehr bloß mittelbar, aus seiner Freiheit heraus. Auf dieser Stufe erst ist er wirklich frei. Wer sie nun erstieg, der will auch andere nicht mehr zwingen, weder vergewaltigen noch auch suggestiv beeinflussen, da Gleiches wesentlich von jedem gilt; sein Wunsch, auf andere zu wirken, geht nur mehr darauf, jedes Freiheit zur Vollendung zu führen. — Dieser Entwicklungs- gang des Einzelnen hat im Sozialen sein Spiegelbild. Je entwickelter eine Nation, desto widerwilliger erträgt sie rein-äußere Bestim- mung. So sehen alle Regierungen sich gezwungen, immer metir mit der Regierten Willen zu rechnen, arbeiten die weisesten bewußt daraufhin, sie zu vollkommener Autonomie zu erziehen. Im Fall der Völker wie der Einzelnen läuft dieser Prozeß nicht in gerader Linie ab, sondern in Form einer bewegten, manch- mal rückgreifenden, oft gebrochenen Kurve, durch Stillstände hin- durch, und da die Menschen im Werden nie klar sind über das, was sie wollen, so begehen sie Irrtümer. So hat die Emanzipierung des Geistes zuerst zur Verwerfung aller ererbten Weisheit geführt, zu Immoralismus, Positivismus, Nihilismus — Weltanschauungen, die um vieles törichter sind als die überkommenen aus den Zeiten größerer Bindung; so hat die der Völker zunächst, indem sie will- kürlich die Ordnungen zerbrach, die organisch aus kumulierter Erfahrung emporgewachsen waren, mehr Unheil als Heil bewirkt. Hier wie dort waltete ein gleiches Mißverständnis: man wähnte, die alten Gebote und Ordnungen seien inhaltlich falsch, während sie tatsächlich wahr und berechtigt waren, und das zu Über- windende nur darin bestand, daß es sich um äußerlich Aufgezwun- genes handelte; der Entwickelte will freiwillig tun können, wozu der Unentwickelte gezwungen werden muß. Wenn jener keiner Vorurteile, keines Dogmenglaubens, keiner Grundsätze noch Pflicht- vorstellungen bedarf und faktisch ohne sie lebt, so liegt dies daran, daß Grundsätze, Dogmen und Pflichten Objektivationen dessen sind, was der Geist im tiefsten und letzten will, als solche natür- lich unzulänglich, weil nie erschöpfend, nie einwandfrei bestim- mend und immer schematisch und starr, — er, der Freie aber un- mittelbar-bewußt aus dem Selbst heraus lebt, dessen Wollen alles Falschverstandene Freiheit schafft Fesseln. 635 Sollens Seinsgrund ist. Nun bezeichnet freilich der vollkommen Freie ein Ideal, das im Lauf der Geschichte seltene Male verwirk- licht ward; wie die seelische Entwicklung nicht damit beginnt, daß die naturhafte Unmittelbarkeit wächst — der Naturwüchsige weiß nichts von seinem Subjekt — sondern daß die Objektivationen, die der Geist aus sich herausstellt, immer genauer dem Streben des tiefsten Ichs entsprechen, so gelingt die Wiederauflösung dieser auch nur stufenweis. Allein das Ziel ist überall, aller Vermittelung entraten zu können, unmittelbar aus dem Grund heraus zu leben, sein Bewußtsein so vollkommen in ihm zu zentrieren, daß die per- sönlichen Wünsche dessen Wachstumsnormen widerspiegeln, daß man mit Paulus sagen kann: nicht ich lebe, sondern Gott lebt in mir. Dieses erreicht nur der Überwinder seiner Person, der so tief Verinnerlichte, daß er sein höchstes Glück nicht in befriedigter Selbstsucht, sondern im Opfer findet, im Geben ohne Wieder- Nehmen-Wollen, in gotthafter Spontaneität. Der Drang nach Freiheit erwacht meist, wie gesagt, bevor die Erkenntnis reift, was jene bedeutet, worin sie sich äußert, und dies bedingt vorläufig Verrohung und Verflachung. Dieses Verhält- nis illustriert die Neue Welt mit oft abschreckender Deutlichkeit. Die Amerikaner haben weniger als alle begriffen, daß, wenn die von außen aufgezwungenen Schranken fallen sollen, dies nicht zu dem Ende ist, daß Schranken überhaupt fehlen müssen, sondern daß sie freigewählten Platz machen sollen. Sie wollen noch nicht wahrhaben, daß die ererbten, im Besonderen noch so konventio- nellen Ordnungen unter den Menschen Wirklichkeiten ausdrücken, daß Unterschiede im Seelenalter, des Charakters, der Begabung, ja der angeborenen Stellung'ein ebenso Reales sind, wie die zwischen chemischen Elementen, und daß kein Gott, so lange er in der Sphäre der Natur verweilt, deren Gesetzen entgegen schaffen kann; sie wollen frei sein, ohne dem empirisch-Wirklichen Rechnung zu tragen. Die Folge dessen ist, daß das Leben, anstatt selbstherr- licher zu werden im loseren Rahmen, seiner Autonomie fortschrei- tend verlustig geht. In der modernsten Demokratie wird das Ge- schehen in einem Grad von mechanischen Gesetzen bestimmt, wie in keiner antiken Tyrannis: hier entschied immerhin ein Lebendiges, gut oder schlecht, dort entscheidet der Zufall, die Macht der Um- stände, die Konjunktur; dort ist das Leben schlechterdings ab- hängig von anorganischen Gewalten, wie der Chemiker, der ohne 636 Die Erfüllung des demokratischen Ideals, Kenntnis arbeitet, vom „Gutdünken" seiner Ingredienzien; entsteht ein Sprengstoff unter seinen blinden Händen, so fliegt er auf. Aber diese Erfahrung mußte gemacht werden. Nur überzahlte Erkennt- nis wird der Menschheit zu dauerndem Besitz. Irgend einmal wird der Demokratismus überstanden sein. Dann aber wird sich zum Erstaunen Vieler zeigen, daß sich die Menschheit in ihrem dunklen Drang auch dieses Mal des rechten Wegs bewußt gewesen ist. Jene äußerliche Schrankenlosigkeit, die im heutigen Amerika Willkürherrschaft und Barbarisierung bedingt, wird einer innerlich höchstgebildeten Menschheit den ent- sprechendsten Lebensrahmen gewähren. Die wird so weit wissend geworden sein, daß sie dem Seelischen nicht anders gegenüber- stehen wird, als wir der Natur. Die wird psychische Tatsachen ebenso selbstverständlich gelten lassen, wie materielle, dem inner- lich Höherstehenden selbstverständlich, ohne Streit, auch die höhere äußere Stellung zuerkennen, des bewußt, daß es ebenso wider- sinnig ist, über Menschenwert durch Stimmenmehrheit zu ent- scheiden, wie über das Dasein des Seleniums. Die wird sich selbst- verständlich selbst begrenzen überall, wo es der Grenzen bedarf. So werden vorgegebene Schranken nicht mehr vonnöten sein. Und dann wird ein Erstaunliches geschehen: die Idee, die dem Demo- kratismus als Äußerstes zugrunde lag, wird sich als nicht allein wahr im Prinzip, sondern als darstellbar in der Erscheinung er- weisen. Was ist ihr letzter Sinn? Kein anderer, als daß der Geist mächtiger ist als die Natur; daß keine natürliche Grenze unüber- windlich ist, daß ein Göttlich-Schöpferisches der Seele des Menschen innewohnt. So ist es wirklich. Wenn dem aber so ist, wenn die Menschheit einmal so weit gelangt, ganz aus dem Geist heraus zu leben, dann wird sie auch keine Naturordnung mehr als unver- rückbar anzuerkennen brauchen; dann wird eben das sich bewahr- heiten, was heute durch alle Tatsachen widerlegt erscheint. Jene Unterschiede zwischen den Menschen, die ich dem zwischen chemischen Elementen verglich, bezeichnen wirklich keine letzten Instanzen, Tradition, Begabung und Rasse sind nicht unübersteig- bar: es ist möglich, sie aus dem Geist heraus zu überwinden. Im einzelnen geschah dies von jeher: keine Rasse war je verantwort- lich für das Genie — die ganz Großen waren immer Zufallsprodukte vom Standpunkt der Natur, reine Kinder des Geistes, wie denn auch keine Natur je einen Heiligen erzeugt hat, als welcher eben Sieg des Geistes aber die Natur. 637 aus ihrer Besiegtheit erwächst. Heute aber geschieht gleiches schon im allgemeinen, im weiten und breiten, und zwar mehr und in höherem Grade, als man denkt, was mit beiträgt zur Wirrsal dieser Zeit; schon heute ist der Zusammenhang zwischen Naturbestimmt- heit und innerem Beruf, der einst so fest war, im Prinzip ge- lockert. Nur mit großer Unsicherheit ist im modernen Westen von der Abkunft auf die Anlage zu schließen, immer möglicher scheint es, von beliebiger Naturstufe her beliebig hoch hinanzu- steigen. Und das bedeutet nicht, daß wir entarten; es bedeutet vielmehr, daß das Geistige über dem Natürlichen immer mehr den Sieg davonträgt. Dieses Überwinden der ursprünglichen Be- stimmtheit vollzieht sich im ganz Großen, und dementsprechend roh und summarisch in Amerika, dem Schmelztiegel der Rassen und Traditionen. Der Erfolg ist bisher kein allgemein günstiger, weil die meisten, die über die Natur hinauswollen, noch so wenig Herrschaft erlangt haben über sie, daß sie sich in der Emanzipation ihrer besten Bildungsmöglichkeit entäußern. Das wird sich ändern. Je geistiger wir werden, desto unabhängiger werden wir dastehen vom Überkommenen. Die Wunderwirkungen der Yoga werden nicht nur Einzelnen, sondern auch Gruppen und Völkern zuteil. Wie die Inder, trotz geringeren Genies, in der Selbsterkenntnis weiter gekommen sind, als wir, indem sie sich tiefer in ihr Wesen versenkten; wie der Gerechte am Tor der Heiligung vor dem Sünder nicht den Vortritt hat; wie es jedem widerfahren kann, daß er im Geiste wiedergeboren wird, welches Ereignis sämtliche Bindungen, welche die leibliche Geburt ins Leben setzte, zerreißt: so mag es geschehen, daß eben dort, wo die Menschheit am tiefsten im Materiellen gefangen scheint, ihre Vorhut zuerst über alle Natur- bestimmtheit hinausgelangt. Ja sicher wird es so kommen: das geistige Wesen erstarkt im Kampf, entfaltet sich desto voller und freier, je mehr Widerstand es überwand. So ist unser gegenwärtiger Materialismus recht eigentlich Gewähr unserer künftigen Spiri- tualität. Deren Körper nun ist im heutigen Amerika schon vor- gebildet. Die Menschheit von morgen wird ohne Zweifel in einem äußeren Zustand leben, dem derjenige der Vereinigten Staaten am ähnlichsten sieht. Sie wird keinerlei starre Formen anerkennen, jedem absolute Selbstbestimmung zugestehen. Sie wird, indem sie sich erhebt über alle Natur und nur dem Geistentsprossenen Rech- nung trägt, sogar das Gleichheitsideal realisieren. In den Ver- 638 Die Seele wächst in den Körper hinein. einigten Staaten ist die äußere Form — wie dies immer geschieht, wo sie nicht weit zurückbleibt hinter ihm — dem Gehalt weit vor- ausgeeilt. Sie entspricht Amerikanern schlechter, als sie Chinesen entspräche, dem einzigen Volk, das dem Kulturideal je nahe- gekommen ist. Langsam, überaus langsam wächst die Seele in den Körper hinein. Es geht langsamer vor sich, als das Um- gekehrte geschieht, weil, während der Körper muß, wenn die Seele will, diese seiner Bestimmung nicht unmittelbar unterliegt. Ist sie aber so weit, wie die äußere Gestalt antizipiert hatte, dann besitzt sie vollkommene Ausdrucksmittel. Dann befindet sie sich voll- kommen ungehemmt. Dann wird das wahr werden, was der Demokratismus mit Unrecht vom heutigen Menschen wahr haben wollte. Dann wird erwiesen sein, daß der Geist wahrhaftig Herr ist der Natur. . . . Die Freiheitsstatue versinkt in grauer Ferne. Wieder einmal schwimme ich auf dem unendlichen Meer. Über ein Kleines werde ich dort zurück sein, von wo ich ausging. In jenem Europa, das mir so jung schien, als ich es gegen den Hintergrund Asiens betrachtete, und so alt wiederum, da ich es verglich mit dem was wird im zukunftsschwangeren Amerika. IX. HEIMGEKEHRT. Heimische Außenwelt kein Reaktiv. 641 RAYKÜLL. Wieder daheim. Es ergeht mir, wie nach schwerem Sturm auf See: solange der wütet, halte ich mich, wenn ich dann aber an Land steige, schwankt der Erdboden unter mir und ich vermag nur mit Mühe im Gleichgewicht zu bleiben. So verwirrt mich die Außenwelt jetzt, wo sie sich nicht mehr um mich her bewegt. Ich muß trachten, die Bewußtseinsart des Reisenden möglichst schnell gegen die des Eingesessenen einzu- tauschen. Während ^meiner Wanderungen habe ich die Außenwelt als Reaktiv behandelt; zu Hause taugt sie nicht dazu. Wo ich mich hingebe, erhalte ich mich unverändert wieder, wo ich hinaus- schaue, blickt mir mein eigenes Spiegelbild entgegen; alles in Rayküll trägt den Stempel meines Geistes oder den meines Ge- schlechts. Das beklemmt mich. Mir ist, als sei ich gefangen. Ich bin es auch: hier werde ich ausharren müssen in bestimmter Daseinsform; hier verantworte ich in bestimmter Gestalt; hier darf ich nicht Proteus sein. . . . Mein natürlicher Mensch, mein Erbadam, steht freilich ganz anders zur Heimkehr: er fühlt sich durch die Wiederberührung des Bodens, dem er entstammt, auf dem er fußt und zu wirken gewohnt ist, anthäoshaft gesteigert; ihm ist, als seien die Fort- schritte, die Rayküll gemacht hat, seine Fortschritte, als sei in den Bäumen er selbst gewachsen, durch die Entwässerung unfrucht- barer Moore seine eigene Natur verbessert worden. Dies sei ihm unbenommen — doch was geht sein Glück mich an? — Ich denke zurück an die Motive, die mich seinerzeit hinaustrieben in die weite Welt: damals zog ich ja aus, dem natürlichen Menschen zu ent- rinnen. Dieses Ziel habe ich erreicht, das fühle ich. So lebendig Keyserling, Reisetagebuch. 4 1 642 Ich entsage dem Proteusideal. er blieb, beherrschen wird er mich nie mehr, nie mehr hinüber- greifen über seine Sphäre. Es besteht kaum mehr Gefahr für mich, als Persönlichkeit auszukristallisieren, eine Sondererscheinung, in mir oder außer mir, zu ernst zu nehmen. So darf ich wohl fortan die Natur in mir unbefangener gewähren lassen. Nur der Unfreie verschanzt sich gegen sie oder flüchtet vor ihr, der Freie braucht nichts auszuschließen, nichts zu verdammen. Mir winkt wohl fortan, nach Überstehung der Übergangszeit, ein volleres persön- liches Sonderleben, als ich es früher geführt. Nur die Übergangs- zeit .... Vorläufig wird es mir nicht leicht fallen, zustimmend- bewußt als bestimmtes Wesen zu leben; Proteus sträubt sich da- gegen. Aber muß er nicht auch stille halten lernen? wenn ich ihn in mir vor allem unterstützte, so war es aus Furcht vor Aus- krisallisation : nun dieser vorgebeugt ist, darf jener mir kein Ideal mehr verkörpern. Jetzt gilt es, in dauernder Gestaltung gleiche Überlegenheit über solche zu bekunden, wie vormals in wechselnder. Noch drücken mich äußere Schranken zu leicht. Stände ich inner- lich ganz frei da, dann scheute ich Bindung und Bestimmtheit nicht mehr, als ich ihrer bedürfte, dann empfände ich keinen so gebieterischen Drang nach äußerer Freiheit. Vieles von dem, was bei mir Freiheit scheint, ist in Wahrheit nur eine Abart der Ge- bundenheit. Ich bin noch allzu abhängig von meiner Unabhängig- keit. Ich muß nach Wunsch in meinem Sonderdasein aufgehen, ganz eins werden können mit einer bestimmten Gestalt, meine Neigungen, Gefühle und Interessen ganz beherrschen. Ich muß soweit kommen, nicht allein ungebunden zu sein durch Name und Form, sondern mich willkürlich binden lassen zu können. Doch nun zur Hauptsache: bin ich von meiner weiten Wande- rung der Selbstverwirklichung näher heimgekehrt? — Ich muß ihr näher sein. Jede einzelne der Lebensmöglichkeiten, die ich durchlebt, hat mir deutlicher zum Bewußtsein gebracht, was wesent- lich ist im metaphysischen Sinne und was nicht. Ich, als Wesen, bin der gleiche geblieben, ob ich als Inder oder Chinese, als Christ oder Buddhist empfand; ich weiß jetzt aus lebendiger Erfahrung, daß die wesentliche Wahrheit jenseits der Sphäre bestimmter Gestaltung lebt. Es ist eine Frage der Voraussetzungen, ob diese oder jene Form entsteht, es hängt von den Zwecken ab, die man verfolgt, ob man diese oder jene höher wertet. Zur äußeren Ge- staltung des Lebens, zur objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis Gewinnung des Mittelpunktes; Bach. 643 erweist eine Europäerseele sich am dienlichsten; eine indische zur Realisierung in der psychischen Sphäre, eine chinesische zur Kon- kretisierung der Idee, eine japanische zum ästhetischen Natur- verständnis, und so fort. Keine Formel ist die höchste im meta- physischen Sinn, jede stellt einen möglichen Ausdruck des Abso- luten dar, jeder Sonderausdruck bedingt spezifische Grenzen. — Die verschiedenen Seelen, die ich gewann, sind mir geblieben, als mögliche Einstellungen meiner Selbst; meine Natur ist entsprechend reicher geworden. Dank der Erkenntnis der Wege der Metem- psychose ist mir mein Wesen, das beharrt durch alle Seelenwande- rung, als Negativ so deutlich geworden, daß mir täglich scheint: noch heute muß das Positiv sich zeigen. Noch hat es sich nicht gezeigt. Im Augenblick fühle ich mich sogar nicht sicherer, sondern unsicherer als ehedem: zu vieles in mir ist in Umwandlung und Umsetzung begriffen. Das wird sich geben. Der Naturprozeß nimmt seinen Lauf. Er braucht viel Zeit. Die sei ihm gewährt. Ich aber will warten in stiller Zuversicht. .... Dieser Tage habe ich im schönen alten Saal, mit seiner prachtvollen Akustik, viel Bach gespielt. Weshalb bedeutet mir dessen Kunst so viel? Weil ihr Geist durchaus einer der Grund- töne ist. Es besteht ein intimer Zusammenhang zwischen der Tiefe der Gedanken und der der Töne. Wie ein tiefer Gedanke tausend oberflächliche innerlich bedingt, so lassen sich zu einem gegebenen Baß in höheren Lagen schier unendlich viel Melodien ersinnen, während jede gegebene Diskantmelodie auf nur einen Baß zurück- weist. Die moderne Musik liegt ganz im Diskant, läßt nur mittel- bar Grundtöne ahnen; diejenige Bachs ist ganz Grundton und inso- fern aller anderen Fundament. So tief wie Bach ist kein Musiker jemals gewesen, wie kein anderer ist er dem Metaphysiker kon- genial. Der Metaphysiker hat den Baß zu spielen in der Symphonie des erkennenden Geistes, die Grundtöne zu finden und anzuschlagen zur Musik der Welt. Und indem ich mich in Bach versenkte, seufzte ich: wenn ich so denken könnte, wie dieser Mann komponiert hat, wenn meine Erkenntnis so tiefen Grund zu spiegeln käme, wie seine Musik, dann wäre ich wohl am Ziel. 41 : 644 Unerwartete Fortentwickelung; Freiheit In der Begrenzung. Ereignislos fließt nun mein Leben hin. Doch anstatt langsamer zu verlaufen, als damals, wo jede Stunde neue Eindrücke brachte, verläuft es unermeßlich viel geschwinder. In kine- matographenartiger Hast löst eine Jahreszeit die andere ab; schien meine Reise mir Jahrzehnte zu währen, so möchte ich nun nach einem abgelaufenen Menschenalter wähnen, erst gestern sei ich heimgekehrt .... Wie wunderbar paßt sich die Seele den Um- ständen an! Im Großstadtgetriebe, im Strudel der Ereignisse, im Wirrsal der Eindrücke weitet ihr Zeitbewußtsein sich aus, um allem Raum zu gewähren; in der Einförmigkeit schrumpft es zusammen. Dem Einsiedler in der Wüste droht dergestalt nicht mehr Langeweile, als dem Weltmann. Und während ich so still dahinlebe, verblassen unaufhaltsam die Erinnerungsbilder aus der weiten Welt. Schon kann ich mich nur noch mit Mühe auf Indien, China und Japan zurückbesinnen. Wieder kommt es ganz anders, als ich's voraussah: ich erwartete, die vielen Lebensformen, die meinen Geist so mächtig anregten, würden als solche in mir weiterwirken. Statt dessen haben sie sich umgesetzt und was nun in mir lebt, ist etwas anderes, Ein- heitliches, für mich sehr Neues, dessen Herkunft aus der Vielheit des Erfahrenen ich nur reflektierend ableiten kann. Es ist un- glaublich, wie ahnungslos der Mensch sich selbst gegenübersteht: das persönliche Ich schaut dem bloß zu, was auf der Bühne des Bewußtseins vor sich geht, hinter die Kulissen fehlt ihm der Zu- gang, es weiß nicht, wer auftreten wird, woher die Spieler kommen, was sie aufführen werden, und wenn es sich klarrnacht, daß das Schauspiel trotzdem seine eigene Schöpfung ist, so wird ihm manch- mal unheimlich zu Mut .... Das Neue, für mich Unerhörte ist, daß ich gar kein Bedürfnis mehr nach Metamorphosen spüre. Nicht daß ich die Grenzen Hermann Keyserlings anders als früher beurteilte, daß ich mich nun innerlich eins fühlte mit ihnen: sie beschränken mich kaum mehr; ich weiß mich frei trotz und in ihnen. Ich überlese die Zeilen wieder, die ich vor meiner Abreise nieder- schrieb: nein, die Motive gelten heute nicht mehr. Und ich beginne zu begreifen, warum dem so ist. Man verurteilt in anderen am schärfsten, was man in sich nicht liebt; der Heilige verdammt niemand, der Weise findet keinen ganz töricht. So rührte mein Verleugnen-wollen aller Gestaltung Notwendigkeit der Umwege. 645 hauptsächlich daher, daß ich von keiner unabhängig war. Im höchsten Grad beeindruck- und beeinflußbar, wahrte ich meine Freiheit mittelbar durch stete Verwandlung. Aber besser ist wohl, unmittelbar aus ihr heraus zu leben. Freilich bedeutet Charakter (im üblichen Sinn) Beschränkung, kann kein Entwickelter „Per- sönlichkeit" als Ideal verehren; über Vorurteile, Grundsätze, Dogmen ist er hinaus. Allein er mag, charakterlos, doch positiv sein, nicht minder sicher und fest, als nur irgendein Starrer, bloß von höherer Erkenntnisbasis aus. Der Yogi sagt neu neu — das bin ich nicht — zu aller Natur, bis daß er eins ward mit Para- brahman. Nachher verleugnet er nichts mehr, bejaht er alles Po- sitive in und außer sich, weil ihn jetzt keine Gestaltung mehr beschränkt, weil ihm nun jede ein folgsames Ausdrucksmittel ist. In diesem Verstand hat auch in meinem bewußten Leben ein Dimen- sionswechsel stattgefunden, so fern ich dem Ziel immer sei. Schon viel weniger als vormals bedarf ich der Reaktive, um mich leben zu spüren, immer unabhängiger wird mein Fortkommen von aus- lösenden Erfahrungen; was früher nur antwortete in mir, gebietet jetzt. Aber wenn ich nun zurückdenke an den langen durchmessenen Weg und die Frage stelle, ob ich unnötige Umwege gemacht, so muß ich diese mehr denn je verneinen. Es bleibt ewig wahr, was die indische Weisheit lehrt, daß die Seele alle Erfahrungen durch- machen muß, bis daß sie reif wird zur Seligkeit des Wissens, denn einen anderen Weg als diesen gibt es nicht; wer ohne schein- bare Umwege zum Ziel gelangt, erreicht es nur scheinbar. Warum? Weil dieses nicht in äußerlicher Einsicht besteht, sondern in innerer Verwandlung. Jeder Daseinsstufe entspricht eine besondere Wahr- heit, die Lebensformel des Schmetterlings frommt nicht der Raupe; sei jener noch so sehr der letzteren Ziel — gerade um es zu erreichen, muß sie vorerst Raupe und Puppe sein. Ebenso steht es mit der Menschenseele. Diese entfaltet sich im Erkennen — jede höhere Erkenntnis aber setzt einen bestimmten neuen Zu- stand voraus. Bevor dieser erreicht ward, nützt kein abstraktes Wissen. Der ist kein Heiliger, der Furcht und Rache im Herzen, Jesu W r eisung gemäß die linke Backe hinhält: die Natur muß dem Ideal gemäß geworden sein. Solches nun führt Erfahrung allein herbei. Jeder Teil der Seele muß persönlich eingesehen haben, was er eigentlich will, was er soll, worin seine Vollendung besteht, unerfahrene Wahrheiten erkennt er nicht an, und um genug zu 646 Vergöttlichung impliziert Vermenschlichung. erleben, muß er sich' Vielem aussetzen. Deshalb bedarf eine Natur, je reicher sie ist, desto reicherer Erfahrung. Deshalb bedeutet dem Menschen der Umweg um die Welt in jedem Sinn den kürzest denkbaren Weg zu seinem Wesen. Soviel war mir schon früher klar. Aber was mir erst jüngst offenbar ward und die eigentliche Ursache dessen ist, daß ich dem Proteustum entsagen kann und will, ist der Umstand, daß Wesens- erkenntnis das Menschsein nicht aufhebt sondern erfüllt'. Wohl wußte ich, daß jede Gestaltung fähig ist, den Atman ganz zum Ausdruck zu bringen, allein ich meinte, dies gelte beim bewußt Durchgeistigten in dem Sinn, daß die Natur zur durchsichtigen Schale werde ohne Eigenbetonung. Heute sehe ich, daß dem nicht also ist; daß jene, im Gegenteil, zum lebendigen Körper wird des Geists, und dieser sich eben darin ganz verwirklicht, daß er sich ganz hineinversetzt in ihre Normen. Ist Wandelbarkeit mehr als Gebundenheit, so beginnt vollkommene Freiheit doch erst jenseits jener: im scheinbar beengenden Rahmen drückt sich aus, was im beweglichen unausdrückbar war. Ja, ein Leben ist mehr als viele, weil im voll-willig übernommenen Einen allein vollkommenes Er- leben möglich ist. Die christliche Mystik hat insofern tiefer als die indische geblickt, als sie zwischen dem, was Gott an sich ist, unterschied, und dem, als was Er erscheint, wo Er sich im Menschen offenbart. Sei Er an sich erhaben über allem, was Kreatur affiziert — als Mensch erscheine Er vollkommen menschlich; nichts Mensch- liches gäbe es, das nicht in Ihm seine Erfüllung und Heiligung fände. Deshalb sei Vergottung hienieden nur denkbar in korrela- tiver Vermenschlichung. So ist es. Das Gottsein, von dem ich früher soviel geträumt, ist kein Höchstes, es bezeichnet lediglich ein vergeistigtes Unmenschentum. Ich beging, indem ich ihm nach- strebte, eben den Fehler, den meine Theorie so oft gerügt: ich zog eine bestimmte Gestalt als solche anderen vor. Heute weiß ich die Wahrheit. Und indem ich entschlossen ja sage zu dem, was ich nun einmal bin, fühle ich mich nicht beengter sondern freier. Im Fluge verstreicht die Zeit. Je unmittelbarer ich im Geiste lebe, desto mehr bewirkt sie, doch desto unwirklicher wird sie mir. Der Psalmist muß wahrgesprochen haben, als er von Jahveh kündete: tausend Jahre sind vor dir, wie der Tag, der gestern vergangen ist, oder wie eine Nachtwache. Wesentliche Freiheit bedingt Zusammenhangsgefähl. 647 Draußen tobt der Weltkrieg. Immer mehr Völker fallen über- einander her, immer furchtbarer wird ihr Ringen. Und nicht genug, daß sie einander zu vernichten trachten — durch den Mund ihrer geistigen Führer verleumden und schmähen sie sich wechselseitig, unmäßig, wie die feindlichen Helden Homers. Aller Einklang, alles Verständnis ist aufgehoben, der Menschheit Einheit scheint nicht mehr zu bestehen. Für mich besteht sie fort. Ich sehe in dieser Katastrophe nur eine Krisis, wie es gleichsinnige, wenn auch nicht gleich weit- greifende schon viele gab, die die Entwickelung nicht abschneidet, sondern beschleunigt fortsetzt. Wie aller Fortschritt durch Reak- tionsperioden hindurchführt, während welcher sich die verdrängten niederen Triebe aufbäumen und zeitweilig siegen, so stand zu erwarten, daß die universellere Welt von morgen eingeleitet werden würde durch ein Vorspiel niedagewesenen Nationalitätenhasses, und die künftige Solidarität der Völker durch Ausrottungskämpfe; ganz so ward die Friedensära, die mit Augustus anhub, durch grau^ samste Bürgerkriege eingeführt. Während solcher Krisen bietet die Menschheit ein widerwärtiges Schauspiel. Vormals hätte ich mich voll Ekel von ihm abgekehrt. Heute kann ich's nicht mehr: ich' weiß mich innerlichst beteiligt. Nicht daß ich Partei wäre, — mir ist die ganze lebendige Schöpfung ein einiges Ganzes; keins der einseitigen Gefühle teile ich, das die Kämpfenden beseelt. Aber ich kann mich nicht mehr ablösen von der Gesamtheit, nicht mehr, wie ehedem, sagen: nescio vos. Denn ich weiß, daß ich eins bin mit meiner ganzen Zeit und insofern mitverantworte für ihr Schicksal. Je tiefer bewußt ich Wurzel faßte in meiner Freiheit, desto deutlicher ward mir, daß nichts dieser mehr widerstreitet als Vereinzelungsstreben, ja, daß die Erkenntnis wesentlicher Freiheit ihr Korrelat hat im Gefühl des Zusammenhangs mit der ganzen Erscheinungswelt. Allerdings bin ich, als metaphysisches Wesen, mein eigener Schöpfer. Aber empirisch betrachtet bin ich gar nichts durch mich selbst. Meinen Eltern verdanke ich meine Anlagen und meinen Ausgangsort im Leben, meinem Lande die frühesten Ein- flüsse; meiner Zeit die geistigen Inhalte, an denen ich teilhabe, die Impulse, die mich treiben; dem ganzen Erdkreis endlich die vielfältigen Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, was ich' 648 Jeder Einzelne für die Welt verantwortlich. heute bin. Ich selbst, als bewußte Person, kann überhaupt nur dafür, daß ich bei vorhandener Arbeitsenergie unentwegt an mir gearbeitet habe — nicht einmal deren Besitz ist mein Verdienst, und ihr Erfolg schon gar nicht: meine Gedanken berufe nicht ich, sie kommen mir. So bin ich unabtrennbar vom Universum. Nehme ich mich selbst hin, so bejahe ich auch jenes; ist es mir Aufgabe, mich selbst zu vollenden, so umschließt diese die weitere, soviel ich nur irgend vermag mitzuschaffen an der Vervollkommnung der Welt. Was sie heute ist, kann ich ebensowenig verleugnen wie meinen persönlichen Zustand. Dieser ist das Produkt alles dessen, was je war; wäre der Weltprozeß anders verlaufen, auch ich stände anders da. Umgekehrt aber wäre notwendig auch die Welt voll- kommener, wenn ich vollkommener wäre, so daß ihr künftiger Charakter allseitig bedingt wird vom Wollen und Vollbringen ihrer heutigen Elemente. Und zwar aller ohne Ausnahme: jedes Ein- zelnen flüchtige Gebärde wirkt durch Äonen nach. So kann und darf sich keiner vom Ganzen ablösen. Diese Wahrheit, nur wenigen bewußt in Friedenszeiten, beseelt der meisten Impulse im Verteidigungskrieg. Innerhalb aller heute kämpfenden Nationen spürt der Einzelne den Drang, sein Leben für ein Größeres hinzugeben, innerhalb aller fühlt er, daß er mit- halten soll, sich nicht abtrennen darf, daß er das Fatum seines Volkes mittragen muß, sei es Verbrechen oder Glück oder Tod. Mein Bewußtsein lebt jenseits der Sphäre nationaler Bindungen, so kann ich nicht Partei sein in diesem Streit. Aber das Geschehen berührt mich deshalb nicht weniger tief: wie es Geschöpfe gibt, die ihrer Natur nach bestimmte Sonderstrebungen vertreten müssen, so gibt es andere, die zur Verkörperung des Allgemeinen berufen sind. Und dieses Allgemeine ist keine Abstraktion: es ist durchaus lebendig, es ist konkreter als alles Besondere insofern, als dieses ihm nur zum vorübergehenden Mittel dient. Alle tiefsten, wesent- lichen Lebensmächte sind überindividuell und übernational; sie geben dem Sondergeschehen Sinn und Richtung. Des Metaphysikers Bewußtsein wurzelt unmittelbar in ihnen. Seine Teilnahme am Weltprozeß besteht darin, daß er diesen Mächten Ausdruck verleiht. Und diese Teilnahme ist nicht minder wichtig als die des Kriegers. Was wäre aus Europa geworden, wenn die hadernden Einzelstimmen nicht wieder und wieder von Einer übertönt worden Der Menschheit tiefster Wille; das höchste Ziel. 649 wären, die keinerlei Parteilichkeit gelten ließ, nur Liebe kannte? — Aus dieser Stimme aber sprach der Menschheit tiefster Wille. Je selbstbewußter sie wird, desto mehr wird dieser dominieren, desto mehr von innen her alles Sonderstreben beseelen. Ich ahne eine Zeit, wo Menschenkraft und -mut überhaupt nicht mehr vor- läufig-beschränkten, sondern nur noch endgültig -allgemeinen Zielen nachstreben werden. Denn nicht dadurch wird die ideale Zukunft gekennzeichnet sein, daß farblose Duldsamkeit die Stelle des Heldentums einnimmt, sondern daß dieses, anstatt dem Irrtum, der Wahrheit dient; daß die irdischen Mächte durchaus vom er- kennenden Geiste gelenkt werden. Nie werden sie als solche zu wirken aufhören, es ist ein und derselbe Mut, den der Bandit und der Bekenner beweist, und Schwäche bleibt schwach, worauf immer sie beruhe. Solange es heißen kann: Heroismus oder Weit- herzigkeit, wird die Menschheit nicht reif sein zur Universalität. Noch ist sie es nicht. Auf daß sie es baldigst werde, dürfen die wenigen, in denen ein tieferes Bewußtsein schon heute lebt, nie müde werden, ihr Wissen zu verkünden. Ich gedenke des Bodhisatva, der das Gelübde tat nicht ins Nirväna einzugehen, solang noch eine Seele unerlöst in erd- geborenen Banden schmachtete, und vergleiche sein Bild mit dem des Weisen, der, gleichgültig zur Welt, nur nach Gotteserkenntnis strebt: dieser ist noch nicht ganz hinaus über Name und Form, denn nach Abstreifung aller Bande bleibt ihm das des Erkenntnis- triebs — er ist es, welcher Gott schauen will. Jener, auch er vormals ein Weiser, hat diese letzte Fessel abgetan. Sein Erkennt- nisstreben, das ursprünglich die Person befriedigen sollte, hat deren Gefäß zuletzt zersprengt. Nun lebt er überhaupt nicht mehr in sich, nun bietet er dem göttlichen Licht ein vollkommen durch- sichtiges Mittel. Weil jenes völlig ungebrochen durch ihn leuchtet, will er nur noch geben, strahlt er nur noch aus, kann er nicht anders als spendend sich zur Schöpfung verhalten, gleichwie die Sonne kein Atom unerwärmt lassen kann. Der Bodhisatva sagt ja zur noch so argen Welt, denn er weiß sich zusammenhängend mit ihr. Entselbstet, fühlt er seinen Grund in Gott, seine Oberfläche jedoch mit allem was ist verwachsen. So muß er alle Wesen wie sich selbst lieben, so kann er nicht ruhen, bis daß sie alle in allem die Gottheit spiegeln. Der Bod- hisatva, nicht der Weise verkörpert des Menschenaufstiegs Ziel. ENDE. 650 Register. REGISTER. A. Aberglaube, Wesen 1 40, jeder Glaube an das Nicht-Selbst ist 140, Vorzüge 117, indischer 225, Versöhnung von Weisheit und 226. Abnorme, Abweisung durch die chi- nesische Weisheit 409, Zustände 121. Abschließ ung, Schädlichkeit 61. Abschreckung, Straftheorie der 333. Absolute, Sinn des 1 1 3, europäische und indische Auffassung vom 231, ge- leugnet von Buddhismus und Natura- lismus 14, Aufhebung des Unterschieds zw. A. und Relativem 267, Werte 110, 272. Abwechselung, Wert der 310, 388, 517. Acvagosha 237, 447, 511. Ästhetische Urteile, objektive Gül- tigkeit 14, Vollendung, wann allein ein Höchstes 491. Affe, worin sein Groteskes besteht 325. Ah nen vere hr ung 366, 494. Akbar, Kaiser 176. Akklimatationsfähigkeit, als Frage der Phantasie 11, 52. Albatros 528. Allah, als Seele der Sahara 10, Cha- rakteristik 180, keine Beziehung zur Kunst 175. Allwissenheit, nur Gott bekömm- lich 263, und Skeptizismus berühren sich 263. Alter, verschiedenes der Seelen 271, jede Seele hat ein bestimmtes Ideal- 514, weshalb es das Bedeutendste schafft 242. Altruismus, nicht wertvoller als Egoismus 220, 254. Amerika, urweltlicher Charakter 567, 571, Vorzüge vor Europa 600 ff., un- geheure Kluft zwischen innerer Voll- endung und äußerer Vorgeschritten - heit 625, Bildungskraft 563, 572. Amerikaner, als typischeste West- länder 546, als Barbaren 549, 553, als Yogis 613, Arbeitsmethoden der größ- ten 247, Selbstüberschätzung 413, Op- timismus 553, 609, Arbeitertypus dem europäischen überlegen 602, kleiner besser als großer 600, Schülerhaftig- keit 569, seine Lebensformel verdürf- tigt die Psyche 612. Amerikanisierung führt zum Zu- stand des Tiers zurück 613. Amerikanismus, Geheimnis seiner Werbekraft 613. An gepaßtheit, jedes Wesens an seine Welt 529, 530, und Moralität 69, 421. Anlage, keine wertvoll an sich 296, als solche unveränderlich 295, nie von Hause aus eindeutig 166. Anmut, als Krönung der Weisheit 356, 357, 409, 449. Anregung, Abhängigkeit des Men- schen von 424, 429, Bedeutung in der Religion 195, 517. Anschauung, intellektuelle 240, auf einer geistigen Ebene mit Einfällen belegen 60, 62, 479. Antisemitismus 126. Aquedukte, Ausdrucks wert römischer 175. Araber, Weltanschauung 181. Arabeske, metaphysisch bedeutungs- los 193. Arbeit, alle gleich ehrenvoll 600, ihre Überschätzung im Westen 220, 252, nicht ernster als Spiel 299. Architektur, als unfreie Kunst 190, ihre Logik 248, griechische 64, japani- sche 471. Aristokratie, der Zukunft 554, 556 603, absoluter geistiger Vorzug 20, Entartungserscheinungen 467 , als Züchtungsergebnis 165. Armut, absolutes Übel 622. Arten, methaphysische Bedeutung 537. Register. 651 Asiate, hat den weitesten Hinter- grund 363, psychisch mager im Ver- gleich mit uns 245, 463, psychologi- sche Intuition 377, weniger brutal- sinnlich als wir 486, 488. Askese, vielfache Arten der 133, und Komfort 619, nicht Kasteiung 123. Astralwelt 117, 118. Ataraxie, kein Ausdruck der Frei- heit 50. Atemübungen 200, 246. Atmosphäre, psychische 196, 274, 341, der Messiaserwartung 130. Attachement, der Menge besser als Detachement 49, 599. Auffassungsvermögen, verschie- dene Arten des 62, des Kulturmenschen der Natur gegenüber schwach 57. Auflösung, warum dem Buddhisten ein Ideal 18. Aufrichtigkeit, der Chinesen 360, Kultur der 356, 589, Weg der, als schnellster zum Ziel 588. Aufschauen, erhebt 131. Aufsteigen, auf der Leiter der Wesen muß bezahlt werden 128. A u g u s t i n u s , St. als Vater des Christen- tums 276, Liebe 390. Ausdruck, indischer uneigentlich 229, chinesischer für das metaphysisch- Wirkliche allein unsterblich 331, 340, prägnantester für Spirituelles immer von Materialisten gefunden 458, -fähig- keit bedingt absoluten Vorzug 119, -Unfähigkeit der Deutschen 460, der indischen Weisen 261, -menschen, Europäer und Chinesen als 400, = Kultur, chinesische als 508, -weise, suggestive von Chinesen und Frauen 330. Ausnahmezustand, bringt das Wesen nie rein zum Ausdruck 323. Äußere Umstände, Gleichgültig- keit 342, 353, als Ausdrucksmittel 233. Äußerlichkeit, der Chinesen 359, alles Verkehrs 360. Autokratie, Vorzüge 504, inwiefern immer demokratischen Geistes 179. Autonomie, Macht der Idee 144, kaum ausgenutzt 147, 532, konfuzi- anische Erscheinungsform 385, Er- ziehung zur 588 ff., absolute des Sub- jekts 587. Autoritätsglaube, Vorzüge 260, 293, der Inder 257, 260, der Theo- sophen 49. B. Baker-Eddy, M rs 135. Bauerntum, chinesisches 366, 416, russisches 408, indisches 408. Bedeutende Menschen, können nicht Jünger sein 124. Bedingtheit, absolute, des Menschen als Erscheinung 15, 572, 647. Bedürfnislosigkeit, kein Vorzug 622. Befreiung durch Erkenntnis 95, 1 1 6, als äusserste Sehnsucht jedes 37, durch Selbstbezwingung 318. Begabung, durch Konzentration zu ersetzen 236, steht der Spiritualisie- rung zunächst im Wege 112. Begierde, als Hilfsmittel zur Selbst- verwirklichung 293. Behandlungsart, produktive Wir- kung 68. Beispiel, Bedeutung 285, das äußerste, was ein Mensch einem andern sein kann 134, 220, 278, jedes an sich unnachahmlich 358. Bekehrung, als Hilfskonstruktion 628, Nutzlosigkeit 45, -eifer als Beweis seelischer Enge 38, 557. Bergson 34, 126, 236, 512. Beschränkung, Notwendigkeit der Selbst- 19, 576, 635. Beschwörungen, mögliche Wirk- samkeit 37. Bestimmung des Menschen, kein Äusserstes 345, über sich selbst hinaus- zuwachsen 252, das Reich des Geistes auf Erden zu begründen 568. Beten, nicht bitten 199, der Mo- hammedaner als Parademarsch 181, weshalb es stärkt 53, stärkt die Götter 336. Bewußtsein, höhere Form als Ziel des Fortschritts 235, der Menschheit entwickelt sich fortschreitender In- tellektualität zu 207, verschiedene Lagen 75, 1 03, 2 1 3, 235, Weg zu höheren 238, normale nicht die reichste 120, -läge der Hindus 76, 1 90, der Rishis 26 1 . Bhagavat-Gita 227, 264. Bibel, jedes Buch kann eine sein 608. Bilderdienst 204. Bildung, äussere und innere 356, erotische 157, moralische 339, 375, 427. | Birmaner 314. Blindheit, Vorzüge der 121, 301, der Inder gegenüber der Natur 311, des Kämpfenden 586, 611. 652 Register. Bodenständig, keine Kunst war je ganz 456. Bodhisatva, der Eid des 460, 649, als Ziel des Menschenaufstiegs 649. Böses, Möglichkeit 110, als objektive Wirklichkeit 243, Rolle in der Welt- ökonomie 583, zeitweilig gottgewollt 584, Unvereinbarkeit mit Gutem kein Problem 83, jenseits von Gut und 251, 254, 294. Brahma, als Spieler 289, sein Licht im Menschen 280, Vorstellung relativ 234. Brahmanismus, als eigentlichste Ausdrucksform des Indtergeistes 151. Buddha, Herrschernatur 42. psycho- logische Genialität 41, 42, 50, inwie- fern größer als Christus 42, 51, 275, größer als alle Rishis 273, höchstes Beispiel 297, kein Yogi 277, kein Denker 42, 278, nicht götterfeindlich 43, hat nur das Werden bemerkt 34, und Luther 46, und Ernst Mach 35, gewann Erleuchtung durch Kampf587. Buddhismus, (südlicher, H i - nayana) psychologische Grundlage 28, 34, als empiristischer Relativismus 35, frommt dem Westländer nicht 40, als Theorie der Vegetation 33, Tropen- evangelium 35, 45, 46, ideale Religion der Mittelru ässigkeit 49, warum er keine Egoisten schafft 39, Gestaltungs- kraft 40, 313, hat allem Ressentiment vorgebeugt 42, 45, flößt dem kleinen Mann tiefste Weisheit ein 41, 50, worin dem Christentum überlegen 42, 49, 50, warum undogmatisch 44, nicht pessimistisch 46, lutherische Züge 46, warum von Brahmanen verachtet 35, 152, nicht das beste an Buddha 278, Degenerationserscheinung 151, 267, als indische Götterdämmerung 273, Fortentwickelung 154, 442, (Ma- hayäna) 34, 62, 125, 154, 172, 442, 460, 514, (Japanischer) Geschichte 442, 462, westlicher Charakter 448, und Christentum 154, 460, 514, Spi- ritualität 461. Buddhistisch, Bewusstseinslage 34, Carität 39, 47, 334, 445, Gottesdienst 38, 43, 448, Mönchtum 45, 442, 448, 461, Priester 38, 448. Calvin, fand die Brücke zwischen über- kommenen Vorstellungen und moder- nem Geist 624, und Mohammed 182. Calvinismus als Religion des welt- lichen Effikazitat 624, und Luthertum 384, 623, monströse Dogmatik 385, 593, Verwandtschaft mit Islam 182. Capitalismus, religiöse Grundlagen 620. Charakter, Wesen 423, keine äußerste Synthese 184, kein geistiges Ideal sondern gute Naturbasis 423, wird durch Erkenntnis zersetzt 268, Schick- salsglaube schafft 225, durch Prote- stantismus gezüchtet 384. Charlatan, als Maske des Weisen 340. China, wesentliche Grösse 363, hat als erstes und einziges Land das soziale , Ideal verwirklicht 352, 380, 428, und Rußland 363. Chinese, allgemeine Bestimmung 425, Vitalität 338, Tiefe 363, soziale Bil- dung 326, extremer Praktiker 401, extremer Ausdrucksmensch 403, kein Denker 351, 401, 403, Intellektualist 400, 426, Legalität 379, Selbstbeherr- schung 337, Verwandtschaft mit Euro- päer 399, Äußerlichkeit 359, Unadelig- keit380, Philistrosität 338, 399, Schwä- che des Subjektiven 402, moralische Bilduug341,376,Gemüt390,Humor346, Ordnungsliebe 379, Toleranz 378, 406, Vorsicht 340, Kombinationsvermögen 329, 390, Gleichmütigkeit 337, Wut- anfälle 337, als Unmensch 325, mensch- lichster Mensch 430, kultiviertester Mensch 428, als substanziellster Asiate 464. Chinesisch, Kultur, Ausschließlich- keit 395, nur nach geologischem Zeit- maßstab zu bemessen 327, als leicht- verständlichste von allen 342, 430, Vorbildlichkeit 357, 367, 380, Sub- stanzialität 363, -ideal 407, Kunst 248, 363, 464, Mystik 339, 343, Re- ligiosität 335, 404, Schrift 328— 40, 346, Weisheit, Eigenart 331, 343, stellt das Passive voran 344, kennt nichts oberhalb der Natur 345, Welt- anschauung 344, 345, 352, 355, 365, 366, 368, 407, W e 1 1 g e f ü h 1 365, 498. Christen, alle Okzidentalen sind phy- siologisch 142, 383, 440, eine be- stimmte Qualität der Liebe macht den 444. Christentum wäre ohne Paulus und Augustinus nie zur Weltreligion ge- worden 276, Vorzüge vor Buddhismus 49, 457, 463, 464, 512 ff., 528, physiolo- * gisch begründet 440, hat die Masse nicht innerlich ergriffen 41, wird im Register. 653 Westen nie aussterben 142, 623, Ideale auf eine auserwählte Minderheit zuge- schnitten 408, würdelose Gesinnung eines gewissen 50, säet Zwiespalt 42, Metamorphosen 135, 153, 383, 444—8, 622, von Reform zu Reform weltzu- gekehrter 622, amerikanisches 620, philosophisch kein Höchstes 559, einzigartige Gestaltungskraft 559, als Religion der Freiheit par excellence 560, heutige Gestaltung nichts End- gültiges 519, Zukunftsmöglichkeiten 598. Christian Science 255, 608, 623. Christus, Existenz kein religiöses Problem 131, 214, jüngste posthume Entwicklung 131, 383; als Element des Christentums 125, Selbstherrlich- keit 195, nicht Vater des Christen- tums 276, inwiefern ein höchstes Bei- spiel 297, wahrer Sinn seiner Lehre wird immer besser verstanden 51, 446. Ceremonien, Bedeutung 75, chine- sische Auffassung 361. Civilisation, moderne, ihr Grund- ge ■ »rechen 520, absolute Vorzüge 550 ff., 600 ff. Compensation in der Natur 128, 184, 268, 283, 286, 310, 319. Concentration als Basis aller Ver- vollkommnung 105, 241, 247, als Trieb- kraft des Geistes 236, ersetzt Talent 237, befreit höhere Seelenkräfte 242, als Urgrund der chinesischen Weis- heit 397, der Vernunft als Urgrund westlicher Kunst 248. Confession, religiös gleichgültig 208, 406, sich ausschließende gleich ortho- dox 202, 445 ff., -beeinflussung als Sünde 200, und Volkscharakter 153. Confuzianismus, Wesen 330, 349, Leben, keine Theorie 349, 401, 418, Weltanschauung der Norm 408, Welt- anschauung der Zukunft 382, 411, 422, 427, scharfsinnige Verknüpfung des Innerlichen und Äußerlichen 355, 409, macht reaktionär 351, 381, als Bauern Weisheit 417, 439, lutherische Züge 382, 407, schafft potenzierteste .Durchschnittsmenschen 410, Grund- fehler seiner Kosmologie 351, 381, und Christentum 406, und japanische Rücksichtskultur 439. Convention, als Natur 362, 465. Correlation, aller Elemente einer Welt 4, 11, von innerer Freiheit und Zusammenhangsgefühl 647. Courtisane, Mission 481 — 87, und Grande-Dame 157. Cult, als Magie 336, 407. C u 1 1 u r, in anderer Dimension belegen als Fortgeschrittensein 243, 427, 550 ff., 625, schließt Ursprünglichkeit nicht aus 431, japanische — Einstellungs-, chinesische Ausdruckskultur 508, nicht durch Verbreiterung, nur Vertiefung erreichbar 243, der Sinne 49, Vorbild- lichkeit der indischen 242, Vorbild- lichkeit der chinesischen 357, 367, 380, neue erwächst nur auf neuem Boden 572, -fortschritt, wesentlicher Beweis 490, 634, -gestaltungen als „Natur" 289, 433, -System, jedes am Durchschnittscharakter eines Volkes orientiert 269, -stufe, eine erreichte kann durch Abwärtssteigen nicht überstiegen werden 244, 294. Curtis, Adela 141. D. Dämonen, Urtriebe als 39. Das ein stuf en , als Altersklassen 271, jede hat spezifische Schranken 128. Dauer, als Aufenthalt 97, Wert garan- tiert keine 631, durch reaktionäre Ge- sinnung begünstigt 353. Decenz, japanische Auffassung 493. Demokratie als Ideal bedingt ein Aufkreuzen der Masse 554, ihre Ideale durch Aristokratien verwirklicht 506, Vorzüge 553 ff., Hauptgefahr 222, mo- hammedanische 179, 600 ff., als Arbeits- hypothese 553, bedingt Unfreiheit, Sin- ken des Niveaus 374, als Herrschaft der Inkompetenz 374, 632, wird über- wunden werden 636, ihre Ideale werden sich zuletzt doch verwirklichen lassen 636. Denken, führt nie über seine eigene Sphäre hinaus 230, wird überflüssig bei genügender Vertiefung 238, 240, steht der Religiosität zunächst im Wege 515. Detachement, als Idealzustand 227, nur dem Weisen als Ideal gemäß 48, indische Lehre vom 264. Devotion, als Hilfsmittel zur Selbst- verwirklichung 293, der Europäer- anlage nicht gemäß 201. Diät und Mentalität 388. Dichter, Wesen 292, als Mensch sel- ten der Vollendung fähig 268, als Materialist 458, Selbstüberschätzung 532, nicht höchster Mensch, sondern 654 Register. ein spezialisiertes Organ 358, muß ohne Persönlichkeit sein 5, verdankt seine soziale Bedeutung einer zufälligen Konjunktur 13, und Metaphysik er 4. Disziplin, Notwendigkeit, religiöser 203, Mohammedanerglaube als mili- tärische 180. Diskant und Bass, symbolische Be- deutung 643. Dogmen, inwiefern notwendig 262, warum es innerhalb des Christentums auf sie ankommt 44, 596,alsVerfälscher- innen 216, beengen nicht notwendig 396, als Ausdrucksmittel 456, 460, Ähnlichkeit der christlichen und ja- panisch-buddhistischen 5 1 3, haben aus- gespielt 294, 224. Drache, Bedeutung in China 368. Dschainismus 151. Dualismus, erkenntniskritisch un- überwindlich 227, Wurzel des morali- schen 109. Dubois, Paul 294, 422. Duell, Vorzüge 416. D urchgeistigung, Wesen 55. E. Eccentricität, Naturbasis erfinde- rischer Originalität 555. Effikazität, einer Idee, worauf sie beruht 223, als Prüfstein der Aus- erwähltheit des Christen 49, des West- länders 146, 594 ff. Egoismus, Sinn seiner Schädlichkeit 283, 319, Überwindung tötet zugleich Altruismus 255, führt in einer Kampfes- welt am schnellsten zum idealen Ziel 589, als Weg zur Entselbstung 589, als notwendige Basis individualisti- scher Kultur 603, Unberührtheitsideal als Apotheose des 493. Ehe der Zukunft 394, als Gattungs- angelegenheit 392, kein erotisches Bildungsmittel 156. Ehrfurcht, Grundlage aller Tugend 355. Ehrgeiz, von Indern verurteilt 265. Einbildungen, den Indern wesen- haftes als Tatsachen 45, warum diesen nicht gleichwertig 591. Einfälle, S.Anschauungen. Bin f alt, warum der Spiritualisierung günstig 48. Einheit, inwiefern das Metaphysisch- Wirkliche eine 42, 234. Einmaligkeit, Prinzip des Lebens 518, 631. Einsamkeit macht Vereinzelungs- gefühl unmöglich 524, nicht jedem förderlich 618. Emotionalität, günstig zur reli- giösen Realisierung 293. Engländer, vollendetste Europäer 55, 358, konzentrierteste Phantasie 56, wo- her seine Ansteckungskraft 56, Rechts- bewußtsein 585, geistiger Höchstlei- stung selten fähig 310, Sinn für Zere- monial 481, dem Chinesen verwandt 358, als Yogis 246, Vorurteilsfülle 412, religiöse Primitivität 594. Enthaltsamkeit, sexuelle, warum von allen Religionen empfohlen 209. Entwickelung, alle einseitig 319, mögliche Abkürzung 554, kann nicht im Geist antizipiert werden 645, des Lebens dem Verlauf einer Symphonie entsprechend 537, 631, -theorie, Wahrheitsgehalt der indischen 290, 554, Verfehltheit von Spencers 556. Erdenleben, absoluter Vorzug des 118. Erfahrungen, unbedingt als Nahrung erforderlich 61, als schöpferische Mächte 645, verschiedene Formen der 3. Erfindungsgabe und Gedächt- nis, als entgegengesetzte Pole des Geschehens 428. Erfolg als Ideal 520, 548, 612. Erfüllung, nicht Neuerung das Ideal 627. Erhabenheit 16, 574. Erkenntnis, Wege zur 240, beruht überall auf Perzeption 237, 260, setzt sich notwendig in Taten um 55, als Wichtigstes 247, und Leben, anti- nomisches Verhältnis 264, 268, Leben wichtiger als 278, -e als selbständige Wesenheiten 265, beschränkte des Westens historisch wirksamer als die tiefere des Ostens 261, 596, meta- physische, ihre Bedingungen 130, 260, ihr Wesen 198, -trieb als Form der Selbstsucht 649, -Kritik spricht für die Wahrscheinlichkeit der Behaup- tungen des Okkultismus 100, -instru- ment, der Mensch muß hinauswachsen über sein angestammtes 235. Erlebnis, äußerstes des Buddhisten 1 8, der meisten von äußerer Anregung abhängig 195, als einziger Weg zur Verwandlung 645. Erleuchtung, Wesen 198, äußerste 280, wie Buddha und Christus die ihre gewannen 587. Register. 655 Erlösung durch Erkenntnis 110, 210, 212, 224, 252, 293, 297, 302, 443, 598, durch Glauben 443. Eroberersinn des Westens, meta- physischer Sinn 566. Erotik 394. Erotisches, als Angelpunkt der Seele 156, 159, Hypertrophie des 488. Erscheinung, alle materiell 100, als solche unübertragbar 245, jede kann den Sinn vollkommen zum Ausdruck bringen 454. Erziehung, religiöse in Indien 200, durch Frauen 157, zur Freiheit 633, als Suggestion 107. Esprit, mögliche Tiefe 10. Ethik, Quintessenz aller 296. Etikette, als Verkehrserleichterung 354, als Bedingung der Freiheit 470, Freudenhäuser als Schule der 485. Europa, Ende seiner historischen Laufbahn 572. Exaktheit, Mangel der Inder an 258, Europäer Fanatiker der 591. Exoterisches und Esoterisches, in- dische Auffassung 226. F a k i r n , als Rückbildungen dem Tiere zu 225, nicht exzentrisch 555. Fatalismus, mohammedanischer und russischer verglichen 181. Faust, Goethes 241. Form, eine gleiche verkörpert einem gleichen Volk nie zweimal den tiefsten Sinn 518, verschiedene Auffassung in Orient und Okzident 18, schafft In- halt 354 ff., 481, jeder gegebenen ihre sämtlichen möglichen Fortbildungen immanent 185, 400, 508, in Amerika dem Gehalte vorausgeeilt 606, 637, herrscht allgemein nur dort, wo der Sinn schon erstorben 327, muß ein- nicht ausschließen 346, 397, Erschei- nungs- der Gottheit tom Menschen her bedingt 208, typische der indi- viduellen Ausprägung am günstigsten 354, Chinas Suprematie in der 347, im Okzident flüssig geworden 547, Überschätzung der 362. Formensinn, englischer 481, chine- sischer 328, japanischer 450. Fortdauer nach dem Tode, mög- liche 20, 55, 114, 527. Fortschritt, rein biologischer Vor- gang 112, 554, inwiefern mit Spiri- tualisierung zusammenhängend und vereinbar 111, 114, 115, 548, als Serie intimer Tragödien 420, als Sieg der Materie über den Geist 331, verläuft in Zickzacklinie 493 ,634, occulter 111, Schnelligkeit des westlichen, wodurch bedingt 553, nur in einer Kampfes- welt möglich 588, als Raubzug 580, führt dem künstlichen Menschen zu 616, was innerer bedeutet 525, führt zu Lebensvereinfachung 619, ideeller ein Wesentlicheres als realer 632, und Kultur, verschiedenen Dimensionen angehörig 427, Kultur-, bedeutsamster Gradmesser 490, 634, Realgrund seines modernen Begriffs 556, den Griechen unbekannt 610. weist über das Erden- leben hinaus 631, als Rassenpartiku- larität des weißen Menschen 546, un- vermeidliche Übelstände 606, 635, in- wiefern in der Idee berechtigt 610, 634. Franziskaner tum 462. Französin, des 18. Jahrhunderts 21, hochgeborene, als bester lebender Frauentypus 483. Französisch, Sprache 329, Erotik als Metaphysik 312, Revolution 324, so- ziale Suprematie 356, und chinesische Kultur 361. Fraternitätsideal, nur vom Islam verwirklicht 178, 179. Frau, Naturbewußtsein 495, spezifische Tiefe 462, 495, bedarf der Hingabe 482, und Pflanze 316, Stellung der gefallenen 489, der Zukunft, wie sie die Ehe ansehen wird 394, japanische als vollendetester Typus dieser Zeit 491. Freiheit, Wesen 318, absolute jedes Einzelnen 633, innere hat ihr äußeres Korrelat am Zusammenhangsgefühl 647, Entwickelung zur 634, Erlangung durch Erkenntnis s. Erlösung, durch Askese und Komfort 619, als Gehor- sam gegenüber Gott 318, und Will- kür 541, 632, Christentum als vor- nehmster TH&ger des Geists der 559, unsere Idee dem Chinesen unbekannt 344, innere 7, 8, des Inders 217, des Chinesen 348, 393, höchstdenkbare 636, amerikanische als Willkürherrschaft 632, von der Demokratie überall miß- verstanden 634, soziale der Zukunft 427, 636, ihre Sphäre weicht im Laufe biologischen Fortschreitens immer weiter zurück 288, erfüllt sich in der Gebundenheit 59, 290, wird durch Befolgen äußerer Normen nicht be- hindert 354. 656 Register, Fremdartigkeit, anregende Kraft der 430, 517. Freudenhäuser, Reinheit der Atmo- sphäre in japanischen 484 ff. Freudigkeit, die buddhistische 22, christliche 559. Frieden, als Ideal verderblich 4 1 6, ewiger undenkbar 573, spezifisch orien- talisches Ideal 147, nur der Ohnmäch- tige sehnt sich nach 146. Frömmigkeit, indische und euro- päische verglichen 199, 233. Fruchtbarkeit, ihr Geist in indi- schen Göttergestalten verkörpert 79,82. Führer, Charakteristik japanischer 506. Futurismus 531. G. Gartenkunst, japanische 436, 471. Gaumen, Weltanschauung des 388. Gebet, Sinn 107, 199, 336. Gebundenheit, wertvoller als Un- gebundenheit59, als Endziel der Frei- heit 289. Geburt, absoluter Vorzug edler 42, 1 94. Gedächtnis und Erfindungsgabe als Pole des Geschehens 428. Gedanken, als materielle Erschei- nungen 100, 196, 238, 287, 538, -Über- tragung 100, sind dort, worauf sie sich heften 283. Gehirn, man muß scheiden zw. sich und dem verwandten G 11, 12 Gehorchen und Befehlen, psycho- logischer Zusammenhang 180 Gehorsamsforderung, Sinn reli- giöser 180, 257. Geist, Macht über die Materie 282, 538, 610, fähig die Welt zu verwandeln 560, kann alle Naturbestimmtheit über- winden 636, und Körper, Wechselwir- kung 99, 138, und Natur, metaphy- sisches Verhältnis 287, 432, trägt in China den dichtesten Körper 364, 464, des Menschen als Träger der Natur- bestimmtheit 579, Offenbarung durch Zufall 539, hat desto mehr Macht je reicher der Körper 245, 464, 624, offen- bart sich dort, wo er die Kraft gibt, ihn auszudrücken 198, -er, Entstehung 336, -ersehen, als Krankheitssymptom 122. G e I a 1 1 e , oft wirksamer als ein artiku- lierter Ausdruck 278. Cemein schaftsbewußtsein, Feh- len als Glück Amerikas 603. Gemüt, englisches das intensivste 390, europäisches arm im Vergleich zum indischen 201, spirituell wertlos 212. Gemütlichkeit, Nachteile 169. Genesis, Wahrscheinlichkeit ihrer Darstellung 535, 538. Genie, Wesen 238, Überschätzung im Westen 260, als Konjunkturprodukt 358, und Talent, antagonistisches Ver- hältnis 296. Gentleman als höchster Adelstypus 466. Genußfähigkeit befördert Höher- entwickelung 208. Geologie als Erzieherin 536. Gericht, Jüngstes, Vorzug des Glau- bens daran 129, 225. Germ an e, Verhältnis zu Inder und Semit 187, erotische Unkultur 156, weshalb er zum ersten Kulturträger werden konnte 585. Geschäftsmann, Idealität des 326, 342, Edelmann als unvornehmer 467. Geschichte, Eigenart 172, registriert nur einen Teil des Geschehens 161, warum nirgends weit zurückgreifend 410, Bedeutsamkeit im Sinn der G. umschließt nicht alle Werte 582, Füh- rung wird nicht dauernd bei Europa bleiben 572, Wege spotten aller Ver- nunftkonstruktion 126, und Zufall 572, Indern fehlt der Sinn für 89, 160, und Mahayana 512. Geschichtsfälschung, als Weg aller religiösen Fortentwickelung 383. Geschlechtsgegensatz, kein kos- misches Absolutum 148, metaphysische Bedeutung 22, 149. Geschlechtsverkehr, als Sakra- ment 78, 488, japanische Auffassung 484. Geschmack, Wesen 471, inwiefern seine Urteile objektiv sein können 14. Gesetze, als Kristallisationen 289, 432. Gestaltungen, wodurch bedingt 2, 290, 291, 466, metaphysisch nie ernst zu nehmen 18, 21, 88, 143, 168, 208, 226, 227, 228, 291, 362, 596, relativer Wert 11, 466 608, jede kann das Äußerste zum Ausdruck bringen 454, alle der Zeitdauer nach begrenzt 583, 631, warum die westlichen kraftvoller als die östlichen 596. Gewalt, jede schlägt dem Recht ins Gesicht 582, Okzidentalen als -men- schen 585. Gewohnheit, jede schlecht 169, 294, 389. Register. 657 Glauben, alsa priori, muß enttäu- schungsunfähig sein 132, warum Reli- gionsstifter ihn von vornherein fordern 127, Sinn des religiösen 139, 199, 212, 257, und Wissen von einander unab- hängig 199, 212, 214, 258, als Weg zum Wissen 213, 257, ohne kein Selbst- bewußtsein 132, Vorzug blinden 293, schwach in unserer Welt 1 32, warum er abnimmt 214, einziges Mittel, ihn wieder zu erwecken 215, 634, Erlösung durch 119, 215, 443, 447, Gestaltungs- kraft im Orient 167, und Sein, im höchsten Menschen zu eins verschmol- zen 147, islamischer als militärische Disziplin 180. Glaubensmenschen, warum origi- nalitätsfeindlich 262. Glaubensobjekt, Unerwiesenheit religiös günstig 140. Glaubens Vorstellungen, Gleich- gültigkeit ihrer Wahrheit 56, 202, 214, 228, 258, als Mittel zum Zweck 202, 214, 258, warum es im Westen auf sie ankommt 596, überkommene besser als neue 142, 203, alle menschlichen Ursprungs 214, sollten nie gewechselt werden 283, primitive frommen den meisten am besten 202—8, 362, 595, mohammedanische die materialisti- schesten 188, Ungeheuerlichkeit der calvinistischen 385, 593. Gleichgültigkeit des Äußeren, amerikanische und indische Erschei- nungsform der gleichen Idee 622. Gleichheitsideal, Vorzüge 552, spezifisch westlich 573, Verfehltheit 553, höchst denkbare Verwirklichung im Orient 573. Glück, wodurch bedingt 219, 352, 419, 473, nur in Funktion des Egoismus zu definieren 404, nicht Zweck, aber bestes Mittel 625. Gnade und Verdienst 275, Gottes mißt sich am materiellen Erfolg 620. Goethe 40, 90, 241, 355, 411, 412. Götter, gehen den religiösen Men- schen nichts an 140, griechische 10, 541, indische, Entstehung 13, Bedeu- tung 84, 86, 200, 335, weniger als Menschen 529, 541, indische als voll- kommenste Verkörperungen der Ur- kräfte 79, buddhistische Auffassung 43, 56, -dasein nur als Spiel zu denken 299. Goldenes Zeitalter 313. Gott, seine Grenzen 128, 286, 499, 529, in der Natur 288, offenbart sich im Rahmen unserer Vorurteile 208, drei Keyserling, Reisetagebuch. Wege zu 210, 214, 252, 588, als Ich und als Du 610, hat zugunsten des autonomen Menschen abgedankt 146, 610, -schauen, Möglichkeit 102, -be- wußtsein, Entfaltung 243, -vertrauen, mohammedanisches 182. Grande Dame, als universalisierte Hetäre 157, die Heilige Jungfrau als 144. Grausamkeit, Sinn 332, psycholo- gische Grundlage 333. Grenzen, der Person schließen das Wesen nicht ab 8, 644, als solche nicht zu sprengen 62, 478, warum äußere innerlich nicht beschränken 114, 297, 644. Griechen, Mangel an innerer Über- legenheit 181, Ausdrucksmenschen 400, warum dem Schicksal unterlegen 610, wußten nichts vom Fortschritt 610. Griechisch, Kirche 547, Architektur 62, Kunst 248, Götter 543, Phan- tasie 540, Form 346. Größe, worauf der Wert großer Men- schen beruht 134, 219, zufälliger Cha- rakter der historischen 126, wesent- liche unabhängig vom Erfolg 364, Bedeutung der quantitativen 499, gei- stige und menschliche fallen selten zusammen 124. Großmoguln, als größte Herrscher- typen 176. Gute, das, kein Generalnenner für ideale Bestrebungen 158, der Mensch soll nur gut von sich denken 223, der Vertiefte kann nur Gutes wollen 243. H. Hazardspiel 347. Hegel 191, 581. Heiland, erlöst nicht als Mensch, sondern als Ideal 131 — 133, Wesen 134, 285. Heiligenverehrung, bei Hindus und Katholiken 203. Heiliger, Wert 134, 272, nichtstuend, doch wichtiger als jeder Täter 219, als Grundton der I,ebenssymphonie 271, 411, mehr als der Weise 278, schlechter Schriftsteller 261, Mittei- lungsfeindschaft 218, widerlegt nicht das Weltkind 272, minderwertige 121, 225, Zufall, ob einer zum H. oder Verbrecher wird 226, christliche und buddhistische 462. Heiligkeit, eines Orts, Sinn 195. 42 658 Register. Held, der antiken Tragödie als Bar- barenideal 174, chinesische Mißach- tung 415 Hellsehen, Erzieh im g zum 103. durch Krankheit erkauftes wertlos 103 Herrscher, E u ropäe r als M am höch- sten steheöd 342, -hauser, warum sie am langsamsten , 166. Hetäre, als Erzieherin 156, 4o2, als jPriesterin 483, indische Tempel- 79, 489. H i m m e 1 r e i c h 23, 37, 280, auf Erden zu begründen, Mission des Westens 267, 560, 577, 631. Hindernisse m296, H i o d u i s m us, katholischer Charakter 203, 256, 268, Vegetation! artiger 28, 81, 303, anittiaKßcher 81, 87. Hingabe, als Bedingung des Emp- fangens257, Grund des Triebes zur 133. Hinterwäldiertuni 437. Höchste] Ca' akteristik 606, ein Unbegriff 270, 446. Höchstes, es gi bt nichts abr.olut 27 1 , 289, inwiefen erreichbar 297. Höflich k e i t , als Elementarausdruck der Sittlichkeit 354, chinesische 355, 474, japanische 470, 474. Humanität, Entwicklung der 333, dem Amerikaner unbekannt603, männ- liche Form 143. Humor, Wesen 331, chinesischer 346. J. Japan, Natur 435, Merr- 1rum der Natur 498, sein bester Geist 494, Bildung des kleinen Mannes 439, darf sich verwesUkheu 506. Japaner, westlicher C 440, 506, 515, 516, unintellekfaiell 496, un- individualisiert 497, un] b 469, verwandlun'gsunfähig 461, 508, Nach ah s 507, Gru ndch ''■ k 140, 465, 4 7 7, 506, im Ernste ui int 510. Japan e r i n , Ch a ra k terist i k 490 . Japanisch, Tiefe 495, tritt im Pa- triot ismus zu tage 451, R 152, 461, 515 u im Empfindungs- leben 451, Höflichkeit 439. Ich. als Jtoflenwelt'9, 282, 524, 544, mit Person nicht identisch 12, 296, als Instrument 424, 479, Gott als 610, absolute Autonomie 633, als Born un- endlicher Kraft 280. Ideal, höchstes konkretisiertes un- denkbar 159, äußerstes des Menschen- lebens 330 (s. Vol der Norm 407 — 12, 425. irisches die Massen au * -i' 615, '95 Ideale, I anderen 159, liehe 143, 146 265, 408 soi > IL 7 » ■ 2/0, 408, 492, ■■ 367, 610, v 131, 133, 411, j ß be- som lere Iv 18, 645, Weit zu.p, 367, al G e 271, 4 l Z< i Idea 588, i 312, dei F des frm -■■!- 39, 48, 645. Ideen, al 213, als B di: che la ■ so potent päische 261, praktische Wirl una 125, 558, 594, Möglich* zu kommen 240, Piatos 240, als Mächte is 107, 108. Illusionismus, und in« 29. Imperi it m 175. Inkom p lesr in Demokratien 374, 632. Inder, ;; o weit 342, 348, -: 22:>, ■ rii Ind" j 264, K u 1 1 u ) 242—46, Ku us- 80, 81, 150, 248, Lie leben 155, 210, M gest. 73, 163, Per: 303, Philoso- phie, Gm :.ter 233, kein Pro- dukt des Denkens 230, 259, empiri- Register. 659 stisch 231, 234, in keinem System restlos enthalten 233, Tanz 92, Weisheit, Grundcharakter 229, 302, Eigenart 253 ff., Ursache ihrer Tiefe 235, weswegen unproduktiv 261, 266, läßt aktive Interpretation zu 267, Weltanschauung, pragmatistisch 234, Vorbildlichkeit 235, Ausschließ- lichkeit 253, Schlüssel zum Problem der 76. Individualisierung, Möglichkeiten 555, bedingt Potenzierung 566. Individualisiertheit der ameri- kanischen Flora gegenüber der tro- pischen 566, Mangel der Tropenflora an 66, nicht notwendig zum Wesent- lichen 427. Individualismus, Zeichen von Ober- flächlichkeit 556,' Nachteile 555, er- zeugt Weltbürgertum 455, Vorzüge des westlichen 588, 596, 602. Individuum, als Organ des Selbst 7, 296, und Gattung, stehen in po- larem Verhältnis 14, 392, ein Unab- leitbares 191, ein zu Überwindendes 4, Unbedeutsamkeit 48, 57, vom Orient nie ernst genommen 334, Vorzüge seiner Wertschätzung 588, 596, 602. Initiative, macht Gott und Teufel machtlos 1 46. Inszenierung, indische 78. Inspiration, kann festgehalten werden 239. Institutionen, gute lassen auf den Menschen keine Schlüsse zu 333, 550, nehmen ab au Bedeutung propor- tional dem Menschenwert 371, die besten in Amerika 569, 600, als schöpferische Mächte 551. Intellekt, als Dominante der Seele beim Vorgeschrittenen 207, 293, 518, als unpersönliche Macht 526. Intellektualismus, Bestimmung 426, chinesischer 400. Intellektualität, Nachteile 207, 215, 293, 515. Johnson, Dr. Samuel 412. Irrationalität aller indischen Ge- staltung 81, 87. Irrenanstalten 68. Irrtum, als Ausdruck der Wahrheit 86, 226, als Weg zur Wahrheit 588. Islam, verwischt Rassenunterschiede 154, 178, 180, Gestaltungskraft 179, macht überlegen 181, als Religion des einfachen Soldaten 181, als Religion der absolutesten Hingabe 72, und Calvinismus, Verwandtschaft 178, 182, okziden talischer Charakter 186. Juden, als auserwähltes Volk 126, Christen und Muslims als Brüder 186. J iuj it s u , als Grundsymbol des Japaner- tums 507. Jugend, der westlichen Menschheit 568 ff„ ewige als Postulat der westlichen Entwickelungsniöglichkeit 572. K. Kaisertum, chinesisches 368, 413, englisches 481, japanisches 503, rus- sisches 504. Kalokagathia, Nachteile 310. Kampf, ewiger, als notwendige Folge der westlichen Lebensformel 573, ver- wandelt die Seele 586, ohne ihn keine Erkenntnis 587, -es weit, Vorzüge 588. Kant, der von ihm abgesteckte Bau- plan der Seele kein äußerster 101, 235. Kar ma- Lehre 223, 609. Kaste 94, 163, 167. Kasteiung, Wert 121, Yogi Feind der 123. Katholizismus, Wesen 205, 256, Ausschließlichkeit 396, als Bewußt- seinsform 397, tiefer als Urchristen- tum 446, spiritueller Entwicklung günstiger als Protestantismus 205, 261, der psychischen Bildung günstig 385, als System geistlicher Hygiene 204, der Kunst förderlich 83. Katholischer, und protestantischer Geist, Unterschied 205, 256, 357, 385, Charakter des Hinduismus 203, 256. Keuschheitsideal, Sinn des reli- giösen 209, 408, als Exponent brutaler Sinnlichkeit 486, europäisches und japanisches 493. Kinder erzieh ung, indische 199, japanische 439. Kirche, bringt eine Religion immer besser zum Ausdruck als bloße Texte 38, katholische und indische Auf- fassung 448, buddhistische 460, 513, dem Chinesen ein Kulturbureau 336, als technische Anstalt 407. Klassische Bildung, Wert 398. Klassizismus, chinesischer 395. Kleider, metaphysische Bedeutung 16* Körper, je reicher, desto besseres Aus- drucksmittel des Geistes 463, Phan- tasie des 1 1, 41, 53, 288, 530 und Geist, s. Geist, Westländer müssen den ihren erneuern 571, Evangelium des 572. Komödien, Shakespeares 299. 42* 660 Register. Kompromisse, nur an der Ober- fläche möglich 109. Konkretisierung, chinesisches Ideal der 407, 426. Krankheit, als positiver Zustand 1 20, Vorzüge 309. Krieg, verändert die Bewußtseinsform 453 ff., Notwendigkeit als Wachstums- krise 583, Vermeidbarkeit 577. Krieger, unter Chinesen verachtet 415, als Vorstufe des Weisen 586, -stamme, ergeben die höchsten Kultur- völker 585. Kritik, jede bringt Segen auf die Dauer 590. Künstler, als Weiber 149, psychisch unvereinheitlicht 84, selten mensch- lich vollwertig 268, Zwitterstellung 345, des Orients als Yogis 250, 436. Kunst, nur höchste hat die Bedeu- tung, welchen von Ästheten aller zu- gesprochen wird 13, 429, Einfluß der Natur auf ihre Entwicklung 435, Ge- setzmäßigkeit dieser 185, Geheimnis spiritueller 250, des Westens vernunft- geboren 248, 455, orientalische und okzidentalische verglichen 249, rein dekorative bedeutungslos 93, weniger interessant als Natur 13, 431, indische als Phantasie des Fleisches 89, ost- asiatische als Fortbildung des Eigen- willens der Natur 436, chinesische 251, 364, 464, japanische 455, 499, -denk- mäler, Bedeutung für die Geschichte 185, -geschieh te, wodurch kritische möglich 185, -stile, inwiefern objektiv zu beurteilen 14. L. Landwirtschaft, chinesische 366 europäische 605, amerikanische 607, chinesische auf moralischer Basis be- gründet 605. Langatmigkeit, der chinesischen Kulturentwickelung 327, 381, 400. Ivangeweile, während der Blindheit unmöglich 301, der Einsiedler kennt nicht mehr als der Weltmann 644. Laxheit, japanische in sexuellen Dingen 488, 493. Leben, Wesen 299, 347, 539, Entstehung des 536, als Inbegriff des metaphy- sisch-wirklichen 288, modifiziertseinen Ausdruck den Möglichkeiten ent- sprechend 22, 290, 501, - k u n s t 160, -problem, Lösung des äußeren 619, -rahmen, Theorie der Gottgewollt- heit 10, 128, 381, Vorzug eines un- günstigen 296, der angeborene den meisten am zuträglichsten 386, meta- physischer Wertmaßstab 231, jeder positiv 492, schöpferische Wirkung 501, nie Selbstzweck 231, -Vernein- ung, indische und europäische 15. Legitimitätsgedanke, Begründet- heit des 374, 501. Lehre, wahre als Zukunftsideal 446 ; sich widersprechende gelten in Indien als gleich orthodox 88. Lehrer, gibt nicht, sondern löst aus 132, spirituelle 257, weshalb es ihrer bedarf 285. Lehrmethodik, indische 230, chine- sische 397. Leiden, nur durch Änderung der Be- wußtseinslage zu überwinden 252, 610, Wert des 608. Leidenschaft, als Oberflächener- scheinung 80, kein Wert 174, 244. Leistung, und Sein, antinomisches Verhältnis 20, 109, verschiedene Be- deutung unter östlichen und west- lichen Voraussetzungen 564, äußerste als Lebensideal 614. Liebe, als Phantasiegebild 31, 544, als Frage der Konzentration 244, weshalb sie schön macht 319, vom Westen überschätzt 210, 393, nur im Westen objektive Macht 551, 559, allein ver- steht 545, mögliche Göttlichkeit 211, 394, -eult und Orgiasmus 78, zwischen zwei Menschen kein Beweis eines Optimums für die Nachkommenschaft 392, geht immer auf das Typische 394, kein Monopol der Christenheit 201, 210, göttliche jedem immanent 69, als leichtester Weg zu Gott 210, zu Gott in Indien reicher ausgeschlagen als in Europa 201, 209, als späte Ge- staltung 391, chinesische 391, sinn- liche als Mittel geistlichen Fortschritts 78,489, christliche, mehr physio- logisch als theologisch bedingt 440, mannichfaltige Äußerungen 444, we- sentlich rücksichtslos 360, und buddhi- stische 47, 444, absoluter Vorzug 599, -skunst 155, 488, und Tortur 332, -sieben, indisches 1 55, chinesisches 391. Logik, indische als animalische Wu- cherungserscheinung 88, dem Wesen nicht gewachsen 232. Luther als Katholik 206, 257, theo- retisch oberflächlich 217, 593, seine Bestimmung des Wesens der Religion Register. 661 593, Tragödie 217, tiefste Gemüts- kultur geht auf ihn zurück 594, -tum, in ihm hat das Christentum seine Gestaltungskraft eingebüßt 20, Cha- rakteristik 383. Männlichkeit, der westlichen Psy- che 144, 202, und Weiblichkeit, me- taphysische Bedeutung 148, durch Milieu bedingt 23. Macht, als Böses 582, und Recht 584, des Westens über die Natur als Un- glück 576, 580, als Vorzug 610. Magie, Apologie der 75, 407, warum sie an Bedeutung verliert 206, als Metier 122. Mahatmas 284. Mahäyäna- Lehre s. Buddhismus. M ä j a , als Geist der westlichen Wissen- schaft 45, -lehre, dem westlichen Naturalismus physiologisch äquivalent 29, den Tropenbewohnern eingeboren 43. Mantras 74. Marc Aurel 176, 334. Mariendienst, Erziehungswerk des mittelalterlichen 144, 146. Maschinerie, ihre Macht Exponent politischer Unreife 372, exzessive Be- deutung in demokratischen Gemein- wesen 235, 375, 632, als Ersetzung der Sklaverei 619, als Selbstzweck 612. Maskierung, als Mittel zur Selbst- verwirklichung 17. Materialisationen 50, 99. Materialismus, Wesen 49, gutes Durchgangsstadium 549, 565, 567, als günstige Basis spiritueller Kunst 458, durch Wohltätigkeit befördert 221, des Westens als Effekt des Christentums 51, des Westens dem kindlichen ver- gleichbar 568, Sinn des westlichen 187, 463, 565 ff., einziger Weg zu seiner Überwindung 622. Materiell, Begriff 50. Mathematiker, Wesen seiner Son- derbegabung 237. Mechanisierung des Lebens, Be- deutung 30, als Gutes 612. Mechanistische Weltanschauung der ritualistischen äquivalent 361. Meditation, Wert und Wesen 106. M e i s t e r der Theosophie 127, 1 44, 245. Mensch, ein zu Überwindendes 252, 277, 636. Menschenopfer, Sinn 78. Menschheit, als Orchester 271,475, Einheit 647, künftige Solidarität 629. Messiaserwartung, steigernde Wir- kung 131. Methodismus, Einfluß auf die eng- lische Kultur 247. Metaphysiker, Wesen 5, 302, spezi- fische Wirklichkeit 103, 478. Milieu, seine Bedeutung 20, 35, 68, 501 . Mission des Westens eine rein prak- tische 558, 577, 594, Heiden- sollte verboten werden 405, 423, Rechtfer- tigung 559. Mitgefühl, asiatischer Mangel an 334, als Kulturprodukt 335. Mitleid, als niederste Form der Sym- pathie 143, männliches Äquivalent 147, Buddhas 334. Mittelalter, Geist des 464. Mode 16. Möglichkeit, als spezifische Wirk- lichkeit des Metaphysikers 261, 478. Mönchtum, Einseitigkeit seines Ideals 159, ceylonesisches 38, 45, bir- manisches 312, japanisches 461. Mogulenkultur, okziden talischer Charakter 184, Verhältnis zur Renais- sance 191. Mohammedaner, Vornehmheit 178, 182, Toleranz 178, als Idealisten 187, Verwandtschaft mit Christen 187, in Indien nur als Herrscher bedeutend 1 75, materialistische Vorstellungen 1 88. Monismus schließt Pluralismus nicht aus 228. Monotheismus, warum er überall den Polytheismus ablöst 84, morali- siert aber verdürftigt 84, 183, schafft die stärksten Charaktere 183. Moralische, das, als Grundmacht der Welt 371, das, kein möglicher General- nenner für ideale Bestrebungen 158, 272, 371, Bildung, als Wichtigstes fehlt dem Europäer 421, hohe der Chinesen 349, 376, 422, Instinkt, in- wiefern vorhanden 69, Rebellion der modernen gegen das 350. Moralist, typischerweise amoralisch 268. Moralität, als Einsichtsfrage 69, 213, 243, 294, 351, 418, und Zweckmäßig- keit, Verhältnis 69, 422, 551, als ge- bildete Natur 351, 419, als Tiefstes des Chinesen 349, als Selbstverwirk- lichung 367, als Basis der Natur- ordnung 349, 367, als Basis des Staat 371, 378. Mormonen 592. 662 Register. Modifikation, Sinn der 121. Musik, Programm- 300, indische 299, und Rhythmik 473, und Kristall- bildung 537, warum sich das äußerste in ihrer Sprache allein sagen laß': 249, und Metaphysik 643. Mut, als Tierisches 415, moralischer 379, nur auf moralischer Grundlage produktiv 585, führt am schnellsten zum idealen Ziel 588 Mystik, warum christliche der in- dischen nicht ebenbürtig 518, inwie- fern tiefer 646, katholischer Charakter aller 85, 206, dem Polytheismus nie feind 85, -er, Wesen 84, persische 69, 201, und Skeptiker berühren sich 263, Weg vom Theisten zum 610. Mythos, indischer, nur als Vegetation zu verstehen 28, Bildungsgesetze 90, wahrer als Geschichte 90, als gegen- ständlichster Wahrheitsausdruck 146, 536, als letztes Wort 538. N. Nächstenliebe, inwiefern wertvoll 51, Vorzug der christlichen 559, prak- tische macht eng 38, macht oberfläch- lich 159. Napoleon 324, 377. Nation, es gibt keine indische 87, 1 63, -algefühl vereinbar mit Weltbürger- tum 630, -alismus 350. Natur, Ursache des Erhebenden großer 15, interessanter als Kunst 13, 429, und Geist, metaphysisches Verhältnis 287, 432, dem Chinesen äußerste In- stanz 343, 417, Vorbildlichkeit 345, existiert kaum für den Inder 311, 365, Konservativismus 327, Urkraft der amerikanischen 571, und Kunstent- v/ickelung 435, der Dinge führt eben- dahin, was die Weisheit antizipiert hatte 577, 589, ein zu Überwindendes 344, 636. Naturalismus 29, 509. Naturbestimmtheit, Unentrinnbar- keit 16, 292, kann überwunden werden 213, 252, 636, -gefühl, japanisches 470, 498, 509, ostasiatisches gegenüber dem europäischen 431, 470, 578, -gemäßheit als Ideal förderlich 345, bis zu welchem Punkte 532, -gesetze, durch Konzentration der Vernunft ge- funden 249, als Spielregeln 299, defi- nieren die Natur als solche 282, Kenntnis der als Herrschaftsmittel 591, Chinese kennt keine 371, -götter 79,541, -haftigkeit, noch so ver- feinerter Chinesen 418, -kräfte, Mißbrauch führt am schnellsten zur n Benutzung 577, 576, -stufe, die neue der Vorhut der Menschheit 294, 628, 649. Neu en 1 steh ung, inwiefern es gibt 145, 538. Neuerungsstreben, macht ober- flächlich 50, -feindlichkeit der Ind- r 259, der Chinesen 327. New tho.ught, Verdienste und Vor- züge 140, einzige mystische Bewegung dieser Zeit, die im Westen Zukunft hat 141, 623, seine kopernikanische Tat 621, Grenzen seiner günstigen Wirkung 609, und Zen 516. Nicht- Einförmigkeit, Segen der 518. Nicht-Ich, Grundlagen der buddhi- stischen Lehre vom 36, deren nach- teilige praktische Folgen 48. Nicht-Regieren als Regieruugsideal 371. Nicht-Wissen als Vorzug 419, Ur- sache alles Übels und Leids 297, 577. Niedrigkeit, christliche Idealisierung der 50. Nietzsche als Krampferscheinung 1 47, hat Gleiches erstrebt wie Newthought 623, Verhältnis zu Buddha 30. Nihilismus, der buddhistische 29. Nirwana, physiologische Ursache der Sehnsucht nach 32, Vieldeutigkeit des Begriffs 36, buddhistischer 37, 46 und brahmanistischer Begriff 274, warum Buddha nichts Bestimmtes darüber gelehrt 37. Norm, Ideal der 407 ff . 0. Obj ektivationen der geistigen Mächte als Brücke zwischen Ideen- und Erscheinungswelt 629, entspre- chen fortschreitend besser dem Innern 635, ihre Überwindung 636. Occident, Grundcharakter 546 ff., -gebrechen seiner Zivilisation 520, wo- her deren Effikazität 565, und zer- störende Wirkung 576, 580, Grund- unterschied gegenüber Orient 187, 546, Wertbetonung des Individuellen 596, Mission 630, sein Weg zum Sinn führt durch die Erscheinung hindurch 44, 566, 568, wesentliche Männlichkeit 144 ff., Bestimmung 187, inwiefern barbarisch 550, hat zulange ihm un- Register. 663 gemäße! 146, seine Kul- tur meditarraoe sehen Ursprungs 186. O c c i d e i Na^ nie- drig 549, V, fi cbara! -■- 18i mäöii- lich 144, 146 2Ö2, Abh äuß 571, 350 421, 112, w Ju 589 i 65, • ■ , Mii voi din ö 566, Ori i29. Ocn Grn rieh 102 Ali; ß i in, N. bee Bede 133, Ge- fall; 139 141 und Mora i ät 10S, als ( : tua 111, 115, 139 Occu i ti s I e n , men schlich n derwertig 109 115, können Führer sein 139. Öffentliches Leben, üb teressaut, we Österreich i« it e •■- Aristok ra ▼ollkoi ; Typus 56. Om, die Silbe 215. Opfer 598 Op< in ■ ehe Macht 223, 553 chau- ung 222 Orient. 1 '. Q 1- un . 546, Geheini Ku. (67, Üaucr- ha ; 353, 428 Orients Irreell es 365, Ve r-sa- en 377. Original -itätsfeinefschaft des Inder» 2ö0, 263, des chinesischen Literaten 396, niemand is,t im vollen Sinne 185, 647, -e, warum in China selten 340, Bedeutung ihrer Vorherrschaft im Westen 555, Überschätzung 260, 262. Ozean, Mannigfaltigkeit 57, 529. Päpste als Herrschertypen 177. Pawdits 228, 232. Paradies, Wahrheitsgestalt der Vor- ung 69, Sbiväs 279, einzig vor- 540 Pai he 33L Pari: 21, 342. Parvenüs 501, 553, 600. Paf 1 ds 181, e Gericht ' 129, 225, 608, des Pro- 387. 519, 647. Perception, I 237. Per;- ö.nli enziert- »96, Möglichkeit reich- . I in Höchstes 4, 29-1, 636, erreichbar 480. uung 57, 15, 292, als In- : 479, als O Selbst 296, i teil- iden- lung durch Un. f Welt 610, Buddhas letester Geistesaus- 431, enthalten die prin- Probleme I »opisehe 63, 65, be 566 Recl tg 255, als 634. • i g i e , Wahrheit der a 28, 33 Pha sie, d Korpers 11, 41, 52, 288, 531, des Fleisches, indische Kunst als 80, 82, des Herzens 334, und Technik, Wechselwirkung 477, vege- äen Tropen 27, 33. Ph an tastik, in Natur und Kunst 531. Philologie, als Tor zur Humanität 398. Philosophie, Gruudaufgabe, 330, als Ausdrucksform 228, Unvergleichbar- keit der indischen und der euro- päischen 229, Fortschritt dieser 590, Studium, in Indien und Europa 230. Pilger, indische 73, 222, japanische 450. Plasticität, Wert der 6, 53, als Ideal 289. 317, I 33, 121, 318 316, 664 Register. Plastik, indische 80, 250, griechische 14. Plato, als Metempsychosengläubiger 130, psychologische Grundlage seiner Ideenlehre 240, Eros 211. Plotin 240. Poesie, Ausdrucksfähigkeit 249. Politik, Interesse für schadet den meisten 376. Politisch, Kultur, ruht in China auf moralischer Basis 349, Ideal, das 633. Polygamie, Vorzüge 84, 158. Polytheismus, Wurzel 83, Vorzüge 83, der katholischen Kirche 84, als Ausdruck einer unvereinheitlichten Psyche 84, der Theosophie von allen am schädlichsten 139. Prädestinationsglaube, Vorzüge und Nachteile 181, 225, vom Tun des Westens widerlegt 145, 610. Pragmatismus 96, 228, 234. Priester, buddhistische 1 8, j apanisch- buddhistische 448, Fehler der christ- lichen 19, katholischer dem prote- stantischen in der Idee überlegen 408. Probleme des Menschen werden durch das Licht Brahmas ausgelöscht 281. Producieren, dem Vollendeten un- möglich 261, Sinn 310, geistiges als Fortbildung präexistierender Gestal- tung 185. Produktivität, Geheimnis der japa- nischen 477. Programmusik 300. Proportion, japanischer Sinn für 47 1 , Bedeutung der harmonischen 473. Prostitutionspkroblem, Lösung 485. Protestantismus, hat vollständig gesiegt im Sinn der Geschichte 135, 144, 206, 357, 548, 623, geistlich-tech- nischer Unterschied vom Katholizis- mus 205, 256, Geist 205, 383, vertieft nicht die Erkenntnis sondern das Han- deln 206, wird fortschreitend unkirch- licher 406, indischer 151, 204, 256, un- künstlerisch 387, chinesischer 383. Proteus, als Prototyp des Metaphy- sikers 5, als Ideal 290, Grenzen 16, 292, 479, die Stufe über ihm 644. Protist, nur von der Psyche her zu verstehen 287. Protoplasmatischer, als höchster Zustand 289. Provinzielle Geister, großstädti- schen unterlegen 21. Psychische Phänomene nicht an- deren Wesens als materielle 28, 287,. Entwickelung impliziert nicht Spiri- tualisierung 115, Wirklichkeiten, exi- stieren objektiv 34, 287, 336, Schran- ken ebenso wirklich wie materielle 7, 68, 94, 166, 466, Unbildung west- licher Religionsstifter 593, Atmosphäre 196, 274, 342, Primat des bei den Indern 76, 94, 226, 264. Psychologie, buddhistische 34, in- dische, Tiefsinn 236, 240. Puritanismus, Nachteile 159, 272, 397. Q- Qualitäten, es gibt keinen General- nenner für 83. Quantität, als amerikanisches Gene- ralideal 20, 548, 581. Quantitatives, Bedeutung 424, 499,, 537. Quietismus, chinesischer 340, 344. Ursache des indischen 265, 266. IL Radikal-Böse, das 109. Radikaler Charakter aller Grundge- fühle 109. Rasse, nur innerhalb beschränkter Zeitgrenzen existent 457, psychisch bedingt 166, keine letzte Instanz 636, wann ein Äußerstes 461, und Religion 153, 188, 402, 463, -nfanatismus, Sinn 350. Rationalismus, Indern unbekannt 88, 228, der westlichen Kunst 248, der katholischen Kirche 449, der Chinesen und Griechen 403, der Theosophen 1 17. Rationelles und Dekoratives in der Architektur 189. Realisieren, das eine was not tut 203, 258, 5 1 7, 628, den indischen Weisen kam es nur auf R. an 258, 262, in der Phantasie 264, in Erkenntnis und Leben unvereinbar 265. Realismus, der Masse am bekömm- lichsten 226. Recht, des Stärkeren 585, und Macht 584, -fertigung durch Glauben 217, 593, -bewußtsein der Chinesen 379, der Engländer 585. Reconvaleszenz 309. Register, 665 Reflexion, nur ein Mittel zur Per- zeption 237. Regel gut nur insofern sie freier macht 170. Regierungsform, chinesische höchste in der Idee 371. Reichtum, unbedingter Vorzug 93, selbstyerständlichwerden bestes Mittel zur Überwindung seiner Nachteile 624, als religiöses Postulat 620, bil- dende Kraft 501, 624. Reinheit japanischer Kurtisanen 487, 496, -sideal, geschlechtliches 484, 493. Reisen, Wert für den Metaphysiker 6, macht die meisten oberflächlich 6. Religion, wahrer Sinn 262, heutiger Begriff zu weit 143, Überflüssigkeit neuer 142, 147, 627, Sinn des Wechsels 517, Zusammenhang mit Rasse 152, 188, 405, 461, angestammte die beste 208, der Gesundheit 572, der Zukunft 514, Zeit möglicher universaler vor- über 136, Ursache der werbenden Kraft der indischen 148, 517, Unterschei- dungsvermögen der Inder in Sachen der 209, -sgemeinschaft, besteht zunächst immer aus kleinen Leuten 124, -sgeschichtlichesWerden, paradoxaler Charakter 1 25, -Stifter, westliche und östliche verglichen 593, Vorzug wissender 51, 202. Religiosität, Wesen 262, 406, Frage der Verinnerlichung 243, indische 194 ff., chinesische 335, 385, 404, ja- panische 450, 457, 515, russische 201, westliche 592 ff., niederste Form der 314, und Sinnlichkeit 408. Reliquiendienst 70. Renaissance 191, 358, 631. Rentabilität, > als ästhetischer Grundsatz 604. Republik, schlechtestes Regime 374, 504, 632 ff. Ressentiment als Produkt des Christentums 42, 51, der Armen im Orient gering den Reichen gegenüber 222, Überwindung in Amerika 602. Revolutionen, als Fiebererschei- nungen 324, ihre Notwendigkeit 373, 583. Rhythmik, ostasiatischer Zeichnungen 251, in Natur und Kunst 473. Rhythmus, Indifferenzpunkt zwischen Gegen- und Zuständlichkeit 301. Ritenlehre, Tief sinn der indischen religiösen 204, der chinesischen 355, 362. R it t e r, als edelster Typus 466, indische 160. Ritual, psychologische Bedeutung 75, 216, 257, Ursache der Überschätzung in allen frühen Kulturen 361, warum es fortschreitend an Bedeutung ver- liert 206, -philosophie, indische 74, 204. Romane, dem Germanen inwiefern überlegen 157. Romanische Form 347. Rücksicht, Nachteile 143, 254, be- nachteiligt die Aufrichtigkeit 360,. -skultur, japanische 439, 475. Ruinen, woher ihre Wirkung 63. Russe, als bester Psycholog 342, Ähn- lichkeit mit Inder 200, 363, Religio- sität 200, Naturgefühl 365, Organi- sationsunfähigkeit 617, mangeludes Abstraktionsvermögen 62, weiter Hin- tergrund 363, Willkürhaftigkeit 585. s. Sanftmut, als Ideal tut nur Gewalt- menschen gut 265, keine günstige Naturbasis 585. Schadenfreude, als Urinstinkt 334. Schauen 60. Schauspieler 5, 292, 450. Schein, Hypostasierung im Orient 18, die Welt als 28. Schematismus, des Menschen- geistes 58. Scherz, metaphysisch dem Ernste gleichwertig 299. Schicksal, griechische Idee 631, in- wiefern existent 609, wodurch bedingt 290, als Konvention 465. Schlangen 67. Schmerz, vom Willen beeinflu ßbar 332,. als Weg zu Gott 112. Schönheit, in der Natur und als Ideal 575, metaphysische Bedeutung 13, 55, 113, 134, 319, als vollendeter Ausdruck rassialer Formtendenzen 13, 113, Bedeutung ihrer lebensteigern- den Wirkung 134, nie individuell be- deutsam 14, was dem Urmenschen so erscheint 77. 666 Register. Scholastik, typische B chei nung der Sp 1 d , bin mann doch ohne 255, j Maß zu gi im ä ni< p ) sehe 581 Seele, als ttatu % fJ 2, 282, 526, pro opla ra -287, I d t .vi Wil krüpp< 615, •:■• k: , a - . •) 520, 6; d< u ■ .<; 116, 270, 643, nicht Tat- 128, Piatos G au e a 130, G i.-.c •;. laubt ■ 129. Seim sn cht als T. 30. Sem, «richtig« i als h i 1 5, 219, 220, der Imic.r entsp L i i l< i 110, and Tu , u p Uua eil 342, 378, w ■■» ung 44, und GJaul S.< en, v ichiedene O .in and Okzident 595, japanische' 447, 515. Selbst b e h e r r s c h u a g 424, 577, -b e- s c h i 9 ii k u d g, No; wendigkeit 19, 576, ►he r t s c h e 1 1 u ra , Vor fcüge 504, -los i i k ei t, spezifische des Geistes- in ■ :m.- en 20. des höchsten Menschen 619, -r e'guliefung der Natur 419, 584, -Überschätzung, Vorzä ge 528, des Menschen 523, 532, -Ver- wirk lic h u n g , v MBchiedene Wege zur 2, 133, 566, gelingt am besten im Rahmen vertrauter Vorstellu en 143, Übernahme eines Fremden als kür- zester Weg zur 517, II avi u dje Welt als kürzester Weg zur 6, 642. ■ S e x u al p 1- o b 1 e m , japanische Lösung 481 U., i lische Lösung 489. Shakespeare 41, 299 S h i n t o 494, 509. Sichtbare, Welt, ihre Sonderart 478, exi stiel i iür die Inder nicht 311, Korra als unmittelbarer Wesensausdruck 250. Sinn, als Primares 7, 91, 254, 446, 486, als rein intensives 235, bestimmt den Tatbestand 254, 331, 489 und Erschei- nung im Gottesdienst nicht willkürlich verknüpft. 37, mysteriöse Verknüpfung 192, und Laut 37, 215, keiner steht vereinzelt da 331, aus dem Wortlaut nicht notwendig erschließbar 229, 278, und Zufall 539, -e ursprünglich alle gleichwertig 388. Sinnlichkeit, der europäischen At- mosphäre 4S6, Naturen 408, 244. > der als Form der Auf- richtigkeit 362. S k e p s i s und Allwissenheit berühren sich 263 Sklave rei, vollkommen ersetzt durch 612. Soziale Frage, !Cern419, chinesische leal, in Alt-China ti 352, 382, Zukunftslösung 4, 29, 602, 636. Sozia 588. Solle des 113, als spezifisch 563. Sonnenkult, tiefer Sinn des 197. Sojen Shaku 515. Spätreife, d es Hochbegabten 293. Spannung, erotische, dem Manne notwendig 156. Spie - ernst zu nehmen wie Ernst 299, Weltschöpfung als 298. Spieler, Psychologie 347. Spirale, als Weg der Natur 310, 316. Spi ritualisierung, Wesen 112, und Fortschritt, Gegensatzverhältnis 111, 115. Spiritualität, durch Autoritäten- glauben begünstigt 260, durch Neue- rungsfeindschaft begünstigt 259, der orientalischen Kunst 248, 455, des Ostens größer aber magerer 245, 463. Spirituell e Riesen, irdisch schwach 125, 127, 128, 284, Kräfte, Art und Sinn 127, 445, das, als Prinzip 124, Wahrheiten, wesentlich paradox 52. Ssolovioff, Wladimir 355. Sprac h e , keine kann alles sagen 329. Staat, als Selbstzweck 582, -form, bestmögliche ein Unbegriff 352. Standesehre, Relativität 467. Sterben, edelste Stellung zum 599, -de, Ursache ihrer häufigen Sereni- tät 120. Stilisierung, erfüllt die Natur 480. Still halten, Wert 106. Stolz, begünstigt Achtung anderer 585. Strafe, als Abschreckung 333, jede verletzt das sittliche Bewußtsein 584. Sünde, Wesen 224, Inder kennen keine 223 als barbarische Vorstellung 224, als Weg zu Gott 276, 296, 588, 608, 645. Register. 667 Sündigkeitsbewußtsein, Verwerf- lichkeit 234, als Erbsünde der Christen- heit 50, 182, Entstehung 608. Sutrastil 230. Symbolik, unmittelbarer Sinn für der Inder 74. Symphonie des Leben 536, 631 . System, keines erschöpft die indische Weisheit 228, 234, nie mehr als ein Skelett 7, und Mensch in keinem notwendigen Zusammenhang stehend 334, 350, 421, 491, 626, schöpferische Wirkung eines besseren 551, 619, -sucht der Inder 88. Tagore, Devendranath 256, Rabin- dranath 302. Talent, indische Auffassung 238. Tantras, Bedeutung der 37, 207, 209. Tanz, indischer 92, japanischer 479, hawaianischer 542. Taoismus 340, 344, 402. Tatmenschen, Nervenkrisen 338, müssen an Vorsehung glauben 262, wesentlich beschränkt 263. 268, Okzi- dentalen als 560, 594, -sachen, Gleichgültigkeit 18, Inder kennen keine 255, Telepathie, Möglichkeit 99, wird praktisch nie viel bedeuten 138. Theater, indisches 154, japanisches 464. Theo sophie, als Religion 98, 138, zu simplistische Vorstellungen 117, be- dingt Veräußerlich uug der Religion 139, und Mahajäna 461, schwach insofern sie zu umfassend fein will 136, zieht falsche Konsequenzen au richtigen Lehren 148, 266, deutet in- dische Weisheit um 98, 148, Materialis- mus 98, Zukunft der 124, 136 hat keine historische Weltmistion 135. Theosophische Gesellschaft, Verdienst 97, mögliche Mission 136, Ideale historisch verjährt 143. Thomas,aKempis50, 201, Aquinas232. Tiefe, Definition 453, durch Konzen- tration bedingt 243, 247, durch phy- sische Kraft realisiert 464, wird auf die Dauer zur Fläche 399, mögliche des Oberflächlichen 39, Gottes 349, der Natur 495, japanische 453, der Bewußtseinslage indischer Weiser 235, -sinn und Nervenkraft 242, warum religiöser von der Tropeunatur begün- stigt 43. inwiefern Tolstoy ohne 62. Tier, keine freie Phantasie 52, 59, Fähigkeiten 528, Vollkommenheit 59, 530. Tod, Bedeutung 110, mögliche Über- windung 213, Stellung des Moham- medaners 181, des luden; 222, des aesen 332, des Christen zum 213, TU !es Geschehen 583, G ■ ■■ 332. Toi er j 178 chinesische 37e< -sehe Ur bängl von der >2j als Re- .viekciung 597, 629. Tolstoy, Graf Leo 62. 365. Tori der 332. Trad ssel 572, Befolgen der >i Erfinden äquiv^e>»t 327, 3b2. T r ä g h e i t , als schlimmstes Laster 252. Transfigurieren, Sinn des Begriffs 39. als Ausdrucksmittel der Gött- Tri v ' der indischen Ausdrucks- Tro]i ' Ko i I -Wirkungen 54, ■n eiert 320, der Imlivi- dual dang nicht günstig 66, B v in den 27, 34, Kuust- 31, Ein- sehe 'Denken 267. ivc Wirkung 112, und Zweck ; Be- 69, 421, 552, alle hebt beim Ty p ■ der absolut höchste 270, tauschbar 467, j einer Art Vollendung fähig 492, Glaube an 378, phy- sische Schönheit als Vollendung des 14. Übel, seine Rolle im Weltgeschehen 253, jedes bedeutet irgendjemand ein Gutes 609, nur durch Änderung der Bewußtseinslage zu überwinden 252, 281, 298, Pflicht ihm zu widerstehen 588, Fluch des Nichtwiderstehens 589, Überwindung durch Gutes 252, 486. 668 Register. Überlegenheit als Cardinaltugend des Herrschers 374, mohammedani- scher Frauen 181, chinesischer Staats- männer 348, des Mohammedaners 179, der Großmoguln 177. Übermensch 286, kann als solcher minderwertig sein 123, als solcher un- erkennbar 286, schwach in dieser Welt 128, 286, verfehltes Ideal 173, Idealität des Westens an ihm orientiert 411, Nietzsches 30, 174, 245. Übernationales, der Kaiser Roms und Indiens und der Päpste 177. Überschätzung, Wert der 504. Übertreibung, Sinn indischer 70, 279. Übervölkerung, begünstigt mora- lische Durchbildung 341, 360. Ungleichheit der Menschen 375, 573. Un interessiertheitbesser als Wohl- tätigkeit 38. Universalität, Idee der hat abge- wirtschaftet 136, höchstmögliche Ver- wirklichung 629. Unmögliches, Wert des Strebens nach 411, 631. Unsterbliches, des Menschen als Frucht des irdischen Ich 12, 631. Unsterblichkeit 20, 36, 114, 116, 119, 318, 527, 599. Uranfang, unerklärlich 535. Urmenschen, als Götterkiuder 541. Ursprünglichkeit, als Ideal über- bildeter Städter 174, und Bildung 431, als Urzustand und als Ziel 635. Vegetieren, Wesen 35, 316, als all- gemein tropische Lebensform 27, 33, 35, 66. Verallgemeinerungstrieb, als Zeichen der Primitivität 417, 426, 629. Verantwortungsgefühl, wird durch Monotheismus hochgezüchtet 183, psychologische Ursache des westlichen 129, chinesisches 369, 413. Verarmung, fortschreitende der Spra- chen 329, der Welt dank uns 580 ff., der Seele dank Puritanismus 159, 272, dank Amerikanisierung 613. Verbrechen, als Weg zu Gott 252, 588. Verdienst, und Gnade 275, nichts außer der Arbeit des Menschen eigent- liches 647. Verehrung eines Höheren, metaphy- sische Bedeutung 133. Vereinfachung, künstlerische 249, des Lebens in Amerika 619. Vererbung 22, 165, 167, kann über- wunden werden 637. Vergänglichkeit, kein Übel 97, 631, buddhistische Stellung zur 70. Verkleidung, kann offenbarend wirken 17. Vermittelungen, Sinn in der Reli- gion 133. Verneinung des Lebens, in Indien und Europa 32. Vernichtung als Weg der Erneue- rung 324, 583. Vernunft, und Naturgeschehen 574,. dem metaphysisch Wirklichen nicht gewachsen 88, der Verinn erlichte steht über ihr 251. Verschiedensein, als Ansporn 517, 596. Verständnis als Vorbedingung des Erlebens 215,293, 518, als Peremption 103, als Entscheidendes 268, -losig- keit, als positive Macht 170. Verwandelbarkeit, Wichtigkeit der 6, 53, 571. Verwirklichung des Geistes von zu- fälligen Umständen abhängig 226, 539. Vielseitigkeit, Herrschern verderb- lich 176. Virginitätsideal, das Ende des 490, 493. Vitalität, physische als Folge psychi- scher Bildung 339, größere des Euro- päers im Verhältnis zum Asiaten 463. Völker, der Erde ergänzen sich 475, Solidarität 630. Volkscharakter und Religion 1 53, 188. Vollendung, in sich evident 55, als höchste und einzige Aufgabe 30, 59, 115, 158, 252, 272, 277, 297, 410, 625 ff., als Exponent der Spiritualität 112, 292, nur innerhalb von Grenzen möglich 387, 628, typische den meisten förderlicher als individuelle 164, 354, 469, 482, 555, 556, 627, jede bestimmte nur vorläufig ein Höchstes 289, in Erkenntnis und Leben schliessen sich aus 268, jede an bestimmte Bedin- gungen geknüpft 358, 412, notwendig einseitig 20, 268, 319, 401, 446, 499, 608, eine Art entsteht auf Kosten anderer 158, und Fortschritt 111, 115* Register. 669 548, 550, 625 ff., des Europäers führt über die besiegte Natur hinweg 566, und Seligkeit 404, concentrische ein Höheres als excentrische 438, keine Erfüllung im irdischen Sinne 631, und Totalität 613. Vollkommenheit, keinem Einzel- wesen erreichbar 289, 319, 631, des Erdenlebens nicht Selbstzweck 631. Vorbildlich, es gibt keine vorbild- lichen Naturen 297. Vorsehung, hat im Westen abge- dankt 146, 610, warum Männer der Tat an eine glauben 262, Verfehltheit der Idee 173, 631, Wahrheitsgehalt 445. Vorstellungen, in doppeltem Ver- stände sinnvoll 74, können unmittel- bar gesehen werden 100, 239, 240, 287, Wichtigkeit innerhalb des Chri- stenglaubens 44, 596. Vorurteile, nichts oberflächlicheres als jede andere Gestaltung 362, 465, den meisten notwendig 95, wirklich- keitschaffend 96, müssen ganz über- wunden werden 294, 590, die ver- schiedenen Tierarten als Vorurteile 467. Vorwelt, Tiere der 54, 66, 567, 571. Vorzüge, ein Positiveres als Gebrechen 492, es gibt keine unkompensierten, s. Kompensation. Wachstum, Schnelligkeit tropischen 16, 33, Nachteile allzu geschwinden 553. w. Wahlsystem, das groteske des demo- kratischen 632. Wahrheit, Wesen 113, 208, 234, 260, nach indischen Begriffen nur zu lernen, nicht zu entdecken 259, alle symbo- lisch 199, jenseits von Irrtum und 234, der kürzeste Weg zur 577, durch Kampf zur 586. Wallfahrten, Bedeutung 196. Weib und Manu, metaphysisches Ver- hältnis 22, 1 48, - 1 i c h k e i t , japanische 484, moderne 491, der indischen Ideale 143, der Ideale der Theosophie 143, 148. Weise, als Grundtöne 271, 411, inwie- fern über den Kampf hinaus 586, die Stufe über ihm 276, 649, indische als Geister zweiten Ranges 236, und schlechte Schriftsteller 26 1, chinesische und griechische 340. Weisheit, inwiefern die der alten un- übertrefflich 114, und Aberglauben in Indien zusammenhängend 226, tiefste stammt aus der Sonnennähe 198, als Äußerstes 271. Weiße und schwarze Magie 109. Welterlöser, fortan überflüssig 1 34. Weltgefühl, asiatisches, gegen, eu- ropäischem 365, 470. Weltlichkeit 21. Welträtsel, Lösung 280. Weltreligionen, ihre Zeit vorüber 136. Weltschöpfung, indischer Mythos 298, Spekulationen über die 536, 538. Werte, alle sterblich im Sinn der Zeit 631, keiner erschöpft alle 158, 630, absolute 110, 272. Wesen, kommt im Handeln nicht not- wendig zum Ausdruck 342, -serkennt- nis, wie allein zu gewinnen 230, 235. Wiederholung, Spirituelle Bedeu- tung 216. Widersprüche, indisches Verhältnis zu 229, in der Welt, wodurch be- dingt 83. Wille, als unpersönliche Macht 526. Wirklichkeit des Menschen nur ein Ausschnitt der ganzen 101, verschie- dene Ebenen der 100, indische an- ders als europäische 76, 90, psychische und Einbildung 544, spirituelle durch keine intellektuelle Coordinate er- schöpfend bestimmbar 228. Wissender, über Wahrheit und Irrtum hinaus 234, Vorzug wissender Reli- gionslehrer 51, 208, alles im Leben dient dem 296. Wissenschaft, als Maja 91, als Vor- läuferin der Kunst 250, 579, psycho- logische Grundlage 148, wodurch sie überflüssig wird 238, Geschichte 590. Wohlstand, soll Normalzustand sein 624. Wohltätigkeit, Sinn der 219, im Orient größer als im Okzident 221. Wollust, als religiöses Moment 78. Wort, magische Wirkung des gespro- chenen 285, muß zu Fleisch werden 277, in China mehr als irgendwo anders zu Fleisch geworden 364, des Konfuzianismus als Fleisch zu ver- stehen 349, -reichtum, Ursache des indischen 82, 87. Wüste, Stimmung 9, ihre Götter 10. 670 Register. Wunder, Unmöglichkeit .es aus der Welt zuschauen 535, Möglichkeit vor- geblicher 76. Wunsci-. , schafft Wirklichkeit 107. Wurzel, au der W. alle Schöpfung eins 60. Yoga, Grundiheoiie 236, Analyse und Bedeutung 105, ?.<ls Schule zur Ent- wickeln, heu Kräfte 105, als Gymi r Seele 368, tiefstes Wo» ti 243, 251, metaphysisches In- teresse 109, macht Dicht notwendig be '08, Nachteile 310, Gefahren 246, dene Wirkung auf ver- schiedene Auflagen 5 16, Seinsgrund der oric Kunift 250, katholische sehe verglichen 232, Vorzug der indischen vor allen anderen 247, 518, japanische 516, fpazitisch-euro- ;:he 520, oc. identallsche Karrna- Yoga als tiefste von allen 588, 3 Arten ?,10, jede davon einem bestimmten Temperamente gemäß 214, innere Wai ^r Theorie 105, metho- dische Bedeutung 105, 237, 518, macht eindeutig 109. Yogi, ich gesund und normal 123, Fähigkeiten 237, 538, orientalische Künstler als 2i0, 436, weshalb sie den Indern, als höchste Menschen gelten 266, 269, der vollkommene 237, und Weitweiser 348, Buddha kein 277. Zauberei, Möglichkeit der 76, 315. Relativität der 60, je nach der ensformel v icn qualif 400, -bewußtsein fehlt dem Orientalen 564, -alte , goldenes 313, -geist 197, 329, Einheitlichkeit dieses in den ersten Jahrhunderten nach Christo 442, 459. Zen 515. Z e * a a g, moderne, nur durch Konz . -a ( überwinden 244. Zerstör t des Schaffens 583. • Zustand lieh es, das metaphysisch Wirkliche dem lader ein 93. Zustand, keiner an si ch gut 252, keiner der absolut höchste 271, 277, keiner vergeht ganz 161, keiner re- sümiert die anderen 271, jeder wirkt positiv 492, 510, jedem einer am besten gemäß 510, -e, historische als Sonder- ausdrücke der Naturformen des Men- schenlebens 400. Zweckmäßigkeit, als Grundcharak- ter des Lebens 530, Moralität und 69, 421, 551. Zweifel, Verderbüchkeit 257, Werke des Grafen Hermann Keyserling Das Gefüge der Weit Versuch finer kritischen Philosophie. München 1905, F. Biucktnann (vergriffen), Essai du monde Das vorgei Werk in französischer Ausgabe. Par l Eine Kritik der Beziehungen zwischen Natur- geschehen und men weit 2 Auflage. Mund ? J. F. 1 .ehmanns Verlag. Pro! Mi nchen 1910 7 J. F. Lehi »..41111 3 ¥ *-" «S« ßchopei I ipzig 1910, Fritz *dt Verlan*. " 15. Dezember 1908 % Ablage* , Ru 1 1 iihnann. r Ein Leipzig 1909, Fritz • *rmanische und romanische Kultur. Vom Inter- esse der G. I9'if,YonckÄ'Poliewsky. Ueber die inne feziehtthg'eh zwischen den Cuiturproblemen des Orients und des Occidents Jena 191 3, Eugen Die Verlag von Duncker & Humblot, München u. Leipzig. Georg Simmel Der Krieg und die geistigen Entscheidungen Preis kart. 1 Mark 50 Pf. INHALT: 1. Deutschlands innere Wandlung 2. Die Dialektik des deutschen Geistes 3. Die Krisis der Kultur 4. Die Idee Europa Man darf von diesem Büchlein Wichtiges und Erleuchtendes er- warten. Es begleitet in vier Abhandlungen den Krieg mit der Kraft eines visionären Durchblickes und zeigt die Wandlungen in der Beurteilung des Krieges und der Weltlage von der vollen inneren Zu- versicht aus der großen Zeit des ersten Kriegswinters in dem ersten Aufsatz bis zu den zurückhaltenden Gedanken über den positiven Ertrag dieses Krieges in der letzten Abhandlung „Die Idee Europa". Von Georg Simmel erschienen ferner bei Duncker & Humblot in München und Leipzig: \T*%+%± 16 Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin. rvcllll. yj er t e Auflage. Preis: 6 Mark, gebunden 8 Mark. Philosophie des Geldes. S^£S Schopenhauer und Nietzsche. z % v 8 or pX: 4 Mark 20 Pf., gebunden 6 Mark. ^n7inlfl(nP Untersuchungen über die Formen der Vergesell- OU41UlUgIC. scha ftung. Preis: 12 Mark, gebunden 17 Mark. Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag. Preis: 1 Mark. Lebensanschauung, jj«, SSS^JSSSi Auf alle Preise 25 % Kriegsteuerungszuschlag« A/?:tt 11- KEYSERLING, H.A. B Das reisetagebuch 3279 .K43 eines Philosophen. R4 KEYSERLING, H.A. Das reisetagebuch eines philosophen. B 3279 .K43' R4 im 1 'f ' ■'.'i.ff L LRFtUS Mlhi'iTVfc 0.1 mtm In llillHÄf it. ■ ,w«mK % 1 m |] ' 1 ' ' j i| [■ H i I iü üt El III ill 1 II §8 mm |pl 1 sin ll .'•■». TP» li'ij wmm .1 ir'il f • 1 üffi iiiiii bh ibbhi . 1 f W|if |i|'- lipl I fi ■ p |:||M ÄÄi 'ifpplffllp \\ '' 'i ■ 1 f' i '-vir fr Sr kt *f B l^ri'i irlt i|i| f|||;'. Nr §11 ^»18« f [:['; ftitef - »-tKÄib'.t: BII.EL. i ■ H 1 flll'll ■ 1 wlkllrll Uli
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