Hermann Keyserling

Das reisetagebuch eines philosophen

이윤진이카루스 2016. 6. 2. 23:22

 

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DAS REISETAGEBUCH 
EINES PHILOSOPHEN 
GRAF HERMANN KEYSERLING 
DAS REISETAGEBUCH 
EINES PHILOSOPHEN 
IIlIiMIIIIItlllllllllllllllllllllllllllllllllltlllMlIIIIIIIIIlllIlllIllltllllllllllllllllllllllllllllllllltlltlllllllllllllllllllltlllilllllllllllll 
Der kürzeste Weg zu sich selbst 
führt um die Welt herum. 
■■lllIllllllllllllltlllllllllltlllllllMlIlllllllllllllIllllIIllillllllllllSlIlllIfilflttlllilitlllltlllllllllllllllllllllllllllllltlltlllllllllllltll 
VERLAG VON DUNCKER & HUMBLOT 
MÜNCHEN UND LEIPZIG 1919 
Alle Rechte vorbehalten. 
Copyright 1919 by Duncker & Humblot in München und Leipzig. 
APR _4 1960 
Druck von Dr. F. P. Dattcrer & Cie. (Arthur Sdller) München-Frtising. 
INHALT. 
Vorbemerkung XXVII 
I. Nach den Tropen. 
Vor der Abreise: Verschiedene Formen der Erfahrung; Wert 
und Unwert der Abgeschiedenheit; Schauspieler, Dichter und 
Metaphysiker; warum Philosophen Wanderer sein müssen; 
Wert und Unwert des Reisens 3 
Im Mittelländischen Meer: Äußere und innere Freiheit; 
warum ich kein Schulhaupt sein will; das einzig Wesentliche; 
mechanische Befreiung; Apologie des Jesuitismus; die Seele 
als „Natur" 7 
Im Suez-Kanal: Wüstenstimmung; der Wüstengott; wie Götter 
entstehen 9 
Im Roten Meer: Phantasie des Körpers; Korrelation der 
Elemente jeder Welt; wie bestimmte Tiere a priori zu kon- 
struieren sind 11 
Aden: Afrikas ungeheure Bildungskraft; die Natur künstlerischer 
als der Mensch; Überschätzung der Künstlerschaft; der Sinn 
der Schönheit; wie objektiv gültige Geschmacksurteile mög- 
lich sind; Schönheit für das Individuum nie symbolisch . . 12 
Im Indischen Ozean: Warum die Anschauung großer Natur 
erhebt; Wirkung abhängig von äußeren Umständen (15). — 
Bedeutsamkeit der Kleidung; Apologie der Eitelkeit; Ver- 
kleidung als Mittel zur Selbstverwirklichung; Hadji Baba 
von Ispahan; verschiedene Auffassung der Form in Orient 
und Okzident (16). — Gleichgültigkeit aller Tatsachen; 
keiner kann alles; man scheide zwischen sich und dem ver- 
wandten Gehirn; Notwendigkeit der Selbstbeschränkung; 
spezifische Selbstlosigkeit des Schaffenden; keiner lebt sich 
selbst (18). — Macht des Milieus; Vorzug der Hauptstadt 
vor der Provinz; Wert und Unwert der „Welt"; der reprä- 
sentative Typus; die Französin des 18. Jahrhunderts; Cha- 
rakterdifferenzen zwischen Kind, Mann und Greis als Re- 
VI Inhalt 
flexwirkungen des Milieus; warum Mann und Weib mit 
verschiedenem Maßstabe zu messen sind; Träumerei über 
das Himmelreich 20 
II. Ceylon. 
Colombo: Alles Leben in den Tropen ist Vegetation; psy- 
chische Phänomene eines Sinnes mit physischen; die Mäyä- 
lehre; Mäyälehre entspricht unserem Naturalismus; Buddha 
und Nietzsche 27 
Kandy: Schönheit der Landschaft; Sehnsucht und Erfüllung; 
warum alle Großtaten des Geistes aus gemäßigten Zonen 
stammen; die Tropen kennen unsere Liebe nicht; die Sehn- 
sucht aus der Fülle hinaus als mächtigstes Motiv des Tropen- 
bewohners; das Nirwana (30). — Tropenflora; der Buddhismus 
als Theorie der Vegetation (33). — Physiologische Grundlagen 
des Buddhismus ; Acvagosha und Bergson ; phänomenologischer 
Relativismus als Religion ; Leichtigkeit in den Tropen, psychisches 
Geschehen objektiv zu beurteilen; das Werden als äußerste 
Instanz; Grundlagen des Nirwana-Gedankens; Befreiung und 
ewiges Leben (34). — Die buddhistische Kirche; der buddhi- 
stische Priester dem christlichen überlegen; Taktlosigkeit 
aller Weltverbesserer; Uninteressiertheit wertvoller als Wohl- 
tätigkeit; die buddhistische Carität; jeder Zustand notwendig 
und auf seiner Stufe gut; der Mensen will nicht bevormundet 
werden (38). — Gestaltungskraft des Buddhismus; Buddhis- 
mus, Katholizismus und Protestantismus; Vorzug dessen, daß 
Buddha einem Herrscherhause entstammte; absoluter Vor- 
zug edler Geburt; das Christentum ursprünglich eine Prole- 
tarierreligion; absoluter Vorzug des Buddhismus gegenüber 
diesem (40). — Der buddhistische Gottesdienst; Unwesent- 
lichkeit der Glaubensvorstellungen; warum dem Tropen- 
bewohner religiöser Tiefsinn näherliegt als dem Nordländer; 
der Weg des Westens führt durch die Erscheinung hindurch 
zum Sinn; Wesentlichkeit der Dogmen innerhalb des Christen- 
glaubens; ein buddhistischer Fanatiker (43). — Die Mönche; 
weshalb sie verehrt werden; Ursache der buddhistischen 
Freudigkeit; Buddhismus und Luthertum; Nachteil allzu 
billiger Ideale (45). — Christliche und buddhistische Näch- 
stenliebe; Attachement und Detachement als Ideale; der 
Buddhismus hat das spezifische Weisen-Ideal zum allgemeinen 
erhoben; absoluter Vorzug des Christentums (47). — Der 
Buddhismus als ideale Religion der Mittelmäßigkeit; die 
christliche Idealisierung der Niedrigkeit; Würdelosigkeit des 
Thomas a Kempis; Vorzug „wissender" Religionsstifter; 
wahre Bedeutung von Christi Lehren; der moderne Ma- 
terialismus als Enkelkind des Strebens nach dem Himmel- 
reich (49). — Verwandlung meines Körpers; Akklimatations- 
fähigkeit als Frage der Einbildungskraft; das Tier hat wenig 
Inhalt. VII 
freie Phantasie; Stoizismus und Proteustum (52). — Stärke 
aller Gegensätze in den Tropen (53). — Schwierigkeit, im 
Licht der Tropensonne zu sehen; der Tausendfuß und die 
Vollkommenheit; warum der Brite überall gelten gelassen 
wird, der Deutsche nicht 54 
Dem bull: Buddha und die Vielgötterei; die Persönlichkeit als 
Oberflächliches 56 
Durch den Dschungel nach Habarane: Armut des Auf- 
fassungsvermögens der Kulturmenschen gegenüber der Natur; 
Vielgestaltigkeit des Urwalds und des Ozeans; der Schematis- . 
mus des Menschengeistes 57 
Am Minneri-See: Die Vollkommenheit des Tiers; Gebunden- 
heit wertvoller als Ungebundenheit; Tiere interessanter als 
Menschen; an der Wurzel alle Schöpfung eins (58). — An- 
schauungen und Einfälle auf einer geistigen Ebene belegen; 
verschiedene Formen des Auffassungsvermögens; Tolstoy hat 
ohne Tiefsinn doch Tiefstes zur Darstellung gebracht ... 62 
Pollonaruwa: Vom Wesen der Ruine; der Dschungel und 
Griechenland 63 
Anuradhapura: Die Tropenkönige als Tiger und Elephanten; 
die Tropenluft individualitätsfeindlich; der heilige Bodhi- 
Baum; rasende Hast der Lebensablösung; Möglichkeit der 
Saurier; Bedingtheit aller Größe; antinomisches Verhältnis 
zwischen hohem Niveau der Masse und einzelnen Riesen (64). 
— Ein Schlangenheim; Schlangenbändigung und Irrenbehand- 
lung; schöpferische Wirkung verstehender Behandlung; Mo- 
ralität und Angepaßtheit; der „moralische Instinkt"; ein 
Paradies auf Erden; wann göttliche Liebe sich äußern kann 
(67). — Poesie des Reliquiendienstes 70 
III. Indien. 
Rameshvaram: Mannigfaltigkeit der indischen Menschheit; 
die spezifisch-indische Bewußtseinslage; unmittelbares Ver- 
ständnis des Symbolischen; Vorstellungen als selbständige 
Wesenheiten; verschiedene Wirkung religiöser Zeremonien; 
Verknüpfung zwischen Sinn und Laut; das Psychische ein 
ebenso Objektives wie das Materielle; Möglichkeit von Wun- 
derwirkungen; der indische Wirklichkeitsbegriff; Primat des 
Psychischen 73 
Madura: Weshalb alle frühesten Gottesdienste furchtbar waren; 
die Extase des Fleisches; Rausch und Wollust als Wege zu 
Gott; Geschlechtsverkehr als Sakrament; die indischen Götter 
als Personifikationen der Grundtriebe; inwiefern es Dämonen 
gibt; mögliche Tiefe des Oberflächlichen (77). — Die indische 
Kunst als Höchstausdruck physischer Imagination; Animalität 
des Hinduismus; indische Übertreibung; unerreichte Aus- 
drucksfähigkeit für Irrationales; Shiva göttlicher als Zeus 
VIII Inhalt 
(80). — Der Geist des Polytheismus; Vorzüge der Viel- 
götterei; warum Kunst in seinem Bereiche am besten gedeiht; 
Obergang zum Monotheismus, damit zur Ordnung, aber 
auch zur Widerspruchsfülle ; Monotheismus züchtet Charakter; 
Mono-, Polytheismus und Mystik; inwiefern die abgeklärte 
indische Weisheit und der buntfarbige Volksglaube Gleiches 
lehren; der Irrtum als Ausdruck der Wahrheit (83). — 
Indischer Wortreichtum; Wert und Unwert der Allgemein- 
begriffe; Planlosigkeit aller indischen Gestaltung; Inder nie 
Rationalisten gewesen; richtige Einschätzung der Logik; sich 
widersprechende Lehren gelten als gleich orthodox; Grenzen 
der Vernunft (86). — Das indische Epos; den Indern gelten 
Mythen und historische Tatsachen als gleich wahr; wie der 
Mythos die Wirklichkeit verwandelt; Wahrheit und Bedeut- 
samkeit; der Sinn als Primäres; die Welt des reinen Sinns; 
die Wissenschaft als Mäyä ; Einbildungen besser als Tatsachen 89 
Tanjore: Der indische Tanz 92 
Conjeevaram: Psychologie des Kastensystems; Notwendigkeit 
der Vorurteile; Erkenntnis allein führt über sie hinaus; der 
Pragmatismus , 94 
Mahabalipuram: Wert der Vergänglichkeit 96 
Adyar: Verdienst der Theosophischen Gesellschaft; westlicher 
Charakter der Theosophie; Umdeutung der indischen Weis- 
heit; Wahrheitsgehalt des Okkultismus; Möglichkeit der 
Fernwirkung; Gedanken als materielle Erscheinungen; Er- 
kenntniskritische Grundlagen des Okkultismus; Möglichkeit 
höherer Welten; Möglichkeit des Gottschauens ; Sehertum; 
verschiedene Ebenen der Wirklichkeit; M rs Annie Besant 
(97). — Wesen der Yoga; Konzentration als technische Basis 
jedes Fortschritts; Stille der Seele; Meditation und Gebet; 
das Vitalisieren erwünschter Vorstellungsabläufe; Wunsch 
schafft Wirklichkeit; die geistlichen Übungen des Ignatius 
von Loyola (104). — Der Jesuitenorden; okkulte Ausbildung 
und Spiritualisierung hängen nicht zusammen; psychistischer 
Fortschritt bedingt menschliche Rückbildung; Yoga .macht 
eindeutig; die Wurzel des moralischen Dualismus; das radi- 
kal-Böse; Erlösung durch Erkenntnis (108). — Okkulte Aus- 
bildung als biologischer Fortschritt; Fortschritts- und Voll- 
endungsstreben schließen sich aus; warum die geistlich Armen 
selig werden; Vollendung als Exponent der Spiritualität; ab- 
solute Werte; das Spirituelle ein Prinzip; Unsterblichkeit; 
spirituelle Bedeutung des Fortschreitens; der Geist gewinnt 
immer reichere Ausdrucksmittel; Erkennen und Sein; Vollen- 
dung zieht Fortschritt nach sich (111). — übersinnliche Wel- 
ten; Vorzüge des Aberglaubens; Spekulationen über das 
Jenseits; absoluter Vorzug des Erdenlebens; Erlösung durch 
Glauben (116). — Vorzüge des Krankseins; Sinn der Morti- 
Inhalt IX 
fikation; Vorzüge des Blindseins; Besitz höherer Fähigkeiten 
in abnormen Zuständen bedeutet nichts; minderwertige Hei- 
lige; Urteilsklarheit der Inder in diesen Dingen; der Yogi 
wesentlich gesund (120). — Dunkler Anfang aller Religions- 
gemeinschaften; bedeutende Menschen können nicht Jünger 
sein ; paradoxale Mechanik des religionsgeschichtlichen Werdens ; 
Religionsstifter keine starken Persönlichkeiten; Lehre Jesu nur 
ein Element des Christentums; die Juden als auserwähltes 
Volk; weltliche Ohnmacht geistlicher Riesen; geheimnisvolle 
Wirkungsart spiritueller Kräfte; die Meister der Theosophie 
(124). — Die Wiederverkörperungslehre ; kinematische und 
statische Auffassung des Lebensprozesses ; Glück des Westens, 
nicht an die Metempsychose geglaubt zu haben; Vorzug 
des Glaubens an das jüngste Gericht; Plato und die Theo- 
sophen (128). — Der Messias von Adyar; Vorzug unerreich- 
barer Ideale; Existenz eines Heilands religiös gleichgültig; 
warum die meisten Religionen Vermittler setzen; Sinn des 
Triebs, sich einem Höheren hinzugeben; wahrer Wert eines 
Heilands: er gibt der Menschheit ein Beispiel (130). — Kann 
die Menschheit noch einen Heiland brauchen ? Metamorphosen 
der Persönlichkeit Jesu; Sieg des protestantischen Geistes; 
Weltreligionen fortan unmöglich (135). — Die Theosophie 
hat keine Weltmission; die drei Haupteinwände gegen sie; 
religiöser Unwert okkulter Ausbildung; Sinn von Glaube und 
Aberglaube; Vorzüge des New Thought; Adela Curtis; Vor- 
zug der christlichen vor der indischen Mystik; neue Reli- 
gionen überflüssig; männliche und weibliche Tugenden; 
Weiblichkeit der indischen Ideale; die Idee der Autonomie 
als Macht; ihr unvermeidlicher Sieg (137). — Wesentliche 
Männlichkeit des Westens; Überwindung des Schicksals; Ur- 
sache der westlichen Effikazität; was der Westen eigentlich 
will; Glauben und Sein werden eins, die Selbstbestimmung 
siegt; die weibliche Menschheit als erkenntnistiefere; Mann 
und Weib; Wesen des Geschlechtsgegensatzes .... 145 
Ellora: Brahmanismus, Dschainismus und Buddhismus; die Dürf- 
tigkeit des indischen Protestantismus; der Buddhismus als 
Entartungserscheinung; Religion und Volkscharakter; Wand- 
lungen des Buddhismus 150 
Udaipur: Das indische Theater; indische cours d'amour; indische 
Liebeskunst; erotische Überlegenheit des Romanen vor dem 
Germanen; erotische Bildung; Grande Dame und Hetäre, Muse 
und Hausmutter; das Moralische kein möglicher General- 
nenner für ideales Streben; überhaupt kein Generalnenner 
denkbar; eine Art Vollendung gedeiht nur auf Kosten anderer 154 
Tschitor: Indisches Heldentum; die Geschichte registriert nicht 
alles Geschehen; kein Zustand vergeht ganz, er tritt nur ab 
von der Bühne 160 
X Inhalt 
Dschaipur: Indiens Mannigfaltigkeit; der Kastenbegriff; Vor- 
züge des Kastensystems (162). — Vorzug der Überschätzung 
der Vererbungsgesetze; die Rajputs als höchster Triumph der 
Menschenzüchtung; Rasse psychisch bedingt; Anlagen nie ein- 
deutig von Hause aus; warum Herrscherhäuser am lang- 
samsten entarten; indische Glaubenskraft 165 
Lahore: Fluch der Gemütlichkeit; es gibt keine guten Gewohn- 
heiten; weshalb es der Geregeltheit im Leben bedarf; Ver- 
ständnislosigkeit als Macht 169 
Peshawar: Die entgeistigende Luft Zentral- Asiens ; die Größe 
Dschengis-Khans (171). — Das Kabul-Tal einst und jetzt; 
was Geschichte bedeutet; es gibt keine Vorsehung (172). — 
Verfehltheit des Ursprünglichkeitsideals ; Kühe und Götter als 
Ideale; der Übermensch 173 
Delhi: Der Geist des Imperiums; Delhi und Rom; die Groß- 
moguln als größte Herrschertypen; Akbars einzigartige Über- 
legenheit; sein Über-Nationales; die Vornehmheit des Muslim 
gegenüber der Unvornehmheit des Christen; islamische Tole- 
ranz; der Islam allein hat das Fraternitätsideal realisiert (175). 
— Gestaltungskraft des Islam; sein demokratischer Geist; Allah 
als Herr der Heerscharen; der Mohammedanerglaube als mili- 
tärische Disziplin; Gebet als Parademarsch; die Gehorsam- 
forderung in der Religion (179). — Der Islam eine Religion 
des einfachen Soldaten; islamischer und russischer Fatalis- 
mus; Vorzüge des Prädestinationsglaubens; Verwandtschaft 
von Calvinismus und Islam (181). — Vorzüge des Mono- 
theismus; Zucht auf Charakter (182). — Der Hof von Delhi; 
Gesetzmäßigkeit aller Kunstentwickelung; das Wachstum und 
die Ablösung der Formen Vorgänge von absoluter Notwendig- 
keit; Strauß-Musik a priori zu konstruieren (184). — West- 
licher Geist des Islam; Juden, Christen und Muselmänner als 
Brüder; Grundcharakter des Westens; Fortentwickelung von 
Islam und Christenheit 186 
Agra: Der Taj Mahal; Verhältnis von Rationellem und Deko- 
rativem in der Architektur; Bedeutung und Ausschließlichkeit 
der Individualität (189). — Mogulkultur und Renaissance; 
Spekulationen über diese; geheimnisvolle Verknüpfung von 
Erscheinung und Sinn; irdisch-Zufälliges als Notwendigkeit 
vor Gott (191). — Die Arabeske ohne tiefere Bedeutung; 
Wert des Oberflächlichen 193 
Benares: Heilige Stätten; die meisten erleben nur, was die 
Außenwelt in ihnen auslöst; Notwendigkeit der Anregung; 
Wert des Wallf ahrtens ; psychische Atmosphäre (194). — 
Tiefer Sinn des Sonnenkults (197). — Indische Frömmigkeit; 
Wesen von Glauben und Gebet; religiöse Kindererziehung; 
Konfessionsbeeinflussung als Sünde; die vielen" Götter als 
Manifestationen der einen Gottheit; Indien und Rußland; der 
Inhalt. XI 
Osten gefühlsreicher als der Westen ; Liebesglut der persischen 
Mystiker; warum Inder Europäer als seelisch roh beurteilen; 
der Europäer undevotionell veranlagt (1QQ). — Oottesglauben 
als Mittel zum Zweck; Hinduismus und Katholizismus; tech- 
nischer Unterschied zwischen! Katholizismus und Protestantis- 
mus; beide sind Wege zu Gott; respektive Vorzüge beider 
Religionsformen; alle Mystiker katholisch gesinnt; warum 
Riten immer weniger wirken; inwiefern der verstandesklare 
Europäer gegenüber den abergläubischen Hindu im Nachteil 
ist; die höchsten Offenbarungen sind geistig Unzulänglichen 
zuteil geworden (202). — Psychologische Suprematie des 
Hinduismus, Vorzug „wissender" Religionslehrer; alle Kon- 
fession nur vom Standpunkt des Pragmatismus zu bewerten; 
warum die Visionen aller Heiligen ihren Vorurteilen ent- 
sprachen; spirituelle Bedeutung der Abstinenz, drei Wege zu 
Gott; der Weg der Liebe der leichteste; Liebe an sich nichts 
Göttliches; Piatos Eros; Gemüt wertlos (208). — Sinn 
religiösen Glaubens; alle Erlösung besteht in Erkenntnis, aber 
der Glaube bereitet ihr den Weg; die Existenz Christi kein 
religiöses Problem; Intellektualisierung zersetzt den Glauben; 
das einzige Heilmittel (212). — Die Silbe om; Wert der 
Wiederholung; jedes Erbauungsmittel wird irgend einmal 
sinnlos; die unglückliche Formel der „Rechtfertigung durch 
den Glauben"; die Tragödie Luthers (215). — Ein Schau- 
heiliger; Metaphysik als Kompromiß; indische Auffassung 
von Menschenwert; Sein wichtiger als Tun; Sinn der Wohl- 
tätigkeit; jenseits von Ego- und Altruismus; Überschätzung 
der Arbeit; der Wohltätige nützt vor allem sich selbst; der 
Orient barmherziger als der Okzident (217). — Ein indisches 
Liebeswerk; Optimismus der indischen Weltanschauung; 
Unterschied der indischen von der christlichen Frömmigkeit; 
jene kennt kein Sündigkeitsbewußtsein ; der Mensch denke 
nicht möglichst schlecht sondern möglichst gut von sich; was 
Sünde ist; Sünde führt am schnellsten zur Erlösung; Apologie 
der Torheit; Pathos des Sündigkeitsbewußtseins (222). — Fa- 
kire als Rückbildungen dem Tiere zu; Versöhnung von Weis- 
heit und Aberglauben; indischer Exoterismus und Esoteris- 
mus; Versöhnung von Monismus und Dualismus; die Bhaga- 
rat-Gita; Philosophien sind nur Ausdrucksformen; keine Ge- 
staltung wesenhaft (225). — Warum die indische Weisheit 
noch kaum erkannt ist; indische Philosophie beruht nicht 
auf Denkarbeit; Denken führt nie aus seiner Sphäre hinaus; 
einziger Weg zur Wesenserkenntnis; nicht Denken sondern 
Vertiefung ; Unvergleichbarkeit der indischen und europäischen 
Methodik; indische und europäische Scholastik (229). — 
Indische Philosophie in keinem System restlos verkörpert; 
Advaita, Dvaita und Visishtadvaita ; in Indien gibt es keinen 
XII Inhalt 
Monismus, Dualismus und Pantheismus in unserem Sinn; die 
indischen Weisen als Pragmatisten ; was Wahrheit ist; das 
Vorbildliche der indischen Weisheit (232). — Yoga als Weg 
zur Weisheit; tiefste durch mittelmäßige Denker gewonnen; 
unsere Überschätzung der Begabung; Wesen des Yoga; alle 
Erkenntnis ist Perzeption; Wesen des Talentes; jenseits der 
Denknotwendigkeit; Inspiration ist festzuhalten; intellektuelle 
Anschauung; Piatos Ideenwelt; inwiefern die indischen Weisen 
unsere Größten übertrafen; Goethes Oberflächlichkeit (235). 
— Aller innere Fortschritt beruht auf Konzentration; Tiefsinn 
und Nervenkraft; weshalb das Alter das Bedeutendste leistet; 
nur der Oberflächliche kann irreligiös sein, den Unterschied 
zwischen Gut und Böse nicht erkennen; Leidenschaft be- 
deutungslos; warum der verfeinertste Kulturmensch nicht 
mehr lieben kann; Sinnlichkeit als Ganzes der Liebe; einziger 
Weg zur Heilung der Zersplitterung; unsere mögliche große 
Zukunft (241). — Atemübungen; das Vorbildliche der 
indischen Kultur; englische und amerikanische Yoga (245). — 
Das orientalische Kunstschaffen; Kunst des Westens beruht 
auf Vernunftkonzentration; Künstler des Ostens als Yogis; 
Beispiele aus China; Rhythmik Dürerscher und chinesischer 
Handzeichnungen (248). — Das Herz des Yoga-Gedankens: 
es ist Bestimmung des Menschen, über das Menschentum 
als Naturbestimmtheit hinauszugelangen ; Erkenntnis ist Er- 
lösung; Überwindung des Übels; Eigenart der indischen Weis- 
heit (251). — Der Sinn als Primäres; Egoismus und Al- 
truismus gleich wertlos; jenseits von Gut und Böse; warum 
die Hindus im Leben versagen (254). — Die Hindus als 
Katholiken; Indien ohne Freidenker; Glauben und Wissen; 
Neuerungsfeindschaft; Wahrheit kann nur „geschenkt" wer- 
den; Unoriginalität, Autoritätsglauben, Spiritualität; Triviali- 
tät des Stils indischer Denker; Vitalitätsmangel ihrer Ideen 
(256). — Männer des Glaubens und der Tat originalitätsfeind- 
lich; warum die Inder Originalität geringschätzen; allzutiefe 
Einsicht lähmt die Kraft; Allwissenheit frommt nur Gott; 
Inder als Erkenner groß, als Menschen klein; indische Lehren 
haben auf das Leben kaum eingewirkt; nur der Leidenschaft- 
liche darf Sanftmut als Ideal bekennen; Fluch der Erkenntnis- 
tiefe; der Yogi kein höchster Mensch (262). — Ursache des 
indischen Quietismus; mögliche aktivistische Deutung indi- 
scher Lehren; der Verstehende typischerweise charakterlos; 
warum Kluge selten gut sind; antinomisches Verhältnis von 
Erkennen und Leben (266). — Die indischen Weisen ver- 
körpern nicht den höchsten Menschentypus; der „höchste 
Mensch" ein Unbegriff; alle konkretisierbaren Ideale stehen 
in Wechselbeziehung zu einer bestimmten Naturbasis; Ver- 
hängnis der Nachfolge Christi; Weise und Heilige als Grund- 
Inhalt. XIII 
töne der Lebenssymphonie; der Heilige widerlegt das Welt- 
kind nicht, sondern beide bedingen einander; Lösung des 
Problems der absoluten Werte; Buddha und Christus nicht 
als Typen, sondern als Vollendete vorbildlich (269). — Der 
Buddhismus als indische Götterdämmerung; das Nirväna . . 273 
Buddha-Gaya: Der Schauplatz von Buddhas Erleuchtung; 
Buddha größer als Christus; Wesen der „Gnade"; Christus 
nicht Vater des Christentums; Buddha und Augustin; die 
Sünde als Weg zu Gott; das Wort muß Fleisch werden; 
Buddhas einzige Größe 274 
In den Himalayas: Das Reich der Götter; das Licht Brahmas 
im Menschen; Lösung des Welträtsels ; als unbewußt-Wissende 
halten wir fest an den Paradoxien der Religion ; Shivas Para- 
dies (278). — Der Geist kann Berge versetzen; Grenzen 
seiner Macht; warum Egoismus vom Übel ist; die ganze 
Natur muß durchgeistet werden (282). — Die Mahatmas; un- 
bewußte Zielbewußtheit; Bedeutung von Beispiel und ge- 
sprochenem Wort; Übermenschentum (284). — Eigenart des 
Protisten nur von der Psyche her zu verstehen; Gebilde 
der Psyche als materielle Erscheinungen; Sinn der Antithese 
von Natur und Geist; Sphäre der Freiheit verringert sich im 
Fortschritt; in der Sphäre des Lebens gibt es wohl Höheres, 
aber nichts Höchstes; Sinn der Evolution; wovon bestimmte 
Gestaltung abhängt; feste Formen durch Trägheit bedingt 
(286). — Proteustum; Person mit Ich nicht identisch; Pro- 
teusideal unverwirklichbar; Intellektualität als Hindernis auf 
dem Weg zur Vollendung; Verstehen als Bewußtseinszentrale; 
die Zeiten des Autoritätenglaubens auf immer dahin ; der Weg 
der Zukunft; Persönlichkeit kein Höchstes; die neue Natur- 
stufe und ihr Ideal (291). — Hindernisse als Erleichterungen; 
einzig richtige Stellung des Lebensproblems; jedem sein Weg 
und sein Ziel; kein Mensch als Naturprodukt vorbildlich, 
aber jeder insoweit er seine spezifische Vollendung fand; 
Überwindung des Übels (295). — Die Weltschöpfung als Spiel; 
Shakespeares Komödien 298 
Calcutta: Bei den Tagore's; indische Musiktheorie; Programm- 
musik; die indische Musik; Anschlag und Rhythmus; die 
Musik der Inder als Spiegel ihrer Metaphysik 299 
IV. Nach dem fernen Osten. 
Im Meerbusen von Bengalen: Vorzüge von Krankheit und 
Rekonvaleszenz; das Glück des Kindes; eine Energiequelle 
speist Körper- und Geistesleben; Irrtum der Yogis . . . 309 
Rangoon: Birma; Blindheit der Inder; Birma lebt ganz für die 
Sinne; die Birmanerin; die Schwee-Dagon-Pagode (311). — 
Das goldene Zeitalter; der birmanische Buddhismus; magische 
Kraft unverstandener Formeln 313 
XIV Inhalt 
Penang: Die Tropennatur; Reiz des Pflanzendaseins; Pflanze 
und Frau 315 
Singapore: Die Pflanzen als Idealwesen; die Flora als bisher 
vollkommenster Geistesausdruck; sie beantwortet sämtliche 
Lebensprobleme; Wesen der Freiheit, Sinn von Schönheit 
und Unsterblichkeit; Einseitigkeit jeder Entwicklungsrichtung 317 
Hongkong: Aus den Tropen heraus: chinesische Kunst und Natur 320 
V. China. 
C an ton: Revolution; Verhalten in Ausnahmesituationen bedeu- 
tungslos; Revolutionen als Kinderkrankheiten; öffentliches 
Leben überall uninteressant; Idealität des Geschäftsmanns; 
das Ameisenartige der Chinessen (323) t> — Schönheit 'alles 
Dekorativen; Form herrscht nur dort, wo sie bereits erstarb; 
Langatmigkeit der chinesischen Entwickelung (326). — Die 
chinesische Schrift; ihre außerordentliche Ausdrucksfähigkeit; 
der Dreiklang des Confuzianismus ; suggestive Ausdrucks- 
weise; algebraischer Charakter der chinesischen Schrift (328). 
— Der Hinrichtungsplatz; Liebeskunst und Folter; Schmerz- 
experimente ; Sinn der Tortur im Zuschauer begründet ; Strafe 
als Abschreckung; vom System auf den Menschen und um- 
gekehrt nie zu schließen möglich; die Schadenfreude als 
Elementarinstinkt; wird der Hang zur Grausamkeit je über- 
wunden werden? (332). — Chinesische Religiosität; Priester 
als Ingenieure; Glaube schafft Geister; Gebet kräftigt die 
Götter (335). — Der Wutstoff; Zusammenhang von Selbst- 
kontrolle und Nervenkrisen; physische Vitalität psychisch be- 
dingt 337 
Macau: Eigenart der chinesischen Mystik; chinesische und grie- 
chische Weise; Übervölkerung und moralische Kultur (339). 
— Zusammenhang von Tun und Sein; der Russe als bester 
Psycholog (341). — Lautse; der Chinese kennt nichts ober- 
halb der Natur; die Natur als Vorbild; von allen Formulie- 
rungen des metaphysisch-Wirklichen die chinesischen allein 
unsterblich (343). — Chinesischer Humor; chinesische, grie- 
chische und romanische Form; Form muß ein-, nicht aus- 
schließen; zur Psychologie des Spielers 346 
T singt au: Chinesische Große; der Confuzianismus keine Theorie, 
sondern eine Lebensform ; Moralität das Tiefste der Chinesen ; 
ihre politische Kultur beruht auf Ausbildung des Innerlichen; 
Moralität als vollendete Natur (348). — Der Confuzianismus 
macht reaktionär; jedes konkrete Ideal kann nur gelten für 
einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit; China allein 
hat die soziale Frage gelöst; das Glücksproblem (351). — 
Chinesische Courtoisie; tpyische Form der individuellen Aus- 
prägung am günstigsten; die Ehrfucht als Grundlage aller 
Tugend; tiefer Sinn der Höflichkeit; das Buch der Riten; 
Inhalt XV 
Courtoisie als Blüte des Confuzianismus ; Anmut als Weis- 
heitsausdruck; was besser ist, eine vollkommene äußere Zivi- 
lisation oder Kultur der Aufrichtigkeit (353). — Vorbildlich- 
keit der chinesischen Kultur; Dichter als Sprachrohre; es 
bedarf zufälliger Konstellationen, um einen ewigen Sinn der 
Erscheinung einzuverleiben; es gibt keinen allgemeinen und 
allseitigen Fortschritt (357). — Extremer Charakter der 
chinesischen Äußerlichkeit; Chinas Gesellschaftszustand a priori 
zu konstruieren; Rücksichtnahme bedingt Unaufrichtigkeit; 
Chinesen nicht exzentrisch, sondern extrem in der Typik; die 
mechanistische Weltanschauung der ritualistischen psycholo- 
gisch äquivalent; kein metaphysischer Unterschied zwischen 
Naturformen und Zeremonien 359 
Durch Shantung: Die Größe Chinas; China und Rußland; die 
chinesische Tiefe als spiritualisierte Schwerkraft (363). — Der 
weite Hintergrund des Asiaten ; Asiens nicht anthropozentrische 
Weltanschauung; Goethe und Tolstoy 364 
Tsi Nan Fu: Chinesisches Bauerntum; Moralität als Basis des 
Naturverlaufs; die Würde des Bauern 366 
Peking: Das Drachensymbol; Bedeutung des Himmelsohns; der 
Kaiser als Schwungrad im Weltmechanismus; Zusammen- 
bestehen von Souveränität und absoluter Verantwortlichkeit; 
Primat des Moralischen;^ die chinesische Weltanschauung und 
Kant; das Ideal des Nicht-Regierens; Regiment auf Grund 
der Ehrfurcht; chinesische Regierungsidee die höchste (368). 
— Peking; der chinesische Demokratismus; Sinn der Revo- 
lution; die drei Grundnachteile republikanischer Staatsform: 
sie führt keine Herrschaft der Besten herbei, befreit nicht, 
sondern bedingt eine Tyrannis der Maschinerie und senkt das 
allgemeine Niveau; Interesse für Politik zieht herab; trüber 
Ausblick (372). — Die große Kaiserin; psychologische Intui- 
tion der Chinesen; warum sie Mißwirtschaft dulden, Respekt 
vor Ordnung, Mangel an Heroismus, Unadeligkeit (377). — 
Erneuerung Chinas nur aus confuzianischem Geist heraus 
denkbar; der Geist des Confuzianismus zur Erneuerung wenig 
geschickt; mögliche Metamorphose; Apologie der Geschichts- 
fälschung; Confuzianer und Alt-Lutheraner; Luthertum und 
Calivinismus (380). — Confuzianismus und Protestantismus 
(384). — Diät und Mentalität; der Koch als Schöpfer; alle 
Sinne ursprünglich gleichwertig; Weltanschauung des Gau- 
mens (387). — Chinesische Tafelfreuden ; chinesisches Kombi- 
nationsvermögen, Gefühls- und Liebesleben (389). — Indivi- 
dualistische Auffassung des Eheproblems ein Mißverständnis; 
die Fortpflanzung als Gattungsangelegenheit; nachteilige 
Wirkung des Ideals der vollkommenen Ehe; Oberflächlich- 
keit der europäischen Liebesauffassung; mögliche Göttlichkeit 
der Geschlechtsliebe; Liebe bezieht sich immer auf das 
XVI Inhalt 
Typische; die Ehe der Zukunft (391). — Der chinesische 
Klassif izismus ; chinesische Schulbildung; Bedeutung der 
klassischen Philologie; der Chinese ein Philister (395). — 
Ku Hung-Ming; europäische und chinesische Geschichte ver- 
glichen; warum alle Geschichte kurz ist; Kung Fu-Tse und 
Lautse als Antipoden (399). — Alle Chinesen physiologisch 
Confuzianer; der Taoismus; Chinesen extreme Ausdrucks- 
menschen; Lautse als Narr; taostische Heilige (402). — 
Ein chinesischer Religionstifter; Confuzianismus und Christen- 
tum (404). — Die Chinesen unkirchlich, aber nicht irreligiös; 
die Kirche als „Anstalt"; warum sie im Protestantismus fort- 
schreitend an Bedeutung verliert (406). — Weshalb der con- 
fuzianische Mensch so oft vollendet erscheint; Vorzug des 
Ideals der Norm; Kung Fu-Tse's Ablehnen des Außerordent- 
lichen i das chinesische Vollendungsideal dem Normalmenschen 
am förderlichsten; wird der Konfuzianismus den Westen er- 
obern? Vorzug unerreichbarer Ideale; Nachteile des Ideals 
der Norm; Goethe und Dr. Johnson (407). — Chinesisches 
Kaisertum; chinesische und amerikanische Selbstgewißheit . 412 
Hankow: Chinesische Verachtung des Kriegshandwerks; der 
Traum vom ewigen Frieden; Vorzüge des Duells .... 414 
Auf dem Yang-Tse: Chinesische Landwirtschaft; der Con- 
fuzianismus als sublimierte Bauernweisheit; naturhafte Tiefe 
noch so verfeinerter Chinesen; Moralität als gebildete Natur; 
die soziale Frage; die Tragödie des Fortschritts (416). — 
Moralität und Zweckmäßigkeit; moralische Bildung; Züch- 
tung auf Charakter schafft nur Rohmaterial (421). — Sturm 
auf dem Yang-Tse; Pfütze und Ozean 423 
Shanghai: Shen Chi P'ei; allgemeine Bestimmung des Chinesen- 
tums; der Chinese wenig individualisiert, Intcllektualist, ist 
trotz niederer Naturstufe dem Kulturideal am nächsten ge- 
kommen; das Ideal der Konkretisierung; Chinas Kultur und 
das Zukunftsideal; die größere Originalität des Westens; 
Gedächtnis und Erinnerung als Pole des Geschehens (424). 
— Die Chinesen als menschlichste Menschen; Leichtverständ- 
lichkeit ihrer Zivilisation; Kultur und Ursprünglichkeit; Natur 
und Geist 429 
VI. Japan. 
Durch Yamato: Reichtum der japanischen Natur; Einfluß der 
Natur auf die Kunstentwickelung; ostasiatische Maler als 
Yogis; der Mensch ist zugleich Pflanze, Felsen und Meer; 
japanische Forstwirtschaft; das Zwergen der Bäume (435). 
— Poesie des Hinterwäldlertums ; der Konzentrische wesen- 
hafter als der Exzentrische; Lafcadio Hearn; Höflichkeit des 
Herzens (437). — Japanische Kindererziehung;- Confuzianis- 
mus und japanische Rücksichtsnatur; ein bäuerlicher Weiser; 
Inhalt. XVII 
christlicher Charakter seiner Sympathie (439). — Japaner dem 
Europäer nahe verwandt; was aus uns unter chinesischem 
Einfluß geworden wäre 440 
Im Kloster von Koya San: Christlich-mittelalterlicher Charak- 
ter dieses Wallfahrtsorts; die Geschichte des japanischen Bud- 
dhismus; parallele Fortentwickelung von Buddhismus und 
Christentum; Wandlungen dieses; sein beharrendes Wesen; 
wie spirituelle Kräfte ihre Verkörperung wechseln; eine be- 
stimmte Qualität der Liebe macht das Christentum; Kern 
des Buddhismus; inwiefern es eine Vorsehung gibt; Katholi- 
zismus tiefer als Urchristentum; die „wahre Lehre" als Zu- 
kunftsideal; Acvagosha; japanische Sekten (441). — Ver- 
wandtschaft der japanisch-buddhistischen mit der katholischen 
Kirche; katholische Gestaltung vernunft-, buddhistische ge- 
fühlsgeboren; Irreelles der buddhistischen Kirche (548). — 
Skepsis japanischer Pilger; Formensinn; japanische Religiosi- 
tät; japanisches Bewußtseinszentrum ruht im Empfinden (450). 
— Japanischer Patriotismus; was Tiefe ist; die Kriegsgefahr 
wandelt das Bewußtsein um; der Patriotismus als tiefstes des 
Japaners; dem politischen Idealzustand steht das Japan von 
gestern näher als unsere Zukunft . 452 
Nara: Buddhistische und mittelalterlich-christliche Kunst; keine 
Kunst absolut bodenständig; buddhistische Kunst als Normal- 
ausdruck japanischer Religiosität; äußerster Ausdruck eines 
Spirituellen wird immer von Materialisten gefunden; warum 
die Meisterwerke buddhistischer Kunst aus Ost-Asien stam- 
men (455). — Einheitlichkeit des Zeitgeists während der 
ersten nachchristlichen Jahrhunderte; die Mahäyäna-Lehre 
tiefer als die christliche; Mahäyäna und Theosophie; Unüber- 
windlichkeit der Rassenanlage (459). — Japaner nicht ver- 
wandelbar; katholische und buddhistische Heilige (461). — 
Europäisches und japanisches Franziskanertum; Asiaten psy- 
chisch magerer als wir; je reicher der Körper, desto bessere 
Ausdrucksmittel hat der Geist; Chinas einzige Größe . . . 462 
Kyoto: Das japanische Mittelalter; das Schicksal als Konvention; 
Konvention als Natur; das Ende des Ritters; Tierarten als 
Vorurteile; der Rittertypus unersetzlich; der universalisierte 
Gentleman als höchster Adelstypus; warum die Aristokraten 
heute entarten; Edelleute als unvornehme Geschäftsmänner 
(464). — Mannigfaltigkeit Alt-Japans; typische Vollendung 
besser als individuelle; Kyoto und Versailles; Hofschranzen 
und Pinguine (468). — Japanische Zimmereinrichtung; Wesen 
des Geschmacks; die allgemein-asiatische Weltanschauung; 
japanische Bau- und Gartenkunst; Genji Monogatari (470). 
— Bedeutung der harmonischen Proportion; Rhythmik in 
Natur und Kunst; „Harmonie" in China und Japan; abstrakte 
und lebendige Rücksichtnahme; das Menschheitsorchester 
II 
XVIII Inhalt. 
(472). — In Japan alles Sichtbare auf den Menschen zuge- 
schnitten; der Schlüssel zum Geheimnis japanischen Kunst- 
schaffens (475). — Die Welt des Sichtbaren eine Welt für 
sich; die Möglichkeit als spezifische Wirklichkeit des Meta- 
physikers; warum ich kein Gott bin (477). — Der japanische 
Tanz; die Geisha als Priesterin; was sie allein vermag; die 
Teezeremonie; Japan und England; Form schafft Inhalt; 
für die meisten kommt nur typische Vollendung in Frage 
(479). — Japan bei Nacht; Reinheit der Atmosphäre japa- 
nischer Freudenhäuser; Vorzug dessen, daß die Befriedigung 
des Geschlechtsbetriebs als selbstverständlich gilt; Japans 
Lösung des Prostitutionsproblems; ein Übel nur so zu be- 
seitigen, daß man ihm den Charakter eines Übels nimmt 
(483). — Das Keuschheitsideal als Exponent sinnlicher Bru- 
talität; das Sinnenreizende der europäischen Atmosphäre; 
der Orient unsinnlicher als der Okzident; ideale Lösung der 
sexuellen Frage in Indien; die künftige Freiheit der Frau 
(486). — Die Japanerin als vollendetster Frauentypus dieser 
Zeit; ein besseres System schafft nicht notwendig bessere 
Wirklichkeit; Vorzüge ein Positiveres als Gebrechen; japa- 
nische Laxheit; japanische Auffassung weiblicher Reinheit . 490 
Ise: Japans bester Geist; die Ahnenverehrung; tiefer Sinn des 
Vorfahrenkults; Nahrhaftigkeit des Weibes und des Edel- 
manns; Wesen, Wert und Geschichte des Shintö; Japans 
Zukunft 494 
Myanoshita: Warum Japan nicht großartig ist; der Mensch 
als Zentrum der Natur; kleines wirkt nie groß; Bedeutung 
des Quantitativen; inwiefern Gott mehr ist als der Blüten- 
zweig; Rainer Maria Rilke 497 
Nikko: Die Größe der Tokugawas; Bild und Rahmen; Sinn des 
Legitimitätsgedankens; geborene Herrscher und Parvenüs . 500 
Tokyo: Das Mikadotum; Vorzüge der Autokratie; der Glaube 
der Untertanen macht aus dem Herrscher einen höheren Men- 
schen; Nachteile der Republik (503). — Japanische Große; 
das demokratische Ideal bisher nur von Aristokratien ver- 
wirklicht (505). — Japaner ein fortschrittliches Volk, uns 
ähnlicher als den Chinesen; Bestimmung des Japanertums; 
der Jiujitsu sein Symbol; die chinesische Kultur ist Aus- 
drucks-, die japanische Einstellungskultur; die Japaner dürfen 
sich verwestlichen; Japans Hauptgefahren: es darf seinen 
Natursinn und seinen Patriotismus nie verlieren; nationale 
Höhepunkte; das Allzu-Ernste steht dem Japaner nicht an 
(506). — Die Mahäyäna -Lehre; Acvagosha und Bergson; 
Rehabilitierung der Geschichte; Sinn der Ähnlichkeit von 
Mahäyäna und Christentum; Mahäyäna-Lehre und Zukunfts- 
religion; japanische und europäische Religiosität; die Zen- 
Sekte; Zen und New Thought (511). — Psychologie unserer 
Inhalt. XIX! 
Indomanie; nur nicht-Gewohntes regt an; Segen der Nicht- 
Uniformität; indische und christliche Yoga; das Prinzip der 
Einmaligkeit; wahre Bedeutung unseres Interesses für die 
östlichen und des Orients für die westlichen Ideen; die Welt 
wird wieder einmal jung; Ähnlichkeit dieser Zeit mit den 
ersten Jahrhunderten nach Christo; der zu gewärtigende 
Erfolg der gegenseitigen Befruchtung von Ost und West; 
Übernahme des Fremden als kürzester Weg zur Selbstver- 
wirklichung; das Grundgebrechen der westlichen Zivilisation; 
symbolische Bedeutung von Japans Unzulänglichkeit ... 516 
VII. Nach der Neuen Welt. 
Auf dem Stillen Ozean: Selbstüberschätzung des Menschen 
(523). — Glück der Einsamkeit; das Ich als Meer; die ge- 
fährlichen Elemente im Menschen; jedem ein bestimmtes 
Quantum Schuld zugemessen (524). — Wer bin ich? Das 
Unsterblichkeitsproblem ; mögliche Wiederverkörperung ; Fort- 
dauer nicht unvermeidlich; das Weltmeer regt buddhistische 
Gedankengänge an (526). — Der Albatros; wunderbare Fähig- 
keiten der Tiere; der Albatros als Ideal 528 
Honolulu: Exzentrische Frische; Zweckmäßigkeit erklärt nicht 
alle* am Leben; Phantastik in Natur und Kunst; der Mensch 
als Barbar gegenüber den Fischen der Südsee; künstliche Tiere 530 
Am Kilauea-Krater: Ein Feuermeer; das Feuer kein feind- 
liches Element; die Kratergöttin 533 
Auf dem Lavafelde vor dem Kilanea: Morgenstimmung; 
der Uranfang der Dinge bleibt ein Wunder; der Mythos als 
letztes Wort; die Geologie als Erzieherin; die Uraufführung 
der Lebenssymphonie , . . . . 535 
Nachts am Krater: Ich halte Wache bei der Weltschöpfung; 
Wahrscheinlichkeit der biblischen Darstellung; warum ich 
den Vulkan nicht auslöschen kann; Wesen des Lebens; Ge- 
danken der Nacht 537 
An der Bai von Waikiki: Die elyseischen Gefilde; die ersten 
Menschen nicht primitiv, sondern Götterkinder; inwiefern 
Götter weniger als Menschen sind (540). — Die Insel der 
Seligen; Wellen als Reittiere; der amphibische Mensch (542). 
— Das Reich der reinen Subjektivität; über die Liebe; die 
Grenzen von Dichtung und Wirklichkeit verschwimmen; Un- 
behilflichkeit des Mannes auf dem Meer der Gefühle; Ne- 
reiden- und Tritonenliebe 543 
Nach Amerika: Rückschwenkung nach dem Westen; Ameri- 
kaner als typischeste Westländer; größere Idealität des 
Westens; im Westen sind alle Formen flüssig geworden; 
Wesen des Gegensatzes zwischen Ost und West; Vollendung 
oder Erfolg? der Zug ins Quantitative; der Amerikaner als 
größter lebender Barbar; Apologie der Unzulänglichkeit; Zu- 
II* 
XX Inhalt 
kunftsversprechen (545). — Seltsame Beziehung zwischen 
Vollendung- und Fortschrittsstreben; wir sind mit unseren 
Institutionen unserem Wesen vorausgeeilt; bei uns erweist 
sich das Gute als immer praktischer; bei uns wirken 
die idealen Forderungen als reale Mächte; inwiefern 
Fortschrittsstreben der Vollendung zugute kommt; die Ari- 
stokratie der Zukunft (550). — Die Demokratie als Arbeits- 
hypothese; modern-westlicher und indischer Evolutionismus; 
Optimismus als Macht; er bewirkt ein geistiges Aufkreuzen 
der Masse; bald wird es keine ganz niederen Volks- 
schichten mehr geben (553). — Exzentrizität als Naturbasis 
erfinderischer Originalität; Neuerungsstreben macht ober- 
flächlich; Wesen unserer zeitweiligen Kultureinbuße; in uns 
werden, unter großen Kosten, neue Organe ausgebildet; fort- 
an wird die individuelle Form der Masse die gleiche Ver- 
tiefung ermöglichen, wie bisher nur die typische; der Fort- 
schrittsbegriff hat seinen Realgrund am Charakter des er- 
kennenden Bewußtseins; warum unsere Zukunft sich wirklich 
im Sinn des vorausgesetzten Fortschrittsideals gestaltet (555). 
— Bedenken gegen die Heidenmission; christliche und ba- 
haitische Missionare verglichen; die einzigartige formende 
Macht des Christentums ; dessen Geist einer der Praxis ; Christi 
Lehren kein Maximum philosophischen Tiefsinns; Recht- 
fertigung der Mission; die Missionare geben ein Beispiel 
hohen Opfermuts, schöpferischen Optimismus; dieser dem 
Orient fremd; Überschreitung der psychischen Wasserscheide; 
absoluter Vorzug der christlichen Religion; wie keine andere 
verkörpert sie den Geist der Freiheit; die zwei Wege, sich 
frei zu erweisen; die zwei christlichen Grundgebote; worin 
die Inder gefehlt; wir Westländer sind Gottes Hände . . 557 
VIII. Amerika. 
San Francisco: Extrem westlicher Charakter dieser Welt; 
das „Sollen" als typisch-westlicher Begriff, dem Orient un- 
bekannt; die Erscheinung erhält 'einen absoluten Sinn; Vor- 
zug der westlichen Lebensmodalität für dieses Leben . . 563 
Im Yosemite-Tal: Analyse des Westländer-Bewußtseins; 
Potenzierung des Ich; was Westländertum möglich macht; 
Bedeutung der Individualisierung; aller Geist erscheint im 
Körper gebannt; Jugendlichkeit dieser Welt; warum und 
inwiefern wir Materialisten sind (565). — Die Welt Leder- 
strumpfs; Rückblick auf meine Knabenjahre; die Amerikaner 
als Schulbuben; alle Westländer wesentlich jung; der De- 
mokratismus hat die gleiche Verjüngung eingeleitet, wie vor 
2000 Jahren der Barbaren ansturm; der ganze Westen in den 
Flegeljahren; Alt-Europa wird bald ausgespielt- haben; das 
Ende des abendländischen Kulturmenschentums .... 568 
% 
Inhalt XXI 
Im Mariposa-Hain: Die Riesenbäume; die Erde noch nicht 
altersschwach ; unerhörte Abhängigkeit der westlichen Mensch- 
heit von äußeren Verhältnissen; Ursache dessen; ihre Lebens- 
formel verlangt ewige Jugend; das Evangelium der Gesund- 
heit; in Amerika werden wir unsere Entwickelung vollenden; 
Tradition als Fessel; neue Kulturen wachsen nur auf neuem 
Boden; wir heben als geistige Wesen eben dort an, wo die 
Physis in der Trias anhub; warum der Orient nie das Gleich- 
heitsideal proklamiert hat; unsere Stellung des Lebens- 
problems bedingt ewigen Kampf 571 
Am Gran Canon des Colorado: Wesen des Erhabenen; 
ungeheure Macht der schlichten Kräfte des Alltags ; Natur und 
Vernunft; die Gesetze des Verstandes als Normen der Welt- 
ordnung; Schönheit in der Natur und als Ideal« (574). — Die 
Natur ist nicht mehr unerreichbar in ihrem Schaffen; der 
heutige Mensch herrscht nicht als Gott sondern als Erdgeist; 
er läßt sich von der blinden Natur sein Streben diktieren; 
warum er überall zerstört; die Erfahrung macht zuletzt den 
Narren klug; Mißbrauch der Naturkräfte führt am schnellsten 
zu ihrer weisen Benutzung; die Natur der Dinge führt eben 
dahin, was der Weise antizipiert hatte ; hoffnungsvoller Ausblick 576 
Durch Californien: Europäischer und asiatischer Natursinn; 
unser Verständnis dem des Schulmeisters vergleichbar; unser 
Verhältnis zur Natur braucht diese nicht zu verunzieren; 
Wissenschaft als Vorläuferin der Kunst; unser Ziel . . . 578 
Im Yellowstone Park: Ausrottung des Büffels und Indianers; 
der „Fortschritt" verdürftigt die Erde; die Europäer als 
Allzerstörer; das Todbringende unserer Zivilisation; Hegels 
Irrtum; geschichtliche Bedeutsamkeit resümiert nicht alle 
Werte ; materieller Erfolg kein Gottesurteil ; der geschichtliche 
Prozeß eines Sinnes mit dem biologischen; verderbliche Fol- 
gen von Hegels Irrtum; Macht wesentlich böse; Funktion des 
Bösen in der Weltökonomie; Apologie der Zerstörung; Tod 
und Töten als normale Naturvorgänge; Schaffen und Zer- 
stören als korrelative Attribute der Gottheit; die Unabwend- 
barkeit des Sterbens rechtfertigt den Mörder nicht; die Selbst- 
regulierung der Natur und ihre Störung durch den Menschen; 
warum der Westländer jetzt vorherrschen muß; inwiefern es 
ein „Recht des Stärkeren" gibt (580). — Wir Abendländer 
sind wesentlich Kämpfer; unsere Tugenden sind Krieger- 
tugenden; warum der Weise Kampf abweist: weil er schon 
ausgekämpft hat; Kampf verwandelt die Seele; wie Buddha 
und Christus ihre Erleuchtung gewannen; in einer Kampfes- 
welt allein allgemeines Fortschreiten möglich; die Natur der 
Dinge bedingt, daß jeder Fehler sich irgend einmal rächt; 
die Dialektik des Geschehens beweist wenig im Einzelnen, 
führt jedoch im Großen planvoll vorwärts; das Mögliche wird ; 
XXII Inhalt. 
notwendig wirklich; jeder Einzelne soll nur aufrichtig sein; 
unsere Karma-Yoga die tiefste von allen; die Verbesserung 
der Welt; in einer Kampfeswelt führt Egoismus am schnellsten 
zum Ziel; aus Konkurrenz entsteht notwendig irgend einmal 
Colloboration (585). — Die Kultur des Westens als Kultur der 
Aufrichtigkeit; empirische Wahrhaftigkeit und Überzeugungs- 
treue als Ideale; Geschichte der Wissenschaft; stirb* und 
werde; der Weg zur absoluten Autonomie; Vorläufigkeit de9 
amerikanischen Zustands; dennoch steht er der äußerstdenk- 
baren Vollendung näher als die indische Vollkommenheit; 
warum Tatsachen mehr als Einbildungen sind 589 
Salt Lake City: Die Mormonen; psychologische Unbildung 
aller westlichen Religionsstifter; das Beispiel Luthers; die 
ungeheuerliche Dogfmatik Calvins; wir Westländer nicht Ver- 
steher sondern Täter; die bewundernswerte Kulturarbeit der 
Mormonen; kein notwendiger Zusammenhang zwischen dem 
philosophischen Wert einer Idee und ihrer Bedeutung für das 
Leben; Beispiele; keine Religion kann abgesehen von den 
empirischen Verhältnissen beurteilt werden, innerhalb derer 
sie wirken soll (592). — Das amerikanische Sekten wesen als 
Repräsentant westlicher Religiosität; diese vom principium 
individuationis bedingt; das Individuelle als. Wert; warum 
das Unterschiedliche bei uns Feindschaft bedingt, im Osten 
nicht; Vorzug unserer Auffassung vor der indischen; sie 
bezieht alle Werte auf das persönliche Leben; der normale 
• * Weg des Fortschreitens führt automatisch aus den Beschrän- 
kungen hinaus; wie Intoleranz sich in Toleranz umsetzt; 
außerordentliche Möglichkeiten der christlichen Entwicke- 
lung; christliche Liebe; was sie ist und werden kann; die 
freieste Stellung zum Tod; sein Überwinden; das göttliche 
Licht wird dereinst an der christlich gestimmten Seele ein 
vollkommenes Medium besitzen 595' 
Ostwärts: Amerika dem Idealzustande näher als Europa; die 
Überlegenheit des kleinen Manns; alle Arbeit gleich ehren- 
voll; indische und amerikanische Auffassung der Gleichgültig- 
keit des Äußerlichen; in Amerika bedingt die Demokratie 
nicht notwendig eine Herrschaft der Inkompetenz; warum 
das Erstarken der niederen Volksschichten in Europa unheil- 
schwanger ist; der Amerikaner setzt nicht voraus, daß andere 
für ihn zu sorgen hätten; individualistische Gesellschaftsord- 
nung undenkbar auf Grundlage von Mitleidsmoral; ihre mög- 
liche Vollendung in Amerika (600). — Amerikanische Land- 
wirtschaft; warum der Beruf des Landwirts als edelster gilt; 
chinesische, europäische ' und amerikanische Agrikultur; die 
letztere als Keim eines Höchsten; je freier ein Mensch, desto 
mehr naturhafte Schranken darf er verleugnen; weshalb aller 
äußere Fortschritt zunächst einen inneren Rückschritt bedingt; 
Inhalt XXIII 
Zukunftsausblicke (604). — Vorzüge des Kulturzustands, der 
in Hinnehmen und Erleiden wurzelt; Relativität aller Ge- 
staltung; Genese das Sündigkeitsbewußtseins ; Vorteile und 
Nachteile von Karma-Lehre und New Thought; es gibt ein 
Schicksal; Vorzug der neuen Stellung zum Leben; er bezieht 
das Dasein auf einen tieferen Grundton; Gott als Ich und 
als Du; Überwindung der Möglichkeit des Pessimismus (607). 
— Wie sehr der Fortschrittsbegriff dieser Welt gemäß ist; 
warum die Griechen ihn nicht hatten; unser Beruf auf Erden; 
bisher kaum die Vorarbeiten erledigt; Notwendigkeit blinder 
Kämpfer 610 
Chicago: Alles Leben geht auf im maschinellen Betrieb; ab- 
soluter Vorzug der Mechanisierung; sie ersetzt das, was die 
Antike durch Sklaverei besaß; die amerikanischen Geschäfts- 
leute als Yogis; die amerikanische Lebensformel verdürftigt 
den Menschen, entwickelt ihn zum Tier zurück ; Ursache ihrer 
Werbekraft (612). — Der Schlachthof; die Fabel Dschuang 
Tses vom Fürsten und dem Metzger; der Amerikaner als 
Gegenpol des indischen Weisen; des Westens Gefahr (614). 
— Der künstliche Mensch als Ziel der neuesten Entwickelung ; 
Eve future; Automat oder Gott?; intellektuale Objektivatio- 
nen als Fesseln; der russische Bauer als Ideal; der Weg zur 
Allwissenheit 610 
New York: Mensch und Ameise; Vorzüge der Großstadt; die 
bestmögliche Lösung des äußeren Lebensproblems; voll- 
kommene äußere Organisation schafft die Möglichkeit voll- 
kommener Freiheit; Fortschritt führt zur Vereinfachung; 
Komfort als Form der Askese (617). — Suprematie Amerikas 
in der Organisation des äußeren Lebens; die amerikanische 
Religion; irdischer Erfolg als Gradmesser göttlicher Gnade; 
Weltzugekehrtheit des amerikanischen Christentums ; keinerlei 
Animosität gegen den Besitz; Wohlstand als Normalzustand 
des Begnadeten; die Kopernikanische Tat des amerikanischen 
Christentums; zwei Wege, materielles und spirituelles Streben 
zu vereinen: Verzicht auf jenes oder dessen Heiligung; letz- 
teres allein kommt für den Westen in Frage; Verkörperung 
des spirituellen Ideals im temporellen Streben; nie wird das 
Christentum überwunden, es kann nur umgedeutet werden; , 
Wohlstand als Normalzustand; Armut als absolutes Übel; der 
Mensch soll nicht bedürfnislos sein: jeder Gewinn an empi- 
rischen Fähigkeiten bedeutet Zuwachs an Ausdrucksmitteln 
für den Geist; die Befriedigung der Bedürfnisse muß selbst- 
verständlich sein (620). — Die Kluft zwischen äußerem Vor- 
geschrittensein und innerer Vollendung in Amerika noch 
größer als in Europa; Gründe hierfür; das Fortschrittsideal 
muß überstiegen werden; es gilt Vollendung, nicht Erneue- 
[ rung; Bekehrung als Hilfskonstruktion; von einer neuen > 
XXIV Inhalt. 
Form wird das Heil nie mehr kommen; wir sind alle end- 
gültig über Name und Form hinaus; wie allein unser Fort- 
geschrittensein zum Ausdrucksmittel des „Einen, was wohl- 
tut" werden kann; unsere wahre Mission: der Idee der Uni- 
versalität zu vollendeter Verkörperung zu verhelfen; warum 
die Universalitätsbestrebungen früherer Zeiten fehlgehen muß- 
ten ; wir haben die einzig haltbare Brücke geschlagen zwischen 
Ideen- und Erscheinungswelt; die höchste Bewußtheitsstufe; 
fortan . werden Nationalgefühl und Weltbürgertum sich nicht 
mehr ausschließen; die künftige Solidarität der Menschheit; 
inwiefern wir die höchste Naturstufe verkörpern; Zukunfts- 
ausblicke; die Differenziation wird einmal umschlagen in 
Integration; ein dummer Zufall mag die Entwickelung plötz- 
lich abschneiden; die Erde eine Stätte der Ansätze, nicht der 
Erfüllungen; die Evolution des Geistes hat kein zuverlässiges 
Mittel an dieser Welt, sein eigentliches Ziel liegt überhaupt 
nicht in ihr; es kommt nicht auf Erreichen auf Erden an 
sondern auf Erreichen-wollen ; die Vollkommenheit der Erde 
nicht Selbstzweck; Fortschritt in der Idee ein wesentliches 
als realer Fortschritt (625). — Die Freiheitsstatue; Uner- 
freulichkeit des heutigen amerikanischen Zustands; nicht 
Freiheit, sondern Willkürherrschaft; jeder Mensch ist wesent- 
lich frei; die langsame Entwickelung seines freien Wesens; 
erst der Vollendete lebt wahrhaft aus seiner Freiheit heraus; 
die Entwickelung des Individuellen hat im Sozialen ihr 
Spiegelbild; sie läuft nicht geradlinig ab; was es gilt; Über- 
flüssigwerden aller Dogmen, Grundsätze, Vorurteile und 
Pflichtvorstellungen; das Ziel ist, unmittelbar aus sich zu 
leben; aufgezwungene Schranken sollen freigewählten Platz 
machen; die traditionellen Ordnungen drücken Wirklichkeiten 
aus; das Leben in Amerika nicht autonomer sondern ab- 
hängiger von äußeren Umständen; Überwindung des Demo- 
kratismus ; äußere Schrankenlosigkeit als bester Lebensrahmen 
einer innerlich höchst gebildeten Menschheit; die Idee des 
Demokratismus wird sich nicht allein als wahr im Prinzip, 
sondern als darstellbar in der Erscheinung erweisen; ihr 
letzter Sinn; der Geist ist mächtiger als die Natur; Über- 
- Windung aller Naturbestimmtheit 632 
IX. Heimgekehrt. 
Rayküll: Rückblick; die neuen Aufgaben; jetzt gilt es stille- 
halten lernen; ich muß unabhängiger werden von meiner 
Unabhängigkeit; bin ich der Selbstverwirklichung näher 
heimgekehrt? Metaphysik und Musik (641). — Relativität 
der Zeit; alle Erinnerungsbilder verblassen, Neues entsteht; 
wieder kommt alles anders; ich spüre kein Bedürfnis mehr 
nach Metamorphosen; man verurteilt bei anderen am schärf- 
Inhalt XXV 
sten, was man in sich nicht liebt; Persönlichkeit kein Ideal; 
der Vollendete verleugnet nichts mehr; Dimensionswechsel 
in meinem Leben; mein Innerstes hat die Initiative ergriffen; 
dennoch erkenne ich mehr denn je, daß der Umweg um die 
Welt den kürzesten Weg zu sich selbst bezeichnet; Unmög- 
lichkeit, Erfahrungen vorweg zu nehmen; Wesenserkenntnis 
hebt das Menschsein nicht auf, sondern erfüllt dasselbe; 
vollkommene Freiheit beginnt erst jenseits der Wandelbar- 
keit; inwiefern die christliche Mystik tiefer als die indische 
blickt; Gott als Mensch von allen der menschlichste (644). 
— Der Weltkrieg; die Einheit des Menschengeschlechts be- 
steht dennoch fort; Übergang zur universelleren Welt von 
morgen durch Ausrottungskämpfe; die Erkenntnis wesent- 
licher Freiheit hat ihr Korrelat am Zusammenhangsgefühl; 
ich bin nichts aus mir selbst; ich kann die Welt, in der ich 1 
lebe, ebensowenig verleugnen wie mich selbst; Pflicht, an 
ihrer Vervollkommnung zu arbeiten; Bodhisatva und Weiser; 
jener, nicht dieser als Ziel des Menschenaufstiegs .... 647 
VORBEMERKUNG. 
Vorliegendes Tagebuch bitte ich zu lesen, wie einen Roman. 
Wenngleich es sich zum großen Teil aus Elementen aufbaut, welche 
die äußeren Anregungen einer Weltreise in mir entstehen ließen, 
und viel objektive Darstellungen und abstrakte Betrachtungen ent- 
hält, welche selbständig für sich bestehen können, stellt es doch als 
Ganzes eine von innen heraus erschaffene, innerlich zusammen- 
hängende Dichtung dar, und nur wer es als solche auffaßt, wird 
seinen eigentlichen Sinn verstehen. Über diesen will ich nichts 
vorausbemerken. Er wird sich dem offenbaren, der dem Wanderer 
willig durch seine vielfachen Stimmungen und Wandlungen hin- 
durch Gefolgschaft leistet, nie vergessend derweil, daß das Faktische 
mir nirgends Selbstzweck, sondern überall nur ein Ausdrucksmittel 
ist für einen Sinn, welcher unabhängig von ihm besteht; der sich 
dementsprechend nicht daran stößt, daß Gedanken über fremde 
Kulturen mit Selbstbetrachtungen, exakte Darstellungen mit dichte- 
rischen Umbildungen abwechseln, daß viele, vielleicht die meisten 
Schilderungen mehr der Möglichkeit, als der Tatsächlichkeit gerecht 
werden; der sich vor allem auch durch die Widersprüche nicht 
beirren läßt, in die mich Standpunkt- und Stimmungswechsel mit 
Notwendigkeit häufig verstricken, und deren Auflösung ich nicht 
immer ausdrücklich mitteile. Wer mich in diesem Geiste liest, 
dem wird, so hoffe ich, noch ehe er ans Ende gelangt, die Ahnung 
weniger einer theoretisch-möglichen Weltanschauung, als einer 
praktisch-erreichbaren Bewußtseinslage aufgegangen sein, der so 
manches verhängnisschwere Problem von Hause aus gelöst erscheint, 
in der unüberbrückbare Gegensätze verschmelzen und vieles einen 
neuen, volleren Sinn erhält. — Auf daß nun auch der auf seine 
XXVIII Vorbemerkung. 
Rechnung komme, dem es vornehmlich um Einzelerkenntnisse zu 
tun ist, habe ich dem Buch ein ausführliches Register angehängt, 
das ihm das Zusammensuchen der verstreuten Stellen, die auf 
gleiche Probleme Bezug haben, erleichtern wird. 
Dies schrieb ich im Juni 1914, im Herbst jenes Jahres 
sollte das iWerk erscheinen. Da kam die Kriegserklärung; sie 
unterbrach, bis zur Besetzung Estlands durch deutsche Truppen, 
jede Verbindung zwischen dem Verlag und mir. In seinen Händen 
befand sich druckfertig der erste Band, in den meinen verblieben 
die Korrekturbogen zum zweiten. — Trotz der langen seither ver- 
strichenen Zeit gebe ich mein Reisetagebuch nun in der Haupt- 
masse nach unveränderter Gestalt heraus: soweit es einer orien- 
talisierenden Einstellung entspringt, gehört es durchaus meiner 
Schaffensperiode von 191 1 — 14 an, hätte daher durch Umarbeitung 
von einem neuen Zustand her allenfalls verlieren können. Nur 
die beiden letzten Teile — Amerika und Rayküll — habe ich 
während der Kriegsjahre nicht allein verändert, sondern beinahe 
vollständig neu verfaßt; dies erwies sich als notwendig, um mein 
Unternehmen wahrhaft zu vollenden. 1914 war ich vom Orient 
noch so sehr besessen, daß ich mich als Abendländer nicht un- 
befangen darstellen konnte, den entsprechenden Abschnitten ge- 
brach es daher an Klarheit und Überzeugungskraft. Und um dem 
Ganzen die Abrundung, den Abschluß zu geben, den seine Idee 
verlangte, um im Finale das lebendige Fazit meines Umweges um 
die Welt zu ziehen — dazu fehlte mir damals vollends die Distanz. 
Heute glaube ich soviel getan zu haben, wie meine Fähigkeiten 
mir gestatten. Die lange, lastende Schreckenszeit hätte somit einer 
Geistesschöpfung wenigstens zum Heil gereicht 
Rayküll i. Estland, im Frühjahr 1918. 
Hermann Keyserling. 
) 
NACH DEN TROPEN. 
I 
Verschiedene Formen der Erfahrung. 
VOR DER ABREISE. 
Wozu gehe ich noch auf Reisen ? — Meine Wanderjahre liegen 
hinter mir. Vorüber sind die Zeiten, da Stoff auf nähme als 
solche mich innerlich bereicherte. Dazumal fiel inneres 
Wachstum mit Verbreiterung der Oberfläche zusammen ; ich stand 
geistig auf der Stufe des Kindes, das zunächst seinem körperlichen Um- 
fange nach zunehmen muß, ehe von andersartigem Vorwärtskommen die 
Rede sein kann. Allein kein Kind, so lebendig es sei, wächst ins 
Unbegrenzte hinaus; irgendeinmal ist bei jedem der kritische Punkt 
erreicht, wo es im bisherigen Sinne nicht mehr weitergeht, wo es 
heißt: ganz stehenbleiben, oder seine Entwicklung in eine andere 
Dimension hinüberverlegen. Und da das Leben, wo nicht erschöpft, 
nie stillesteht, so ereignet sich der erforderliche Dimensionswechsel 
in einem gewissen Alter von selbst. Jeder strebt als reiferer Mensch 
aus eben den Motiven nach Vertiefung und Potenzierung, die in 
jungen Jahren seinen Sinn auf Verbreiterung und Bereicherung ge- 
richtet hielten. — Wenn ich nun die Art und den Grad meines 
heutigen Erfahrenkönnens und -wollens mit dem von ehemals ver- 
gleiche, so fällt mir ein grundsätzlicher Unterschied auf. Damals 
ging, wie gesagt, jeder neue Eindruck, jede neue Tatsache als inte- 
grierender Bestandteil in mein wachsendes Individuum ein ; dieses 
wurde um so viel mehr, als es mehr aufnahm. An jedem neuen Ein- 
druck gewann ich ein neues Ausdrucksmittel, jede neue Anschauung 
verstärkte mein Selbstgefühl, so daß es nicht widersinnig war, wenn 
ich der Hoffnung lebte, von außen gleichsam zu erjagen, was mich 
im Innern trieb, sich mir aber noch nicht geoffenbart hatte. Wie nun 
meine Organe erstarkten, wie ich sie besser und besser zu nutzen 
verstand ; wie Neubildungen seltener wurden und die Seele des 
Wert und Unwert der Abgeschiedenheit. 
Ganzen andrerseits mehr und mehr jedes Einzelne zu durchdringen 
begann, da verblaßte in entsprechendem Tempo mein Interesse am 
Äußerlichen, das bei mir ja von je nur ein Vorläufiges, fast ein Vor- 
wand gewesen war. Heute bekümmert keine Tatsache als solche 
mich mehr. Ich lese ungern, bedarf der Menschen kaum und mehr 
und mehr zieht es mich hin zum Einsiedlerleben, in dessen Rahmen 
ich doch am besten meiner Bestimmung leben kann. Ich bin nun 
einmal Metaphysiker, kann nur dieses eine sein (so vieles andere 
ich auch, bald mit, bald ohne Erfolg, betreiben mag) ; welches be- 
deutet, daß ich mich wahrhaft und ernsthaft nur für die Möglichkeit 
der Welt, nicht für ihr Da- und Sosein interessiere. Aus alter Ge- 
wohnheit, zum Teil aus Selbstdisziplin, verfolge ich den Fortschritt 
der Naturwissenschaften, studiere ich die Eigenheiten der Menschen, 
die meinen Weg kreuzen, oder lese ich die Bücher, die deren Nieder- 
schlag bedeuten: angehen tut mich das alles nicht mehr. Wie 
kommt es unter diesen Umständen, daß ein tiefgewurzelter Instinkt 
mich eben jetzt eine Weltreise antreten heißt — ein Instinkt, nicht 
minder gebieterisch als der es war, der mich in früheren Zeiten, und 
stets in richtiger Reihenfolge, von Klima zu Klima trieb, um meine 
schwankende Gesundheit durch äußere Stützungen im Gleichgewicht 
zu erhalten? — Es ist nicht Neugierde; immer größer wird 
meine Abneigung gegen alles „Sehenswürdige", sofern es zu meinem 
inneren Streben in keiner notwendigen Beziehung steht. Es ist auch 
nicht Forschungstrieb, denn schon gibt es kein Spezialproblem mehr, 
das meine Natur von Grund aus ernst nehmen könnte. Was mich 
hinaustreibt in die weite Welt, ist eben das, was so viele ins Kloster 
getrieben hat: die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung. 
Als ich mich, vor einigen Jahren, zur Niederlassung in Rayküll 
entschloß, da wähnte ich, ich bedürfte der Welt nicht mehr. Ich 
hätte ihrer auch nicht mehr bedurft, wenn ich mein Ziel im Aus- 
tragen schon gekeimter Ideen gesehen hätte, denn solche entwickeln 
sich nirgends ungefährdeter als in anregungsarmer Abgeschiedenheit. 
Aber ich erwartete von Rayküll mehr : ich hoffte, ich würde in seiner 
Abgeschiedenheit zu jener äußersten Selbstverwirklichung gelangen, 
dank welcher die Gedanken, die mir kämen, als reiner Ausdruck des 
metaphysisch Wirklichen gelten dürften ; ich hoffte, ich würde in ihr 
hinauswachsen über alle zufälligen Bindungen von Zeit und Raum. 
In dieser Hoffnung sah ich mich getäuscht. Ich mußte erkennen, 
daß ich wohl immer mehr „ich selbst" würde in meiner Landeinsam- 
Dichter tmd Metaphysiker. 
keit, nicht aber im metaphysischen, sondern im empirischen Ver- 
stände ; und das war das genaue Gegenteil von dem, was ich er- 
strebte. Ich mußte erkennen, daß es noch zu früh war zum Ver- 
zichte auf die Welt. Den meisten Sterblichen mag Persönlichkeit 
das „höchste Glück" bedeuten : es ist die Tragödie der Tragödien 
des Metaphysikers, daß er das Individuum in sich nie völlig über- 
winden kann. Keats sagt vom Dichter : The poetical natare has no 
Seif — it is everything and nothing; it has no character . . . . A poet 
has no identity — he is continaally in for and filling some other 
body. Er hätte hinzufügen können, daß der Dichter vor allem in 
diesem Sinne selbstlos sein soll; daß er nur insoweit, als er es 
ist, seinen Beruf erfüllen kann. Das gleiche gilt in höherem Maße 
und in einem viel tieferen Sinne noch vom Metaphysiker. Der Meta- 
physiker verhält sich zum Dichter, wie dieser sich zum Schauspieler 
verhält. Der Komödiant stellt dar, der Dichter schafft, der Meta- 
physiker antizipiert im Sinn alle mögliche Darstellung und Schöp- 
fung. So darf er in keiner Gestaltung aufgehen, darf er mit keiner 
sich identisch fühlen ; sein Bewußtseinszentrum muß mit dem der 
Welt zusammenfallen, er muß jede einzelne Erscheinung vom Stand- 
punkte Gottes aus sehen. So vor allem seine eigene Individualität, 
seine eigene Philosophie. Zu dieser Vertiefung verhalf mir Rayküll 
nicht. Ich fing an, gleich so vielen, den Weltprozeß in einer be- 
stimmten individuellen Formel erschöpft zu wähnen, persönlich- 
zufällige Eigentümlichkeiten als notwendige Attribute des Wesens 
zu beurteilen. Ich fing an „Persönlichkeit" zu werden. Da er- 
kannte ich, wie weise Pythagoras und Plato daran getan, daß sie 
bis ins späte Mannesalter hinauf ihr Wanderleben fortsetzten : so- 
lange als irgendmöglich muß der unvermeidliche Kristallisations- 
prozeß aufgehalten werden ; solange es irgend geht, muß Proteus 
proteisch bleiben, denn nur Proteusnaturen sind berufen zum 
Priestertum der Metaphysik. So beschloß ich mich in die Welt 
zurückzubegeben. 
Inwiefern hilft nun die Welt zur Selbstverwirklichung, die ich 
meine? denn meistens heißt es doch, sie hindere sie. Sie hilft dem, 
der die entsprechende Naturanlage besitzt, indem sie seine Seele zu 
immer neuen Gestaltungen zwingt. Seit ich erwachsen bin, bedeuten 
Eindrücke als solche mir wohl nichts mehr; mein Geist gewinnt 
nicht mehr durch bloße Stoff aufnähme. Dafür reagiert er jetzt als 
Ganzes verschieden, je nach den Umständen, innerhalb derer er 
Sinn des Reisen s. 
sich befindet, und dies Verschiedenwerden erschließt mir Seiten der 
Wirklichkeit, zu denen mir früher jeder Zugang fehlte. Dem 
Unverwandelbaren kann die Welt, seit er erwachsen, allerdings 
nichts nützen. Je^mehr der sieht, erlebt, erfährt, desto oberfläch- 
licher wird er, weil er mit Organen, die nur auf einen Ausschnitt der 
Wirklichkeit zugeschnitten sind, nun vielen gerecht werden will und 
so notwendig falsche Eindrücke gewinnt; dem ist es besser, er 
bleibt in seiner Sphäre. Der Plastische hingegen, den jedes neue 
Milieu, dessen Eigenart entsprechend, verwandelt, kann nimmer ge- 
nug erleben, denn er geht aus jeder Metamorphose vertieft hervor. 
Indem er am eigenen Leib erfährt, wie bedingt alle Gestaltung im 
allgemeinen ist, was jede einzelne im besonderen auslöst, wie die 
eine mit der anderen zusammenhängt, sinkt sein Bewußtseinszentrum 
langsam in jenen Grund hinab, wo das Wesen als solches lebt 
Ist es nun dort verankert, dann läuft er nicht mehr Gefahr, irgend- 
eine Einzelerscheinung zu überschätzen : alles Besondere versteht er 
vom Wesen her. Das tut der Gott von vornherein, kraft seiner 
bloßen Natur. Der Mensch gelangt auf die Dauer dahin, indem er 
alle Kreise durchläuft. 
So trete ich denn eine Weltreise an. Europa fördert mich nicht 
mehr. Zu vertraut ist mir schon diese Welt, um meine Seele zu 
neuen Gestaltungen zu zwingen. Und dann ist sie an sich auch zu 
beschränkt. Ganz Europa ist wesentlich eines Geistes. Ich will in 
Breiten hinaus, woselbst mein Leben ganz anders werden muß, um 
zu bestehen, wo das Verständnis eine radikale Erneuerung der Be- 
griffsmittel verlangt, wo ich möglichst viel von dem vergessen muß, 
was ich ehedem wußte und war. Ich will das Klima der Tropen, 
die indische Bewußtseinslage, die chinesische Daseinsform und viele 
andere Momente, die ich gar nicht vorausberechnen kann, um- 
schichtig auf mich einwirken lassen und zusehen, was aus mir wird. 
Wenn ich alle Koordinaten bestimmt habe, müßte ich auch den 
Mittelpunkt besitzen. Dann müßte ich hinausgelangt sein über die 
Zufälligkeiten von Zeit und Raum. Wenn irgendetwas, so wird der 
Umweg um die Welt mich zu mir selber führen. 
Äußere und innere Freiheit. 
IM MITTELLÄNDISCHEN MEER. 
Jetzt wäre aller äußere Zusammenhang mit dem, was mich sonst 
bindet, abgeschnitten ; kein Brief mehr wird mich erreichen, keine 
Nachricht. Das Gefühl der gewonnenen Freiheit beseligt mich. 
Gewiß: so, wie die Mehrheit es versteht, dürften wenige unab- 
hängiger dastehn als ich*; ich habe keinen äußeren Beruf, keine 
Familie, um die ich mich zu kümmern hätte, keine zeitraubenden 
Verpflichtungen ; ich kann tun und lassen was ich will. In meinem 
Sinne frei wäre ich erst dann, wenn ich auch psychisch ungebunden 
wäre, wenn ich jeden Morgen erwachen könnte als ein quasi- 
modogenitus, — und dies gelingt mir noch immer nicht, ohne ge- 
legentliche Gewaltmaßregeln. Die geistigen Zusammenhänge, inner- 
halb welcher ein Mensch lebt, bedingen ihn nicht allein von innen 
her, sie sind ihm zugleich eine stets gegenwärtige Außenwelt; und 
diese Außenwelt kann dermaßen aufdringlich werden, daß das Be- 
wußtsein dort, wo es Innerstes vorzustellen wähnt, tatsächlich nur 
diese reflektiert und so über die Widerspiegelung äußerer Verhält- 
nisse überhaupt nicht hinausgelangt. Diese Lage verschlimmert sich 
noch im Fall der scheinbar Bevorzugten durch die Schöpfungen, 
die sie selber in die Welt setzen. Aus den Wirkungen, welche diese 
auslösen, bilden sich neue Netze von Beziehungen, für die sie sich 
natürlich interessieren, die sie oft angenehm beschäftigen — jedoch 
notwendig vom Eigentlichen ablenken. Viele geistig lebendige 
Menschen scheinen seltsamerweise in dem, was ich als Verhäng- 
nis empfinde, ein erstrebenswertes Ziel zu sehen. Gleichviel wie 
sie sich ihr Verhalten deuten mögen: sie sind es zufrieden, Ex- 
ponenten oder Faktoren gegebener Beziehungen zu sein. Sie treibt 
es nicht hinan, über das fertig Gestaltete hinaus, in jene wesen- 
haftere Welt, wo der Sinn als Primäres lebt und alle Tatsachen 
zu Symbolen umgeboren werden. So gefallen sie sich als Schul- 
häupter und geistige Führer, und in ihrem Individuum oder ihrem 
System (was dem Prinzip nach auf eines hinausläuft) verehren sie 
ein höchstes Gut. Ich hingegen sehe in der höchstdenkbaren Idee 
nur den abstrakten Repräsentanten, im bestmöglichen System nur 
das erstarrte Skelett, in aller Tatsächlichkeit bloß den Niederschlag 
und in aller Individualität nur einen Ausdruck oder ein Ausdrucks- 
8 ' Das Ich als Außenwelt. 
mittel dessen, was einzig unbedingten Wert besitzt. Deshalb kann 
ich mich dabei nicht bescheiden, Exponent oder Faktor zu sein, kann 
ich keinen Endzweck darin sehen, eine Idee zu vertreten oder fort- 
zuentwickeln. Im letzten gilt es ja nicht, neue Phänomene in die 
Welt zu setzen oder vorhandene zu erhalten und fortzuzüchten (so 
gut dies im Vorletzten sei) : es gilt im gegebenen Phänomen, ob er- 
funden oder vorgefunden, das zu erkennen oder darzustellen, was, 
selbst ungeformt, alle Form von innen her bedingt. Wie soll 
das dem gelingen, der ganz in der fertigen Gestaltung aufgegangen 
ist? — Nun, aufgegangen wäre ich in dieser wohl noch nie, auch in 
der eigenen nicht. Niemals, das ich wüßte, habe ich mich mit meinem 
Individuum oder mit meinem Werk im tiefsten identisch gefühlt; von 
Jugend auf habe ich mit dem Menschen von gestern fortschreitend 
gebrochen und jedes vollendete Werk augenblicklich abgestoßen, 
wie der Polypenstock die reifen Medusen abstößt. Aber so frei bin 
ich innerlich noch nicht, daß ich wie selbstverständlich von Äußer- 
lichkeiten absehen könnte. Immer wieder fängt sich mein Bewußt- 
sein in psychischen Bindungen, und es bedarf der Anstrengung, mich 
loszureißen, und immer reicht die Kraft dazu nicht hin. Und die 
erforderliche Anstrengung wird stetig größer, weil das Netz der Be- 
ziehungen täglich wächst, in das ich ideell hineingehöre, und immer 
dichter und verstrickter wird. Und manchmal überkommt mich so 
etwas wie Angst, ich möchte einmal doch eingefangen werden . . . 
Da wende ich denn, wenn es anders nicht mehr geht, ein mecha- 
nisches Mittel an : ich reise fort ; verlasse meine Welt, bis daß ich 
ihr so weit entfremdet bin, daß ich sie wieder übersehen und 
meistern kann. Ich weiß, gar viele, und nicht die schlechtesten, 
mißbilligen solchen Schritt ; man soll stark genug sein, predigen sie, 
um ohne Kunstgriffe bestehen zu können. Ja, man soll ; aber wenn 
man es nicht ist? Soll man verzichten auf ein erreichbares Ziel, weil 
man es auf dem kürzesten Wege nicht erreichen kann? Soll man 
das bischen Kraft, über das man verfügt, zur Erzwingung dessen 
verschwenden, was einem nicht Endzweck, sondern Mittel ist, und 
auf einem Umwege leicht gewonnen werden kann? Ich gestehe: in 
bezug auf meine Psyche bin ich aus tiefster Überzeugung Jesuit; 
oder genauer und weniger ärgerniserregend ausgedrückt: ich sehe 
ein Mißverständnis darin, seine psychischen Umstände irgendwie 
anders zu behandeln, mit mehr Respekt, Deferenz, als die der 
äußeren Natur. Sie ist doch Außenwelt, nicht Ich, diese unzuläng- 
Die Psyche als Natur; Wustenstimmung. 
liehe Anlage, und der Außenwelt schulde ich keine Ehrfurcht. Ja, 
anstatt verdrossen darüber zu sein, daß ich äußere Mittel anwenden 
muß, bin ich es im Gegenteil zufrieden, daß die Psyche einfältig 
genug ist, auf so simple Maßnahmen, wie mechanisches Ausschalten 
von Eindrücken u. dgl. so stark und so schnell zu reagieren. 
Frauen rechnen mit ihrer grundsätzlichen Verführbarkeit als mit 
einem Tatbestand, der sich von selbst versteht ; den Mann, der keine 
Liebe zu wecken weiß, beurteilen sie als ungeschickt, es sei denn daß 
ihm an Liebe nichts liege. Damit beweisen sie nicht allein bessere 
Menschenkenntnis, sondern auch tieferes Lebensverständnis, als die 
meisten Philosophen es besitzen. Die Psyche ist Natur, muß als 
solche behandelt und beurteilt werden ; von Hause aus sind ihre 
Prozesse auf keine geistigen Werte bezogen. Freilich läßt sich aus 
dieser Tatsache mehr denn eine Konsequenz für die Praxis ziehen: 
man braucht nicht den Bestimmungen zu entlaufen, man kann die 
höchsten geistigen Werte, wenn man will, einer beliebigen Natur- 
bestimmtheit einbilden. So ist die Lust in der Ehe, der Mord in der 
Richtergewalt geheiligt worden, und das war gut. Welche Alter- 
native man ergreift, hängt von den Zielen ab, die man sich vor- 
gesetzt hat. Mir nun verbieten die meinen bis auf weiteres, in 
irgendeiner Gestaltung zu verharren. Also darf ich auch keine ganz 
ernst nehmen. 
IM SUEZ-KANAL. 
Die Luft, die hier weht, regt meine Einbildungskraft gewaltsam 
an. . . . In der blaugrauen Mondnacht scheint die veilchen- 
farbene Wüste im Osten über alle Horizonte hinüberzu- 
greifen. Über mir, in schwindelerregender Höhe, weit höher als ich 
sie früher je gesehen, kreisen blinkend die Sterne, und hoch, hoch 
über diesen erst wölbt sich das Firmament. Unglaubwürdig weit 
erscheint der Raum, fast ins Unräumliche hinübergesteigert. Eine 
Art horror vacui überkommt mich. Mir ist, als schriee diese tote 
iWelt nach Leben ; krampfhaft drängt es mich, wie den Dschinn aus 
der Flasche, die ihn einschloß, aus meinem Körpergehäuse hinaus, 
zu wachsen, mich auszudehnen, bis daß die Leere ausgefüllt wäre. 
1 Der Ursprung der Wüstengötter. 
Und siehe ! Aus meinen Wehen heraus verdichtet sich, vor mir, über 
mir, zwischen Himmel und Erde, begrenzt und doch allerfüllend, 
eine ungeheure Gestalt. Die Gestalt Eines, dessen Leib einer Ge- 
witterwolke gleicht, dessen Wesen die Gespanntheit verhaltener Ge- 
walttätigkeit ist. Noch kürzlich war Er gar nicht da ; und doch, so 
wie Er da ist, erscheint Er als Mittelpunkt der Welt. Er, der 
allzupersönliche, als Seele dieses unpersönlichen Alls. Also bedeutet 
das große Schweigen nur das Anhalten des Atems vor dem Sturm, 
diese tiefe, feierliche Stille nur das Aussetzen jähen Verhängnisses. 
Was geschieht, wenn Der da oben in Zorn entbrennt? — In 
der Wüste erhebt sich der Samum, fegt der Sandsturm die Dünen 
fort. . . . 
Das ist der Gott, zu dem die Wüstenvölker beten. Es ist nicht 
Allah, nicht Jahveh ; es ist keiner der historischen Götter, die aus 
dunklen Anfängen, dank sich häufenden Erbschaften, vom Duodez- 
fürsten zum Himmelsgebieter aufgerückt sind. Aber er liegt ihnen 
allen zugrunde, lebt in allen fort, gleich wie der Ahn in seinen fernen 
Enkeln fortlebt. Und manchmal, von Zeit zu Zeit, immer wieder, 
tritt er in eigenster Gestalt hervor. Als das verschmachtende Israel 
sich in der Wüste gezüchtigt glaubte, war Er es, den es drohend 
über sich schaute; wenn der Beduine sich vor dem Samum verbirgt, 
dann ist Er es, vor dessen Grimm er bebt. 
Das ist der Wüstengott. Überall, wo der phantasiebegabte 
Mensch sich hineinlebt in das ihn umgebende All, bringt dieses 
Götter und Geister hervor. Je nach der Sonderart der Eltern werden 
besondere Wesen geboren ; bald überwiegt das mütterliche, bald das 
väterliche Blut. In Griechenland sind die Götter nach dem Vater ge- 
raten ; bei ihnen treten die Züge der Mutter nur undeutlich hervor ; 
fast scheint es, als hätte sie beliebig sein können. Im Falle der 
Wüstengottheiten hat die Mutter den Charakter bestimmt. Unaufhalt- 
sam, wie naturnotwendig strahlt die Sandfläche die Gebilde gewalt- 
tätiger Himmelsdespoten aus. Dieses tote Universum schreit nach 
Leben, dieses starre, ewige Gleichgewicht nach Willkür zur Er- 
gänzung, diese Stille ankt nach dem Sturm. Ich weiß nicht, ob 
die Stämme der Wüste viel Einbildungskraft besitzen: wie einfach, 
ja dürftig sind doch die Charaktere ihrer Divinitäten ! Allein der 
geringste Keim, von der Wüste dem Himmel eingepflanzt, entfaltet 
sich zu riesiger Gestalt, so daß ein noch so einfaches Gebild, der 
Pyramide gleich, durch seine Dimensionen Großheit gewinnt. 
Wie bestimmte Tiere a priori zu konstruieren sind. 1 1 
In diese Natur paßt das ungeheure Menschenwerk, der 
geradlinige Suez-Kanal, der die Wüste so grausam durchschneidet, 
gar wundersam hinein. Auch er ist ja ein Willkürprodukt; ein Ver- 
hängnis, von überlegener Macht der Wüste aufgedrungen. Hier hat 
der Mensch wahrhaftig im Sinne Gottes geschaffen. 
IM ROTEN MEER. 
Ein erklecklicher Teil meiner Gefährten sagt sich vor Hitze 
dem Verschmachten nahe. Welcher Mangel an Einbildungs- 
kraft! Im Norden könnte solche Glut wohl gefährlich 
werden, denn dort wäre sie unnatürlich ; unter sonst gleich- 
gebliebenen Umständen sprengt übermäßige Temperaturerhöhung 
das Gleichgewicht der Elemente, die ein gegebenes Klima aus- 
machen, und da der Körper in bezug auf seine Umwelt existiert, 
kann eine Zersetzung dieser den Organismus leicht mitzersetzen. 
Hier aber gehört die Hitze ganz notwendig in den Zusammenhang 
hinein; ihr absoluter Grad ist nicht zu hoch; der Körper von Ein- 
bildungskraft sollte sich ihrer daher freuen. Zunächst wenigstens ; 
mit der Zeit erlahmt wohl das Umstellungsvermögen. Aber am An- 
fang wirkt das Ungewohnte rein als Anregung, weshalb es mich nicht 
wundern würde, wenn ich die ersten Monate hindurch nur das 
Positive des Tropenklimas auffassen sollte. 
Wie schön stimmt doch alles hier zusammen: das Klima, die 
Farben, die Umrisse, die Tiere, das Meer ! Jedesmal, wo ich ein 
neues Wesen sichte, ist mir, als würde eine Ahnung von mir erfüllt: 
so, gerade so muß ein Tier in diesen Breiten aussehen. Imaginative 
Synthesen solcher Art schließen gewiß manches Hysteron-Proteron 
ein, aber mit dieser Feststellung ist die Frage doch nicht erledigt. Es 
besteht wirklich ein notwendiger Konnex zwischen sämtlichen Ele- 
menten einer gegebenen Welt, so daß sich aus der Kenntnis einiger 
derselben die anderen bis zu einem gewissen Grade voraussagen 
lassen. Des öfteren habe ich, beim Besuch zoologischer Gärten, aus 
dem bloßen Charakter eines unbekannten Tiers auf seine Heimat 
richtig geschlossen, sogar dort, wo alle Vorkenntnisse mir fehlten. 
Solche Kombinationen gelingen unschwer dort, wo man vom all- 
12 Afrika. 
gemeinen Charakter des Landes und der Eigengesetzlichkeit des 
Typus, dem das betrachtete Wesen angehört, eine genügend deut- 
liche Vorstellung hat. Auf diese Weise ist der chinesiche Hirsch 
z. B. mit Leichtigkeit als solcher zu bestimmen. Ja mehr noch : 
ich halte es für möglich im Prinzip, dieses besondere Tier a priori 
zu konstruieren, wenn man nur „den Hirsch" genügend kennt und 
mit dem chinesischen Menschen im Rahmen seiner Heimat ver- 
traut ist. 
Aber heiß ist es doch ; mir wird hundstagsmäßig zu Mut. Lang- 
sam zieht sich mein Bewußtsein aus den Gliedern zurück, die am 
Stoffwechsel ihre reichliche Beschäftigung finden und verharrt in 
serener Contemplation der erythräischen Küste. 
ADEN. 
Von allen Erdteilen besitzt der schwarze die gewaltigste 
Biidungskraft : was Afrika entstammt, bleibt dem Geiste 
nach ewig afrikanisch. Noch im Museum hebt der 
Gorilla sich vom heimischen Grunde ab ; Zebra und Strauß 
zaubern dörrende Steppenluft in die lieblichste Frühlingslandschaft 
hinein ; der afrikanische Mensch aber hat das Land, in das er ver- 
pflanzt ward, mit der Psyche seiner Heimat so sehr durchtränkt, 
daß der Weiße dort heute Negerweisen singt, um seinem Herzen 
Luft zu machen. — Um das zu wissen, braucht man nicht in Afrika 
gewesen zu sein. Wohl aber hätte ich schwerlich ermessen, wenn 
ich in Aden nicht an Land gestiegen wäre, bis zu welchem 
Grade „Afrika" wirklich ist, diese scheinbare Abstraktion. Hier 
bilden Felslandschaft und Mensch, Sandflächen, Strauchhütten und 
Geier, Dromedare und die Lasten, die sie tragen, einen einzigen 
schmetternden Durakkord. Der Akkord ist durchaus das Ursprüng- 
liche ; aber jeder Teilton klingt andrerseits so rein und schwingt so 
sicher im Zusammenklang, daß man in jedem, bei dem das Ohr ge- 
rade verweilt, den Grundton zu vernehmen glaubt. Dieses Zu- 
sammenstimmen ist beinahe exzessiv ; so groß, daß den Elementen 
überhaupt kein Spielraum gewährt erscheint; hier gibt es keine indi- 
viduelle Eigenart. Dafür tritt der überindividuelle Sinn so unmittel- 
Natur und Kunst; vom Sinn der Schönheit. 13 
bar und so stark in die Erscheinung, daß die Gleichheit alles Gleich- 
artigen nicht als Stereotypie, sondern als höchste Typik wirkt, wie 
die Typlk in der griechischen Kunst, und alle Wiederholung als 
rhythmisch. 
Herrlich sehen die nackten Neger aus. Hier hätte Bildhauerei, 
allen Ernstes, keinen Sinn. Bei uns Europäern ist der Körper zu- 
meist eine faule, träge Masse ; dem Künstler liegt - es ob, aus 
dieser Materie Ausdruckswerte herauszuhauen. Deshalb bedeutet 
dieser uns soviel. In Afrika lösen die Naturformen in mir wenigstens 
eine größere innere Steigerung aus, als die meisten Kunstwerke dies 
vermögen. Nur ganz wenige Bildhauer hat es gegeben, die besser 
gearbeitet hätten, als die Natur, die in höherem Maße als sie die 
Möglichkeiten der Menschengestalt verwirklicht hätten. Die meisten 
sind hinter ihrem Vorbild, gerade was das eigentlich Künstlerische, 
die Suggestionskraft der Gestaltung betrifft, weit, weit zurückge- 
blieben. Nur die höchste Kunst hat die Bedeutung, die unsere 
Ästheten aller Kunst zuerkannt wissen wollen. Soll ichs aussprechen? 
Ihre ungeheure Wertschätzung verdanken die Künstler einer Kon- 
junktur, die trotzdem sie vielleicht ewig fortbestehen wird, doch 
nicht weniger zufällig bleibt. Die Bildhauer dem Umstand, daß 
unser Leib dank jahrhundertelangem Gekleidetgehen den ihm inne- 
wohnenden Ausdruckswert nicht mehr verwirklichen kann, weshalb 
wir es als Offenbarung empfinden, wenn ihn der Künstler an seinem 
Abbild realisiert; die Dichter dem, daß die meisten Menschen von 
sich aus fast nichts empfinden ; ihnen muß ein fremdes Gefühl ge- 
zeigt werden, auf daß ein ähnliches in ihrer Seele anklinge. 
Alle Menschen, die ich hier sehe, sind schön ; die Neger vor 
allem als Gestalten, die Araber, die wieder und wieder auf edlem 
Roß die sandigen Gassen entlangsprengen, als Charakterköpfe. 
Diese Menschen sind ebenso schön wie Tiere ; sie sind als Körper 
ebenso ausdrucksvoll. Das ist, weil sie alle typisiert sind. Schönheit 
ist nie ein Ausdruck des Individuellen: ihr Begriff umschließt die 
Vollendung der Formtendenzen, deren Ausdruck die Gattung um- 
grenzen ; in ihr vollendet sich also etwas, das mehr ist als das 
Individuum. Hierauf beruht ihr zwingender, allgemeingültiger Cha- 
rakter vom Standpunkt aller, in welchen gleiche Formtendenzen 
lebendig sind, denn jede begrenzte Möglichkeit ist nur einer äußer- 
sten Verwirklichung fähig. Für den Menschenleib ist kein höherer 
Grad harmonisch allseitiger Ausbildung denkbar, als die Plastik der 
1 4 Schönheit für das Individuum nie symbolisch. 
Griechen sie zur Darstellung bringt, also sind deren Gestaltungen 
absolut schön. Hier, und hier allein, fußt der Objektivitätscharakter 
ästhetischer Urteile : ob diese Naturformen, deren künstlerische Ab- 
bilder oder bloße Arabesken betreffen — in der ganzen Natur 
herrscht eine gleiche Mechanik und eine gleiche Stereometrie, so 
daß überall Verhältnisse denkbar sind, die unter Voraussetzung der 
Schöpfung, wie sie ist, ein objektives Optimum verkörpern. Bei 
diesen Urteilen kommt Subjektivität gar nicht in Frage. Im Falle 
nationaler Schönheitstypen (gleichwie im Fall spezifischer Kunst- 
stile), ist die Objektivität auf ein engeres Gebiet beschränkt; 
sie gilt nur für die, welche gewisse besondere Voraussetzungen zu- 
gestehen, über deren Wert sich vielleicht streiten läßt. Sind diese 
aber einmal zugestanden, dann spielt der Geschmack auch hier 
keine Rolle mehr. Die Neger von Aden sind absolut schön, weil 
sich der Rassetypus in ihnen vollendet. 
Aus der gegebenen Bestimmung geht eindeutig hervor, daß 
Schönheit im Sinne körperlicher Vollendung für das Individuum niemals 
symbolisch ist; hinter keiner der prachtvollen Araberstirnen steckt 
ein nur annähernd gleichwertiger Intellekt. Nicht umsonst war 
Sokrates der Griechen häßlichster, nicht ohne Grund überrascht uns 
Geist bei einer vollendet schönen Frau: körperliche Schönheit und 
individuelle Bedeutung gehören nicht allein verschiedenen Dimen- 
sionen an, sie widerstreiten sich insofern, als überall in der Natur, 
wo die Gattung dominiert, das Individuum entsprechend zu kurz 
kommt. Schönheit im eigentlichen Sinn ist immer überindividuelle, 
d. h. typische Schönheit, und der Typus wird von starken Indivi- 
dualitäten meist zersprengt. Am deutlichsten tritt dies bei unfertigen 
Völkern zutage, den Deutschen z. B. und den Russen, als wo der 
bedeutende Einzelne gewöhnlich vom physischen Rassenideal mehr 
abweicht als dies vom Durchschnitt gilt; am undeutlichsten bei 
auskristallisierten, wie den Briten. Daß letzteres jedoch meine 
Grundbestimmung nicht Lügen straft, erhellt daraus, daß der Un- 
gewöhnliche innerhalb fertiger Rassen fast ausnahmslos weniger un- 
gewöhnlich ist, als innerhalb unfertiger. Das heutige England wird 
keinen Shakespeare mehr hervorbringen. 
Warum die Anschauung großer Natur erhebt. 15 
IM INDISCHEN OZEAN. 
Wie sehr ich, trotz allem, doch Nordländer bin ! Dieses 
Meer ist weiter und tiefer, als alle, die ich bisher durch- 
quert, und doch verfehlt es die Wirkung, die der Ozean 
sonst auf mich ausübt. Die milden, süßlichen Farben lassen das 
Bewußtsein von Erhabenheit in mir nicht wach werden. Wenn ich 
auf die rosiguntertönte Fläche hinausblicke, kann ich immer nur 
denken : dies ist die Weide der Medusen, der Spielplatz der Delphine. 
Das rührt daher, daß ich Nordländer bin. Dem räumlich Großen 
an sich kommt keine Großheit zu: es muß eine entsprechende 
Steigerung des Selbstgefühls auslösen, auf daß es Großes bedeute ; 
und ob es solche Steigerung bewirkt, hängt von persönlichen Ver- 
hältnissen ab. Prinzipiell gesprochen, wirken großartige Naturbilder, 
zumal das Hochgebirge, die Wüste und das Meer (ich nenne den 
Sternenhimmel nicht, weil sein Anblick zu alltäglich ist und daher 
so gut wie keine Wirkung im gemeinten Sinne ausübt), wohl auf 
jeden Menschen erhebend. Leichter als sonst dämmert ihm in solcher 
Umgebung die Ahnung auf, daß die Grenzen der vergänglichen Per- 
son sein Wesen nicht notwendig abschließen, daß es gewissermaßen 
von ihm abhängt, ob er unendlich oder endlich ist. Die ungeheuren 
Kräfte, die er außer sich am Werke sieht und doch irgendwie als 
ihm zugehörig betrachten muß, sprengen — wie es von innen her 
die Leidenschaft tut — den Panzer der Vorurteile ; unwillkürlich er- 
weitert sich sein Ich ; er erkennt seine Individualität als gering- 
fügigen Teil seiner selbst, fühlt sich größer, großmütiger und edler 
— oder auch unwichtiger, kleiner, was hier das gleiche bedeutet. 
Allein der Grad dieser typischen Wirkung ist in jedem Einzel- 
fall von besonderen Umständen abhängig. Ob der Inder vor den 
glimmernden Eisbergen nördlicher Meere wohl von den Göttern 
träumen würde, die der Anblick der Himalayas wie selbstverständlich 
in seiner Seele entstehen läßt? — Vermutlich fröre er dazu zu sehr; 
er würde gottlos werden vor Kälteempfinden. Ich aber suche ver- 
gebens im indischen Ozean die Stimmung wiederzufinden, die der 
Atlantic und die Nordsee so oft in mir wachgerufen haben. Das 
lastend Schwüle, das Milde, das Süße vermag ich als Elemente des 
Erhabenen nicht zu denken : es wirkt zu einschläfernd auf mein 
1 6 Symbolische Bedeutung der Kleidung. 
Nervensystem. Als ob ich ein Weib wäre, interessiere ich mich auf- 
richtig nur für das Kleine inmitten des Großen ; so heute vorzüglich 
für die Kurven, welche die Fische im schwirrenden Flug zwischen 
Welle und Welle beschreiben. 
Ja, ich bin Nordländer. . . . Wieder einmal steht Proteus an 
seiner Grenzender indische Ozean kann ihm nicht die Nordsee sein. 
So leicht es ist, seinen psychophysischen Zusammenhang umzuzen- 
trieren, so schwer fällt es, dessen Elemente umzuwandeln ; das ge- 
lingt nur durch langsames Wachstum in der Zeit. — Bin ich nicht 
wie ein Sträfling, dem das Ausbrechen Mal auf Mal mißglückt? 
Immer wieder wähne ich, meiner Person entschlüpft zu sein und 
immer wieder fängt sie mich schließlich ein. Ich muß anerkennen, 
ob ichs will oder nicht, daß es bestimmte Gegebenheiten in mir 
gibt, die meiner Bestimmung nicht unterworfen sind; daß ich, so 
frei ich wesentlich sei, als Erscheinung nur ein Element bin im 
Gefüge der Welt. 
Kleider sollen ohne Bedeutung sein? — Bei Geschöpfen, die 
es gewohnt sind, gekleidet zu gehen, die überdies ihr 
Bild im Bewußtsein widerspiegeln, ist das Gewand nicht un- 
wesentlicher als der Leib. Die bedeutenden Menschen dürften auch 
selten sein (so häufig die Esel sind), die ihren äußeren Stil nicht 
irgendeinmal gefunden und dann treu an ihm festgehalten hätten. 
Die Gottesgabe der Eitelkeit hat viel Gutes zur Folge: wer 
seine Tracht mit seiner Natur in Einklang gebracht hat, genügt 
damit nicht allein seinem persönlichen ästhetischen Bedürfnis, be- 
weist nicht nur seinen Mitmenschen Rücksicht, er hat sich recht 
eigentlich ein Ausdrucksmittel geschaffen. Weshalb zieht sich der 
feinfühlige Mensch zum geselligen Beisammensein um? weil er mit 
dem Gewand den Menschen wechselt. Im gleichen Sinn macht 
erst der gefundene äußere Stil den inneren Menschen ganz frei. 
Keiner ist wirklich ohne Eitelkeit, noch soll er es sein ; jeder sieht 
sich selbst im Spiegel. Daher tritt er viel unbefangener auf, 
wenn seine Erscheinung seinem Wesen entspricht. Hiermit ist 
der Mode ihre Berechtigung nicht aberkannt, im Gegenteil: dem 
Durchschnitte wird immer sie die bestmöglichen Ausdrucksmittel 
verleihen, weil diesem das hervorragend Besondere fehlt, und 
die allgemeinen Umrisse eines Menschenschlages von der Mode 
Verschiedene Auffassung der Form in Ost und West. 17' 
meist vollkommen verstanden werden ; und gleiches gilt vom be- 
deutenden Einzelnen, dessen Größe in der Vollendung des Typus 
liegt, einem Castiglione, einem Edward VII. Wenn jedoch Künstler 
mit abnormer Schädelbildung keine Mähnen trügen, so würden sie 
stillos sein und eben damit einen Teil ihrer Ausdrucksfähigkeit ein- 
büßen. — Wie komme ich auf diese Betrachtung? An Bord ist heute 
Maskerade, der ich beiwohnen muß, ob ich mag oder nicht. 
Verkleidungen sind doch sehr lehrreich. Nicht zwar beim Komö- 
dianten, bei dem Erscheinung und Wesen von vornherein zwei Wel- 
len angehören, sondern gerade bei dem, der kein oder wenig Talent 
zum Schauspieler besitzt. Hier bleiben Schein und Wesen trotz 
aller Absicht in Gleichung gesetzt, und das führt zu wahren Offen- 
barungen. Ich will nicht behaupten daß der, dem die Tracht des 
XVIII. Jahrhunderts am besten steht, damit beweist, daß dessen 
Geist ihn beseele, wohl aber ist es wahr, daß Verkleidung, (die 
ja nichts anderes als Kleidung mit bestimmter Absicht ist), dazu 
verhilft, Wesenszüge zum Ausdruck zu bringen, die normalerweise 
im Hintergrund verbleiben. Auf diese Weise kann sie Steigerung 
sowohl als Herabminderung, sie kann geradezu Selbstverwirk- 
lichung bedingen. Herabminderung ist der häufigste Fall, weil 
der natürliche Ausdruck den meisten am besten entspricht; hier 
offenbart die Maskierung, was der Mensch zwar ist, jedoch nicht 
wesentlich ist, sie verrückt das Zentrum seines Seins. Steigerung 
bedingt sie bei denen, welchen ihr Beruf, ihr Milieu und dessen Sug- 
gestionen nur eine teilweise Selbstverwirklichung gestatten; diese 
sind in entsprechender Verkleidung mehr oder in besserem Sinne sie 
selbst, als sonst, in ihrem „wirklichen" Dasein. Der interessanteste 
Fall ist das Extrem des Zuletztbetrachteten — der Fall, wo der 
Mensch im Leben gar nicht er selbst ist und erst auf der Mummen- 
schanz seine Geburt ins Dasein erlebt. Zweifelsohne passen so 
manche weder in ihre Zeit, noch in ihren Beruf, noch in die Welt 
hinein, der sie entsprossen sind; deren Wirklichkeit ist metaphysisch 
betrachtet, Schein. Solche werden mitunter dank einer Maske echt. 
Vor mir bewegen sich zwei Weltmänner, die das Gewand von 
Apachen tragen : fast möchte ich schwören darauf, daß nicht ihr 
heutiges Spiel, sondern ihr gewohntes Leben vor Gott die Komödie 
bedeutet. 
Hier muß ich an die in James Moriers unsterblichem Hadji 
Baba of Ispahan so unvergleichlich dargestellte Versatilität des 
Keyserling, Reibetagebuch. 2 
18 Gleichgültigkeit der Tatsachen; man kann nicht alles. 
Orientalen denken : der heute Großvezier, morgen Barbier und über- 
morgen Asket ist und sich in jeder Rolle vollkommen heimisch fühlt. 
Die Unbeständigkeit aller Lebenslagen im Orient legt es dort nahe, 
keine Gestaltung ganz ernst zu nehmen. Diesem Umstände tragen 
dann die Werturteile Rechnung: der Mann wird immer nur für das 
genommen, was er vorstellt, wementsprechend das Benehmen eine 
Wichtigkeit gewinnt, die der moderne Okzidentale kaum begreift. 
Wie sollte es anders sein? Wo die Erscheinung nicht wesentlich 
ernst genommen wird, muß der Schein hypostasiert werden. Wir 
Westländer glauben instinktiv an die Gottgewolltheit der äußeren 
Lebensstellung, weswegen wir einerseits viel weniger auf Form 
geben als der Osten, andererseits aber dort, wo sie uns notwendig 
scheinen, den Formen metaphysische Wirklichkeit zusprechen. Der 
Ritter muß sich in jeder Lage als Ritter gebärden usw. — Allein, 
was uns in Amerika möglich dünkt, beweist, daß auch wir es im Grunde 
besser wissen: über den Ozean verpflanzen wir unsere Postulate 
nicht. Drüben darf auch der Ritter, dem es daheim nicht glücken 
wollte, als Kellner sein Brot verdienen ; dort nimmt auch er ohne 
Wimpernzucken, douceurs und Trinkgelder an 
Ein Forscher, den sein Beruf durch alle Provinzen Indiens 
führt und ein hervorragender Kenner von Land und 'Leuten 
zu sein scheint, schlägt mir vor, mich ihm anzuschließen: 
so würde ich tieferen Einblick in das Inderleben gewinnen. Ich 
muß lächeln über das seltsame Verhältnis, daß eine bonne 
fortune wie diese mich, im Falle ich sie ausnützte, um den ganzen 
Zweck meiner Reise brächte. Was gehen mich die Tatsachen 
als solche an? Und wenn sie mich angingen, würde ich des- 
halb reisen? Überall sind Berufene schon gewesen, ihre Fest- 
stellungen liegen jedermann vor; die Beobachtungen, die ich persön- 
lich anstellen könnte, hätten sicher weniger Wert, als diejenigen 
anderer, besser hierzu veranlagter. Das selbst zu tun, was andere 
besser täten, ist Kräfteverschwendung und Zeitverlust. Junge, be- 
gabte Leute verkünden gern: der Mensch muß alles können. Er 
kann aber nun einmal nicht alles und was er wirklich kann, das 
leidet unter der Zerstreuung der Aufmerksamkeit. Es ist merk- 
würdig, daß von allen Menschentypen die politischen allein, die doch 
sonst die am wenigsten metaphysisch-besonnenen sind, zwischen 
Zwischen Ich und Gehirn ist zu scheiden; Beschränkung notwendig. 19 
sich und dem verwandten Gehirn zu scheiden wissen; ihnen allein 
gilt es gleich, wer eine Arbeit praktisch leistet, wenn sie nur gut 
geleistet wird. Der Philosoph aber schämt sich meist der bloßen 
Möglichkeit, daß sein Gehirn nicht allvermögend sein könnte, und statt 
durch richtige Selbsteinschätzung seine Leistung aufs Äußerste zu 
steigern, indem er das selbst vornimmt, wozu er Organe besitzt, zur 
Bewältigung ihm weniger liegender Probleme jedoch geeignetere 
Gehirne verwendet, verdirbt er sein Werk durch die Vorspiegelung, 
er sei der liebe Herrgott in Person. Diese Schutzgebärde der Eitel- 
keit kann ich bei kleinen Leuten gut verstehen ; aber der Philosoph 
ist Organisator im ganz großen; er könnte es sich leisten, innerlich 
freier zu sein. Nun, ich selbst bin es — so weit ich's bin — auch erst 
seit gestern. Was habe ich nicht alles unternommen in den ersten 
Zeiten des Flüggeseins! Die Jahre machen einen weiser. Heute 
ziehe ich die Augen anderer meinen eigenen vor, wenn es gilt exakt 
zu beobachten ; wo ein Experiment durch die Impressionabilität 
des Experimentators an Beweiskraft verlieren könnte, ersetze ich 
mein Nervensystem durch ein robusteres ; ist eine logische Kette 
zu konstruieren, um eine erkannte Prämisse mit einem erahnten 
Ergebnis zu verbinden, so überlasse ich das, wo immer es geht, 
besseren Logikern, als ich einer bin und alle Intuitionen, die Spezial- 
gebiete betreffen, gebe ich, sofern sie irgend beachtenswert er- 
scheinen, als Anregungen den Herren vom Fache weiter. Ich für 
meine Person beschränke mich darauf, mich in den Sinn der Dinge 
zu versenken. Hierbei nun wirkt der Andrang zu vieler Tatsachen 
nicht fördernd, sondern hinderlich. Die Grundtöne einer Welt sind 
dem, der sie überhaupt heraushören kann, aus wenigen Akkorden 
vernehmlich ; zu viel Musik verwirrt das Ohr. 
Die Notwendigkeit der Beschränkung wird, was das Objekt be- 
trifft, wohl von allen theoretisch anerkannt. Die wenigsten aber 
scheinen zu wissen, daß auch das Werkzeug, das Ich, der Beschrän- 
kung bedarf, vor allem bezüglich der Einflüsse, denen es ausge- 
setzt wird ; daher verschreit man unsereinen so oft als Sonderling, 
Egoisten und Eigenbrödler. Mir z. B. wird es an Bord als Hochmut 
ausgelegt, daß ich mich von meinen Mitreisenden soweit als tun- 
lich fernhalte. Die wahre Ursache ist die, daß ich mein spezifisches 
Geistesvermögen nur in vollendeter Abgeschiedenheit ausüben kann. 
Wenn ich leisten soll, wozu ich da bin, muß mein Nervensystem 
reingestimmt, die Aufmerksamkeit unbefangen, mein Gemüt seren„ 
2* 
20 Vollendung in Dasein und Werk; keiner lebt sich selbst. 
sein ; und diese Bedingungen sind ihrerseits an Vorbedingungen ge- 
knüpft. Es mag wohl sein, daß solche Rücksichtnahmen den 
Menschenwert auf die Dauer beeinträchtigen, aber dieser Einwand 
bedeutet nichts : der Geistesarbeiter muß soweit selbstlos sein, daß er 
die mögliche Schädigung auf sich nimmt ; er muß — um das Verhältnis 
durch eine mythisch-extreme Formulierung desto eindringlicher dar- 
zustellen — seine ewige Seligkeit zu verscherzen bereit sein, sofern 
er dank unheiligem Leben zu tieferen Erkenntnissen gelangt ; er muß 
im selben Sinn ausschließlich seiner Aufgabe leben, wie eine gute 
Mutter ihrem Kind. Leider ist es ja nicht wahr, daß alle Voll- 
kommenheiten in einer Richtung belegen seien ; die Vollendung 
eines Werks erfordert andere Bedingungen als die persönlichen Da- 
seins. Wo es nun zu wählen gilt zwischen einer mittelmäßigen 
Selbstverwirklichung im Leben und einer bedeutenden im Werk, 
ist diese jener unbedingt vorzuziehen. Eine tiefe Erkenntnis, von 
einem unvollkommenen Menschen gefunden und ausgedrückt, kann 
der ganzen Menschheit zum Heil werden. Die menschliche Voll- 
endung in dem Sinn über die anderen zu stellen, wie dies gemeinig- 
lich geschieht, ist ein Beweis primitivsten Egoismus nicht allein, 
sondern auch grundsätzlichen Mißverstehens. Wer lebt denn buch- 
stäblich „sich selbst", wer kann es tun? Keiner. Zwischen dem, 
der seiner persönlichen Vollendung lebt, seinem Werk, seinem Mit- 
menschen oder seinem Kinde, besteht vor Gott kein Unterschied. 
Jeder lebt einem Überindividuellen. Denn ja auch das, was wahr- 
scheinlich den Tod überdauert, jenes Ich, dessen Unsterblichkeit 
der Christ postuliert, ist nicht die Person: es ist die Frucht, die 
sie nur austrägt und gebiert. 
Ich habe nachgezählt: unter den Reisenden sind wirklich dreiund- 
zwanzig verschiedene Nationalitäten nachweisbar. Man sollte 
also meinen, daß die Besatzung einen äußerst uneinheitlichen 
Eindruck machen würde. Das Gegenteil davon ist' der Fall: die 
Leute unterscheiden sich kaum von einander, wenn ich vom Äußer- 
lichen absehe und der innerstseelischen Welt, und mich an den 
greifbaren Charakter halte. 
Das ist der Erfolg eines bloß vierzehntägigen Zusammenseins 
im nicht einmal engen Räume eines Ozeandampfers. Wird zwischen 
Macht des Milieus; Wert und Unwert der Weltlichkeit. 21 
Noah, Löwe und Schaf gegen Ende der Sintflut überhaupt ein 
Unterschied gewesen sein? — Jeder ist als Erscheinung immer nur 
so viel, als er zur Geltung bringen kann, und wird mehr oder 
weniger, so oder anders je nach den Zügen, die von seiner Um- 
gebung aufgefaßt werden: dies erklärt die ungeheure Macht des 
Milieus. Das von Paris z. B. steigert jeden Geist, dem es einiger- 
maßen congenial ist. Man versteht auch, was einem selbst nie 
eingefallen wäre und das Verständnis löst neue Einfälle aus: in 
Paris, dessen gebildete Kreise die geistig behendesten der Welt 
sind, findet diese Fortentwickelung mit solcher Geschwindigkeit 
statt, daß das Denken überhaupt nicht zum Stillstand gelangt und 
von einem Standpunkt oft mit einem Ruck zu einem so viel 
höheren hinaufgetrieben wird, wie es ihn in anderer Umgebung 
nie erklommen hätte. Deswegen sind Geister, die in Haupt- 
städten ausgebildet wurden — wie dem alten Athen, Florenz, Ale- 
xandrien, Rom, Paris — provinziellen immer überlegen. — Ge- 
nau im gleichen Verstand bewirkt langwieriges Zusammengepfercht- 
sein auf einem Dampfer eine solche Banalisierung, daß zuletzt der 
Unterschied zwischen Mensch und Tier verschwimmt. In dieser 
Welt kommen nur die allerbanalsten Züge (eben die, welche der 
wertvollere Mensch aus Taktgefühl bei sich und anderen ignoriert) 
zur Geltung und deren Spiegelbild, das ihm die nächste Umgebung 
dauernd vorhält, macht sie ihm schließlich dermaßen bewußt, daß 
er so wird, wie seine Umgebung ihn auffaßt. — Das Milieu 
eines Ozeandampfers bezeichnet die beste mir bekannte Karrikatur 
der „Welt", dieses mächtigen Verdürftigungsmittels. Ich bin 
alles eher als weltfeindlich gesinnt; jeder, wer es auch sei, muß 
mit seinen Mitmenschen Fühlung behalten, wenn er innerlich 
nicht verkrüppeln soll, und ein nicht zu verachtender Weg hiezu ist 
der Verkehr in der vornehmen Gesellschaft. Hier zwingt einen die 
Konvention, auf den zu achten, über den man sonst wahrscheinlich 
hinwegsähe, hier herrscht das durchschnittlich - d. h. allgemein- 
Menschliche vor, und äußert sich zugleich in einer Form, die es an- 
nehmbar erscheinen läßt. Gerade der innerlich Einsame, der Philo- 
soph, muß Weltmann sein, wenn er verderblichen Rückbildungen 
vorbeugen will. Aber es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen 
einem Besuchen der Welt und dem Aufgehen in derselben. Dieses 
wirkt immer und auf jeden verdürftigend. Auf jeden, bis auf den, 
dessen Typus ich den repräsentativen heißen möchte. Es gibt 
22 Das XVIII. Jahrhundert; Männlichkeit und Weiblichkeit. 
Männer, es gibt vor allem Frauen, die ihr Leben auf die sinnloseste 
Weise vertun und daran nicht verkümmern, sondern wachsen. Seine 
Vollendung hat dieser Typus im 18. Jahrhundert gefunden. Was 
läßt sich Leereres erdenken als das Leben der großen Damen von 
dazumal? Keine echte Liebe kannten sie, kein ernstes Interesse, 
ihr Dasein ging ganz in Gerede und Getändel auf. Und doch waren 
viele unter ihnen tief und ihre Tiefe fand an ihrer Existenz kein 
Hemmnis sondern ein Ausdrucksmittel: sie beseelte ihren esprit, 
ihre Lebenskunst. Daher kommt es, daß die Frivolität jener Zeit 
mitunter einen Eindruck von Ernst und Tiefe hervorbringt, der einen 
befremdet und träumen macht. . . . 
Das Milieu .... da ich gerade dabei bin, möchte ich doch einen 
Gedankengang niederschreiben, der von Zeit zu Zeit, so kurios er 
ist, immer wieder in meinem Bewußtsein auftaucht. Je nach der 
Umwelt, in der man sich befindet, gewinnen andere Züge die Ober- 
hand: sollte das nicht auch im Fall der inneren Umwelt wahr 
sein, im Falle dessen, was die meisten mit „sich" identifizieren? 
Ich kann in den Charakterdifferenzen zwischen Kind, Mann und 
Greis nur eine Reflexwirkung des Milieus erblicken. Ein tief- 
bewußtes Kind nimmt die Weisheit des Greises vorweg, und der 
innerlich freie Greis kann jung bleiben bis zur Stunde seines 
Todes: das deute ich mir manchmal dahin, daß sich je nach der 
physischen Konjunktur andere Eigenschaften manifestieren. Die 
Nerven des Greises können nicht kindlich reagieren und umgekehrt. 
Ein gleiches gilt sicher wohl auch von Mann und Weib, wenn ich 
deren Unterschiede vom metaphysischen Selbst her betrachte. Die 
Tatsachen der Vererbung legen die Deutung nahe, daß in jedem 
Individuum sämtliche Eigenschaften der Voreltern latent enthalten 
sind; welche sich jeweilig ausprägen, hängt von den Umständen ab. 
Tritt sonach ein Individuum — an sich selbst der Träger sämt- 
licher Vererbungsfaktoren — als Weib in die Erscheinung, so 
können sich die männlichen Züge nicht äußern und umgekehrt. Von 
hier aus sieht man, wie töricht es ist, vom Mann weibliche Tugen- 
den zu verlangen, und dem Weibe seine Unzulänglichkeit auf der 
männlichen Linie zum Vorwurf zu machen. Möglicherweise hätte 
die Entität, die als Mann den Cesare Borgia ergab, als Weib in 
einer Krankenschwester ihren entsprechenden Ausdruck gefunden 
Warum soll ich nicht noch weiteren Möglichkeiten nachsinnen? — 
In dieser feuchten Hitze entspannen sich alle Hemmungen ; ich be- 
Träumerei über das Himmelreich. 23 
ginne sehr gleichgültig zu werden gegenüber der Erkenntniskritik; 
ich spüre Lust, zu verfließen im Reich unbegrenzter Möglichkeit. — 
Gesetzt, es gäbe so etwas wie ein Himmelreich, wie ein seliges Leben 
nach dem Tode. Diese Existenzform, wie sie von der Mythologie 
aller Völker einsinnig dargestellt wird, scheint schlechterdings un- 
denkbar, solange man voraussetzt, daß die Menschen nach dem 1 Tode 
das bleiben, was sie vorher waren. Aber könnte es nicht sein, daß 
unter „Himmel" ein inneres Milieu verstanden wird, in dem das 
Negative, das Schlechte, das Verderbliche im selben Sinn nicht zur 
Äußerung gelangt, wie die weiblichen Potenzen im männlichen Or- 
ganismus? Dagegen läßt sich a priori nichts sagen. Nur kann das 
Leben im Himmel dann freilich kein Schlußstadium bedeuten. . . . 
Wieder einmal durchfährt das Schiff eine Heerde rosenroter 
Quallen, deren Schirme nun im aufgeregten Wasser direktionslos 
hin- und herklappen. Wie wäre es, wenn sich mein Selbst durch 
einen Medusenkörper auszudrücken hätte? Das meiste dessen, was 
eine Menschenseele definiert, fiele dann fort ; nur ein geringer 
Bruchteil meines Wesens träte in die Erscheinung. Aber dieser 
Bruchteil wäre vermutlich einer, der im Menschen keine Äußerungs- 
möglichkeit findet. 
II. 
CEYLON 
Leben in den Tropen ist Vegetation. 27 
COLOMBO. 
Wie wird mir auf Lanka, der grünen Insel? — Stündlich 
spüre ich mich anders werden. Ich fühle : in dieser Treib- 
hausluft frommt es nicht zu arbeiten, zu wollen, zu stre- 
ben ; nur was von selbst geschieht, gelingt. Und es geschieht un- 
glaublich viel von selbst, mehr als ich je für möglich gehalten hätte. 
Eigentlich alles in mir geschieht von selbst. Unaufhaltsam flaut 
mein Wollen ab. Ich verwandele mich zu einem sanften, weichen, 
genießenden Wesen, ohne Ehrgeiz und ohne Schaffensdrang. 
Mein ganzes Leben wird zum Vegetationsprozeß. Aber freilich : 
dieser Begriff erscheint nur gegenständlich, wenn er aus der 
Tropenflora abgezogen wird, nicht aus derjenigen nördlicher Breiten. 
Dort bedeutet Vegetieren ein Minimum an Leben — ein Dasein, das 
gerade nur sich selbst genügt ; hier hingegen ein Maximum ; diese 
Gewächse, die über Nacht von der Erde zum Himmel aufsprießen, 
sind an Lebenskraft den Göttern gleich. Auch auf Ceylon be- 
deutet Vegetieren ein Dasein, das ohne Anstrengung verläuft, aber 
der Anstrengung bedarf es eben nicht; es gelingt alles auch ohne 
sie. Das Vegetieren wird zur Form alles Lebens, sogar des geistigen. 
Auch der Geist wuchert, den Tropenpflanzen gleich. Schon spüre 
ichs an mir selbst: die Vorstellungswelt des tropischen Menschen 
ist nur von der Botanik aus begreiflich. Wie die Blumen sprießen 
die Bilder in ihm auf, überreich, üppig, wirr durcheinander, ohne 
Mühe noch Aufsicht seitens des Gärtners, und insofern unverant- 
wortlich. So ist wohl die Entwicklungsgeschichte des indischen 
Mythos zu deuten. Die herbe Lehre der Weisen des Nordwestens 
hat sich in den südlichen Zonen nicht lange erhalten können ; bald 
28 Tropenphysiologie ; die Maya-Lehre. 
begann die Einfachheit zu ziellosem Überfluß auszuwachsen. Un- 
aufhaltsam sprossen Tausende von Göttern aus dem fruchtbaren 
Erdreich auf. Der Hinduismus in seinem unübersichtlichen Reichtum 
ist gewiß nur als vegetativer Vorgang zu verstehen. 
Mit der Erscheinung, die sich von selbst versteht, identifiziert 
man sich nicht; keiner verlegt sein Ich in den Stoffwechsel hinein, 
in den Kreislauf des Bluts. Nur das, was irgendwie von unserer Be- 
stimmung abhängt, empfinden wir als zum Selbste gehörig. So 
rechnet kein ernstzunehmender Abendländer die materielle Außen- 
welt zu sich, wohl aber die psychische, die Sphäre der Gedanken 
und Vorstellungen. Auf dieser natürlichen Verknüpfung sind jene 
typisch-westlichen Philosophien begründet, in welchen das Sein mit dem 
Denken, Wollen oder Handeln identifiziert erscheint. In den Tropen 
— schon spüre ichs — kommt man gar nicht darauf, die psychischen 
Phänomene anders zu beurteilen, als die körperlichen ; man kann gar 
nicht darauf kommen, sie metaphysisch ernst zu nehmen. Alles, was 
in mir vorgeht, wird in mir, wie da draußen die Pflanzen werden. 
Nicht ich denke, sondern es denkt in mir, nicht ich will, sondern es 
will in mir. So geschieht es in Wahrheit überall. Allein auch Ceylon, 
wo die Natur alles Nötige tut, auf daß der Mensch sich nicht miß- 
verstehe, indem sie das, was ihr zugehört, mit Nachdruck für sich 
in Anspruch nimmt, wird sich jeder dieser Wahrheit bewußt. Für 
den mittelmäßigsten Braunen muß sich Buddhas Erkenntnislehre 
von selbst verstehen. Der noch so gebildete Europäer sieht ihre 
Wahrheit nur ausnahmsweise ein. Da er sich eben dort des Han- 
delns bewußt ist, wo jener die Tatsache des Nicht-Handelns kon- 
statiert, neigt er notwendig dazu, einen Teil der Natur dem Selbste 
anzurechnen. ^ 
Die Mäyadoktrin, die Lehre von der Unwirklichkeit der Welt, 
ist im gleichen Sinne typisch für den Tropengürtel, wie es der 
Naturalismus für den Norden ist. Im Norden, wo der Mensch sich 
ohne Rast in die Natur hineinversetzen muß, um ihre Prozesse im 
Gang zu erhalten, liegt nichts ihm näher, als sie durchaus ernst zu 
nehmen ; gibt er dieser Neigung nun nach, systematisiert er die An- 
sichten, zu denen sie führt, dann entsteht jene Weltanschauung, nach 
welcher der Mensch in seinen psychischen Prozessen ganz enthalten 
ist. Versteht sich der Naturprozeß hingegen von selbst, braucht 
sich der Geist überhaupt nicht um ihn zu kümmern, dann liegt es 
umgekehrt nahe, die Phänomene nicht ernst zu nehmen. Mehr noch : 
Maya-Lehre und Naturalismus; Buddha und Nietzsche. 29 
da die Willensimpulse so gering sind, daß es der Wunsch nicht zur 
Gedankenvaterschaft bringt, so wird dort der Erscheinungscharakter 
der Welt leicht so aufgefaßt, daß alles konkrete Geschehen nur 
Trug und Gaukelspiel sei. Auch diese Weltanschauung bedeutet, 
genau wie ihr Gegenpol, der Naturalismus, nich mehr als ein pas- 
sage ä la Limite, und ist insofern menschengemäß genug. Bezeichnend 
ist nun, daß Pol und Gegenpol in einem zusammenstimmen : in der 
Stellung, die sie dem Absoluten gegenüber einnehmen. Beide leugnen 
ein solches schlankweg. Der Naturalismus, weil das starke Bewußt- 
sein der Naturprozesse ein Jenseits derselben überflüssig erscheinen 
läßt; der Buddhismus aus entgegengesetzten Motiven. Alles, dessen 
der Mensch sich konkret bewußt werden kann, gehört zur Natur. 
Wo diese nun als nichtwirklich empfunden wird, wendet sich das Be- 
wußtsein von seinen möglichen Inhalten ab ; dort wird es leerer und 
leerer, bis schließlich nichts vorhanden bleibt. So ist dem ceylone- 
sischen Buddhisten das Nichtsein der Hintergrund des. Scheins; 
mehr enthält diese Welt ihm nicht. Solche Vorstellung ist in 
Europa kaum zu fassen. Seitdem ich auf Ceylon weile, beginne auch 
ich sie gegenständlich zu finden. 
Man hat die Mäyalehre mit den Philosophien verglichen, die in 
Europa die Unwirklichkeit der Welt vertreten haben. Dieser Ver- 
gleich trifft nicht einmal an der Oberfläche zu. Alle europäischen 
Illusionisten waren, sofern sie als ehrlich gelten dürfen, blutleere 
Theoretiker, denen eine logische Konstruktion dichter schien, als das 
Erlebnis ; kein Westländer glaubt innerlich an die Mäya. Und 
doch gibt es Geister unter uns, die Wohl ein Recht hätten, sich zur 
buddhistischen Weltanschauung zu bekennen. Dem späten Kultur- 
menschen wird es schwerer und schwerer, sich in irgendeiner Form 
zu verwirklichen. Seine Gedanken, seine Gefühle, seine Taten be- 
deuten nichts in bezug auf ihn ; er ist sie nicht und kann sie nicht 
mehr werden. Diese Bewußtseinslage ist der buddhistischen äqui- 
valent. Allein sie hat hier Entgegengesetztes zur Folge. Der Zu- 
stand des Buddhisten ist ein glücklicher, denn nichts wünscht er 
sehnlicher, als dem bestimmten Dasein zu entrinnen. Der des 
modernen Europäers ist tragisch, denn ihn verzehrt die Sehn- 
sucht, zu sein. Er empfindet es als Impotenz, daß er sich nicht 
verwirklichen kann. Das Sein absolut zu leugnen — diese Rettung 
des buddhistischen Nihilisten — ist dem vitalen Europäer unmöglich. 
So hat eben der Umstand, der auf Ceylon den Glauben an Buddhas 
30 Sehnsucht und Erfüllung. 
Lehre befestigt hat, bei uns den Erfolg Friedrich Nietzsches bedingt. 
Nietzsches Lehre vom Übermenschen ist nämlich kein Ausdruck von 
Größe, sondern einer der Sehnsucht nach Größe, wohl der er- 
greifendste, welcher jemals gefunden ward. 
KANDY. 
Zauberhaft sind die Landschaftsbilder, die sich wieder und 
wieder vor dem entzückten Reisenden entrollen, den die 
Spirale der Bergbahn vom schwülen Colombo zum kühleren 
Kandy hinanführt. Der Reichtum der Flora ist überschwänglich 
allerorts, aber jede Höhenlage ist besonders bestanden, so daß das 
Auge bei weiteren Ausblicken nicht eine Natur, sondern viele 
Naturen auf einmal überschaut, die bald schroff gegeneinander ab- 
grenzen, bald nuanciert ineinander übergehen, und überall in der 
vollkommenen Schönheit, die das vollkommen Sinngemäße aus- 
zeichnet. Und nun Kandy! Dieser friedliche See, umrahmt von 
dunkelgrünen Bergen, umstanden von Bäumen, die gleich Blumen 
blühen, eingebettet in üppigste Matten — dieser See mit seinen 
unsicheren, nebelhaften Farben, in dem das grelle Sonnenlicht 
sich nur wie im Echo wiederspiegelt, wirkt wie ein Mondstein auf 
dunkelem Sammetgrund. Wie ich ankam, ward ich dermaßen be- 
geistert, daß ich alsbald einen langen Streifzug unternahm. Und wie 
ich dann heimkehrte und mich müde niederließ, in kosigem Liege- 
stuhl auf schattigem Balkon, da dachte ich mir : du bist im Paradies. 
Hier sind alle, auch deine kühnsten Erwartungen übertroffen ; deine 
maßlosesten Wünsche sind erfüllt. Jetzt solltest du vollkommen 
glücklich sein. 
Bin ichs? Es ist undankbar von mir, allein ich bin es nicht. Ich bin 
es nicht, gerade weil jeder Wunsch erfüllt erscheint. In der Erfüllung 
ist die Sehnsucht aufgehoben, und mit der Sehnsucht hört das Leben, 
das ich meine, auf; meine eigenste Lebensmöglichkeit fühle ich mir 
abgeschnitten. Noch nie habe ich in einer Welt geweilt, deren an- 
regende Kraft geringer wäre. Im Augenblick regt sie mich natür- 
lich an, doch das liegt nicht an ihr, sondern an dem, daß sie mir 
fremd ist und Sinne und Verstand immerfort zu neuem in Beziehung 
Nur der Suchende findet; Bedingungen der Liebe. 31 
treten. Ich kann mir auch vorsteilen, daß maßlose Naturen, wie 
Gauguin und Stevenson, an ihr dauernde Anregung finden mochten, 
denn den Maßlosen befriedigt selbst das Übermaß nicht. Was mich 
aber betrifft, so bin ich des gewiß, daß meine Einbildungskraft hier 
bald erlahmen würde. Wo alles Erfüllung ist, erscheint der Sehn- 
sucht der Boden entzogen. 
Sehnsucht und Erfüllung ! Enthält das normale Verhältnis dieses 
Begriffspaares nicht die Lösung des ganzen Problems, weswegen die 
gemäßigte, nicht die heiße Zone der Schauplatz aller Großtaten des 
Geistes gewesen ist? Wo alles vorhanden, dort sucht man nicht, 
und das Äußerste hat keiner je gefunden, der nicht ein Suchender 
gewesen wäre ; wo alles gegeben, dort fehlt dem Willen der An- 
sporn, und aus der Trägheit geht keine Heldentat hervor ; wo alles 
nur Mögliche verwirklicht ist, dort bleibt kein Idealismus lebendig. So 
tragen die originalen Schöpfungen des Tropengürtels allesamt selt- 
sam ungeistige Züge. Im Tropenklima vegetiert, wie alles, auch die 
Phantasie. Wohl treibt sie manchmal wunderherrliche Blüten, bald 
wild-phantastisch, wie die volkstümlichen Göttermythen, bald duftig- 
schwül, wie die Lyrik verfeinerter Hofdichter ; sie bringt auch hie 
und da Gebilde hervor, die, gleich der Palme, fest und stark in der 
Linie sind. Aber alle diese Schöpfungen, so schön sie seien, ver- 
bleiben in der Sphäre des Naturhaften ; sie sind nicht aus geistiger 
Tiefe neubeseelt, nicht aus dem Geiste wiedergeboren. Sie sind 
„Geistesausdruck" nur im Sinn der Blume. Die Natur als solche 
kann eben, so üppig sie sei, zu den Höhen der Geistigkeit nicht 
hinanwachsen ; dorthin gelangt nur der Mensch, der sich in kraft- 
voller Anstrengung über die Sphäre seines Ursprungs hinauferhob. 
Aber dem Tropenbewohner fehlt der Anlaß, sich anzustrengen, denn 
alles Mögliche geschieht ja schon von selbst. Und zum Begehren 
des Unmöglichen fehlt ihm die Energie. 
Sein Bewußtsein muß erschrecklich arm sein. Bewußt wird nur 
das, was nicht von selbst geschieht; wo alles automatisch verläuft, 
was bleibt? Er kann auch die Liebe nicht kennen. Was wir Liebe 
heißen, beruht rein auf Einbildungskraft. Wo der Wunsch dem Ge- 
nuß, die Vorstellung der Wirklichkeit vorauseilt, dort entsteht jenes 
wundersame Gebild, und es wird reicher und zarter und schöner, je 
weiter der Abstand zwischen Sehnsucht und Erfüllung ist. Daher 
hat die Liebe im Norden, wo der Geist gern im Traumlande weilt, 
so viel köstlichere Blüten getrieben als im Süden mit seinem 
32 Indische Liebe; Nirwana. 
größeren Wirklichkeitssinn. Je südlicher die Zone, die sie be- 
wohnen, desto animalisch-sinnlicher sind die Menschen, desto 
weniger aktiv ist ihre Phantasie. Der Weg zwischen Sehnsucht und 
Erfüllung wird zuletzt so kurz, daß psychische Bildungen kaum ent- 
stehen können. Das Erleben geht über das Begehren nicht hinaus ; 
es kommt nicht zu dem Dichtungsprozesse, welcher Liebe im nor- 
dischen Sinn zeugt. In den Tropen erscheint es selbstverständlich, 
daß die sich haben, die sich erotisch angezogen fühlen. Wo die in- 
indischen Dichter Sehnsucht schildern, da handelt es sich um den 
Schmerz getrennter Gatten, die im Genießen aussetzen müssen, nie 
um ein Sehnen nach dem Unerreichbaren, dem Unbekannten. Unser 
Sehnen kennen die Tropen nicht. 
Nur eine Sehnsucht kann in ihnen Nahrung finden, lebendig 
bleiben und anwachsen, bis daß sie dasteht als weltbewegende 
Macht: die Sehnsucht aus der Fülle hinaus. Auch im Norden sind 
manchmal Geister aufgetaucht, die sich abweisend zur Wirklichkeit 
stellten, aber ihr Motiv war nie Befreiungsdrang, sondern Unbe- 
friedigtheit mit dem Gebotenen. So fehlte ihrem Verneinen der 
tiefe Grund ; es ist im großen nie produktiv geworden. In den 
Tropen hat gerade die Sehnsucht hinaus aus der Welt sich als die 
schöpferischeste bewährt ; sie allein hat das Tiefste im Menschen an 
die Oberfläche gebracht, denn sie allein wurzelt in der Tiefe. In 
der Tat, wo nichts zu wünschen übrig bleibt, dort beengt die Fülle 
ebenso, wie sonst der Mangel ; sie hindert die Kraftentfaltung, 
schwächt das Lebensgefühl, droht das Selbstbewußtsein zu ersticken. 
Gerade der Kraftvolle ist dort am weltfeindlichsten. So kommt es, 
daß eben die Lehren, die bei uns als die schwächlichsten wirken, 
als Ausgeburten verkommenden Lebens, die Lehren von dem Un- 
werte des Daseins, in den Tropen Kraftfülle atmen. Daß hier 
„Geist" nur da gewaltig am Werke erscheint, wo es nicht Wirklich- 
keit zu -schaffen, sondern za verneinen gilt. — Die Mondsichel 
spiegelt sich im See. In den Palmenwipfeln zirpen tausend Insekten- 
stimmen. Wie ich mich nach dem Nirwana sehne ! Nach einem 
Dasein, wo die Schöpfung nicht übermächtig wäre, wo die Natur 
den Geist nicht überwucherte! Nach einem Zustand des nicht- 
individuellen, nicht-bestimmten Seins, in dem ich frei wäre von 
allem, was mich bindet, von Freud und Leid, von Göttern und von 
Menschen, und von mir selbst. ... 
Der Buddhismus als Theorie der Vegetation. 33 
Ich bemühe mich, die Pflanzen wachsen zu sehen ; auf Ceylon 
müßte es gelingen. Dieses Gestrüpp kocht buchstäblich vom 
Boden auf, diese Bambusstäbe schießen förmlich gen Himmel. 
Die ganze Schöpfung ist in ständigem Fluß begriffen: hier bedarf 
es keines Herakleitos, um einem das deutlich zu machen. Wie 
anders stellt sich ein Wald in den Tropen dar, als bei uns ! In ge- 
mäßigten Breiten bedeutet „Wald" den Kollektivbegriff, unter dem 
viele Einzelbäume zusammengefaßt werden ; hier wirkt der Wald 
als das Konkretere den Bäumen gegenüber, die sich nur mit Mühe 
aus dem verfilzten Grün abstrahieren lassen. Und der Wachstums- 
prozeß erfolgt mit so rasender Schnelligkeit, so üppig, so über- 
reich und schrankenlos, die Formen hängen so innig zusammen, 
gehen so unmerklich ineinander über, daß die äußere Anschauung 
keinerlei Anlaß gibt, eine Theorie des Seins zu konstruieren: alles 
ist vielmehr nachweislich im Werden und jenseits des Werdens gibt 
es nichts. Die Anschauung jedes Augenblicks demonstriert die 
Wahrheit von Buddhas Erscheinungslehre. 
Buddhas Phänomenologie ist die exakteste Theorie der Vegeta- 
tion, die jemals aufgestellt worden wäre. So weit das Leben der 
Pflanze für alles Leben typisch ist, so weit hat Buddha auch für 
Menschen wahrgesprochen, und das ist viel. Alle äußersten Probleme 
sind in der Pflanze genau so vollständig aufgegeben und gelöst, wie 
im höchsten Menschendasein: die Probleme der Freiheit, der Un- 
sterblichkeit, des letzten Wesensgrundes. Immerhin hat es sein Miß- 
liches, den Menschen von der Pflanze her zu bestimmen: seinem 
Wesen tritt man damit nicht zu nahe, aber man wird seiner Sonder- 
erscheinung nicht gerecht. Indem man auf die Ähnlichkeit mit der 
Pflanze den Hauptnachdruck legt, beachtet man nicht, worin er sich 
von ihr unterscheidet. Wenn ich Buddhas Lehren studierte, habe ich 
mich des öfteren gefragt: wollte er die Menschen zu Pflanzen 
machen? Getan hat er es unzweifelhaft. Seine Lehre ist so sehr 
auf das Gemeinsame aller Lebensformen zugeschnitten, daß die 
Wesen, die sie befolgten, sich notwendig diesem Gemeinsamen zu 
entwickeln mußten. Die Passivität des buddhistischen Menschen 
hat keinen anderen Sinn, als daß er pflanzenartig ist. 
Seitdem ich in den Tropen weile, verwundert es mich nicht 
mehr, daß Buddha die Phänomenologie des Pflanzenlebens seiner 
Heilslehre zugrunde gelegt hat: das Leben hier ist Vegetation; 
Körper sowohl als Geist vegetieren. Und dieses Vegetieren er- 
Keyserling, Reisetagebuch. 3 
34 Buddha und Ernst Mach. 
schöpft alle körperliche Daseinsmöglichkeit so vollständig, daß sich 
die Frage nach einer vielleicht höheren Bestimmung des Menschen 
nicht stellt. 
Nun ist mein Organismus von den Einflüssen der Tropenweit 
so weit verwandelt, daß ich in buddhistischer Bewußtseins- 
lage verharren kann. Dieses Erlebnis ist mir überaus lehr- 
reich. Dem Buddhismus als Theorie gerecht zu werden, hält nicht 
schwer: er ist eines Geistes mit allen empiristischen Systemen des 
Westens. Die Psychologien Taines, Ernst Machs, William James, 
die Weltanschauungen Auguste Comtes, Herbert Spencers, Wilhelm 
Ostwalds, sogar Bergsons haben alle, eine jede von einer besonderen 
Seite her, eine bestimmte Wegstrecke entlang und bis zu einem be- 
stimmten Grade der Konsequenz, mit Buddhas Lehren das Wesent- 
liche gemein. Das macht, daß alle empiristischen Denker das Ge- 
schehen in seinem aktuellen Ablauf ins Auge fassen ; mit dieser 
Fragestellung ist das mögliche Ergebnis eindeutig vorgezeichnet; 
stimmen nicht alle empiristischen Denker in allem überein, so ist 
das lediglich auf Begabungsunterschiede zurückzuführen. Spencer 
und Ostwald und Mach hätten gleiches wie Bergson gelehrt, wenn 
sie gleich scharfsinnig gewesen wären, denn ihre Absicht war 
ursprünglich die gleiche. Buddhas Philosophie hat nun, von allen 
westlichen Denkern, mit derjenigen Ernst Machs die größte Ähnlich- 
keit; sie hat die gleichen Grundvorzüge und die gleichen Grund- 
gebrechen. Jene wurzeln in der Exaktheit der Beobachtungen, diese 
darin, daß die Beobachtung nicht tief genug eindringt. Wohl ist es 
möglich, im Aktuellen alles Wirkliche und Mögliche verdichtet zu 
sehen ; das ist 600 Jahre nach Buddha Acvagosha gelungen, dem 
Begründer der Mahäyäna-Lehre, und in unseren Tagen wiederum 
Bergson ; diese Leistung der philosophischen Erkenntnis ist vom 
menschlichen Standpunkte vielleicht die wertvollste, da das Bild, das 
dieser Standpunkt gewährt, den eigentümlichen Charakter der Welt 
am vollständigsten und unverzerrtesten wiedergibt. Aber Buddha hat 
die Aktualität so tief zu erfassen nicht vermocht. Er hat Sein und 
Werden im Werden nicht zusammengeschaut, sondern ausschließlich 
das Werden bemerkt. 
Daß sich nun ein abstrakter Gelehrtengeist mit einer Welt- 
anschauung wie der buddhistischen zufrieden gibt, ist wohl verstand- 
Physiologische Grandlagen des Buddhismus. 35 
lieh. Ein Mann wie Mach hat kein metaphysisches Bedürfnis, in ihm 
lebt kein religiöses Gefühl, also bescheidet er sich gern bei seinem 
phänomenologischen Relativismus. Wo hingegen ein Mann, der als 
Erkenner zu buddhoiden Ergebnissen gelangt ist, überdies in leben- 
diger Beziehung zum Universalen steht, dort neigt er in der Regel 
zum Absolutismus. Er glaubt ein Absolutes in irgendeiner Form. 
So war es bei allen indischen Weisen, deren phänomenologische An- 
schauungen mit denen Buddhas in allem wesentlichen überein- 
stimmten ; so war es im Westen bei Auguste Comte, der sogar eine 
extrem emotionelle Religion gestiftet hat, bei William James, der 
an einen persönlichen Gott glaubte, bei Herbert Spencer, dessen 
„Unerforschliches" mehr und mehr, je älter er wurde, zur Substanz sich 
verdichtete. Buddha hingegen hat eine Religion begründet, die 
nichts anderes als phänomenologischer Relativismus ist. Er hat getan, 
was Ernst Mach sich geleistet hätte, wenn er die Ergebnisse seiner 
Empfindungsanalyse als Evangelium verkündet hätte. Das ist es, 
was dem westlichen Betrachter so paradox erscheint, was die 
brahmanischen Weisen auf den Buddhismus verächtlich herabsehen 
läßt ; das ist es, was auch mich bisher befremdet hatte. Nun aber 
beginne ich zu verstehen. Unter den physiologischen Voraus- 
setzungen, die für den Menschen in den Tropen gelten, bedeutet 
der Buddhismus wirklich ein Evangelium, oder kann es wenigstens 
bedeuten. 
Ich brauche bloß mein eigenes Bewußtsein zu analysieren, wie 
es im Laufe dieser Tage geworden ist. Mein Betätigungsbedürfnis 
ist merklich abgeflaut ; in mir lebt gar keine Initiative mehr ; anstatt 
zu handeln, lasse ich mit mir geschehen. Damit ist mir die Distanz 
zu mir normaliter gegeben, die der noch so Kontemplative im 
Norden zu sich selbst nur ausnahmsweise hat; zugleich jene 
innere Stille, welche Grundvorbedingung klarer Selbsterkenntnis 
ist. Wie ichs schon in Colombo niederschrieb : in den Tropen 
gehört nicht viel dazu, um das psychische Geschehen objektiv zu 
erfassen. Nun aber kommt ein weiteres: dieses vegetationsartige 
Geschehen — die organischen Prozesse wirken vegetationsartig, wo 
sie ohne Ichbestimmtheit vor sich gehen — ist ungeheuer intensiv, 
viel intensiver als in nördlichen Breiten ; als Seele wie als Leib 
empfinde ich mich als andauernd wuchernd, treibend, wachsend, 
knospend, blühend, als andauernd werdend und vergehend ; ich habe 
das Gefühl, als würde ich rastlos fortgetrieben durch nicht enden- 
3* 
36 Kein Jenseits des Werdens; das Nirwana. 
wollende Geburten und Tode hindurch. Dies bedingt zweierlei: 
erstens, daß ich mir des wahren Charakters des Geschehens — einer 
endlosen Kette von Geburten — mit unerhörter Deutlichkeit bewußt 
bin ; zweitens aber, daß es mir unmöglich ist über das Sams ira 
hinauszublicken. Ich kann nicht finden, daß es jenseits oder außer- 
halb des Unbeständigen irgendein Beharrliches gibt ; alles Daseins- 
bewußtsein geht in der wechselnden Gestaltung auf. Einerseits fühle 
ich mich mit ihr nicht identisch, andrerseits ist das Bewußtsein des 
Nicht-Ich-Prozesses so intensiv, daß für ein selbständiges Ichbewußt- 
sein kein Raum übrig bleibt. Lausche ich nun von dieser Er- 
lebnis-Basis aus der Lehre Buddhas, nach der es nichts geben soll, 
als einen anfangs- und endlosen Prozeß, in welchem endlose Kau- 
salitätsreihen interferieren, nach der alle scheinbar feste Gestal- 
tungen nur vorübergehende Schnittpunkte des Werdens bezeichnen, 
nach der es kein Ich gibt jenseits dieses Werdens, keine selbst- 
gegründete Seele, keine Persönlichkeit, so erkenne ich in ihr, in 
wunderbar klarer Begriffsfassung, mein eigenstes Erleben wieder. 
Nun kann mich diese Lehre nicht shockieren: wo kein Ichgefühl 
lebt, dort verlangt man nicht nach seiner Fortdauer ; wo kein 
Unsterblichkeitsbewußtsein dem Erleben ursprünglich zugrunde liegt, 
dort sehnt man sich auch nicht nach Unsterblichkeit. Die Lehre 
vom Nicht-Ich bedeutet unter der Voraussetzung der physiologischen 
Basis, auf der das Bewußtsein in den Tropen ruht, eben das, wie 
die Lehre vom Ich und dessen Fortdauer unter europäischen Voraus- 
setzungen. So verstehe ich jetzt gut, wie die Zuhörer Buddhas eine 
Lehre freudig begrüßen konnten, deren Anerkennung durch den Ver- 
stand unter Westländern Verzweiflung zur Folge gehabt hätte: der 
Mensch ist immer freudig bewegt, wo ein anderer ihm sein eigenstes 
Erleben deutlich macht. 
Mit dieser Erkenntnis fallen denn alle Schwierigkeiten des bud- 
dhistischen Nirwana-Gedankens fort. Der tropische Mensch fühlt 
sich im Nicht-Ich befangen, einer übermächtigen Natur, die sein Be- 
wußtsein allseits erfüllt. Solange er in diesem Prozesse aufzugehen 
vermag, solange fragt er nicht weiter, nicht mehr als irgendein 
lebensfroher Jüngling des Westens auch im Mittelalter je nach dem 
Himmel gefragt hat. Kommt aber der Tag, der selten ausbleibt, 
an dem er seines Zustandes müde wird, wo die Ahnung eines 
Höheren in ihm erwacht, so kann sich der Tropenbewohner dieses 
Höhere nur auf die Weise vorstellen, daß er den Fesseln des 
Das Nirwana; Befreiung und ewiges Leben. 37 
Naturgeschehens entrissen wird. In dieses Hinein, im Sinne eines 
Lebens im Himmel, kann er sein Ideal nicht verlegen, da jedes 
vorstellbare Leben dem Wesen nach identisch sein würde mit 
dem, dessen er müde ist ; sein Ideal ist mit Notwendigkeit eines 
der Auflösung. Was versteht er nun eigentlich unter Nirwana? 
Wie sollte er das begrifflich bestimmen? Bewußtsein eines 
Ich im Gegensatz zur verfließenden Natur besitzt er nicht ; 
also kann er nicht behaupten, daß er sich nach einem höheren 
positiven Zustande sehnte. Ebensowenig aber kann er behaupten, 
daß er im Nichts zu zergehen wünscht, denn damit, daß er dem 
Naturprozesse entrinnen will, bekennt er ja schon, daß er sich in 
diesem nicht völlig aufgehen spürt. Er hat ein sehr bestimmtes Ge- 
fühl der Sehnsucht aus dem Getriebe des Werdens und Vergehens 
hinaus, ein bestimmtes Gefühl der Sehnsucht, das mit einer unbe- 
stimmten Erwartung eines positiv Besseren verquickt ist. Dieses 
Gefühl lebt auf Ceylon auch in mir. Und suche ich es zu 
fassen, so finde ich, daß mir dies nicht besser gelingt als den bud- 
dhistischen Weisen. Es hatte seinen guten philosophischen Grund, 
daß Buddha über das Nirwana nichts Bestimmtes gelehrt, ja, jeden 
Versuch einer Bestimmung als Ketzerei verurteilt hat. Nur soviel 
vermöchte ich zu sagen. Die Sehnsucht nach Nirwana bedeutet 
Sehnsucht nach Erlösung aus den Banden der Natur, die allgemein- 
menschliche Sehnsucht nach Befreiung, die allen eschatologischen 
Vorstellungen als Letztes zugrunde liegt. Diese Befreiung wird der, 
dem ein starkes Ichbewußtsein eignet, mit positiven Vorstellungen 
verknüpfen : er wird sich ein ewiges Leben ausmalen, oder, wo er 
besonnener ist, wie die Brahmanen, einen Zustand jenseits aller 
Individualisierung, in welchem er, nach Abstreifung seiner Person, 
desto mehr Er selbst würde. Wie aber mit dem, welchem Ichbewußt- 
sein fehlt? In ihm führt das gleiche Befreiungsstreben zu wesentlich 
anderen Gestaltungen. Was er ersehnt, ist das Freiwerden von der 
Natur schlechthin ; er kennt keine Sehnsucht darüber hinaus. Wo 
das Naturbewußtsein übermächtig ist, und das des Ich kaum exi- 
stiert, kann sich das Selbstgefühl nicht positiv zur Geltung bringen. 
Die Sehnsucht aus der Erscheinung hinaus ist das metaphysische 
Erlebnis des Buddhisten ; es ist sein äußerstes Erlebnis — weiter 
fragt er nicht. Und fragt ein anderer ihn weiter, so beweist er da- 
mit, daß er ihn mißversteht. 
38 Hohes Niveau des buddhistischen Priesters. 
Dieses ist nun der dritte Tag, den ich beinahe ausschließlich in 
der Atmosphäre der buddhistischen Kirche zugebracht habe. 
Ich habe vielen Gottesdiensten beigewohnt, mit Priestern 
und Mönchen viel geplaudert und so manche Stunde hindurch in 
der kühlen, traulichen Dombibliothek droben im Kuppelbau mit der 
schönen Aussicht über den See in den Päli-Texten studiert, während 
aus den Hallen unter mir die Litaneien oder die schrillen, von 
Trommelwirbeln begleiteten Koloraturen der Klarinette, welche die 
Frommen zur Andacht ruft, gedämpft herauftönten. Wieder einmal 
erfahre ichs : die Kenntnis des geistigen Gehaltes einer Lehre macht 
einen noch lange nicht zum Kenner derselben ; ihre Konkretisierung 
birgt immer Überraschungen. Gleichviel ob eine Kirche die „reine" 
Lehre vertritt oder nicht — sie ist ein lebendiger Ausdruck ihres 
Geistes. Selbst wo die Kirche die Lehre nachweislich verbildet hat, 
tritt dieser in ihr doch deutlicher zutage als in noch so unver- 
stümmelten Schrifttexten, wie denn der Krüppel das Leben immer 
noch besser zum Ausdruck bringt, als die beste Lebenstheorie. 
Ich muß nun sagen, daß der buddhistische Priester mich durch 
die Höhe seines Niveaus überrascht. Nicht seines geistigen Niveaus, 
sondern seines menschlichen. Sein Typus ist dem des christlichen 
überlegen. Ihm eignet eine Sanftmut, ein Allverständnis, ein Wohl- 
wollen, ein Über-den-Dingen-stehen, von dem der noch so Vorein- 
genommene nicht behaupten wird, daß es für den christlichen Geist- 
lichen charakteristisch sei. Ohne Zweifel liegt das an der vollendeten 
Uninteressiertheit, die der Buddhismus in seinen Gläubigen groß- 
zieht. In der Idee mag es wohl schöner erscheinen, für andere als 
sich selbst zu leben : so wie die Menschen einmal sind, macht aktive 
Nächstenliebe nicht weit, sondern eng ; nur in Ausnahmefällen artet 
sie nicht in Zudringlichkeit und Herrschsucht aus. Wie taktlos sind 
alle Menschenverbesserer ! Wie beschränkt alle Missionäre ! Mag 
ein Mann von Hause aus noch so weitherzig sein, mag der Glaube 
den er bekennt, der universellste der Welt sein — das bloße Be- 
kehrenwollen macht eng, denn psychologisch bedeutet es immer 
nur Eines : das Aufdrängen der eigenen Ansicht einem anderen. Wer 
das tut ist ipso facto beschränkt, und wer das dauernd tut, ja pro- 
fessionell betreibt, wird von Tag zu Tag beschränkter. Deswegen 
gehören Engherzigkeit, Agressivität, Herrschsucht, Taktmangel und 
Unverständnis zu den typischen Zügen des christlichen, zumal des 
protestantischen Priesters. Eine Religion nun, welche gleich dem 
Uninteressiertheit wertvoller als Wohltätigkeit. 39 
Buddhismus, die Sorge um das eigene Heil als einziges Motiv des 
Daseins hinstellt, kann solche Erscheinungen nicht zeitigen. Wohl 
scheint es, als müßte es statt dessen den krassesten Egoismus groß- 
ziehen ; aber dies geschieht innerhalb des Buddhismus aus zwei 
Gründen nicht: erstens, weil das eigene Heil dem Buddhismus nicht 
ewige Seligkeit des Individuums, sondern Loskommen von den 
Schranken der Individualität ist ; wonach selbstische Wünsche ein 
Mißverständnis bedeuten. Dann aber, weil Wohlwollen und Mit- 
leiden den Buddhisten als die Tugenden gelten, deren Ausübung das 
Freiwerden vom Selbst am meisten begünstigt und beschleunigt. 
Dem Zusammenwirken der Ideale der Uninteressiertheit und der 
Nächstenliebe ist denn die Stimmung entsprossen, die dem Bud- 
dhismus wohl vor allem anderen seine Überlegenheit gibt : die spezi- 
fisch buddhistische Carität. Carität im christlichen Verstände be- 
deutet Gutes-Tun-Wollen ; im buddhistischen: jeden auf seiner Stufe 
gelten lassen. Und dieses nicht im Sinne des Gleichgültigseins 
gegenüber dem Zustand, in dem ein anderer sich befindet, sondern 
des warmen Verständnisses für das Positive j edes Zustandes. Nach all- 
gemein-indischer Anschauung steht jeder Einzelne genau auf der Stufe, 
auf die er hingehört, auf die er durch sein eigenes Verdienst hinauf- 
oder hinabgestiegen ist; also ist jedes Stadium innerlich berechtigt. 
Wohl wäre es wünschenswert, daß jeder Einzelne zum Höchsten 
hinaufgelangte, allein zum Höchsten hinauf führt kein Sprung, son- 
dern nur langsam-stufenweiser Aufstieg, und jede Stufe hat ihre 
besondere Idealität. Während also das Christentum, solange es 
asketisch gesinnt war, das Leben in der Welt dem mönchischen 
gegenüber gering schätzte und am liebsten die ganze Menschheit 
auf einmal ins Kloster gesteckt hätte, liegt es dem Buddhismus, 
dessen Gesinnung prinzipiell noch weltfeindlicher ist, als die urchrist- 
liche, dem der Zustand des Mönches ausdrücklich als der höchste 
gilt, dennoch fern, um des Höheren willen das Niedere zu ver- 
urteilen. Jeder Zustand ist notwendig und insofern gut. Die Blüte 
widerlegt nicht das Blatt, und dieses nicht den Stengel und die 
Wurzel. Den Menschen wohlwollen heißt nicht alle Blätter gewalt- 
sam zu Blüten umwandeln wollen, sondern sie als Blätter gelten zu 
lassen und liebend zu verstehen. Diese wunderbar überlegene Cari- 
tät spricht aus allen, sonst noch so unbedeutenden buddhistischen 
Priestergesichtern. Nun wundere ich mich nicht mehr über die bei- 
spiellose Verehrung, die der buddhistische Geistliche beim Volk 
40 Die buddhistische Carität. 
genießt. Es scheint ja auf den ersten Blick paradox, daß der Un- 
interessierte mehr Verehrung genießen sollte als der, welcher sich 
tätig um das Wohl seiner Mitmenschen bemüht. Tatsächlich ist dem 
überall so : der Mensch will nicht bevormundet werden ; wer über- 
zeugen will, überzeugt weit schwerer, als wer ohne Absicht und 
Hmtergedanken für seine Person das ihm Rechterscheinende tut. 
Das absichtslose, selbstlose, reine Leben, das der Bhikshu führt, ist 
unter buddhistischen Voraussetzungen das höchste, das ein Mensch 
auf Erden führen kann. So dient, wer den Mönchen dient, seinem 
Ideal. 
Die Atmosphäre dieser Kirche tut mir wunderbar wohl. Noch 
nie habe ich inmitten solchen Friedens geweilt. Und doch ist mir 
heute klarer denn je, daß der Buddhismus für den Europäer keine 
mögliche Religion bedeutet. Um so zu wirken, so formend, so 
positiv, wie er es unter den Singhalesen getan hat, muß das Seelen- 
material entsprechend sein — anders, sehr anders, als wir es liefern 
können. Bei uns, die wir das Phänomen durchaus bejahen, die wir 
nicht rasten können, deren ganze Energie kinetisch ist, würde das 
Leben für das eigene Heil sofort zu krassem Egoismus, das allge- 
meine Mitleid und Wohlwollen sofort zu plattem Tierschutzwesen 
ausarten und das Streben nach Nirwrma alle die Übelstände zeitigen, 
welche Unwahrhaftigkeit gegen sich selbst unabwendbar nach sich 
zieht. 
Kein Zweifel, nur Tropenbewohnern ist der südliche Buddhis- 
mus gemäß ; das darf nie aus den Augen verloren werden. 
Aber ist dieses einmal vorausgesetzt und zugestanden, ist 
man sich einmal darüber klar, daß zum Buddhismus eine sanfte, 
indolente Naturbasis gehört, dann muß man die Gestaltungskraft, 
die er bewiesen hat, bewundern. Es ist kaum glaublich, bis zu 
welchem Grade er gerade die Masse veredelt hat. Noch bin ich in 
Indien nicht gewesen, aber wenn nicht alle Berichte trügen, so hat 
der Brahmanismus nie auch nur annähernd so günstig auf die 
unteren Volksschichten eingewirkt; er hat sie ja auch nie für voll ge- 
nommen. Buddhas sozialpolitische Großtat war, daß er die schroffe 
Grenzscheide zwischen esoterischer und exoterischer Weisheit nieder- 
riß, und gleich Christus, ein Evangelium für alle verkündete. Dessen 
Charakter war, wie schon bemerkt^sehr bestimmten Verhältnissen 
\A LIBRARY so 
Gestaltungskraft des Buddhismus. 41 
angepaßt ; wie denn auch alle Überlieferungen darin übereinstimmen, 
das Buddha in der Hinäyäna-Lehre (welche die südliche Kirche be- 
kennt) nicht sein ganzes Wissen, sondern nur den Teil desselben, 
der einer unentwickelten Menschheit frommen könnte, geoffenbart 
hat ; diese Lehre ist wirklich ein wenig simplistisch, kultivierteren 
Geistern wenig mundgerecht. Aber wie weise trägt sie der Volks- 
seele Rechnung! In dieser Hinsicht schlägt sie Brahmanismus so- 
wohl als Christentum. Der Brahmanismus hatte wohl eine be- 
sondere Lehre ad usum populi entwickelt, aber in dieser fehlten ge- 
rade ihr Bestes und ihr Tiefstes ; die Brahmanen hatten sich hoch- 
mütig dabei beruhigt, daß die Plebs jene doch nicht würde würdigen 
können. Die Botschaft Christi wendet sich wohl an alle, aber sie 
wendet sich an sie in Bausch und Bogen vom Standpunkte eines 
absoluten Ideales her, ohne Berücksichtigung der Empirie. Und 
so sehr hier der mittelalterliche Katholizismus nachgeholfen hat — 
abstellen können hat er das ursprüngliche Gebrechen nicht. Er hat, 
gleich dem Brahmanismus, zwischen höherer und niederer Wahr- 
heit unterschieden, und wie dort, ist auch hier die Masse dabei zu 
kurz gekommen. Im Protestantismus aber, dem letzten Versuch, der 
gemacht ward, den reinen Geist der Heilslehre praktisch wirksam zu 
machen, hat das Christentum teils seine Gestaltungskraft eingebüßt 
(Luthertum), teils ist es zum alttestamentlichen Religionstypus 
zurückgeschlagen (Calvinismus). Es ist nicht wahr, daß der Geist 
Jesu Christi die Massen der Völker, die sich zu ihm bekannten, je 
innerlich erfaßt hätte : er hat überall von außen nach innen gewirkt, 
und in den meisten Fällen ist es bis zuletzt bei einer äußerlichen 
Gestaltung geblieben. Wie schroff ist der Gegensatz zwischen dem 
Bekenntnisse des durchschnittlichen Christen und der Art, wie er 
sich im Leben bewährt! Diesen Gegensatz gewahrt man bei den 
buddhistischen Massen nicht. Buddha hat seine Lehre so meister- 
haft formuliert, daß sie von den Seelen ihrer Bekenner wirklich 
innerlich Besitz ergriffen hat. Auf dem Wege einfacher, jedermann 
faßlicher Sätze und Vorschriften hat er tiefste Weisheit in das Ge- 
müt des kleinen Mannes hineingesenkt; so tief, daß weder Aber- 
glaube noch praktische Abirrungen die wesentlich buddhistische Ge- 
sinnung je haben verdrängen können. Bis zu einem gewissen, er- 
staunlich hohen Grade sind die buddhistischen Tugenden die Tugen- 
den der meisten Buddhisten. 
Woher dieser Vorzug der Lehre Gautamas? Woher dessen 
42 Vorzag edler Geburt; Buddha und Christus. 
Fähigkeit, seine tiefe Erkenntnis in so einzig wirkungskräftige Form 
zu fassen? — Das Genie läßt sich nicht weiter ableiten. Allein mir 
scheint doch, daß ein allgemeines Moment hierbei von großer Be- 
deutung war: daß Buddha einem Herrscherhause entstammte. 
Begabung, Geist, Verstand, metaphysischer Tiefsinn, religiöses 
Intuitionsvermögen sind von edler Geburt weder abhängig noch 
kommt diese ihnen irgendwie zu statten. Im Gegenteil: der Hoch- 
geborene ist selten einseitig genug, um ein spezielles Talent bis zum 
Äußersten auszubilden. Aber an Weitblick, an herrscherischer Über- 
legenheit ist der Aristokrat dem Plebejer immer voraus. Nur er 
steht von Hause aus über den Parteien, nur er ist ohne Ressenti- 
ment, nur er hat zu den Schwächen der Menschen ein rein objek- 
tives Verhältnis, schon allein weil er kraft seiner Stellung selten sub- 
jektiv unter ihnen zu leiden hat. So übertrifft er, wo es die Mensch- 
heit zu übersehen und ihren Bedürfnissen im großen gerecht zu 
werden gilt, selbst den höherbegabten Mann aus dem Volk. Buddhas 
ganze Lehre nun trägt unverkennbar den Stempel solch fürstlicher 
Geistesart; er war ein typischer Kschattrya. An philosophischem 
Tiefsinn stand er hinter den Brahmanen zurück, hielt überhaupt 
nicht eben viel von Philosophie, gleich den meisten Politikern und 
Militärs. Aber wie keiner vor ihm im Inderlande verstand und 
kannte er die Menschen, wußte er ihren Bedürfnissen und Schwächen 
Rechnung zu tragen, und seine Gebote in solcher Form zu erlassen, 
daß sie nicht allein zu einem religiösen, sondern auch zu einem 
politisch-sozialen Optimum führten. Hier, an diesem Punkte, erweist 
sich der Buddhismus dem Christentum entscheidend überlegen. 
Buddha, der Fürstensohn, der über den Parteien Stehende, hat eine 
Lehre in die Welt gesetzt, die nichts Bestehendes besonders verneint 
(sie verneint alles Vergängliche in Bausch und Bogen), daher keiner- 
lei Intoleranz hervorrufen und gleichmäßig alle dem positiv Besseren 
zuführen konnte. Das Christentum war ursprünglich eine Proletarier- 
religion und stand von vornherein im Gegensatz zu den bevorzugten 
Klassen. Parteilichkeit für die gescheiterten Existenzen, Ressenti- 
ment den Glücklichen gegenüber gehört zur Seele, wenn nicht zum 
Geiste dieser Religion, und so trägt sie, wohin sie sich auch wendet^ 
den Samen des Zwiespaltes mit sich fort. Es ist von der größten Be- 
deutsamkeit, daß die Religion des Friedens par excellence am 
meisten Unfrieden gestiftet hat: der noch so hohe Geist ihres Be- 
gründers war kein weltlich überlegener Geist. 
Unwesentlichkeit der Glaubensvorstellungen. 43 
Wie lieblich ist der buddhistische Gottesdienst! — Wenn 
die Sonne untergegangen ist, rufen die Glöckner die Ge- 
meinde zur Andacht. Da strömen denn die sanften 
braunen Menschen mit dem langen blauglänzenden Haar und den 
wunderschönen Händen, Männer und Weiber voneinander kaum zu 
unterscheiden, im Daläda Maligäwa zusammen. Wer immer kann, 
der stiftet eine Kerze und alle bringen duftende Blumen dar. 
Vor dem Sanktuarium, in dem der Zahn des Buddha ruht, 
mit seinen goldglänzenden Türen, seinen kostbaren Bildwerken, 
steht, im gelben Gewand, der freundliche Priester und nimmt 
mit ermunterndem Lächeln die Gaben der Gemeinde entgegen. 
— Selbst in Ceylon, wo noch heute die Urlehre in ihrer 
Reinheit herrscht, wird Buddha vom Volk als Gott verehrt; 
und um ihn scharen sich viele andere mythische Gestalten — 
Engel, Heilige, Hindugötter, Divinitäten aus dem tamylischen Ur- 
pantheon. Aber wunderbar: all' diese Auswüchse und Wucherungen 
haben dem Sinn der Buddhalehre nichts anhaben und ihre form- 
gebende Kraft nicht beeinträchtigen können. Es sind auch von der 
Kirche, daß ich wüßte, nie Schritte gegen die Mythenbildung er- 
griffen worden. Hier hat eben die Erscheinungswelt fast nichts zu 
bedeuten ; die Mäyalehre ist diesen Menschen eingeboren. Die 
Vorstellungen werden nie ganz ernst genommen, es kümmert sich 
auch keiner um Zusammenhang oder Widerspruch. Alle wissen es : 
die Vorstellungen gehören zum vegetativen Leben des Geistes, das 
wie selbstverständlich wächst und sprießt und blüht — das Eigent- 
liche liegt in anderer Dimension. Buddhas Heilslehre gilt unabhängig 
von aller Konfession ; wie denn Buddha selbst nie versucht hat 
seinen Jüngern ihren Götterglauben zu nehmen. Er lehrte sie nur, 
daß auch die Götter, gleich allen Erscheinungen, unwesenhaft und 
vergänglich sind. 
Wie viel leichter wird es dem Tropenbewohner als unsereinem, 
religiösen Tiefsinn zu beweisen ! Selbstverständlich steht keinerlei 
Vorstellung mit dem metaphysischen Grunde in notwendigem Zu- 
sammenhang ; selbstverständlich hat der Buddhismus recht. Aber den 
Westländer hindert seine physiologische Organisation, diese Wahr- 
heit ohne weiteres einzusehen. Er ist zu sehr verstrickt in der Er- 
scheinung, um sie aus gebührender Distanz zu beurteilen. Dies 
erklärt die ungeheure Wichtigkeit der Dogmen in der Geschichte 
der Christenheit. Da war es eine Lebensfrage für die Religiosi- 
44 Dogmen innerhalb von Buddhismus und Christentum. 
tat, zu welchen Vorstellungen sich ein Mensch -bekannte. Aus- 
wüchse und Wucherungen, die an sich geringfügig waren im Ver- 
gleich zu dem, was um die Buddhalehre herum aufgeschossen ist, 
ohne diese im mindesten zu gefährden, haben die christliche zeit- 
weilig ihres eigensten Geistes beraubt. So erschien es wirklich 
geboten, um die „wahre Lehre" zu kämpfen, den „richtigen Er- 
löserbegriff" zu finden, das Verhältnis der Gottheit zur Welt in 
objektiv gültigen Begriffen darzustellen, weil unser Weg eben nur 
durch die Erscheinung hindurch zum Sinne führt, wemzufolge jede 
Erscheinung, die nicht unmittelbar den Sinn ausdrückt, den Geist 
auf Abwege bringt, auf denen er sich verlieren kann. Wie viel 
besser haben es die Tropenbewohner! Sie brauchen nach keinen 
adäquaten Ausdrücken zu suchen, ihnen ist jede Form recht oder 
auch keine, jenachdem. Denn sie sind sich, kraft ihrer bloßen 
Physiologie, eben dessen wie selbstverständlich bewußt, was sich 
bei uns nur dem Ausnahmegeiste offenbart. 
Dank dieser glücklichen Grundanlage nehmen auch solche 
Tendenzen unter den Singhalesen wohltätige Formen an, die unter 
Nordländern sich allemal als Elemente der Zerstörung erwiesen 
haben: ich denke an die Anlage zum Fanatismus. Heute .früh 
war ich zu einem abgelegenen, unansehnlichen, von Fremden 
wohl kaum je besuchten Tempel hinausgewandert, den ein echter 
Eiferer bewohnt ; ein Typus von solch' leidenschaftlichem Tem- 
perament, wie ich ihn unter diesen sanften Androgynen kaum für 
möglich gehalten hätte. Anfangs stellte er, mißtrauisch und vor- 
sichtig, eine Reihe ebenso elementarer Fragen an mich, -wie sie 
Wotan an Mime oder Gurnemanz an Parsifal gestellt hat, und wie 
diese, so versagte auch ich zunächst im Antworten: es gibt keinen 
gewandteren Kunstgriff, einen Gegner der Ignoranz zu überführen, 
als ihn nach ganz selbstverständlichen Dingen zu fragen, denn im 
ersten Augenblick wittert der Nichtgewitzigte allemal hinter dem 
Naheliegenden einen fernliegenden Sinn ; welche Methode in meinem 
Fall besonders gut gelang, da ich über dem Bestreben, in die Denk- 
art meines Unterredners einzudringen, auf die Rolle des Widerpartes 
ganz vergaß. Aber nachdem ich zuletzt doch beweisen konnte, daß 
ich im Buddhismus nicht unbewandert war, eröffnete er mir sein 
Herz. Ja, er war ein Eiferer, einer dem es leidenschaftlich ernst war 
um die Wahrheit, welchen Ingrimm über die-Verbilder der reinen 
Lehre erfüllte. — Ob er gegen sie zu Felde ziehen wollte? — Nein, 
Ein buddhistischer Eiferer ; die Bhikshus. 45 
wozu? Was wäre damit erreicht, daß die gleichen Menschen zu 
neuen Vorstellungen sich bekennten? — Ob er nicht auf die Seelen 
unmittelbar einzuwirken gedächte? — Ja, das täte er schon gern. 
Aber ob viel damit zu gewinnen sei? Man muß vorbereitet sein, auf 
daß die Belehrung wirke, und gerade das seien seine schlimmen 
Zeitgenossen nicht. Ihre Seelen seien offenbar zu jung. Seiner Über- 
zeugung nach wäre der einzige Weg, den Irrtum aus der Welt zu 
vertreiben, der, daß jeder wissende Einzelne mit äußerster Energie 
seiner persönlichen Vervollkommnung lebe. Damit werde ein Bei- 
spiel gegeben, das mehr vollbrächte als alle Bekehrungssucht. — 
Dieser Fanatiker betätigte seine Gesinnung doch nur dahin, daß er 
mit größerer Intensität, als die anderen, an seiner Vervollkommnung 
arbeitete, und mit ein wenig weniger Wohlwollen seine Mitmenschen 
gewähren ließ. 
Sie war überaus belehrend für mich, diese Disputa mit dem 
halbnackten Mann im gelben Büßergewand. Wir redeten im Hofe 
des Tempels im Schatten des Bodhibaums. Einige ernste, weiß- 
gekleidete Büßerinnen hörten andächtig zu, während ein Schwärm 
brauner Kinder mit glänzenden Augen und buntfarbigen Lenden- 
tüchern uns neugierig lärmend von allen Seiten umdrängte. 
Schon bin ich die Gegenwart der guten Mönche so gewohnt, 
daß ich sie ungern missen würde. Es hat etwas überaus Be- 
ruhigendes, sie stets zu den gleichen Stunden das gleiche 
verrichten zu sehen: jetzt gehen sie mit ihren Bettelschalen zur 
Stadt, um von beflissenen Spendern ihre tägliche Mahlzeit abzu- 
holen, dann wieder baden, meditieren sie, geben sie Unterricht in 
der Schrift und Religion — ein jedes zu seiner Zeit. Schon beginne 
auch ich, gleich den Singhalesen, sie als einen Teil meiner selbst zu 
empfinden. Diesen bedeuten sie ihre fleischgewordene Idealität, das 
lebendige Sinnbild dessen, wie alle eigentlich sein sollten. An nichts 
hängt der Mensch wohl stärker als an solchen Sinnbildern, sogar 
dort, wo sie ihm, nach Goethes Wort, ein „ständiger Vorwurf " sind. 
Dem Singhalesen nun sind die Bhikshus Sinn- und Vorbilder, ohne 
ihm auch nur irgendwie Vorwürfe zu sein : die Lebenslehre Buddhas 
in ihrer Weisheit hat allem Ressentiment von vornherein vorgebeugt. 
Wenn der Mönch auch das beste Leben lebt, so widerlegt seine 
46 Die buddhistische Freudigkeit; Buddhismus und Luthertum. 
Wahrheit doch keine andere; ein jeder hat auf seiner Stufe recht. 
Wie gern dient man einem Ideal, das so verständnisvoll, so groß- 
mütig ist ! Zumal so wenig dazu gehört, es zu erreichen ! — 
Man pflegt den Buddhismus eine pessimistische Weltanschauung 
zu heißen, und das ist sie auch dem strikten Buchstaben nach. 
Da ferner der Buchstabe, wo er stetig wiederkehrt, auf den 
Geist dessen, welcher ihn niederschrieb, unzweifelhaft Rückschlüsse 
gestattet, so ist auch die Möglichkeit nicht abzuweisen, daß Buddha 
selbst, zeitweilig wenigstens, als Pessimist in unserem Sinn emp- 
funden hat. Wozu hätte er sonst ständig vom Leiden gesprochen, 
das Leiden gar zum Angelpunkt seiner Heilslehre gemacht? — 
Aber dem heutigen Buddhismus fehlt jeder pessimistische Unterton ; 
er verklärt das Leben im Gegenteil mit einem milden Glänze stiller 
Freude. Zunächst bedeutet das Nirwana dem Tropenbewohner das 
gleiche, wie dem Westländer die ewige Seligkeit; beinahe alles, 
was uns Anlaß gibt, den Buddhismus als pessimistisches System zu 
beurteilen, charakterisiert ihn im Bewußtsein seiner Bekenner als 
frohe ßotschaft. Aber das ist nicht alles. Was den Buddhisten von 
Ceylon ein so stillfreudiges Dasein sichert, ist vor allem die Gewiß- 
heit dessen, daß das Heil nicht schwer zu erringen ist. Wie einfach 
sind die zu befolgenden Vorschriften ! Wie wenig strapazenreich ist 
das Dasein sogar derer, die sich als Mönche endgültig auf den Pfad 
der Erlösung begeben haben ! Da wird keine Austerität verlangt, 
keine Anspannung, die nicht jeder sich zumuten dürfte. So schauen 
die Herren im gelben Gewand nicht allein freudig, sondern meistens 
gemütlich drein. Mir scheint: die Lehre Buddhas hat eben das dem 
tropischen Menschen gewonnen, was das Luthertum dem Nordländer 
erobert hat: die Möglichkeit eines gottseligen Daseins in der Welt 
Buddha sowohl als Luther haben die Autorität der Kirche verleugnet 
und den Menschen für mündig erklärt; beide haben einen Glauben 
gelehrt, in dem alle Unterschiede zwischen den Menschen aufge- 
hoben wurden, nach dem der Inspirierte Gott nicht näher steht als 
der Einfältige ; beide haben dem Leben des Alltags den Heiligenschein 
verliehen. Zwar hat Buddha die Mönchsorden nicht abgeschafft, 
sondern im Gegenteil zu unerhörter Bedeutung emporgehoben, 
aber in Indien bedeutet Mönchtum nicht das gleiche, wie bei uns, 
keine abnorme, außerordentliche Gestaltung: in ihm erscheint nur 
der Zustand organisiert, in dem jeder normalerweise lebt, nachdem 
er sich von den Geschäften zurückgezogen hat. Weilte ich lange 
Nachteil billiger Ideale; buddhistische und christliche Liebe. 47 
genug auf Ceylon, auch mich erfaßte wohl einmal der Wunsch, die 
gelbe Toga anzulegen. 
Ja, diese Mönche sind liebe Leute. Reflektiere ich freilich über 
ihre Eigenart, dann kann ich nicht umhin zu erkennen, daß in ihnen 
die aurea mediocritas idealisiert erscheint ; nichts an ihnen ist be- 
wundernswert. Im buddhistischen Mönchtum treten, deutlicher viel- 
leicht als irgendwo sonst, die Nachteile eines allzubilligen Idealismus 
zutage. Die Idealisierung der Mittelmäßigkeit verklärt diese zunächst 
tatsächlich : sie wird vertieft ; die lutherische Innigkeit, die buddhi- 
stische Duldsamkeit bedeuten eminent positive Zustände, die nur dank 
jener Idealisierung zu erzielen waren. Aber gleichzeitig verlegt 
sie den Weg zu Höherem ; sie entsteigert, entspannt, wirkt hohem 
Streben entgegen. Das ist überall so, wo dem ganzen Menschen- 
geschlecht ein Ideal zur Nacheiferung vorgehalten wird, und dieses 
Ideal nicht im Reich des Unmöglichen liegt, denn nur auf Un- 
mögliches hin ist eine Nivellierung denkbar in der Idee, die nicht 
nach unten zu verliefe. Beim Buddhismus wirken diese Nach- 
teile nicht so schwerwiegend, wie innerhalb des Luthertums, weil 
hoher Idealismus in der Tropenluft ohnehin nicht gedeiht; aber 
vorhanden sind sie. Wahrscheinlich könnten auch unter Sing- 
halesen bedeutendere Typen entstehen, als dies geschieht, wenn der 
Bhikshu nicht das äußerste Ideal verkörperte. 
Überhaupt ist der faktische Unterschied zwischen Buddhismus 
und Christentum größer, als die theoretische Betrachtung 
aus den beiderseitigen Geboten und Regeln, die in so 
vielen wichtigen Punkten übereinstimmen, abzuleiten geneigt wäre. 
Die entscheidende Nuance scheint mir jener chinesische Staatsmann 
gut erfaßt zu haben, der die orientalische Ethik von der okzidenta- 
lischen dahin differenzierte, daß jene lehre: tue keinem, was du 
nicht willst, daß man dir wiedertäte; diese jedoch: handele andern 
gegenüber so, wie du wünschest, daß sie sich zu dir verhielten. Jene 
sei wesentlich zurückhaltend, diese wesentlich angreiferisch. So ist es. 
Die Menschenliebe des Buddhisten unterscheidet sich von der christ- 
lichen durch nichts so sehr, als dadurch, daß sie kein amor militans 
ist. Sie ist für unsere Begriffe matt und kühl, und bei aller Ver- 
ständnistiefe zu vernünftig, um groß zu wirken. Gewiß, aber wie 
sollte werktätige Liebe dem ein Ideal dünken, der das Individuum 
48 Attachement und Detachement. 
mit seinen Freuden und Leiden nicht ernst nimmt? Die Unbedeut- 
samkeit des Individuums ist dem Buddhisten seine selbstverständ- 
liche Grundvoraussetzung, nicht, wie dem Christen, der undendliche 
Wert der Menschenseele. Im Buddhismus hat das allgemein-indische 
Ideal des Detachements seine äußerste historische Verwirklichung 
erfahren. 
Jeder echte Weise wird sich für seine Person wohl zum 
indischen Ideale bekennen, und mit Recht. Wessen Bewußtseins- 
zentrum schon jenseits des Flusses der Phänomene verankert liegt, 
der kann seine Ideale unmöglich an der Oberfläche forttreiben 
lassen. Den wird Unabhängigkeit auch nie kalt und gleichgültig 
machen, da er auf der Stufenleiter der Wesen schon so hoch hinan- 
gestiegen ist, daß er am reinen Geben seine höchste Freude findet 
und zum Wohlwollen des Abhängigseins nicht mehr bedarf. Daß 
nun ganz Indien sich zum Ideal des Weisen bekennt, rührt daher, 
daß dessen Weltanschauung eben von Weisen erdacht worden ist. 
Aber im brahmanischen Indien gilt das Ideal des Detachements doch 
nur insoweit allgemein, als der Weise allgemein für den höchsten 
Menschentypus gilt, und dieser detachiert sein soll ; den niedereren 
wird im Gegenteil gelehrt, daß sie sich binden sollen, da nur 
dank den Erschütterungen, die das Wechselspiel von Freud und 
Leid bedingt, ein Fortschreiten für sie zu erhoffen sei. Der Bud- 
dhismus hat das spezifische Weisen-Ideal zum absoluten, schlechthin 
allgemein-gültigen Ideal erhoben. 
Daß er das tat, war die logische Konsequenz seiner Anatman- 
Theorie : wenn es kein Ich gibt, wenn keinerlei Substanz hinter dem 
Fluß der Bewußtseinszustände beharrt, dann hat es keinen Sinn, die 
Erscheinung, nach Art des Brahmanismus, auch nur vorläufig zu be- 
jahen. Aber hier erweist es sich mit seltener Deutlichkeit, daß ver- 
fehlte theoretische Grundvoraussetzungen unabwendbar verderb- 
liche praktische Folgen zeitigen, selbst dann, wenn sie als solche 
kaum beachtet werden und ihre Wirkungskraft durch Vorstellungen 
anderen Geistes beträchtlich abgeschwächt erscheint. Der Buddhis- 
mus hat über alle Unterschiede zwischen den Menschen in einer 
entscheidenden Hinsicht hinweggesehen: das hat sie nivelliert; dem 
hat das Caritätsideal nicht steuern können ; die buddhistische 
Menschheit wirkt, verglichen mit der christlichen, auffallend farb- 
los, charakterlos. Das Ideal des Detachements setzt eben der 
Vitalität aller, die nicht geborene Weisen sind, einen Dämpfer auf. 
Unbedingter Vorzug des Christentums. 49 
Der Normalmensch kann sich nur so vollenden, daß er alles Leben- 
dige in sich durchaus bejaht; er muß tief in dieses Leben hinein- 
tauchen. Schwingt er sich vorzeitig darüber hinaus, so verkümmert 
er. Hierher rührt es, daß die Buddhisten von Ceylon wohl liebens- 
werte, seelisch gebildete, gute, mitunter sogar weise Leute, aber 
niemals Vollmenschen sind. 
In diesem Zusammenhang erscheint denn das Christentum dem 
Buddhismus unbedingt überlegen. Auch dieser Glaube nivelliert. 
Aber wenn schon ein Ideal für alle gfelten soll, dann ist das christ- 
liche des Attachements ersprießlicher. Die christliche Liebe ist 
alles eher als weltüberlegen ; sie wurzelt, betätigt, erfüllt sich 
in der Welt, bejaht die Erdgebundenheit: so ruft sie alle Lebens- 
geister wach. Und die christlichen Grundgebote der Hilfsbereit- 
schaft, der Arbeit zur Ehre Gottes und zum Heil der Welt er- 
halten dauernd in Spannung. Hierher rührt die einzigartige Effi- 
kazität des Christenglaubens in bezug auf die Gestaltung dieser 
Welt. Effikazität beweist nun nicht notwendig metaphysische Wahr- 
heit, aber in diesem Falle tut sie es : wird das Phänomen überhaupt 
ernst genommen, dann bezeichnet die Bewußtseinslage des Atta- 
chierten nicht nur die praktischere, sondern auch die tiefere gegen- 
über der entgegengesetzten. Wer ernstlich lieben kann ist tiefer 
als der kühle Skeptiker. Nur das schlechthin Positive hat unbe- 
dingten Wert. Allerdings ist es möglich, positiv und unabhängig 
zugleich zu sein, aber solches gilt nie vom Gleichgültigen, denn 
der ist negativ. Eben das, was auf der höchsten Daseinsstufe als 
Freiheit zutage tritt, äußert sich auf niederen als Mut zum Abhängig- 
sein; als Mut zum Schmerz, zum Opfer, zum Verlust. So ist der 
durchschnittliche Christ, welcher Freud und Leid mutig bejaht, gegen- 
über dem durchschnittlichen Buddhisten auf dem besseren Wege. 
So bezeichnet der südliche Buddhismus, um es in einem Satz zu 
sagen, die ideale Religion der Mittelmäßigkeit. Er enthält kein 
beschleunigendes Motiv ; er begünstigt keinen hohen Idealis- 
mus, potenziert nicht, vertieft auch nicht. In der einseitigen Be- 
lichtung des Buddhismus stellt sich das höchste Dasein nicht wert- 
voller als das geringste dar. Alles bestimmte Leben ist vom Übel, im 
Nirwana allein liegt alles Heil, und dem Nirwana näher führt keine 
Steigerung des Menschenzustandes. Diese Weltanschauung verleiht 
Keyserling, Reisetagebuch. 4 
50 Die christliche Idealisierung der Niedrigkeit. 
dem großen Mann, wie Buddha selbst einer war, einzigartige Über- 
legenheit: nichts wirkt grandioser als die Nichtachtung des Lebens 
seitens eines, der in den Augen aller einen höchsten Wert 
verkörpert; den kleinen Mann macht sie nicht größer. Aber sie 
verdirbt ihn auch nicht, wie die Spielart des Christentums es tut, 
die den niedrigen als solchen selig preist, die ihm einredet, er 
sei mehr als der Große. Der Buddhismus, von königlichem Geiste 
beseelt, läßt jeden Zustand gelten, wie er ist; der Fürst bleibt ihm 
Fürst, der Knecht ein Knecht, vor Göttern wie vor Menschen. Aber 
die empirischen Differenzen sind ihm ohne transiente Bedeutung. 
Der Fürst als Fürst ist Gott nicht näher als der Sklave, wie die 
alten Ägypter meinten, noch umgekehrt dieser, weil er gering ist, 
nach der Lehre eines bestimmten Christentums ; alle Zustände er- 
scheinen als gleichwertig, vom Ziele her besehen. So zieht der Bud- 
dhismus in der Seele des kleinen Mannes ein Detachement, eine 
Überlegenheit heran, die sonst nur unter Bevorzugten vorkommt. 
Nicht die Stimmung freudigen Duldens in der Zuversicht auf ewigen 
Lohn, wie beim leidenden Christen, nicht Epiktets Ataraxie, den 
Cynismus eines Diogenes — beides Ausdrücke nicht echter Freiheit, 
sondern des Gedecktseins durch den Panzer der Vernunft — sondern 
die Überlegenheit des Grandseigneurs. Wieder und wieder bin ich 
unter mittelmäßigen Buddhisten Eigenschaften begegnet, die ich 
bisher nur unter Großen für möglich hielt: so gewaltig war das 
psychologische Genie des Sakyersohns. — Dieser Tage habe ich, des 
Vergleiches halber, wieder einmal in Thomas a Kempis gelesen, der 
doch als Leuchte gilt in der ganzen Christenheit; und gestehe, daß 
ich mich angeekelt fühlte. Wie so ganz unüberlegen ist die Ge- 
sinnung, die aus der Nachahmung spricht! Es hat etwas wider- 
wärtig Plebejisches, dieses Kriechen vor Gott, diese würdelose 
Unterwürfigkeit, diese ständige Angst, es nicht recht zu machen, 
dieses Sich-Abrackern um der Seligkeit willen. Dabei war Thomas 
ohne Zweifel ein edler und reiner Geist. Seine Vorstellungen sind 
ihm verbildet worden durch eine Tradition, die zwischen Gott und 
Welt die absurde Beziehung statuierte, daß das empirisch Minder- 
wertige eben deshalb metaphysisch wertvoll sei. Den überlegenen 
Naturen unter den Christen hat dieser Aberglauben wohl nie viel 
geschadet, da er nie unmittelbar ihr Leben bestimmte, sondern in 
kontrapunktischem Verhältnis zu ihm stand ; aber die kleinen hat 
er noch kleiner gemacht. Er hat jede ursprüngliche Überlegenheit 
Christi Lehre vom Christentum unverstanden. 51 
im Keim erstickt, indem er sie anhielt, nicht über ihrem Zustande 
zu stehen, und überdies noch eine Art metaphysischer Schadenfreude 
in ihre Seelen hineingesäet und zum Reifen gebracht, einen geist- 
lichen Hochmut, einen anmaßenden Glauben an ihr Recht auf Unter- 
stützung und Behagen, welche heute, wo sie sich von eschatolo- 
gischen Vorstellungen dissoziiert und mit sozial-ökonomischen ver- 
mählt haben, häßlicher denn je wirken und mich oft mit ernster 
Sorge erfüllen ob der Zukunft der westlichen Kultur. 
Es bedingt doch einen gewaltigen Unterschied, ob spirituelle 
Wahrheiten von in psychologisch-philosophischem Verstände „Wis- 
senden" oder „Unwissenden" verkündet und fortgepflanzt werden. 
Jesus war nicht weniger erleuchtet als der Buddha. Seine Be- 
wußtseinslage ist an Tiefe von nur wenigen Weisen Indiens über- 
troffen worden, und seine Lehren bedeuten dem Sinne nach ein 
Evangelium, welches das Menschengeschlecht niemals verleugnen 
wird. Aber er war ganz und gar kein Erkenner, hat sich über sein 
Wissen nie in klaren Begriffen Rechenschaft abgelegt, so daß es 
kein Wunder ist, daß nur zu viele der Lehren, die auf den Buchstaben 
seiner Predigt zurückgehen, mehr Mißverstehen als Einsicht ver- 
körpern. Was ist das für eine Demut, auf die es ankommt? — 
Nicht Unterwürfigkeit, Würdelosigkeit, sondern reine Rezeptivität 
gegenüber den Einflüssen aus der Tiefe. Inwiefern soll man den 
Nächsten mehr lieben, als sich selbst, sein Ich zum Opfer bringen? 
— Nicht insofern, als anderer Leben wertvoller sei als das eigene, 
sondern als das Höchste darin bestände, der Sonne gleich nur zu 
geben, nicht zu nehmen. Inwiefern ist Niedrigkeit der Größe vorzu- 
ziehen? — Nicht insofern der Niedrige als solcher Gott wohl- 
gefälliger wäre, sondern weniger Anlaß hat, mit der Aufmerksamkeit 
an der Erscheinung zu haften. Und so fort. Den wahren, d. h. ob- 
jektiv richtigen Sinn der christlichen Lehren hat die Christenheit 
bis heute kaum verstanden. So haben sie, neben sehr vielem Guten, 
auch viel Unheil über uns gebracht. Sie haben die westliche Mensch- 
heit niedrig gesinnt gemacht. Der ekle Materialismus unserer Tage 
ist das Enkelkind des mittelalterlichen Strebens nach dem Himmel- 
reich, die immer ernstlicher drohende Herrschaft der rohen Plebs 
über alle feineren und geistigeren Elemente eine unmittelbare Kon- 
sequenz dessen, daß die Armen im Geist über ein Jahrtausend 
lang selig gepriesen worden sind. Sie haben es schließlich geglaubt, 
daß sie die einzig-wertvollen sind, und ziehen nun die praktischen 
4* 
52 Materialismus und Himmelsstreben; Akklimatationsfähigkeit. 
Folgen aus ihrem Glauben. — Die religiösen Führer Indiens haben 
gewußt, was ihre Erleuchtungen bedeuteten; sie haben sich alle 
Mühe gegeben, Mißdeutungen der Zukunft vorzubeugen, wohl- 
wissend, wie verderblich solche werden müssen in Anbetracht der 
wesentlichen Paradoxie (vom Standpunkte der Welt) aller spiri- 
tuellen Wahrheiten. So kommt es, daß der durchschnittliche Bud- 
dhist, was immer seine Nachteile sonst seien, eines edleren Geistes 
Kind erscheint als sein Bruder im Westen. — 
Es ist Zeit, daß ich mich wieder einmal meinem Körper zu- 
wende und untersuche, was aus ihm in dea Tropen geworden 
ist. Ich finde ihn nicht unwesentlich verändert. Mit ihm ist 
Gleichartiges vorgegangen wie mit meiner Seele : auch er hat sich 
buddhaisiert. Auf die äußeren Einflüsse reagiere ich anders als 
sonst, genieße und leide in anderer Form, habe andere Bedürfnisse, 
und die fortschreitende Metamorphose bringt mich dem Singhalesen 
näher von Tag zu Tag. Sicher würde ich schon heute im Fall 
einer Erkrankung andere Heilmittel anzuwenden haben als daheim ; 
aller Wahrscheinlichkeit würden sich mir ceylonesische Hausmittel 
bald wohltätiger erweisen als die Rezepte unserer Tropeninstitute. 
Aber von einer Verrückuhg des Gleichgewichts ist nicht die Rede. 
Also besteht für mich kein Zweifel mehr, daß die Akklimati- 
sationsfähigkeit ganz vom Grade des Einbildungsvermögens abhängt. 
Daß Bewohner heißer Landstriche im Norden besser fortkommen als 
das Umgekehrte geschieht, daß die meisten Tropentiere ein nor- 
disches Klima gut vertragen, während es die nordischen in den 
Tropen selten lange aushalten, liegt — wenn ich von spezifischen 
Verhältnissen absehe — daran, daß kargere Lebensbedingungen die 
Vitalität unter allen Umständen anregen, während allzu üppige nur 
von dem vertragen werden, der von Geburt an auf sie eingestellt ist. 
Aber das Tier hat auch wenig freie Phantasie. Der Mensch, der 
solche in genügendem Maße besitzt, sollte in jedem Klima existieren 
können, und kann es auch. Er muß bloß seine Lebensweise 
dessen jeweiligen Besonderheiten anpassen, damit das biologische 
Gleichgewicht nicht aufgehoben wird, und dieses lehrt jeden Ein- 
bildungskräftigen der Instinkt. Freilich kommt der Phantasielose bei 
solchem Experimente um. Gleichwie das Tier, dessen Sosein sein 
einzig möglicher Ausdruck ist, in ungewohnten Verhältnissen schnell 
Stoicismus und Proteustum. 53 
verkümmert, vermag sich kein wandlungsunfähiger Nordländer in 
den Tropen zu behaupten. Interessant ist nun, in diesem Zu- 
sammenhange zu beobachten, wie hier der Engländer trotz bei- 
behaltener britischer Lebensweise — an sich der ungesundesten, 
die für die Tropen denkbar ist — doch leidlich gedeiht. Das 
liegt an nichts anderem, und ist zugleich ein neuer Beweis dafür, 
daß der Brite von allen Europäern die konzentrierteste Einbildungs- 
kraft besitzt. Es gibt nämlich zwei Arten von Starrheit: eine, 
die dem Unvermögen entspringt, und eine andere, die äußerste 
Gespanntheit bedeutet. Die letztere Art ist von den Stoikern 
her bekannt genug: den Weisen bringt nichts außer Gleich- 
gewicht, weil er ganz in sich selbst geschlossen ist. Bei dem nun, 
dessen Körper es in allen Breiten ohne Umwandlung unbeschadet 
aushält, handelt es sich augenscheinlich um ein gleiches. Dank 
jahrhundertelanger physischer Kultur ist der britische Organismus 
so sehr zu einer Welt für sich geworden, daß er durch äußere Um- 
stände nur langsam, wenn überhaupt, beeinflußt wird. Deswegen 
ist es für ihn wirklich wichtiger, auf seine persönlichen Neigungen 
als auf das Klima Rücksicht zu nehmen. — Diese Anlage des Eng- 
länders ist zum praktischen Leben von allen die günstigste ; schon 
wegen der außerordentlichen Vereinfachung des Lebensproblems, 
das sie bedingt. Aber wer der Erkenntnis lebt, mag seinem 
Schöpfer danken, daß seine Phantasie noch nicht zur Kohäsions- 
kraft ward, sondern sich in der Wandelbarkeit äußert. Auch er be- 
findet sich ja, dank seiner Plastizität,, mit der Welt in dauerndem 
Gleichgewicht, und das seinige ist das zuverlässigere insofern, als 
keine erlittene Störung etwas Ernstes zu bedeuten braucht, was 
beim Starren fast immer der Fall ist. Aber vor allem ist der Beweg- 
liche allein imstande, den Eigen-Sinn seiner Umgebung zu erfassen, 
weil er allein von ihm unmittelbar berührt und in Mitleidenschaft 
gezogen wird. 
Gestern, um Sonnenuntergang, sah ich Vögeln von Schreiadler- 
größe zu, welche schaarenweise, in reiherartigem Flug, tal- 
einwärts zogen ; und erkannte dann plötzlich, daß es nicht 
Vögel, sondern — Fledermäuse waren ; fliegende Hunde. — Wie 
wenig einen inmitten der tropischen Natur das Unerwartete doch 
überrascht! Augenscheinlich ist die Psyche hier in gleichem Maße 
54 Stärke- tropischer Gegensätze. 
auf die stärksten Gegensätze eingestellt, wie dies der Körper auf die 
zwischen Licht und Schatten ist, so daß das Seltsamste normal erscheint. 
Würde es mich überraschen, wenn mir im Dschungel ein Gott ent- 
gegenträte? Kaum. Denn unglaubwürdiger könnte er kaum wirken, 
als es so viele Geschöpfe tun, die täglich vor mir ihr Wesen treiben. 
Die Spannweite des Möglichen ist in den Tropen so groß, daß der 
Mensch das Überrascht- und Entsetztsein bald verlernt. Der objektiv 
schroffste Gegensatz, den ich bisher gewahrt, ist der zwischen dem 
lieblich blauenden Meer, das gegen die Palmenbestände von Mount 
Lavinia anplätschert, und den furchtbar gepanzerten, boshaften 
schwarzen Krabben, die zu hunderten am Gestade seitwärts einher- 
chassieren. Kein Tier figurierte besser in der Hölle ; sicher riefe es 
am nordischen Strand in meiner Seele die schrecklichsten Bilder 
wach. An dem von Ceylon konnte ich mich seiner nur freuen. Ich 
mochte mir die Krabben vielhundertmal vergrößert vorstellen — im 
allgemeinen das sicherste Mittel, um das Gruseln zu erlernen — sie 
wurden cjadurch nicht furchterweckender. So werden die Riesen- 
Echsen der Vorwelt, die, in unsere Natur hereinversetzt, Angst und 
Schrecken um sich verbreiten würden, in ihrem natürlichen Milieu, 
das noch viel stärkere Kontraste in sich beschlossen haben muß, als 
heute die Tropenwelt, vielleicht als liebliche Erscheinung gewirkt haben. 
Morgen trete ich eine Wagenfahrt durch das Innere Ceylons 
an. Die letzten Tage über habe ich ausschließlich der 
Naturbeobachtung gelebt, um nicht gar zu unerfahren und 
ungewitzigt in den Dschungel einzuziehen. Ich finde es über Er- 
warten schwierig, im Lichte der Tropensonne zu sehen: die über- 
große Belichtung gleicht alle Nuancen dermaßen aus, daß noch so 
bunte Geschöpfe sich vom farbigen Hintergrunde kaum abheben. 
So scheinen die Wälder um Kandy mir unbelebter zu sein, als alle, 
die ich bisher sah. 
Heute ist es mir nun endlich geglückt, nachdem ich an die 
hundert Steine umgewälzt und viele faule Baumstämme durchge- 
stöbert, einen jener großen Tausendfüßler aufzuscheuchen, die in 
den Tropen heimisch sind. Es ist ein scheußliches Tier. Alles an 
seiner Gestalt widerstrebt den positiven Tendenzen der Menschen- 
natur; jede seiner Eigenschaften, dem Menschen angedichtet oder 
ins Menschliche hinüber transponiert, würde ihn zum Ungeheuer 
Der Tausendfuß und die Vollkommenheit. 55 
machen ; und es nimmt mich wunder, daß die Primitiven des Bud- 
dhismus, welche die Vogelspinne so weise zur Ausstattung ihrer 
Hölle zu verwenden wußten, dieses Untier übergangen haben. Ja, 
scheußlich ist die Skolopender ; und doch könnte es mir nicht ein- 
fallen, ihre Existenzberechtigung in Frage zu stellen, wie dies ver- 
fehlten Exemplaren der Menschheit gegenüber mein erster Ge- 
danke ist: sie ist vollkommen in ihrer Art. Gesteht man die Voraus- 
setzung dieser Schöpfung zu, dann muß man auch einräumen, daß 
sie vortrefflich ausgeführt ist. 
Woher weiß ich, daß der Tausendfuß vollkommen ist? Be- 
sondere Gründe kann ich nicht anführen ; aber der Sachverhalt 
ist evident, wird jedem evident erscheinen, der die Fähigkeit hat, 
sich in andere Wesen hineinzuversetzen. Es ist etwas überaus Merk- 
würdiges um diese Evidenz, welche aller Vollkommenheit eignet: 
denn sie drängt sich innerhalb gebührender Grenzen auch dem Un- 
einsichtigsten auf. Kein Beispiel erweist dies wohl deutlicher, als 
das des Engländers. So oft ich mit Vertretern dieses Volkes zu- 
sammen bin, frappiert mich der Gegensatz zwischen der Dürftigkeit 
ihrer Anlage, der Begrenztheit ihres Horizontes mit der Anerken- 
nung, die sie mir wie jedem anderem abnötigen. Selbst die be- 
deutenderen unter ihnen (die hochbedeutenden bleiben hier wie 
überall natürlich außerhalb des Rahmens genereller Betrachtung) 
sind als geistige Wesen schwer ernst zu nehmen, sie wirken auf 
mich wie die Tiere, die mit einer Anzahl unfehlbarer Instinkte 
ausgestattet, einen Ausschnitt der Wirklichkeit vollkommen be- 
herrschen, im übrigen aber blind und unfähig sind. In ungeheurem 
Maße fehlt es ihnen an Originalität, so ursprünglich sie anderer- 
seits sind ; einer denkt, empfindet, handelt wie der andere, keines 
Seelenleben birgt Überraschungen. Aber genau im selben Sinne wie 
die Tiere, muß ich auch die Briten unbedingt gelten lassen: sie 
stellen, so wie sie sind, die vollendete Erfüllung ihrer Möglichkeit 
dar ; sie sind ganz, was sie allenfalls sein könnten. Dies ist denn der 
Grund ihrer Überzeugungskraft, ihrer Überlegenheit über die übrigen 
Völker Europas (die sich zurzeit vernünftigerweise nicht bestreiten 
läßt) des ansteckenden Charakters ihrer Eigenart: sie allein unter 
allen Europäern sind in ihrer Art wirklich vollkommen, und vor der 
Vollendung beugt sich jedermann. Des Deutschen so viel reichere 
Naturanlage hat ihre Form noch nicht gefunden: so wird er 
ohne zwingenden Grund noch nirgends gelten gelassen. Daß Voll- 
56 Grund der englischen Überlegenheit; Dembull. 
endung aber auch für ihn im Bereich des Möglichen liegt, 
beweist der eine, einzige Typus des Deutschen, der bisher einen 
vollkommenen Ausdruck bezeichnet: der österreichische Aristokrat. 
Dieser mag nicht allzuviel taugen ; bei ihm mag, wie dies bei Kühen 
so leicht geschieht, die Züchtung auf „Form" die „Leistung" be- 
einträchtigt haben : immerhin ist er vollkommen in seiner Art. So 
wird er denn auch allerorts wie selbstverständlich gelten gelassen, 
er wird umschmeichelt, nachgeahmt, hochgeschätzt, und der hoch- 
mütige Brite als erster bewirbt sich um seinen Verkehr. 
DEMBULL. 
Diese erste Etappe meiner Wagenreise durch das Land werde 
ich sobald nicht vergessen. Eine langwierige Fahrt durch 
schweigende Urwälder ; dann einen steilen kahlen Berg 
hinan, in dessen Gipfel die Felsentempel eingehauen sind. Rings- 
herum Wald, so weit das Auge reicht; seine äußersten Vorposten 
reichen mit ihren Wipfeln noch bis zum Vorhof der Tempel von 
Dembull und die graue Kuppe wirkt gar trotzig inmitten des Grüns. 
Das Beeindruckendste ist aber das Innere der Heiligtümer: im toten 
Stein hat sich, vom Menschengeiste hinverpflanzt, eine wundersame 
Flora angesiedelt. Hunderte von bunten Buddhas blühen dort fried- 
voll nebeneinander; unter ihnen aber sproßt hie und da, wie in das 
bestgepflegte Beet mitunter Unkraut hineingelangt, ein üppiger 
Hindugott auf. So kann sich die Natur nicht verleugnen. Nichts 
scheint dem Geiste des Überwinders weniger entsprechend, als 
solche Flora von Heiligenbildern, vor denen der Gläubige sich 
betend neigt ; Gautama selbst hätte sie wohl vernichten lassen. Und 
doch haben die Singhalesen Recht, die zwischen diesem lieblichen 
Garten und Buddhas ernster Predigt keinen Widerstreit erkennen 
können. Der Blumenflor bedeutet nichts anderes, als die Lehre von 
der Nichtigkeit des Daseins ; es ist diese Lehre selbst, in der Sprache 
des Tropengürtels ausgedrückt. 
Ein liegender Buddha, roh aus dem Felsen herausgemeißelt, 
wirkt als Wesen für sich. Einsam ruht er unter seinen sitzenden 
Doppelgängern, wirkt so einsam unter ihnen wie die kahle Berg- 
Vielheit und Einheit ; Der tropische Urwald. 57 
kuppe inmitten des Grüns. Und doch scheint er nicht vereinzelt 
zu sein und nicht von anderer Substanz als sie. Nur scheinbar ist er 
ein Wesen für sich. So hat wohl Gautama selbst seine Persönlich- 
keit aufgefaßt: so einzigartig, einsam, übermächtig sie seinen Jün- 
gern vorkommen mochte — er wußte, daß er nur an der Oberfläche 
ein Abgesondertes war. Längst lebte sein Bewußtsein in jener 
Tiefe, wo alle Vielheit im Einen sowohl erfüllt als aufgehoben ist 
Lange habe ich vor diesem Bilde geträumt. Wie ich zum Tore 
hinausblickte, über die Wipfel der Bäume hin, da gewahrte ich 
Scharen von Affen, die in lautlosem Seiltanz ihrer Abendäsung 
nachkletterten. 
DURCH DEN DSCHUNGEL NACH 
HABARANE. 
Wie arm ist doch das Auffassungsvermögen des Kultur- 
menschen ! Außer den ganz sinnfälligen, aufdringlichen, 
groben, entgehen mir alle Unterschiede zwischen den 
Zonen des Dschungels ; und voller Neid gedenke ich des Ele- 
phanten, der in wilder, niebetretener Gegend ebenso sicher seinen 
Weg findet, wie unsereiner auf der Chaussee, nachdem er den 
Wegweiser befragt. Daheim, in den Wäldern des Nordens, wo 
das Jägerauge auf Nuancen eingeübt ist, kenne ich mich noch 
einigermaßen aus, hier bin ich von vornherein verirrt. Ich wüßte 
nicht zu erklären, weshalb gewisse Vögel nur an dieser Stelle vor- 
kommen, wo es dort nicht viel anders aussieht ; weswegen an 
gewissen Punkten, und nur dort, auf einmal hunderte von Faltern 
aufflattern. Ich bin eben blind. Aus den Augen begnadeterer Ge- 
schöpfe betrachtet, erschiene der Urwald nicht minder deutlich auf- 
geteilt, wie aus den meinigen gesehen St. Petersburg. Sogar vom 
Ozean gilt dies. Wo die Empfänglichsten der Menschen über die 
Großartigkeit des Einförmigen Betrachtungen anstellen, handelt es 
sich in Wahrheit um ein vielfach gegliedertes Reich, nicht ein- 
förmiger als der Urwald. Während der Fahrt durch den indischen 
Ozean fiel mir auf, daß nur von gewissen Stellen die fliegenden 
Fische in Scharen aufgingen, um nach Überschreitung bestimmter 
58 Der Schematismus des Menschengeistes. 
Grenzen ganz zu fehlen ; daß dort wiederum und nur dort, Me- 
dusen zu Hunderten das Wasser röteten, nur strichweise Delphine 
ihr anmutiges Spiel trieben : sicherlich fallen diese Verbreitungs- 
bezirke mit den Umrissen verschiedener Konformationen zusammen. 
Ich aber bin zu blind, um ihrer gewahr zu werden. 
Was sieht denn unsereiner? Nur das, was menschlichen Bedürf- 
nissen entspricht. In der Stadt, auf der Straße, auf dem Acker, mag 
er damit das Wichtigste wahrnehmen, ganze Länder sogar, wie Hol- 
land und Japan, die dem Menschen ihren Grundcharakter verdanken, 
im wesentlichen richtig auffassen. Wo die Natur in keinem not- 
wendigen Verhältnis zum Menschen steht, dort versagt dieser Maß- 
stab vollständig ; dort sind alle unsere Schemen und Systeme von 
ihrem Standpunkte aus Narretei. Wie töricht ist doch die Rubri- 
zierung, die wir mit dem Sternenhimmel vorgenommen haben ! — 
Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich bis heute, obgleich ich so 
manche sternklare Nacht zum Himmel aufgeschaut, das „südliche 
Kreuz" noch nicht entdeckt habe. Freilich habe ich es mir mit Ab- 
sicht nicht zeigen lassen : wäre es mir einmal gewiesen worden, die 
fraglichen Gestirne hätten sich auch für mein Bewußtsein für immer 
zusammengefügt, wie denn der Unselige, der einmal auf die Ähn- 
lichkeit eines Gipfels mit Napoleon aufmerksam gemacht ward, hin- 
für verdammt ist, den Berg dem Schema entsprechend zu sehen : so 
gierig zwängt der Mensch, wo immer es geht, menschliche Ver- 
knüpfungen den außermenschlichen auf. Aber so viel bleibt wahr, 
kann keiner mir nehmen : von selbst habe ich das südliche Kreuz 
nicht entdeckt, welches beweist, daß mein Geist seine Unbefangen- 
heit noch nicht ganz verloren hat. 
AM MINNERI-SEE. 
Dieser Urwaldsee hätte mir in meinen Kindheits- und Jüng- 
lingstagen, da ich, aller Bücherweisheit abgeneigt, mein 
ganzes Glück im Beobachten, Jagen und Zähmen der Tiere 
fand, das Paradies auf Erden bedeutet. Stunden hindurch habe ich 
an seinen Ufern entlang gepürscht und immer wieder neue Ge- 
schöpfe zu sehen bekommen. Auf den Sandbänken lagen, faulen 
Die Vollkommenheit des Tiers. 59 
Baumstämmen gleich, Krokodile, von Stelzvögeln bewacht; Kuh- 
reiher und Rohrdommeln weideten unter den Büffeln, Fisch- und 
Silberreiher standen auf Halbinselvorsprüngen und Baumwipfeln ; 
auf dem Wasser schwammen Scharen von Pelikanen, in den Lüften 
wiegten sich Weihen und Adler, von denen eine mir ganz unbe- 
kannte Art — silberweiß mit dunkelen Deckfedern — zu den schön- 
sten aller Raubvögel gehört. Der Grundton des Bildes aber ruhte 
auf den Schlangenhaisvögeln, deren stilisierte Gestalten und heral- 
dische Stellungen dem Ganzen ein mythisches Gepräge gaben. 
Wie wohl es tut, in einer Welt zu weilen, die am fünften Tage 
fertig erschaffen war! Hier scheint alle Kraft noch ungebrochen, 
hier ist alles ursprünglich, alles echt. Das sind unter Menschen nur 
noch Kinder und dann die ganz Großen, Seltenen ; der meisten Er- 
scheinung sagt über das Wesen gar nichts aus. Tiere sind immer 
vollkommen, immer ganz das, was sie sein könnten ; sie sind ein 
erschöpfender Ausdruck ihrer Möglichkeit. Man sagt daraufhin, 
sie seien so gebunden. Gewiß sind sie gebunden, aber das ent- 
wertet sie nicht. Nicht insofern bedeutet unsere größere Unge- 
bundenheit einen Vorzug, daß diese als solche das Ideal wäre, 
sondern daß uns mehr als eine Vollendungsmöglichkeit offen 
liegt; auch beim Menschen bedeutet Vollendung das Höchste, Voll- 
endung aber bedingt Gebundenheit. Wir stellen den Menschen, 
welcher notwendig handelt, aus innerem Gesetz heraus, über den, 
welcher der Willkür gehorcht ; wir schätzen den Gedanken am 
höchsten, dessen Fassung abschließt. Und gleiches gilt von der 
Kunst, von jeder Lebensäußerung überhaupt. Auch unter mensch- 
lichen Voraussetzungen ist das Ideal im Gebundenen, nicht in der 
Ungebundenheit belegen. Was unsere Voraussetzungen von denen 
des Tiers unterscheidet, ist also nicht das Ideal ; es sind die Elemente, 
vermittelst derer es verwirklicht werden soll. Ist dem aber also, dann 
weiß ich nicht, wie die Gebundenheit des Tiers, das in seiner Ein- 
deutigkeit immer vollendet ist, zum .Beweise seiner Uninteressant- 
heit angeführt werden kann: gerade deshalb ist es interessant, 
interessanter als alle unvollkommenen Menschen. Den Mann, der 
als Persönlichkeit auf der Stufe stände, wie als Naturprodukt jeder 
Schlangenhalsvogel des Minneri-Sees, den würde ich als Halbgott 
verehren. . . . Sicher verdanke ich den Tieren mehr Belehrung und 
Anregung, als den meisten Menschen, mit denen ich länger verkehrt 
habe. Menschen sind allzuleicht zu übersehen ; gar zu undicht ge- 
60 Tiere interessanter als Menschen. 
säet sind die Exemplare, zu deren Verständnis es einer Erweiterung 
der vorhandenen Begriffsmittel bedarf, während das geringste Tier 
solche Erweiterung unbedingt erheischt, wenn sein Wesen begriffen 
werden soll. Wer ein niederes Seetier verstehen will, muß sich in 
eine Bewußtseinsart einfühlen, die sich allenfalls der eines gesteiger- 
ten Magens vergleichen läßt: bei sehr bestimmtem Reagieren auf 
spezifische Reize, bei außerordentlicher physiko-chemischer Ein- 
bildungskraft doch als oberste Synthese nur ein unbestimmtes All- 
gemeingefühl ; der Krebs ist keine Einheit, sondern eine Zwei- 
oder Dreiheit ; sein Bewußtsein ist nicht in unserem Sinne zentrali- 
siert. Wer in die Seele eines Fuchses eindringen will, dem muß es 
gelingen, das Geruchsvermögen als Zentralsinn zu erleben und alle 
Eindrücke in eben dem Verstand auf dieses zu beziehen, wie dies 
beim Menschen mit dem Lichtsinne geschieht ; beim Vogel stellt sich 
die Aufgabe wiederum anders usw. Hierher rührt es, daß wohl alle 
wesentlichen Geister die „Natur" menschlicher Gesellschaft vorge- 
zogen haben: wenn diese einschränkt, so macht jene frei; sie hilft 
hinaus aus den Schranken des Menschentums. Damit aber steigert 
sie sein Wurzelbewußtsein. An der Wurzel ist nämlich alle Schöpfung 
eins. Und aus der Wurzel stammt alle Kraft der höchsten Triebe. 
Wie wunderbar schön ist der Abend ! Der See spiegelt das 
letzte Licht des westlichen Himmels wieder. Seeschwalbengekreisch, 
vielstimmiges Froschgequake tönt zu meiner Herberge herauf, und 
majestätisch fliegen die letzten Pelikane dem Walde zu. In nächster 
Nähe steht ein Rudel wilder Elephanten ; schon habe ich sie brechen 
gehört. Der braune Wirt hat versprochen, mich zu wecken, falls 
sie in der Nacht auf die Fläche heraustreten sollten. 
Noch einmal bin ich auf den Spielplatz der Tiere hinausge- 
wandert. So manchen prächtigen Adler habe ich beschlichen, 
Legionen von Wasservögeln aufgescheucht. Jedesmal aber, 
wo ich aus dem Sumpf in den Dschungel einbog, ward es lebendig 
in den Baumkronen von langgeschwänzten Affen, die in flugartigen 
Sätzen vor mir die Flucht ergriffen. 
Wunderbar, wie viel man durch solche Stunden ausschließlichen 
Schauens gewinnt ! Vom Geiste her betrachtet, liegen eben die Bilder 
der Wirklichkeit auf einer Ebene mit den Schöpfungen der Phantasie, 
so daß zwischen Erfahrungen und Einfällen kein wesentlicher Unter- 
Anschauungen und Einfälle. 6 1 
schied besteht. Wer offenen Sinnes beobachtet, ist eben so lange 
produktiv ; wer alles bemerkt hätte, der hätte aus eigener Kraft die 
Welt noch einmal erschaffen. Nun braucht aber die Seele eine reiche 
und mannigfaltige Nahrung, wenn sie gedeihen und sich aufsteigend 
entwickeln soll, und kein Gehirn ist so produktiv, daß es solche aus 
sich heraus in genügender Menge beschaffen könnte: deshalb kann 
keiner es sich unbeschadet leisten, von seinen Einfällen allein zu 
existieren. Äußere Erfahrung ist unbedingt vonnöten, auch noch des- 
halb, weil der Geist nie frei wird, wo er sich ständig von eigenen 
Produkten umgeben sieht. Alle die, welche sich ganz in ihre eigenen 
Welten einspinnen, verkümmern, und seien diese Welten noch so 
weit ; ihr Innenleben wird nicht reicher, sondern ärmer ; sie ver- 
knöchern mehr und mehr in ihrer Eigenart. Das habe ich an mir 
selber erfahren. Während der Jahre, die ich in Großstädten zu- 
brachte, hatte ich mich des Schauens beinahe entwöhnt, da deren Ge- 
triebe mein Interesse nicht fesselt. Die Folge davon war, daß meine 
Ideen auszukristallisieren begannen, so daß ich Gefahr lief von ihnen 
eingekerkert zu werden. Beinahe wäre ich, mit siebenundzwanzig 
Jahren, in einem selbstverfertigten System erstickt. . . . Glücklicher- 
weise ward ich der Gefahr noch, ehe es zu spät war, gewahr. Jetzt 
zwinge ich mich zur Beobachtung, auch wo ich wenig Neigung dazu 
verspüre; jetzt pflege ich das bischen Neugierde, das mir noch übrig 
geblieben ist und weiß jedem Eindruck Dank, der meine Hirn- 
gespinste zerreißt. 
Ja, man muß schauen können . . . kann ichs wirklich? In dem 
Sinn und Maße, wie ich wollte, kann ichs nicht. Mehrfach habe ich 
die Absicht gehabt, irgendeines der erschauten Wunder zu be- 
schreiben, und dann jedesmal erkennen müssen, daß ich dazu nicht 
imstande bin. Also habe ich sie nicht wirklich erschaut. Gewiß ist 
es nicht wahr, daß Empfinden Ausdrucksfähigkeit bedingt — Er- 
lebens- und Schöpferkraft gehören verschiedenen Dimensionen an — 
wohl aber liegen, wie ichs schon niederschrieb, Anschauungen und 
Einfälle, vom Geist her betrachtet, auf einer Ebene, so daß einer 
nur das wirklich auffaßt, was ihm auch hätte einfallen können. Mir 
nun fielen Einzeldinge niemals ein, also kann ich sie auch außer mir 
als solche nicht sehen. Meine Einbildungskraft führt das Einzelne 
reflektorisch auf seinen inneren Grund zurück, von welchem aus 
nicht das Ding als das Eigentliche erscheint, sondern dessen Mög- 
lichkeit. Daß diese Deutung meiner Auffassungsart richtig ist, er- 
62 Verschiedene Formen des Auffassungsvermögens. 
weist die Gegenprobe, die am Erinnerungsvermögen angestellt wer- 
den kann. Schon vor Jahren meinte ein geistreicher Freund, ich 
würde auf dem Jüngsten Gericht mit einem Sekretär zu erscheinen 
haben: so schlecht wäre mein Gedächtnis für die Episode. Ich kann 
wirklich nichts Einzelnes behalten, keine Fabel, keinen fait divers ; 
umgekehrt aber scheine ich außerstande, einen allgemeinen Zu- 
sammenhang zu vergessen. Nur im Augenblick der produktiven 
Spannung stellt sich Gedächtnis für Einzelheiten ein. — Was habe 
ich nicht gegen diese Beschränkung angekämpft ! Wieder und wieder 
habe ich versucht, zu Besonderem ein inneres Verhältnis Zugewinnen, 
mich in ein Einzelwesen, ein Bild, eine Zeit vollkommen und 
dauernd einzubilden ; wieder und wieder habe ich mich dem Ein- 
flüsse von Geistern hingegeben, welche das, was mir abgeht, ver- 
mochten — es war umsonst. So habe ich mich bei der Erkenntnis 
bescheiden müssen, daß es ein Mißverständnis bedeutet, seine 
empirischen Grenzen als solche sprengen zu wollen ; man muß zu- 
sehen, wie weit man in ihnen und mit ihnen kommt. 
Es herrscht noch viel Unklarheit unter Psychologen und Ästhe- 
tikern über die verschiedenen Arten des Auffassungsvermögens, 
Malern wird häufig Tiefsinn zugesprochen, Philosophen malerische 
Anschauungskraft. Solche Urteile sind meistens falsch. Wer die Er- 
scheinung vollkommen darstellt, wie dies der große Maler und 
Dichter tut, bringt eben damit auch ihren geistigen Gehalt zum Aus- 
druck — doch seine Seele braucht nichts davon zu wissen. Wer 
umgekehrt den inneren Sinn erfaßt, übersieht implizite die Erschei- 
nung — aber er braucht ihrer nicht faktisch gewahr zu sein. Das 
interessanteste Beispiel dieser Art bietet Leo Tolstoy. Ich kenne keine 
tiefergreifende Darstellung des Menschenlebens als dessen Epos 
vom großen Franzosenkrieg, doch ich weiß, daß Tolstoy als Person 
jeder philosophische Tiefsinn gefehlt hat. Wie den meisten Russen (und 
allen noch jungen undifferenzierten Rassen) fehlte Tolstoy die Gabe 
der intensiven Abstraktion, die Fähigkeit, das Besondere im allge- 
meinen zusammenzufassen, welche Fähigkeit den Tiefsinn definiert 
Dafür besaß er das Falkenauge des Wilden. Stellt nun einer eine Er- 
scheinung, die er nur sieht, nicht versteht, vollkommen als solche 
dar, so wird der tiefsinnige Leser die Darstellung unweigerlich als 
tiefsinnig beurteilen — ja größere Tiefen in ihr entdecken, als bei 
an sich profunderen Poeten, deren Auge aber weniger scharf und 
unbefangen sah. 
Vom Wesen der Ruine. 63 
POLLONARUWA 
Noch nie haben die Überbleibsel vergangener Herrlichkeit 
einen solchen Eindruck auf mich gemacht, wie die Ruinen 
der Residenz des Königs Parakrama. -Nicht wegen ihrer 
künstlerischen Vollendung: sie sind schön, doch habe ich schönere 
gesehen. Die Stärke des Eindrucks beruht darauf, daß es mir 
noch nie vergönnt war, Monumente zu schauen, welche die spezi- 
fische Schönheit der Ruine, die durch ganz andere Gesetze bedingt 
wird, als die künstlerische, so vollendet zum Ausdruck brächten. 
Ruinen üben ja nicht bloß deshalb einen größeren Zauber aus, als 
wohlerhaltene Kunstwerke, weil sie der Seele im Bilde der Ver- 
gangenheit die Idee der Vergänglichkeit vermitteln ; auch nicht nur 
deshalb, weil das Verwitterte gleich dem Unvollendeten als solches 
anregend wirkt (es treibt den Geist in der Vorstellungswelt zu er- 
gänzen, was an der Wirklichkeit fehlen mag) : der eigenste Zauber 
der Ruine beruht darauf, daß hier das Schaffen des Menschengeistes 
in die kosmischen Kräfte eingereiht erscheint und so einen unend- 
lichen Hintergrund hat, statt des begrenzten einer Persönlichkeit 
oder einer Zeit. Ein Tempel in Marmor- und Goldschmuck mag ein 
Höchstmaß menschlicher Bildungskraft verkörpern: wenn die Zeit 
seine Oberfläche zernagt hat, wenn die Umrisse die Spuren ewig 
tätiger Naturkräfte zur Schau tragen, dann ist er zum integrierenden 
Bestandteil dieser Welt geworden. So manches Buddhabildnis, das 
die Höhlentempel Ceylons aufbewahren, bringt die Seele der bud- 
dhistischen Gemeinde verherrlicht zur Erscheinung. Allein die Ko- 
losse zu Gal Vihare, deren Oberfläche längst den Charakter 
der Umgebung angenommen hat, bedeuten mehr als das: es sind 
Naturformen, wie die Canons, welche Riesenströme im Laufe der 
Jahrmillionen ausgehöhlt, wie Täler, welche Gletscher ausge- 
schrammt, und die Bildungskraft des Menschengeistes erscheint 
nicht geringer, sondern gewaltiger, wenn sie den Mächten, welche 
Sterne zusammenballen, als ebenbürtige zur Seite tritt. Die Ruinen 
von Pollonaruwa nun wirken als Ruinen großartiger denn alle, die 
ich bisher geschaut, weil die ceylonesische Natur unvergleichlich 
produktiv ist, und geleistet hat, was zu leisten überhaupt möglich 
war. Die Säulen und Tempelreste, die weithin im Dschungel ver- 
64 Der Dschungel und Griechenland. 
streut liegen, sind selber zum Dschungel geworden. Schlingpflanzen 
haben den zerfallenen Mörtel ersetzt, Bäume verfallene Kuppen er- 
gänzt. Die riesenhaften Daghobas sind, wo erhalten, zur Grundlage 
einer neuen Natur geworden. Man sieht eine abgestorbene Ver- 
gangenheit in ewig jugendliches Leben eingefügt, wie das Skelett in 
das blühende Fleisch. 
Unwillkürlich schweifen meine Gedanken nach dem fernen 
Hellas hinüber. Die griechische Natur hält den Vergleich mit der 
tropischen nicht aus; insofern sind die Ruinen jenes Landes nicht 
annähernd so wirkungsvoll als diejenigen Lankas. Dort haben die 
Tempel, als vollkommene Menschenschöpfungen, einst zweifellos 
noch größer gewirkt, als sie es heute als Naturformen tun. Aber was die 
Natur in der Folge nicht hat leisten können, das hat der Griechen- 
geist vorweggenommen. Jedes griechische Heiligtum ist von vorn- 
herein als Teil der Natur geplant worden, in notwendigem Zu- 
sammenhang mit der Umgebung. So wirkt das wenige, was heute 
noch steht, so sehr als Bestandteil der Landschaft, daß der 
Totaleindruck nur insofern von dem, welchen Pollonaruwa erweckt, 
abweicht, als die Ruinen nicht in die lebendige Natur hinein- 
gehören, sondern in die tote der Berge und des Himmels. Meinem 
Naturell ist das Lebendige kongenialer als alle tote Vollkommenheit, 
weswegen der Urwald mir mehr bedeutet als die Akropolis. Aber 
nie ist mir andrerseits die Potenz des Griechengeistes deutlicher 
bewußt geworden, als inmitten einer Natur, die sich Gautamas ver- 
klärte Gestalt hat restlos einfügen können. 
ANURADHAPURA 
Was müssen die alten Könige, welche Ceylons Riesendenk- 
mäler errichtet haben, für Männer gewesen sein! Diese 
Bauten sind keine Monumente eitlen Reichtums, auch 
keine Willkürschöpfungen einer ungebändigten Phantasie : sie atmen 
eine herbe, schlichte Größe, die inmitten des tropischen Über- 
schwangs ringsum beinahe unnatürlich wirkt. Neben der Felsen- 
feste Sigiri, dem Horste des Vatermörders Kassyapa, nehmen sich 
die Burgen Europas wie Kinderspielzeuge aus ; allein das Bad dieses 
Mahinda ; die Tropenluft Individualität s feindlich. 65 
Condottiere ist ein Bau wie ein ägyptisches Königsgrab. Die Da- 
ghobas gleichen natürlichen Bergen, und doch ist es „Geist" im 
höchsten Sinn, der ihren Umrissen seinen Charakter gibt. Aber 
das Wunder der Wunder von Ceylon ist der Fels von Mihintale, 
woselbst Mahinda, König Acpkas Sohn, der große Apostel des Bud- 
dhismus, seine Tage verbracht und abgeschlossen hat. Dessen Zelle 
— eine schmale Terrasse am höchsten Punkte des Berges, von 
Künstlerhand aus dem Stein herausgehauen — ist das Königlichste, 
was ich je gesehen. Von steilen, drohenden Felsen überdacht, fällt 
sie jäh zum Tale ab ; drunten aber breiten sich endlose Urwälder 
aus, deren heiliges Schweigen nur hie und da durch das Trompeten 
des Elephanten unterbrochen wird. Solchen Horst konnte ein König 
allein sich zur Wohnstatt wählen. Es ist unmöglich, ohne innerlich 
weiter zu werden, auch nur kurz in ihr zu verweilen. Unwillkürlich 
stellt sich mir Mahinda in der typischen Stellung des sinnenden 
Buddha dar, riesengroß, wie ihn die Alten im Steine abzubilden 
pflegten : so muß er, unbewegt und mild, auf das blühende Leben 
im Tal hinabgeblickt haben ; als einer, welcher entsagt hat aus der 
Fülle der Macht heraus. 
Wie richtig hat die Legende ihre Worte gewählt, indem sie 
jene Herrscher mit Elephanten und Tigern verglich! Das, gerade 
das sind sie gewesen. Die Treibhausluft dieser Zone bringt in 
der Regel keine großen Individuen hervor, sie ist deren Ge- 
deihen nicht günstig. Der Dschungel ist eine Dickung, kein Wald, 
und seine Fauna ist mehr reich und üppig im allgemeinen, als 
bedeutend was die Sondergestalt betrifft. Wohl scheint hie und da 
ein einzelner Baum mit seiner Krone am Himmel anzustoßen, aber 
sieht man genauer hin, so gewahrt man, daß dieser Riese gar kein 
Einzelner ist: von den Ästen sprießen neue Wurzeln hernieder und 
wo das Auge eine Persönlichkeit zu schauen wähnt, steht in 
Wahrheit ein Stammbaum da. Das klassische Beispiel bietet der 
heilige Bodhi-Baum von Anuradhapura, der nachweislich von einem 
Steckling stammt, den König Acoka aus Buddha-Gaya einst hinge- 
stiftet hatte : dieses älteste Gewächs der Geschichte stellt sich als 
schmächtiges junges . Bäumchen dar; was heute lebt und grünt, 
sind die späten Enkel der einstigen Wipfelzweige, die ihrerseits 
Wurzeln in die Erde hinabgesenkt hatten. Auf Ceylon verläuft das 
Wachstum mit schwindelerregender Geschwindigkeit; ich habe Jahres- 
triebe gesehen, welche 15 mitteleuropäischen Vegetationsperioden 
Keyserling, Reisetagebuch. 5 
66 Tropenhelden als Elephanten ; die Saurier. 
entsprechen würden ; hier sprießen die Bäume wie das Gras. Aber 
mit gleicher Geschwindigkeit sterben sie ab ; wirklich leben tut 
immer nur die Jugend. Gleiches gilt von den Tieren und den 
Menschen. Sie sind dem Typus nach ewig unausgewachsen ; sie 
vermehren sich in beängstigender Fülle, mit rasender Hast, und 
ebenso rasend schnell löst eine Generation die andere ab. Aber diese 
Natur, die zur Bildung von Individualitäten in der Regel weder Lust 
noch Zeit hat, bringt zuweilen doch solche hervor ; es ist, als wäre 
da dem Rade des Geschehens ein Hemmschuh angelegt worden. 
Aus solcher Energiestauung gehen dann Wesen hervor, so ge- 
waltig, so groß, wie kein anderes Klima sie kennt : der Elephant, das 
Nashorn, der Tiger. Auch innerhalb des Menschengeschlechts hat 
sich der Strom des Werdens einigemale in einer Einzelgestalt akku- 
muliert: das waren dann Männer von gewaltigen Dimensionen, die 
der Volksmund mit Recht Elephanten verglichen hat. 
Jetzt verstehe ich, wie in den Jugendjahren unserers Planeten, 
als noch Palmenhaine die Pole krönten, jene Riesengeschöpfe ent- 
stehen und leben konnten, deren Skelette uns heute in ungläubiges 
Staunen versetzen. Könige wie Mahinda, Parakrama Bahu, Duttha- 
gamini waren Wesen ganz anderer Art, als die großen Kaiser des 
Ostens. Diese waren Persönlichkeiten von solcher Potenz, von so 
ungeheuerer Willensintensität, daß ihre Größe von den äußeren Um- 
ständen schier unabhängig schien ; sie schufen die Verhältnisse, die 
ihnen entsprachen. So wie sie dastanden, waien die Tropenkönige 
nicht geringer, vielleicht sogar gewaltiger noch als j ene ; allein ihr 
Seinsgrund lag weniger in ihnen, als in der Natur, deren Bestand- 
teile sie waren ; nur inmitten tropischer Fülle konnten Wesen 
ihrer Sonderart fortkommen. Sie bedurften eines Übermaßes von 
Nahrung, die ihnen ohne ihr Zutun geliefert wurde, eines Mindest- 
maßes von materiellem Widerstand, einer Umgebung, die sich ge- 
schmeidig ihren Wünschen fügte. Nur wo solche Verhältnisse vor- 
lagen, waren sie möglich. Nicht anders stand es einstmals mit 
den Sauriern. Auch diese Riesen waren streng bedingt ; nur in- 
mitten einer noch sehr viel üppigeren Natur, als sie es heute in 
den Tropen ist, konnten sie aufkommen, dauern und gedeihen. Auch 
damals wird die Hauptmasse der Schöpfung schnellwachsend und 
schnell verderbend gewesen sein — ihre Spuren sind dahin. Zu 
desto gewaltigeren Dimensionen wuchsen die seltenen Einzelnen 
heran, die inmitten des Wechsels zur Dauer berufen waren. 
Bedingtheit aller Größe; ein Schlangenheim. 67 
Die Zeiten solcher Größe sind dahin. Zum Unterhalt so 
monumentalen Lebens ist die Natur zu arm geworden. Heute 
scheint nur mehr das Billige den Umständen gemäß. Und was 
das Menschengeschlecht betrifft, so ist das Unterholz zu selbst- 
bewußt geworden, um dem einzelnen Riesen die Bahn noch freizu- 
geben. Es mag sein, daß dieses so gut ist ; ich weiß nicht, was „an 
sich" besser sei — eine indifferente Masse, die gewaltige Einzelne 
hochkommen läßt, oder ein höheres allgemeines Niveau, das ein 
Hinauswachsen über dasselbe nur innerhalb enger Grenzen duldet 
und jeden Schößling aus Gigantenstamm erstickt. Ich wollte, es 
wäre möglich, daß ein hohes allgemeines Niveau und Riesen im 
Sinne der Vorwelt zusammen beständen. Leider scheinen dem 
intime Naturgesetze entgegenzustehen. Man muß sich, man stelle 
sich wie man wolle, für eins von zwei Übeln entscheiden. Da be- 
kenne ich denn, daß ich freudig das ganze Geschlecht der Hasen 
dafür hingäbe, daß mich die Anschauung eines Atlantosaurus noch 
einmal die Kleinlichkeit quartären Daseins vergessen machte. 
Auf meiner Wanderung durch die Ruinen gelangte ich heute 
unversehens vor eine Hütte, in welcher ein junger Engländer 
inmitten vieler Hunderte von Schlangen haust. Ein Exzentrik, 
wie nur Albion solche hervorbringt. Schlangenbändiger, Schlangen- 
jäger, Schlangenfreunde gibt es genug, und zu den letzteren darf 
auch ich mich zählen, denn seit je finde ich ein besonderes 
Wohlgefallen an den vollendeten Kurven dieser Tiere. Aber zum 
näheren Verkehr mit Reptilien bedarf es einer besonderen, dem 
Menschen von Natur nicht liegenden Einstellung, was auch dem 
indischen Schlangenbeschwörer immer anzumerken ist. Dieser Eng- 
länder nun verkehrte mit seinen Hausgenossen, als ob er nicht 
anders könnte, als verstünde sich solcher Umgang von selbst 
Nichts Außerordentliches waren sie ihm : weder bewunderte er 
sie, noch machte er Geschäfte mit ihnen, noch schienen sie ihn 
wissenschaftlich zu interessieren : die ringelnden Tiere bedeuteten ihm 
sein natürliches Milieu. Da waren gewaltige Pythons und wütende 
Brillenschlangen, im vollen Besitz ihrer Giftzähne ; sie alle hatte er 
eigenhändig eingefangen und hantierte mit ihnen vor mir herum, daß 
mir angst und bange dabei wurde. Die Eingeborenen behaupten 
steif und fest, er sei durch einen Talisman gefeit; er aber meinte 
5* 
68 Tobsüchtige und Schlangen ; Macht des Milieus. 
kühl, bei einiger Gewandtheit und Vertrautheit mit ihren Eigenheiten 
seien Cobras ganz ungefährlich. Es schien ihn zu interessieren, als 
ich ihm mitteilte, daß es wirksame Gegengifte gäbe : er selbst hatte 
noch nie von solchen gehört, die Frage auch nie im Geist erwogen. 
Er schrieb sich die Adresse der Anstalt auf, wo das Serum her- 
gestellt wird, doch zweifele ich, daß er sich je hinwenden wird. 
Das wirklich Interessante an diesem Schlangenheim war nun 
dies, daß die Mentalität seines wunderlichen Direktors ein Milieu 
geschaffen hat, in dem die Schlangen im gleichen Zustande harm- 
los erscheinen, wie die Tobsüchtigen und „Unruhigen" in einem 
gutgeleiteten Irrenhaus. Wirklich ungefährlich sind Unruhige ja 
nie, aber in der Anstalt läßt man sie dcjch frei gewähren und 
dort richten sie wirklich kein Unheil an. Ebenso werden auch 
Cobras nie wirklich zahm — sie sind und bleiben stumpf- 
sinnige, sinnlos wütende Geschöpfe, weder der Einsicht noch der 
Zuneigung fähig ; gleichwohl nahm mein Engländer auch die un- 
gebärdigsten unbeschadet in die Hand und wußte solche, welche 
eben noch wütend um sich hauten, nach altbewährter Psychiater- 
praxis schnell zu beruhigen, indem er ihnen die Hand sanft aufs 
Haupt legte und dieses dann sachte niederdrückte. Ja, in seiner 
Gesellschaft konnte auch ich unter den Schlangen mit nur geringer 
Lebensgefahr einherspazieren. Diese Erfahrung rechne ich zu den 
wichtigsten, die ich gemacht habe. Bei intelligenten Geschöpfen, 
wie normalen Menschen und höheren Tieren, erscheint der unge- 
heure Einfluß, den Milieu und Behandlungsart ausüben, nicht weiter 
wunderbar, weil in ihrem Falle psychische Schranken, deren sie sich 
als eines objektiv Wirklichen bewußt werden, ein ebenso Objektives 
bedeuten, wie materielle; wer halbwegs frei ist in seiner Wahl, 
reagiert im Guten wie im Bösen meist so, wie dies den Umständen 
am besten entspricht. Nur stumpfsinnige Tiere sind gleich stumpf- 
sinnigen Menschen in diesem Sinne beeinflußbar. Aber die 
Irrenanstalten und das Schlangenheim, das ich heute besichtigte, be- 
weisen, daß eine Beeinflussung noch möglich ist, wo das Auffassen 
psychischer Schranken kaum mehr in Frage kommt ; sie wirken eben 
objektiv schlechthin, und es hängt bloß von der Intensität der Ein- 
Wirkung ab, ob sie eine Verwandlung der Erscheinung zur Folge hat 
oder nicht. Auch für die Cobra ist eine Umwelt denkbar, in der sie 
harmlos erscheint. Nun sind die Unruhigen in der Anstalt, wo sie sich 
gut gebärden, viel glücklicher als außerhalb : also muß das moralisch 
Moralität und Angepa ßtheit. 69 
Bessere irgendwie einem objektiv Zweckmäßigeren entsprechen ; 
was ich mir seinerseits nur dahin zu deuten weiß, daß moralisches 
Verhalten (ich spreche nur vom Verhalten, nicht der Gesinnung!) 
nichts anderes als der natürliche Ausdruck von Angepaßtheit ist. 
Verbrecher untereinander sind gewöhnlich sehr ehrenhaft; ein voll- 
endeter Menschenkenner findet unter noch so unzuverlässigen 
Subjekten treue Diener; der Zufriedene ist selten bösartig: 
lauter Beweise, daß Angepaßtheit moralisches Verhalten bedingt. 
Übersetze ich nun diesen Tatbestand ins Innerliche, oder betrachte 
ich ihn von innen her, so darf ich weiter folgern, daß ein „mora- 
lischer Instinkt", wie ihn das 18. Jahrhnudert postulierte, insofern 
wohl vorliegt, als psychisches Wohlbefinden an äußere Angepaßtheit 
gebunden ist, und ein jeder nach Wohlbefinden strebt. Freilich ist 
dieser „moralische Instinkt" an sich nichts Ethisches ; die Schlange 
ist ganz gesinnungslos ; erst von einer höheren seelischen Entwick- 
lungsstufe ab kann sich der Naturtrieb ethischen Kategorien ein- 
ordnen (auch der psychisch Abnorme gilt uns ja als „unverantwort- 
lich"). Aber sicher bedeutet ethisches Streben nur die Durch- 
geistigung oder Durchseelung einer Tendenz, die als solche schon 
bei der Naja vorhanden ist. 
Hier wurzelte denn der Wahrheitsgehalt der Vorstellung vom 
Paradies. Ohne Zweifel könnte es eine Welt geben, in der in- 
sofern nichts Böses geschähe, als keiner Handlung böse Absicht zu- 
grunde läge. Wir Europäer werden nie ein Paradies erschaffen, 
trotz aller zur Schau getragenen Barmherzigkeit, weil unsere ani- 
malischen Instinkte dazu zu stark sind. Die indisch-buddhistische 
Welt wirkt in vielen Hinsichten paradiesisch. Da der Glaube es ver- 
bietet, den Tieren ein Leid zu tun, stehen diese in keinem Feind- 
schaftsverhältnis zum Menschen ; sie lassen ihn gelten, wie eine 
Art die andere gelten läßt, des eingedenk, daß für alle Platz vor- 
handen ist. Der Tiger wird in Indien weniger gefürchtet, und dies 
mit Recht, als in Europa ein Rothirsch zur Brunstzeit. — Hier 
wurzelt ferner der Wahrheitsgehalt der auf Plato zurückgehenden, 
allen christlichen Mystikern vertrauten aber von den persischen am 
vollkommensten ausgebildeten Theorie, daß die göttliche Liebe 
jedem innewohnt und es von Äußerlichkeiten abhängt, ob sie sich 
äußert oder nicht. Dieses Äußerliche mag die Neigung zu einem 
Weib, der Einfluß kongenialer Umgebung, ein schweres Schicksal 
sein, daß die Seele umkehrt — immer handelt es sich darum, daß 
y 
70 Poesie der Vergänglichkeit. 
das Instrument „Mensch" so gestimmt werde, daß Gott darauf 
spielen kann. Freilich ist es so. 
Noch einmal durchwandere ich die gewaltige Ruinenstadt, mit 
ihren berggroßen Stupas, ihren ungeheuren Palastanlagen, 
ihren mächtig eingedämmten Teichen. Es wird Abend. Vor 
der Ruangweli-Daghoba beten fromme Pilger. Ein Mönch beginnt mit 
getragener Stimme die Liturgie, und die Laien fallen rhythmisch 
ein. Auf dem Altar stehen duftende Blumenspenden. Rings um das 
Heiligtum, soweit der Vorrat reichte, haben die Frommen Kerzen auf- 
gestellt, und nun, wo sie angezündet sind und die Dämmerung zur 
Nacht wird, heben sie sich ab vom steinernen Grund, wie die Sterne 
vom dunkeln Himmelsraum. — Welch' tiefe Poesie liegt im Re- 
liquiendienst! Hier hat ein frommes Volk, von einem frommeren 
Herrscher geführt, in jahrlanger mühsamer Arbeit einen Berg über 
einem Andenken aufgetürmt, auf daß es nie und nimmer zu Schaden 
käme. Wahrscheinlich stammt die Reliquie nicht wirklich vom Buddha 
her: was tut es? Die Hauptsache ist, daß sie der Andacht einen 
Anhalt gebe. Der Liebende zieht oft ein wertloses Andenken dem 
kostbaren vor, weil jenes das, was es bedeutet, am reinsten, weil 
unvermengtesten zum Ausdruck bringt. 
Es ist tief bedeutsam, daß der Reliquiendienst gerade innerhalb 
des Glaubens, der vom Vergänglichen am geringsten denkt, eine so 
große Entfaltung erlebt hat. Je vergänglicher ein Besitz, desto kost- 
barer erscheint er dem Menschen : so hat die Versicherung Buddhas, 
daß es nach seinem Tode mit ihm für immer zu Ende sein werde, 
zum Gegenteil dessen geführt was er beabsichtigt hatte: man hat 
desto mehr an dem festgehalten, was von ihm übrig blieb. Nicht 
nur alle seine Worte hat man treulich aufbewahrt, seine Lehren, 
die Geschichten aus seinem Leben: seine irdischen Reste sind zum 
Kultobjekt geworden, und er selbst ward zum Gotte verklärt. Das 
Volk kann die Nirwänalehre nicht so verstehen, wie der Erleuchtete 
sie verstanden wissen wollte: ihm bedeutet das Nirwana des Voll- 
endeten, daß er der Zeit zwar entrückt, desto ewiger weiter- 
dauert Aber freilich weiß es dieses nicht gewiß; täglich belehren 
es ja die Mönche des Gegenteils. So hat das Gebet an den heiligen 
Stätten den Charakter der Panichide. Eine süße Schwermut durch- 
zittert die Liturgie, wie die Trauer um ein teures Wesen, das man 
selig hofft. 
III. 
INDIEN. 
Mannigfaltigkeit der indischen Menschheit, 73^ 
RAMESHVARAM. 
Wie die Nacht hereinbrach, winkten mich die Brahmanen in: 
den Tempel hinein. Ich folgte ihnen, ohne zu wissen, 
was ich sollte. Da gewahrte ich Pilger ohne Ende, 
Hierophanten und Tempelbedienstete um ikonenhaft geschmückte 
Elephanten, um goldglänzende Wagen und Tragbahren herum sich 
bei Fackelschein zu festlichem Zuge rüsten. Und ehe ich mich dessen 
versah, befand ich mich an dessen Spitze. Vor mir schritten würde- 
voll die Elephanten, sie, die bewährtesten Träger der Tradition ; 
hinter mir folgte die Göttin, hochthronend auf kostbarem 
Palankin. So ging es, bei dröhnendem Paukengerassel, bei grellem 
Klarinettengekreisch, bis tief in die Nacht in feierlichem Rundgang 
durch die herrlichsten Säulengänge der Welt, an deren Wänden die 
aufgereihten Frommen, von den Fackeln sprunghaft belichtet, sich 
ehrfurchterschauernd neigten. 
Welch' wundersame Einführung in das Inderland ! Der Tempel 
zu Rämeshväräm, auf dem südlichsten Vorsprung der Halbinsel ein- 
sam gelegen, meerumschlungen, palmenumstanden, ein Gebäude 
kaum kleiner als die größten der Klöster, die unser frühes Mittel- 
alter erschuf, mit Korridoren, die an Schönheit der Formen und 
Farben auf Erden kaum ihresgleichen finden, soll von Räma selbst 
gegründet worden sein, nachdem er Sita dem Rävana abgerungen 
hatte. Er gilt als zweitheiligste Stätte Hindustans. Wer irgend kann, 
wallfahret von Benares noch hierher. Und wahrhaftig scheint ganz 
Indien hier vertreten. Alle Farben, alle Trachten, alle Typen ge- 
wahre ich, vom dunkelen Tamylen bis zum weißen Kaschmiri, vom 
stolzen Radschput bis zum Sanyassi, dessen Haupthaar zu Filz ver- 
74 Vorst ellungen als selbständige Wesenheiten. 
wachsen ist. Sprachen und Dialekte ohne Zahl durchschwirren ein- 
ander, hundert verschiedene Gesinnungen blicken aus den Ge- 
sichtern, Kaste stößt sich an Kaste, Vorurteil an Vorurteil. Gleich 
reiche Mannigfaltigkeit unter Menschen haben meine Augen noch 
niemals gesehen. 
Was mir auffällt, ist, daß diese noch so verschiedenartigen 
Pilger irgendwie doch eines Geistes sind. In welchem Sinne? Dem 
des Glaubens? Vielleicht sind sie dies, aber das meine ich nicht; 
ich meine etwas, was ich noch nie vorher gewahrt. Ich meine nicht 
das metaphysische Bewußtsein, daß alles äußerlich Geschiedene 
doch innerlich zusammenhängt: so sehr es für „den" Inder charak- 
teristisch sei, bei denen, die hier versammelt sind — meist kleinen, 
einfachen Leuten, ohne Befähigung zur Spekulation — ist es sicher 
nur schwach entwickelt. Was mich bei allen frappiert, ist das Dasein 
einer Bewußtseinslage, die das Auffassen von Wirklichkeiten ermög- 
licht, welche den durchschnittlichen Westländer nicht berühren. 
Diese Pilger verstehen offenbar die Bedeutung der Symbole; und 
es handelt sich bei ihnen nicht um jenen einfältigen Glauben, mit 
dem der ungebildete Katholik sich zum Kult verhält, auch nicht 
um das mittelbare Verständnis des gebildeten, das a posteriori 
aus reflektierter Erkenntnis entspringt : diesen Pilgern scheint das 
Symbol seinen Sinn unmittelbar zu enthüllen ; ihre Seelen scheinen 
unmittelbar von den heiligen Worten (Mantras) berührt. Das setzt 
eine Bewußtseinslage voraus, die von der normal-europäischen 
wesentlich abweicht. Mir ist sie nicht unbekannt. Wer den Akzent 
seines Bewußtseins aus der Sphäre der Dinge in die der Vor- 
stellungen hinüberverlegt, so daß er diese ernster nimmt, als jene, in 
diesen das eigentliche Wirkliche sieht, entdeckt, daß sich ihm 
damit neue Erfahrungsmöglichkeiten öffnen. Während Vorstellungs- 
verknüpfungen sonst ihren Sinn an dem haben, was ihnen draußen 
in der Natur entspricht, offenbaren sie nun einen Eigen-Sinh, der 
völlig unabhängig ist von aller Außenwelt. Nun erweist es sich, daß 
Vorstellungen in doppelter Richtung sinnvoll sein können: einmal 
im üblichen Verstände, als Bilder oder Erkenntnisschemen objektiver 
Wirklichkeit, dann aber auch als unmittelbare Erscheinungsformen 
eines ihnen ursprünglich innewohnenden Sinns. Jeder, der offenen 
Geistes an religiösen Zeremonien teilgenommen hat, wird erfahren 
haben, daß sie verschieden wirken ; daß einige gar nicht, andere 
stark beeindrucken, und dieses, je nach dem Ritus, in verschiedener 
Zeremonien ; Verknüpfung von Sinn und Laut. 75 
Richtung: es scheint Normen für den Ablauf des inneren Erlebens 
zu geben, genau wie es Naturgesetze gibt. Bestimmte Laut- und 
Vorstellungsverknüpfungen scheinen mit hoher Konstanz bestimm- 
ten psychischen Inhalten zu entsprechen. Freilich muß das Bewußt- 
sein in besonderer Lage ruhen, auf daß diese Gesetzmäßigkeit sich 
offenbare ; der moderne Europäer in normaler Seelenverfassung 
spürt wenig von ihr. Von seinem Standpunkt aus hat er nicht Un- 
recht, sie zu leugnen, denn für ihn gilt sie wirklich nicht. Sie gilt 
im selben Sinne nicht für ihn, wie die Gesetze der musikalischen 
Harmonie für den Unmusikalischen nicht gelten. Er wird sich 
der besonderen Beziehungen, die zwischen Lauten und psy- 
chischen Inhalten walten, vielleicht nur mehr im Falle der Musik 
und, seltener, der Poesie bewußt: hier gibt er sich unbefangen 
den Einwirkungen von Rhythmus und Vorstellungsfolge hin 
und erlebt so, was ihm sonst verschlossen bliebe ; während ihn 
religiöse Feiern allenfalls dann ergreifen, wenn eine starke innere 
Erschütterung seine Bewußtseinslage zeitweilig verschoben hat. 
Immerhin : wissen kann es auch er, daß es sich bei den symbolischen 
Handlungen, die im Gottesdienst, uralter Tradition gemäß, voll- 
zogen werden, nicht überall um Willkürverknüpfungen von Sinn und 
Erscheinung handelt. Aber Wissen und Erleben sind zweierlei. Was 
Europäer allenfalls erkennen, gehört zum selbstverständlichen Erleben 
der meisten Pilger, die gläubig in Rämeshväräm zusammengeströmt 
sind. Aus ihren Gesichtern spricht unverkennbares Verständnis für 
den Sinn der Vorgänge, denen sie beiwohnen. Wenn diesen gesagt 
wird, ein bestimmtes Mantra sei Devatä (eine bestimmte Lautver- 
knüpfung stelle den wahrhaftigen Leib der Gottheit dar), das Imagi- 
nieren bestimmter Bilder in bestimmter Folge bringe die beabsich- 
tigte Wirklichkeit tatsächlich hervor, Beschwörungen wirkten, geist- 
liche Übungen verwandelten die Seele, so dürften sie nicht allein 
glauben, sondern verstehen. Sie dürften verstehen, was gemeint ist. 
Auch ich verstehe. Ich weiß, daß das Psychische ein ebenso Objek- 
tives ist, wie das Materielle, daß Vorstellungen ein genau so ent- 
sprechender Leib von Metaphysisch-Wirklichem sein können, wie 
feste Körper, daß es überall möglich ist im Prinzip, vom Geiste her 
den Stoff zu beeinflussen. Allein, daß ich verstehe und weiß, ist 
nicht weiter interessant. Das Bedeutsame ist, daß diese einfachen 
Leute wissen. Sie sind keine Denker, keine Versteher; sie sind 
außerstande, irgendein Wirkliches im Geiste vorauszuerleben. Sie 
76 Indischer Wirklichkeitsbegriff ; Primat des Psychischen. 
müssen wirklich erleben, so wirklich wie sie essen und schlafen. 
Sie müssen, kurz gesagt, zur psychischen Wirklichkeit im gleichen 
Verhältnis stehen, wie der Westländer zur physischen. 
Für heute will ich diese Betrachtungen nicht weiterspinnen ; 
ich will der Erfahrung in der Einbildung nicht vorgreifen. Aber soviel 
drängt es mich doch auszusprechen : wenn die normale Bewußtseins- 
lage frommer Hindus wirklich so beschaffen ist, wie mir heute scheint, 
dann mag ein guter Teil noch so abenteuerlich klingender Behaup- 
tungen ihrer Ritualphilosophie (der Tantra) zutreffen ; wenn die 
Formen, Zeremonien und Inkantationen unmittelbar ihrem Sinn ent- 
sprechend aufgefaßt werden, dann mögen sie leicht „Wunder" 
wirken ; dann mögen sie sämtliche Folgeerscheinungen zeitigen, die 
sie im äußersten Falle zeitigen könnten. Und persönlich zweifle ich 
kaum daran, daß die notwendigen Voraussetzungen zutreffen. Ich 
betrachte die Pilger ringsumher : sie alle haben die Augen von Träu- 
mern, blicken seltsam unaufmerksam in die Natur hinaus. Aber sie 
alle scheinen ebenso aufmerksam auf Beziehungen, die der exakte 
Naturbeobachter übersieht. Ihre eigentliche Heimat liegt in einer 
anderen Welt. Ist diese wirklich? Diese Frage ist schwer zu be- 
antworten, weil der Maßstab, der sonst zu ihrer Entscheidung dient, 
jetzt nicht anwendbar erscheint. Wenn das Psychische als das Pri- 
märe gilt, die Vorstellung als dichteste Wirklichkeit, dann sind 
Träume und Erfahrungen gleichwertig ; dann sind Erfindungen und 
Entdeckungen gleich wahr; dann besteht zwischen Lügen und die 
Wahrheit sprechen kaum ein Unterschied. Von unserem Stand- 
punkte aus würde man urteilen müssen, daß die Inder in der Un- 
wirklichkeit leben, und allerdings versagen sie meistens in dieser 
Welt. Aber damit wäre die Frage nicht erledigt. Jede Bewußtseins- 
lage offenbart eine andere Schicht der Natur. Wer in der des Hindu 
weilt, unterliegt Einflüssen, hat Erfahrungen, Erlebnisse, die andere 
nicht kennen. In seinem Fall treten Kausalreihen in die Erschei- 
nung, die sonst nicht nachweisbar sind. Und wohl mag es sein, daß 
von seiner Ebene aus der Weg zur letzten, tiefsten Selbstbesinnung 
kürzer und gangbarer ist, als von der unserigen her. Hiermit dürfte 
ich .denn wohl den Schlüssel zum Problem der indischen Welt- 
anschauung halten : dem Inder gilt das Psychische als das Primäre, 
ihm ist es ein Wirklicheres als das Physische.«. Vom Absoluten her 
gesehen, ist er mit dieser Akzentverlegung nicht minder im Irrtum, 
wie sein Antipode, der das Physische allein für wirklich hält. 
Menschenopfer; die Extase des Fleisches. 77 
Doch wie der Okzidentale eben deshalb die Materie so tief begriffen 
hat, weil er sie überschätzt, so dürfte der Inder eben deshalb in 
die Welt des Psychischen tiefer eingedrungen sein, als irgendein 
anderer Mensch, weil er nur sie ganz ernstgenommen hat. 
MADURA. 
Der Tempel von Madura bei Nacht ruft Vorstellungen des 
Schreckens in meiner Seele wach. Indem ich mich in den 
düsteren, von Öllampen matt erhellten Gängen ergehe, und 
dem Schattenspiel der seltsamen Gebärden zuschaue, welche die 
Beter um butterbeschmierte Lingams herum vollführen, während 
über mir Scharen von Fledermäusen kreischend und zirpend hin 
und her flattern ; indem ich die vielarmigen Götter betrachte, die 
sich im unsicheren künstlichen Licht so viel furchtbarer ausnehmen 
als bei Tag, muß ich der Riten der Phöniker gedenken, die Flaubert 
uns so eindrucksvoll geschildert hat. Wohl weiß ichs : nichts Furcht- 
bares geschieht ; der Hinduismus, der heute an den heiligen Stätten 
Süd-Indiens gepflegt wird, ist sanft und mild. Aber seine über- 
kommenen Formen tragen unverkennbar die Züge der wilderen 
Zeiten, in denen sie entstanden sind. Kali hat Menschenopfer ge- 
fordert, fordert sie eigentlich heute noch. Und Kali ist die Gattin 
des Shiva, dem der Tempel von Madura geweiht ist, und Shiva 
selbst ist, in vielen seiner Aspekte, furchtbar genug Ich kann 
mir nicht helfen: alle Vorstellungen sind schreckhaft, welche die 
Bilder dieser Nacht in mir auslösen. Aber das Schreckhafte be- 
geistert mich. Heute verstehe ich gut, weshalb alle frühesten Gottes- 
dienste furchtbar waren, sein mußten. Mir kommen die Worte in 
den Sinn, die Dostojewsky dem Dimitry Karamasoff, dem Ur- 
menschen unter den Brüdern, in den Mund legt: „Was dem Ver- 
stand als Schmach und Schande gilt, erscheint dem Herzen als eitel 
Schönheit. — Sollte die Schönheit in Sodom liegen? — Glaube es 
mir, in Sodom wohnt sie für die Überzahl der Menschen. . . . Ent- 
setzlich ists, daß Schönheit nicht nur ein Furchtbares, sondern auch 
ein Geheimnisvolles ist. Dort ringt der Teufel mit Gott — und das 
Schlachtfeld ist das Menschenherz." Als schön gilt dem Menschen, 
was sein Lebensgefühl steigert. Und das bewirkt bei primitiven 
78 Geschlechtsverkehr als Sakrament. 
Wesen nur die Extase des Fleisches. Nur im Rausch, in der 
Wollust, in der Grausamkeit gelangen solche hinaus über sich selbst, 
erfahren sie, was der vorgeschrittene Mensch in stiller Schauung 
Gottes erlebt. Deshalb tragen die Kulte aller tief religiösen Völker 
in deren Jugend furchtbaren Charakter ; in ihnen tobt sich das 
religiöse Bewußtsein aus. Es werden Orgien der Lust und der 
Grausamkeit gefeiert, es wird frenetisch genossen und gelitten, 
in wildem Taumel Leben geschaffen oder zerstört. So muß es sein. 
Frühe Menschen sind tief nur in ihren Trieben, nur sinnlichkeits- 
getragene Begeisterung vereinigt sie mit ihrer Substanz ; nur 
in Form des Triebmäßigen können sie ihr Tiefstes erleben und 
äußern. Und gilt dies von den zeitlich frühen allein? Was bedeutet 
denn der Kult, der in Europa wieder und wieder mit der Liebe 
zwischen Mann und Weib getrieben wird, und nicht selten mit deren 
rohester Form, anderes als eine Reaktion gegen eine allzu ver- 
geistigte Weltanschauung? Wie viele bedürfen noch der „geistigen" 
Getränke, um sich zu steigern, der Sensationen, der Aufpeitschung 
des Fleisches ! Sie alle stehen noch, mit einem Teil ihres Wesens 
mindestens, auf der Stufe, welcher die Orgie oder das Menschen- 
opfer der eigentliche Ausdruck des religiösen Empfindens wäre. . . . 
Des Menschenopfers bedürfen die Hindus nicht; sie sind zu weib- 
lich-sanft, um am Zerstören Wollust zu empfinden. Aber der ganze 
schaivaitische Kult ist durchgedrungen vom Geist animalischer 
Prokreation. Hier, zum erstenmal in meinem Leben, sehe ich 
Schaustellung sexueller Vorgänge nicht als Unreines, sondern als 
Heiliges aufgefaßt; als das Sinnbild des Göttlichen in der Natur, 
Keine obscöne Assoziation schien den Frommen in den Sinn zu 
kommen, die bei der Feier zu Rämeshväräm der von Puppen versinn- 
bildlichten Vereinigung Shivas und Shaktis beiwohnten. Keine der 
Frauen, die sich heute Nacht hier vor dem Lingam neigen, scheint 
anders gesinnt, als eine spanische Nonne etwa, die zur Unbefleckten 
Empfängnis fleht. Von allen gläubigen Hindus wird die sinnliche 
Liebe als Sinnbild göttlicher Schöpferkraft verehrt und benutzt 
als Gefäß frommer Opfergedanken. Mann und Weib, lehren die 
Shastras, sollen sich niemals nahen, ohne derweil zu gedenken, daß 
Brahma durch sie schafft. Als göttlich sollen sie einander verehren, 
sofern sie lieben, im Geist nicht des Genießens, sondern gotthaften 
Gebens das Leben fortpflanzen ; so wird alles triebhaft Tierische 
zum Ausdruck des Göttlichen geweiht. 
Bedeutung der indischen Götter. 79 
Nie habe ich Gebärden gesehen, die dem Geiste der Frucht- 
barkeit so gemäß wären, wie die wiegenden Bewegungen der Baja- 
deren während festlichen Umschreitens der Götterbilder. Und wie 
ich nun meinen Blick von jenen diesen zuwende, zu der seltsam 
übertreibenden Stilisierung, die ihre Formen beherrscht, wird 
mir auf einmal die Identität des Geistes in beiden Erscheinungen 
bewußt. Diese Gestalten sind Verkörperungen unserer Grund- 
triebe, wie sie gegenständlicher schwer hätten erdacht werden 
können. Was sind diese, ohne Rückbezug auf eine geistige Ein- 
heit, auf das, was man Ich oder Seele heißt? Gewalten für sich, 
wahrhaftige Dämonen, denen Menschengestalt kaum angemessen 
scheint. Wer Berserkern oder Satyrn begegnet ist, Leibeigenen 
der Lust oder der Zerstörungswut, wird aus Erfahrung wissen, was 
ich meine; solche Wesen sind keine Menschen; sie lügen, indem 
sie sich menschlich darstellen ; sie sind Personifikationen elementarer 
Naturkräfte. Aber das gilt nicht nur von diesen, es gilt von allen, 
welche irgendein Trieb ganz besitzt. Es gilt von den Müttern, 
die im Gattungsinstinkte aufgehen, von den Bräuten, denen der 
Gatte alles ist ; es gilt von den heiligen Männern und Frauen» 
deren Herz in göttlicher Geberlust die Welt umfängt: jeder 
Trieb gibt dem Menschenantlitz einen neuen verwandelnden Aus- 
druck : hier vertierend, dort verschönernd, hier verteufelnd, dort 
verklärend, so sehr, daß man mit Recht von „Transfigurieren" 
spricht. Aber solchem Ausdruck sind die Ausdrucksmittel der phy- 
sischen Natur oft nur unvollkommen gemäß. Der Religiöse ahnt 
hinter der Erscheinung einen besonderen Geist, der den Menschen 
zeitweilig besitzt ; den Künstler treibt es, ihm einen Leib zu schaffen,, 
der sein Wesen ganz zum Ausdruck brächte. So sind auf dem weiten 
Erdenrund Legionen von Göttergestalten entstanden. Die meisten 
sind nicht, was sie sein sollen. Aphrodite ist nicht die personifizierte 
Liebe, die Jungfrau Maria nicht die personifizierte Mutterschaft. 
Beide Göttinnen sind nur Abbilder von Menschen, keine selb- 
ständigen Verkörperungen von Urtrieben. Der Westen war selbst 
im Mittelalter zu wissenschaftlich gesinnt, um Irrationelles voll- 
kommen auszudrücken. Gerade dieses haben die Hindus vermocht. 
Die Gestalten des indischen Pantheon sind, wo sie Urkräfte ver- 
körpern, von solcher Überzeugungskraft, daß ich heute jenem Seher 
glauben möchte, der mir einst sagte, sie seien wahrhaftige Abbilder 
göttlicher Wirklichkeit. 
$0 Bedeutung der indischen Kunst. 
Wahrscheinlich sind nur Menschen solcher Schöpfertat fähig, 
die sich zur geistigen Persönlichkeit noch nicht verdichtet haben ; 
die wesentlich vielfach sind, bald von diesem, bald jenem Trieb be- 
sessen, ohne deutliches Bewußtsein des vereinigenden Bands. Solche 
Menschen sind, vom Atman her betrachtet, oberflächlich, denn vom 
Selbste wissen sie nichts. Eben deshalb aber kann ihr Tiefstes die 
Oberfläche beseelen, wie dies beim Durchgeistigten nimmermehr 
geschieht ; die ganze Tiefe der Welt kann eine sinnlose Leidenschaft 
laden. Die einzelnen Triebe verdichten in sich dann soviel Sub- 
stanz, wachsen zu Wesenheiten von so massiver Wucht heran, daß 
man sich nicht darüber zu verwundern braucht, wenn auch bei uns 
noch heute viele wähnen, sie seien wesentlich tief. In eben dem 
Sinn ist das indische Pantheon, obschon an sich ein Oberflächen- 
produkt, dennoch ein Tiefes: ein so tiefgreifender, gespannter, er- 
schöpfender Ausdruck des Oberflächlichen in Mensch und Natur, 
wie ihn eine vertieftere Menschheit nicht hätte finden können. 
Es wundert mich nicht, daß europäische Besucher der drawi- 
dischen Kunst so schwer gerecht werden : denn keiner unserer 
gewohnten Maßstäbe ist hier anlegbar; nichts vielleicht am 
Tempel von Madura ist von der Vernunft her zu verstehen. Kein ein- 
heitlicher Grundriß Jiegt dem Bau zugrunde, keine leitende Idee hat 
Ausführung und Ausschmückung beherrscht, kein geistiger Gehalt 
beseelt das Ganze. Seine Größe, seine Monumentalität ist ohne 
symbolische Bedeutung: sie ist das Zufallsergebnis reicher Mittel. 
Seine Zinnen scheinen planlos hervorgesprossen, wie die Arme eines 
Korallenstocks, seine Ornamente wildem Fleisch gleich hervor- 
gewuchert zu sein. Von allen Vergleichen der gegenständlichste ist 
der, welcher diesen Tempel zu einem Knospenagglomerat in Be- 
ziehung setzt: allenthalben wachsen, drängen, stoßen Einzelgebilde 
aneinander in überschwänglicher Fülle; die nur undeutlich erkenn- 
bare Gesamtgestalt wirkt als Naturspiel fast im gleichen Maße, wie 
die Form einer gotischen Kathedrale, die hie und da in den Riff- 
bergen Tirols des Steigers Auge überrascht. 
Aber wer die eigensten Voraussetzungen dieser Kunst erfaßt 
hat, dem erscheint sie tief bedeutungsvoll. Sie ist der Höchstaus- 
druck physischer Imagination. Gestern schrieb ich vom Sinn der 
indischen Göttergestaltung: in ihr hätten die Urtriebe Körper ge- 
Animalität des Hinduismus ; indische Übertreibung. 81 
funden, wie sie entsprechender kein anderes Volk erdichtet; und 
fügte hinzu, daß solche Schöpfung nur einer unvereinheitlichten Psyche 
gelingen konnte, einer Psyche, die noch wesentlich vielfältig ist, 
unverdichtet zur geistigen Einheit; die hinduistische Plastik als 
Ganzes bedeutet die Wiedergeburt in der Phantasie der Gesamt- 
heit unintellektualisierter Lebenskräfte. Das Wenigste am Leben 
ist von Hause aus vernunftgemäß, läßt sich ursprünglich auf einen 
geistigen Grund zurückführen ; Begierden, Empfindungen und Ge- 
fühle, Impulse und Wollungen, Wachstumsdrang und Altersverzicht 
sind wesentlich irrationale Phänomene, und man nimmt ihnen ihre 
Eigenart, indem man sie rationalisiert. Diese Eigenart kommt in 
der indischen Kunst in einzigartiger Unverfälschtheit zur Geltung. 
Der Tempel von Madura scheint entstanden, wie ein primitiver 
Organismus erwächst: planlos, ziellos, ohne Selbstkontrolle, jedem 
Drang blind folgend, jäh umschlagend von einer Phase in die 
andere, in seinen Grenzen nur vom Schicksal zusammengehalten ; 
dafür desto unbefangener sich darstellend in jeder Stimmung, un- 
verkümmert durch Verzicht und Vorurteil, voll ausgeschlagen, voll- 
blütig und farbig. So wirkt das Ganze notwendig unvollkommen, 
aber das Einzelne ist meistens schön. Die Meisterschaft der Hindus 
in der Detailarbeit gegenüber ihrer Unzulänglichkeit im Planvoll- 
Großen hat hier ihren tiefsten Grund. 
In Ceylon verweilten meine Betrachtungen oft beim vegetations- 
artigen Charakter tropischer Geistesschöpfung; und ich sprach 
die Vermutung aus, der Hinduismus in seinem unübersichtlichen 
Reichtum sei wohl auch als vegetativer Vorgang zu verstehen. Ich 
hatte recht im Prinzip ; aber damals wußte ich nicht, welch' unge« 
heure Potenz dessen Geiste innewohnt: auch dort, wo er tropische 
Menschen besaß, hat er, in allen positiven Phasen seines Lebens, 
seine bestimmende Kraft in hohem Grade bewahrt; was vom cey- 
lonesischen Buddhismus durchaus gilt, ist beim Hinduismus nur in- 
soweit wahr, daß es das Grundgewebe seines Körpers bildet. Aber 
freilich handelt es sich auch bei ihm um kein freies Geistesschaffen : 
es handelt sich um animalisches Werden. Um ein genau so Natur- 
haftes wie bei der Vegetation,' nur aktiver, selbstbestimmter, 
zielstrebiger. Ein energischer Geist liegt hier dem Wachstum zu- 
grunde, was dessen Gebilden eine Kraft, eine Gespanntheit gibt, 
die den buddhistischen fehlt. Ich gedenke der ungeheuren Über- 
treibungen, die alle indische Mythenbildung auszeichnen: hier 
Keyserling, Reisetagebuch. 6 
82 Shiva göttlicher als Zeus. 
trinkt ein Weiser das Weltmeer aus, dort ehelicht ein Fürstensohn 
zehntausend Jungfrauen in einer Nacht ; viele Lakhs von Geburten 
hat Gautama durchgemacht, ehe daß er zum Buddhatum reif ward, 
Millionen von Armen schwingt Krishna mit einem Mal. Ich ge- 
denke des überschwänglichen Reichtums an Göttern, die das in- 
dische Pantheon zusammensetzen, der unübersehbar vielfältigen 
Vorschriften des tantrischen Rituals ; der Überzahl an Worten, Be- 
griffen und Vorstellungen mit denen das Inderdenken operiert: das 
sind freilich Wucherungserscheinungen und insofern vegetativ, aber 
eine so fruchtbare Imagination steckt hinter ihnen, und sie selbst 
sind so lebendig, so bewegt, daß man an Tierleiber zum Vergleiche 
denkt, nicht an noch so wildwuchernde Gewächse. Mir ist beim 
Anblick der indischen Formenwelt, als hätte die Phantasie des 
Fleisches sie erschaffen, als hätte die Einbildungskraft eines großen 
Dichters sich den Körperzellen eingebildet, so daß jetzt der Körper im 
gleichen Sinne produziert, wie jener sonst in der psychischen Sphäre. 
Was geschähe, wenn eine freieste Phantasie unentrinnbar an Fleisch 
gefesselt wäre? — Es entständen eben solche Gebilde, wie sie für 
den indischen Mythos charakteristisch sind. Die Idee der Allmutter- 
schaft stellte sich, genau wie am Haupt-Gopuram des Madura- 
tempels, in unendlichem Über- und Aneinandersprossen milch- 
strotzender Brüste dar, die Allmacht verkörperte sich in hundert- 
tausend Organen, und so fort. So schüfe der Körper, wenn er 
dichten könnte. So hat der Hindugeist in seiner größten Zeit ge- 
schaffen. In seiner Kunst erscheint er ganz unintellektualisiert, un- 
vereinheitlicht, ohne Einheitsbedürfnis ; eben deshalb aber auch aus- 
drucksfähiger, wo es Irrationelles darzustellen gilt, als irgendein 
anderer. Ihm allein vielleicht ist es geglückt, an sich Unsichtbares 
überzeugend in die Welt des Sichtbaren hinauszustellen. In ihm 
haben eben die dunkelen bildenden Kräfte mit der gleichen Un- 
befangenheit gewirkt, wie sonst nur im Körper, wo der Drang fast 
mit Unvermeidlichkeit zur entsprechenden Organschöpfung führt. 
Im einen tanzenden Shiva steckt mehr Göttereigenart als im ganzen 
Heere der Olympier. 
Der Polytheismus ; Vorzüge der Vielgötterei. 83 
Mehr und mehr nimmt der Geist des Polytheismus von meiner 
offenen Seele Besitz. Wie selbstverständlich substantifiziere 
ich, was an Kräften in und außer mir wirkt und stündlich 
reicher wird mein Pantheon. Entsprechend farbiger wird mein Er- 
leben. Indem ich jeder Sondereregung ein Sonderwesen zuerkenne, 
werde ich aufmerksamer auf sie und mein Qualitätsbewußtsein diffe- 
renziert sich. Dies Universum erscheint mir als buntes Durch- 
einander unendlich vieler Monaden, jede einzelne deutlich charakteri- 
siert, keine unmittelbar auf andere zurückführbar noch von iden- 
tischen Normen regiert, aber keine der anderen widersprechend. 
Ich werde auch etwaiger Widersprüche nicht gewahr, denn deren 
Begriff bedeutet mir nichts mehr. Was sollen Einheit, Zusammen- 
hang, Konsequenz in einer Welt, die nichts als Qualitäten enthält? 
Es gibt keinen Generalnenner für Qualitäten. So bekümmern mich 
auch die Probleme nicht mehr, die dem Gottsucher sonst so viel 
Sorge bereiten — des Bösen, seiner Vereinbarkeit mit dem Guten, 
der allzuhäufigen Unrentabilität eines tugendsamen Lebenswandels 
und andere mehr: es gibt eben böse und gute Gewalten, moralische 
und amoralische ; die Macht ist nicht notwendig an Liebe gekettet, 
noch das Wissen an einen guten Willen ; das Sonderschicksal des 
Einzelnen wie das totale der Welt hängt vom Zusammenwirken so 
vieler selbständiger Variablen ab, daß es selbst Brahma in seinem 
Mathematikeraspekte nimmer gelänge, das Geschehen aus all- 
gemeiner Formel heraus zu verstehen. Worauf es ankommt, ist die 
Augen offen zu halten, möglichst viel Sondermomente zu übersehen ; 
allen günstigen Einflüssen die Wege zu ebnen, den ungünstigen nach 
Maß der Kräfte vorzubeugen. Und hierzu gibt es ja, allen Göttern 
sei Dank dafür, Regeln. Wieder und wieder haben Sie gnädig Ge- 
bete und Riten geoffenbart, welche dieses und jenes bewirken, 
wieder und wieder Winke dafür gegeben, was einer in diesem und 
jenem Falle tun und lassen soll. So erscheint das Leben, wenn man 
nur treu befolgt, was die Shastras und Tantras verordnen, wenn 
man nur nicht versäumt, sich in allen entscheidenden Momenten das 
Gutachten weiser Brahmanen einzuholen, in einer geisterdurch- 
schwirrten Welt kaum gefährdeter, als es dem scheint, der nichts 
Überirdisches glaubt. Sicher aber ist es interessanter. Jeden Augen- 
blick geht irgendetwas vor sich, ist irgendetwas zu beachten, zu 
bedenken, was noch so geringfügigem Erleben transzendente Be- 
deutung verleiht; überall sind Wesenheiten im Spiele, die zum 
6* 
84 Monotheismus, Polytheismus und Mystik. 
mindesten merkwürdig sind. So gefalle ich mir als Göttergläubiger 
besser, als ich mir je früher gefallen habe. Ich bin reicher, farbiger, 
versatiler, viel nuancierter im Erleben und Auffassen. Mich wun- 
dert nicht mehr, daß große Kunst immer nur unter Polytheisten 
geblüht hat (denn die katholische Kirche ist ein polytheistisches 
System, und die meisten größeren Dichter haben sich gleich Goethe 
als Künstler zur Vielgötterei bekannt) : nur wo das Besondere un- 
befangen als solches gelten gelassen wird, wo die Einbildungs- 
kraft, anstatt es zu reduzieren, es zu verherrlichen, zu verstärken 
strebt kann Künstlerschaft Großes schaffen. Umgekehrt ist jede 
Künstlernatur typischerweise durch die Züge ausgezeichnet, welche 
polytheistische Völker definieren : das Unvereinheitliche ihrer 
Psyche. Hätte Shakespeare sich ganz zur geistigen Persönlichkeit 
vertieft — nie hätte er so viel Menschen beseelen können. Der 
Monotheismus löst früher oder später überall, wo nicht andere 
Momente dem entgegenwirken, den reicheren Glauben ab ; wenn 
die Seele sich vereinheitlicht hat, wenn ein eindeutiges Ich- 
bewußtsein an Stelle des der Vielfachheit der Triebe getreten 
ist, ballt auch die Göttersubstanz, bisher verstreut, sich zu einer 
Gottheit zusammen. Damit löst Ordnung, Gesetzmäßigkeit, Zu- 
sammenhang das ursprüngliche Wirrsal ab. Aber gleichzeitig wird 
das Weltall widerspruchsvoll: jetzt, wo alles zusammenstimmen soll, 
zeigt sich erst, wie wenig es wirklich zusammenstimmt. Es wird 
ferner verdürftigt: denn nun, wo ein Ideal über der ganzen Schöp- 
fung schwebt, wird das geleugnet, ignoriert oder bekämpft, was zu 
ihm in keiner denkbaren positiven Beziehung steht, und da dessen 
nur zu viel ist, wird die Natur in ihrem unbefangenen Wachstum 
gehemmt. Das Weltall wird gefestigt, moralisiert ; überall unter 
Monotheisten sind die Charaktere stärker, die Grundsätze fester, die 
Lebensformen reiner. Aber dafür sind ihre Seelen farbloser, starrer, 
meist auch dürrer. Ein Freund, einst ein begnadeter Don Juan^, 
hatte sich zum mustergültigen Ehemann verwandelt. Ich fragte ihn, 
wie er sich nun vorkomme? Er erwiderte seufzend: die Tugend 
hat freilich ihr Gutes, allein ich spüre, daß meine Natur versimpelt ; 
zu Viele ihrer Seiten bleiben außer Gebrauch ; ich fürchte, es be- 
kommt dem Manne nicht gut, nur einem Weibe zu leben. 
Poly- und Monotheismus widerstreiten sich ; der Mystiker 
hiergegen, dessen Gottesbewußtsein man so- schlecht meist Pan- 
theismus heißt, ist dem Polytheismus niemals feind, im Gegenteil: 
Brahmanismus und Volksglauben. 85 
in dessen Atmosphäre ist seinesgleichen immer am besten ge- 
diehen ; so in Europa im Schoß der katholischen Kirche. Es ist 
nur bedingt richtig zu behaupten, daß der Mystiker die Einheit der 
Gottheit erlebt: sein Erlebnis liegt jenseits aller Zählbarkeit; wenn 
er von Einheit spricht, so meint er das, was weder Einheit noch 
Vielheit und gleichzeitig beides ist, er nennt es Einheit, weil dieser 
Begriff auch hienieden sowohl Zahl als Nicht-Zahl bezeichnet. Auf 
alle Fälle ist er niemals Monotheist im jüdisch-puritanisch-islami- 
schen Sinne, obschon natürlich Mystiker genug auch unter vorgeb- 
lichen Monotheisten vorkommen. Mystiker ist der Kontemplative, 
welcher ganz von innen heraus lebt, ganz im Wesen und für das 
Wesen; dessen Bewußtsein im Atman Wurzel gefaßt hat, der folglich 
vollkommen wahrhaftig ist, ganz unbefangen sein Innerstes ausströmt. 
Ein solcher kann keine Lebensäußerung verleugnen. In jeder sieht 
er die göttliche Kraft am Werk, jede ist ihm ehrwürdig, und Un- 
befangenheit, wie immer sie sich äußere, gilt ihm heiliger überall, 
als Bestimmtheit durch äußere Norm und Vorurteil. So versteht es 
sich von selbst, daß für das indische Bewußtsein, das mystisch ge- 
weckter ist, als irgendein anderes, keinerlei Widerstreit besteht ' 
zwischen dem animalischen Hinduismus und der geläuterten Weis- 
heit der Rishis : ihm sind es Ausdrucksformen des Gleichen auf ver- 
schiedenen Stufen. Der unbefangene und wahrhaftige primitive 
Mensch kann nicht umhin, sich als Vielfachheit von Trieben zu 
spüren ; der unbefangene Weise ebensowenig umhin, sich aller Ge- 
staltung überlegen zu wissen. Und beider Erlebnis hat den gleichen 
Sinn. Freilich ist es verfehlt zu glauben (wie die indische Scholastik 
dies vielfach wahr haben möchte), die vielfache Gestaltung sei von 
vornherein als Symbol des Einen gemeint worden: entstanden ist 
sie als animalische Knospung ; ursprünglich liegt keinerlei Einheit 
dem indischen Pantheon zugrunde. Aber dessen Vielfachheit be- 
deutet eben das, wie das Einheitsbewußtsein reiferer Stadien; des- 
halb ist die Priesterschaft metaphysisch dennoch im Recht, allen 
Götterglauben für orthodox, als mit den Veden und Upanishads ver- 
einbar zu erklären. In empirischer Hinsicht ist freilich mancherlei 
gegen ihre Auslegungen zu erinnern : der vielleicht größere Teil aller 
Göttersagen ist abseits von der brahmanischen Tradition entstanden, 
gehört dem folklore der nicht-arischen Ureinwohner an, ist erst spät 
dem Brahmanismus angegliedert worden, und erhielt von diesem 
dann einen Sinn, den er von Hause aus sicher nicht besaß. Diese 
86 Wie Oberflächliches tief wird; Irrtum als Wahrheitsausdruck. 
Verhältnisse hat wohl Sir Alfred Lyall richtig erkannt und aus- 
einandergesetzt. Allein die Fälschung, welche die Brahmanen ver- 
übt, war metaphysisch berechtigt: die Götter sind und bedeuten 
wirklich das, was die Brahmanen von ihnen behaupten; wenn 
diese lehren, ein Lokalgott eines obskuren Stamms sei tatsächlich 
ein Vishnu-Avatar und als solcher ein Aspekt des Einen Brahman, 
so sprechen sie damit, in mythisch-farbiger Ausdrucksweise, eine 
metaphysische Wahrheit aus: in jedem Triebe schafft das Göttliche ; 
alle Oberfläche wird von der Tiefe her beseelt, kann insofern als 
deren Ausdruck betrachtet werden. Und indem sie also betrachtet 
wird, wird sie zur Tiefe. Der Volksglaube vertieft sich dank der 
Deutung, die er seitens der Wissenden erfährt, so daß zuletzt auch 
empirisch wirklich wird, was zuerst nur symbolisch wahr gewesen 
war: er wird zum Ausdruck des höchsten Wissens. 
Kein indischer Weiser, auch Buddha nicht, hat den Götter- 
glauben jemals bekämpft; die meisten, allen voran Shankara, der 
Begründer des radikalen Monismus, haben ihn selber aufrichtig be- 
kannt. Sie waren sich einerseits der Unausdrückbarkeit des Gött- 
lichen als solchen, andrerseits der unendlichen Anzahl möglicher 
Manifestationen desselben so tief bewußt, daß sie den vielfachen 
Ausdruck dem einfachen meistens vorzogen. Mir fällt die berühmte 
Hymne an Mahadevi (aus dem fünften Mätätmya des Tschandi) 
ein: dort wird sie, die Göttin, als Ishwara, als Höchstes Wesen 
verehrt ; im Besonderen bald als Gangä, bald als Saraswati, bald als 
Lakshmi ; und in einer Strophe wird von ihr, nachdem verkündet 
ward, daß sie in der Form des Friedens, der Kraft, der Vernunft, 
der Erinnerung, der Berufstüchtigkeit, der Fülle, der Gnade, der 
Demut, des Hungers, des Schlafes, des Glaubens, der Schönheit und 
des Bewußtseins alle Wesen der Welt beseele, auch gesagt, daß sie 
in der Form des Irrtums allen Geschöpfen innewohne. Mir 
scheint: diese Vielfachheit in ihrem Zusammenhang ist ein besserer 
Ausdruck dessen, was der indische Fromme meint, als irgendeine 
tiefsinnig-einfache Formel sein könnte. 
Wie sollten unsere abgeklärten Begriffe dem irrational- 
animalischen Werden der indischen- Formen gerecht 
werden ! Nicht umsonst gibt es im Sanskrit vielleicht 
mehr Worte für philosophisch-religiöse Gedankeninhalte als im 
Griechischen, Lateinischen und Deutschen zusammengenommen : wie 
Wortreichtum des Sanskrit; Brahmanismus kein einiger Geist. 87 
die Sprachen primitiver Völker, wo diese begabt, an Bezeichnungen 
für Konkretes reicher sind, als die entwickelterer, weil frühe Men- 
schen nicht zu abstrahieren wissen und daher viele Sonderaus- 
drücke anwenden eben dort, wo spätere mit wenigen Allgemein- 
begriffen auskommen, so war der Wortschatz der (allerdings ab- 
straktionsfähigen !) alten Inder deshalb so reich, und wurde reicher 
fast mit jeder Generation, weil mit noch so klug gewählten Allge- 
meinbegriffen ihrer überreichen Vorstellungswelt schlechterdings 
nicht beizukommen war. Allgemeinbegriffe nützen nur dort, wo das 
Erkenntnisobjekt rational oder rationalisierbar ist ; und dieses gilt 
von der indischen Gestaltung nirgends. Alles Lebendige in diesem 
wundersamen Land ist fleischmäßig-unverantwortlich hervorge- 
wachsen, aufs Geratewohl, ohne Vorsatz und festes Ziel. So 
läßt sich nicht allein in seinen Tempeln kein Grundriß nach- 
weisen und innerhalb seiner Glaubensformen keine einheitliche 
Grundidee — es gibt in Indien auch keine Natiort ; keinen Volks- 
geist und kein Volksbewußtsein ; es gibt keine Hindus in 
dem Sinne, wie es Deutsche und Engländer gibt. Synthesen 
der genannten Art entstehen nur dort, wo die Vernunft noch 
so unmerklich das Werden der Formen regiert, wo Verallgemeine- 
rungsbedürfnis und Einheitsstreben vorliegen ; und diese fehlen in 
Hindustan. Hier wachsen die besonderen Formen planlos in- und 
durcheinander, bald schroff und dauernd geschieden, bald die un- 
wahrscheinlichsten Verbindungen eingehend; jede Form gilt als 
solche berechtigt, nie wird versucht ihre Eigenart auszumerzen ; es 
ist Raum für alles in der Welt. Man wähne nicht, der Brahmanis- 
mus läge immerhin der Mannigfaltigkeit als einiger Geist zu- 
grunde: erstens ist er kein einiger Geist, zweitens beseelt er 
nicht alle Formen, und drittens tut er dies, wo er es tut, in so un- 
bestimmtem Sinn, daß er zwischen den Sondergebilden keine kon- 
krete Verbindung schafft. Von einem Beseelen aller Erscheinung in 
dem Sinne und Maße, wie der Geist des Buddhismus alles Leben 
auf Ceylon beseelt, kann beim Brahmanismus nicht die Rede sein. 
Dieser Unbekümmertheit um Zusammenhang und Einheitlich- 
keit verdankt das Indertum seine einzigartige Farbenpracht, an der 
mein Herz sich täglich mehr erfreut. Noch bin ich in Indien kaum 
gereist, und habe doch schon mehr Mannigfaltigkeit gesehen, 
als irgendwo sonst unter Menschen. Nie und nirgends hat hier die 
gestrenge Vernunft das leichtsinnige Wuchern behindert. Das ist 
88 Die indische Logik; Inder keine Rationalisten. 
um so bemerkenswerter, als die Hindus doch berühmt sind gerade 
als Dialektiker, als Logiker und verzwickte Systematiker; alles und 
jedes haben sie in ein System gebracht, von der Dichtkunst bis zum 
Räuberhandwerk, vom Lebenswandel, der zu Gott führt, bis zur Art, 
wie die Brautnacht verbracht werden soll: wie reimt sich das mit 
ihrer Irrationalität zusammen? Es reimt sich insofern zusammen, 
als die Systemsucht ein irrationaler Trieb unter anderen ist, gleich 
allen anderen seine selbständigen Wege geht, gleich allen anderen 
unverantwortlich wuchert. Ebenso üppig und wild, wie die Vor- 
stellungen, vegetieren auch deren Interpretationen ; ebenso schranken- 
los, wie die Götter und Geister, vermehren sich die Systeme der 
Philosophie. Nie hat die Logik in Indien die Prätention gehabt, 
letztmögliche Zusammenhänge herzustellen ; das hat sie, in richtiger 
Selbsteinschätzung, der mystischen Intuition überlassen. Sie hat ent- 
weder Gegebenes systematisiert, oder von Gegebenem her aus- 
schweifend fortspekuliert, oder Vorgefundenes haarspalterisch zer- 
gliedert. Ihre Leistungen sind typische Scholastikerarbeiten, meist 
ohne jeden wissenschaftlichen Wert ; von allen Gestaltungen der in- 
dischen Phantasie sind sie gewiß die unerfreulichsten. Aber man tut 
Unrecht, indem man ihr zum Vorwurf macht, daß sie nie das Äußerste 
erstrebt hätte ; daß unter den Indern kein Parmenides und kein 
Hegel erstanden sind. An logischer Schärfe stehen die Hindus 
den Europäern nicht nach ; es wäre ihnen gewiß nicht schwer 
gefallen, ähnliche Weltsysteme zu konstruieren. Sie haben es nicht 
getan, weil sie als Metaphysiker zu tief hiezu waren ; sie haben ge- 
wußt, daß der logische Verstand nicht bis zur Wurzel reicht; sie 
sind nie Rationalisten gewesen. Das ist denn wohl eines der großen 
Beispiele, die das Indervolk der Menschheit gegeben hat: daß Ver- 
standesbegabung nicht notwendig Rationalismus zeitigt ; daß ein 
Höchstmaß logischen Scharfsinns die Unbefangenheit nicht not- 
wendig vernichtet. In Indien gelten drei Grunddeutungen der Vedänta- 
Sütras als gleich orthodox : eine monistische, eine dualistische und 
eine theistische ; und von diesen ausgehend mehrere Hunderte sich 
mehr oder weniger widersprechender Systeme. Was bedeutet das? 
daß die Inder sich tief bewußt sind der Kontingenz aller Vernunft- 
konstruktion ; daß sie wissen, daß es keiner gelingen kann, vom 
metaphysisch Wirklichen ein unverfälschtes Bild zu geben ; daß sie 
alle ä peu pres bedeuten. Die Europäer, wenn sie Ähnliches er- 
kennen, erklären der Vernunft daraufhin den Krieg. Die Inder, auch 
Geschichte und Mythos; die indische Bewußt Seinsfarm. 89 
hierin die weiseren, lassen sie desto freier gewähren. Keine Ge- 
staltung ist metaphysisch ernst zu nehmen ; aber alle sind empirisch 
existenzberechtigt. So mag, wenn es den Körper freut, Gestalt auf 
Gestalt aus sich herauszustellen, wenn die Einbildungskraft sich 
daran ergötzt, die Himmel mit Göttern zu Übervölkern, auch die Ver- 
nunft unbehelligt gewähren. 
Ich sitze an einem der Teich im Innern des Heiligtums und höre 
zu, wie ein Brahmane aus dem Ramäyäna vorträgt. Sein Gehilfe 
unterbricht wieder und wieder den Sanskritvortrag durch psalmo- 
dierende Erläuterung im Volksdialekt. Mit glühenden Augen, mit 
einer Aufmerksamkeit, die an Verzückung grenzt, lauscht die Menge 
dem heiligen Gesänge. 
Die großen Epen — das Ramäyäna, der Mahäbhäratam — be- 
deuten den Hindus, was den vertriebenen Juden etwa das Buch der 
Könige bedeutet hat: die Chronik der Zeiten, da sie irdisch groß 
waren und zugleich mit den Himmlischen täglichen Umgang pflogen. 
Sie bedeuten ihnen also menschlich mehr als alle Shastras. Kein ein- 
facher Hindu zweifelt an ihrer historischen Wahrheit und nicht viele 
unter den Gelehrten tun es. Gern zitieren diese Episoden aus dem 
Mahäbhäratam zu wissenschaftlich gültigem Beweise ; nicht selten 
werden gar Geschehnisse aus dem Himmel angeführt zur Erläuterung 
irdischer Ereignisse. Die Inder wissen von Historie nichts ; haben 
kein Organ für geschichtliche Wahrheit ; ihnen sind Mythos und 
Wirklichkeit eins. So wird bald die Sage als Wirklichkeit beurteilt, 
bald die Wirklichkeit zur Sage verdichtet und jedesmal als verstünde 
sich dies von selbst. Nicht nur der Tote und der Ferne wird ver- 
wandelt — immer wieder ist ein Lebender und Anwesender als 
Avatar erkannt und von der Menge als Gott verehrt worden. Im* 
übrigen verfolgt das Leben seinen normalen Lauf. Das Auftauchen 
eines Gottes auf Erden erscheint den Hindus von heute nicht außer- 
ordentlicher, als den homerischen Helden das Eingreifen der Olym- 
pier in den troianischen Krieg. Sie glauben alles mit gleicher Bereit- 
willigkeit, das Alltägliche wie das Unwahrscheinliche, und nehmen 
nichts, weil es historisch-wirklich sei, besonders ernst. 
Erst hier, wo ihre konkrete Bewußtseinsart sich mir erschlossen 
hat, gelingt es mir, diese Tatsachen zu verstehen. Ihr Unzulängliches 
liegt auf der Hand: die Hindus unterscheiden nicht rein zwischen 
90 Wahrheit und Bedeutsamkeit ; der Sinn als Primäres. 
Dichtung und Wahrheit, Traum und Wirklichkeit, zwischen Einge- 
bildetem und Vorgefallenem ; so ist auf ihre Aussagen selten Verlaß, 
ist ihre Wissenschaft unexakt, sind ihre Beobachtungen unpräzis. 
Aber jede Bewußtseinslage hat ihr Positives, und dieses werde ich 
nun je mehr und mehr gewahr. Schon zu Rämeshväräm schrieb ich 
es nieder, daß eine Einstellung, bei welcher der Akzent des Bewußt- 
seins auf der Vorstellung als solcher ruht, nicht auf dem äußeren 
Gegenstande, dem sie gilt, im allgemeinen Seiten der Wirklichkeit 
wahrnehmbar macht, die der Aufmerksamkeit sonst entgehen. Das 
gilt im Besonderen auch von der, dank welcher Wirklichkeit und 
Mythos in eins verinnen. Wie verwandelt der Mythos die Wirklich- 
keit? auf sinnlose Weise oder einem Sinn gemäß? Immer sinnvoll; 
in der mythischen Umdichtung wird das Bedeutsame des Wirklichen 
gesteigert ; es tritt das Wesentliche mehr und mehr hervor. Zwar 
nicht notwendig das Wesentliche dessen, der den Gegenstand der 
Umdichtung bezeichnet, aber immer das, was dem Dichter und 
seiner Zeit als das Wesentliche an ihm erschien. Der moderne okzi- 
dentalische Mythos verwandelt beinahe wissenschaftlich exakt: aus 
jeder neuen Metamorphose geht Goethe seinem metaphysischen 
Selbste ähnlicher hervor; der indische hat meist nur das gesteigert, 
was sein Held dem Volke bedeutete. Betrachte ich diese Tatsachen 
nun im Zusammenhang mit dem Problem des Positiven an der in- 
dischen Bewußtseinslage, so erscheint dieses seiner Lösung nicht 
mehr fern : in seiner indischen Lage faßt das Bewußtsein unmittelbar, 
das Bedeutsame als solches auf. Es steht jedem Ereignis so gegen- 
über, wie der Fromme einem religiösen Mysterium. Oder, um einen 
anderen, prägnanteren Vergleich anzuführen : es erlebt so, wie die 
Zeitgenossen Goethes erlebt haben müßten, um seine ewige Bedeu- 
tung gleich klar zu erkennen, wie wir. Was ist nun das Wertvolle, 
das Wesentliche — die Bedeutung oder der Tatbestand? Die Be- 
deutung ist es, sie allein ; Tatsachen als solche sind ganz gleich- 
gültig. Also hat das mythisierende Indien, vom Standpunkte des 
Lebens her beurteilt, gegenüber dem exakten Europa das bessere 
Teil erwählt. 
Ich verweile in der Bewußtseinslage, von welcher her die 
Schlacht von Kurukshetra, in der die Götter den Menschen sichtbar 
beistanden, gleich wirklich erscheint wie die von Sedan. Ist die Welt, 
die sich nun vor mir aufrollt, nicht wesenhafter als die des For- 
schers? Ist sie nicht in einem viel höheren Sinne wirklich? Unauf- 
Die Welt des Sinnes; Wissenschaft als Mäyä. 9 1 
haltsam nehmen die Lehren der indischen Weisheit von meinem 
kaum mehr befremdeten Geist Besitz. Da heißt es, der Sinn sei das 
Primäre, das Ewige, das wahrhaft Wirkliche ; was man Tatsache 
nennt, sei nur dessen Abbild, unverläßlich, wie alles was Mäyä wirkt ; 
die Substantialität einer Erscheinung messe sich daran, inwieweit sie 
den Sinn zum Ausdruck bringt. Dementsprechend sei die Astralwelt 
wirklicher als die körperliche, und wirklicher als jene die Ideenwelt, 
denn in jeder folgenden trete der Sinn unbehinderter und reiner an 
den Tag. Hienieden aber sei eben deshalb inspirierten Gedanken 
höhere Wirklichkeit zuzusprechen als den Ereignissen, die sie schein- 
bar widerlegen, denn die Dinge dieser Welt vergehen, der Sinn aber 
währet ewiglich ; und Sagen seien dichter als alle Geschichte, weil sich 
der Sinn in ihnen in ewiger Symbolik darstellt, in einer Gestalt, die 
viele Kaipas überdauert. — Hat Krishna wirklich gelebt, dem Ar- 
juna wirklich vor dem Entscheidungskampf die Rede vorgetragen, 
die heute im Bhagavat-Gita zu lesen steht? Gewiß, sofern du es 
glaubst. In den höheren Welten lebt der Sinn an sich, ohne eigene 
Gestalt, als solcher dem Geist unfaßbar. Er äußert sich, wie du es 
selber willst; so wie du es glaubst, wünschest, denkst, so tritt er 
zutage; als Gott oder Göttin, als System der Philosophie, als Bild 
der Vorzeit, als Legende. Das überläßt "er dir. Aber je mehr du 
strebst, sich in sein Wesen hineinzuversenken, desto würdigere 
Bilder kommen dir. — Ich halte Zwiesprache mit dem Geiste dieser 
Weisheit. Er erscheint mir als Mahaguru, als großer Lehrer, der mir 
sachte und freundlich die Wege weist. Laß' dich nicht täuschen von 
der schlimmen Mäyä, der Göttin eurer westlichen Wissenschaft! 
Ihre größte List ist nämlich, daß was sie schafft, der Kritik des Ver- 
standes immer standhält. Aber das Beweisbare ist niemals wesen- 
haft. Das Beweisbare vergeht oder verwandelt sich zu einem neuen 
Beweisbaren und täuscht den Ungewitzigten in jeder Gestalt mit 
gleichem Erfolg über das Wesen fort. Gewiß sind auch die Ein- 
bildungen Mäyä, sie haben jedoch den Vorzug vor der Körperwelt, 
daß sie ihr Eigenwesen aufrfehtiger zur Schau tragen, überdies dem 
Sinn ein biegsameres Medium bieten. Wie fern stehen eure Ge- 
lehrten dem Herzen der Wirklichkeit! Sie haben Gehirne, wie kein 
Inder vielleicht es besessen. Aber anstatt damit dem Sinne nachzu- 
forschen, vergeuden sie die kostbare Zeit ihres Menschendaseins auf 
Studien gleichgültiger Unwirklichkeit, und wähnen dann, sie hätten 
Wunder was erreicht, wenn ihre Erkenntnisse objektiv sind ! Natur- 
92 Der indische Tanz. 
lieh sind sie das ; sie sind aber gleichzeitig sinnlos. Und sieh dir 
hingegen meine Hindus an : die ahnen nichts von exakter Forschung ; 
die finden sich in der Mäyä gar nicht zurecht; die versagen nur zu 
oft in dieser Welt. Dafür stehen ihre Seelen weit offen allen mög- 
lichen Einflüssen des Sinns und alle wandeln den Weg zur Befreiung. 
— Der Tempelhüter ruft mich an ; es sei Zeit das Atrium zu ver- 
lassen. In der Tat sind alle Badenden fort. Der Vortrag des 
Ramäyäna hat aufgehört. Nur einige nackte Yogis harren noch aus 
in regungsloser Meditation. 
TANJORE. 
Viele Stunden lang habe ich heute den Tänzerinnen des Tem- 
pels zugeschaut. Sie tanzten vor mir, zur Begleitung jenes 
seltsamen Orchesters, das bei allen heiligen Zeremonien In- 
diens spielt, in halbdunkler Halle; und je länger sie tanzten, 
desto mehr faszinierten sie mich. Es wird erzählt, daß Nana 
Sahib, nachdem er das Gemetzel der englischen Gefangenen 
angeordnet hatte, sich vier Nautsch-Mädchen kommen ließ, und 
die ganze Nacht hindurch, regungslos dasitzend, ihren wallenden 
Bewegungen gespannt gefolgt sei. Vormals dachte ich, zu solcher 
Wahl der Erholung, zu solcher Ausdauer beim Genuß, bedürfe 
er eines besonderen Temperaments ; heute weiß ich, daß bloßes 
Verständnis genügt: auch ich verlor angesichts des Nautsch 
jeden Zeitbegriff und fand mein Glück darin. Die Idee dieses 
Tanzes hat wenig gemein mit der, welche den unserigen zu- 
grunde liegt. Es fehlen alle großen, breiten Linienführungen, es 
fehlt jede Komposition, die Anfang und Ende hätte; die Gebärden 
bedeuten nie mehr, als ein flüchtiges Gekräusel auf ebenem Wasser- 
spiegel. Viele beginnen und enden mit den Händen, andere fließen 
langsam in den ruhenden weichen Leib zurück, und kommt es zu 
einer in sich vollständigen Zeichnung, so verschwimmt und ver- 
schwindet diese so schnell, daß sie gerade nur ein flüchtiges Auf- 
merken bewirkt und zu keiner anhaltenden Spannung führt. Die 
glitzernden Gewänder verhüllen und dämpfen die Bewegtheit des 
Muskelspiels, jede scharf anhebende Kurve klingt sanft in goldenen 
Der indische Tanz. 93 
Wellen ab, in denen sich die Geschmeide wie Sterne funkelnd 
widerspiegeln. Diese Kunst enthält, so bewegt sie auch sei, kein 
einziges beschleunigendes Motiv. Daher kann man ihr endlos zu- 
schauen. Unser Tanz bedeutet eine bestimmte endliche Gestalt, 
die in der Zeit beginnt und aufhört; der Zuschauer versetzt sich 
in das Linienspiel hinein, wobei er sich anstrengt, identifiziert sich 
mit dessen Sinn und ist die Zeichnung vollendet, dann sinkt er 
ermüdet in sich zurück, weil keiner dauernd außer sich leben 
kann. Es ist unmöglich dem vollendetsten westlichen Gebärdenspiel 
langandauernd zuzuschauen. Anders steht es mit dem Nautsch: 
dessen Anblick versetzt den Zuschauer nicht aus sich selbst hinaus 
in ein Fremdes hinein, er läßt ihn sich seines eigenen Lebens be- 
wußt werden ; er exteriorisiert, wie bei der Uhr die Zeigerbewegung, 
seinen intimen Lebensprozeß, und dieses wird keiner je müde. Alle 
hastigen Bewegungen sinken, kaum hervorgesprudelt, zurück in das 
Bathos des ruhig dahinfließenden Lebensstroms, was diesen zum 
unmittelbaren Erlebnis macht. Denn den Lebensstrom als solchen 
spüren wir nicht; wir bemerken nicht den Kreislauf des Blutes. 
Unserer Dauer werden wir uns an den kleinen Vorfällen bewußt, 
die wieder und wieder, von der Oberfläche kommend, die tieferen 
Schichten in gelinde Wallung versetzen. Eben das bezwecken und 
erreichen die Bewegungen beim indischen Tanz. Sie sind gerade 
ausgesprochen genug, um den Menschen seiner selbst bewußt zu 
erhalten, es ihm leicht zu machen, sich leben zu spüren. 
Dieses ist der Sinn des indischen Tanzes. Es ist der gleiche, der 
aller indischen Gestaltung überhaupt zugrunde liegt. Nur tritt er 
beim Nautsche deutlicher zutage als sonst. In der Plastik wirkt der 
Reichtum der Formen so verwirrend, das der Beschauer ihren Grund 
leicht übersieht. Hier wie dort ist es der dunkele Grund des Lebens, 
als solcher formlos, unfaßbar, unverständlich. Es ist kein rationelles 
Prinzip, keine Idee, es ist ein rein Zuständliches. Von diesem zu- 
ständlichen Urgrund her betrachtet, wirkt alles Gegenständliche als 
zufällig, sinnlos, inkoherent, gesetz- und zwecklos. Als Erscheinung 
mag es immerhin wirklich sein. Wer aber nach dem Sinne fragt, der 
wird vom Inder aus aller Wirklichkeit fort in die namenlose Tiefe 
des Seins hinab verwiesen, welche die Gestalten gleich Blasen an 
die Oberfläche treibt. 
94 Psychologie des Kastensystems. 
CONJEEVARAM. 
Aus allen Tempelpräcincten, in die man mir Eintritt gestattet, 
wird mein tamylischer Diener hinausverwiesen. Er ist ein 
Christ, mithin ein Pariah ; das erkennen alle auf den ersten 
Blick. Die Inder scheinen ein besonderes Organ zu besitzen, mit 
dem sie die Kastenangehörigkeit jedes Einzelnen, er lüge und ver- 
stelle sich noch so schlau, unmittelbar wahrnehmen. 
Dieses Mal nun fragt mich ein junger Priester, der mir durch 
die Heiligtümer Conjeeväräms die Wege weist, geradeaus, wie es 
nur möglich sei, daß ich mich von einem outcast bedienen lasse? Ob 
ich denn gar keine Angst hätte, mich zu verunreinigen? — Ich weiß 
ihm nicht zu antworten, denn nur zu gut verstehe ich bereits die 
indische Lebensauffassung. Wenn das Psychische das Primäre ist, 
wenn Einbildungen dem Beweisbaren gegenüber als Wirklicheres 
gelten, wenn die Vorstellung die Welt der Dinge bedingt, dann 
schaffen Vorurteile genau so scharfe Grenzen, wie solche in der 
materiellen Natur eine Gattung von der anderen abscheiden ; dann 
sind Angehörige verschiedener Kasten unzweifelhaft Wesen ver- 
schiedener Art. Dann erscheint es von unendlicher Bedeutung, mit 
wem man verkehrt, mit wem man ißt, kann einer durch schlech- 
ten Umgang genau so gefährlich angesteckt werden, wie durch 
Typhusbazillen. Und dieses in buchstäblichem Verstand, ja in 
höherem Grade. Die Psyche wird außerordentlich leicht infiziert, 
jeder Einfluß dringt in sie ein und verschiebt den ursprünglichen 
Zusammenhang. Hieraus ergibt sich denn das weitere: gilt ein be- 
stimmter psychischer Gleichgewichtszustand als einzig möglich, so 
wie uns die Gesundheit der Krankheit gegenüber als einzig möglich 
gilt, dann muß allen Einwirkungen, die es verschieben könnten, aufs 
Energischeste vorgebeugt werden. Die ganze kultivierte Menschheit 
tut dies, wo es den Geist einer Schule, eines Korps, einer Armee 
intakt zu erhalten gilt ; in Indien geschieht es im größten Maßstabe, 
weil dort das ganze Leben überhaupt von „Geistern" dieser Art be- 
stimmt wird. Diese haben zwei Eigentümlichkeiten, die ihre Be- 
handlung überaus mühsam machen: sie neigen einerseits zu 
schier grenzenloser Differenzierung, erliegen andrerseits dem 
leisesten Krankheitsanfall. Die erstere Eigentümlichkeit hat es im 
Notwendigkeit der Vorurteile. 95 
Lauf der Zeit zu einer solchen Komplikation innerhalb des indischen 
Kastensystems gebracht, daß ein unbefangenes Dahinleben für Hin- 
dus kaum mehr möglich ist; bei jedem Schritte kreuzt ein Vorurteil 
ihren Weg. Die andere bedingt eine ständige Stimmung des Qui- 
vive? die nieaussetzende Notwendigkeit des Einhaltens so strenger 
Vorsichtsmaßregeln, wie wir solche nur zur Zeit grassierender Pest 
befolgen. Ein Vorurteil ist gar zu leicht entwurzelt ; eine Erfahrung, 
eine Erkenntnis zu viel, und es ist aus mit ihm. So sind in Europa 
die allermeisten derer, die über ein Jahrtausend entlang dem Leben 
seine Farbe verliehen, in knapp einem Jahrhundert ausgestorben. 
In Indien nun, dem Land der dominierenden Psyche, bestimmen Ein- 
bildungen alle Wirklichkeit; mit den Vorurteilen verschwände das 
Kastensystem, das ehrwürdige Skelett des ganzen Inderlebens. Und 
diese Vorurteile sind vielfach so zart, daß sie nur mehr in Treibhaus- 
luft gedeihen können. Bis vor kurzem verlor jeder Brahmane seine 
Kaste, welcher Indien auf dem Wasserwege verließ. Mit vollem 
Recht: das Geflecht von Vorstellungen, Einbildungen und Vor- 
urteilen, das den Brahmanen definiert, muß zerreißen, sobald er 
aus seinem angestammten Rahmen heraustritt. Und damit hat seine 
Kaste aufgehört zu sein. 
Nur einen Weg gibt es für den Inder über die Bindungen der 
Kaste hinaus : den der Erkenntnis. Wer seine Identität mit Brahman 
erkannt hat, ist damit allen Gestaltungen entwachsen ; wer der 
Welt entsagt, um höchste Erleuchtung zu gewinnen, der braucht 
sich um sie nicht mehr zu kümmern. Der Sanyassi, der Yogi, der 
Rishi ist ohne Kastenvorurteil. Welche Weisheit spricht aus dieser 
Lehre ! In der Tat : die Erkenntnis schmilzt alle natürlichen Fesseln 
ein ; der Wissende ist durch nichts mehr gebunden. Aber erst der 
Wissende darf es sich leisten, auf alle Vorurteile hinabzusehen. Wer 
die seinigen zu früh verwirft, der wird nicht frei dadurch, sondern 
verlegt sich vielmehr den Weg zur Befreiung. Unsere Zeit illustriert 
diese Wahrheit mit erschreckender Deutlichkeit. Die moderne 
Menschheit hat die Formen zerschlagen, deren Zucht ihre Vorfahren 
tief gemacht, und da sie noch keine neuen erfand, sie zu ersetzen, so 
wird sie oberflächlicher und schlechter von Jahr zu Jahr. Die großen 
Ideen der Freiheit, die sie bekennt, versteht sie noch nicht inner- 
lich ; so gereichen ihr diese 2um Verderben anstatt zum Heil. 
Quod licet Jovi, nön licet bovi. Es ist absolut gleichgültig vom 
Standpunkte des Lebens, was ein Zustand ideell und theoretisch 
^6 Östlicher und westlicher Pragmatismus. 
wert sei ; einzig darauf kommt es an, ob er einer gegebenen Seele 
gemäß ist oder nicht. Wieviel weiser als unsere Volksbeglücker war 
der Araber Hajji Ibn Yokhdan, der nach gewonnener Erleuchtung 
von Aufklärung seiner Brüder dennoch absah und sie sogar um 
Verzeihung bat wegen eines kurzen Versuches dieser Art! „Er 
bat sie um Vergebung", berichtet Ibn Tufail, „für die Worte, die er 
unter ihnen gesprochen, versicherte sie, daß er ganz ihrer Meinung 
sei und riet ihnen dringend an, bei ihren gewohnten Vorstellungen 
zu beharren. Sie möchten sich allen fremden Einflüssen verschließen, 
dem Beispiel ihrer biederen Vorfahren folgen und ja keine Neue- 
rungen aufkommen lassen. Es gäbe keinen anderen Weg zur Er- 
lösung für Unwissende und Schwache. Wenn sie sich emanzipierten 
von der Tradition, so könnte ihr Zustand dadurch nur schlimmer 
werden ; sie würden alle innere Sicherheit verlieren, hin- und her- 
geschüttelt werden und zuletzt wohl ein übles Ende nehmen. " — 
Doch scheint es, daß auch der Westen sich jetzt endlich zu einer 
tieferen Lebensauffassung zurückbekehrt. Der Pragmatismus ist ja 
nichts anderes als eine zeitgemäßere Fassung der Weisheit Hajji 
Ibn Yokhdans. 
MAHABALIPURAM. 
(Die sieben Pagoden.) 
So hätte meine Pilgerfahrt durch die Heiligtümer Süd-Indiens 
ihren denkbar stimmungsvollsten Abschluß gefunden. Auf 
dieser öden, von Kasuarinen spärlich bestandenen Sandinsel ist 
jede Felskuppe, fast jeder Stein zum Kunstwerk umgestaltet. Bald 
sind es Elephanten und Stiere, deren mächtige Leiber aus den 
Blöcken herausgemeißelt worden sind, bald zierliche Mandapams ; 
monolithische Tempel krönen die Höhen, klaffen in allen Bergen, 
und bei Seegang rollen die Wogen über köstliche Schwellen und 
Stiegen hinweg, zu schlummernden Göttern hinan. Wer waren die 
Menschen, die diese Welt erschufen ? Ihre 'Spuren hat der Sand ver- 
weht. Mahabalipuram muß irgendeinmal, wohl dank dem flüchtigen 
Caprice eines Rajah, eine einzige Werkstatt gewesen sein, in 
welcher tausend Hände hämmerten, bohrten, versuchten, verbesser- 
Wert der Vergänglichkeit. 97 ' 
ten, selten vollendeten ; um dann plötzlich wieder verlassen zu 
werden. So vermutet man ; man weiß es nicht. Heute wohnen hier 
nur ärmliche Fischer und einige wenige Brahmanen ; magere Schafe 
suchen sich um die Ruinen herum ihre karge Äsung. 
Ich bin bis tief in die Nacht hinein im Tore des Vishnutempels 
gesessen, der, einst mitten im Lande belegen, heute von clrei Seiten 
bereits vom hungrigen Meere umspült wird, und bin erst gewichen, 
als die steigende Flut meine Füße zu netzen begann. Fünf Tempel 
soll die See schon verschlungen haben ; auch die Tage dieses sind 
gezählt. Meine angespornte Einbildungskraft jagt der Zeit voran ; 
ich sehe unseren greisen Planeten nur von Trümmern und Scherben 
bedeckt, kalt und tot durch den Weltraum rollen. Und diese An- 
schauung stimmt mich nicht traurig. Die Vergänglichkeit ist ja der 
Hort der Ewigkeit. Wären Menschen und Werke nicht einzig, un- 
ersetzlich, unwiederbringlich, ihr Dasein bedeutete nichts. Mich hat 
kein Ende je im Innersten geschmerzt, wie oft hingegen das Wieder- 
finden von Zuständen, die längst begraben sein sollten ! Werden die 
Menschen nimmer begreifen, daß Dauer nur Aufenthalt ist, wo 
immer sie hinübergreift über die Zeit, der es bedurfte zur Ver- 
wirklichung? Daß wer die Vergangenheit festhalten will, ein Sakri- 
leg verübt? daß er Unsterblichem damit nach dem Leben trachtet? 
.... Von der großen indischen Kunst sind nur geringe Bruchteile 
erhalten ; die Künstler Indiens haben, der zerstörenden Mächte un- 
eingedenk, zumeist in Holz komponiert. Sie wußten wohl, daß es 
nicht ankommt auf die Dauer. Mir gefällt es, zu glauben, daß sie 
gelebt haben im Geist der großen Lehre der Bhagavat-Gita : 
schaffe unentwegt, aber opfere von vornherein die Ergebnisse deines 
Schaffens auf. 
ADYAR. 
Einer Einladung M rs - Annie Besanf s Folge leistend, habe ich 
mich auf eine Weile in Adyar, dem herrlich belegenen Haupt- 
quartier der Theosophischen Gesellschaft, niedergelassen. Man 
mag der theosophischen Bewegung gegenüberstehen wie man will : un- 
leugbar ist ihr Verdienst um die Erschließung der Weisheit des Orients. 
Diese vermittelt sie freilich persönlich in einer Form, die ihr einen 
Keyserling, Reisetagebuch. 7 
98 Okzidentali scher Charakter der Theosophie. 
guten Teil ihres eigentümlichen Charakters nimmt. Dem westlichen, 
speziell dem angelsächsischen Temperamente entsprechend, legt sie 
den Nachdruck vielfach auf das, was dem Osten als das Unwesent- 
lichste gilt, so sehr, daß oft eine gleiche Lehre in der Theosophie 
mit dem entgegengesetzten Vorzeichen figuriert, wie unter den 
Indern. So bedeutet die Aussicht endloser Wiederverkörperung den 
Theosophen nichts Schreckliches, sondern eine frohe Botschaft, sie 
sehnen sich, mit verschwindenden Ausnahmen, nicht im mindesten 
aus der Welt der Gestaltung hinaus. Lebensbejahend im praktisch- 
empirischen Sinne, wollen sie aufsteigen in der Stufenleiter der 
Wesen, nicht anders, wie man in diesem Leben avanciert. Alle 
Theosophen, die mir begegnet, hängen, im schroffen Gegensatze zu 
den Indern, am Individuum. Diese Akzentverlegung — als solche 
berechtigt genug, denn es ist offenbar eine Frage des Tempera- 
mentes, ob man das Dasein bejaht oder verneint — hat dann mittel- 
bar auf die Lehren selbst modifizierend eingewirkt, und dies unstreitig 
zu deren Nachteil in philosophischer Hinsicht: einmal hat sich der 
indische Spiritualismus in erheblichem Grade zu angelsächsischem 
Materialismus metamorphosiert: es wird in theosophischen Text- 
büchern soviel Gewicht auf die Erscheinungsformen des Geistes (die als 
solche natürlich materiell sind) gelegt, daß die meisten, die sie gläubig 
studieren, die Überzeugung gewinnen müssen, die Formen seien das 
Wesentliche, welche Überzeugung eben den Materialisten definiert. 
Ferner ist unter den Händen der Theosophen die indische Lehre 
von der wesentlichen Selbständigkeit des Individuums, die sich von 
Stufe zu Stufe steigert, gegenüber der anderen, daß es vorläufig 
der Anleitung bedarf, so sehr zurückgetreten, daß die Theosophische 
Religionsgemeinschaft, trotz aller gegenteiligen Versicherung, mehr 
und mehr zu einer Art katholischer Kirche auskristallisiert, innerhalb 
welcher Autoritätenglauben, Dienstwilligkeit und Gehorsam als Kar- 
dinaltugenden gelten. Aber das mußte wohl so kommen. Die in- 
dische Weisheit konnte wohl unter Westländern nicht popularisiert 
werden, ohne eine wesentliche Umdeutung zu erleiden ; das Ka^hoH- 
sieren liegt im Zuge der Zeit ; und dann kommt es ja den Theosophen 
nicht auf Fortpflanzung der indischen Lehren an, sondern auf den 
Sieg ihres persönlichen Glaubens. Sie sind Anhänger einer neuen 
Religion. Gegen solche wird nichts Wesentliches bemerkt, indem 
man ihnen wissenschaftliche Irrtümer nachweist. 
So unzulängliche Adepten der indischen Weisheit die Theosophen 
Wahrheitsgehalt des Okkultismus. 99 
als Philosophen und Metaphysiker sein mögen — in einer Hinsicht 
sind sie ohne Zweifel deren echte Jünger : als Okkultisten. Das macht 
sie mir äußerst interessant. Seit Jahren schon interessiere ich mich 
für die Geheimlehren des Altertums ; soviel an wichtigeren Schriften, 
die sie betreffen, Nicht-Mitgliedern okkulter Gemeinschaften zugäng- 
lich ist, habe ich wohl gelesen und die philosophische Überzeugung 
gewonnen, daß sie, was die behaupteten Tatsachen betrifft, viel 
Wahres enthalten. Es heißt die Einbildungskraft der Menschheit 
stark überschätzen, wenn man ihr zutraut alles das frei erfunden 
zu haben, was von anderen, „höheren" Welten berichtet wird ; es 
heißt allen Regeln der Kritik zuwiderhandeln, wenn man die staunens- 
werte Übereinstimmung der Geheimlehren aller Völker uncl Zeiten 
vom Altertum bis zur jüngsten Gegenwart in sämtlichen wesent- 
lichen Punkten für nichts erachtet ; es heißt das Problem auf un- 
erlaubte Weise vereinfachen, wenn man, ohne eine Spur von Be- 
rechtigung dazu, als ehrlich bekannte Menschen des bewußten 
Schwindels zeiht. Höchstwahrscheinlich, ja sicher ist viel Unrichtiges 
in den Geheimlehren überliefert, viel Einbildung, viel Phantasmagorie. 
Aber wer sich, wie ich, die Mühe nimmt, sie ernstlich zu 
studieren, wird die Überzeugung gewinnen, daß nicht alles Ein- 
bildung ist; daß die Möglichkeit von vielem gewiß, und die Wirk- 
lichkeit wahrscheinlich ist. 
Die Wirklichkeit gar vieler seltsamer Phänomene, die vor 
kurzem noch für unmöglich galten, ist heute erwiesen : an der 
Telästhesie, Telekinesie, am Vorkommen von Materialisationen 
— was immer diese bedeuten mögen — können nur noch 
Unwissende zweifeln. Ich war ihres Vorkommen gewiß, als 
noch nichts erwiesen war: ich wußte, daß sie möglich waren 
im Prinzip, hielt es ferner für ausgeschlossen, daß so viele 
phantasiearme Menschen so durchaus übereinstimmende merk- 
würdige Erfahrungen machen könnten, ohne daß diesen irgend- 
ein wirkliches Objekt entspräche. Wer sich ernstlich vertieft in 
das Problem der Wechselwirkung von Körper und Geist, von 
Lebensmaterie und Lebensprinzip, der wird erkennen, daß zwischen 
dem Bewegen der eigenen Hand und dem eines fernen Gegenstandes 
kein prinzipieller Unterschied besteht; ebensowenig zwischen jeder 
anderen Nah- und Fernwirkung. Wenn ich meinem Nachbarn 
Gedanken übertragen kann — ob durch Worte, Gebärden, Blick 
oder Übertragung im psychistisch-technischen Sinne, bleibt sich gleich 
100 Gedanken als materielle Erscheinungen. 
— so muß dies im Prinzip auch Antipoden gegenüber möglich sein, 
denn das Unverständliche liegt im Beeinflussen der Materie durch 
den Geist überhaupt; findet solche irgendwo statt, dann sind die 
Grenzen möglicher Wirksamkeit nicht abzusehen, denn zwischen 
allen Punkten des Universums vermitteln Kräfte. In eben dem Sinne 
ist mir vieles gewiß, was des objektiven Nachweises noch harrt: 
so das Dasein von Ebenen der Wirklichkeit, die den astralen, men- 
talen usf. der Theosophie entsprechen. Zweifellos handelt es sich 
beim Denken und Fühlen um das Bilden und Aussenden von Ge- 
stalten und Strömungen, die, wenn sie auch nicht materiell sind im 
Sinn der Faßbarkeit durch die Mittel der bisherigen Physik, doch 
gewiß als materiell betrachtet werden müssen. Alle Erscheinung ist 
ipso facto materiell, d. h. muß den Kategorien von Kraft und Stoff 
gemäß begriffen werden, eine Idee nicht minder als ein Chemikal: 
denn die Fassung einer Idee gehört unter allen Umständen dem 
Reiche der Phänomene an, wie sehr ihr Sinn immer ein Noumenon 
sei, und die Fassung ist es, die sie vergegenständlicht, die sie ver- 
wirklicht und übertragbar macht. Im Fall des gesprochenen oder 
geschriebenen Worts liegt dieser materielle Charakter der Ge- 
dankengebilde auf der Hand ; aber sicher gilt gleiches von ihnen, so- 
fern sie nur gedacht werden, denn auch subjektive Vorstellungen 
sind Erscheinungen eines vorher Unexistierten in der Welt der An- 
schaulichkeit, mithin echte Materialisationen, von denen auch schon 
nachgewiesen ist, daß sie übertragbar und folglich objektiv wirklich 
sind. Nun konstruiere man weiter: es gäbe eine Möglichkeit, die 
stofflichen Bildungen, welche beim Denken und Fühlen entstehen 
und vergehen, unmittelbar als solche wahrzunehmen: damit wäre 
man in die höheren Sphären des Okkultismus hinaufgelangt. Daß 
solche Möglichkeit praktisch vorliegt, steht wissenschaftlich noch 
nicht fest; prinzipiell vorhanden ist sie sicher, und wer nun liest, 
was C. W. Leadbeater z. B. über diese Sphären zu erzählen weiß, 
der kann kaum zweifeln, daß er in ihnen zu Hause ist, denn alle 
Aussagen, die unsereiner kontrollieren kann, insofern sie mit Er- 
eignissen unserer Lebensphäre in unmittelbarem Zusammenhang 
stehen, sind in sich so wahrscheinlich, stimmen mit dem bekannten 
Charakter des Psychischen so gut überein, daß es viel wunderbarer 
wäre, wenn Leadbeater Unrecht hätte. Vor allem aber sind es er- 
kenntniskritische Erwägungen, die mir die Behauptungen der Okkul- 
tisten wahrscheinlich machen. Unzweifelhaft ist die Wirklichkeit, 
Erkenntniskritische Grundlegung des Okkultismus. 101 
die wir normalerweise erfahren, nur ein qualifizierter Ausschnitt der 
ganzen Wirklichkeit, in seinem Sosein bedingt durch unsere psycho- 
physische Organisation (das ist der eigentliche Sinn der Lehre 
Kants: „meine Welt ist Vorstellung" )• Aus dieser Gewißheit ergibt 
sich die weitere, daß falls es gelänge, eine andere Organisation zu 
erwerben, die bloß-menschlichen Grenzen und Normen ihre Gültig- 
keit verlieren würden. Die Natur, die wir mit den Sinnen wahr- 
nehmen und dem Verstand verarbeiten, ist nur unsere „Merkwelt", wie 
Uexküll sagen würde (vgl. seine Innenwelt and Umwelt der Tiere, 
Berlin 1909, J. Springer), die von Kant und seinen Nachfolgern 
nachgewiesenen Erkenntnisformen bezeichnen nur den Bauplan einer 
spezifischen Psyche (vgl. meine Prolegomena zur Naturphilosophie) : 
also müßte, falls dessen Grenzen verschiebbar sind, nicht allein eine 
Erweiterung, sondern ein Überschreiten des kantischen Rahmens 
möglich sein. Ob es de facto möglich ist, steht wissenschaftlich nicht 
fest; aber mir scheint es doch sehr bedeutsam, daß die Behaup- 
tungen der Okkultisten von Anfang bis zum Ende den Postulaten 
der Kritik entsprechen: sie lehren sämtlich, daß das Mehr- und 
Anderserfahren an die Ausbildung neuer Organe gebunden ist ; daß 
es sich beim Hellsichtigwerden um genau das gleiche handelt, wie 
um den Gewinn des Augenlichts seitens eines Blinden, und das 
Hinübergleiten auf „höhere" Ebenen der Wirklichkeit nichts anderes 
bedeutet, als ein teilweises Hinaustreten aus dem kantischen Er- 
fahrungsrahmen. Jedenfalls täten alle Philosophen, Psychologen und 
Biologen gut, sich endlich einmal ernstlich mit dieser Literatur zu 
befassen. Ich wies unter den Schriftstellern, die in Betracht kommen, 
auf Leadbeater hin, obgleich dieser Seher auch unter den Seinen 
nicht allgemeine Wertschätzung genießt: ich tat es, weil ich von 
allen Schriften dieser Art die seinigen, trotz ihres oft kindischen 
Charakters, am instruktivsten finde. Er ist der einzige, den ich 
wüßte, der mehr oder minder als Naturforscher beobachtet, der 
einzige, welcher schlicht und einfach beschreibt. Er ist ferner im 
gewöhnlichen Verstände nicht begabt genug, um, was er zu sehen 
behauptet, zu erfinden, oder, gleich Rudolf Steiner, so weit geistig 
zu verarbeiten, daß es schwierig erschiene, etwaiges Wahrgenom- 
menes vom Hinzugetanen abzuscheiden. Er ist seinem Stoff intellek- 
tuell kaum gewachsen. Trotzdem stoße ich wieder und wieder bei 
ihm auf Behauptungen, die bald in sich wahrscheinlich sind, bald 
philosophischen Wahrheiten entsprechen : was er auf seine Weise 
102 Möglichkeit höherer Welten; AI Ghazzäli. 
sieht (ohne es oft zu verstehen), ist im höchsten Grade sinnvoll. 
Also wird er wohl wirklich Vorhandenes gesehen haben. 
Hiermit will ich keineswegs für das theosophische System, wie 
es heute dasteht, eintreten, noch für irgendein sonst überliefertes 
okkultistisches Lehrgebäude. Ich hege starke Zweifel an der Richtig- 
keit der meisten Deutungen, welche die beobachteten Tatsachen in 
diesen erfahren, und was diese selbst betrifft, so fehlt mir jede 
Möglichkeit das nachzuprüfen, was mit normalen Bewußtseinsvor- 
gängen nicht irgendwie zusammenhängt. Ich weiß nicht, ob jede 
Ebene besondere Faunen beherbergt, ob es Geister, Elementarwesen 
und Götter gibt, und ob diese Geschöpfe, falls vorhanden, die Eigen- 
schaften haben, welche Hellseher ihnen leidlich übereinstimmend 
zuerkennen. Es mag wohl sein ; sicher ist die Natur viel reicher, 
als sie von unserer beschränkenden Bewußtseinslage her erscheint, 
und ein ehrlicher Mann, der astrale Wesenheiten wahrzunehmen be- 
hauptet, ist unter allen Umständen beachtenswerter, als sämtliche 
Kritiker zusammengenommen es sind, die aus empiristischen oder 
rationalistischen Erwägungen heraus die Möglichkeit solchen Er- 
fahrens ableugnen. Sicher sind endlich, um auch das Äußerste nicht 
unerwähnt zu lassen, ekstatische Gottschauer medizinisch nicht er- 
schöpfend zu begreifen. Solche erleben, was keine „normale" Natur 
sich auch nur einigermaßen artempfinden kann, und daß ihre Er- 
lebnisse nicht in der Richtung der Phantasmagorie allein belegen 
sind, erhellt unzweideutig daraus, daß Gottschauer allemal auf einer 
spirituell höheren Stufe stehen, als die meisten anderen, und daß 
sie es sind, welche in aller Geschichte nicht allein die stärksten, son- 
dern auch die segensreichsten Kräfte verkörpert haben. Den nächst- 
liegenden Einwand gegen das Gottschauen hat schon AI Ghazzäli 
entkräftet. „Es gibt Mensch en", schreibt er, „die blind oder taub 
geboren sind. Die ersteren haben keine Idee von Licht und Farbe, 
noch kann mau ihnen eine solche beibringen, und die letzteren 
können sich keinen Begriff vom Schalle machen. So sind Ver- 
standesmenschen der Intuitionsgabe beraubt: berechtigt sie das, 
diese zu leugnen? Die, welche sie besitzen, sehen das Göttliche mit 
dem Auge des Geistes. Nun könnte man freilich sagen, teilt mit, was 
ihr seht. Allein was hilft es, wenn ich einem Sehenden eine Gegend, 
in der er nie gewesen ist, noch so lebhaft schildere, er kann sich 
doch keinen richtigen Begriff von ihr bilden, geschweige denn ein 
Blindgeborener." Zum Erfahren des Übernormalen ist nach der aus- 
Sehertum; verschiedene Ebenen der Wirklichkeit. 103 
drücklichen Aussage sämtlicher Okkultisten eine Verschiebung der 
Bewußtseinslage vonnöten ; also erscheint es a priori aussichtslos, 
von der unserigen her okkulte Erfahrungen nachzuprüfen. Man hätte 
ein Recht zur radikalen Skepsis, wenn zweierlei der Fall wäre: 
wenn erstens eine Verschiebung der Bewußtseinslage, welche neue 
Erfahrungsmöglichkeiten eröffnete, im Prinzip undenkbar wäre, 
und wenn zweitens die Mittel nicht angegeben würden, die sie 
herbeiführten. Beide Voraussetzungen treffen nicht zu. Das Vor- 
handensein verschiedener Bewußtseinslagen mit verschiedenen Er- 
fahrungsmöglichkeiten ist Tatsache. Die Libelle bemerkt anderes, 
als der Seestern ; die Welt der Menschen ist reicher als die des 
Octopus. Und kaum geringer sind die Unterschiede zwischen den 
Erfahrungsmöglichkeiten verschieden begabter Menschen. Der ge- 
borene Metaphysiker nimmt geistige Wirklichkeiten unmittelbar 
wahr, deren Dasein andere Menschen nur erschließen können, und 
alle Metaphysiker erleben Ähnliches. Der kluge Mensch erfährt 
mehr und anderes als der Dumme, denn „Verstehen" ist ein genau 
so unmittelbares Erfassen spezifischer Wirklichkeiten wie „Sehen", 
und der Dumme kann nicht verstehen. Endlich verfügt der Mensch, 
wie jedermann weiß, im hypnotischen Schlaf über Fähigkeiten, die 
er im normalen Wachzustande nicht besitzt. Daß es also überhaupt 
verschiedene Bewußtseinslagen gibt, ist sicher. Nun aber was den 
Weg betrifft, um die zu erreichen, die zum okkulten Erleben erforder- 
lich scheint: dieser Weg ist mit einer Genauigkeit überliefert, die 
nichts zu wünschen übrig läßt; dazu seitens sämtlicher Sekten mit 
vollendeter Übereinstimmung. Also fällt auch das zweite prinzipielle 
Bedenken weg. Wer die Behauptungen der Okkultisten nachprüfen 
will, der unterziehe sich dem Training, das die Organe der Hell- 
sichtigkeit ausbilden soll. Erst wer sich den Angaben gemäß ge- 
schult hat, und dann nichts sieht, hat ein Recht, die Richtigkeit 
ihrer Aussagen zu bestreiten. Tut unsereiner das, so ist das ebenso 
lächerlich, wie wenn einer mit bloßem Auge die Richtigkeit der 
Beobachtungen nachprüfen wollte, die der Astronom mit seinem 
Teleskope anstellt. 
Die Methode des Trainings, das zu einer Erweiterung und Ver- 
tiefung des Bewußtseins führt, haben von allen die Inder am meisten 
ausgebildet ; die indische Yoga ist es, denen die Führer der theoso- 
phischen Bewegung eingestandenermaßen ihr okkultes Können 
verdanken. Ich habe mich sowohl mit M rs - Besant als mit Lead- 
104 Antue Besant ; Wesen der Yoga. 
beater über diese Fragen ausführlich unterhalten. Beide sind zweifel- 
los aufrichtig; beide behaupten über Erfahrungsmöglichkeiten zu 
verfügen, von denen einige von abnormen Zuständen her bekannt, 
die meisten aber ganz unbekannt sind; und beide behaupten sich 
ihre Kräfte erarbeitet zu haben. Leadbeater zumal hatte ursprüng- 
lich gar keine „psychistischen" Anlagen. Was nun Annie Be- 
sant betrifft, so ist eines mir gewiß: diese Frau beherrscht ihre 
Person von einem Zentrum her, das ich nur von ganz wenigen 
Menschen bisher erreicht gesehen habe. Sie ist begabt, aber 
längst nicht in dem Maße, wie man aus dem Eindruck ihres 
Lebenswerkes folgern möchte. Was ihre Bedeutung macht, ist die 
Tiefe des Seins, von dem aus sie ihre Gaben regiert. Wer mit einem 
unvollkommenen Instrument gut umzugehen weiß, vollbringt mehr 
mit ihm, als ein Ungeschickter mit einem besseren. M rs * Besant hat 
sich — ihr Können, Denken, Fühlen, Wollen — so sehr in 
der Hand, daß sie dadurch größerer Leistungen fähig erscheint, 
als höher Begabte. Das verdankt sie der Yoga. Wenn Yoga so viel 
vermag, dann mag sie auch mehr noch vermögen ; dann erscheint 
sie unter den Wegen zur Selbstvervollkommnung des obersten 
Ranges gewiß. 
Ich benutze die reichen Gelegenheiten der Adyar-Bibliothek, um 
meine Kenntnisse, die Yoga betreffend, zu vervollständigen. 1 ) 
Fasse ich das, was in den Schriften der Inder enthalten ist, mit den 
Yoga-Vorschriften des klassischen Altertums, der Ägypter, der Chi- 
nesen, der christlichen Kirche und der modernen Wissenschaft dem 
Sinne nach zusammen — und das ist durchaus möglich — so finde 
ich, daß es dabei, wenn ich von der Erschaffung neuer psychischer 
*) Das klassische Werk über Yoga sind die Yoga-Sutras des Patänjali, 
die vielfach in englischer Übersetzung herausgegeben worden sind; die 
beste scheint mir die von Räma Prasad zu sein, schon allein deshalb, weil 
sie den besten indischen Kommentar, den von Vyasa, mitübersetzt. Eine 
Reihe wichtigerer Traktate über das gleiche Problem aus der altindischen 
Literatur enthält Rajaram Tookaram's Compendiutn of the Raja-Yoga philo- 
sophy (Bombay 1901, Theosophical Publication Fund series). Sonst sind an 
indischen Schriften hauptsächlich zu berücksichtigen : Shankarächäryas Crest 
Jewel of Wisdom, Vijnana Bhikshu's Yogasara-Sangraha, Swami Sri Vidyär- 
anyasarswati's Jivanmukti-Viveka und Swatmaram-SwamP s Hatha-Yoga Prodi- 
pika (alle bei der Theosophical Publishing Society in London und bei Otto 
Harrassowitz in Leipzig erhältlich). An neueren Schriften kommen vor allem 
Konzentration als technische Basis jedes Fortschritts. 1 öS 
Organe absehe, welcher Prozeß noch in großes Dunkel gehüllt ist 
und vermutlich verbleiben wird wie alles lebendige Entstehen, das 
wohl ausgelöst und begünstigt, aber nie „gemacht" werden kann, im 
wesentlichen auf folgendes ankommt: erstens und vor allem auf 
Ausbildung des Konzentrationsvermögens ; zweitens auf Stillung 
der psychischen Selbsttätigkeit; drittens auf Vitalisierung der 
Seelenvorgänge, deren Vorherrschen erwünscht erscheint. Im voraus- 
gesetzten Ziel der Ausbildung divergieren die Systeme natürlich : 
bald gelten Zauberkräfte als zu gewärtigender Erfolg, bald die 
Vereinigung mit Gott, Aufgehen im Absoluten, oder irdisches Wohl- 
ergehen ; hier stimmen sie nur darin überein, daß Yoga das Leben 
potenziert. Hinsichtlich der Technik ist insoweit Divergenz vor- 
handen als bald auf physische, bald auf psychische Übungen das 
Hauptgewicht gelegt, und unter diesen bald diese, bald jene be- 
vorzugt wird. Aber dem Sinne nach stimmen alle überein. 
Die innere Wahrheit dieses Sinns ist nun dermaßen evident, 
daß ich mich wundere darüber, daß Yoga-Praxis nicht schon längst 
in den Plan jeder Erziehungsanstalt aufgenommen worden ist. Un- 
zweifelhaft ist alle Steigerung der Lebenskräfte Funktion ihrer ge- 
steigerten Konzentration ; unzweifelhaft bezeichnet Konzentration 
die technische Basis jedes Fortschrittes. In der Liebe, jeder Leiden- 
schaft die „Wunder wirkt", erscheinen die psychischen Kräfte 
konzentriert; eine starke Persönlichkeit ist gesammelter als eine 
schwache. Aller Fortschritt in def Erkenntnis beruht auf Zuspitzung 
der Aufmerksamkeit, aller charakterliche auf Verdichtung der 
zerstreuten Anlagen um einen ideellen Mittelpunkt herum, aller 
spirituelle auf Durchseelung des psychischen Komplexes durch das 
tiefste Selbst, was nur durch Verinnerlichung, d. h. Konzentration 
gelingt. Konzentration bezeichnet unzweifelhaft den Weg zur Ver- 
vollkommnung ; gibt es Mittel, wie die Yoga-Philosophie behauptet, 
die des Svami Vivekänanda in Betracht und das vortreffliche Büchlein Kishori 
Lal Sarkar's The Hindu System of Selfcalture. Lesenswert sind Annie Besant's 
Thought-Power und An introduction to Yoga. Auch die Publikationen der ver- 
schiedenen europäischen und amerikanischen Vereinigungen, die sich unter 
irgend einem Namen mit Yoga befassen, enthalten hie und da Beachtens- 
wertes. Unter allen Umständen fallen sie mehr ins Gewicht, als die abfälligen 
Urteile derer, die, ohne je praktische Versuche angestellt zu haben, aus 
theoretischen Erwägungen heraus die Yoga verdammen. Einen guten allge- 
meinen Überblick über die verschiedenen Methoden der Selbstvervollkomm- 
nung gibt William J. Flagg's Werk Yoga or transformation, London, William 
Rider & Son. 
106 Stille der Seele; Meditation und Gebet. 
diese Fähigkeit zu einem Grade zu steigern, der alle bekannten tief 
unter sich läßt, so ist deren Anwendung entschieden ratsam. — Der 
Wert des zweiten Zieles alles Yoga-Trainings, der Stillung der 
psychischen Selbsttätigkeit, ist ebenso evident. Mit jeder über- 
flüssigen Bewegung wird Kraft vergeudet. Wir verfügen über 
ein beschränktes Maß von Energie; je weniger wir sinnlos veraus- 
gaben, desto mehr bleibt zu sinnvoller Verwendung. Nun vertut 
jeder gewöhnliche Mensch unverantwortlich viel Kraft auf dem 
Weg automatischen Vorstellungsspiels ; in seinem Bewußtsein löst 
sich zwecklos in rasender Eile Inhalt auf Inhalt ab. Gelingt es, 
dies Geschehen aufzuhalten, so wird die Kraft erspart, die 
sonst verschleudert würde ; sie sammelt sich an. Und lernt es einer, 
den automatischen Vorstellungsverlauf dauernd einzudämmen, so 
wie alle es lernen, den ursprünglich zappeligen Körper ruhig zu 
halten, bis auf die Zeiten, da sie ihn wirklich brauchen, so mag es 
gut sein, daß die aufgespeicherte Kraft solche Umsetzungen im 
Organismus einleitet, daß in diesem neue Fähigkeiten erwachen. 
Über den Wert des Stille-Haltens als solchen kann kein Zweifel 
bestehen. Alle starken Geister sind wesentlich dadurch ausge- 
zeichnet, daß sie nicht fahrig sind ; daß sie nach Willkür ein- und 
auszuspannen und mit der Aufmerksamkeit länger bei einer Sache 
zu verweilen vermögen, als schwächere. Sie sind eben Herren ihres 
Vorstellungsverlaufs, nicht Knechte ihres Automatismus ; sie strahlen 
die Energie, die sie haben, nicht andauernd aus, sondern lassen sie 
sich ansammeln bis zum Augenblicke des Bedarfs. Dieser Stillung 
der Seele, um* in der Sprache der Mystiker zu reden, dienen die 
meisten der Yoga-Übungen. Alles Meditieren besteht darin, daß das 
Bewußtsein angehalten wird in regungsloser Lage zu verweilen — 
gleichviel, ob zu diesem Zweck ein äußerer Gegenstand, eine Idee 
oder Vorstellung oder das Nichts fixiert wird. Einesteils handelt 
es sich hierbei um eine Übung in der Konzentration, aber zum 
größeren Teil um ein Üben im reinen Stillehalten und ich kann 
aus eigener Erfahrung sagen, daß dieses scheinbar Sinnloseste 
und so oft Verlachte das Wichtigere ist; denn ganz abgesehen 
davon, daß anfangs nicht wenig Konzentration dazu gehört, die sich 
drängenden Vorstellungen im Schach zu halten, bedingt die bloße 
Kraftansammlung, die das Stillehalten mit sich bringt, ein An- 
wachsen des Konzentrationsvermögens. Es ist unglaublich, wie 
viel Bedeutung für das innere Wachstum noch so kurze, aber 
Wunsch schafft Wirklichkeit; Ignatlus von Loyola. 107' 
regelmäßig eingehaltene Meditationsstunden haben. Ein paar Mi- 
nuten bewußten Stillehaltens jeden Morgen bewirken mehr, als die 
strengste Schulung der Aufmerksamkeit durch die Arbeit. Hierauf 
beruht unter anderem die stärkende Wirkung des Gebets. 
Das dritte wesentliche Moment bei aller Yoga-Praxis be- 
zeichnet das Vitalisieren erwünschter Vorstellungsabläufe. Dessen 
Bedeutung steht gar nicht in Frage, da jedermann weiß, daß alle 
Erziehung letzthin auf suggestiver Einwirkung beruht. Nur behauptet 
die Yoga-Philosophie, daß Suggestion sehr viel mehr noch vermag, 
als wissenschaftlich erwiesen ist: sie soll nicht allein das gegebene 
psychische Gleichgewicht umlagern, sondern ihm neue Elemente ein- 
verleiben können. Man bilde sich nur andauernd ein, daß man eine 
bisher nicht vorhandene, aber erwünschte Eigenschaft besitzt, im 
starken Verlangen, daß sie bald in einem erstehen möge, und sie 
wird entstehen. Man stelle sich nur lange genug vor, daß gewisse 
beim normalen Menschen unausgebildete Organe des Astralkörpers 
entwickelt sind, und sie werden sich entwickeln. In der Welt des 
Psychischen erschüfen Wünsche recht eigentlich den Tatbestand. — 
Sicher ist das wahr im Prinzip ; und es mag wohl sein, daß die 
Dinge durchaus so liegen, wie die Yogis behaupten. Was mich zu 
dieser Annahme veranlaßt, sind die ungeheuren, kaum glaublichen 
Veränderungen, welche die geistlichen Exerzitien des heiligen Igna- 
tius von Loyola nachweislich in denen, die sie energisch be- 
treiben, hervorrufen. Diese Übungen — von einem Psychologen 
ersten Ranges erdacht — arbeiten durchaus mit der Einbildungs- 
kraft ; der Praktikant muß in der Einbildung erleben, was er wirk- 
lich erleben würde, im Fall er am Ziele wäre. Auf die Dauer 
verändert er sich tatsächlich im Sinn des imaginierten Ideals. Die 
durch diese Meditationsübungen Geschulten (und das sind nicht 
bloß die Jesuiten) haben in hohem Grade die Eigenschaften, die sie 
haben sollten. Wer nun die spirituellen Exerzitien mit eiserner Kon- 
sequenz betreibt, so daß er in der Konzentration und im Stillehalten 
außerordentliche Übung gewinnt, der wird zu einem Menschen mit 
den Fähigkeiten, die von jeher als den Mitgliedern des Jesuiten- 
ordens eigentümlich und sie unheimlich-machend mit Recht gegolten 
haben : sie werden zu Virtuosen der Willenskraft, zu Akrobaten der 
Versatilität, zu Menschenkennern und -beeinflussern ohne Gleichen. 
Sie sind eben Yogis ; sie sind im selben Sinne zu Beherrschern ihrer 
Seele geworden, wie Athleten Beherrscher des Körpers sind ; dem- 
108 Okkulte Ausbildung und Spiritualisierung nicht zusammenhängend. 
entsprechend sind sie stark. Der höchste Typus des Jesuitenpaters, 
wie er nachweislich vorkommt, verkörpert einen unzweideutigen 
Beweis des Wertes der Yoga-Praxis. 
Die Reflexion auf den Jesuitenorden bringt mich auf eine der 
häufigst mißverstandenen Seiten des Yoga-Problems : den 
Glauben, daß die Potenzierung und Umsetzung der Lebens- 
kräfte irgendwie notwendig mit moralischem und spirituellem Fort- 
schritte zusammengehe. Yoga ist an sich ein rein Technisches, gleich 
jeder anderen Gymnastik, kann jedem Geist zugute kommen, mit 
jeder Gesinnung zusammen bestehen. Es ist nicht wahr, daß mora- 
lisches Verhalten und veredelnde Arbeit an sich selbst notwendige 
Bedingungen zur Erlangung „okkulter" Kräfte wären ; sie sind Be- 
dingungen nur zur Spiritualisierung, was etwas ganz anderes ist ; im 
allgemeinen hat vielmehr der Volksglauben Recht, der im Magier 
einen seelischen Krüppel sieht, einen Alberich, der zwecks Er- 
langung von Zaubermacht aller Menschlichkeit entsagt hat. Denn 
ernstlich betriebene Yoga-Praxis zum Zweck der Steigerung vor- 
handener und Erweckung neuer psychischer Kräfte (nicht der Spiri- 
tualisierung) erfordert einen solchen Grad des Sichabschließens 
vom Meisten dessen, was die Seele erweitert, eine so ausschließliche 
Beschäftigung mit sich selbst, daß wohl nicht viele innerlich unge- 
schädigt aus solcher Schulung hervorgehen dürften. Es kommt eben 
ganz darauf an, in welchem Geist, auf welche Weise und worauf- 
hin man Yoga treibt. Die Jesuiten z. B., im Höchstfalle Yogis, die 
den größten indischen nicht nachstehen dürften, schulen sich im 
Geist einer vorausgesetzten Dogmatik, vermittelst künstlicher Evo- 
kation gewollter Stimmungen, im Zeichen unbedingten Gehorsams 
und unbedingter Nichtberücksichtigung des eigenen Gutdünkens, 
zu dem Zweck, möglichst leistungsfähige Werkzeuge der Kirche zu 
werden. Dies hat zur Folge, daß sie nicht allein zu keiner selbständigen 
Erkenntnis gelangen, sondern daß sich die Frage der Überzeugung, 
der metaphysischen Wahrhaftigkeit, für sie je weniger und weniger 
stellt, daß sie mehr und mehr zu selbstlosen Organen dessen werden, 
dem sie Gehorsam gelobt, in unerhörtem Grad dazu geschickt, jede 
beliebige ihnen zugemessene Rolle zu spielen. Wer sich im Sinne 
eines vorgefaßten Glaubens schult, wird immer blinder gläubig wer- 
den, wer in ausgesprochen selbstischer Absicht, bei dem wächst 
Psychistischer Fortschritt bedingt menschliche Rückbildung. 1 09 
auch der Egoismus an. Yoga potenziert eben alle Tendenzen, die 
der Übende in sich bejaht. So unter anderen die hohen und edlen. 
Wer voraussetzungslos nach Erkenntnis strebt, kommt der Wahrheit 
durch sie immer näher, und entsprechend der moralischen Voll- 
kommenheit, der Heiligkeit, der Selbstverwirklichung. Aber der, 
dem es ums Höchste zu tun ist, wird selten unterwegs zum Magier ; 
diese Kräfte liegen in anderer Richtung, sind von allen großen 
Heiligen auch als abliegend und abführend beurteilt worden. Sie 
gehören eben der „Natur" an, die es zu überwinden gilt, wo Spiri- 
tualisierung bezweckt wird. Und da die Beherrschung dieser Natur 
als dem Menschen normalerweise nicht zugänglich, die Aufmerksam- 
keit weit ausschließlicher noch in Anspruch nimmt, als irdisches 
Interesse, so ist es nichts weniger als verwunderlich, daß Fortschritt 
im Hellsehen u. ä. meist mit menschlicher Rückbildung zu Paar geht. 
Man lese die Schriften Leadbeaters oder Rudolf Steiners darüber 
nach, was ein „Geistesschüler" alles zu berücksichtigen hat, um nicht 
Schaden zu nehmen an seiner Seele ; wer diese Lehren befolgt und nicht 
gefeit ist, muß Egoist werden, wofern er es nicht schon vorher war. 
Darin liegt an sich kein Vorwurf: auch der Künstler, der Dichter, 
der Denker muß vor allem zunächst an sich denken, was seine 
Stimmung fördern oder benachteiligen mag, wenn er Bedeutendes 
hervorbringen will; das muß jeder, dem seine Person das Instru- 
ment ist, auf dem er spielt. Aber Künstler, Dichter und Denker 
behaupten nicht sich zu spiritualisieren, indem sie den Erforder- 
nissen ihres Berufes entsprechend leben, wie dies der „Geistes- 
schüler" tut. Deshalb muß es ausdrücklich betont werden, daß 
Kenntnis höherer Welten und Spiritualisierung in keiner Weise 
notwendig zusammenhängen. Im Gegenteil: der Okkultist ist, dem 
Volksglauben entsprechend, in der Regel menschlich minderwertig. 
Das metaphysische Interesse der Yoga beruht nun darauf, daß 
sie den Menschen, indem sie ihn vertieft — denn Steigerung bewirkt 
immer zugleich Vertiefung — fortschreitend eindeutiger macht. 
Kompromisse sind Produkte der Oberfläche ; wird diese durch 
die Vertiefung entseelt, so sammelt sich alle Kraft in den Wurzel- 
gefühlen, und diese tragen radikalen Charakter. Der vorgeschrittene 
Yogi ist entweder ein Liebender oder ein Hasser, ein Wissender 
oder ein Glaubender, äußerst selbstsüchtig oder äußerst selbstlos. 
Hierauf beruht der uralte Glaube an die zwei Schulen der weißen 
und der schwarzen Magie, und im letzten der an Ormuzd und Ahri- 
1 10 Das Radikal-Böse ; Erlösung durch Erkenntnis. 
man; hier wurzelt der Wahrheitsgehalt der Ideen eines radikal 
Guten und radikal Bösen. In einer gewissen Tiefenlage steht die 
Seele in der Tat vor zwei gleichwertig scheinenden Alternativen ; 
sie mag die gleiche elementare Wurzelkraft mit positivem wie mit 
negativem Vorzeichen ausströmen lassen ; Kompromisse scheinen 
nicht möglich. Aber diese Lage bezeichnet nicht die äußerste. Sie 
ist es vom Standpunkte des Willens, denn der Wille ist blind, aber 
die Erkenntnis dringt über sie hinaus. Dem Wissenden offenbart 
sich, daß der Unterschied zwischen Gut und Böse an der Wurzel 
mit dem zwischen Leben und Tod zusammenfällt, daß nur die positiv 
wirkende Kraft das Leben hinter sich hat, vom nie versiegenden 
Quell fortdauernd gespeist wird. Hat einer nun wirklich verstanden, 
dann will und handelt er auch darnach ; wie Guyau sagt : celui qui 
nagit pas cörttme II pense, pense imparfaitement. Man handelt not- 
wendig vollkommener Einsicht gemäß, diese aber erwählt notwendig 
das Positive. Hier sieht man denn, unter Blitzlicht beleuchtet 
gleichsam, wie recht die Inder darin haben, die Erlösung in Er- 
kenntnis bestehen zu lassen ; hier ahnt man den inneren Grund des 
unausrottbaren Menschheitsglaubens an absolute Werte. Diese 
Werte werden schlechterdings positiv gedacht; negative absolute 
Werte sind undenkbar. Selbstverständlich: sie bezeichnen die Be- 
wußtseinsexponenten dessen, was der Geist im tiefsten und letzten 
will, und im tiefsten und letzten will er leben, d. h. ausströmen in 
reiner, geberischer Spontaneität. Etwas höher — in der Lage, wo 
der Wille an sich als primus movens erscheint — spaltet sich der 
Urimpuls in zwei entgegengesetzte Tendenzen ; diese verzweigen 
sich weiter, deren Schößlinge ihrerseits, je näher der Oberfläche, 
desto mehr, gehen Verbindungen ein, Vermählungen, Anastomo- 
sierungen, ohne Rücksicht auf Charakter und Herkunft, bis das 
Geranke und Geflecht zuletzt so wirr wird, daß eine Unterscheidung 
und Entscheidung kaum mehr möglich erscheint. So kann alle ober- 
flächliche Gestaltung sowohl positiv als negativ gedeutet werden ; 
nur ganz selten ist ein sicheres Urteil darüber möglich, ob eine be- 
stimmte Handlung „gut" oder „böse" sei. So ist alles bestimmte 
Leben des Todes teilhaftig. Aber das Leben selbst weiß weder vom 
Bösen noch vom Tod. 
Okkulte Ausbildung als biologischer Fortschritt. 1 1 1 
Als ich die voranstehenden Betrachtungen niederschrieb, hatte 
ich mir noch nicht klar gemacht, in wie hohem Grade das 
Mißverständnis, an welches sie anknüpften, die Gemüter der 
Theosophen beherrscht. Seitdem habe ich festgestellt, daß es überaus 
vielen unter ihnen vor allem um die Erlangung „höherer" Kräfte 
zu tun ist, deren Besitz sie als Zeichen spirituellen Vorgeschritten- 
seins auffassen. So erweisen sie sich denn, gerade wo sie ganz 
indisch zu sein wähnen, am ausgesprochensten westlich gesinnt: 
sie beherrscht der echt-westliche Geist des Expansionsbedürf- 
nisses, der Jagd nach Reichtum, nach äußerem Erfolg; denn das 
und nichts anderes bedeutet Streben nach den Siddhis. 
Es ist wirklich so, daß zwischen den Theosophen, die in die 
höheren Welten hinaufwollen, und amerikanischen Prospektors ein 
geringerer Unterschied besteht, als zwischen jenen und alt-indischen 
Rishis: Erweiterung des Bewußtseins im Sinne der Extension be- 
deutet einen rein biologischen Fortschritt. Nicht mehr. Der Okkultist, 
dessen Organe ihm Einblick in hyperphysische Sphären gestatten, 
ist biologisch weiter als der gewöhnliche Mensch genau im gleichen 
Sinne, wie der moderne technisch geschulte Ingenieur biologisch 
weiter ist als sein Vorfahr, der Pfahlbauer. Unzweifelhaft ist solches 
Fortgeschrittensein erfreulich ; nur ist es spirituell bedeutungslos. 
Wenn die Theosophen ihre Bestrebungen als weltliche erkennen 
würden, so wäre nichts gegen sie zu erinnern ; ich persönlich sym- 
pathisiere mit ihnen sogar durchaus, weil ich es hocherfreulich 
finde, daß endlich eine größere Anzahl von Menschen, ob unter noch 
so irrigen Voraussetzungen, systematisch okkulte Studien betreibt. 
Aber es ist nicht zu leugnen, daß ihr naiver Glaube eben dort, wo sie 
weltlichen Vorteilen nachjagen, den Pfad der Heiligung zu wandeln, 
sie ein klein wenig lächerlich macht. 
Merkwürdig, daß die Menschen noch immer nicht im Klaren 
darüber sind, daß Fortschritt und Spiritualisierung verschiedenen 
Dimensionen angehören, obgleich kein großer Religionslehrer, 
von Buddha und Christus abwärts, es unterlassen hat, vor dieser 
Verwechselung zu warnen. Ich will versuchen mir über ihr wahres 
Verhältnis in klaren Worten Rechenschaft abzulegen. Spirituali- 
sierung bedeutet Selbstverwirklichung; das Durchdrungenwerden 
der Erscheinung durch ihren äußersten Sinn; ihr Beseeltwerden 
aus der letzten lebendigen Tiefe — heiße man diese Atman, 
1 1 2 Fortschritts- und Vollendungsstreben schließen sich aus. 
Weltseele, Gott, Prinzip des Lebens oder wie sonst. Aus dieser Be- 
stimmung geht schon eindeutig hervor, weswegen kein biologisches 
Fortschreiten als solches, und führe es noch so hoch hinan, Spiri- 
tualisierung bedingt: im Fortschreiten erweitert sich die Sphäre 
dessen, was vom Geiste beseelt werden kann; ob sie wirklich 
beseelt wird, ist eine andere Frage. In der Regel geschieht dies, 
solange der Fortschritt andauert, nicht, denn wenn Erweiterung und 
Vertiefung sich auch im Prinzip nicht ausschließen, so tun 
sie es doch praktisch meist deshalb, weil keine außer einer exzep- 
tionellen Vitalität sich nach zwei verschiedenen Richtungen gleich- 
zeitig voll ausleben kann. (Hierauf beruht es, daß der fort- 
schrittsfreudige Westländer von allen Wesen dieser Welt das un- 
spirituellste ist.) Auch nachdem der Paroxysmus des Fortschreitens 
vorüber ist, nachdem Festigungsstreben den Evolutionstrieb ab- 
gelöst hat, will es mit der Spiritualisierung eine Weile lang nicht 
vorwärts gehen. Natürlich: der neuerschaffene Leib ist dem 
Geiste kein botmäßiges Ausdrucksmittel; diesem gelingt es nicht 
sofort ihn zu durchseelen ; der Mensch bleibt oberflächlich, weil er 
zu seiner lebendigen Tiefe durch die unerforschten und unerkannten 
Regionen nicht durchzudringen weiß. Hierher rührt es, daß so viele 
Propheten die Einfältigen, die Armen im Geiste, die Blind-Gläubigen 
gegenüber höherstehenden Menschentypen selig gepriesen haben : 
an sich ist es unberechtigt, denn unter allen Umständen ist der Be- 
gabte und Gebildete mehr als der Tor; allerdings aber findet jener 
durch seine reichere und kompliziertere Natur hindurch den Weg 
zu seinem Grunde schwerer hinab, als dieser, der so wenig hat ihn 
aufzuhalten ; weshalb Spiritualisierte tatsächlich unter Einfältigen 
häufiger vorkommen, als unter Begabten. Eben hierauf beruht der 
Wahrheitsgehalt der christlichen Seligpreisung der Mühseligen und 
Beladenen den Glücklichen gegenüber. An sich bezeichnet auch 
diese einen Irrtum : alles Große stammt aus der Freude, wer im 
Geiste lebt, ist eitel Freudigkeit. Aber der Unglückliche, der wenig 
Ursache hat, seine äußeren Umstände zu bejahen, findet eher 
den Weg in sein Innerstes hinab, als der Bevorzugte, den es auf 
Schritt und Tritt zum Verweilen lockt; weshalb sich Schmerz und 
Trübsal praktisch allerdings als die zuverlässigsten Führer zu Gott 
erweisen. 
Welcher ist nun der Exponent der Spiritualität, sintemalen die 
Vorgeschrittenheit ihn nicht bezeichnet? Die Vollendung. Am Grad 
Vollendung als Exponent der Spiritualität. 1 1 3 
der Vollendung, an ihm allein, mißt sich der Grad der Durch- 
geistigung. Bedeutet diese Durchdrungenwerden der Erscheinung 
durch ihren äußersten Sinn, so bedeutet sie zugleich äußerste Ver- 
wirklichung von deren Möglichkeiten. Daß Vollendung das „Eine, 
was nottut/' ist, habe ich nicht etwa als erster erkannt: schon 
Buddha hat sich ausdrücklich den „Vollendeten" genannt, der chine- 
sische „Weise" und „Edle" wird als wesentlich vollendet bestimmt 
und früh ist die Idee der Perfektion zum Ideale auch des christlichen 
Heiligungstrebens geworden. Sie schließt wirklich alles ein ; auch 
den Gott in sich zu realisieren, bedeutet nicht mehr, als seine 
Möglichkeit vollkommen verwirklichen. Nun ist wohl klar, wes- 
halb Fortschritts- und Vergeistigungsstreben sich praktisch aus- 
schließen: wer fortschreiten will, sucht nach neuen Möglichkeiten, 
wer da Gott sucht, die gegebenen zu erfüllen. Wer erfüllen will, 
braucht weder aufzuheben noch zu verändern ; wenn Erfüllung an 
sich das Ideal ist, dann sind alle Möglichkeiten der Idee noch gleich- 
wertig. Daß Vollendung wirklich das spirituelle Ideal bezeichnet, 
läßt sich noch durch eine andere, rein kritische Erwägung nach- 
weisen. Alle spirituellen Werte — die Schönheit, die Wahrheit, die 
Güte — sind durch den Charakter der Absolutheit ausgezeichnet; 
diese ihre wesentliche Qualität kann keine Skepsis hinwegdispu- 
tieren. Was bedeutet das? Die Gegenständlichkeit des rationali- 
stischen Begriffs vom Absoluten kann bezweifelt werden ; dieser 
steht und fällt mit einer petitio principii, so daß wenig für die 
Erkenntnis geleistet wird, indem man die Schönheit eines Kunst- 
werkes z. B. auf Teilhabe an der Idee des absolut Schönen zurück- 
führt. Ein Wesen oder ein Gegenstand verkörpert dann einen abso- 
luten Wert, wenn in ihm die gegebenen Möglichkeiten ihre äußerste 
Erfüllung und Vollendung erfuhren. Und man wähne nicht, daß im 
Worte „äußerst" seinerseits eine petitio principii verschleiert liegt: 
man kann ganz gegenständlich von „äußerster Erfüllung" reden, 
weil alle konkreten Möglichkeiten begrenzt sind ; für jedes Wesen 
gibt es einen äußersten Grad der Selbstverwirklichung. Ist dieser 
nun erreicht, dann erscheinen wie durch magischen Spruch auf ein- 
mal auch absolute Werte dargestellt: sind physische Möglichkeiten 
ganz verwirklicht, so schauen wir Schönheit, geistig-intellektuelle, 
so ist die Wahrheit erkannt, menschlich-sittliche, so ist ein Gott- 
mensch erstanden. Vollendung ist das spirituelle Ideal. 
Nun erscheint die Mißverständlichkeit alles Fortschrittsstrebens, 
Keyserling, Reisetagebuch. 8 
1 14 Das Spirituelle als Prinzip ; Unsterblichkeit. 
sofern einem um spirituelle Verwirklichung zu tun ist, ganz deutlich. 
Da Vollendung der Exponent der Spiritualität ist, da der Grad jener 
den Grad dieser zum Ausdruck bringt, so ist ein vollendeter niederer 
Zustand Gott offenbar näher als ein unvollendeter höherer. Voll- 
kommene physische Schönheit ist ein Geistigeres, als eine unvoll- 
kommene Philosophie, ein vollkommenes Tier ein Spirituelleres, als 
ein unvollkommener Okkultist. Im Geringsten kommt der Atman 
ganz zum Ausdruck, sofern es vollendet ist. Äußere Grenzen be- 
schränken überhaupt nicht innerlich, weil das Spirituelle ein Prin- 
zip ist, das als solches keinen Extensitätsfaktor besitzt. Das Prinzip 
der Welt kann eine Monere genau so vollständig zum Ausdruck 
bringen, wie der hunderttausendfache Brahman. Das Prinzip aber 
ist das Eigentliche, das Ewige, das lebendig bleibt über alles Ent- 
stehen und Vergehen hinaus. Weswegen finden wir so viele Aus- 
sprüche antiker Weisen tief, tiefsinniger als alles, was später ge- 
äußert ward, obschon die konkreten Vorstellungen, die sie hegten, 
als irrtümlich erwiesen sind? Weil sie mit noch so unvollkommenen 
Mitteln das Prinzip dessen, was sie meinten, vollkommen zum Aus- 
druck gebracht haben. Diese Aussprüche sind wesentlich wahr, wie 
sehr sie an der Oberfläche falsch sein mögen, werden durch noch 
so große Fortschritte in der Begriffserkenntnis nie widerlegt werden. 
So überwindet Spiritualisierung bis zum Tod. Gestalt auf Gestalt 
ist dahingeschwunden im Laufe der Geschichte der Erkenntnis, 
und mit ihnen der Geist aller derer, die in der Gestaltung ganz ent- 
halten waren. Aber die Wenigen, denen diese nur ein Ausdrucks- 
mittel war für einen tieferbelegenen Sinn,' die diesen Sinn in ihr 
vollkommen verkörpert hatten, die leben fort. Die vermag keine 
Zeit zu töten. Und manchmal glaube ich zu wissen, daß auch der 
persönliche Mensch in eben dem Sinn der Unsterblichkeit teilhaftig 
werden kann. Freilich ist sein Leib dem Tode versprochen ; freilich 
ist auch seine Seele der schließlichen Auflösung gewiß. Das Prinzip 
jedoch ist unzerstörbar. Das wirkt objektiv fort von Verkörperung 
zu Verkörperung, wie diesseits so auch jenseits des Grabes, in 
irgendeinem unbekannten Sinn. Sein Träger wechselt; ahnt nicht 
oder nur schwach, daß er wesentlich ewig ist. Der seltene 
Mensch nun, dem es gelang, sein Bewußtsein im Wesen zu ver- 
ankern, der weiß sich unsterblich. Dem bedeutet der Tod kein 
Ende mehr. ... 
— Steht Fortschreiten (im biologischen Verstände) mit Spiri- 
Spirituelle Bedeutung des Fortschreitens. 1 1 5 
tualisierung in gar keinem Zusammenhang? So daß das Streben 
der Theosophen, okkulte Kräfte in sich auszubilden, so wie sie es 
meinen, ein radikales Mißverständnis bedeutet? Sie stehen wohl im 
Zusammenhang, aber in einem anderen, als jene wähnen. Jede 
höhere biologische Stufe gewährt dem Geist eine reichere Aus- 
drucksmöglichkeit. Nicht absolut verstanden zwar, denn überall in 
der Natur wird Gewinn durch Verluste wenn auch noch so 
billig bezahlt ; der Mensch hat viele Fähigkeiten nicht, die das Tier 
besitzt; der Weise ist unzulänglich in vielem, was das Weltkind 
kann. Aber soviel ist wohl wahr, daß der Geist sich auf jeder 
höheren biologischen Stufe freier äußert. Insofern kann er sich, 
nach menschlichem Maßstabe beurteilt, auf jeder folgenden besser 
manifestieren. Also haben wir, als empirische Wesen, wohl auch 
spirituelles, nicht nur temporelles Interesse daran, auf der Stufen- 
leiter der Schöpfung hinanzusteigen. Uns bedeutet es nichts, wenn 
wir in Form der Schönheit vollkommen durchgeistigt sind, denn nur 
das Bewußtgewordene berührt uns persönlich ; nur was wir als 
Subjekte bewußt erfahren, erlebt, verstanden haben, existiert für 
uns. Die Erfahrungsmöglichkeiten nun werden durch psychische 
Entwickelung allerdings bereichert und gesteigert. Hier aber stellt 
sich die Frage : worauf kommt es im letzten an : zu sehen oder zu 
sein? Offenbar zu sein. Die Erkenntnis ist das Vorläufige; sie muß 
sich in Leben umsetzen, um spirituell bedeutsam zu werden. Also 
bezeichnet die Erwünschtheit psychischer Vervollkommnung nur die 
Notwendigkeit eines Umweges für Wesen gewisser Art; sie be- 
dingt keine Abkürzung des Wegs. Und über diesen Umweg ge- 
langen, wie die Erfahrung lehrt, weniger Menschen zum Ziel, 
als ohne ihn. Hierher rührt, noch einmal, die spirituelle Vor- 
zugsstellung der Einfältigen und der auffallende Mangel an Spiri- 
tualität, der die meisten psychistisch begabten Menschen kenn- 
zeichnet. Was also tun? Die alt-indische Lehre „lieber seinem 
eigenen noch so niedrigen Dharma folgen, als dem noch so er- 
lauchten eines anderen" bezeichnet den Weg. Jedes Wesen soll 
einzig und allein nach seiner spezifischen Vollendung streben, in 
welcher Richtung immer diese liege. Wer zum Tun gerufen ist, 
der werde als Täter vollkommen, der Kunstbegabte trachte nach 
vollendetei Künstlerschaft; nur der zur Heiligkeit Berufene strebe 
nach Heiligkeit und vor allem nur der geborene Hellseher nach 
Vollendung in der Form des Okkultisten. Wer eine Art der 
8* 
1 16 Vollendung zieht Fortschritt nach sich. 
Vollendung anstrebt, die seinen inneren Möglichkeiten nicht ent- 
spricht, der verliert seine Zeit und verfehlt sein Ziel. Dafür er- 
reicht dieses unzweifelhaft irgendeinmal, wer sein eigenes Dharma 
treu befolgt, wohin immer es ihn führe. Und dies nicht allein im 
Sinn spiritueller Vollendung, sondern auch in dem biologischer Ver- 
vollkommnung. Jede erschöpfte Möglichkeit bringt, phönixartig, 
neue aus sich hervor. Wie die ausgekostete Jugend die Fähigkeiten 
des Mannesalters erweckt, gebiert jeder vollendete Lebensausdruck, 
sofern das Prinzip, das hinter ihm steht, noch lebt, neue Lebens- 
möglichkeiten. Es bleibt ewig wahr, was Jesus Christus in seiner 
mythischen Ausdrucksweise gesagt hat: „Trachtet am Ersten nach 
dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch 
solches alles zufallen." Strebt nur nach Vollendung, und der biolo- 
gische Fortschritt wird sich von selbst ergeben. Dies ist die einzige 
Art, wie Fortschritts- und Spiritualisierungsstreben sich vereinen 
lassen , wer zuvörderst nach Fortschritt strebt, wird nie die Voll- 
endung erreichen. Wunderbar plastisch bringt der Mythos von der 
Seelenwanderung das wahre Verhältnis zum Ausdruck: wer in 
niederer Lebensstellung sein Dharma treulich erfüllt, wird in höherer 
wiedergeboren ; wer den Pfad der Heiligung betreten hat, dem 
werden von Verkörperung zu Verkörperung günstigere Lebens- 
umstände zu teil. Ja, wer ganz selbstlos nach Spiritualisierung 
strebt, kann nicht allein in einem Leben sämtliche Stadien durch- 
laufen — er kann sogar während seines fleischlichen Daseins die 
endgültige Befreiung finden (ein Jivanmukta werden). Freilich 
kann er das ; denn diese Befreiung besteht eben, ganz unabhängig 
von den Zufällen von Leben und Tod, im Einswerden des Bewußt- 
seins mit dem Lebensgrund. 
Ich lasse mir viel erzählen, was in anderen Welten passiert, 
und wie es in ihnen aussehen soll. Die meisten meiner 
Unterredner glauben nur, aber einige sind überzeugt, daß sie 
wissen und berichten über unerhörte Erlebnisse so sachlich-ruhig, 
wie ein Naturforscher über seine jüngsten Experimente referiert. 
Ich befinde mich ihnen gegenüber in eigentümlicher Lage: ich 
weiß nicht, wieviel objektiv wahr an ihren Behauptungen ist, und 
kann sie nicht nachprüfen. Aber als unmöglich kann ich sie nicht 
abweisen, nicht einmal mit einiger Zuversicht ihre Unwahrschein- 
Übersinnliche Welten ; Vorzüge des Aberglaubens. 1 1 7 
lichkeit behaupten, da mir jeglicher Maßstab dafür fehlt, was in 
anderen Sphären vorgehen kann. Ich verspüre auch kaum Nei- 
gung hiezu: wieder und wieder vernehme ich Aussagen, deren 
innere Wahrscheinlichkeit mich frappiert, wieder und wieder sagt 
mein Innerstes: selbstverständlich; es kann ja gar nicht anders 
sein, und du weißt es ja eigentlich selbst. Aber diese Anamnesis 
wage ich nicht ernstzunehmen, da ja Märchen, als Geist von 
seinem Geist, dem Menschen immer wahrscheinlich vorkommen, 
viel wahrscheinlicher, als die Vorgänge in der unmenschlichen Natur, 
weil ferner in jedem lebendigen Gemüt die Sehnsucht nach dem 
Wunderbaren lebt. So schalte ich zur inneren Beruhigung für ein 
Weilchen den Mann der Wissenschaft aus und gebe mich mit 
kindlicher Unbefangenheit den neuen Eindrücken hin. Jede Er- 
zählung lasse ich in mich hinein; jede Idee nehme ich rückhaltlos 
auf; und lasse es gern geschehen, wenn Chiromantiker die Linien 
meiner Hand, Phrenologen meine Schädelform und Astrologen 
meine Nativität untersuchen. 
Wie reich muß doch das Leben derer sein, die an alle die Zu- 
sammenhänge glauben, deren Dasein die Theosophie behauptet! 
Schon banal-abergläubische Menschen sind mir in häufigen Stim- 
mungen ein Gegenstand des aufrichtigen Neids ; eine Zeitlang habe 
ich mich selbst dazu abgerichtet die Superstitionen meines je- 
weiligen Aufenthaltsorts für die Zeit meines Dortseins zu über- 
nehmen, denn wunderbar farbig wird das Leben durch das An- 
erkennen mysteriöser Verknüpfungen. Das System der Theosophie 
nun hat den ferneren Vorzug, daß es nicht nur die Einbildungskraft, 
sondern auch den Verstand erfreut. Wenn es der Wahrheit ent- 
sprechen sollte, so erschiene dieses Dasein damit vor der Vernunft 
in hohem Grade gerechtfertigt. Mich persönlich macht freilich ge- 
rade die übergroße Rationalität des theosophischen Weltenplanes 
stutzig. Die Vernunft reicht sonst so wenig tief in das Herz der 
Dinge hinab, alles Wesentliche ist sonst so irrational, Theorien 
erweisen sich sonst als desto unzulänglicher, je Wesentlicherem 
sie gerecht werden sollen — sollte da wirklich ein dermaßen 
simplistisches Schema dem Sinn der Wirklichkeit gemäß sein? 
Tut es das, so würde ich persönlich es bedauern . . . Allein, was 
kann man wissen? Vielleicht hat die Theosophie trotz meiner 
Philosophenbedenken recht. Alles stimmt doch nicht zusammen in 
dieser Welt. Ich indessen hoffe und glaube bis auf weiteres, daß 
1 18 Spekulationen über das Jenseits. 
die Theorien der Theosophie nicht mehr als grobe Allegorien be- 
zeichnen. 
Im übrigen steckte ich nicht ungern in deren Haut, welche will- 
kürlich von einer Ebene des Daseins auf andere hinübergleiten : deren 
Leben muß gar abwechselungsreich sein. Was habe ich mein Lebtag 
darunter gelitten, daß ich immer den gleichen Körper tragen, mit 
immer gleichen äußeren Organen zur Welt in Beziehung treten 
muß ! Die, welche es gelernt haben, ihrem Leib zu entschlüpfen, 
und nun mit anderen Sinnen, in anderer Form die Bilder der Natur 
in sich aufnehmen, haben es besser. Sie können ihres Daseins nicht 
leicht überdrüssig werden. Leider kranken diejenigen unter meinen 
Bekannten, die sich der Fähigkeit, ihre Daseinsform zu verändern, 
mit dem größten Anschein von Berechtigung rühmen, an der Krank- 
heit aller Spezialisten : sie überschätzen die Bedeutung ihrer Kunst ; 
sie wähnen dem Atman näher zu kommen, indem sie ihren Aufent- 
haltsort wechseln und behaupten, jede verstiegenere Sphäre ver- 
körpere einen „höheren" Grad der Wirklichkeit. So können sie 
meine Frage nicht recht würdigen, ob die Verkündigung Jesu, 
die Ersten würden einmal die Letzten sein, vielleicht buchstäblich 
wahr sei in dem Verstand, daß jede Sphäre besondere Ausdrucks- 
gfelegenheiten bietet, dank welchem der, dem es auf Erden 
am besten gelingt, sich in der Astralwelt vielleicht am hilfslosesten 
erweisen wird, in deren dünner Luft die Träumer hingegen, die Un- 
tüchtigen im irdischen Verstände, sich desto wohler befinden 
werden? Ich neige stark zum Glauben, daß dem so ist, vorausgesetzt 
natürlich, was ich nicht weiß 1 , daß es eine Astralwelt gibt. Aber nie 
werde ich glauben, es sei denn, man bewiese es mir, daß die, deren 
wahre Heimat nicht die Erde ist, deswegen die wertvolleren seien ; 
entweder ist eine Anlage die andere wert, oder aber die Ausdrucks- 
fähigkeit auf Erden bestimmt den Rang. Ich persönlich bin fest 
überzeugt, daß alle Hauptentscheidungen auf Erden fallen, daß die, 
welche das Leben nach dem Tode als das vollere beurteilen, im 
Irrtum sind. Da ich über dieses aus eigener Erfahrung nichts weiß, 
kann ich kein assertorisches Urteil fällen ; aber ich habe die Be- 
richte anderer aufmerksam studiert, und diese sprechen doch sehr 
für meine Auffassung. Unser vielgeschmähtes Erdendasein hat den 
einzigen Vorzug, ernsthafte Widerstände zu bieten. Nur aus wider- 
stehenden Medien können substantielle Gebilde geformt werden, 
nur wo Widerstand ist, kann Fortschritt stattfinden: insofern ge- 
Absoluter Vorzug des Erdenlebens. 1 19 
währt dieses Leben von allen die reichsten Gelegenheiten. Die 
heiligen Schriften der Inder lehren denn auch ausdrücklich, daß von 
allen Geburten die ins Menschenleben hinein die günstigste sei, so 
sehr, daß selbst die Götter als Menschen wiedergeboren werden 
müßten, wenn sie über das Göttertum hinausgelangen wollten ; in 
ihrer allzu leichtflüssigen Welt blieben sie ewig, was sie sind ; der 
Mensch hingegen, dem es ernst ist, könne unmittelbar ins Nirwana 
hinübergelangen. Wohl kann ich mir vorstellen, daß es Menschen 
gibt, die in anderen Welten besser zu Hause sind als hier ; aber das 
sind die Impotenten, die Schwachen. Wer sich deutlich ausdrücken 
kann, ist im absoluten Verstände mehr, als der, welcher bloß meint 
und stammelt. Zum Träumen, zum Ahnen, zum Schwelgen in Ge- 
fühlen und Stimmungen gehört nicht viel. Erst wenn das Wort 
Fleisch geworden, ist es vollkommen realisiert. Und diese Realisie- 
rung gelingt am besten auf Erden. So bekenne ich mich für meine 
Person, je mehr ich von anderen Lebensmöglichkeiten höre, desto 
entschiedener zur äußersten Ausnutzung dieser. Das, was in ihr voll- 
bracht werden kann, ist so bedeutend, daß es wenig verschlägt, 
wenn der auf Erden Ausdrucksfähige hinterher in anderen Sphären 
entsprechend versagen mag. Hätte Odysseus den klagenden Schatten 
Achills gefragt, ob er, zum Gewinn eines besseren Leben nach dem 
Tode, sein Heldendasein rückgängig machen wollte, dieser hätte ihm 
verächtlich den Rücken gekehrt. / 
Die meisten Theosophen sind Spekulationen dieser Art nicht 
hold. Sie glauben, wollen daß alle glauben, und verhalten sich 
kaum weniger feindlich zu jedem Versuch der Kritik an ihrem 
Dogmenbau, wie nur irgendein religiöser Verband. So wenig wird 
der Grundcharakter des Menschen durch ein noch so weitherziges 
Bekenntnis verändert! Die meisten Theosophen verkennen eben, 
daß unter allen Religionsformen auch die ihre nur auf relative 
Gültigkeit Anspruch erheben kann. (Denn die Theosophie ist eine 
besondere Religion, trotz aller Statuten der Gesellschaft, und muß 
es sein, sofern sie lebendig wirken will.) Wird die Menschheit nie 
über die Vorstellung hinauswachsen, daß ein bestimmter Glaube 
allein selig macht? Fast fürchte ich es, denn sie liegt allzu nahe 
und ihre vermeintliche Wahrheit scheint allzu evident. Wahrschein- 
lich entspricht ja die Theorie, daß nur der Gläubige erlöst werden 
kann, dem Tatbestande wirklich insofern als nur der, dem sein 
Unsterbliches bewußt ward, der das göttliche Licht in sich ent- 
120 Erlösung durch Glauben; Vorzüge des Krankseins. 
zündet, Aussicht hat, den Tod bewußt zu überdauern. Da nun jeder 
Religionsstifter aus Erfahrung nur ein Mittel kennt, dieses Licht zu 
entzünden, so kann ihm nicht verdacht werden, wenn er verkündet: 
wer mir nicht glaubt, verfällt dem Gericht. 
In nur zu vielen Hinsichten erleben alte Menschheitsirrtümer 
im Theosophenglauben keine Aufhebung, sondern eine Wieder- 
geburt. Heute habe ich, durch die Anschauung der vielen 
Psycho- und Neuropathen, die zur Theosophischen Gesellschaft ge- 
hören, angeregt, speziell die altehrwürdige Überschätzung krank- 
hafter Zustände im Auge. Befremdlich ist diese keineswegs: 
zweifelsohne bezeichnet Kranksein einen positiven Zustand, weniger 
ein Minus an Gleichgewicht als eine andere Form desselben, welche 
der normalen für, viele Zwecke überlegen ist. Unlängst ist mir das 
wieder einmal sehr deutlich geworden, als ich mir (aus ganz guten 
Gründen) eingebildet hatte, von der Pest infiziert zu sein, und die 
bloße Vorstellung mich, wie bei mir üblich, wirklich krank machte, 
so sehr, daß mir war, als ginge schon das Sterben an: alles selb- 
stische Interesse verschwand, ich befand mich vollkommen frei, 
sämtliche Seelenkräfte strahlten geradeaus ins Unbegrenzte aus, 
was mir ein Wirklichkeitsbewußtsein von solcher Intensität verlieh, 
wie ich es gewöhnlich nicht kenne. Das sogenannte normale Be- 
wußtsein ist schon deshalb nicht das reichste, weil es vorzüglich 
Bewußtsein des Körpers ist. Wo die Lebensenergie diesen voll 
beseelt, sind die psychischen Kräfte zumeist auf den gleichen 
Mittelpunkt bezogen — unstreitig das biologische Optimum — 
so daß die Seele nur tut, will und erkennt, was dem physischen 
Organismus gemäß ist. Wo hingegen der Körper aus irgendwelchen 
Gründen als Vehikel des Lebens versagt, oder wo dieses ihm ab- 
sichtlich entzogen wird, dort erweitert sich das Bewußtsein bei 
jedem, in dem die Möglichkeit dazu besteht. Nun lebt die Psyche 
ganz in ihrer Welt, unbehindert durch körperhafte Schranken. Daher 
die wunderbare Serenität so vieler Sterbender oder Schwerkranker, 
daher das so häufige Zusammenbestehen eines großen Geists mit 
einem schwächlichen Leib, daher die Idee der Mortifikation, der 
künstlichen Schwächung des Körpers durch Fasten, Wachen, Geiße- 
lung und was sonst. Unzweifelhaft ist durch Gewaltmaßregeln 
solcher Art das Bewußtsein einer Erweiterung und Potenzierung 
Modifikation; Vorzüge der Blindheit. 121 
fähig. Deren sind sogar weit mehr noch denkbar, als die asketische 
Technik, soweit ich sie kenne, je zur Anwendung gebracht hat. Bei 
innerlichen Naturen führt z. B. eine zu sehr schönen Ergebnissen, 
die meines Wissens niemals zu diesem Zwecke gehandhabt worden 
ist : ich meine Blendung. Ich bin einmal, nach einer Augenoperation, 
eine Zeitlang blind gewesen, und muß sagen, daß diese Periode zu 
den reichsten meines Lebens gehört; sie war so reich, daß ich eine 
unverkennbare Verarmung spürte, als ich mein Augenlicht wieder- 
gewann. Während des Blindseins wurde mir mein Geistesleben 
durch nichts Äußerliches und Fremdes gestört, so daß ich mich an 
dessen Selbsttätigkeit ohne Unterlaß erfreuen konnte. Dieser war 
ich mir viel intensiver bewußt als sonst: die sich folgenden Ein- 
fälle, die sonst so schwer zu fassen sind, erschienen mir nun wie 
auf einen dunkelen Hintergrund hinausprojiziert, von dem sie sich 
in wunderbarer Plastik abhoben. Das Fehlen eines wichtigsten 
Organs schärft ferner nicht allein die übrigen, es mutet ihnen neue 
Aufgaben zu und dies verändert die Gesamtlage auf die Dauer so 
sehr, daß mir das Bewußtsein eines Verlustes in kurzer Frist voll- 
ständig abhanden kam und ich nur das Gefühl hatte, auf eine neue, 
höchst interessante Weise, welche derjenigen augenloser Tiere ent- 
sprechen mag, zur Welt in Beziehung zu stehen. 
Begründet ist also die Auffassung, die in krankhaften Zuh 
ständen ein Höheres sieht, den Tatsachen nach gut genug; muß zu- 
mal den Theosophen so erscheinen, die im Erwerb abnormer psy- 
chischer Fähigkeiten ein Ideal sehen, denn solche treten* bei patho- 
logischen Naturen ohne Zweifel am häufigsten in Kraft. Gleichwohl 
ist sie von Grund aus verfehlt: Besitz höherer Fähigkeiten in ab- 
normen Zuständen bedeutet nichts, beweist nicht den minde- 
sten inneren Fortschritt ; hier erscheint das Abnorme durch Ver- 
lust oder Beeinträchtigung des Normalen erkauft, und insofern, 
wenn nicht überzahlt (was meist der Fall ist), so doch sicher ohne 
Reingewinn erworben. Fromme Seelen sind häufig befremdet durch 
die nicht abzuleugnenden moralischen Gebrechen bewunderter 
„Heiliger": deren außergewöhnliches Können war eben nur zu oft 
kein Normalausdruck einer höheren Seinsstufe, sondern das Zufalls- 
produkt krankhafter Verschiebung eines durchschnittlichen psychi- 
schen Gleichgewichts. Von solchen „Heiligen" zu den landläufigen 
Medien hinab, die fast alle menschlich nichts taugen, führt nur ein 
Schritt. Es ist buchstäblich keine Kunst, in Krankheitszuständen 
122 Minderwertige Heilige; Psychopathen. 
seren, detachiert, überfeinfühlig, ja hellsichtig zu sein ; man kuriere 
solche höhere Wesen aus, und sie entpuppen sich schnell genug zu 
Durchschnittsmenschen. Das sind sie eben wesentlich ; das sind sie 
vor Gott. Wer Magie als Metier betreibt, gegen den ist natürlich 
nichts zu sagen ; der muß eben zusehen, wie er sich in dem 
Zustand erhält, von dem seine Leistungsfähigkeit abhängt. Auch 
gegen die Leistungen der Psychopathen als solche spricht ihre 
wesentliche Minderwertigkeit nicht: die Perle ist ein Krankheits- 
produkt der Auster. Man hüte sich ferner, jeden abnorm Begabten, 
welcher krankhafte Eigentümlichkeiten aufweist, gleich als patho- 
logische Erscheinung zu brandmarken : wenn Mohammed und der 
Heilige Franz an hysterischen Anfällen litten, so gilt Ähnliches auch von 
Napoleon und von Cäsar; höchstkomplizierte Mechanismen, die unter 
Hochdruck arbeiten, gelangen leicht in gelegentliche Unordnung, 
und diese Unordnung bedeutet doch nichts. Cäsar war nicht 
wesentlich Epileptiker, sondern die ungeheure geistige Spannung, 
unter welcher er lebte, fand auf diese Weise ihre f ü r ihn normale 
Auslösung, und gleiches gilt mutatis mutandis von vielen der größten 
spirituellen Heroen. Aber der Aberglaube muß ausgerottet werden, 
daß durch krankhafte Überreizung erkaufte Siddhis deren Besitzer 
zu einem höheren Wesen stempeln. Freilich kann in der Erweite- 
rung des Bewußtseins und seiner Wirkungssphäre ein biologischer 
Fortschritt zutage treten. Aber nur dann, wenn das Neue zum Alten 
hinzukommt, nicht es verdrängt. Jeder Krankheitszustand ist ein 
absolutes Übel ; nur der Siddha darf als höheres Wesen passieren, 
der im übrigen nicht weniger' ist als ein normaler Mensch ; nur er 
darf als Beispiel gelten. 
Was ich hier sage, dürfte allen wissenden Indern, im Gegensatz 
zu den meisten ihrer europäischen Jünger, selbstverständlich klingen. 
Es ist bewunderungswürdig, wie richtig sie von je diese Verhält- 
nisse eingeschätzt haben. Den Gurus des Altertums galten eine 
gute Gesundheit, ein vollkommen einwandfreies Nervensystem und 
eine robuste moralische Komplexion bei einem Schüler als Grund- 
bedingungen zur Aufnahme. Geistersehen als Naturanlage be- 
urteilten sie als Symptom von Gehirnerkrankung — nicht weil es 
keine Geister gäbe, sondern weil deren Sichtbarwerden, außer nach 
sorgfältig-sachverständiger Schulung, keine Erweiterung, sondern 
eine pathologische Verschiebung der normalen Bewußtseinslage be- 
zeichne. Nur die vollkommen Gesunden bildeten sie aus; und auch 
Urteilsklarheit der Inder ; der Yogi wesentlich gesund. 1?3 
von diesen, so geht die Überlieferung, erreichten nur wenige ihr 
Ziel, da der meisten Nerven die Spannung nicht aushielten, wes- 
halb es geboten schien, die Ausbildung abzubrechen. Jedenfalls 
sollte keine moderne Bewegung, die sich an der indischen Yoga 
inspiriert, unterlassen, deren Qrundpostulat zum ihren zu machen ; 
der Yogi ist wesentlich gesund ; er ist unbeschränkter Herr seiner 
Nerven; er ist jederzeit im Gleichgewicht, in jeder Hinsicht ab- 
solut normal. — Sie sollte ferner nie aus den Augen verlieren, daß 
der indische Yogi — von allen sicher der, welcher es am weitesten 
gebracht auf dieser Linie — ein Feind der Kasteiung ist. Wohl 
übt er Askese d. h. er führt das Leben, das erfahrungsgemäß der 
spirituellen Entwicklung am förderlichsten ist ; allein er mortifiziert 
niemals sein Fleisch. Weder schweift er im Fasten aus, noch im 
Wachen, noch in der Observanz ; er befolgt die Diät, die seine 
Natur am meisten zu kräftigen, nicht zu schwächen geeignet er- 
scheint: und kultiviert im übrigen eine andauernd freudige, das 
Leben bejahende, optimistische Seelenstimmung. — Endlich sollte 
eines niemals vergessen werden: wenn ein Mensch auch tatsäch- 
lich, nicht bloß scheinbar, auf höherer biologischer Entwicklungs- 
stufe steht, so braucht er deshalb noch kein höheres Wesen zu 
sein. Der Mensch ist biologisch weiter als das Tier, doch gibt es 
Narren und Schufte genug unter uns, und der niedere Mensch 
steht oft unter dem Affen. So bezeichnen nur zu viele unter 
denen, die abnorme Kräfte in sich ausgebildet haben, wohl Ver- 
treter einer höheren Naturordnung, aber minderwertige Vertreter. 
Man tut nicht gut, sie als Götter zu verehren. Schätzt man ihr 
Wesen nun richtig ein, so wird man ihnen besser gerecht ; man 
läuft nicht Gefahr, durch blinde Nachahmung an seiner Seele 
Schaden zu nehmen, noch unterliegt man der Versuchung, um er- 
kannter Gebrechen willen das Positive zu verleugnen oder abzu- 
weisen. Unzweifelhaft waren nicht allein Buddha und Christus, 
sondern auch Mohammed, Walt Whitman, Swedenborg, William 
Blake und noch geringere biologisch weiter als wir. Aber sie waren 
weder vollkommen noch allwissend noch auch von vielen ernsten 
Gebrechen frei. Sie waren mittelmäßige Vertreter einer höheren 
Spezies. 
1 24 Dunkler Anfang aller Religionsgemeinschaften. 
Wer die Masse der Theosophen genauer mustert, unter- 
drückt nicht leicht ein Lächeln ob deren Vorgabe, den 
Kern der neuen „Rasse" zu bilden, welche die große 
Kultur der Zukunft herbeiführen soll. In der überwiegenden Mehr- 
zahl sind es Leute von weniger als durchschnittlichem Geistes- 
niveau, zum Aberglauben neigend, neuropathisch, mit eben dem 
leicht-schadenfreudigen Egoismus auf das persönliche Heil bedacht, 
welcher von je für alle, die sich für auserwählt halten, be- 
zeichnend gewesen ist. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, 
daß die Geschichte ihre Anmaßung rechtfertigen wird. Aller Wahr- 
scheinlichkeit nach wird der Kern der Lehren, die unter anderen 
religiösen Gemeinschaften auch die Theosophische Gesellschaft ver- 
tritt, bald von Millionen als Glauben bekannt werden (man ver- 
gesse nicht, wieviele seiner Bekenner verheiratet sind!); unter 
welchem Banner dieser Glaube seinen offiziellen Einzug halten wird 
(falls es zu solchem kommt), hängt von Inkommensurabilien ab ; es 
könnte das der Theosophischen Gesellschaft sein. Welche Re- 
legionsgemeinschaft bestand nicht am Anfang aus ganz kleinen Leuten ? 
Nie hätte sich Paulus oder Augustin oder Calvin oder irgendeine der 
Leuchten der späteren Christenheit bei dessen Lebzeiten Jesu ange- 
schlossen. Bedeutende Menschen können nicht Jünger sein ; es ist 
ihnen physiologisch unmöglich. So fähig sie sind sich einem Ideal, 
einer Institution, einem objektivierten Geiste unterzuordnen — 
einem lebenden Menschen, nicht als beglaubigtem Repräsentanten, 
sondern als solchem blind zu folgen, widerstrebt nicht allein ihrem 
Stolz, sondern vor allem ihrer inneren Wahrhaftigkeit ; wo sie nur 
einen Menschen vor sich sehen, mit menschlichen Gebrechen und 
Schwächen behaftet, können sie nicht an Gottheit glauben. So 
hat sogar in Indien, dem Land des Glaubens par excellence, kein 
Religionsstifter, von dem ich gehört hätte, bei Lebzeiten geistig 
bedeutende Jünger gefunden. Die ersten, die sich um ein neues 
Glaubenszentrum scharen, sind ausnahmslos die Armen im Geiste, 
die Abergläubischen, die Psychopathen, denn die wollen vor allen 
Dingen geleitet werden ; dann folgen biedere Männer des prak- 
tischen Lebens, meist von Frauen hierzu verführt ; und erst wenn 
die Geschichte sich zum Mythos verfärbt hat (was im Orient 
freilich in Windeseile geschehen kann), wenn keine Tatsächlichkeit 
mehr dem Prozeß der Idealisierung im Wege steht, rücken die 
Die Mechanik religionsgeschichtlichen Werdens. 125 
ersten bedeutenderen Geister nach. So kann es kommen, daß die 
Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft von heute, wenn das 
Glück ihr hold ist, in der Geschichte tatsächlich als Pioniere fort- 
leben werden. 
Wer in die Mechanik religionsgeschichtlichen Werdens tiefer 
eingedrungen ist, wird sich hüten, die Unmöglichkeit irgendeines 
Ereignisses zu behaupten. Nirgends bestehen hier notwendige Zu- 
sammenhänge solcher Art, wie die Vernunft sie postulieren muß, 
um überhaupt konstruieren zu können. Darauf, daß von der Be- 
deutung der Gläubigen auf die des Glaubens keine Schlüsse zulässig 
sind, wies ich schon hin. Ebensowenig aber kann von der Bedeutung 
einer Idee auf die ihres Urhebers zurückgefolgert werden. Es ist 
bekannt, wie selten menschliche Größe mit geistiger zusammen- 
fällt; ein schwächliches Männchen nicht allein, ein höchst be- 
denkliches mag gleichwohl weltbewegende Ideen gebären. Eben 
dieses Verhältnis hat bis zu einem gewissen Grade auch bei den 
Stiftern der meisten Religionen zurecht bestanden. Mag die Le- 
gende noch so sehr von ihrer allbezwingenden Persönlichkeit be- 
richten — sicher ist, daß sie bei ihren Lebzeiten meist nur auf 
minderwertiges Publikum einwirken konnten ; was mit leidlicher 
Sicherheit beweist, daß sie starke Persönlichkeiten in gewöhnlichem 
Sinne nicht waren, denn solche erzwingen sich Anerkennung. So 
wenig besteht ein notwendiges Verhältnis zwischen der Entelechie 
einer Idee und derjenigen dessen, der sie gebar, daß von manchen 
Religionsstiftern nicht gewiß erscheint, ob sie überhaupt existiert 
haben. Wohl hat sich der spätere Mythos überall um eine historische 
Persönlichkeit herum verdichtet, aber ob diese die wirkliche Ur- 
heberin der weltbewegenden Ideen war, bleibt vielfach zweifelhaft. 
Der südliche Buddhismus stammt freilich von Buddha her; aber 
die Mahäyäna-Lehre, die dem nördlichen zugrunde liegt, geht sicher 
nur auf das erste Jahrhundert nach Christo zurück, ist in jenem 
Grenzlande zwischen Indien und Zentralasien aufgekommen, wo- 
selbst griechische und brahmanische Ideen sich gegenseitig durch- 
drangen und steht dem Sinne nach dem Christentum so viel näher 
als der Religion des Sakyersohns, daß man wohl berechtigt ist daran 
zu zweifeln, ob sie mehr als dem Namen nach buddhistisch ist. Die 
ursprüngliche Lehre Jesu bezeichnet hinsichtlich des Christentums, 
das seither die Welt erobert hat, nur ein Element ; sein Name ist 
zum Symbol und zum Brennpunkt all der vielfältigen Tendenzen 
126 Die Juden als auserwähltes Volk. 
geworden, die in namenloser Tiefe die Geschicke des Westens be- 
stimmten ; daher seine ungeheure historische Bedeutung, die in gar 
keinem Verhältnis steht zu dem geringen Grade, in dem seine 
Ideen bis heute verwirklicht worden sind. Und so geht es überall. 
Der Nietzscheanismus steht vielfach in direktem Gegensatz zu 
Nietzsche, um Bergson's Namen scharen sich Tausende, denen 
seine wahre Lehre, sofern sie dieselbe verstehen könnten, ein 
reines Ärgernis wäre. Es kann einer zu einem Größten im Sinne 
der Geschichte werden, ohne überhaupt gelebt zu haben ; ohne das 
gelehrt zu haben, was seine historische Bedeutung bedingt; ohne 
überhaupt etwas gelehrt zu haben ; ohne bedeutend gewesen zu 
sein ; und so fort. Gottes Wege sind unerforschlich, heißt es. Sicher 
spotten die Wege der Geschichte jeder noch so weit ausholenden 
Vernunftkonstruktion. So töricht Antisemitismus als Weltanschauung 
ist — er muß doch seine Berechtigung haben, da die Juden auf 
dem ganzen Erdenrund, im Orient noch mehr als im Okzident, all- 
gemein und gleichmäßig verachtet werden und von jeher ver- 
achtet worden ,sind. Und doch : wenn irgendein Volk ein Recht 
hat, sich für „auserwählt" zu halten, so gilt dies vom jüdischen. 
Sein Glaube liegt Christentum und Islam zugrunde und be- 
herrscht so indirekt die Welt; trotz aller Unterdrückung und Ver- 
achtung ist es nie degeneriert und heute gar gehören ihm die 
meisten unserer geistigen Führer an. So mag auch die Theoso- 
phische Gesellschaft trotz des problematischen Charakters mehrerer 
ihrer ersten Größen, trotz des Unbefriedigenden vieler ihrer Lehren, 
trotz der Minderwertigkeit der meisten ihrer heutigen Mitglieder, 
noch eine große Zukunft vor sich haben. 
Ich berührte vorhin einen Punkt, der eine eingehendere Be- 
trachtung verdient: die offenbare Unfähigkeit vieler derer, die von 
der Nachwelt als allbezwingende Persönlichkeiten gefeiert werden, 
ihre Zeitgenossen, einige wenige unbedeutende ausgenommen, un- 
mittelbar zu beeinflussen. Alle Propheten sind verlacht worden. Das 
beweist, wie ich schon schrieb, daß sie wirklich nicht die Macht 
hatten, so zu wirken, wie die große Persönlichkeit dies tut, denn 
diese wird, wenn auch regelmäßig angefeindet, so doch immer bei 
Lebzeiten von allen als solche anerkannt. Bei näherer Betrachtung 
erscheint diese ihre Unzulänglichkeit nicht weiter wunderbar. Die 
Kraft solcher Geister manifestiert sich in einer anderen Sphäre, 
als die der weltlich Großen, und für wen diese Sphäre nicht in Be- 
Weltliche Ohnmacht geistlicher Riesen. 1 27 
tracht kommt, auf den können sie nicht einwirken. Gleichwie die 
Macht eines abstrakten Intellekts nur von dem gespürt wird, der 
gleichen Denkens fähig ist, gleichwie der Genius nur vom Genius 
erkannt wird, so ist der gewaltigste spirituelle Riese über den 
doch machtlos, der keine Spiritualität besitzt. Natürlich kann es 
vorkommen, daß er überdies noch weltlich-gewaltig ist — dies gilt 
in hohem Grade von Augustin, von Savonarola, Luther und wenigen 
anderen — aber in der Regel ist er dies nicht, denn Spiritualität 
verlangt einerseits, erzeugt andererseits, je sublimierter sie wird, 
ein desto zarteres Naturell. Spirituelle Genien heischen ausnahms- 
los von vornherein Glauben, während weltliche dies selten tun, des 
gewiß, daß der Glaube der Erfahrung folgen wird — warum? Weil 
sie auf nicht gleichgestimmte Seelen genau nur soweit einwirken 
können, als diese ihnen entgegenkommen. Sie sind also typischer- 
weise im gewöhnlichen Verstände schwach. Ihre Kraft steht gleich- 
wohl außer Frage. Sie erweist sich am wenigsten in den unmittel- 
baren Bekehrungen oder Erneuerungen, die sie bewirkt — deren 
Objekte sind selten ernst zu nehmen; sie äußert sich darin, daß 
sie durch alle Zeit dem Geschehen Sinn und Richtung gibt. Die 
Ideen des Christentums, zunächst von kleinen Leuten aufgenommen, 
welche kaum mehr wußten, was sie taten, als die Schergen, die 
den Heiland kreuzigten, haben mehr und mehr, je weiter die Ge- 
schichte fortschritt, alle .Lebensgestaltung durchdrungen ; so sehr, 
daß heute eigentlich alles, was im Westen lebendig ist, auf den 
Geist Jesu Christi zurückgeht; ein gleiches gilt von Buddha, 
von Mohammed. Überall erweisen sich die spirituellen Kräfte 
auf die Dauer als die stärksten. Sie wirken auf geheimnis- 
volle Art: selten sind es die authentischen Worte der Erleuchteten, 
welche ihre Lehren durch die Zukunft tragen, so gut wie ni,e 
sind es originale Schriften, und die meisten Überlieferungen, die 
sich auf sie beziehen, sind sagenhaft. Es sind unfaßbare Impulse, 
die von den Meistern ausgehend, durch tausend Geister hindurch, 
durch tausend Umbildungen, Verdichtungen, Mißverständnisse, ihre 
magische Kraft gleichwohl bewahrend, dem Geschehen fortan die 
Richtung geben. Vielleicht trägt die Theosophie zurzeit einen solchen 
Impuls? Wer vermag das zu sagen? Die Zeit allein kann es er- 
weisen. Sie behauptet von den „Meistern" inspiriert zu sein, all- 
wissenden Übermenschen, die aus unerkannter Abgeschiedenheit 
heraus die Geschicke des Menschengeschlechtes lenken. Dieser 
i 28 Die Meister der Theosophie. 
Glaube an die Meister wird viel verlacht: warum zeigen sie sich 
denn nicht? warum wirken sie nicht unmittelbar ein? warum rührt 
keine der Großtaten des Menschengeistes von ihresgleichen her? 
Wozu bedienen sie sich zur Erfüllung ihrer Absichten so auffallend 
unzulänglicher Organe? — Ich weiß nicht, ob es Meister gibt; aber 
theoretisch möglich sind Wesen ihrer Beschreibung gewiß. Sind es 
Übermenschen im Sinne der Spiritualität, dann mag von ihnen im 
äußersten Maße gelten, was von allen geistlich Großen gegolten 
hat: sie erscheinen machtlos in allen niederen Sphären, können 
überhaupt nicht mehr unmittelbar in ihnen wirken, so daß es seinen 
triftigen Grund hat, wenn sie im Verborgenen bleiben wollen. 
Überall in der Natur muß Aufsteigen bezahlt werden: der 
Zarte ist dem Rohen unterlegen, der Spiritualisierte dem groben 
Patron, der Weise kann vieles nicht, was der Weltmann vermag usf. 
Aber freilich: gibt es Meister, dann kann nicht wahr sein, was 
die Theosophen von ihnen behaupten — sie könnten alles, täten es 
nur nicht, weil ihnen solches in ihrem unbegreiflichen Ratschluß 
besser dünkt. Sie können sicher nicht, was wir vermögen. Gott 
kann auch nicht, was wir können, sonst würde Er uns nicht so frei 
gewähren lassen. Jede Daseinsstufe hat spezifische Schranken. Und 
diese erscheinen desto auffallender, vom Standpunkte des Durch* 
schnittsmenschen her gesehen, je geistiger ein Wesen ist. 
Wieder und wieder wird mir versichert, die Reinkarnations- 
lehre sei keine Interpretation, sondern der unmittelbare 
Ausdruck eines nachweisbaren Tatbestandes. Ich kann 
diese Versicherung nicht nachprüfen, enthalte mich daher des Ur- 
teils: Immerhin ist sie eine Theorie, und Theorien sind keine Tat- 
bestände. Mich wundert, daß v es noch keinem Reinkarnations- 
gläubigen aufgefallen ist, daß sein Glaube praktisch auf das gleiche 
hinausläuft, wie der entgegengesetzte an die gottgewollte Einfür- 
allemaligkeit jeder Lebensstellung, wie Konfuzianismus und luthe- 
risches Christentum sie voraussetzen. Denn auch er behauptet ja 
nicht, daß eine gleiche Person von Verkörperung zu Verkörperung 
fortschreitet (wie wenig dies der Überzahl seiner Bekenner klar 
sein mag, die sich ja meistens aus Selbsterhaltungstrieb zu ihm be- 
kehrt haben), sondern nur daß von innen -her ein objektiver Zu- 
sammenhang besteht zwischen den verschiedenen Erscheinungs- 
Die Wiederverkör perungslehre. 1 29 
formen des Lebens. Eben das behauptet das Luthertum ; nur das 
vereinigende Band interpretiert es anders. Darum wäre ich, als 
kritischer Philosoph, bis auf weiteres geneigt, den sich ausschließen- 
den Theorien den gleichen Wahrheitsgrad zuzusprechen. Die eine 
drückt den Tatbestand in kinematischer, die andere in statischer 
Sprache aus. 
Die kinematische Auffassung des Lebensprozesses hat nun un- 
zweifelhaft sehr große Vorzüge. Wie keine andere rechtfertigt sie 
das Geschehen vor der Vernunft, sie nimmt ihm seinen trostlosen 
Charakter, stimmt das Herz Vertrauens- und hoffnungsvoll. Es sollte 
mich sehr wundern, wenn sie nicht früh oder spät auch im Westen 
zur Vorherrschaft gelangte. Trotzdem muß ich es jetzt, wo ich 
Reinkarnationsgläubige aus eigener Anschauung kenne, als die viel- 
leicht größte bonne fortune der westlichen Menschheit ansprechen, daß 
sie ein paar Jahrtausende lang diesen Glauben nicht gehegt hat. 
Die weitaus meisten seiner Bekenner sind indolent. Kein Wunder: 
da sie Jahrtausende vor sich haben, um weiterzukommen, da der 
Weltprozeß sie ferner von sich aus vorwärts treibt (denn der ob- 
jektive Sinn des Geschehens gilt ihnen als ein aufwärtsgerichteter) 
so sehen sie keine Veranlassung zur Eile. Sie lassen sich 
mehr leben, als daß sie leben, verschieben auf übermorgen, was 
heute geschehen sollte, vertrauen in allem auf die allesvollbringende 
Zeit. Hiergegen der Christ, der nur ein Leben vor sich hat, eine 
kurze Frist, deren Ausnutzung unwiderruflich darüber entscheiden 
wird, ob er errettet werden kann oder ewig wird braten müssen: 
der hat wahrlich Veranlassung sein Äußerstes dranzusetzen, mit 
aller verfügbaren Kraft augenblicklich zu tun, was im Augenblick 
geschehen kann, denn eine Sekunde später ist es vielleicht zu 
spät. Seine Vorstellung vom Weltlauf ist entsetzlich, gewiß — 
aber wie sehr stählt sie! Wie verbrüht sie alle Sentimentalität! 
Wie spornt sie die Lebensgeister an! Wie sehr beschleunigt 
sie die Entwickelung! Und welches Pathos verleiht sie dem 
Dasein! Die ganze Dichtigkeit und Effikazität des Westländers, 
seine ganze Charakterstärke und Willensenergie, sein ganzer 
trotziger Mut und männlicher Stolz rührt daher, daß sein Glauben 
ihn dazu erzogen hat, die schwerste Verantwortung zu tragen und 
sich ohne Umschweife zu entscheiden. Der Europäer (wie übrigens 
auch der Muslim) stellt dem Inder gegenüber die viel potenziertere 
Lebenseinheit dar, er ist viel gespannter, vitaler. Das verdankt er 
Keyserling, Reisetagebuch. 9 
1 30 Vorzag des Glaubens an das Jüngste Gericht; Plato. 
zum nicht geringen Teil dem Glauben seiner Väter an das Jüngste 
i Gericht. Auch ich meine, daß dieser seine Arbeit getan hat ; daß er 
jetzt einem weiseren Platz machen kann. Fortan mag sich auch die 
Christenheit, wenn es ihr so gefällt, zum Wiederverkörperungs- 
glauben bekennen, denn jetzt sind die Eigenschaften, die der alte 
ins Leben rief, schon so fest unserer Erbmasse eingebildet, daß sie 
sich ohne äußere Stützungen forterhalten werden. Immerhin ist es 
unwahrscheinlich, daß dieser Vorstellungswechsel ohne Verlust ge- 
schehen wird: das Pathos, das die Überzeugung vom einmaligen 
und entscheidenden Charakter des jeweiligen Lebens bedingt, geht 
verloren. 
Aber wenn die Seelenwanderungslehre auch sehr große Zu- 
kunftsaussichten hat, so steht doch zu hoffen, daß sie niemals die 
Rolle spielen wird wie heute im Bewußtsein der Theosophen. An- 
statt, wie die Inder, den vorausgesetzten Tatbestand gelassen anzu- 
erkennen und im übrigen an anderes zu denken, beschäftigen diese 
sich unausgesetzt mit den Möglichkeiten der Vergangenheit und Zu- 
kunft. Sie studieren ihre okkulten Stammbäume mit einer Eitelkeit, 
die vielfach widerlich wirkt, arbeiten mit kleinlichster Vorsorge ihrem 
künftigen Leben vor und schweifen, was das Okkulte betrifft, in der 
Neugierde in einem Grade aus, der auf der Ebene des Manifesten 
mit Recht als unanständig gilt. ... Ich muß an Plato denken, auch 
einen Gläubigen der Seelenwanderung: wieviel angemessener war 
die lächelnd-weltmännische Art, mit der er die großen Probleme 
behandelte, als die irdisch-schwerfällige der Theosophen! Er sagte: 
freilich wird die Seele wiedergeboren — aber vielleicht wird sie es 
auch nicht? Wer kann das wissen? Ich selber weiß nicht, was ich 
Weiß ; es ist wohl nur eine Redensart, diese Theorie, oder ein 
schönes Märchen, an das man glauben mag oder auch nicht, je nach 
der Stiinmung. ... 
Das Faszinierendste für mich an Adyar ist die Atmosphäre der 
Messiaserwartung. Unter den Residenten befindet sich ein 
— indischer Jüngling, von dem es heißt, daß der Heilige Geist 
sich seiner einmal als Gefäßes bedienen werde ; das hätten die 
Meister geoffenbart. Er werde dem kommenden Zeitalter zum Hei- 
land werden. Für einige Tage habe ich diesen Glauben übernommen, 
um möglichst alles zu erleben, was er bedingt, und gestehe, daß 
Der Messias von Adyar. ; 131 
ich ihn ungern wieder abgelegt habe: denn es ist eine Lust zu 
leben unter solcher Voraussetzung. Welch' ungeheuren Hintergrund 
gibt sie dem unscheinbarsten Dasein ! Wie steigert sie das Selbst- 
gefühl ! Wie spannt und begeistert sie alle Kräfte! Ich bin über- 
zeugt: wenn ich mit meinem ganzen Wesen diesen Glauben dauernd 
bekennte, ich würde zehnmal leistungsfähiger sein, und, sei er noch 
so unbegründet, zehnmal schneller meinem inneren Ziele nahe- 
kommen. Denn was bedeutet er? eine Objektivierung des Ideals. 
Nie ist es der Heiland als solcher, welcher erlöst, sondern das Ideal 
seiner Gläubigen, das er verkörpert. Gleichwie die Anschauung des 
Kreuzes oder eines Heiligenbildes die Konzentration der Aufmerk- 
samkeit auf das Göttliche erleichtert und verstärkt, genau im gleichen 
Sinne, nur in höherem Grade, hilft ein fleischgewordenes Ideal. 
Jeder hat das im Kleinen erfahren. Aufschauen erhebt. Wen immer 
man verehrt und bewundert hat — solange man ernsthaft verehrte, 
hat auch das Mißverständnis einen weiter gebracht. Es kommt eben 
nicht darauf an, was das verehrte Objekt an sich sei, sondern auf 
das, was es einem bedeutet. Hierher rührt es, daß unerreichbare 
Ideale — unerreichbar nicht allein weil sie transzendent wären, son- 
dern weil ihre Träger fern oder tot sind — sich auf die Dauer am 
besten bewähren : deren Wirkung kann durch kein empirisches Ver- 
sagen beeinträchtigt werden; hierher rührt es, daß es religiös so 
gleichgültig ist, ob ein Gottmensch je gelebt hat oder nicht. Glauben 
im religiösen Sinne heißt nicht Für-wahr-Halten, sondern Streben 
nach Selbstrealisierung durch Konzentration der Gemütskräfte auf 
ein vorausgesetztes Ideal. Und die unvergleichliche Wirkung lebender 
Gottmenschen (wo von solchen die Rede sein kann), rührt daher, daß 
sie ihrer Gefolgschaft das ihre unvergleichlich deutlich machten und 
seine bildende Kraft dadurch in ungeheurem Maße steigerten. So be- 
zeichnet der theosophische Messiasglaube zunächst ohne jeden Zweifel 
ein produktives Moment. Wie es später sein wird, steht freilich in 
Frage. Daran zweifle ich nicht, daß der betreffende Jüngling, falls er 
lebt und sonst kein Unglück geschieht, zum Religionsstifter werden 
wird: das würden viele werden unter- gleich starker Suggestion. 
Aber sollte sich sein Kaliber als zu klein erweisen, so daß er der 
Kritik gar nicht stand halten kann, so könnte das desaströse Folgen 
haben. In früheren Zeiten, wo Heilande, wenn nicht zu den alltäg- 
lichen, so doch den nicht allzu seltenen Gästen gehörten, war die 
Glaubenskraft der Menschen so groß, daß keine Entgleisung und 
9* 
1 32 Existenz eines Heilands religiös gleichgültig. 
Enttäuschung sie innerlich schädigte ; desto weniger, als sie gar 
nicht wirklich enttäuscht werden konnten — sie glaubten trotz allem 
und durch alles hindurch. Das war ihr Glück: Glauben ist ein a 
priori, eine selbständige schöpferische Macht, die sich als solche 
selber rechtfertigt. Diesen Glauben kennt der Moderne nicht; der 
seinige ist ein zartes Gewächs, das der geringsten Verwundung er- 
liegen mag, und von allen Geschädigten ist der Enttäuschte am 
übelsten dran, weil der Verlust des Glaubens recht eigentlich ent- 
vitalisiert. Ohne ihn ist volles Selbstbewußtsein nicht möglich. Weil 
der Glaube fehlt, deshalb sehnen sich heute so viele nach einer 
neuen Religion: sie bedürfen eines äußeren Brennpunktes, um ihre 
inneren Kräfte zur Einheit zu sammeln, denn noch sind die 
wenigsten so weit, dies von innen her selbsttätig zu vermögen, 
ohne äußeren Halt enttäuschungsunfähig zu sein. Die jüngste, 
so tiefsinnige Ausdeutung des Christenglaubens auf den einen 
Spruch hin, daß das Himmelreich inwendig in uns sei, geht im 
allgemeinen noch auf kein vertieftes Selbstgefühl zurück, sondern 
die Erkenntnis einer dem Leben vorausgeeilten Vernunft. Insofern 
ist die Zeit, da religiöse Führer nützen können, auch für Europa 
noch nicht vorüber. Aber wie gesagt: die Glaubenskraft ist heute 
gar zu schwach, und wird ein bestimmter, glücklich erwachsener 
Glaube auf einmal zerstört, so kann das allen Glauben ruinieren, 
was unabwendbar zu Nihilismus und Zersetzung führen würde. So 
sehe ich dem Schicksal des neuen Welterlösers, der im übrigen 
meiner Sympathie gewiß ist, wie jeder, der ein beschleunigendes 
Motiv ins Leben bringt, nicht ohne ernste Sorgen entgegen. 
Natürlich wollen es die orthodoxen Theosophen ebensowenig 
wahrhaben, wie die Christen, daß die empirische Tatsächlichkeit 
eines Heilandes nicht sein Wesentliches sei. Und scheinbar mit 
Recht, denn zweifellos kommt es darauf an, wer der ist, dem man 
sich gläubig hingibt. Ein erleuchteter Geist kann noch dunkele Exi- 
stenzen erhellen, ein Genius der Liebe noch verhärtete Herzen er- 
weichen, was Geringere, die noch so starken Glauben finden, 
nicht vermögen. Aber das ändert nichts an der Wahrheit meiner 
Behauptung. Kein Lehrer vermag zu geben, was nicht latent in 
einem vorhanden war: er vermag nur das Schlummernde zu wecken, 
das Verschlossene zu befreien, das Verborgene hervorzuziehen. Das 
genügt, um ihm den Rang zu sichern, den ihm die Menschheit immer 
zuerkannt hat, denn allzu selten geschieht es, daß einer sich beistände 
Wahrer Sinn des Erlösertums. 1 33 
los seiner selbst bewußt werden kann ; ohne Hilfe von außen her 
wird das Latente nur ausnahmsweise manifest. Aber nie darf dies 
doch so gedeutet werden, daß Lehrer geben, was man von sich aus 
nicht besaß ; sie sind immer nur Auslöser, nicht Schenker. Und 
was einmal da ist, kann im Prinzip auf tausend Weisen zutage ge- 
fördert werden. So haben die Menschen auch von je auf vielen 
Wegen sich selbst gesucht und gefunden. Die Stärksten ohne äußere 
Hilfe, weniger Starke mit geringer, noch Schwächere mit größerem 
äußerem Aufgebot; dementsprechend gibt es Systeme der Asketik 
von monumentaler Einfachheit abwärts bis zur äußersten Kompli- 
kation, Religionsformen mit und ohne Vermittler, auf Autorität oder 
auf Selbstbestimmung aufgebaut. Sinn und Zweck sind überall die 
gleichen. Da die Masse nirgends selbständig ist, so haben alle 
Religionen überall, wo sie der Gesamtheit ein Evangelium sein 
wollten, den Nachdruck auf die Vermittelungen gelegt; im mo- 
dernen Hinduismus spielt Sri Krishna und im nördlichen Bud- 
dhismus Amidha-Buddha genau die Rolle, wie Jesus innerhalb des 
Christentums. Gleiche Nöte erheischen gleiche Heilmittel. Aber das 
ist ein Aberglauben, daß die Heilande als solche, als bestimmte 
Menschen, die Erlöser wären: persönlich kommen sie nur als Aus- 
löser in Betracht. Und von den meisten, vielleicht von allen, gilt 
nicht einmal so viel, da ihre eigentliche Wirksamkeit erst spät nach 
ihrem Tode begonnen hat: sie wirkten als reine Verkörperungen 
des Ideals. Hier komme ich denn nochmals auf den Vorzug un- 
erreichbarer Ideale vor erreichbaren zurück: was die Phantasie un- 
behindert idealisieren darf, ist das bei weitem zuverlässigere Gefäß. 
Im glaubenskräftigen Orient mag ein gebrechlicher Mensch trotz 
aller Schwächen als Avatar verehrt werden ; dies geschah jüngst erst 
Ramakrishna Paramahamsa, dem ekstatischen Heiligen von Dakshi- 
neswar. Unter modernen Europäern, selbst unter Theosophen, wird 
solches schwer mehr zustande kommen. Wie denn auch Ramakrishna 
nur seitens eines kleinsten Kreises bei Lebzeiten gottgleiche Ver- 
ehrung genoß und erst jetzt, über dreißig Jahre nach seinem Tod, 
zum katholischen Heiligen auszuwachsen beginnt. 
Worauf beruht nun im Letzten, im Metaphysischen, der Trieb, 
sich einem Höheren hinzugeben, unser Glück, wenn wir Höheres 
schauen dürfen, die gewaltige innere Förderung, die es bedingt? 
— Sie beruht darauf, daß der Mensch in dem, was über ihm steht, 
einen wahreren Ausdruck seiner selbst erkennt, als er ihn selber 
1 34 Ein Beispiel geben als Äußerstes. 
darzustellen vermag. Jeder fühlt, nur zu sehr, wie unvollkommen 
er in seiner Erscheinung sein wahres Wesen realisiert. Er handelt 
nicht seinem Selbste entsprechend, denkt nicht so, wie er es meint, 
ist anders, als er sich innerlich sein fühlt. In jedem Individuum sind, 
mit seltenen Ausnahmen, so disparate Anlagen vereinigt, daß es ihm 
mit der vorhandenen Kraft nicht gelingen kann, sie sämtlich zu 
durchseelen. So sind Schöne meist dumm, große Täter selten ver- 
ständnisreich, geistig produktive Naturen nur ausnahmsweise als 
Menschen der Vollendung fähig. Aber jeder weiß, daß er wesent- 
lich mehr ist, als er zur Darstellung zu bringen vermag; und er- 
kennt sich daher im Vollendeten besser wieder, als in der eigenen 
unvollkommenen Gestalt. So verstehen wir augenblicklich eine 
Wahrheit, die wir nimmer selbst gefunden hätten und sagen dabei: 
so meinten wirs eigentlich. So fühlen wir uns wunderbar gesteigert, 
ausgeweitet, wenn wir vollkommener Schönheit gegenüberstehen, denn 
in vollendeter Gestalt erst findet das Wesen die ihm ganz gemäße 
Ausdrucksform. Im eben dem Sinne schaut der schwache Mensch be- 
glückt in der großen Seele eines anderen sein endlich entsprechend 
ausgedrücktes Selbst. Wer je einem Großen begegnet ist, hat sich 
gesagt: den habe ich immer gekannt. Freilich hat er das. Hierher 
rührt denn im letzten die ungeheure Wirkung, die das bloße Dasein 
eines solchen ausstrahlt. Er zeigt den Menschen, was alle sein 
könnten, was alle im Tiefsten, im Geiste und in der Wahrheit sind. 
Und wie immer der klare Ausdruck dessen, was das Bewußtsein 
im Stillen und Dunkeln meint, nicht nur beglückt, sondern die Fort- 
entwickelung beschleunigt, so hilft der antizipierte Ausdruck ihrer 
Selbst, das ein Großer allen bedeutet, ihnen allen zu beschleunigter 
Selbstverwirklichung. Hier wurzelt die alte Erkenntnis, daß das 
bloße Dasein eines Heiligen mehr Segen bringt, als alle guten 
Handlungen der Welt ; hier wurzelt im Letzten die Bedeutung eines 
Heilands. Er gibt der Menschheit ein Beispiel; so hat 
es auch Christus gemeint. Damit tut er aber das Äußerste, was ein 
Wesen für ein anderes tun kann. Er zeigt den Menschen ihr tiefstes 
Selbst im Spiegel ; er schafft ihnen Klarheit über ihr Ideal. Er ver- 
körpert es sichtbarlich und gibt damit den schöpferischen Kräften, 
die vom Wesen her jeden himmelwärts treiben, das ersehnte Vorbild 
und Ziel. Nun wissen sie, wohin sie hinaussollen, nun wissen sie, was 
ihnen möglich ist. So kann es geschehen, daß das absichtslose Da- 
sein eines großen Menschen dem Leben aller eine Wendung gibt 
Jüngste Entwickelung Christi; Sieg des Protestantismus. 135 
Und doch, und doch — kann die Menschheit einen Heiland 
noch brauchen? Kann er noch das für sie bedeuten, was 
ihn allererst zum Heiland macht? Spricht nicht Iwan 
Karamasoffs Vision vom wiedererstandenen Christus und dem Groß- 
inquisitor in dieser Frage das letzte Wort? — Insofern wohl 
nicht, als es noch keine homogene Menschheit gibt; noch steht 
die Mehrzahl auf einer Entwicklungsstufe, die sie zur Aufnahme 
eines Erlösers im Prinzip wohl geeignet erscheinen läßt. Es treten 
ja deren auch wieder und wieder auf, nicht nur im Orient, sondern 
auch mitten in unserer Welt, und finden bereitwilligst Glauben. 
Bisher hat keiner von ihnen posthum sehr große Karriere gemacht 
(mit der einzigen Ausnahme M rs * Baker-Eddy's, die aber schwerlich, 
so weit sie es gebracht, bis zur Welterlöserin aufsteigen wird)}, 
aber was geschehen kann, ist unberechenbar ; kein Römer noch zur 
Zeit Diokletians hätte für möglich gehalten, daß der ganze Westen 
sich dereinst zu Christo bekennen würde. Immerhin scheint soviel 
mir gewiß : die Kreise, auf die es ankommt, insofern sie die Träger 
der geschichtlichen Bewegung sind, können einen neuen Heiland 
wohl nicht mehr gebrauchen. Woraus folgt, daß — sofern keine 
Barbarisierung hereinbricht, wie nach dem Zusammenbruch des 
römischen Reichs — kein Religionsstifter es fortan mehr, soweit 
sich absehen läßt, zur Stellung eines Welterlösers bringen wird. 
Ich will nicht von den technischen Hindernissen reden, die 
solcher Laufbahn heute im Wege stehen : dem Prestige der wissen- 
schaftlichen Kritik, der wachsenden Aufklärung, dem Schwächer- 
werden der Glaubenskraft, der Publizität; die könnten überwunden 
werden. Was einer neuen Messiaslaufbahn unter uns recht eigent- 
lich den Boden untergräbt, ist die wachsende Neigung aller Vorge- 
schrittenen, ihre eigenen Erlöser zu sein. Es ist nicht zu leugnen : 
der Geist des Protestantismus siegt. Höchst interessant und charak- 
teristisch ist es, was aus Christus im Laufe seiner jüngsten Ent- 
wickelung wird. Schon tritt der historische Jesus ganz zurück ; 
schon wird von objektiver Erlösung ganz geschwiegen; schon wird 
die ganze Theodicee des Mittelalters ignoriert. Was übrig bleibt, 
ist der inwendige Christus, den Jesus als erster Mensch 
in sich zum Leben erweckt hätte, den nunmehr jeder für sich, auf 
seine persönliche Weise, in sich zur Herrschaft bringen soll. Wer 
schon Christus als Person nicht berücksichtigt, wird schwerlich 
136 Weltreligionen fortan unmöglich. 
einen neuen Heiland anerkennen. Und diesen selbständigen Geistern 
gehört die Zukunft ; darüber kann kein Zweifel sein. Man beurteile 
den Tatbestand wie man will — ich persönlich bin alles eher als 
blind gegenüber den Nachteilen übertriebener Protestantisierung — 
es ist keine Frage, daß der „objektive Geist" sich unaufhaltsam 
einem Zustande zubewegt, indem der Einzelne, aller Vermittelungen 
entratend, persönlich und unmittelbar über alles, was ihn innerlich 
angeht, entscheiden will. Dieses Ergebnis war seit den Tagen der 
Reformation vorauszusehen ; was damals angebahnt ward, wird rest- 
los verwirklicht werden. Und bis das geschehen ist, bis sich gezeigt 
hat, was dieser neue Zustand objektiv wert ist, besteht keine Aus- 
sicht, daß andere Tendenzen historische Bedeutung gewännen. 
So werden die Träume der Theosophen vom kommenden Welt- 
erlöser wohl schwerlich eine Verwirklichung erleben. Aber zu einer 
Sekten heilandschaft könnte ihr Messias es wohl bringen ; und das 
wäre schon genug. Es wäre an der Zeit, die Idee einer „Welt- 
religion" ein für alle Male fallen zu lassen ; wie denn alle Verallge- 
meinerungsversuche im Konkreten, diese letzten Überreste aus pri- 
mitiven Denkstadien. Es konnte Weltreligionen geben — und gibt 
deren ja heute noch — wo die Menschheit wenig individualisiert 
war und gleichzeitig weite geschlossene Verbände bestanden. Aber 
die Menschheit individualisiert sich mehr und meTir von Tag zu 
Tag; sie wird sich dessen mehr und mehr bewußt; und immer 
stolzer auf das Persönliche. So verliert die Idee der Universalität 
in allen innerlichen Fragen mit jedem Tage an Bedeutung und 
Macht, erweisen sich allgemeine Formeln als immer unzulänglicher. 
In immer besonderer Gestalt offenbart sich der Sinn dem Einzelnen 
und das ist gut, denn, wie Adele Kamm sich ausdrückt, Gott wird 
mächtiger dadurch. Die Theosophische Gesellschaft hat die Idee der 
Universalität dadurch zu retten und ihren Zwecken dienstbar zu 
machen versucht, daß sie alle Religionsformen in sich beschließen 
will. Das macht sie, fern davon sie zu stärken, schwach. Ein so 
weites kann als Monade nicht bestehen. Es kann keinem eine innere 
Form geben, der eigentliche Zweck der Konfession. Nun will sie 
zwar auch keine Konfession sein, aber diesen Willen gibt sie un- 
willkürlich auf; sie muß es, sofern sie als Lebendiges dauern 
will ; als bloß wissenschaftliche Vereinigung vermöchte sie nichts. 
Ersteht der erhoffte Messias, dann wird ein Teil der Theosophischen 
Gesellschaft von heute sich wohl um ihn gruppieren. Indessen aber 
Die Theo sophie hat keine Weltmission. 137 
kristallisieren die Gefolgschaften Annie Besanf s, Katherine Ting- 
ley's, Rudolf Steiner's und mancher anderer in aller Stille zu ab- 
geschlossenen Sekten aus. Und das ist gut. Nur in dieser Form 
hat die Theosophie als konkrete Gestaltung Zukunft. Natürlich 
wollen es die Führer von heute nicht wahrhaben, daß der gran- 
diose Traum Madame Blavatskys keiner dauerhaften Verwirk- 
lichung fähig ist. Es schadet auch nicht, daß sie sich an ihn fest- 
klammern, denn das gibt ihrem Schaffen einen großen Zug. Aber 
früher oder später werden sie es einsehen müssen, daß das Streben 
nach Katholizität ein Mißverständnis ist, und sogar dankbar sein 
dafür, daß die Natur der Dinge sie am Ausführen ihres Vorhabens 
verhindert. So, wie sie geplant ward, könnte die Theosophische Ge- 
sellschaft nicht auch annähernd so viel wirken und bedeuten, wie 
sie in ihrer tatsächlichen Gestalt bedeuten kann und wird. 
Natürlich wird man der Theosophie nicht gerecht, indem man 
ihren Ideenkreis mit der Messiaserwartung des Adyarkreises 
in notwendigen Zusammenhang bringt. Allein ich fürchte, 
was ich über die Unwahrscheinlichkeit einer Weltmission der 
Theosophie bemerkte, besteht unter allen Umständen zu recht. Es 
ist gut möglich, daß ihr System in höherem Grade, als ich selber 
wahrhaben möchte, den wirklichen Verhältnissen entspricht, es ist 
sehr wahrscheinlich, daß es dereinst dem Geiste (wenn auch 
schwerlich dem Buchstaben) nach von der Mehrzahl der Menschen 
anerkannt werden wird, denn schon heute gilt dies unter noch 
so verschiedenen Namen in hohem Maße. Theo- und Anthro- 
posophie, New Thought, Christian Science, die neue Gnosis, Vive- 
kanandasVedäntismus, der neu-persische und -indisch-islamische Eso- 
terismus, von dem der Hindus und Buddhisten zu schweigen, das 
Bahaitum, die Weltanschauungen der verschiedenen spiritualistischen 
und okkultistischen Zirkel, sogar die der Freimaurer gehen ja alle 
von einer wesentlich gleichen Grundauffassung aus und sicher 
haben alle diese Bewegungen mehr Zukunft, als das offizielle 
Christentum. Aber dies sichert der Theosophie als lebendiger 
Entelechie doch keine. Was diese zu dem macht, was sie heute ist, 
ist nicht ihr theoretisches Lehrgebäude, dessen Grundriß Millionen 
anerkennen, die um keinen Preis als Theosophen gelten möchten, 
1 38 Religiöser Unwert okkulter Ausbildung. 
sondern eine bestimmte Auffassung, Ausdeutung und praktische 
Anwendung desselben. Das Wort Theosophie bezeichnet heute die 
besondere Konfession eines bestimmten religiösen Verbandes, und 
daß dem eine Weltmission bevorstünde, bezweifele ich. Die Theo- 
sophie als Religion wird fortfahren viele einzelne glücklich zu 
machen, beschränkten Sekten einen Inhalt zu geben, allein im Leben 
als historische Bewegung wird sie keine bedeutende Rolle spielen. 
Ich will die wichtigsten prinzipiellen Momente zusammenstellen, die 
dem entgegenstehen. 
Der erste Einwand gegen die Theosophie als Lebenskraft be- 
zieht sich auf ihre Hinneigung zum Okkultismus. So wünschenswert 
ich es finde, daß die okkulten Kräfte, soweit es sie gibt, möglichst 
genau und eingehend studiert würden — der Gewinn wird der 
Wissenschaft, nicht der Religion und dem Leben zugute kommen. 
Übersinnliche Erkenntnis ist spirituell nicht bedeutsamer als sinn- 
liche, und die „Geheimwissenschaft" als Religion oder als Weg zu 
ihr, wie sie von den meisten Theosophen angesehen wird, ist keinen 
roten Heller mehr wert als die energetische Weltanschauung Wil- 
helm Ostwalds. Sogar mittelbar werden die etwaigen Ergebnisse der 
Geheimforschung weit weniger für das Leben bedeuten, als ihre 
Adepten wähnen. Diese träumen von einem Zustand, wo die Tele- 
pathie alle äußeren Verständigungsmittel ersetzen, und Willenskraft 
alle physischen Energien überflüssig machen wird : das sind ebensoviel 
törichte Utopien. Mag das Physische noch so sehr durch die Psyche 
beeinflußbar sein : auf Jahrhunderte hinaus wird es billiger und in- 
sofern zweckmäßiger bleiben, das Körperliche, in allen akuten Fällen 
wenigstens, mit körperlichen Mitteln zu behandeln. Zur Erledigung 
der normalen Geschäfte dieses Lebens werden die normalen Kräfte 
nicht nur für immer ausreichen, sondern auch für immer als einzige 
in Betracht kommen, oder wenn nicht für immer, so doch sicher so- 
lange, als die Menschen sich nicht wesentlich verändert haben 
werden. Die verborgenen Sphären der Wirklichkeit, welche die 
Ausbildung der seelischen Organe erfahrbar machen soll, gehen uns 
hier nichts an ; je weniger wir sie beachten, desto besser. Wir sind 
weiter als das Mittelalter hauptsächlich deshalb, weil wir den Glauben 
verloren haben an mysteriöse Verknüpfungen, was doch beweist, daß 
deren Anerkennung nicht fördert. Sie kann nicht fördern, weil sie 
nichts anderes bedeutet, als ein Rechnen mit Einflüssen, die, falls 
überhaupt wirksam, geringfügig sind gegenüber den banalen dieser 
Theosophie veräußerlicht den religiösen Trieb. 1 39 
Sphäre, und sie schädigt direkt, wo jene ursprünglich gar nicht er- 
fahren werden, und nun alles daran gesetzt wird, sie erfahrbar zu 
machen. Wer darauf hinarbeitet, kommt notwendig herunter inner- 
lich genau wie der, welcher ständig an seine Gesundheit denkt; 
er verliert zuletzt jegliche Unbefangenheit. Wir sollen möglichst 
geradeaus leben, möglichst mutig, möglichst unbeirrt von innen 
heraus, möglichst unbekümmert um alles Abliegende und Äußer- 
liche ; je mehr wir das tun, desto stärker und reiner werden 
wir. Je weniger der Mensch sich auf fremde Mächte verläßt, je 
mehr er auf sich nimmt, desto wohler will ihm die Natur. Das 
Ideal ist, nicht allen Verhältnissen Rechnung zu tragen, sondern 
so fest in sich gegründet zu sein, daß Verhältnisse gleichgültig 
werden. Der Okkultist nun schielt ständig seitwärts, vor- und rück- 
wärts, er ist nie wirklich unbefangen. Also kann er kein Führer 
sein in diesem Leben, so nützlich er sich als Organ erweisen mag. 
Da nun das Streben nach psychistischer Entwickelung der Spiri- 
tualisierung, wie bereits auseinandergesetzt, nicht zugute kommt, 
sondern entgegenwirkt, so gehe ich schwerlich fehl, indem ich die 
Hinneigung zum Okkultismus der Theosophie vom Standpunkte 
einer möglichen Bedeutung für das Leben als schlechthiniges Passi- 
vum buche. 
Das zweite, mit dem vorher betrachteten zusammenhängende 
Moment, das gegen sie spricht, ist die Veräußerlichung, welche der 
religiöse Trieb mit Unvermeidlichkeit in ihr und durch sie erleidet. 
Gesetzt, es sei alles das wahr, was die Theosophie über die Hierarchie 
der Geister, die Götter, Halbgötter und Meister, die Führung des 
Menschengeschlechts usw. lehrt — sicher tut es diesem nicht gut, 
sich allzuviel um sie zu kümmern. Aller religiöser Glaube hat nur 
den einen Sinn, der Selbstverwirklichung zuzuführen ; er bezeichnet 
den imaginativen Exponenten des Seins, das Spiegelbild des Seins- 
zentrums im Bewußtsein. Der unentwickelte Mensch muß an 
Äußerliches glauben, weil es für ihn kein anderes Mittel gibt, seine 
Kräfte auf einen Mittelpunkt zu beziehen, zu dynamischer Einheit 
zu verdichten ; der entwickelte glaubt an sich selbst — den „Gott 
in sich" — , oder er glaubt überhaupt nicht, sondern ist einfach, 
denn wo das Seinsbewußtsein voll entfaltet ist, fallen Sein und 
Glauben zusammen. Welcher Art das Äußerliche ist, das jener 
glaubt, ist an sich gleichgültig; aber da es eben nur ein Mittel ist, 
kein Zweck, da religiöses Glauben mit Für-wahr-Halten im theore- 
40 Vorzug anerwiesener Götter. 
tischen Sinne nichts zu tun hat, und der Existenz oder Nicht-Existenz 
eines Glaubensobjektes in der Wirklichkeit keine Bedeutung zu- 
kommt, so ist es gut, wenn dieses möglichst unerwiesen ist. 
Man braucht nicht so weit zu gehen, wie Tertullian, der da ver- 
kündete credo quia absurdum, aber sicher ist es günstig für die 
Religion, wenn sich die Frage der Existenz ihrer Götter möglichst 
wenig stellt. Im Hinduismus winj, sie bewußt ungestellt gelassen ; 
dort gelten die Divinitäten offiziell als Manifestationen des Aller- 
höchsten Einen — sie mögen im übrigen empirisch wirklich sein oder 
auch nicht. Den Theosophen hingegen wird das Dasein übermensch- 
licher Wesen von ihren Führern als wissenschaftlich erwiesen dar- 
gestellt. Glauben sie an Götter, so neigen sie sich vor Äußerlichem ; 
sie folgen, halten für wahr, beten an im Sinne der Fetischisten und 
entsprechend verkümmert die echte Religiosität. Sie macht recht 
eigentlich Aberglauben Platz, denn jeder Glaube an das Nicht- 
Selbst ist Aberglaube, und verkörpere dieses die absolute Wahrheit 
in Person. Hieraus erhellt denn, einen wie verhängnisvollen Fehler 
die Theosophie begeht durch ihre Wiedererweckung des antiken 
Polytheismus. Sie hätte aus ihrer Entdeckung, daß es wirklich 
Götter gibt (sofern solche objektiv vorliegt), die entgegengesetzte 
Konsequenz ziehen sollen, wenn es ihr um die Stiftung einer neuen 
Religion oder Vertiefung der bisherigen zu tun war. Jeden Gott, 
den sie wissenschaftlich nachwies, hätte sie straks aus ihrem Pan- 
theon verbannen sollen, als hinfürder religiös bedeutungslos. Es mag 
noch so viel Götter und höhere Wesen geben, mit noch so großer 
Machtfülle ausgestattet ' — sofern wir spirituelle Wesen sind, auf 
spirituellen Fortschritt bedacht, gehen sie uns gar nichts an. So hat 
denn der New thought — dieses Wort nicht als Sektenbezeichnung, 
sondern als Inbegriff der geistlichen Bewegungen verstanden, die auf 
den amerikanischen New thought ursprünglich zurückgehen — die 
Lehren des alten Mystizismus unstreitig in glücklicherem Sinne fort- 
gebildet als die Theosophie. Er sieht in allen Vermittelungen nur 
Vorstufen ; er weist alles Geheimwissen ab, verneint den Lebens- 
wert okkulter Ausbildung und des Hinausstrebens aus der Erd- 
gebundenheit und legt Nachdruck einzig auf individuelle Selbstver- 
wirklichung in diesem Leben. Das ist in der Tat das einzige, was 
nottut. So sehr es der wissenschaftlichen Erkenntnis zugute kommen 
mag — das neuerwachte Interesse am Okkultismus bezeichnet für 
das religiöse Leben unserer Zeit eine direkte Gefahr, wahrscheinlich 
Vorzüge des New Thought; Adela Citrus. 141 
die ernsteste von allen, denn sie droht eine Veräußerlichung herbei- 
zuführen, die viel verhängnisvoller (weil schwerer bekämpfbar) wer- 
den kann, als alle durch Materialismus bedingte. Ein erwiesener 
Gott, fortan als Tatsache verehrt, wäre ein schlimmerer Fetisch als 
das goldene Kalb. Je mehr wir erfahren von den verborgenen 
Kräften in der Natur, desto notwendiger wird es, einzusehen, daß 
nur Selbstverwirklichung in Betracht kommt, daß es spirituell ganz 
gleichgültig ist, nicht allein ob wir hellsichtig oder blind sind, sondern 
auch ob es Götter gibt oder nicht. Mehr denn je gilt es heute zu 
beherzigen, was Buddha und Christus gegen die Wunderwirker ge- 
sagt: beide haben wieder und wieder hervorgehoben, daß es nicht 
ankommt auf psychistische Ausbildung, sondern auf ein Anderes, 
in anderer Dimension belegenes. Jedes Schielen nach dem Wunder- 
baren schädigt. Nur der Unbefangene kommt vorwärts. Und unbe- 
fangen sind die Theosophen nicht nur nicht — sie können es, wie 
gesagt, gar nicht sein. Dazu werden sie viel zu sehr von ihren 
Führern angehalten, zu bedenken, wie sie den Meistern gefallen, 
die okkulten Mächte richtig behandeln, üblen Einflüssen entgehen 
möchten. Deshalb steht der durchschnittliche Theosoph, soviel näher 
er der Wahrheit sein mag, spirituell meist unter gläubigen Christen. 
Ich erblicke im New thought, speziell in der Gestaltung, welche 
Adela Curtis ihm gegeben hat, 1 ) wirklich die einzige auf Mystizismus 
fußende religiöse Bewegung unserer Zeit, die sich der Mehrzahl 
förderlich erweisen wird. In ihr allein wird sowohl verständig als 
methodisch auf Verinnerlichung und Spiritualisierung hingearbeitet; 
in ihr allein ist das Wesentliche klar erkannt, bestimmt es durchaus 
Mittel und Wege; in ihr allein, das ich wüßte, werden keine psycho- 
logischen Fehler begangen. Jedesmal, wo ich die Schriften der Be- 
gründerin der Schute des Schweigens wieder lese, staune ich aufs neu 
über die Tiefe der Selbsterkenntnis, die sie beseelt. Sie hat so tief 
Wurzel gefaßt in ihrem Wesen, daß ihr persönlicher Glaube ihr nur 
ein Ausdrucksmittel ist, daß man ihr zustimmen kann, auch wo man 
l ) Die Schriften Adela Curtis*: The new mysticism, Meditation and 
Health, The way of Silence (zu beziehen von der School of Silence t 10 Scars- 
dale Villas, Kensington W. London) sind jedem zu empfehlen. Ihren vollen 
Wert wird freilich nicht der noch so aufmerksame Leser beurteilen können, 
sondern nur der, welcher die in ihnen enthaltenen Lehren eine Weile praktiziert; 
wie denn kein Mystiker auf anderem Wege wirklich verstanden werden kann. 
— Leider hat die Verfasserin seither begonnen, wie dies so häufig geschieht, 
sich selbst ad absurdum zu führen. Von der Lektüre ihrer späteren Ver- 
öffentlichungen rate ich ab. 
1 42 Vorzug der christlichen vor der indischen Mystik. 
keine ihrer christlich-dogmatischen Voraussetzungen teilt. Was sie 
lehrt ist wesentlich wahr, trotz aller Fehler auf intellektualem Gebiet; 
desto mehr, als der Weg, den sie angibt, schnurgerade zum „einen was 
nottut" führt. Und diese Mystik hat vom Standpunkte des Westens 
vor der Theosophie noch einen weiteren Vorzug voraus, einen Vorzug 
zwar zufällig-empirischen Charakters, der aber eben deshalb für den 
empirischen Erfolg entscheidend ins Gewicht fallen dürfte: sie be- 
zeichnet eine logisch mögliche Fortbildung des Christentums, ist, 
obschon auf der Weisheit des Ostens fußend, von ihr inspiriert, rein 
christlich dem Geiste nach und verwendet keine oder fast keine 
fremdländischen Vorstellungen. Selbstverwirklichung ist nur im 
Rahmen vertrauter Vorstellungen möglich; in fremder Sprache 
kann man sich nicht ausdrücken, muß man überdies zu viel Auf- 
merksamkeit auf die Mittel verwenden. - (Deshalb haben weder 
Buddha noch Christus das vorhandene Gesetz „aufheben" sondern 
nur „erfüllen" wollen.) Nun sind uns Westländern die indischen 
Vorstellungskreise fremd ; die meisten sind unfähig — gerade die 
Theosophen beweisen dies — ein inneres Verhältnis zu ihnen zu ge- 
winnen. Ferner sind wir alle physiologisch Christen, ob unser 
Bewußtsein dies anerkennt oder nicht. So hat jede Lehre, die im 
christlichen Geiste fortbaut, mehr Aussicht unser Innerstes zu er- 
greifen, als eine noch so tiefsinnige von fremdem Stamm. Ich per- 
sönlich glaube nicht, daß das Christentum jemals aussterben wird ; 
in fortschreitender Umdeutung und Neuverkörperung wird es fort- 
leben im Westen bis zum jüngsten Tag. Ich glaube auch nicht an 
die Notwendigkeit, kaum an die Möglichkeit einer neuen Religion. 
Wir sind prinzipiell über das Stadium hinaus, wo wir Formen meta- 
physisch ernst nehmen können, was sich erweisen wird, sobald eine 
neue sich Geltung verschaffen will. Die Besten unter uns sind nicht 
mehr bekehrungsfähig. Dagegen werden die meisten und gerade 
die Einsichtigsten noch lange bereit bleiben, die überkommenen Vor- 
stellungen und Gestaltungen als Ausdrucksmittel weiterzuverwenden, 
weil diese ihnen die Selbstverwirklichung erleichtern. Das Geschrei 
unserer Tage nach einer neuen Religion ist kaum ernstzunehmen ; 
es entspricht meist mangelhafter Selbsterkenntnis. Die vorge- 
schrittensten werden sich mehr und mehr ohne Konfession zu be- 
helfen wissen ; die konfessionsbedürftigen nach wie vor an den alten 
ihr bestes Medium finden. Die, welche am lautesten nach neuen 
Glaubensformen schreien, sind, so weit ich urteilen kann, wesentlich 
Viel zu Vieles wird heute Religion genannt. 143 
areligiös. Sie werden, wenn sie reifer werden, erkennen, daß es 
ihnen nicht um einen neuen Glauben, sondern eine neue Seins- 
gestaltung zu tun ist ; daß solches Streben nicht notwendig religiöse 
Färbung trägt und daß sie sich selbst viel schneller finden würden, 
wenn sie ihr Wesen ohne Seitenblicke auf Gott in der Erscheinung 
auszuprägen versuchten. Man nennt viel zu vielerlei in unseren 
Tagen Religion ; wer sich irgendwie zur Geltung bringen will, bildet 
sich deshalb schon ein, religiöses Gefühl zu beweisen. Nur das 
Streben nach Selbstverwirklichung ist religiös, das auf spirituelle 
Durchdringung der Erscheinung aus ist. Wer sich bloß kraftvoll be- 
tätigen, nur schöpferisch gestalten will, der ist eben ein Kraftmensch, 
ein Organisator, vielleicht ein Dichter, aber nichts wesentlich anderes 
und nicht mehr. 
Das dritte und wohl wichtigste Moment, das einer möglichen 
Weltmission der Theosophie im Westen entgegensteht, ist ihr Be- 
kenntnis zu Idealen, die historisch betrachtet, abgewirtschaftet haben. 
Der neue Erlöser wird als „Herr des Erbarmens" vorausgepriesen, die 
Tugenden der Demut, des Gehorsams, der Dienstbeflissenheit, des 
Mitleids, der sanftmütigen Liebe werden als äußerste hingestellt. Es 
sind wohl vielleicht die äußersten weiblichen Tugenden, aber männ- 
liche allein haben bis auf weiteres historische Zukunft. Schon sind wir 
im Begriff das Mitleid zu überwinden, den so verhängnisvollen Aber- 
glauben, daß Glücklich-Machen an sich verdienstlich, Altruismus als 
solcher ein Wert, Attachiertsein ein Zeichen von Spiritualität und 
Dulden besser als Ummachen sei, durch die allgemeine Erkenntnis 
zu ersetzen, daß nur das Produktive ethisch gerechtfertigt ist : also 
Leidenmachen besser als Mit-Leiden, sofern jenes aufwärts führt, 
Nichtberücksichtigung fremder Gefühle besser als Rücksichtnahme^ 
sofern jene töricht sind und so fort. Und dies nicht aus Gefühllosig- 
keit, sondern weil wir (hinauszuwachsen beginnen über die Be- 
stimmtheit durch emotionelle Zusammenhänge, weil wir aufhören 
uns mit unserem Empirischen zu identifizieren und nur das noch 
als absolut wertvoll anerkennen, was nicht den gegebenen Menschen 
zufriedenstellt, sondern diesem, mit noch soviel Schmerzen, hinaus- 
hilft über sich selbst. Das ist die männliche, produktive Form der 
Humanität, im Gegensatz zur weiblichen, konservierenden, deren 
Ideale die Theosophie in extremer Form vertritt. Männliches aber 
und Weibliches können sich nicht auf einmal aktualisieren. Die 
westliche Menschheit hat sich nun bald zwei Jahrtausende lang 
144 Weiblichkeit der indischen Ideale; der Mariendienst. 
offiziell zu weiblichen Idealen bekannt, und das war gut, denn nur 
dank dieser Erziehung im Frauengemach ist sie halbwegs gezähmt 
worden. Mehr vielleicht als irgendeinem anderen verdanken wir 
Nordländer unser heutiges Gesittetsein dem mittelalterlichen Marien- 
dienst — jener wunderbar poetischen Abart des Christentums, 
der die Heilige Jungfrau alle Gottheit in sich aufgesogen hatte. 
Nicht als mütterliches Prinzip wurde sie damals verehrt, noch 
als Personifizierung des Ewig-Weiblichen, sondern als Königin, 
als hohe Frau, als grande Dame, die keine Roheit, keinen Verstoß 
gegen höfische Sitte duldete. Zumal im 13. Jahrhundert dominierte 
die weibliche Idealität so absolut, daß, wer nur seine Vorstellungen 
kennte und von seinen Taten nichts wüßte, allen Grund hätte, es als 
Periode der Eff eminiertheit zu beurteilen. Die westliche Mensch- 
heit hatte sich damals, in unterbewußter Selbsterkenntnis, die Welt- 
anschauung zurechtgemacht, die sie am meisten zu veredeln geeignet 
war. Heute nun hat sie ihren eigentlichen Charakter erkannt, wie 
Achill, als Odysseus ihn unter den Mädchen aufsuchte, und nun 
müßte sie lügen, wenn sie weiter weiblich dächte; nun wird sie 
desto schneller ihre Vollendung finden, je bewußter-männlich sie 
sich gibt. 
So wird mir, durch Projektion auf den Hintergrund der Theoso- 
phie, der Sinn unserer westlichen Eigenart und unseres Westländer- 
schicksals deutlicher als jemals früher. Unsere Fortschrittlichkeit be- 
ruht darauf, daß in uns zum allerersten Male das männliche Prinzip 
in seiner Reinheit zur Alleinherrschaft gelangt ist. Sintemalen wir nun 
fortschrittlich sind, kann es nicht fehlen* daß wir mehr und mehr 
zu Herren werden dieser Welt: wo Traditionalismus und Pro- 
gressismus konkurrieren, muß dieser siegen, weil sein Prinzip über 
die empirischen Zufälligkeiten erhaben ist. In der Idee war der 
Katholizismus in dem Augenblicke als historische Vormacht nieder- 
gerungen, wo der nackte Geist des Protestantismus geboren ward. 
Dieser allein wird fortan dem Geschehen die Richtung geben, gleich- 
viel in welcher Gestalt, ob zu gutem oder zu bösem Ende. Es nützt 
nichts, sich diesem Schicksal entgegenzustemmen ; alle Erkenntnis der 
Nachteile, die es bedingt, wird es nicht ändern. Mit der Idee der 
absoluten Autonomie ist eine Kraft in die Welt gesetzt worden, die 
mächtiger ist als alles, was ihr entgegensteht und sich auswirken 
wird über alle Hindernisse hinweg. Sie wird.auch das theosophische 
Subordinationsideal (unter allwissende Meister), wenn nicht ent- 
Die Idee der Autonomie als Macht; Männlichkeit des Westens. 145 
thronen, so doch an weiterer Wirksamkeit verhindern, wie sie denn 
das katholische schon unwirksam gemacht hat (in allen katholischen 
Ländern sind die meisten führenden Geister bezeichnenderweise 
fanatisch antiklerikal). Wir Westländer sind die Träger dieser Kraft. 
Wir haben uns zu ihr zu bekennen. Wir müssen erkennen, daß wir 
durchaus Männer sind, und nun auch durchaus Männer sein wollen. 
Unbeschreiblich armselig wirken alle modernen westlichen Apostel 
einer weiblich-sentimentalen Idealität (falls sie nicht selber Frauen 
sind), und das kann nicht anders sein : insofern sie weiblich emp- 
finden, sind es minderwertige Typen. Alles Gute, was neuer- 
dings aus dem Westen stammt, trägt den Stempel männlichen 
Geistes. In diesem Geiste, in diesem allein, werden wir auch ferner 
Großes und Gutes wirken. 
Mit dem Hinweise auf den weiblichen Charakter der Theoso- 
phie gegenüber dem ausgesprochen männlichen aller gei- 
stigen Mächte, welche Träger der modernen geschichtlichen 
Bewegung sind, ist wohl der Mittelpunkt des Problems berührt, was 
die Weisheit des Orients uns bedeuten kann und was nicht. Es liegt 
ein grundsätzliches Mißverständnis darin, zu erwarten, daß die 
Theosophie unter uns eine geschichtliche Rolle spielen wird ; sie ent- 
hält kein beschleunigendes Motiv. Sie predigt eine empfangend- 
abwartende Haltung gegenüber den höheren Mächten, die allwissend- 
weise die Geschicke der Menschheit lenken, und wo diese sich ein- 
mal zu selbständigem Tun entschlossen hat, dort wälzt sich das Ge- 
schehen rücksichtslos über alle Erwartungen hinweg. Männlicher, 
mannhafter von Epoche zu Epoche stellt sich der Geist des Westens 
dar. Immer weniger Unabänderliches läßt er gelten, mehr und mehr 
Verantwortung lädt er sich freiwillig auf, und die Idee der Prä- 
destination verliert entsprechend von Epoche zu Epoche an Wahr- 
heit. Die Theosophie läßt keine Neuentstehung gelten : alle Zukunft 
sei von Ewigkeit her vorgemerkt, jede Neubegegnung sei durch 
altes Karma vorausbedingt, alles geschehe nach vorgezeichnetem 
Plan. Der Geist des Westens geht immer mehr davon aus, daß 
kein Plan den schöpferischen Willen bindet: mit jeder freien Tat 
finde absolute Neuschöpfung statt. Vom Atman her gesehen, wider- 
sprechen sich beide Auffassungen vielleicht nicht; vielleicht stellen 
sie nur verschiedene Aspekte des absolut-seienden Verhältnisses dar 
Keyserling, Reisetagebuch. 10 
1 46 Überwindung des Schicksals. 
und bedeuten das gleiche. Aber in der Erscheinungswelt und für 
unsere Begriffe bedingen sie den radikalsten Unterschied, der sich 
denken läßt: in unserer Welt hat die Vorsehung buchstäblich ab- 
gedankt zugunsten des freibestimmenden Individuums. Mythen sind 
oft wahrhaftigere Ausdrucksformen des Wirklichen als wissenschaft- 
liche Fassungen: so kann man sagen, daß Gott immer nur dort 
persönlich eingreift, wo ihm nichts anderes übrig bleibt, weil nie- 
mand sonst die Verantwortung tragen mag, und daß er sich jetzt, 
wo die okzidentalische Welt gar so verantwortungsfreudig geworden 
ist, von den Geschäften ganz zurückgezogen hat. Jetzt handelt der 
Mensch als Gott, mit den gleichen Hoheitsrechten, und die Wendung 
der Dinge beweist, daß diese Stellung keine angemaßte ist. Wo 
der Mensch nun souverän geworden ist, dort verlieren die aus dem 
Geist der Abhängigkeit geborenen Ideale mehr und mehr an Be- 
deutung und Macht. Der Souverän sehnt sich weder nach Frieden 
noch nach Gnade, weder nach Trost noch nach Barmherzigkeit, denn 
er bestimmt ; unterliegt er, so erkennt er sich selbst als schuldig an 
und trägt die Folgen in gelassenem Stolz. Das ist Mannesart. Das 
Weib erwartet, duldet, hofft, empfängt. Dementsprechend sehnt es 
sich nach Erbarmen, Gnade und Friede. Weil es sich so verhält, 
ist es im Recht, an die Übermacht des Schicksals zu glauben. Aber 
der Mann braucht sich um Gott und Teufel nicht zu scheren, weil 
seine Initiative ihn deren Macht entrückt. Wo nun der eine von 
zweien Initiative hat, der andere nicht, gerät dieser unweigerlich 
ins Hintertreffen. Deshalb haben alle weiblichen Religionsformen 
als historisch wirksame Faktoren ausgespielt, seitdem der Männer- 
geist erwacht ist. 
Hierher rührt im letzten und tiefsten die größere Effikazität des 
Westens dem Osten gegenüber. Nun schreitet der westliche Geist 
auf seiner Bahn unaufhaltsam vorwärts, und wird selbstbewußter 
von Tag zu Tag. Immer entschiedener bekennt er sich zur Mannes- 
art. Es hat lange gedauert, bis er die überkommenen weiblichen 
Ideale zu verleugnen wagte. Für eine kurze Spanne Zeit erschuf er 
sich wohl eine Form, in der er ganz aufrichtig er selbst sein und 
sich gleichzeitig aufrichtig vor jenen neigen konnte: das war die 
Zeit des Marien- und Minnedienstes. Aber diese Form entseelte 
sich bald. Jahrhunderte lang schleppte er nun Überzeugungen 
mit sich fort, die zu seinem intimen Wollen wie auch oft zu 
seinem Gebaren und Tun in schreiendem Widerspruche standen. 
Was der Westen will; Sieg der Selbstbestimmung. 147 
Noch heute gestehen es sich nicht viele vielleicht ein, daß ihnen an 
Frieden gar nichts liegt, noch an Entrückung aus diesem Jammer- 
tal ; daß sie in Erbarmen und Liebe kein Höchstes sehen und ent- 
schlossenes Tun unter allen Umständen höher werten als Hinnehmen 
und Dulden. Aber so ist es in Wahrheit; und mehr und mehr, oft 
durch krampfartige Krisen hindurch, wird sich der Westländer seines 
eigentlichen Seins bewußt. Den schwersten Krampf bezeichnete 
Friedrich Nietzsche. Es mag sein, daß er der letzte war; daß die 
Entwicklung fortan ohne Rückstauungen ihren Lauf nehmen wird. 
Aber sicher ist es nicht. Jedesmal, wo ich die inneren Gärungen 
unserer Zeit überschaue, wundere ich mich darüber, wie wenig klar 
sich die Menschen noch immer über ihr eigentliches Wesen und Wollen 
sind. Sie tappen nach neuen Glaubensinhalten, Glaubensformen* 
haschen nach neuen Idealen nah und fern. Die Wahrheit ist, daß 
sie selbst, als persönlich handelnde Wesen, an die Stelle aller 
möglichen Ideale getreten sind ; daß die Zeit äußerer Exponenten 
vorüber ist, daß die Brennpunkte der Ellipse zu einem Kreiszentrum 
zu verschmelzen beginnen, daß Glaube und Sein zu eins werden und 
es nun gilt, vollkommen ernst zu machen mit der Selbstbestimmung. 
Wären wir nicht unbewußt schon selbstbestimmt, wir suchten nicht 
vergeblich nach Idealen außer uns. Zurzeit befinden wir uns, wie 
Hegel sagen würde, im Zustande des „unglücklichen Bewußtseins". 
Aber machen wir ganz ernst mit der Wahrhaftigkeit, dem Mut zur 
Entscheidung und Verantwortung, dann wird es früher oder später 
ganz von selbst einem „glücklicheren" Platz machen. Ist dieses 
nun geschehen, dann wird sich erweisen, daß wir keine der alten 
Ideale, wie Nietzsche wähnte, zu verleugnen haben, daß wir im 
Gegenteil viel fähiger sein werden, als vorher, ihnen Genüge zu 
tun. Es gibt männliche Äquivalente für das weibliche Mitleid, die 
weibliche Liebe und Barmherzigkeit. So steht nicht zu befürchten, 
daß unsere Kultur durch bewußte Schwenkung zum Männlichen zu 
eine Einbuße erleiden wird. 
Aber freilich : die Menschen, welche die Geschichte machen, die 
allein vielleicht für deren Lauf in Betracht kommen, sind nur ein 
Teil der Menschheit. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß weil der Zug 
der Zeit nach wachsender Vermännlichung geht, das Weibliche des- 
wegen abstirbt: dieses beweist deutlich genug die ungeheure Werbe- 
kraft der Religionen des Ostens unter uns. Viele zieht es zu ihnen, 
wie den Mann zum Weibe ; aber die meisten doch wohl, wie die 
10* 
1 48 Die weibliche Menschheit als erkenntnistiefere. 
Frau zur verstehenden Frau. Je männlicher der Zeitgeist einerseits 
wird, desto bewußter wird sich der weibliche Teil seiner Sinnesart. 
Und das ist gut. Denn so vertieft er sich wiederum dem Weiblichen 
zu. Die weibliche Anlage ist dem Verständnis günstiger ; sie ist die 
tiefsinnigere im eigentlichen Sinne des Worts. Die Verständnis- 
arbeit wird bis zum Jüngsten Tag die weibliche Menschheit am 
besten leisten. Unser in der Geschichte einzig dastehendes Er- 
kenntnisstreben rührt ja nicht daher, daß wir von Hause aus 
weise, sondern daß wir unweise sind ; wo Wissen schon vorhanden 
ist, entsteht keine Wissenschaft ; wir sehnen uns nach Licht aus 
unserer Tatmenschen-Blindheit heraus. Deshalb ist es trotz allem 
zu bewillkommen, daß die Gesinnung der Theosophie in immer 
weitere Kreise des Westens dringt. Der Erkenntnis kommt dies 
uneingeschränkt zugute: als theoretische Seinslehre steht die in- 
dische Weisheit, deren Lehren die Theosophie, wenn auch noch 
so mißdeutet, vertritt, jenseits des Gegensatzes von Mann und 
Weib ; sie bezeichnet unstreitig das Maximum bisher erreichter 
Wesenserkenntnis, wie der Westen mehr und mehr einsehen wird, 
je weiter er auf seinem Wege gelangt; was ich an ihr als weiblich 
bezeichnete, ist nicht diese Weisheit an sich, es sind die Folgerungen, 
welche Inder und Theosophen aus ihr für das praktische Leben ge- 
zogen haben. Diese Folgerungen können Männer nicht anerkennen, 
brauchen es auch nicht ; sie sind nicht notwendig, nicht verbindlich ; 
aber die Weiber mögen es tun. Um so mehr, als wenig Gefahr be- 
steht, daß weibliche Ideale unter uns je wieder zur Vorherrschaft 
gelangen werden. 
.... Mann und 
Weib. . . . Vielleicht ist es gut, wenn ich bei dieser Gelegenheit aus- 
spreche, was es mit ihrem Verhältnis im Letzten für eine Bewandtnis 
hat. Man darf bei ihrer Entgegengesetztheit nicht verweilen ; so- 
bald man es tut, zerrinnt ihre Wahrheit, wie ein Wolkengebilde — 
wie denn wohl alle Gedanken nur von einer gewissen Distanz aus 
und innerhalb einer beschränkten Zeitdauer wahr erscheinen. 
Es sieht so aus, als ob die Polarität der Geschlechter ein absolut 
Wirkliches wäre. Genauer und tiefer betrachtet, hält nicht allein ihr 
vorausgesetzter Sinn, sondern sogar die Tatsache selbst nicht stich. 
Es geht nicht an, in den polaren Koordinaten Absoluta zu sehen, wie 
dies von Empedokles ab bis auf Schelling und über diesen hinaus 
immer wieder geschehen ist. Was, in der Tat, bezeichnet die Eigen- 
Wesen des Geschlechtsgegensatzes. 149 
tümlichkeit des Weiblichen dem Männlichen gegenüber? Daß es nur 
nach vorhergehender Empfängnis schaffen kann. Ist dem aber also, 
dann sind nicht allein sämtliche Künstler Weiber, alle Denker und 
Philosophen (insofern sie anregungsbedürftig sind), sondern auch die 
männlichsten unter den Männern : die Genies der Tat. Denn auch deren 
Lebenswerk hat immer darin bestanden, daß sie eine Idee empfangen 
und aus ihr ein Lebendiges gestaltet haben. Man wende nicht ein, 
daß sie Ideen nicht empfangen, sondern gezeugt hätten : erstens war 
letzteres nur selten der Fall, denn fast alle historisch Großen waren 
Träger präexistierender Tendenzen, dann aber handelt es sich, wo die 
Idee tatsächlich ihr Ureigenstes war, nicht um Zeugen, sondern um 
Parthenogenese, denn der männliche Samen als solcher hat keine 
Entwickelungstendenz. Als rein männlich wäre allenfalls Gott zu 
denken, insofern Er ohne vorhergehende Empfängnis schafft. Aber 
Er ist über den Geschlechtsgegensatz hinaus ; und sucht man Sein 
Schaffen zu begreifen, so muß man, wenn man Ihn um keinen 
Preis mit weiblichen Eigenschaften ausstatten will, der Materie 
Präexistenz sowohl als alle die Fähigkeiten zuerkennen, die einem 
Mutterschoße eignen. 
Es handelt sich eben bei der geschlechtlichen Polarität um keine 
Absoluta, sondern um ein formales Schema, innerhalb dessen sich 
das schöpferische Geschehen bewegt. Männlich nennen wir das 
varierende, weiblich das erhaltende Prinzip ; männlich das An- 
regende, weiblich das Ausgestaltende; männlich das Handelnde, 
weiblich das Aufnehmend-Verstehende. Der Mann gestaltet die Er- 
scheinung, das Weib verkörpert den Grund. Diese Pole treten auf 
die verschiedenste Weise in die Erscheinung, und in jedem Indivi- 
duum sind beide in vielfachen Aspekten gegenwärtig. Jeder Mensch 
ist eine Synthese von Männlichkeit und Weiblichkeit und kann, je 
nach den Umständen, als Mann oder Weib in die Erscheinung treten. 
Zwar geht dies bei ihm nicht so weit wie bei den Echinodermen, 
als bei welchen das männliche Prinzip durch Chemikalien zu er- 
setzen ist, oder bei den Copepoden und Daphniden, die je nach den 
Witterungsverhältnissen ihr Geschlecht verändern ; die Wandlungs- 
fähigkeit erscheint hier, wie überall beim Menschen, auf die psy- 
chische Sphäre beschränkt. Hier aber tritt sie desto deutlicher zu- 
tage. Als Künstler, als Gestalter, als Versteher ist der männlichste 
Mann ein Weib. So handelt es sich, wo in der Weltgeschichte, wie 
heut, ein Prinzip die Alleinherrschaft zu erringen scheint, um 
1 50 BrahmanismuSy Dschainismus und Buddhismus. 
weniger Extremes, als man denkt : auch in unserer noch so vermänn- 
lichten Kultur wird die Stimme des Ewig-Weiblichen vernehmbar 
bleiben. 
ELLORA. 
Aus dem feucht-schwülen südindischen Flachland auf klare 
Bergeshöhe hinaufversetzt zu sein, ruft allein schon Glücks- 
empfindungen wach. Hier aber sind Wunder zu sehen, die 
mich wunderbar anregen. In den Felsentempeln von Ellora klingen 
Stimmungen aus meinen Jugendtagen wieder an. Wieder einmal 
versenke ich mich als Geolog in das tote Ciestein, um den Sinn 
von Lebendigem zu fassen. 
Wie beredt sind die Versteinerungen ! — In den heiligen Höhlen 
von Ellora weht kein lebendiger Geist der Religiosität; längst sind 
die letzten Schwingungen abgeklungen, die der Gottesdienst einst- 
mals aufgerührt; nur in seltenen, weiten Abständen kehren fromme 
Pilger in ihnen ein. Sie dienen dem Hirten als Zufluchtstätte vor 
Ungewitter oder sengendem Sonnenbrand ; gelegentlich als Kara- 
wanserei»; oder die mohammedanische Bevölkerung der Umgegend 
hält auch Schafsmärkte in ihnen ab. — Allein das Tote lebt fort in 
der Versteinerung. Der Geist des Glaubens, der das Gebirge aus- 
gehöhlt, der aus Felsen Kathedralen herausgemeißelt, ruht auf ewig 
gebannt in seinen Taten. Und in der monumentalen Einfachheit, die 
seine Gestaltungen im Bergschacht gewannen, treten die tiefsten 
Züge seines Wesens mit unvergleichlicher Kraft hervor. 
Drei große Religionen haben hier nebeneinander ihren Geist 
dem Gebirge eingegraben: der Hinduismus, der Buddhismus und 
der Dschainismus, jene strengere Schwester der Buddha-Religion. 
Die brahmanistischen Gestaltungen beseelt der Geist des Mahäbhä- 
ratam, der gewaltigen Epopöe Hindustans. Aus ihnen spricht die 
gleiche staunenswerte Potenz, ein gleich grenzenloser Reichtum der 
Erfindung, eine gleiche Schöpferkraft von gotthafter Überschwäng- 
lichkeit. Wie Gott das Weise und das Schöne und das Häßliche, 
das Himmlische und das Teuflische in seinem Werk zu notwendiger 
Einheit verbunden hat, so bestehen in der brahmanistischen Formen- 
welt Ungeheures und Zierliches, Abstoßendes und Gefälliges, Sinn- 
Dürftigkeit des indischen Protestantismus. 1 5 1 
volles und Unsinniges, Groteskes und Erhabenes, sich gegenseitig 
bedingend, nebeneinander. Diese Schöpfung ist so allumfassend, 
daß das Fehlende als bloß vorenthalten wirkt, und so tief im 
Wesen begründet, daß der Betrachter bewundert und verehrt, 
auch wo er nicht versteht, wohl wissend, daß sie über sein 
Fassungsvermögen hinausreicht. — Und daneben die Geister der 
protestantischen Sekten, des Dschainismus und des Buddhismus ! 
Wie dürr, wie dürftig wirken sie! In der dschainistischen Gestaltung 
ist die Urkraft wohl noch zu spüren. Man fühlt: hier hat der über- 
schwängliche Geist sich in der Einfachheit verdichten wollen, wie 
sich Gott Shiva, der Tänzer, gelegentlich zum Asketen zusammen- 
faßt. So drückt die Armut doch verhaltenen Reichtum aus, und die 
einfachen Linien atmen Kraft. Aber wieviel weniger Kraft immerhin 
als die der brahmanistischen Schöpfung! Es ist nicht möglich, eine 
ganze Welt in enger Provinz zusammenzupferchen. Der Dschainis- 
mus bezeichnet nur ein zwar kräftiges Reis am gigantischen Stamm 
des Hinduismus. — Nun aber der Buddhismus ! Wie ich aus dem 
Tempel des Kailas, der Kathedrale, die in wunderbarer Vielfältig- 
keit aus einem einzigen Felsen herausgehauen ist, in die kahlen 
Höhlen hineintrat, die dem Sakya-Sohn zum Heiligtume dienen, da 
fröstelte mir. Wo ist der Geist geblieben? Nur bei äußerster An- 
spannung der Aufmerksamkeit gelang es mir, den Zusammenhang 
dieser Welt mit der vorher geschauten zu erkennen, zu erfassen, daß 
auch sie im indischen Urgeist wurzelt. Aber wie müde, wie krank 
stellt dieser sich dar in dieser äußersten Verkörperung ! — Heute 
verstehe ich zum ersten Male ganz, weshalb der Buddhismus, der 
die Welt zu erobern vermocht hat, sich in Indien nicht hat halten 
können, weshalb alle Inder, die ich gesehen, vom Buddhismus mit 
Geringschätzung sprachen ; heute zum ersten Male wird mir klar, 
inwiefern Gautama, dieser einzig große Mann, dieser größte Sohn 
des Inderlandes, der Verehrung in ihm genießen sollte, wie kein 
zweiter, seinem Volk nicht zum Heil gereicht hat und ihm daher 
geringer gilt, als viel geringere : ein wie Großes der Buddhismus an 
sich immer sei, er bezeichnet eine Degenerationserscheinung des 
Indergeistes. 
Es ist nicht zu leugnen : im Buddhismus hat das philosophische 
Volk par excellence dem Philosophieren als solchen abgesagt, das 
Gestaltungsfreudigste der Erde sich zum Ideal der Uniformität 
bekannt, das Spekulativste, das es jemals gab, alles Heil in der 
1 52 Der Buddhismus als Degenerationserscheinung. 
Empirie gesucht. Das konnte zu keinem guten Ende führen. Die 
Natur läßt sich nicht spotten, nicht vergewaltigen ; wird sie im 
Guten gehemmt, bricht sie desto verhehrender hervor. Der Inder 
kann das Philosophieren nicht lassen: so führte die Absage an die 
Philosophie nur dahin, daß der Buddhismus zum Sammelbecken 
aller über Indien verbreiteten nihilistischen, oberflächlich-skeptischen 
oder grob-materialistischen Geistesströmungen wurde, welche die 
buddhistische Gemeinde mehr und mehr von innen nach außen zu 
zersetzten. 1 ) Die Inder lassen sich nicht über einen Kamm scheren ; 
geschieht es dennoch, so wird das Beste damit abgeschoren; der 
Buddhismus hat sie banalisiert. Die Inder sind mehr phantasievoll 
als exakt: bekannten sie sich zu einer Weltanschauung der reinen 
Erfahrung, so konnte das nur zur Folge haben, daß die Mythen- 
bildung sich terre ä terre vollzog, aus der Sphäre des Geistes, wo 
sie am Platz ist, unheilbrauend in die der Materie hinabstieg. 
Buddha hatte seine Erkenntnistheorie auf das Phänomen des Leidens 
begründet, und auf dieses hin seine Erlösungslehre ausgestaltet: so 
gut sich eine solche Weltanschauung unter Empirikern bewähren 
mag, spekulative Köpfe verdirbt sie, denn die lassen es sich nicht 
nehmen, das Leiden zur Substanz zu hypostasieren. Buddhas Psy- 
chologie ist die exakteste die ich kenne: in den Köpfen der Inder 
ward sie zur Phantasmagorie, da diese ihrer Anlage nach nicht um- 
hin konnten, sie als metaphysische Seinstheorie auszudeuten. Buddhas 
sittliche Vorschriften sind von wunderbarer Effikazität, wo sie 
schlicht befolgt, nicht als Offenbarung zergrübelt werden ; geschieht 
letzteres, wie es in Indien von vornherein geschah, so tritt nur ihr 
unphilosophischer Geist hervor und verdirbt das Denken und das 
sittliche Streben derer, die sie zu tief verstehen wollten. So erweist 
sich der Buddhismus durchaus als ein abnormes, schädliches Ge- 
wächs am Stamme des Indergeistes. Und das Glücklichste, was 
diesem widerfahren konnte, ist, daß er die Krankheit überstand. 
Wenige Jahrhunderte nach jener Zeit, wo buddhistische Könige ihn 
künstlich zur Großmacht emporgehoben hatten, war der ursprüng- 
liche Buddhismus aus Indien verschwunden. Was sich jetzt noch in 
Indien Buddhismus nannte, war tatsächlich Brahmanismus, mit allen 
seinen typischen anti-buddhistischen Kennzeichen: seinem spekula- 
tiven Geist, seinen Ritualismus, seinem metaphysischen Tiefsinn und 
x ) Ausführliches hierüber steht im „Buddha" "Josef Dahlmanns (Berlin 
1898), der diese Seite des Buddha-Problems von allen am hellsten beleuchtet hat. 
Religion und Volkscharakter. 1 53 
seiner Gegliedertheit in der äußeren Gestaltung. Aber auch dieser 
brahmanisierte Buddhismus erhielt sich nur an den Grenzmarken 
Hindustans. Das ganze übrige Land ward dem Hinduismus zurück- 
gewonnen. Dieser allein ist der eigentliche, vollwertige, allumfassende 
Ausdruck der indischen Religiosität. Wie dies in großartiger Monu- 
mentalschrift die Felsentempel Elloras offenbaren. 
Noch nie ist mir der Charakter des Bandes, das Religion und 
Volkscharakter verknüpft, so deutlich geworden wie heute. Es ist 
schlechterdings unmöglich, über den Wert einer konkreten Religion 
ein gültiges Urteil zu fällen, wenn nicht die Eigenart der Seele, die 
sie bekennen soll, mitberücksichtigt wird. Die geistige Kraft eines 
Glaubens gilt den, meisten für so groß, daß ihr gegenüber alle 
anderen Faktoren, wie die Rasse, die Nationalanlage, der ursprüng- 
liche Volksgeist als irrelevant betrachtet werden dürfen: das Bei- 
spiel Indiens lehrt, daß diese Auffassung irrig ist. Der Buddhismus 
ist eine wunderbare Religion, in manchen Hinsichten die höchste, 
die es gibt: Indien hat ihr Bekenntnis nicht gut getan ; die Inder 
konnte sie nicht vorwärts bringen. Insgleichen wird das Bekenntnis 
der an sich noch so tiefen indischen Glaubensanschauungen den un- 
philosophischen Abendländern, die am Christentum die ihnen ge- 
mäßesten besitzen, nimmer frommer. Alle autochthonen Religionen 
haben vor importierten den absoluten Vorzug voraus, daß sie dem 
Volkscharakter entsprechen und insofern ein Medium bedeuten, in- 
dem sich dessen Bestes, Idealstes verständlich ausprägen kann. Frei- 
lich darf der Begriff „autochthon" nicht absolut verstanden werden ; 
richtiger wäre vielleicht zu sagen : „langeingesessen" ; was nämlich 
langeingesessen ist, erweist damit entweder seine ursprüngliche oder 
seine schließliche Angepaßtheit, denn das Nichtgemäße erhält sich 
nicht. Wird man mir die Siegeszüge des Christentums und des 
Buddhismus als Gegenbeweise vorhalten? Gerade diese zeugen, 
innerhalb bestimmter Grenzen, für die Existenz eines notwendigen 
Bands zwischen Volkscharakter und Konfession. Ursprünglich hatte 
das Christentum freilich gar nichts mit dem Geist der europäischen 
Völker gemein ; aber es verwandelte sich mit rasender Geschwindig« 
keit diesem Geiste zu. Schon im Frühmittelalter war vom östlichen 
Urgeist des wirklichen (nicht offiziellen) Christentums im Westen 
wenig zu spüren ; und es verwestlichte sich mehr und mehr in jeder 
weiteren Gestaltung. Schon das Schisma zwischen Westen und 
Osten ging wesentlich auf Verschiedenheiten im Volksgeist zurück. 
154 Wandlungen des Buddhismus ; das indische Theater. 
Vollends dominierend aber wurde letzteres Moment bei der Gebiets- 
verteilung zwischen Protestantismus und Katholizismus: je mehr 
teutonisches Blut, desto ausgesprochener protestantisch die Ge- 
sinnung. — Und nun der Buddhismus. In Indien dauerte er nicht, 
weil er dem Volkscharakter nicht entsprach. In seiner ursprüng- 
lichen Gestalt hat er sich einzig am Tropengürtel erhalten, in Ceylon, 
Birma und Siam, woselbst die wörtlich verstandene Lehre Sakya 
Munis einer indolenten Menschheit den bestmöglichsten Lebens- 
rahmen gibt. Unter den nordischen Barbaren entartete er zum 
reinen Götzendienst. China eroberte zwar der brahmanistische Bud- 
dhismus (die Mahäyäna-Lehre), aber er ward dort nie zur formenden 
Macht, weil sein allzu spekulativer Charakter dem realistischen 
Chinesengeiste fremd blieb ; er hat nur den Künstlern wirklich viel 
bedeutet und ist langsam entschlafen. Der nominell gleiche Bud- 
dhismus herrscht heute in Japan. Aber welche Gestalt trägt er 
dort? Dort sieht er dem Christentum weit ähnlicher als dem 
Brahmanismus, weil eben der praktische, weltzugewandte Sinn des 
Japanervolks die fremden Lehren seinen eigenen Bedürfnissen an- 
gepaßt hat. — Nein, vom Volkscharakter kann nicht abgesehen 
werden bei der Beurteilung einer Religion. Die einzige, deren Lehr- 
gehalt sich mächtiger erwiesen zu haben scheint als alle sonstigen 
Momente, ist der Islam. Woher diese Ausnahmestellung? Das weiß 
ich nicht. Vermute jedoch, daß es sich nicht wirklich um eine Aus- 
nahmestellung handelt, da in Persien, dem einzigen islamischen 
Lande von geistig reger Bevölkerung, die Uranlage im Sufismus und 
Bahaitum nach wie vor zum Ausdruck kommt. 
UDA1PUR. 
Zu Beginn eines Schauspiels an Fürstenhöfen des mittelalter- 
lichen Indien pflegte der Direktor auf die kahlen Bretter hinaus- 
zutreten und dem Zuschauerkreise zu erzählen, was er im 
Geiste um sich sah ; seine Worte riefen in deren Bewußtsein die ent- 
sprechenden Bilder wach und das waren dann die Dekorationen und 
Kulissen. Beim Publikum wurde soviel Einbildungskraft voraus- 
gesetzt, daß es ein Imaginiertes als dauernd-gegenwärtigen Rahmen 
Das indische Theater. 155 
eines Wirklichen im Auge zu behalten imstande wäre. — Durch 
solche Evokation scheint mir Udaipur entstanden, in selben Sinne 
wirklich zu sein. Udaipur wirkt so unwahrscheinlich in seiner Schön- 
heit, daß ich, wie's beim Träumen geht, mitten drinnen stehe, be- 
trachte, genieße — und an mein Erleben zugleich nicht glauben mag. 
In götterwürdiger Pracht und Größe ragt das Königsschloß im 
Hintergrunde auf. In der terassenförmig ansteigenden Stadt drängt 
sich das Volk ; stolze Ritter sprengen einher, weiblich-schöne 
Epheben lehnen scherzend vor den Waffenschmieden und wieder 
und wieder zerteilt die dunkele Masse eines Elephanten das 
schimmernde Gewoge der Menschen. In den Gärten, wo seltene 
Blumen sprießen und Marmorfontänen um die heißeste Mittags- 
zeit weithin erfrischende Kühle verbreiten, flattern Märchenvögel 
umher, schön wie Juwelen. Den See,, in dem Udaipur sich spiegelt, 
bevölkern Ibisse, Löffler und Marabous, dem Menschen freund ; am 
Ufer treten Hindinnen und Gazellen zutraulich zum Lustwandelnden 
hinaus. Die Inseln sind von köstlichen Kiosken geschmückt, die zu 
heimlichen Freuden laden. Goldene Gondeln, von denen Gesang 
und Zymbelklang herübertönt, durchgleiten die Fluten. Und wenn 
es Abend wird, wenn die Sonne auf dem Marmor der Paläste ab- 
geklungen ist und der See sich vom Purpur ins Violette und von 
diesem ins Unsichtbare verfärbt hat, läuten silberne Glöcklein die 
Märchenstadt zur Ruh. 
Hier könnte ich nur rasten, nur genießen, nur lieben und glück- 
lich sein ; hier wäre es lächerlich, anders leben zu wollen. So war 
wohl die Atmosphäre einer indischen Cour d'amöur. Bisher hatte es 
mich Mühe gekostet, mich in das Liebesleben indischer Höfe hinein- 
zuversetzen, wie es mir aus der Dichtung des Mittelalters ent- 
gegentrat; dieses Lieben schien mir so unwirklich in seinem 
passiven Sehnen, seinem Überschwang ohne Kraft, seiner Unrast in- 
mitten der Sicherheit. Dieses „Unwirkliche" ist eben die Wirklich- 
keit jener unwahrscheinlichen Welt gewesen; hier hat eine über- 
steigerte Kultur sich über die Natur hinweggesetzt. Das Lieben als 
eigentliche Kunst hat der Westen niemals gekannt. Was man dort 
als „Liebeskunst" bezeichnet, ist nicht Kunst sondern Diplomatie. 
Dieser bedurfte es an den indischen Liebeshöfen nicht, denn der 
Zweck erschien von vornherein erreicht ; von Hause aus besaß man 1 , 
was man begehrte, und zur Sehnsucht nach Unbekanntem fehlten An- 
sporn und Gelegenheit. Solche Befriedigtheit stumpft in der Regel 
1 56 Indische Liebeskunst. 
ab. In diesen Kreisen jedoch von raffiniertester Sinnenkultur, wo 
die Schönheit als Selbstzweck herrschte, hat sie die Liebe zu einer 
echten Kunst transfiguriert, eines Sinns mit der Musik, der Poesie. 
Bei diesem Lieben gehörte alle Dramatik dem Reiche der Einbildung 
an. Die Phantasie hatte alle Fabel und Handlung aus sich heraus 
zu gebären, die Leiden zugleich und die Hindernisse, die Bangig- 
keit und die Hoffnung, denn ihnen fehlte jeder wirkliche Hinter- 
grund ; hier wurden Gefühle geweckt und* fortgesponnen, wie der 
Musiker zur Laute improvisiert. Und dieses Wunder war möglich, 
wurde wirklich, weil die Menschen jener wunderbaren Zeit ganz 
wunderbar fein und tief gebildet waren. 
Diese Kultur gehört längst vergangenen Zeiten an. Doch wie 
ich durch die schimmernden Gemächer schritt, die Kiosken und 
schwebenden Gärten, die einstmals ihr Schauplatz waren, da wurde 
mir ihr Geist gegenwärtig und bittere Wehmut erfüllte bald mein 
Herz. Wie sehr geht der modernen Geselligkeit aller künstlerische 
Eigenwert ab ! Nicht daß es ihr an erotischem Unter- und Hinter- 
grund fehlte — das Erotische muß der neutrale Canevas, das tra- 
gende Gewebe sein, auf dem Phantasie und Geschmack gefällige 
Muster wirken ; und diese Muster sind heute, wo vorhanden, 
fadenscheinig und schlecht. In nordischen Landen waren sie nie- 
mals gut. Dort geschieht es zu selten, daß ein Mann von Frauen 
erzogen, gebildet wird, ohne Zucht entwickelt sich sein Erotisches 
nicht, und da die Frau ihrerseits nur ausnahmsweise höheren 
Anforderungen genügt, als vom Manne unmittelbar an sie gestellt 
werden, so findet kein Fortschritt statt. Der germanische Mann 
kennt in Sachen der Liebe meist nur zweierlei: das Laster und 
die Ehe ; beide aber sind gleich schlechte erotische Bildungs- 
mittel ; beide begünstigen das Sich-gehen-lassen ; beide entspannen. 
Die erotische Gespanntheit, die niemals nachlassen darf, wenn der 
Mann als Sinnenwesen auf der Höhe bleiben soll, wird nur durch 
solchen Umgang gefördert und gesteigert, der ihm die Auslösung 
als immer möglich in der Idee und in der Praxis als dauernd frag- 
lich vorhält, und diesen bieten weder Gattinnen noch Dirnen. Im 
Orient noch heute und im Westen zur Zeit des klassischen Alter- 
tums war der entsprechende Frauentypus nur unter Hetären zu 
finden. Von der Renaissance an hat er sich mehr und mehr von einer 
bestimmten Kaste losgelöst und seit dem 18. Jahrhundert fällt er 
zusammen mit dem Idealtypus der Dame der großen Welt. Die 
Erotische Bildung; grande Dame und Hetäre. 157 
antike Hetäre und die moderne Grande-Dame sind in der Tat eines 
Geistes, eines Wesens ; nur steht diese, als die universellere, höher. 
Was verdankt nicht der Mann dem Verkehr mit solchen Frauen! 
Und wie sehr merkt man es ihm an, wenn ihre feinen Hände ihn 
geformt haben ! Die größere Anmut (sowohl physisch als geistig 
und emotionell), die der kultivierte Romane dem Germanen gegen- 
über besitzt, rührt eben daher, daß jener im Gegensatz zu diesem, 
solcher Bildung meist teilhaftig geworden ist. Es ist Verblendung, 
beinahe eine Sünde wider den Heiligen Geist, das Erotische aus 
dem Leben zu verbannen, wie dies der Puritanismus aller Länder und 
Zeiten tut: es bezeichnet recht eigentlich den Angelpunkt der 
Menschennatur. Vom Erotischen aus kann jede Saite seines Wesens 
zum Schwingen gebracht werden, und die tiefsten sind meistens von 
ihm aus angeklungen. Aber freilich muß die Frau ihr Metier ver- 
stehen. -Sie muß es verstehen, das Erotische als Canevas zu be- 
handeln und die Fäden hin- und herschießen zu lassen, bis daß ein 
köstliches Muster entstanden ist ; sie muß es verstehen, den Mann 
zum Sticken zu zwingen, zur Erfindung immer neuer Arabesken, 
immer feinerer Nuancen und Tönungen. Und ist sie vollendet ge- 
bildet, so gelingt es ihr gar, den Diplomaten zum Künstler zu 
machen, das brutale Begehren in Sehnsucht nach Schönheit um- 
zuwandeln. Das haben die großen Frauen der Glanzperioden roma- 
nischer Kultur gekonnt, daher das Dasein eben dieser Kultur. Heute 
hingegen ist der Sinn für Stickerei selbst in Frankreich fast dahin- 
geschwunden. Das Begehren, das sich doch von selbst versteht, 
wird wieder und wieder betont, unterstrichen, übertrieben ; anstatt 
daß die Männer im Frauenkreise geistreich würden, werden sie 
roh. Sie werden es notwendig, weil eben die Frauen selber 
an Stickerei immer weniger Gefallen finden, und den nackten 
Canevas dem Teppich vorziehen. — Wie anders war es im mittel- 
alterlichen Indien ! Hier fehlte aller Reiz des Ungewissen ; man 
hatte die Frauen, um die man warb. Hier waren die äußeren Ver- 
hältnisse an sich der Regsamkeit nicht günstiger als in der Ehe. 
Aber wie es hie und da auch Ehemänner gibt, deren Einbildungs- 
kraft die Trägheit überwindet, so verstanden es die wunderbaren 
Menschen dieser Zeit, ohne äußere Hilfsmittel, ganz aus sich selbst 
heraus, eben das und mehr an erotischer Kultur zu erschaffen, was 
zu den besten Zeiten Italiens und Frankreichs je entstand. 
Wird sich jemand verletzt fühlen dadurch, daß ich die Hetäre 
158 Musen und Hausmütter ; das „Moralische". 
und die Grande-Dame einem identischen Typus zuzähle? — Die 
Tatsachen kann ich nicht ändern. Es ist nun einmal so, daß nur 
die Frau von polygamer Anlage, von weitem Gefühlshorizont, von 
vielfältigen Sympathien und von nicht allzu eindeutigem Charakter 
zur Stellung der Herrscherin, der Muse und Sybille berufen ist. 
Die Tugenden der Hausmutter schließen Wirken ins Weite und 
Große aus ; das Weib, das letzteres anstrebt, beweist eben damit, 
daß es keine ist. Man sollte endlich zur Erkenntnis gelangen, daß 
das „Moralische" keinen möglichen Generalnenner für die idealen 
Bestrebungen des Menschen abgibt; daß manche höchste, unersetz- 
liche Werte nur im Gegensatz zu den Richtlinien der Moral der 
Verwirklichung fähig sind. Eine der wenigen Damen der großen 
Welt, die sich heute dem Typus einer Aspasia nähern, fragte mich 
einst, ob ich sie für untreu hielte? Gewiß nicht, erwiderte ich ihr, 
denn in ihrem Falle stelle sich die Frage der Treue nicht. Um vielen 
das Außerordentliche zu bedeuten, was sie allein in ihrem Kreise be- 
deuten konnte, mußte sie den Einzelnen in gewissem Sinne preis- 
geben. Und sie hätte sich schwer versündigt, w^enn sie ihr höchstes 
Können moralischen Bedenken geopfert hätte. Man sollte endlich 
erkennen, daß überhaupt kein Generalnenner für die idealen 
Bestrebungen des Menschen denkbar ist, es sei denn, man wähle 
einen dermaßen abstrakten Begriff, daß er jeden nur möglichen In- 
halt einschließt. So sind alle auf das Streben nach Vollendung 
zurückzuführen, denn das ist in der Tat ihrer aller Sinn. Aber 
wer sieht nicht, daß es unzählige Formen möglicher Vollendung 
gibt, so daß die scheinbare Vereinheitlichung nur eine Neufassung 
des Problems bedeutet? Tatsächlich kann eine Art Vollendung 
nur auf Kosten von anderen gedeihen. Die Wunderwerke der 
griechischen Kunst wären unerschaffen geblieben ohne Nicht- 
achtung und Vergewaltigung des kleinen Manns ; höchste Kultur 
ist nur in aristokratischen Gemeinwesen möglich, die als solche 
ausschließlich sind ; ästhetische Vollendung liegt in anderer Di- 
mension als die moralische, und nicht selten im rechten Winkel 
zu ihr; das Ideal der Demokratie ist kulturfeindlich, das der all- 
umfassenden Liebe schließt die männlichen Tugenden aus usw. usw. 
Nun kann man die Behauptung aufstellen — und das ist häufig ge- 
schehen — daß neben dem des moralisch Guten alle anderen Ideale 
unwesentlich seien : aber sogar unter dieser vereinfachenden Voraus- 
setzung ist ein allumfassendes konkretes Ideal nicht auszudenken ; 
Die Ideale leben eins auf Kosten des anderen. 1 59 
ein Zustand, meine ich. der alles moralisch Gute im Menschen zur 
Vollendung brächte. Im Fall der oberflächlichsten Verwirklichung 
des moralischen Ideals, in der Form allseitiger praktischer Menschen- 
liebe, tritt dies darin zutage, daß der Einzelne ethisch verkümmert: 
gerade weil er sich andauernd für andere betätigt, gelangt er zu 
keiner Vertiefung seiner selbst; diese Verkörperung hat denn auch 
keinen tiefen Menschen je befriedigt. Allein die höheren sind 
nicht minder begrenzte Gestaltungen, konnten gleichfalls nur auf 
Kosten anderer Möglichkeiten zum Guten entstehen. Der Mönch 
muß die tief-ethischen Familientriebe in sich ertöten, der Freund- 
schaft entsagen, irdischer Vollendung gegenüber gleichgültig werden ; 
bei der innerweltlichen Askese wiederum, deren Idee der Protestan- 
tismus aus der Erkenntnis der Beschränkungen des Mön'chsideals 
heraus geboren hat, kommt es nie zu dem innerlichen Frei-werden, 
in dem das erhabenste Ziel religiösen Fortschreitens besteht. Es 
ist eben nicht möglich, eine bestimmte Gestalt zu erdenken, die alles 
Gute im Menschen zu vollendeter Ausprägung brächte, noch weniger 
eine solche zu konstruieren, die alles Ideale überhaupt in sich zu- 
sammenfaßte. Die Ideale leben eins auf Kosten des anderen, nicht 
anders wie dies die Organismen tun. Wohl gibt es höhere und 
niedere Ideale, gleichwie es höhere und niedere Tiere gibt, doch 
das geheimnisvolle Band, das sie verknüpft, verbietet es, die einen 
um der anderen willen auszurotten : in dem man das scheinbar 
Minderwertige bekämpft, untergräbt man dem Wertvolleren den 
Boden. Und dann verdient das „Minderwertige" diese Bezeichnung 
nie absolut: es schließt allemal positive Möglichkeiten ein, die das 
Höhere als solches nicht birgt. So steht es mit dem Erotischen. 
Wohl handelt es sich hier um keinen höheren Trieb und die höchsten 
Gestaltungen, deren er fähig ist, halten an Menschheitswert den 
Vergleich mit anderen nicht aus. Immerhin sind diese Gestaltungen 
nicht bloß als solche schön, so daß es eine Verödung der Welt be- 
dingte, wenn sie verschwänden: sie stehen in so intimem Wechsel- 
verhältnis zu anderen, höheren, daß das Dasein dieser an jene 
schlechthin gekettet scheint; nur auf dem Untergrunde erotischer 
Kultur kann künstlerische wachsen und gedeihen. Die Puritaner- 
seele wirkt dürftig im Vergleich zur katholischen ; Tugendbolde 
sind allemal Krüppel, unsinnliche Naturen der religiösen Ver- 
tiefung unfähig. Ich für meine Person bescheide mich bei der Fest- 
stellung des Tatbestandes und verzichte darauf, die Widersprüche im 
160 Indisches Heldentum. 
Geiste auflösen zu wollen, die in Wirklichkeit, was immer man sage, 
bestehen ; ich halte es für ungebildet, aus Vernunfterwägungen von 
zweifelhafter Stichhaltigkeit heraus den eigentümlichen Charakter 
der Welt hinwegzudeuten. Und finde es am Ersprießlichsten, das 
Positive der Erscheinungen allein im Auge zu behalten. In irgend- 
einem Sinne führt jede Tendenz zum Guten; diesen Sinn im ein- 
zelnen zu erfassen, ist das Grundproblem der Lebenskunst; ihn im 
Zusammenhang zu übersehen, das Schlußziel menschlicher Weisheit. 
TSCHITOR. 
Als strategischer Schlüssel zu Mewar, als wichtigste Feste 
Rajasthans, hat Tschitor, bis daß die Engländer kamen, nur 
ausnahmsweise ein unblutiges Jahr erlebt. Mit Tschitor sind 
die stolzesten Erinnerungen der stolzen Rajputs verknüpft ; und das 
will sagen: vielleicht keine Stätte der Welt ist der Schauplatz 
eines gleichen Heldenmuts, eines gleichen Rittersinns, einer gleich 
adeligen Todesbereitschaft gewesen. Hier fiel Bagh Singh, das 
Haupt der Deolia Pratapgarh, im Kampf gegen Bahadur Schah von 
Guzerat ; hier war es, daß Padmani, die wunderschöne Königin, die 
zu gewinnen Ala-Uddin-Khilji die Festung bestürmte, da alle Aus- 
sicht auf Sieg geschwunden war, mit sämtlichen Rajputfrauen den 
Tod in den Flammen suchte und fand, während Bhim Singh mit 
seinem ganzen Stamm im Kampf um die Mauern dahinsank ; hier 
focht Jaimall von Bednor's Braut Seite an Seite mit ihrem Gemahl 
gegen des großen Akbar Legionen. — Wie seltsam, im Inderlande 
eine Atmosphäre einzuatmen, deren Wesen geschichtlich ist! Der 
Hindu, den ich bis hierher gekannt, weiß nichts von geschicht- 
lichen Ereignissen ; ihm fließt das Leben als Mythe hin. Und sein 
Seelenwanderungsglaube, der dem Geschehen das Pathos der Ein- 
maligkeit raubt, nimmt der Historie damit allen Sinn. Auch ich 
kann sie als solche noch nicht ernst nehmen. Und wenn Tschitor 
mir nun doch unmittelbar auf Sinne und Seele wirkt, so ge- 
schieht dies auf einem Umwege, der das Historische gewisser- 
maßen unhistorisch macht. Den Göttern; deren fließende Vor- 
stellungen den Hintergrund des Weltgeschehens bilden, erscheint es 
Unvollständigkeit der Geschichte. 161 
nicht sonderlich wichtig, ob sie sich zu „wirklichen" Ereignissen 
verdichten. Nur dort, wo das Ideelle im Realen seine höchste Voll- 
endung erfährt, werden sie aufmerksam auf unsere Welt. So haben 
sie einst an dem großen Kriege zwischen Kuru- und Pandusöhnen 
aufrichtigen Anteil genommen. Im gleichen Sinne fesselt mich 
Tschitor: mehr als hier wirklich ward, ist im Ideenreich nie vor- 
gebildet gewesen. 
Die großen Zeiten des indischen Rittertums sollen vergangen 
sein. Das mag sein : aber sein Geist ist noch lebendig. Wenn ich die 
Rajputs betrachte, so sage ich mir: es biete sich die Gelegenheit, 
und ihr Heldensinn bewährt sich aufs neue. Die sind heute noch 
gerade so gesinnt, wie unsere Vorfahren es im 11. Jahrhundert 
waren, als das Rolandslied aus aller Munde klang. Es sind Ritter 
durch und durch; Paladine ohne Falsch, Furcht und Tadel, so edel und 
hochgezüchtet, wie solches sonst nur noch Pferde sind. Die Geschichte 
registriert nicht alles, was lebt und wirklich ist, sie weiß nur von dem 
Teil, welcher unmittelbar ins materielle Geschehen eingreift; so ge- 
langt sie zu der Fiktion einer Ablösung der sich folgenden Epochen. 
In Wahrheit bestehen sie alle in- und miteinander fort. Wie kein Zu- 
stand des Einzelnen buchstäblich vergeht, sondern nur abtritt von 
der Bühne des Wirkens, so dauern die historischen Zustände noch 
fort, die in die Weltbewegung längst nicht mehr eingreifen. Ich 
kenne Kreise, in denen das 18. Jahrhundert noch fortlebt, Pro- 
vinzen, in welchen der Geist des Reformationszeitalters noch wirkt. 
Sicher gibt es noch Chaldäer, Sumerier, Phöifiker; nur sind 
sie nicht leicht zu entdecken. . . . Gespenster erfüllen diese Welt. 
Und dort gerade gehen sie am lautesten um, wo ihr Dasein am 
entschiedensten geleugnet wird. Woher die Vieldeutigkeit des 
modernen geschichtlich-denkenden Menschen, seine Unbefriedigtheit, 
sein Verfeindetsein mit seiner Welt? Er will anders sein, als er ist. 
Er will sich gewaltsam einfügen in eine Konstruktion. In seinem 
Aberglauben an seine Geschichtlichkeit will er das in sich tot- 
schweigen, was zu der Zeit nicht stimmt. Was Wunder, daß die ver- 
drängten Geister Lärm schlagen? So manchen vielversprechenden 
Genius haben sie aus diesem Leben schon hinausgeschrien. — Die 
Rajputs jedoch, deren Zeiten längst vorüber sind, diese homerischen 
Helden im Jahrhundert der Industrie, leben herrlich und unbefangen 
fort. 
Es war Nacht geworden, als mich der Elephant, lautlos auf« 
Keyserling, Reisetagebuch. 1 1 
1 62 Ein Ele phantenritt. 
tretend, von der Felsenfeste talwärts trug. Ich lag auf der ge- 
polsterten Plattform, die Erde unsichtbar unter mir, das Auge in 
den Sternen verloren. Jedes Bewußtsein einer bestimmten Daseins- 
form war mir abhanden gekommen. Wer ich war, wo ich war, was 
ich tat — ich wußte es nicht. Ich wußte nicht mehr, daß ich auf 
einem Elephanten lag: seitdem ich mich an den Rhythmus seines 
Ganges gewöhnt hatte, existierte er für mich nicht mehr. Ich fuhr 
nicht, ich ritt nicht, ich flog nicht; ganz sicher ging ich nicht; von 
der Erde war nichts zu erkennen. Nur Himmelskörper umgaben 
mich. Und mit der selbstverständlichen Sicherheit des Träumenden 
schwebte ich durch den weiten Weltraum hin. Im Grunde war mir, 
als befände ich mich überhaupt nicht mehr im Raum. Es war jener 
seltsame Zustand der Entäußerung, den ich sonst nur an der 
Schwelle des Todes gekannt habe, wo intensives Daseinsgefühl mit 
der Verflüchtigung alles Wirklichen zupaar geht. Man kann nicht 
fest behaupten, daß man noch existiert ; man vergeht mit der Welt 
ringsum. Und doch ist man daj mehr denn je sonst, seiner Wesen- 
haftigkeit sicher. 
Wie ich absteigen mußte und beim grellen Fackelschein wie zum 
ersten Mal des Leviathans ansichtig ward, dem ich mich anvertraut 
hatte, da durchschauerte es mich. Es mag doch sein, daß die Erde 
auf einer Schildkröte ruht. Denn mehr als deren Bewohner spüren 
könnten, daß sie von Lebendigem getragen wird, habe ich vom Un- 
geheuer unter mir nicht wahrgenommen. 
DSCHA1PUR. 
Wie wenig mein Unterbewußtes doch von europäischen Vor- 
urteilen noch frei ist! Es shockiert mich — anders kann 
ich es nicht bezeichnen — daß es in Indien Menschen 
wie die Rajputs gibt! Ich glaube eben doch an „den" Inder, und 
diesen Typus habe ich vom Brahmanen abstrahiert, dem femininen, 
geschmeidigen Intellektuellen ; so daß es mich wie ein „Wider- 
spruch" berührt, daß ich mich nun unter Indern befinde, die den 
fränkischen Baronen des Mittelalters ähnlicher- sehen, als der Masse 
ihrer Volksgenossen. Dabei sollte ich es längst schon verlernt haben, 
Indiens Mannigfaltigkeit; der Kastenbegriff. 163 
die europäischen Allgemeinbegriffe Nation, Rasse, Volk usw., auf 
Indien anzuwenden. Wie ich zu Rameshvaram den ersten Überblick 
über die Stämme Hindustans gewann — und dort waren es doch Be- 
kenner eines Glaubens ! — da mußte ich an die Ilias denken ; wie 
sich die Myrmidonen für Homer von Spartanern und Phokern nicht 
minder unterschieden, als von den Troern ; wie es für ihn, trotz 
bestehender Sprachgemeinschaft, kaum so etwas wie „Griechen" 
gab. Nur daß die verschiedenen Stämme Hindustans nicht eine, son- 
dern hundert Sprachen reden. Was ich seither nun erfahren habe, 
hätte mir den Glauben an „den" Inder vollends nehmen sollen ; eine 
kleine Tagereise hat mich nicht selten gleich verschiedene Aspekte 
der Menschheit kennen gelehrt, als wenn ich von Island auf einmal 
nach Sizilien hinübergesetzt wäre. Welcher Allgemeinbegriff ist auf 
die Völker Indiens überhaupt anwendbar? Ausschließlich derjenige 
der „Kaste", wie ihn der indische Volksmund anwendet. Der be- 
greift in sich nichts Eindeutig-Bestimmtes: Kaste wird jede Gemein- 
schaft genannt, die in irgendeinem Sinne ausschließlich erscheint. 
Bald wurzelt sie im Blute — die Abkömmlinge der Mongolen sind 
.anderer „Kaste" als die Hindus ; bald im Glauben, wie im Falle der 
Sikhs ; hier geht ihr Begriff auf geographische Abgeschlossenheit 
zurück, dort wieder auf eine gleichartige Beschäftigung. Im wissen- 
schaftlichen Sinne genau sind die Inder niemals gewesen. Wieder 
und wieder ist das Pathos der Blutsgemeinschaft durch Adoptions- 
möglichkeiten gemildert worden, wieder und wieder hat ein 
religiöser Verband Andersgläubige in sich aufgesogen. Die Hindus 
haben immer nur als Künstler unterschieden, d. h. vom Standpunkte 
einer gegebenen Gegenwart aus. Von dort aus aber haben sie 
besser beobachtet und aus ihren Beobachtungen weitgehendere Kon- 
sequenzen gezogen, als irgendein Volk. . . . Jeder Gruppe wird ihr 
Typus unbedingt zugestanden, mit bewunderungswürdiger Weit- 
herzigkeit. Es erstehe im Schöße eines Glaubens eine Sekte, eine 
Häresie: sobald sie so weit fest begründet erscheint, daß sie einen 
neuen Typus erschaffen hat, wird sie als neue Kaste gelten ge- 
lassen. So findet der Hindu, welchem Töten ein Sakrileg und 
Fleischessen ein Greuel ist, kein Ärgernis darin, daß er Glaubens- 
genossen besitzt, die, wie die Rajputs, Raubtiere sind. Er be- 
urteilt die verschiedenen Kasten nicht anders als die verschiedenen 
Tierspecies, welche alle von Gott erschaffen sind und alle ein Recht 
zum Leben haben ; weiter denkt er in der Regel nicht nach. Tut 
164 Vorzüge des Kastensystems. 
er es aber, dann lehrt ihn sein Glaube sofort die Vorzüglichkeit der 
bestehenden Ordnung einsehen: die Seele muß durch vielfältige 
Verkörperungen hindurchgehen, um alle nur denkbaren Erfahrungen 
durchzumachen. Wohl gibt es höhere und niedere Daseinsformen ; 
der Brahmane steht über dem Kshattrya. Doch ist dessen Typus 
nicht minder notwendig und gottgewollt, da keine Seele zum Glück 
des Wissenden reif erscheint, die nicht vorher einem Kämpfer inne- 
gewohnt hat. 
Die Schwächen dieser Anschauungsart liegen zutage: ihr ist es 
zu danken, daß Indien eine Einheit nicht allein nie gebildet hat, 
sondern unmöglich hätte bilden können. Es gibt keine indische 
Nation, keinen indischen Glauben, keinen indischen Geist. Andrer- 
seits : wie wunderbar reich und gegliedert ist die indische Mensch- 
heit! Wie fabelhaft ausgeprägt ist jeder Typus! Überall, wo, wie 
im Orient, der Einzelne nicht ausgesprochen einzig ist, wird er am 
meisten er selbst, indem er seinen Typus vollendet. Nun haben 
die Inder so viele Typen unterschieden, als sich vernünftigerweise 
unterscheiden lassen, und sind bereit, jeden neuerstehenden gelten 
zu lassen: also besteht für den Einzelnen kaum Gefahr, daß die 
Kaste seine Eigenart unterdrückte. Wirklich: mehr und mehr 
gewinne ich den Eindruck, daß das Kastensystem dem Einzelnen 
mehr freien Spielraum läßt, als es das unserige tut, das jede 
Typik verleugnet. Wenn jeder von uns sich seines tiefsten Seins 
bewußt wäre und dieses unbefangen zum Ausdruck brächte, dann 
freilich dürfte unser System als das denkbar vollkommenste gelten ; 
allein der Europäer, der seines Typus nicht eingedenk ist, richtet 
sich desto sklavischer nach abstrakten Normen, deren Grenzen mehr 
drücken, als jedes Kastenvorurteil. Der Europäer will schlankweg 
„Mensch" sein, vergessend, daß es ein solches Wesen nicht gibt, 
weshalb sein wachsendes Einheitsbewußtsein nicht Vertiefung, son- 
dern Uniformierung der Oberfläche bedingt. Nirgends nun dürfte 
Einheitsbewußtsein tiefer wurzeln und allgemeiner verbreitet sein, 
als unter Indern ; aber dort setzt es gleichzeitig die Ausschließlich- 
keit des Phänomens. So ist die indische Menschheit, die an die 
Persönlichkeit nicht glaubt, weit vielgestaltiger und reicher ge- 
gliedert, als die individualistisch denkende des modernen Westens. 
Es ist ein hoher Genuß, durch die rosenrote Stadt zu lust- 
wandeln. Wie prachtvoll sehen diese Rajputs- aus! Das Leben in 
Dschaipur verläuft nicht anders, als an den Höfen der Fürsten aus der 
Vorzug der Überschätzung der Vererbungsgesetze. 1 65 
Heldenzeit, wie es Valmiki im Ramäyäna geschildert hat. Übermorgen 
wird Englands Königin zum Besuch erwartet. Durch alle Tore ziehen 
Ritter ein, waffenklirrend, mit ihren Reisigen und Mannen. Der 
Bruder des Maharaja, eine gebietende Gestalt, reitet in purpurnem 
Kaftan auf goldgeschmücktem Elephanten durch die Straßen, um 
die Vorbereitungen zum Empfang zu überwachen. Eben jetzt ziehen 
die Naga-(Schlangen-)Truppen an mir vorbei: junge Edelleute in 
grünen enganliegenden Rüstungen, deren Vordermänner während 
des Marsches einen wilden Schwertertanz aufführen. 
Die Welt des Rajputs ist allerdings mittelalterlich, so sehr, daß 
kein Knabe, dessen Vorstellungen durch Fouquesche Romane 
gebildet wurden, an dieser Wirklichkeit eine Enttäuschung 
erlebte. In Dschaipur wird nicht geritten sondern gesprengt ; alle 
ritterlichen Künste werden gepflegt ; nur Rittertugenden gelten, nur 
Ritter zählen. Hier herrscht jene exzessive Einseitigkeit, die allein 
zur Prägung dauerhafter und starker Formen führt. 
Ohne Zweifel ist es besser, wenn die Macht der Vererbung, 
überschätzt, als wenn sie unterschätzt wird. Edlere Typen als diese 
Rajputs gibt es nicht ; so ausgeglichen-gleichmäßig schön, wie dieser 
Menschenschlag, sind die edelsten Rasseherden selten. Wie kümmer- 
lich nehmen sich die Träger unserer alten Namen, deren älteste doch 
von gestern datieren verglichen mit den indischen, neben einem be- 
liebigen Rajput aus ! — Hier handelt es sich um den größten 
Triumpf der Menschenzüchtung, von dem ich wüßte; daß die Er- 
gebnisse nach Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden noch so 
so weiser Inzucht den höchsten Anforderungen genügen, so daß 
gar keine Degenerationserscheinungen festzustellen sind, bedeutet 
ein Unerhörtes. Woher dieser Erfolg? Auf die physisch-biologische 
Seite des Problems mag ich nicht eingehen, da es zu dessen 
Lösung noch an Daten fehlt. Sei es, weil sie sich weniger veraus- 
gaben als wir, weil ihre nervöse Grundanlage robuster, ihre 
Variabilität geringer ist (was der Erhaltung und Festigung 
des Typus zugute kommt) — sicher sind die Rassen des Orients 
im allgemeinen langlebiger als die unserigen, scheint dort der Fort- 
bestand eines Typus weniger gefährdet als bei uns. Aber mit 
dem Hinweise auf die physischen Bedingungen ist nur eine Seite 
des Problems ins Auge gefaßt: weshalb wirken die Vererbungs- 
1 66 Die Rasse psychisch bedingt. 
gesetze beim Menschen nie auch nur annähernd so sicher wie beim 
Vieh? Weil bei jenem auch psychische Umstände mitspielen, weil 
diese vielfach die entscheidenden sind. Sicher ist die wunderbare 
Konstanz, mit der sich der Typus unter den Rajputs fortvererbt, zum 
größten Teil auf psychische Verhältnisse zurückzuführen. 
Was in Europa geschehen ist und geschieht, läßt mir an der 
Richtigkeit dieser Auffassung wenig Zweifel übrig. Bis zum An- 
bruche der Neuzeit, der antistatischen, waren auch unsere Ge- 
schlechter sehr viel langlebiger, vererbten sich die Typen auch bei 
uns viel sicherer fort, als seither geschieht; und noch heute stellen 
der Junker und der Bauer — diejenigen also, die sich zur stati- 
schesten Weltansicht bekennen — von allen die dauerhaftesten dar. 
Der Mensch des Mittelalters glaubte an sich, als an den 
Träger einer spezifischen Form. Jeder Rittersproß setzte es als 
selbstverständlich voraus, daß er kraft seines Blutes der Ritter- 
tugenden teilhaftig war — und so ergriffen sie meistens von ihm Be- 
sitz. Dieser Glaube schuf dann aus sich heraus die weiteren Um- 
stände, die der Festigung des Typus zugute kamen: die Meidung 
des Verkehrs mit Angehörigen anderer Kasten, die schnelle und voll- 
ständige Ausmerzung aus der Art geschlagener, die Rücksicht bei 
der Brautwahl auf ein Optimum für die zu gewärtigende Nach- 
kommenschaft, eine unaufhörliche Selbsterziehung im Sinne des 
Standesideals usw. Seitdem die alten Formen an Prestige verloren 
haben, seitdem keine mehr als notwendig gilt und das Ideal 
des Aufsteigens in der sozialen Ordnung das ursprüngliche einer 
vollendeten Ausfüllung der Stellung* in der und zu der einer ge- 
boren ward, abgelöst hat, seitdem wirken die psychischen Um- 
stände unter uns der Erhaltung des Typus Entgegen. Kein 
Wunder, daß dieser seither immer mehr an Lebenskraft einbüßt. 
Die psychischen Anlagen eines Menschen sind niemals eindeutig von 
Hause aus, sondern vielfacher Gestaltung fähig. Wird die Form 
nun von dem, der sie trägt, nicht ernst genommen, so ergibt dies 
mit Unvermeidlichkeit Charakterlosigkeit, welche langsam aber 
sicher von der Psyche auf die Physis hinübergreift. Nur was dem 
Menschen ein Ideal bedeutet, bleibt dauernd vitalisiert. Herrscher- 
häuser entarten langsamer als alle anderen, weil sie von den 
mächtigsten Idealen getragen werden ; der Landadel entartet lang- 
samer als das Patriziat, weil die Basis seiner Idealität eine tiefere 
ist. Überall unter Menschen entscheiden psychische Umstände; 
Warum Herrscherhäuser schwer entarten; indische Glaubenskraft. 167 
wo diese der Konsolidierung des Typus entgegenwirken, dort nützt 
alle Reinzucht nichts. 
Die allgemeine Lebensanschauung des Orients entspricht unserer 
mittelalterlichen. Der Orient glaubt an seine Formen. Daß aber 
dieser Glaube hier mehr vermag, als er je bei uns vermocht hat, 
das liegt an seiner ungleich größeren Intensität. Hier komme 
ich denn endlich auf ein Problem zu sprechen, daß mich seit dem 
ersten Tage meines Aufenthaltes auf indischem Boden beschäftigt 
hat: die Glaubenskraft des Inders üb ersteigt, alle, selbst die extra- 
vagantesten Vorstellungen, die der Abendländer sich machen kann. 
Sein Glaube ist erschütterungsunfähig. Man beweise ihm was und 
soviel man will, er hält an seinen Vorstellungen fest, wie ein Achtfuß 
am einmal ergriffenen Gegenstande. So glaubt er an seine Kaste mit 
eben der Inbrunst, mit der Luther an Gott geglaubt hat. Damit ist 
eine Bewußtseinslage geschaffen, in der Energien sich auswirken 
können, welche sonst außer Spiel bleiben: die Kräfte, welche „Berge 
versetzen". So kommt es, daß die Vererbung in Indien zustande 
bringt, was eigentlich über ihre Kraft geht. Schon bei uns ist die 
Fortdauer von Familientypen zu einem erheblichen Grade psychisch 
bedingt: der fortgesetzte Wunsch, einem Vorbilde gleichzukommen, 
führt diese Verwirklichung auf die Dauer herbei. Unter indischen 
Rittern, mit ihrer gigantischen Glaubenskraft, der großen Eindeutig- 
keit ihrer Naturanlage und der im ganzen einfacheren Psyche, ge- 
schieht gleiches im höchsten Grad. 
Von hier aus gelingt es denn auch, der viel verschrienen 
Kastenordnung gerecht zu werden. Deren Grundlage ist ganz ima- 
ginär; die Voraussetzung der ursprünglichen Blutdifferenz hält der 
Kritik nicht stand ; die Gesetze der Vererbung wirken nicht halb so 
eindeutig, wie die Hindus dies postulieren ; das vielverschränkte 
abstrakte System, welches heute die Gliederungen der Gesellschaft 
einfaßt, ist nicht allein unvollkommen, sondern willkürlich und viel- 
fach widernatürlich. Kein Wunder daher, daß alle, welche Indien 
nur äußerlich kennen, es als Monstrosität verdammen. Tatsächlich 
bewährt es sich reichlich so gut als irgendeines, das der ver- 
nünftigere Westen bisher ersann, weil eben in Indien ein Faktor das 
Hauptmoment bedeutet, der im Okzident kaum in Frage kommt: 
eine schier grenzenlose Glaubenskraft. Der Inder glaubt nun ein- 
mal an die geistige Begabung des Brahmanen, an den Rittersinn 
des Kschattrya, die wirtschaftliche Tüchtigkeit des Vaigya und die 
1 68 Das Kastensystem. 
Dienstprädestiniertheit des Qudra; er glaubt mit beinahe gleicher 
Intensität an die spezifischen Tugenden jeder .Unterkaste. Was ist 
der Erfolg? Es sind psychische Vorbedingungen geschaffen, dank 
welchen der geringste Keim, der den Glaubensvoraussetzungen ent- 
spricht, sich frei entfalten kann, während alle anderen baldigst ab- 
sterben; so daß die Brahmänenkaste z. B. soviel Denker und Priester 
wirklich liefert, als sie im günstigsten Falle liefern könnte, während 
die untüchtigen unbemerkt bleiben. Der Mensch bemerkt niemals, 
was seinem festen Glauben entgegensteht. Auf die Dauer schafft 
dieser die Wirklichkeit, die ihm entspricht. Und die vorausgesetzten 
Sondergaben jeder Kaste erben sich sicherer fort, als mit den Natur- 
gesetzen vereinbar scheint, weil niemand diese kennt. Das heißt, 
die Erziehung vollendet, was die Vererbung angebahnt hatte. So 
ist es denn zweifelsohne ersprießlicher, wie ich zu Anfang schrieb, 
daß die Macht der Vererbung überschätzt, als daß sie unterschätzt 
wird: ihre Macht ist durch schöpferischen Glauben einer unge- 
heuren Steigerung fähig. 
Und von hier aus denke ich zurück an die Grundlehren der 
indischen Philosophie. Wenn es irgendeinem Volke nahegelegt wor- 
den ist, geistige Bindungen zu hypostasieren, so gilt dies vom 
indischen. Hier, mehr als irgendwo sonst, haben psychische Um- 
stände den Charakter der materiellen Wirklichkeit bestimmt; 
reicher, als irgendwo sonst, ist diese Wirklichkeit gegliedert; 
nirgends auf der Welt erscheint der Typus als Typus auch nur an- 
nähernd so substanziell. Und doch sind die indischen Denker nie 
darauf verfallen, was die westlichen aus so viel dürftigerem 
Anlaß stets getan haben, die Gestaltungen metaphysisch ernstzu- 
nehmen. Ihnen war die Erwägung ein Selbstverständliches, die bei 
uns noch als Paradoxon wirkt: daß was willkürlich gesetzt, er- 
schaffen werden kann, eben deshalb nicht notwendig ist. Ich blicke 
mit den Augen eines Rishi auf das bunte Schauspiel vor mir hin : 
ist die Welt nicht nur deshalb so, wie sie ist, weil sie auch anders 
hätte sein können ? Wie stark scheint die Lokalfarbe von Dschaipur ! 
Und doch: konzentriere ich auf sie meinen Geist, so verblaßt sie, 
verflüchtigt sie sich, und alle Umrisse verfließen. 
Fluch der Gemütlichkeit. 1 69 
LAHORE. 
"V T un bin ich im nördlichen Pendschab, einer völlig neuen 
I ^^ Welt vom Standpunkte dessen geurteilt, der nur Indien 
-*- ^ kennte. Mir aber scheint sie nur allzu vertraut: In Lahore 
sieht es um Weihnachten kaum anders aus als um die gleiche Zeit 
im gemäßigten Europa. Wenigstens kann ich, der flüchtige Be- 
sucher, keinen wesentlichen Unterschied erkennen, weil der Rahmen, 
in dem mein Leben sich abspielt, vollkommen europäisch ist 
Meinen Geist verdrießt das nicht wenig: wozu bin ich hierher ge- 
reist? Der „Bruder Esel" jedoch, das Fleisch, das Gewohnheits- 
tier, freut sich gewaltig; oft muß ich auflachen darüber, wie sehr 
er Küche, Komfort, die ganze Atmosphäre genießt. Selbst das 
scheint seine Freude nicht zu schmälern, daß er sich gleich in erster 
Stunde eine böse Erkältung zugezogen hat: auch die gehört ja mit 
zum nordischen Winter. So sind dem anhänglichen Bauernweib 
sogar die Schläge des heimgekehrten Gatten lieb. . . . 
Ich muß fort. Gemütlich darf es nicht werden. Wieviel macht 
einem dieser Zustand nicht zu schaffen ! Überall, wo man ein wenig 
länger geweilt, schleicht er sich leisetreterisch ein, und hat er sich 
einmal eingenistet, dann ruht er nimmer, bis daß er alle Spannungen 
gelöst hat. Schlimmeres kann von einem Milieu kaum behauptet 
werden, als daß es diesen Zustand begünstigt. Gemütlichkeit be- 
deutet ja nichts anderes, als daß das ganze Dasein dem Geist der 
Trägheit unterworfen ist. Ich gehöre wahrhaftig nicht zu denen, 
welche Abtötung des Fleisches predigen ; aber dafür bin ich aller- 
dings, daß nichts Erschlaffendes geduldet würde. Die Freuden und 
Genüsse des Lebens sind als solche gar nicht erschlaffend: nur die 
Gewohnheit des Genießens erschlafft; die Gewohnheit ist der 
wahre Feind. Hierin haben die Asketen wohl niemals klar gesehen. 
Sie haben einfältiglich verkannt, daß die Gewohnheit der Kasteiung 
genau so übel ist, wie die Gewohnheit der Völlerei. Wäre es anders, 
unter Entsagern aus Prinzip gäbe es weniger dürftige Gesellen. 
Meist sind sie ja noch geistloser, als die Bohemes, was viel besagen 
will. — Der „alte Adam", welcher täglich und stündlich bekämpft 
werden soll, ist das Gewohnheitstier. Es gibt keine guten Gewohn- 
heiten. Es ist nicht wahr, daß irgendeine Lebensroutine für Freiheit 
170 Es gibt keine guten Gewohnheiten; Unverständnis als Vorzug. 
des Geistes zeuge. Der Heilige aus Routine ist gar kein Heiliger 
mehr; nur vermeidliche Treue hat geistigen Wert. Im Augenblick, 
da eine Verrichtung zur Gewohnheit ward, verflüchtigt sich der 
Geist, aus der sie stammte. An die Stelle spontanen Schaffens 
tritt Maschinenbetrieb. Von der Maschine aber findet nur der den 
Weg zum Schöpfer zurück, der sie zerschlug. — Daß der Mensch 
einer gewissen Geregeltheit im Leben bedarf, liegt daran, daß er 
nicht absolut frei sein kann ; um in irgendeiner Hinsicht freizu- 
bleiben, muß er sich nach anderen desto fester binden. Der Vorzug 
aller Regel beruht ausschließlich darauf, daß sie Freiheit ermög- 
licht, nicht, daß sie in Fesseln schlägt — und diesen ihren Vorzug 
verliert sie in dem Augenblick, wo die Fesseln einem lieb wurden. 
Ich muß fort aus Lahore ; gemütlich darf es nicht werden. 
Aber bewundern muß ich es, wie sehr die weißen Residenten dieser 
indischen Stadt ihren Charakter aufgeprägt haben ; hier wirken die 
Eingeborenenviertel kaum weniger exotisch, wie die Ghettos in 
New York oder Amsterdam. Verständnislosigkeit ist eine ungeheure 
Macht. Schlössen sich die Engländer weniger engherzig von allem 
Nicht-Englischen ab — nie könnten sie Indien beherrschen, wie sie 
es tun. Und so ist es wohl überall. Die erfolgreichsten Frauen- 
kenner waren immer die, welche auf deren Gefühlsleben am wenig- 
sten innere Rücksicht nahmen, die besten Erzieher immer die, 
welche zu den Schülern am meisten Distanz einhielten. Genau im 
gleichen Sinne schaut die jüdisch-christliche Menschheit zum persön- 
lichen Gottvater auf. Nie würden diesem die Eigenschaften der All- 
güte und des Allverständnisses so unbedenklich zugestanden werden, 
nie würde die Menschheit so fest darauf vertrauen, daß er alles 
zum besten wenden wird, wenn er nicht durch grundsätzliches Miß- 
verstehen, durch Gleichgültigkeit allen Hoffnungen und Wünschen 
gegenüber bewiesen hätte, daß er unzweifelhaft über ihr steht. 
Die Luft Zentral- Asiens. 1 7 1 
PESHAWAR. 
Ich bin tatsächlich aus Indien hinausgeraten. Entblätterte Bäume, 
eine kalte klare Winterluft; breite staubige Landstraßen, auf 
denen Menschen einherwandeln, deren psychischer Typus mir 
wohlbekannt ist. Seltsam : zwischen Afghanistan und Rußland 
liegt eine ganze Welt. Jedes Gebiet Zentralasiens ist von anderen 
Stämmen bevölkert, von anderer Geschichte und Kultur, hat 
andere Sitten und Gebräuche ; und doch breitet sich heute eine 
geistige Atmosphäre vom Khaiber bis über den Ural aus. In dieser 
Atmosphäre verflüchtigt sich alle Bedeutsamkeit. In Peshawar wird 
täglich gemordet und bunte indische Tücher stehen zum Ver- 
kauf — doch was hat das zu sagen? Genau so gut könnte nichts 
geschehen, könnte alles ganz anders sein. Durch ein Ereignis 
mehr oder weniger, durch ein Ereignis so oder anders, wird der 
Sinn dieses Geschehens nicht gewandelt. In langen, endlosen Reihen 
ziehen die Kamele hintereinander her. In langem, endlosem Zuge 
folgt Jahrhundert auf Jahrhundert. Millionen gleichartiger Menschen 
sterben rhythmisch hinter einander ab, bald gewaltsam und bald 
wieder von selbst, mit der stereotypen Gebärde des Achselzuckens. 
Mich ergreift jene bodenlose Schwermut, für die nur der Russe 
das rechte Wort besitzt: Unynie. Ich will nichts, vermisse auch 
nichts, erweisbare Gründe habe ich nicht, ich bin eben schwer- 
mütig. Meine Seele ist wie ausgehölt. Dieses Asien kennt keine 
Regungen geistiger Art. Die Schwingungen, welche ich selber aus- 
strahle, verflüchtigen sich im endlosen Raum, mir aber fehlt 
die innere Kraft sie aufzuhalten. Das Ergebnis ist ein Gefühl der 
Leere, das mich tiefelend macht. Dann aber dringen fremde, brutale 
Gewalten in mich ein — die Gedanken und Begierden, die in den 
wilden Herzen afghanischer Schafsdiebe hausen mögen. Ich kann 
mich ihrer kaum erwehren, so plötzlich überrumpeln sie mich. Und 
dann erkenne ich entsetzt, daß sie mir innerlich gar nicht so fremd 
sind, wie ich dachte: auch in mir steckt irgendwo, tief unten, ein 
roher Zentralasiate und ich verfluche die Luft, die ihn aus dem 
Schlummer erwachen ließ. 
Freilich birgt diese Welt eine Möglichkeit zu einzigartiger 
Großheit. Wenn der Sturm sich über der Wüste entfesselt, dann 
1 72 Dschengis Khan ; das Kabul-Tal einst und jetzt. 
werden ganze Sandgebirge aufgetürmt, die sich wellengleich fort- 
wälzen. Solche Sturmgewalten sind etliche Male in Menschen ver- 
körpert gewesen. Das waren Wesen ohne Seele noch Sinn, ohne 
eigentliches Ziel und ohne Wertgefühl ; sie besaßen kaum mensch- 
liches Bewußtsein. Dafür wohnte in ihnen die Urkraft des Wüsten- 
sturms. Wie Sandkörner trieben sie die Völker vor sich her, wie 
unter Sandbergen begruben sie die Kulturen. Blieb aber der Sand 
nicht haften, dann war es wiederum, als wäre nichts geschehen, als 
wäre der Überfall ein böser Traum gewesen. — Diese Eroberer 
stellen schlechterdings ungeistige Mächte dar; aber Großheit, ja 
übermenschliche Großheit kann Attila und Dschengis-Khan nicht 
aberkannt werden. 
Und zu denken, daß hier, vor nicht einmal unendlich ferner 
Zeit, ein Mittelpunkt buddhistischer Kultur lag! daß das 
Kabul-Tal das Heilige Land des Mahäyäna-Glaubens war, 
die Sehnsucht aller Suchenden vom Fünfstromlande bis zum japa- 
nischen Meer, der Schauplatz jener Verschmelzung des hellenischen 
und des indischen Geistes in Kunst, Kultur und Religion, auf den 
alle spätere Gestaltung des fernen Ostens ursprünglich zurückgeht ! 
— Zentralasien ist Jahrtausende entlang die Quelle alles Geistigen 
auf Erden gewesen. Aber wie die Wasser mählich versiegten 
und die Gärten zu Wüsten zerstaubten, da verflüchtigte sich un- 
aufhaltsam auch der Geist aus der ausgedörrten Atmosphäre und 
die äußerste Barbarei trat das Erbe der äußersten Bildung an. — 
Ich denke an meine Geologentage zurück und die Art, wie ich da- 
mals die Welt betrachtete; in den Alpen schaute ich das Meer, im 
Basalte die flüssige Lava, im Versteinert-Erstarrten das Leben selbst. 
Mit nicht viel anderen Augen sieht der Archäolog Zentralasien 
an. Allein mir scheint: beide blicken über das Eigentlich-Bedeut- 
same hinweg. Das Bedeutsame ist die Veränderung an sich. Wer 
jemals Landwirt war, der weiß, was „Geschichte" heißt: ein Jahr 
der Kultur mehr oder weniger stellt ein kosmisches Absolutum dar ; 
es ist nicht vorwegzunehmen, nicht rückgängig zu machen ; solche 
Zeit ist wirklich vor der Ewigkeit. Denn solche Zeit schafft um. 
Wo zielstrebiger Wille das Werden lenkt, dort findet Entwickelung 
statt; es geht vorwärts, immer vorwärts, immer weiter, und kein 
Ende ist abzusehen. Versagt der Wille aus irgendeinem Grund, 
Verfehltheit des Ursprünglichkeitsideals. -* 173 
so ändert das Geschehen seinen Sinn. Das Werden biegt ab, ver- 
zweigt sich, hört gar auf, ein Beliebiges ersetzt das Vernunftgemäße. 
So folgt auf den Garten die Wüste, auf Kultur die Wildnis, auf den 
Geist der Ungeist, auf kurzes Leben ewiger Tod. — Welche Narr- 
heit, an eine Vorsehung zu glauben, die von außen her das irdische 
Geschehen lenkte! Dieses könnte wohl zweckvoll verlaufen, nichts 
Prinzipielles steht dem im Wege; vielleicht bringen wir Menschen 
es einmal dahin, daß es so wird. Aber Gott scheint es ganz gleich- 
gültig zu sein, was auf Erden vorgeht. Gestern Geist, heute Un- 
geist, morgen vielleicht wiederum Geist; bald Garten, bald Wüste, 
bald Urwald, bald Meer; mich dünkt, Er ergötzt sich an der plan- 
losen Abwechselung, wie der müde Maharajah am Nautsch, auf 
daß Ihm die Ewigkeit nicht lang würde. 
Immerhin ist es reizvoll, zeitweilig inmitten so wilder Gesellen zu 
leben, wie es diese Afridis sind. Sie sind prächtig in ihrem 
Raubtiertum, ihrer Ursprünglichkeit, ihrer triebhaften Unver- 
antwortlichkeit. Die Regierung sieht es nicht gern, wenn man sich 
unbeschützt und ungeleitet in den Basars bewegt: plötzlich könnte 
einem ein Dolch zwischen den Rippen sitzen, sie aber müßte ein- 
schreiten, was sie in ihrer Weisheit ungern tut, weil Morden diesen 
Leuten nichts Schlimmeres bedeutet, als das höfliche Äußern einer 
abweichenden Ansicht unter uns. Könnte ich dem Afridi gram sein, 
der mir nach dem Leben stellte? Kaum. Nicht mehr jedenfalls 
als einem Tiger. Und indem ich mich durch die engen Gassen 
schlängele, schaue ich aus, ob ich nicht irgendwo einen beginnenden 
Zwist erspähe. Im Kampfe müssen diese Männer herrlich aussehen. 
Solange es friedlich hergeht, schläft ihr Bestes in eben dem Sinn, 
wie es beim spanischen Kampfstier schläft, welcher gleichmütig 
wiederkäut. 
Auf einmal muß ich lachen: die Afridis sind ja leibhaftige 
Verkörperungen jenes Übermenschenideals, dem ein guter Teil 
unserer Dichterjugend huldigt! Große Menschen, welche grausam 
sind weil sie müssen — die ihr Schicksal erfüllen, ob es sie gleich 
verdirbt — deren Leidenschaft keine Schranken anerkennt — die 
von Verstandesüberlegungen nie verleitet werden: wahrhaftig, die 
Beschreibung stimmt. Es ist gar zu kurzweilig, zu was für Ge- 
staltungen das Bedürfnis nach Heroenkult ein überbildetes Städter- 
1 74 Kühe und Götter als Ideale. 
tums führt. Ohne Zweifel tut Ursprünglichkeit not; aber ist 
denn keine höhere Art denkbar, als die des Tiers? Schwerlich 
haben die Athener um Plato herum zu Achill und Diomedes als 
Vorbildern aufgeschaut; es bedurfte der modernen Dekadenten, 
um das Menschheitsideal so tief in das Animalische hineinzusenken ; 
selbst Nietzsche, der zarte Pastorensohn, hat es nimmer so gemeint, 
was immer er sagen mochte. Aber heute sind wir wirklich dahin 
gelangt, daß Ursprünglichkeit und Naturhaftigkeit identifiziert er- 
scheinen. Gott ja, gern bin ich bereit, die Unbefangenheit der Kuh 
zu verehren; nur knüpfe ich hieran die Bedingung, daß sie nicht 
schreibe; dieser Ausdruck ist nur gebildeten Menschen gemäß. 
Im gleichen Sinne lehne ich es ab, den Wilden als Heroen zu ver- 
ehren. — Wahrhaftig, die Afridis sind die Übermenschen, welche 
die moderne Literatur Jugend verehrt. Es unterhält mich, sie 
unter diesem Gesichtspunkte zu mustern. Einst hieß es: wer 
sich in der Gewalt hat, sei stark ; heute : wer sich gehen lassen 
muß. Natürlich: wer gar keine Leidenschaften hat, dem be- 
deutet ihr bloßes Dasein ein Ideal. Aber es ist ja nicht wahr, 
daß alle modernen Menschen erschöpft wären ; nur die Schreiben- 
den sind es zumeist, die Canaille ecrivante, cabalänte et convulsiön- 
naire Voltaires, die unwesentlichsten Leute von allen, und heute ist 
es verhängnisvoller denn je, daß diese so viel Macht besitzen ; das 
Ideal der Ausgemergelten, der Impotenten, der Schwachen, treibt die 
Gesunden in die Barbarei. Schreibende Kühe werden verherrlicht, 
wilde Kerle als Helden verehrt: so beginnen mehr und mehr Kühe 
zu schreiben und mehr und mehr bildungsfähige Menschen werden 
wild. O wie gut täte es den Jungen von heute, ein wenig indische 
Weisheit in sich aufzunehmen ! Zu lernen, daß es ein Zeichen der 
Schwäche ist, und nicht der Kraft, wenn einer grausam sein muß, 
seinem Schicksal unterliegt, seiner Leidenschaften nicht Herr, 
von Vernunftsüberlegungen unbeeinflußbar ist, daß nicht allein der 
Übermensch neuesten, sondern auch der tragische Heros klassischen 
Musters einen barbarischen Zustand verkörpert! Ohne Zweifel ist 
der moderne Menschheitszustand wenig wert; aber das Ideal, dem 
wir nachstreben sollen, liegt in der Richtung der Durchgeistigung, 
nicht der Vertierung. Nicht nur die Kuh, auch der Gott ist unbe- 
fangen, und diesem, nicht jener, sollten wir nacheifern. Um so 
mehr f als wir diesem schon viel näher sind.. Indem ich die Afridis 
betrachte, wird mir sehr deutlich, wie fern deren Wesen uns schon 
Das Imperium; Delhi und Rom. 175 
liegt. Vielleicht bedingt es diese Verrückung der Perspektive gegen- 
über dem Zustande der Antike, daß uns heute das Tier, wie den 
Alten der Gott, über alles ehrwürdig dünkt. . . . 
DELHI. 
Aus der Barbarei sehe ich mich ohne Übergang in eine Stadt 
versetzt, die vor wenigen Jahrhunderten erst als unerreichtes 
Kulturzentrum galt, und doch spüre ich keine starken geistigen 
Schwingungen: inmitten der Herrlichkeiten Delhis fröstelt mir. 
Sie sind ganz ohne Eigen-Sinn, ohne tieferen Ausdruckswert, was 
besonders von den Moscheen gilt. Mohammed hatte recht, gleich 
seinem Vetter im Geiste, Calvin, aus den Gotteshäusern allen Sinnen- 
reiz zu verbannen: diesem Gott ist kein Kunstwerk gemäß. In der 
wilden Natur, in der Feldschlacht, in der Macht und Gerechtigkeit 
des Khalifen offenbart sich sein lebendiger Geist ; das „Kunstschöne" 
ist ihm kein mögliches Ausdrucksmittel. Das tritt hier, wo die 
indischen Künstler ihren ganzen Feinsinn und ihre ganze Ge- 
schmeidigkeit in den Dienst des Muselmannes gestellt haben, mit 
schmerzhaft wirkender Deutlichkeit an den Tag. Diese Kunst be- 
deutet hier gar nichts, so reizvoll sie sei ; ihr fehlt der Hintergrund, 
den sie an indischen Fürstensitzen hat. Die Mohammedaner haben in 
Indien nur als Herrscher geistige Bedeutung. Daher besitzen auch 
nur die Monumente Atmosphäre, die dem Imperium Ausdruck ver- 
leihen : die Festungen, Ringmauern, Mausoleen ; und an den son- 
stigen Kunstschöpfungen ihre Pracht an sich, ihre Größe, ihre 
äußere Möglichkeit. Das Künstlerisch-Schöne als solches kann kein 
unmittelbarer Ausdruck des Imperiums sein ; von sich aus sagen die 
Prunkbauten des Großmoguln nicht mehr, als daß diese die Macht 
hatten, sie aufzuführen. Wirklich gehaltvoll ist imperialistische 
Kunst nur dort, wo sie als vollendete Zweckmäßigkeit zutage tritt 
Daher der ungeheuere Ausdruckswert der römischen Aquedukte, von 
denen jeder Bogen mehr Seele hat als das schönste nach Griechen- 
muster errichtete Monument; daher in unseren Tagen der Um- 
stand, daß nur Eisenkonstruktionen, die Bahnhöfe, Brücken und 
Tunnels lebendigen Kunstwert besitzen. So finde ich denn in 
176 Die Mogulkaiser; Akbar der Große. 
Delhi wie in Rom mein höchstes Gefallen daran, in der Landschaft 
weit umherzuschweifen, ohne allzuviel ins Einzelne zu gehen. Diese 
Landschaft ist der Campagna nahe verwandt, trotz aller konkreten 
Verschiedenheiten. Hier wie dort weht ein Geist des Weiten, 
Ganzen, Großen und doch fest Verknüpften — der Geist des 
Imperiums. 
Beziehe ich freilich — was ich eigentlich nicht darf — die 
Schönheit der Moscheen und Paläste Delhis nicht auf die islamische 
Herrschaft, sondern auf die einzelnen hervorragenden Männer, 
welche diese verkörpert haben, dann erhält sie einen tiefen Sinn. 
Und führe ich gar Weltmacht und Schönheit zusammen auf die 
Seele eines Einzelnen zurück, dann stellt sich dieser in einer Größe 
dar, die in der Geschichte leicht nicht ihresgleichen findet. Es 
hält schwer, hier richtig zu urteilen: aber heute will mir wohl 
scheinen, als ob die Großen unter den Großmoguln als Typen die 
größten Herrscher gewesen seien, welche die Menschheit hervor- 
gebracht. Es waren Gewaltnaturen, wie es die Nachkommen 
eines Dschengis Khan und Timur sein mußten, raffinierte Diplo- 
maten, erfahrene Menschenkenner, und gleichzeitig Weise, Ästheten 
und Träumer. Diese Konstellation ist im Westen nie vorgekommen, 
nie wenigstens zu gutem Ende. Marc Aurel z. B., der Vielge- 
priesene, hat einen ausgesprochenen Stich ins Lächerliche dank des 
an falschem Ort zur Schau getragenen Philosophenmantels (das 
Reiterstandbild auf dem Kapitol, das mich jedesmal, wo ich es an- 
sehe, zum Lachen bringt, ist seinem Urbild sicher ähnlich) ; Fried- 
rich II. jedoch, der Hohenstaufer, der einzige europäische Herrscher, 
der sonst zum Vergleich in Frage käme, war wohl ein äußerst inter- 
essantes Individuum, aber nicht entfernt so bedeutend als Herrscher. 
Bei allen überreichen Naturen, die im Westen auf den Thron ge- 
kommen sind, bedingte Vielseitigkeit Vieltuerei ; ein Talent griff 
auf das andere über; so daß der Dichter seine Kriege verträumte 
oder Dichtungen zu verwirklichen strebte, der Weise den Handeln- 
den lahmlegte, der Diplomat sich dem Philosophen aufprägte und 
der Mensch zuletzt — das Wichtigste an einem Herrscher — seiner 
Wirkungseinheit verlustig ging. Bei einem Akbar lag diese Einheit 
jenseits von allem, was er tat, was er erkannte, und was ihm wieder- 
fuhr; sein Reichtum ist immer gesammelt geblieben. Als Kaiser stand 
er über dem Dichter, dem Träumer, dem Gottsucher, dem skeptischen 
Weisen. Deshalb trägt jede Arabeske, die er inspiriert, den Stempel 
Großmoguln und Päpste ; beide übernational. 1 77 
des Kaiserlichen. TEine gleich überlegene Menschheitssynthese hat 
kein weltlicher Fürst des Westens je verkörpert. Nur einige Päpste 
haben dies getan. In der Tat strahlen die Prunkbauten des päpst- 
lichen Roms einen Geist aus, der an Delhi erinnert. Bei den Päpsten 
hat eben die äußere Stellung Ähnliches bewirkt, wie die Naturanlage 
bei den Nachkommen Timurs. Der Papst als Statthalter Gottes, als 
undiskutierter Beherrscher der Christenheit, als unfehlbarer Ent- 
scheider alles Streites, erlangt, wenn er nur einigermaßen zum 
Papst berufen ist, unwillkürlich etwas von der Überlegenheit und 
inneren Gespanntheit, welche Akbar ausgezeichnet hat. Auch dessen 
Größe war nicht durch Naturanlage allein bedingt: die meisten 
der Hilfsmittel, über die unter westlichen Herrschern allein der 
Papst verfügt, zumal die Undiskutierbarkeit seiner Macht und der 
selbstverständliche Gehorsam der Untergebenen, werden jedem 
Selbstherrscher Asiens zuteil. Immerhin hat es nur eine große 
Mogulndynastie gegeben, und unter dieser nur einige Große und 
einen Größten, so daß ich wohlberechtigt bin, in Akbar den größten 
Kaiser zu verehren, von dem ich weiß. Es ist wunderbar, wie 
alle nur denkbaren Ausdrücke der Mogulnmacht in der Seele 
dieses Mannes ein eindeutiges Zentrum gefunden haben. Die herbe 
Größe, die Universalität, der überlegene Gerechtigkeitssinn ; und 
zugleich die duftigen Farben einer fast weiblichen Salonkultur, das 
Allverstehen des Philosophen, die vibrierende Sinnlichkeit des 
Dichters. Ja, dieser Mann erscheint übermenschlich groß, wenn 
man erkannt hat, daß er vor allem ein Liebender war: eine zarte, 
verwundbare Seele von überschwenglichem Sympathievermögen. 
Das erinnert an das Idealbild des Christengottes: den allmäch- 
tigen, allgerechten Vater, der mit eherner Hand die Geschicke 
der Welt regiert und zugleich eitel Liebe, eitel Erbarmen ist; 
welcher schwerer an der Sünde des Sünders trägt, als der reuigste 
könnte und dessen Leben als endlose Tragödie verläuft, da er nie 
genug vergeben kann. 
So beschaffene Größe bedingt notwendig ein Über-den-Nationen- 
stehen, wie dies auch darin zum Ausdruck kommt, daß die indischen 
Kaiser, gleich den Imperatoren und Pontifices Roms, beliebiger Ab- 
stammung waren. Die grandiose Toleranz eines Akbar erscheint, 
wenn man ihm sein Wesen einmal zugestanden hat, als ein ebenso 
Selbstverständliches, wie die relative Großzügigkeit des Aristo- 
kraten der Kleinlichkeit des Plebejers gegenüber. So beruht auch 
Keyserling, Reisetagebuch. 1 2 
178 Vornehmheit des Muslim; islamische Toleranz. 
die Duldsamkeit, die der Muslim allgemein, wo er nicht gerade 
einer fanatischen Sekte angehört, dem Andersgläubigen gegenüber 
bekundet, auf nichts anderem als seiner größeren Vornehmheit. Je 
mehr ich vom Islam sehe, desto mehr beeindruckt es mich, wie über- 
legen dieser Glaube die Menschen macht. Nichts ist offenbar dem 
Menschen ersprießlicher, als sich für auserwählt zu halten. Jeder, 
der an sich glaubt, wer immer er sei, steht höher als der Unsichere. 
Die Unvornehmheit des typischen buchstabengläubigen Christen be- 
ruht auf seiner plebejischen Bangigkeit. Die Gegenprobe anzustellen 
fällt nicht schwer: die ursprünglichen Calvinisten haben sich im 1 
selben Sinn für auserwählt gehalten, wie die Muslim, und unter 
ihnen sind zweifelsohne die überlegensten Typen zu finden, welche 
die Christenheit hervorgebracht hat. Zwar waren sie nie so vor- 
nehm, wie die Muslim; sie waren eben deshalb auch intolerant. 
Welcher Pastor war je so weitherzig wie Mohammed, von dem 
der Ausspruch überliefert ist: „Die Meinungsverschiedenheit in 
meiner Gemeinde ist ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit"? Allein 
sie standen doch hoch über den Lutheranern, die in ständiger Angst 
vor dem Ungewissen lebten, und kaum weniger hoch über den 
Katholiken, denen die Kirche ihr Verantwortungsgefühl nahm. — Ja, 
an überlegener Toleranz steht nicht allein der brahmanische und 
buddhistische, sondern gerade auch der islamische Orient über dem 
Okzident. Wie kommt es nun, daß dieser nirgends charakterlos ist, 
was Europäer doch regelmäßig werden, wo sie ihre nationalen Vorur- 
teile abgelegt haben? Das weiß ich mir noch nicht zu erklären. Der 
Nationalcharakter erscheint freilich verwischt, wo immer der Halb- 
mond die Landschaft beleuchtet, was zumal hier in Indien sehr auf- 
fällt, wo die Typen sonst so scharf umrissen sind. Aber seine Stelle 
nimmt ein universellerer und doch nicht weniger bestimmter Cha- 
rakter ein: derjenige des Muselmannes. Jeder einzelne Mohamme- 
daner, den ich frage, wes Blutes er sei, erwidert mir: ich bin ein 
Muselmann. Warum hat diese Religion allein es verstanden, die 
Nation durch ein Weiteres zu ersetzen? Und durch ein Weiteres, 
das nicht minder stark und eindeutig ist? Wie kommt es, daß der 
Islam, der kein entsprechendes Dogma aufstellt, das Ideal der 
allgemeinen Fraternität realisiert, worin das Christentum, trotz 
seiner Ideale, versagt hat? Das muß an intimen Beziehungen liegen 
zwischen den Grundlinien dieses merkwürdigen Glaubens und den 
Grundzügen der Menschennatur, über die ich heute noch ganz im 
Unklaren bin. 
Demokratischer Geist des Islam; Allah als Heerführer. 179 
Gewaltig ist die Gestaltungskraft des Islam. Sogar die Ge- 
sichter der Gläubigen, die unverkennbar dem Blut nach 
Hindus sind, zeigen den selbstbewußten, gelassen-über- 
legenen Ausdruck, der überall den Muslim kennzeichnet. Diese 
Inder sind keine Träumer, keine Halluzinanten, keine Fremdlinge in 
dieser Welt. Dementsprechend wirklicher wirken sie. Ihre Muskeln 
scheinen straff, ihre Augen kühn, ihre Haltung ist wie sprungbereit ; 
ihre Physis hat viel mehr Ausdruckswert. Wie Recht tuen die Eng- 
länder, das islamische Element in Indien als das Ausschlaggebende 
zu betrachten und zu behandeln ! 
Unausgesetzt beschäftigt mich das Problem, woher dem Islam 
seine formende Kraft kommt, die soviel größer scheint, als die 
aller anderen Religionen. Die Reflexion auf das extrem Demo- 
kratische mohammedanischer Verbände hat mich heute endlich, wenn 
ich nicht irre, auf die richtige Spur gebracht. Der Demokratismus 
des Islam erklärt seine Werbekraft, zumal ein Indien, wo Bekehrung 
zu ihm die einzige Möglichkeit bezeichnet, der Kastenbestimmtheit 
zu entrinnen ; und hier handelt es sich um echte Gleichheit — weit 
mehr so, als in den Vereinigten Staaten Amerikas — , denn die Mus- 
lim gelten nicht bloß, sondern halten sich wirklich für Brüder, un- 
bekümmert um Rasse, Vermögen und Position. Aber dieser Demo- 
kratismus ist kein Letztes ; er ist die Wirkung einer tief er liegenden 
Ursache, und die scheint mir den Schlüssel zu bieten zu allen Rät- 
seln der Vorzüge des Mohammedanerglaubens. Der Islam ist die 
Religion absoluter Hingebung. Was Schleiermacher als Wesen aller 
Religiosität bezeichnete, definiert tatsächlich die des Muselmanns. 
Dieser fühlt sich jederzeit in der absoluten Gewalt seines gött- 
lichen Herrn, und zwar in dessen persönlicher Gewalt, nicht in 
der seiner Minister und Knechte ; er steht ihm jederzeit Auge in 
Auge gegenüber. Dies bedingt denn das Demokratische des Islam : 
in allen absoluten Monarchien herrscht bis zur Stufe des Throns 
der Geist der Gleichheit; von allen Ländern Europas war das 
Rußland von gestern das demokratischeste, weil gegenüber der 
absoluten Gewalt des Zaren alle Unterschiede zwischen den Unter- 
tanen geringfügig erschienen. Aber es gibt Autokratien verschie- 
denen Geistes; je nach der Art des Herrschers erscheinen sie 
stark oder schwach. So beruht die einzigartige Gestaltungskraft 
des Islam auf dem einzigartigen Charakter seines Gottes. Allah, 
12* 
180 Gebet als Parademarsch; Wert des Gehorsams. 
weit mehr als Jehovah, weit mehr als der Christengott, verdient 
den Namen eines Herrn der Heerscharen ; er ist Autokrat im 
Sinne eines Generals, nicht eines Tyrannen. Hiermit hätte ich es 
denn: der Mohammedanerglaube bedeutet, als einziger der Welt, 
recht eigentlich , militärische Disziplin. Es gibt kein Rechten mit 
Gott, kein Bitten, kein Verhandeln, kein Erschleichen; das bloße 
Absichtenhaben beim Beten (Schirk) gilt als Todsünde; der 
Mensch hat Ordre zu parieren wie ein Soldat. Nun wird keiner 
bestreiten, daß die Bewußtseinsform des gutgedrillten Soldaten 
von allen die größte Leistungsfähigkeit sichert überall, wo es sich 
um Ausführen, nicht um Ausdenken handelt. Die islamische Welt 
stellt eine einzige Armee dar von einigem, ungebrochenem Geist. 
Solch' ein Geist schmilzt auf die Dauer alle Unterschiede ein ; er 
macht alle zu Kameraden. Im Islam hat er alle Rassendifferenzen 
eingeschmolzen. Der Ritualismus dieses Glaubens hat einen anderen 
Sinn, als der von Hinduismus und Katholizismus ; es handelt sich 
um Objektivierungen der Disziplin. Wenn die Gläubigen täglich zu 
bestimmten Stunden in der Moschee in Reihe und Glied ihre Ge- 
bete verrichten, alle gleichzeitig gleiche Gebärden vollführend, so 
geschieht dies nicht, wie im Hinduismus, als Mittel zur Selbstver- 
wirklichung, sondern in dem Geist, in welchem der preußische 
Soldat vor seinem Kaiser vorbeidefiliert. Diese militärische Grund- 
gesinnung erklärt alle wesentlichen Vorzüge des Muselmanns. Sie 
erklärt zugleich seine Grundgebrechen : sein Unfortschrittliches, An- 
passungsunfähiges, seine mangelnde Erfindungskraft. Der Soldat hat 
nur Ordre zu parieren ; das übrige ist Allahs Sache. 
Von hier aus gelingt es vielleicht der Gehorsamsforderung in 
der Religion, welche von der Moderne rein negativ bewertet wird, 
gerecht zu werden. Unter Soldaten gilt es als Binsenwahrheit, daß 
nur, wer gehorchen kann, zu Befehlen weiß. Warum ? Weil Befehlen 
und Gehorchen eine identische innere Sammlung voraussetzen. Wer 
also zu gehorchen lernt, lernt zugleich recht eigentlich befehlen. So 
könnte nichts unverständiger sein, als die Gehorsamsforderung, wie 
dies heute oft geschieht, als Schule der Schwachheit zu verdammen : 
im Gegenteil, keine stärkt mehr. Nur darf solche Schulung nicht ins 
Unbegrenzte ausgedehnt werden ; sie darf nicht länger währen, als 
bis der Mensch gelernt hat, sich selbst zu befehlen ; wäre es anders, 
der Untermilitär verkörperte den menschlichen Idealtypus und der 
Jesuit stände über dem Weisen. 
Vorzüge des Prädestinationsglaubens. 1 8 1 
Der Islam ist vorzüglich eine Religion des einfachen Soldaten. 
Ihm macht sie groß wie keine andere es tut seit der Zeit, 
wo der Puritanismus Cromwellscher Färbung ausgestorben 
ist. Ich gedenke des nordafrikanischen Arabers : sein Leben ist so 
klar, wie die Wüstenluft. Sein Ideal ist, gesund und rein zu sein, 
nie gezweifelt, nie innerlich gekämpft zu haben, gelassen und furcht- 
los des Rufs der Ewigkeit zu harren ; und dieses einfache, klare 
Ideal verwirklicht er. Das will etwas sagen, denn gering ist es nicht, 
so einfach es sei: nur der innerlich Überlegene kann es erreichen. 
Der Fatalismus des Muslim, gleich dem des ursprünglichen Calvi- 
nisten, und im Gegensatz zu dem etwa des Russen, ist ein Ausdruck 
nicht der Schwäche sondern der Kraft. Weder bebt er vor dem 
furchtbaren Gotte, den er glaubt, noch hofft er auf sein besonderes 
Wohlwollen noch läßt er sich willenlos treiben vom Geschick: er 
steht stolz und innerlich frei der Übermacht gegenüber, gleich ge- 
lassen der Ewigkeit entgegenblickend wie dem Tod. Der Mohamme- 
daner schielt nicht wie der Christ nach dem Himmelreich, obgleich 
er seiner viel gewisser ist. Er ist zu stolz, dem Schicksal vorzu- 
greifen. Es mag geschehen, was will: mekhtub (es stand ge- 
schrieben). 
Der Glaube an die Prädestination wirkt Grandioses überall, wo 
seine Bekenner stolze Seelen sind. Das waren die Griechen nicht ; 
sie hat er auch nicht größer gemacht. König Ödipus wächst nicht 
in unseren Augen mit seinem Mißgeschick, er wird nur immer bemit- 
leidenswerter. Die Mohammedaner sind stolz. Der Islam macht jeden 
stolz, der ihn bekennt, so wie der Rock des Königs jeden stolz 
macht. So eignet dem Mohammedanerleben höchstes Pathos. Mir 
wurden einmal die Äußerungen einer strenggläubigen ägyptischen 
Prinzessin wiedergegeben, die viel Kummer in ihrem Leben durch- 
litten hatte und nun gelassen dem Ende entgegensah. Sie sagte: 
„Uns Frauen ist nicht, wie den Männern, vom Propheten ewige 
Seligkeit verheißen worden. Ist das aber ein Grund zur Sorge? 
oder zur Nicht-Erfüllung unserer irdischen Pflicht? Wir Frauen 
handeln recht um der Liebe willen, und verlangen keinen Lohn." 
Das war echt islamisch gedacht. Das war ein Ausdruck spezifisch- 
islamischer Größe. Einer Größe, wie sie gleichartig sonst nicht 
vorkommt. Auch der Buddhist fragt weder nach Leben, noch nach 
Tod, und wandelt gelassen seine Bahn ; aber ihm liegt nicht am 
182 Verwandtschaft von Calvinismus und Islam. 
Leben; er will das Nirwana; seiner Resignation fehlt dement- 
sprechend das Pathos. Der Mohammedaner ist schlechterdings 
irdisch gesinnt; alle intellektuelle Transzendenz geht ihm ab. Desto 
erhabener wirkt sein stolzes Sich- Bescheiden. 
Innerhalb des Christentums hat es nur eine Gestaltung gegeben, 
die ähnlich überlegene Menschen geschaffen hätte: die reformiert- 
protestantische. Calvinismus und Islam sind in der Tat, wie schon 
mehrfach bemerkt, sehr nahe verwandt. Beide Religionen vertreten 
das Dogma von der Prädestination ; Puritaner sowohl als Mo- 
hammedaner fühlen sich als Auserwählte des Herrn, sind ent- 
sprechend selbstsicher ; beider Gottheiten haben den gleichen Cha- 
rakter. Und Mohammed sowohl als Calvin ist gegen die theolo- 
gische Spekulation und für die Eroberung der Erde gewesen. Ähn- 
liche Ursachen, ähnliche Wirkungen. Aber wenn sich der Purita- 
nismus, dank seiner progressiven Tendenz, in der Gestaltung dieser 
Welt dem Islam überlegen erwiesen hat, so muß diesem zugute ge- 
halten werden, daß der Puritaner an innerer Vornehmheit dem Mus- 
lim nie gleichgekommen ist. Das liegt daran, daß er sich nie hat 
ganz frei machen können vom sklavischen Sündigkeitsbewußtsein, 
jener Erbsünde alles Christentums ; daß er immer vor seinem Herrn 
gezittert hat. Während der Muslim ihm vor allem vertraut, wie der 
Soldat seinem Feldherrn. 
Wenn ich vor den Grabdenkmälern der Kaiser und Heer- 
führer stehe, deren mächtige Kuppeln wieder und wieder 
über die Trümmer des alten Delhi in den klaren Himmel 
hinausragen, und derweil des Verhältnisses gedenke, in dem der 
Muslim zu Tod und Ewigkeit steht, ist mir oft, als tönte aus deren 
Innern Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott" hervor. 
Dessen Stimmung entspricht dem Geiste des Mohammedanertums 
gut, besser als dem des Luthertums von heute. Die Farbe der 
stolzen Zuversicht, der Kampfesfreudigkeit, die diesem Lied, wie 
vielleicht keiner zweiten Schöpfung des Christengeistes eignet, ist 
die eigenste Farbe des Glaubens, der auf Arabiens Propheten 
zurückgeht. 
Heute fühle ich mich, wie lange nicht mehr, beeindruckt von 
der herben Größe des Monotheismus. Sie ist grandios, die Vor- 
stellung vom Menschen, der nackt und selbständig und öline ver- 
Vorzüge des Monotheismus ; Zucht auf Charakter. 183 
mittelnde Instanzen seinem Gott gegenübertritt, einem Gott, der 
unbeschränkt durch Gesetze und Normen, rein nach Willkür, über 
sein Schicksal entscheiden wird, verleiht dem Leben des Ein- 
zelnen einzigartiges Pathos. Wieviel mehr Kraft setzt Vertrauen 
auf einen solchen Gott voraus, als der Theosophenglaube ! Und um- 
gekehrt : wie stark muß er machen ! — Daß er es tut, beweist die 
Geschichte mit einer Eindeutigkeit, die ihr nicht häufig eignet: nir- 
gendwo hat es stärkere Charaktere gegeben, und gibt es sie heute 
noch, als unter Mohammedanern und Protestanten. Der radikale 
Monotheismus weist den Menschen absolut auf sich selbst zurück 
(wenn man sagt, daß er ihn im Gegenteil ganz Gott anheimstellt, 
so ist das nur eine andere Fassung des gleichen Verhältnisses) ; er 
macht ihn schlechterdings verantwortlich. So kann es nicht fehlen, 
daß seine Seele so fest wird, als ihre Natur erlaubt. Sie wird dem- 
entsprechend unbildsam, schwerfällig, starr, leicht auch dürr ; an 
Farbigkeit der Psyche können Monotheisten mit Polytheisten nie 
wetteifern. Aber sie wird stark. Der Monotheist hat vor allem 
Charakter. Den er denn auch als höchsten Wert verehrt und dessen 
Unwandelbarkeit er fordert. 
Die arabische Spruchweisheit enthält das Wort: „Wenn du 
vernimmst, daß ein Berg versetzt worden ist, so glaube es ; aber 
wenn du hörst, daß ein Mensch seinen Charakter geändert hat, so 
glaube es nicht." Welcher indische Weise hätte je solchen Aus- 
spruch getan? Hier handelt es sich ja nicht um die Selbstverständ- 
lichkeit, daß die Elemente einer Natur ein schlechthin Gegebenes 
sind, sondern um die Behauptung der Unwandelbarkeit der Art 
ihres Zusammenhangs. Die konnte nur ein Monotheist aufstellen, 
nur einer, der einen ihm als Äußeres gegenüberstehenden persön- 
lichen Gott glaubt, dessen Gott selbst vor allem ein Charakter ist. 
Nur einem solchen bedeutet Charakter ein Letztes. Die indische 
Auffassung ist die tiefere ; aber es kann nicht geleugnet werden, 
daß die islamisch-protestantische, vom Standpunkt der Effikazität 
in dieser Welt, den pragmätic test besser besteht. Beim Mono- 
theisten konzentriert sich das Selbstbewußtsein in seiner Person ; 
diese ist ihm ein letztes, Unübersteigbares, für das er einzustehen 
haben wird am Jüngsten Tag. Also bildet sich, was immer er an 
Tiefe hat, seinen persönlichen Eigenschaften ein. Wie schwach wirkt 
der bedeutendste Hindu neben einem beliebigen Muselmann ! Oder 
auch ein noch so großer Denker des Westens (sofern sein Selbst- 
184 Charakter als Beschränkung; der Hof von Delhi. 
gefühl im Überpersönlichen wurzelt) neben einem bornierten preu- 
ßischen Offizier! — Mehr wert ist dieser im metaphysischen Ver- 
stände deshalb nicht ; „Charakter" ist und bleibt eine Beschränkung ; 
alles höhere Menschentum beginnt oberhalb seiner. Aber da höheres 
Menschentum für die Masse nicht in Frage kommt, so »wäre es wohl 
gut, wenn sie wenigstens Charakter hätte ; wenn alle einfachen, un- 
gebildeten Menschen im Sinne des Muslim an Gott glaubten. 
Wenn ich von Süd-Indien unvermittelt nach Delhi versetzt 
worden wäre, hätte ich wohl unmittelbar empfunden, 
was mir nun Reflexion offenbart: wie wenig fremd mir 
diese Welt doch ist ; der Europäer bedarf kaum einer Umstellung 
seiner selbst, um sich verstehend in sie hineinzuversetzen. Ich denke 
mir, daß die Italiener, die an den Hof von Delhi kamen, sich dort 
ohne jede Schwierigkeit eingelebt, und wie selbstverständlich in 
seinem Sinne geschaffen haben, denn die Kultur, die hier herrschte, 
war nicht anderen Geistes als die romanischer Höfe der gleichen 
Zeit. Sie unterschied sich von letzterer vielleicht nur durch eine 
Nuance: ihr Fatamorganaartiges. Die Großmoguln haben in der 
Feenwelt, die ihre Künstler um sie her erschufen, nicht eigentlich 
gelebt, sie haben ihr zugeschaut, wie einem Bühnenfeste. Ihr eigent- 
liches Leben war ernst und rauh, viel ernster als das der Päpste und 
Fürsten Italiens. Doch wie die milchweißen Marmomippsachen dem 
massiven Fort von Delhi ohne Übergang aufgepflanzt erscheinen, so 
schwebte über der rauhen Wirklichkeit wie ein Schleier zartester 
Schönheit, unwesenhaft zwar, doch desto zauberhafter. Timur, der 
furchtbarste Eroberer seiner Zeit, war zugleich ein feinsinniger 
Ästhet, es war ihm Bedürfnis von Liebreiz umgeben zu sein ; und 
dies Bedürfnis verstärkte sich bei seinen Enkeln. Nun wäre es 
Menschen wohl unmöglich, eine derartig feenhafte Kunst als Wesens- 
ausdruck hervorzubringen ; das müßten Elfen sein, deren Seele die 
Perlenmoschee entspräche. Und wahrscheinlich haben die Künstler 
Hindustans eben deshalb hier Unglaubliches geleistet, weil sie 
Träume auszudrücken hatten. Ganz wirklich waren diese Leute nie ; 
sie besaßen nur überaus viel Phantasie. Und diese schafft am 
freiesten im Märchen. 
Nein, diese Welt ist mir nicht fremd. Was natürlich nicht allein 
an ihrem Sinne liegt: auch ihre einzelnen Gestaltungen sind mir 
Gesetzmäßigkeit aller Kunstentwickelung. 185 
wohlbekannt, obschon ich die meisten von ihnen nie früher erblickt 
habe, je mehr ich sehe und erfahre, desto deutlicher erkenne ich, 
wie wenig frei der Mensch in seinem geistigen Schaffen ist. Bringt 
er neue Gestalten aus sich hervor, so bedeutet das nie, daß er will- 
kürlich erfindet: er ermöglicht bloß der Form, von der er ausging 
— und von Ungeformtem ausgehen kann nur Gott — zu der Fort- 
bildung, die ihr eigenes Gesetz ihr von jeher vorgezeichnet hatte. 
Die schaffenden Geister sind nur Media, wie es die zeugenden 
Eltern vom Standpunkt des Keimes sind, dessen Entwickelung, ein- 
mal angetreten, ausschließlich dem eigenen Gesetze folgt. Einst 
habe ich über die Kunsthistoriker gelächelt, die das Werden eines 
Stiles so gern auf bestimmte äußere Momente zurückführen ; so 
habe ein Artikel Diderots z. B. seinerzeit eine entscheidende Rich- 
tungsänderung in der französischen Malerei bedingt. Ich sagte mir : 
als ob die Schöpfer sich vom Kritiker dermaßen beeinflussen ließen ! 
als ob ein äußeres Moment je die Ursache einer inneren Umwande- 
lung sein könnte ! Ich hatte, was die Tatsachen betrifft, ganz Recht. 
Nur habe ich seither begriffen, daß solche Konstruktionen, obgleich 
falsch an sich selbst, doch berechtigt sind, weil sie ein Schema geben, 
das die Wirklichkeit richtig umschreibt. Das Wachstum und die 
Ablösung der Formen sind Vorgang^ von solcher Notwendigkeit, 
daß alles zu ihrem Werden beiträgt, und die Gründe daher beliebig 
gewählt werden dürfen. Wenn also Diderot auch nicht wirklich die 
Künstler beeinflußt hat, so sprach er als Kritiker doch eben das aus, 
was die unbewußte Schaffenstendenz der Maler war, so daß man 
meinetwegen, der Vereinfachung halber, sagen mag, Diderot sei der 
Urheber der Bewegung gewesen. Jeder Richtung sind ihre Grenzen 
immanent, jede Form birgt in sich ihre ganze mögliche Nach- 
kommenschaft, weswegen es im Prinzip immer möglich ist, das Ge- 
schehen sowohl zu rekonstruieren als vorauszusehen. Ohne Richard 
Strauß hätte es Straußsche Musik zwar nicht gegeben, allein die 
Idee dieser ist eine „Abgeleitete" derjenigen Richard Wagners (wie 
Viktor Goldschmidt so schön mathematisch nachgewiesen hat), so 
daß Strauß' Originalität, gleich der jedes Schöpfers, nur darin be- 
standen hat, daß er das ideell notwendige aktuell und empirisch 
verwirklicht hat. Deswegen verstehen sich alle Philosophen für den 
von selbst, der die Grundidee besitzt, müßte es bei genügendem 
Überblick gelingen, die philosophische Überzeugung jeder Epoche, 
deren sonstige Elemente man kennt, a priori zu konstruieren Am 
186 Möglichkeit kritischer Kunstgeschichte; westlicher Geist des Islam. 
evidentesten offenbart sich der notwendige Konnex aller Formen im 
Falle der bildenden Kunst, weil hier die Bildungsgesetze am offensten 
zutage liegen. Daher einerseits die Möglichkeit kritischer Kunstge- 
schichte überhaupt, andrerseits die einzigartige Bedeutung, welche 
Denkmälern bildender Kunst bei der historischen Orientierung zu- 
kommt. Sintemalen nun alle Ausdrucksformen naturnotwendig sind 
und ihren Stammbaum unverkennbar zur Schau tragen, ist es mög- 
lich, eine fremde Erscheinung dennoch unmittelbar von innen heraus 
zu verstehen, wenn sie nur auf Vertrautes zurückgeht. So ergeht es 
mir in bezug auf die Mogulenkunst. Diese stammt ursprünglich aus 
dem Okzident, oder genauer aus der Vermählung von Orient und 
Okzident, die das oströmische Kaiserreich charakterisiert; und dessen 
Gestaltungen sind mir vertraut. Die Fortentwicklung ist gesetz- 
mäßig verlaufen, mit einem Blick zu übersehen. Und da ferner ein 
bestimmter Sinn nicht allein mit Notwendigkeit entsprechende For- 
men gebiert, sondern diese umgekehrt auf jenen zurückwirken, so 
hat die bloße Übernahme byzantinischer Ausdrucksmittel eine innere 
Annäherung zwischen Westen und Osten bedingt, dank welcher der 
Geist von Delhi dem Konstantinopels verwandter scheint, als dem 
Geiste von Udaipur. Man wird auf die Dauer seinen Ausdrucks- 
mitteln gemäß. Der Deutsche, welcher andauernd französisch spricht 
und denkt, wird geistig zuletzt zum Franzosen; wer bei Kant lange 
genug in die Schule ging, wird in einem gewissen Grade zu seinem 
Nachkommen, und ob seine ursprüngliche Anlage der Kantischen 
noch so entgegengesetzt war. 
Diese Welt ist mir in noch viel weiterem Sinne vertraut, als ich 
anfangs dachte: die islamische Kultur als solche ist mir nicht 
fremd ; sie ist ein Ausdruck eben des Geistes, der die meine 
bedingt. Wer nur Europa kennt, mag in jener immerhin ein Fremdes, 
„Orientalisches" sehen ; der Taraskonese sieht im Bewohner Beau- 
caires eine besondere Spezies, mit der er nichts gemein hätte. 
Gegen den Hintergrund Indiens betrachtet, scheint die Welt des 
Islam von der christlichen kaum wesentlicher verschieden, als der 
Geist der griechisch-orthodoxen Kirche von der katholischen unter- 
schieden ist. 
Juden, Christen und Muselmänner sind Brüder. Wie alle drei 
Religionen historisch auf den Mosaismus zurückgehen, so ist es 
Juden, Christen und Aluseimänner als Brüder. 1 87 
ein Geist, der sie letztlich von innen her beseelt. Heute sehe ichs 
deutlich: es ist verfehlt von arischer im Gegensatz zu semitischer 
Kultur zu reden, sofern bisherige Gestaltung in Frage kommt: so 
sehr dem Semiten der germanische Zug ins Transzendente fehlt, so 
sehr dieser den Germanen dem Inder verwandt erscheinen läßt, seine 
ererbte Kultur ist mediterraneischen Ursprungs, und gleiches gilt 
von Romanen, Semiten und Türken. Lange vor Mohammeds Tagen 
waren die „Geister" der Antike und des nahen Orients, des Mo- 
saismus, des Christentums und der Kelto-Germanen aus dem Norden, 
sofern diese sich romanisierten oder gräzisierten, zu einem Sammel- 
wesen verschmolzen. So daß der Islam nur einen Sonderausdruck 
dessen bezeichnet, was von allem Okzidentalismus gilt. 
Der Vergleich mit dem Indertum läßt mich sehr deutlich er- 
kennen, worin dieser eigentlich besteht. Ihn kennzeichnet zweierlei : 
seine Weltzugekehrtheit und die Energie, mit der er die Erscheinung 
formt. Das unterscheidet ihn radikal von dem Orientalentum, das in 
Indien seinen extremsten Ausdruck findet. Das Bewußtsein des 
Hindu ist dem Wesen zugekehrt ; so wendet er der Erscheinung den 
Rücken. Wenn er das Individuum gering achtet, in der Gestaltung 
dieses Leben versagt, irdischem Erfolg, wissenschaftlicher Erkennt- 
nis, technischer Meisterschaft geringe Bedeutung zumißt, dem Nir- 
wana zustrebt, unerhört spiritualisiert erscheint, so sind das ebenso- 
viel Ausdrücke seiner typischen Lebenseinstellung. Alle Okziden- 
talen — die Mohammedaner immer einbegriffen — sind entgegen- 
gesetzt orientiert; ihre typischen Ideale finden ihren extremsten 
und zugleich prägnantesten Ausdruck in den christlichen Vorstellungen 
vom unendlichen Wert der Menschenseele und dem Gebot, das 
Himmelreich auf Erden zu verwirklichen. Mohammedaner sowohl 
als Christen sehen in diesem Leben das eigentliche Arbeitsfeld ; 
beider Weltanschauung ist individualistisch insofern, als sie von 
keiner überindividuellen Wirklichkeit wissen (was sich weiter in 
eigentlichem Individualismus, wie wir ihn heute verstehen, äußern 
kann oder auch nicht) ; beide sind gegenüber den Hindus die 
größeren Idealisten, denn nur wer die Erscheinungswelt durchaus 
bejaht, kann innerhalb ihrer Ideale bekennen. Und beide sind 
andrerseits materialistischer gesinnt als jene, sintemalen sie den 
Ausdruck des Sinns, nicht diesen selbst, vor allem im Auge haben, 
was nicht notwendig, aber überaus leicht, Materialismus im eigent- 
lichen Verstände zeitigt. Von allen Okzidentalen hegen die Mo- 
1 83 Das Wesen westlichen Geistes. 
hammedaner die materialistischesten Vorstellungen; im isla- 
mischen Himmelstreben z. B. liegt gar keine Transzendenz. Aber 
man kann nicht sagen, daß sie als Menschen Materialisten wären ; 
sie sind es weniger als die allermeisten Christen des heutigen Tags. 
Spirituell sind sie wohl nicht, aber Idealisten sind sie im höchsten 
Grade ;- das Ideal des Glaubens steht ihnen hoch über allem Er- 
folg. Nur ist ihr Ideal ein statisches, ruhendes ; daher ihre Un- 
progressivität, was den Anschein erweckt, als seien sie den Indern 
verwandter als uns. Der Anschein trügt aber, denn ihre Ruhe ist 
nicht die des Passiven, sondern die des Gesammelten. Es ist 
unsere, okzidentalische Energie, nur als Spannkraft dargestellt. Wer 
hierin etwas Unchristliches sieht, der vergegenwärtige sich doch 
im Geiste den Charakter der griechisch-orthodoxen Christenheit: 
der ist dem islamischen sicherlich näher verwandt, als dem der 
Methodisten. 
Ja, der Islam ist ein Ausdruck unter anderen des okziden- 
talischen Geistes ; er steht dem indischen nicht näher, als wir. 
Und ist dem Christen unmittelbar verständlich. Nichts ist unser- 
einem wirklich fremd an der Mentalität des Muselmanns. Freilich 
entwickelt sich der Islam in Indien mehr und mehr dem in- 
dischen Geiste zu ; auf die Dauer läßt sich das Blut nicht spotten. 
Wie es in Persien schon längst geschah, kommt im indischen 
Islam mit jedem neuen religiösen Führer die mystische Rassen- 
anlage stärker zur Geltung. So wird andrerseits das Christentum 
unsemitischer von Jahrhundert zu Jahrhundert. Mehr und mehr wird 
es zum Gefäß rein germanischen Unendlichkeitsstrebens. Schon 
heute kann man sagen, daß der Geist, der den Westen beseelt, 
etwas spezifisch Verschiedenes ist von dem jener Mittelmeerkultur, 
die seine Wiege bedeutet. Das hindert aber nicht, daß alle fertige 
Gestaltung noch durchaus aus ihrem Geiste stammt, welcher Geist 
allen Gebilden des Okzidents und nahen Orients gemeinsam zugrunde 
und mithin jenseits aller Rassengegensätze liegt. So mutet die Welt 
des Islams, auf indischem Boden betrachtet, den Abendländer 
heimatlich an. 
DerTa'i Mahal. 189 
AGRA. 
Daß es so etwas geben kann, hätte ich nicht für möglich ge- 
halten. Ein massiver Marmorbau, ohne Schwere, - wie aus 
Äther gebildet ; vollendet rationell und doch rein dekorativ ; 
ohne bestimmbaren Gehalt und doch sinnvoll im höchsten Grade : der 
Taj Mahal ist nicht nur eins der größten Kunstwerke, er ist vielleicht 
das größte aller Kunststücke, das der bildende Menschengeist je 
vollbracht hat. Das Maximum an Vollendung, das hier erreicht er- 
scheint, ist allen Maßstäben, die ich wüßte, entrückt, denn Halb- 
vollendetes auf der gleichen Linie gibt es nicht. Anlagen gleichen 
Planes liegen zu Dutzenden auf der weiten Ebene Hindustans ver- 
streut, aber keine von ihnen läßt die Synthese auch nur ahnen, 
welche die Schöpfung Schah Dschehans in sich beschließt. Jene sind 
vernunftgemäß angelegte Gebäude, mit schönen Dekorationen oben- 
drein ; das Vernunftgemäße wirkt als solches, das Dekorative seiner- 
seits, und über das Gesamtbild läßt sich von den gleichen Voraus- 
setzungen aus urteilen, wie über alle sonstige Architektur. Im Falle 
des Taj liegt unverkennbar ein Dimensionswechsel vor. Das Ver- 
nunftgemäße ist im Dekorativen eingeschmolzen, welches bedeutet, 
daß die Schwere, deren Ausnutzung das Realmotiv aller sonstigen 
Baukunst ist, ihr Gewicht verloren hat; umgekehrt ist dem De- 
korativen sein Arabeskencharakter genommen, da hier die Arabeske 
alle Vernunft in sich eingesogen hat und vom gleichen Gehalt 
durchgeistigt erscheint, den sonst nur Rationelles besitzt. So wirkt 
der Taj nicht nur als schön, sondern zugleich, so befremdlich 
dies klingen mag, als wunderhübsch ; er ist ein erlesenstes Bijou. 
Ihm fehlt, bei vollendeter Schönheit, bei unerreichter Lieblichkeit 
und Anmut, jedwede Erhabenheit. Und nun was den Sinn be- 
trifft: Ausdruckswert im Verstände der bekannten architektonischen 
Ausdrucksmöglichkeiten hat er keinen, nicht mehr als irgendein Ka- 
binettstück der Goldschmiedekunst. Weder spricht aus ihm Geistig- 
keit, wie aus dem Parthenon, noch Sammlung und Kraft, wie aus den 
typischen mohammedanischen Bauten ; seine Formen haben weder 
einen seelischen Hintergrund, wie diejenigen gotischer Kathedralen, 
noch einen animalisch-emotionellen, wie die drawidischer Tempel. 
Der Taj ist nicht einmal notwendig ein Grabdenkmal: ebensogut 
190 Die Baukunst; Rationelles und Dekoratives. 
oder so schlecht könnte er ein Lusthaus sein, wie jeder erkennen 
wird, der sich durch die Zypressen ringsum und die tausenderlei 
geläufigen Kommentare seinen unbefangenen Blick nicht trüben läßt. 
Freilich ist es gar anheimelnd zu denken, daß dieser Bau ein Denk- 
mal treuer Gattenliebe sei und die im Tode Wiedervereinten über- 
wölbe. Allein die tote Königin ist mit nichten die Seele des Taj. 
Dieser hat keine Seele, keinen Sinn, der sich irgendwoher ableiten 
ließe. Eben darum aber stellt er das absoluteste Kunstwerk dar, 
das Architekten jemals aufgeführt haben. 
Die Architektur gilt als unfreie Kunst; sie ist es insofern, als 
geistige Schönheit in ihr nur durch das Medium empirischer Zweck- 
mäßigkeit dargestellt werden kann. Was schön erscheint ohne zweck- 
mäßig zu sein, ist eben deshalb sinn- und gehaltlos — die Arabeske 
ist da und gefällt, doch sie bedeutet nichts. Daher der merkwürdige 
Antagonismus zwischen dem Rationellen und dem Dekorativen : im 
Fall vollendet rationaler Kunst, wie der hellenischen, wirkt dieses 
als überflüssig; je weniger Schmuck und Beiwerk, desto besser. 
Umgekehrt bedarf das Dekorative notwendig eines Objektes, das ihm 
Sinn verleiht. Am wesenhaftesten mutet es dort an, wo es ein ihm 
entsprechendes Leben voraussetzt, wie in den Palästen Italiens und 
Indiens; je mehr selbständige Bedeutung es beansprucht, desto 
leerer und sinnloser wirkt es. Beim Taj nun erscheint der Geist 
nicht als empirisch gebunden und das Dekorative nicht als innerlich 
leer; dieser Bau ist absolut zwecklos trotz vollendeter Rationalität 
und vollkommen gehaltvoll trotz seines Arabeskencharakters. Er 
gehört eben einer besonderen Sphäre an. In dieser gelten die üblichen 
Kategorien nicht. Hier bedeutet das Dekorative ein ebenso Inner- 
liches, wie sonst das Zweckmäßig-Schöne, und die Vernunft er- 
scheint nicht tiefer als der Schimmer. Der Taj ist wohl das ab- 
soluteste Kunstwerk, das es gibt ; er ist so ausschließlich, daß seine 
Seele, gleich seinem Körper, keine Fenster hat. Wir können sie nur 
ahnen, nur verehren, wirklich hin zu ihr führt kein^Weg. 
Und was ist es, das diese Einzigkeit bedingt? Es ist das Zu- 
sammenwirken vieler Kleinigkeiten ; das Dasein von Nuancen, denen 
man es nimmer zutrauen würde, daß sie so Ungeheures bedeuten 
könnten. Der allgemeine Plan des Taj liegt hunderten indischer 
Mausoleen zugrunde, die völlig gleichgültig wirken ; die Chromatik 
ist hundertfach nachgeahmt worden, mit keinem besseren Erfolg, als 
daß die also geschmückten Gebäude den Eindruck von Konditor- 
Sinn des Individuellen; Mogulkultur und Renaissance. 191 
wäre machen. Man verschiebe nur ein wenig die Proportionen, man 
ändere um ein Jota die Dimensionen, man nehme ein anderes 
Material ; man versetze den Taj, wie er ist, in einen Gegend 
von anderen Luftfeuchtigkeits- und Lichtbrechungsverhältnissen: er 
wäre nicht mehr der Taj Mahal. Ich habe den gleichen weißen 
Marmor keine hundert Kilometer entfernt von Agra zu Moscheen 
verwandt gesehen: dort hat er nichts vom Schmelze des Taj. An 
diesem Kunstwerke wird einem besonders deutlich, was es mit der 
Individualität für eine Bewandtnis hat. Man stelle noch so viel 
Kausalreihen her, weise noch so viel Beziehungen nach : nie wird man 
das Eigentliche fassen ; irgendein geringfügig scheinender Umstand 
falle weg und das Wesen erscheint alsbald verwandelt. Dies spricht 
wenig zugunsten der metaphysischen Wirklichkeit des Individuums ; 
wie sollte etwas metaphysisch wirklich sein, was so augenscheinlich 
von empirischen Verhältnissen abhängt? Es beweist andrerseits je- 
doch die Absolutheit des Phänomens. Dieses ist schlechterdings 
einzig, auf nichts anderes und Äußeres zurückzuführen. Und manch- 
mal, zu Zeiten platonisierender Stimmung, neige ich zum Glauben, 
daß es insofern an Metaphysisch-Wirklichem doch teil haben könnte. 
Ein bestimmter Aspekt des ewigen Geistes kann nur unter be- 
stimmten empirischen Bedingungen sichtbar werden. Diese Be- 
dingungen als solche sind nichts Wesenhaftes und in ihnen erschöpft 
sich das Individuelle. Allein der Geist, der es beseelt, existiert an 
sich selbst, gleichviel ob und wie er sich äußert. So mag das Ur- 
bild des Taj von Ewigkeit her die Welt der Ideen geziert haben. 
Ist es, weil italienische Architekten für das Wunder des Taj mit 
verantwortlich sind, daß meine Gedanken hinüberschweifen nach 
dem fernen Italien? Oder wegen des renaissanceartigen Cha- 
rakters der Mogul-Kultur? — Wohl aus letzterem Grunde. Diese 
Kultur bedeutet recht eigentlich dasselbe, wie das Rinascimento in 
Italien vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. 
Das heißt, sie bietet ein gleich großes Rätsel. Mir ist es immer 
unklar geblieben, wie einsichtsfähige Menschen wähnen können, die 
Renaissance begriffen zu haben, indem sie feststellen, daß diese auf 
das Neuanknüpfen mit dem klassischen Altertum zurückgeht. Wie 
kommt es, daß dieses Neuanknüpfen so Ungeheures zur Folge ge- 
habt hat — nur damals (denn zerrissen war der Zusammenhang nie), 
1 92 Spekulationen über die Renaissance. 
nur auf einige Jahrhunderte und nie wieder? Wie kommt es, daß 
die Italiener nur um diese eine Zeit des Größten fähig waren? 
Biologisch sind sie heute noch die gleichen ; sie sind nicht 
im mindesten entartet ; noch immer ist wahr, was Alfieri behauptete, 
daß die Pflanze Mensch nirgends auf Erden besser gedeihe, als 
in Italien. Die Italiener von heute sind künstlerisch genau so begabt 
wie ihre Vorfahren: warum waren sie nur im Renaissance-Zeitalter 
groß ? Damals kam offenbar ein „Geist" über sie, wie er ähnlich zur 
Zeit der großen Mogulkaiser über die Künstler Indiens gekommen 
ist; die empirischen Konstellationen waren derart, daß sie einem 
„Geiste" zum Ausdrucksmittel werden konnten. 
Was das heißt, weiß ich selber nicht; seit Jahren ringe ich mit 
dem Problem. Aber der Tatbestand steht außer Frage: Höhe- 
perioden der Kultur, gleich der Renaissance, sind aus den nachweis- 
baren Kausal reihen nicht restlos zu erklären. Sie sind qualitativ ver- 
schieden von dem, was ihnen voranging und auf sie folgte. Sie ver- 
danken ihr Dasein letztlich einem spirituellen Influx, der unverkenn- 
bar den Charakter der „Gnade" trägt. Diese Gnade verwandelt zeit- 
weilig alle Natur. Ist aber ihr Quell versiegt, dann hilft keine An- 
strengung mehr und kein Talent. Seit der Hochrenaissance Ist es 
abwärts gegangen in Italien mit der künstlerischen Kultur, trotz 
aller Genies, die wieder und wieder geboren wurden, und heute 
besitzen die Italiener von allen Völkern vielleicht am wenigsten 
schöpferischen Geschmack, obgleich sie noch immer die Kunst- 
begabtesten sind. Was bedeutet das? — Ich weiß es nicht. Aber 
seit ich den Taj gesehen, kommen mir allerhand kuriose Gedanken 
über das Verhältnis von Erscheinung und Sinn. Eine kleine Ver- 
schiebung innerhalb der empirischen Verhältnisse, und der Taj 
wäre nicht das Wunder, das er ist. Die richtigen können leicht 
durch Zufall gefunden worden sein. Eine geringfügige Veränderung 
in Wortwahl und Syntax verwandelt eine Trivialität zum Urwort 
und umgekehrt ; eine versehentlich gezogene Linie, ein von ungefähr 
aufgesetzter Farbenfleck gibt dem Bild einen unnachahmlichen Aus- 
druck. Und dieser Ausdruck ist doch das Eigentliche, das, worauf 
der ganze Wert der Gioconda z. B. beruht. Sollte zwischen Not- 
wendigkeit dem Geiste nach und empirischer Zufälligkeit ein ge- 
heimer Zusammenhang bestehen? So daß es einer Notwendigkeit 
entspricht vor Gott, wenn zufällig auf Erden ein Genie ersteht, zu 
bestimmter Zeit in die Geschichte eingreift, von ungefähr eine be- 
Delhi and Florenz; Michelangelo. 193 
stimmte Linie zieht? — Ich weiß nichts Bestimmtes, so vieles ich 
ahne. Aber durch die unmittelbare Manifestation eines selbständigen 
Sinnes allein scheinen mir die Wunder der Renaissance- und der 
Mogul enkunst erklärbar. 
Ich verstehe gut, daß den meisten Europäern die Residenzen der 
Mogulkaiser als das Interessanteste von ganz Indien erscheinen ; 
denn die meisten interessiert doch nur das, was zu ihrem Indivi- 
duum in unmittelbarer Beziehung steht. Diese Welt ist unmittelbar 
verständlich, man kann sich heimisch in ihr fühlen; sie ist überdies 
so reizvoll, wie wenige andere. Mich aber zieht es aus ihr fort. Was 
soll ich inmitten dieser Schätze? Anregen tut mich ihr Anblick 
nicht, dazu ist mir ihr Geist zu verwandt. Und um inmitten dieser 
Kunst dahinzuleben, ist sie zu groß. Sie störte mich auf allen 
meinen Wegen. So könnte ich auch in Florenz nicht existieren, wo 
der vollendete Geist des Quattrocento alles Wollen des Novecento 
entmutigt. Aber Florenz besuche ich doch immer wieder, und 
jedes neue Mal lieber als vorher, weil dort die sichtbare Schönheit 
die Blüte des Geists bezeichnet, eben das bedeutet, wie die platoni- 
sierende Philosophie der gleichen Zeit. Wenn ich den Glockenturm 
Giottos betrachte, offenbart sich mir die gleiche Vernunftquali tat, die 
im Humanismus ihren abstrakten Ausdruck fand, und betrete ich die 
Mediceerkapelle, so spüre ich gar die Gegenwart eines Genies, der 
unter anderen* Bedingungen die Welt hätte erschaffen können. In 
Florenz hat alle Kunst einen tiefen metaphysischen Sinn, der noch 
ihre verstiegensten Ausläufer durchgeistigt. Der indisch-mohamme- 
danischen Kunst geht solcher ab. So kann sie meiner Seele nichts 
geben. 
Je mehr Kunst ich sehe, die nichts als Kunst ist, desto stärker 
tritt mir meine Anlage ins Bewußtsein, welche die Kunst nur als 
unmittelbaren Ausdruck von Metaphysisch-Wirklichem zu würdigen 
weiß. Wahrhaft große Kunst sagt mir insofern wohl mehr, als 
der Mehrzahl ihrer Verehrer, aber der Kleinkunst kann ich nicht ge- 
recht werden, und als Werk der Kleinkunst gilt mir so manches 
Meisterwerk. Zumal das Dekorative läßt mich kalt. Die Zierlich- 
keit, die Anmut der Arabeske hat keinen tieferen unmittelbaren 
Hintergrund, als den erlesenen Geschmack ihres Erfinders ; und ich 
wüßte nicht, inwiefern es mich angehen sollte, daß ein bestimmtes 
Keyserling, Reisetagebuch. 13 
194 Unwesenhaftigkeit der Arabeske; Benares. 
Menschenkind Geschmack besessen hat. Natürlich beweist dies bloß 
meine Beschränktheit, nicht den Unwert des Dekorativen. Ohne 
Zweifel ist dieses oberflächlichen Charakters und Sansovino Michel- 
angelo zu vergleichen, ist lächerlich. Aber nicht das Tiefe allein hat 
Daseinsberechtigung. Sonst weiß ich das Oberflächliche auch zu 
schätzen, nur im Falle der Kunst vermag ichs nicht, und dies be- 
weist, daß gewisse Organe mir fehlen. Es beweist vor allem Mangel 
an Kultur. Die Gründe für diesen liegen nicht fern : nirgends wohl in 
ganz Europa weht eine unkünstlerischere Luft als in meiner Heimat, 
so hat mir die Kinderstube gefehlt, dank der mir gleichgestellte 
Florentiner wie selbstverständlich Geschmack und Freude am Schein 
besitzen. Es ist hiermit wie mit jedem Vorzug der Geburt: der 
Vorsprung, den er gewährt, ist ein absoluter Vorsprung, den nur 
produktive Befähigung einholen kann. — So freue ich mich dem- 
nächst in Benares anzulangen. Dort werde ich mehr in meinem 
Elemente sein. 
BENARES. 
Als Brahma den Himmel mit seinen Göttern gegen Käshi 
(Benares) abwog, 
Sank Käshi, als die schwerere, zur Erde hinab, 
Der Himmel, als der leichtere, stieg hinan. 
Ich muß wieder und wieder dieser Verse aus Shankarächäryas 
Manikarnikastotram gedenken, denn es weht ein Hauch göttlicher 
Gegenwart über dem Ganges, wie ich ihn gleich machtvoll noch 
nirgends gespürt habe. Des Morgens zumal, wenn die Frommen zu 
Tausenden die Ghäts bedecken, wenn die Gebete in goldenen 
Wellen der aufgehenden Sonne entgegenfluten und der Sinn sich in 
zartester Sinnenschönheit offenbart, scheint die ganze Atmosphäre 
durchgottet zu sein. Wie gut, daß die Inder seit Jahrtausenden diese 
Stätte als Heiligtum verehrt haben: so ist sie, dank des Glaubens 
Wundermacht, wahrhaftig zu einem Heiligtum geworden. Benares 
ist Shiva geweiht, dem schwarzhalsigen Gotte ; aber nicht als Person, 
sondern als Ansicht des überpersönlichen Brahman, der nichts aus- 
schließt und alles bedingt: So wallfahrtet ganz Indien nach Be- 
nares, unbekümmert um Sektenangehörigkeit. So könnte die 
Heilige Stätten; Notwendigkeit der Anregung. 195 
ganze Menschheit hierher pilgern. Die schlanke Moschee Aurang- 
Zeebs, des fanatischen Muslim, wirkt nicht störend inmitten der 
Hindutempel. Und wie aus dem fernen Cantonment, vom Wind ge- 
tragen, das Echo eines Chorals über dem Ganges schwebte, da war 
mir, als gehörte es hierher. 
Benares ist heilig. Das oberflächlich gewordene Europa ver- 
steht solche Wahrheiten kaum mehr. Bald wird keiner mehr Wall- 
fahrten unternehmen, und früher oder später, nur zu früh, wird die 
Christenheit ohne Heiligtümer dastehen. Wie arm wird sie dadurch 
geworden sein ! Was soll die Frage, ob eine Stätte „wirklich" heilig 
sei? Wird sie lange genug für heilig gehalten, so schlägt die Gott- 
heit unweigerlich ihren Wohnsitz auf in ihr. Dem Pilger, der sie 
betritt, wird es merkwürdig leicht, in Andachtsstimmung zu ver- 
weilen und diese Stimmung erweitert und vertieft. Freilich wäre es 
das Höchste, wenn einer überall die Gegenwart Gottes spürte, un- 
abhängig von äußerlichem Beistand. Aber das vermag kaum einer 
unter Millionen. Nicht alle Jahre wird ein Menschenkind geboren, 
daß wie Jesus von sich sagen kann : ich habe, gleich dem Vater, 
alles Leben in mir; dessen Spontaneität so groß und so selbst- 
herrlich wäre, daß sie keiner Auslösung bedürfte. Die Regel ist hier 
wie überall — in Kunst, Philosophie und Moral — , daß der Mensch 
nur das in sich erlebt, was ihm außer sich gezeigt wird, oder 
was die Eindeutigkeit mittelbarer Anregung reflexartig in ihm ent- 
stehen ließ. Verhielte es sich anders, so wären nicht allein Wall- 
fahrtsorte überflüssig, es bestünde auch keine Veranlassung, große 
Männer in Dankbarkeit zu verehren, denn wozu verehrte man 
sie wohl, wenn sie nicht gäben, was wir ohne sie entbehren 
müßten? Die allermeisten haben Anregung nötig, um zum Höch- 
sten in Beziehung zu treten, wo sie fehlt, dort entgotten sie sich. 
Solche gewährt für das Alltagsleben das Studium der Schrift, 
die Teilnahme am Kult. Allein die Routine des Alltags vermag 
nicht mehr, als den normalen Wachstumsprozeß im Gang zu er- 
halten und Rückbildungen vorzubeugen ; nur Außerordentliches be- 
wirkt im Menschen, dem Gewohnheitstier, dem Unterschiedswesen, 
eine Beschleunigung der Entwickelung, eine plötzliche Niveauver- 
schiebung. Zu diesem Zwecke haben alle Religionen Feiertage ein- 
gesetzt ; den Umgang mit heiligen Männern empfohlen ; besonders 
aber das Wallfahrten angeraten. Bei solchen trägt nämlich alles dazu 
bei, die religiösen Saiten der Seele zum Schwingen zu bringen und 
13* 
1 96 Wert des Wallfahrtens ; psychische Atmosphäre. 
in dauernder Schwingung zu erhalten. Die Ortsveränderung läßt 
den Menschen zeitweilig seine gewohnten Umstände vergessen ; 
das Ziel der Fahrt, stets im Auge behalten, schließt eben dadurch 
herabmindernde Erinnerungen aus ; endlich steigert die Phantasie 
in der Erwartung den möglichen Einfluß des Heiligtums so sehr, 
daß die Seele sich dem wirklich vorhandenen mit äußerster Emp- 
fänglichkeit hingibt. Aber dieses Subjektive ist es nicht allein, das 
die Heilwirkung heiliger Stätten bedingt: diese werden objektiv 
heiligend durch die Kumulation der Glaubensvorstellungen seiner 
Besucher. Sie gewinnen auf die Dauer eine Atmosphäre, die auch 
den ergreift, der in unheiliger Stimmung hinzog. Und diese ihre 
weihende Kraft wächst mit der Zeit. Sie werden allmählich zu 
echten Gnadenbornen. Wer eine altgeheiligte Pilgerstraße in gläu- 
biger Verfassung durchmißt, dem kann es geschehen, daß er sich an 
ihrem Ende seelisch weiter befindet, als ihn sonst Jahre innerer 
Arbeit gebracht hätten. Indien nun ist dicht durchzogen von Pilger- 
straßen ; es ist besäet mit heiligen Stätten ; wieder und wieder wird 
der Wanderer, in immer neuem Zusammenhang, in immer neuer, 
deshalb anregender Form, an die Gegenwart Gottes erinnert. Nir- 
gends aber so stark wie am Ganges. Dieser heiligste der Ströme 
entspringt in Shivas Paradies, am schneeigen Kailäs in den Hima- 
layas ; wer dorthin gelangt, ist leiblich in Gottes Gegenwart. Dann 
durchfließt er die majestätischen Bergwälder, in denen Munis und 
Rishis hausen, Übermenschen, Jivanmuktas, denen Leben und Ster- 
ben schon eins sind ; wer bis zu ihnen dringt, den nehmen sie 
mitunter zum Jünger an. Und indem er sich südwärts wälzt, vom 
sonnenverbrannten Pendschab zu der fruchtbaren Ebene Bengalens, 
heiligt er fortlaufend Stätte auf Stätte. Zum Kailäs ist noch 
keiner hinangestiegen ; zu den Mahatmas nur selten einer gelangt. 
Aber Benares ist jedermann zugänglich. So ist diese Stadt der 
Brennpunkt aller Glaubensvorstellungen, die mit dem Ganges ver- 
knüpft werden, was ihr eine einzig dastehende heiligende Kraft ver- 
leiht. 
Was ist es mit dieser „psychischen Atmosphäre", welche offen- 
bar objektiv-wirklich ist, deren Dasein ich deutlicher spüre, je 
länger ich lebe? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, daß es sich um 
Schwingungen handelt, eines „Äthers", der freilich kaum mit dem 
der Physiker zusammen fällt, aber doch um Vibrationen materieller 
Natur. Sicher sind Gedanken ebensosehr „Dinge", wie die Gegen- 
Sonnena nbetung, 197 
stände der Außenwelt, nicht minder real, und wahrscheinlich dauer- 
hafter als man denkt. Der „Zeitgeist" ist ein nicht minder Objek- 
tives, wie die physische Luft. Wenn Vorstellungen nichts Stoff- 
liches wären, sie könnten nicht anstecken. Ich wüßte auch nicht, 
wie ich sonst dazu kommen sollte, unmittelbar eine psychische 
Atmosphäre aufzufassen, sonst so stark beeinflußt würde vom Ort, 
an dem ich mich aufhalte, und verschieden, je nach den Wesen, die 
ihn dauernd bewohnen oder bewohnt haben. An der Wirklichkeit 
psychischer Luft kann nur der zweifeln, dessen Sinne zu stumpf sind 
um sie zu spüren. Ihre Theorie ist freilich ungeschrieben. Der 
einzige zusammenhängende Versuch, den ich wüßte, stammt noch 
von den alten Indern her: ich meine die dunkle Lehre von den 
Tattvas. 1 ) 
Herrlich ist es, wenn sich die Sonne über den Horizont erhebt 
und die Scharen der Frommen auf den Ghäts sich in einiger 
Gebärde der Anbetung der Lebensspenderin entgegenneigen. 
Der Hinduismus kennt keinen Sonnengott ; was Stoff ist, hat er nie 
als Geist verehrt. Aber er gebietet vor der Sonne anzubeten, weil 
sie die vornehmste physische Manifestation sei der göttlichen 
Schöpferkraft. Was wäre der Mensch ohne Sonne? Er wäre über- 
haupt nicht ; sein ganzes Dasein ist sonnenerzeugt, sonnengeboren, 
wird von der Sonne erhalten und verwelkt, wenn der Born des 
Lebens sich von ihm abwendet. 
Je weiter ich komme in der Erkenntnis, desto entschiedener 
bekenne auch ich mich zum Sonnenkult. Während jener schreck- 
lichen Monde, wo sie Estland nur einen flüchtig wegwerfenden 
Gruß entbietet, um sich dann schleunigst, wie nach erledigter 
unangenehmer Pflicht, geliebteren Breiten zuzusenken, sinkt jedes- 
mal auch die Kurve meines Lebens. Mein Körper erkrankt, meine 
Vitalität flaut ab, meine Seele entspannt sich. Und umgekehrt 
sind meine Perioden höchster Schaffenskraft allemal mit den 
längsten Tagen zusammengefallen. Aber was ist die heißeste 
Sonne, die der Norden kennt, im Vergleich zur indischen ! Ein 
l ) Die einzige ausführlichere Arbeit über diese Lehre, die mir bekannt 
wäre, bezeichnet Räma Prasäds Büchlein Natnre 1 s finer Forces (London 1907, 
Theosophical Publishing Society), in welcher die Philosophie der Tattvas 
teils in Übersetzungen aus dem Sanskrit-Original, teils in selbständiger Aus- 
drucksweise, nicht undeutlich dargelegt erscheint. 
198 Die Sonne Indiens; ex Oriente lux. 
schwelend Kerzenlicht. Die Sonne Indiens wird viel gefürchtet: 
ich fühle mich geneigt, gleich den Pilgern am Ganges, jeden Morgen 
dankerfüllt vor ihr niederzusinken, denn unermeßlich ist, was sie 
mir gibt. Hier spüre ich mich dem Herzen der Welt so nah, wie 
nie zuvor, hier ist mir täglich, als müßte mir bald, schon heute 
vielleicht, die äußerste Erleuchtung kommen. Ich wundere mich 
nicht mehr, daß alle tiefste Weisheit aus dem Osten stammt: sie 
stammt aus der Sonnennähe. Alle Manifestation ist körperlich ; 
der Geist offenbart sich dort, wo es die Kraft gibt, ihn auszudrücken 
und alle Kraft ist materiell und stammt letzthin aus der Sonne. Die 
Sonne Indiens begünstigt nicht das Denken, wie denn keinerlei be- 
wußte Aktion ; ihre Kraft ist hier zu groß, um eines Auswirkens 
vermittelst schwacher Menschenwillen fähig zu sein. Sie wirkt un- 
mittelbar im Guten wie im Schlimmen. So tötet sie das vorwitzige 
Gehirn, das sich ihrer Bestrahlung allzulange aussetzt ; so er- 
leuchtet sie auf einmal unvermittelt das demütig-empfängliche Ge- 
müt. Ihm wird hier auf einmal vieles klar, was im Norden kein 
Denken erarbeiten würde. Es wird ihm deutlich dadurch, daß die 
Urkräfte seines Wesens beschwingt werden und in den Mittelpunkt 
seines Bewußtseins hineindringen. Metaphysische Erkenntnis ist 
nichts anderes, als dieses Bewußtwerden des tiefsten Wesens. Ge- 
wöhnlich wird es überschichtet von den tausend Trieben, die das 
Oberflächenspiel des Lebens bilden, desto mehr, je ferner der Quell. 
So ist der Europäer einerseits tätiger, andererseits oberflächlicher 
als der Inder. Dieser handelt ungern, denkt meist unvollkommen, 
hat nur wenig kinetische Energie: alle Oberfläche wird von der 
Sonne versengt. Dafür entzündet sie das Unversengbare zu solcher 
Leuchtkraft, daß es dem ärmlichsten Bewußtsein deutlich wird. 
Ist es richtig, was ich hier niederschreibe? — Betrachtungen 
dieser Art sind niemals „richtig", aber sie können wahr sein dem 
Sinne nach, und das ist mehr. So haben alle Sonnenanbeter recht 
vor Gott. Für den Mythengläubigen gibt es keine Tatsachen in 
unserem Sinn ; er weiß nichts von der Sonne des Physikers. Er 
betet vor dem, was er unmittelbar als Quell seines Lebens spürt. 
Der spätere Mensch, dessen emanzipierter Verstand an erster Stelle 
die Frage der Richtigkeit aufwirft, muß natürlich den Sonnenkult 
verleugnen ; für ihn gibt es ja nur das Faktum der Astronomie und 
das ist freilich keine Gottheit. Der spiritualisierte wird dem antiken 
Glauben wieder gerecht. Er erkennt in ihm eine schöne Ausdrucks- 
Indische Frömmigkeit; Wesen von Glauben und Gebet. 199 
form echtinnerlichen Gottesbewußtseins. Er weiß, daß alle Wahr- 
heit letzthin symbolisch ist, und daß die Sonne den Charakter des 
Göttlichen eigentlicher zum Ausdruck bringt, als die beste Begriffs- 
fassung. 
Die Atmosphäre der Andacht, die über dem Strome schwebt, 
ist unwahrscheinlich stark ; stärker als in irgendeinem Gottes- 
hause, das ich besucht hätte. Jedem angehenden christlichen 
Geistlichen wäre es anzuraten, ein Jahr des Theologiestudiums 
draufzugeben und diese Zeit am Ganges zu verbringen: hier würde 
er erfahren, was Frömmigkeit heißt. Denn in Europa lebt nur mehr 
ein Abglanz von ihr. Wer kann dort noch inbrünstig beten? Wer 
kennt dort noch die andächtige Sammlung, welche sich selbst ge- 
nügt, keiner Veranstaltung bedarf, den Einfluß der störenden Um- 
welt selbständig ausschaltet? kaum einer unter Millionen ; die am 
frömmsten zu sein wähnen, sind es in Wahrheit meist am wenigsten ; 
denen gilt Glauben als identisch mit Fürwahrhalten und Beten für 
eines Sinnes mit Bitten, was beweist, daß sie von tieferer Frömmigi- 
keit nichts ahnen. So elementaren Mißverstehens scheint kein noch 
so einfältiger Hindu schuldig. Keinem Hindu bedeutet Glauben 
Für-wahr-halten, denn die Frage des Daseins stellt er nicht, wie- 
viel Götter und Göttinnen er immer verehrte. Und keiner faßt 
sein Gebet als Bitte auf. Er weiß, daß Bitten niemals ein Heiliges 
ist, auch da nicht, wo es für andere geschieht, weil es sich 
letztlich immer auf das Ich bezieht. Das Gebet als Sakrament 
ist ein Ausdruck eben dessen, was im Opfer, im Loben Gottes, 
im Kult, im Choral und am besten in der stillen Meditation in die 
Erscheinung tritt: des Öffnens des Bewußtseins den Strömungen, 
die in der innersten Tiefe der Seele der Befreiung harren, die, wenn 
befreit, den Geist direkt mit Gott verbinden. Auf das Mittel als 
solches kommt es nicht an. Das weiß der Hindu, was allen Äuße- 
rungen seiner Religiosität, seien sie naiv oder durchgeistigt, den 
gleichen sakramentalen Charakter erteilt. Woher kommt ihm sein 
Wissen? Von seiner Kinderstube. Das erste, was eine indische 
Mutter ihrem Kinde lehrt, ist die Kunst des Meditierens, der will- 
kürlichen Versenkung im Höchsten, was es vorstellen kann. Hat es 
diese Kunst erlernt, dann bedarf es keines äußeren Apparates, keiner 
Kirchenluft, keines Dogmenglaubens, keiner Abgeschiedenheit, umj 
200 Indische Kindererziehung ; Konfessionsbeeinflussung als Sünde. 
zu Gott in Beziehung zu treten. So sieht man am Ganges die 
Kinder inmitten des Lärms, des, Geschäftsverkehrs, trotz aller Frem- 
den, die verständnislos glotzend an ihnen vorbeigondeln, wenn die 
Stunde der Anbetung kommt, sich inbrünstig in die Gottheit ver- 
senken, unstörbar, unbeirrt. Und die vom Kind erarbeitete Kunst lernt 
der Erwachsene dann langsam verstehen, wenn nicht mit dem Ver- 
stand, so doch mit dem Gemüte. Er weiß ja aus Erfahrung, worauf 
es ankommt ; er kennt die Erhebung, die das Freiwerden der tiefsten 
Lebenskräfte wirkt; so kann er nicht, gleich den meisten heutigen 
Christen, das Mittel mit dem Zweck verwechseln. Desto weniger, 
als seine ganze Erziehung darauf angelegt ward, ihn das Wesent- 
liche vom Unwesentlichen unterscheiden zu lehren. Seine Mutter» 
die ihn atmen und meditieren lehrte, hatte ihm völlig freie Hand ge- 
lassen bei der Wahl seines geistlichen Lehrers. Wäre er einem ge- 
folgt, der in seiner besonderen Konfession von der ihrigen soweit 
abwich, wie ein Lutheraner vom Katholiken, sie hätte keinen Ver- 
such gemacht ihn zurückzuhalten: es gilt ja als Todsünde unter 
Indern, eines anderen Glauben gewaltsam beeinflussen zu wollen, 
da jeder doch ein besonderes Wesen ist und daher auf seinem ihm 
gemäßen Weg der Gottheit zupilgern muß. Und im gleichen Sinn 
hatten ihn die Brahmanen, sofern er wissendurstig und einsichts- 
fähig war, fortschreitend weiter belehrt. Sie hatten ihm gesagt, nur 
eine Gottheit gäbe es in Wahrheit, die vielen Götter seien dessen 
Manifestationen, nur dazu da, dem Menschen das Realisieren zu er- 
leichtern : denn Gott an sich sei unvorstellbar ; wer weit genug in 
sich selber vorgedrungen sei, könne alles Rituales wohl entraten. 
Und so war er auch hie und da weisen Männern begegnet, die 
außerhalb aller Kultgemeinschaft standen. — Wie soll der Hindu 
nicht wissen, worauf es ankommt? Wie soll er lau werden, wofern 
er ein einziges Mal die Seligkeit religiösen Realisierens erfahren 
hat? Im westlichen Europa, das im Mittelalter Indien so ähnlich 
sah, ist heute echte Andacht nicht mehr anzutreffen, außer in fern- 
abgelegenen Winkeln, in denen der Geist vergangener Jahrhunderte 
noch herrscht. Nur in Rußland kennt man sie noch. In der Tat 
habe ich, seit ich in Indien weile, mehr denn einmal des russischen 
Menschen gedenken müssen. Seltsam ähnlich dem Hindu steht 
dieser zur Welt: gleich allverstehend, gleich allbrüderlich, gleich 
unpraktisch. Und seltsam ähnlich ist vor allem seine Religiosität. 
Zwischen vielen Pilgern, die ich einerseits am Gangesgestade, 
Gemütlosigkeit des Westens; Liebe kein Monopol der Christenheit. 201 
andrerseits an der Ssergievskaja Lawra beten sah, bestand sicher 
nur ein konfessioneller Unterschied. Eine gleiche Inbrunst nicht 
allein, eine gleiche Qualität der Inbrunst ehtflammte die Herzen 
dort wie hier. Ja, Rußland — das Rußland des einfachen Bauern — 
ist heute wohl das einzige gottnahe Reich der Christenheit. 
Gottnahe zum mindesten, soweit der Weg des Herzens, der 
Bhakti-Yoga, in Frage kommt. Das Gemüt ist, was immer man sage, 
beim Abendländer nur schwach entwickelt. Wir bilden uns ein, 
weil wir nun seit anderthalb Jahrtausenden eine Religion der Liebe 
bekennen, deshalb von Liebe beseelt zu sein. Das sind wir nicht. 
Unsere extrem aktive Natur hat die Inspiration, die aus dem Osten 
kam, unverzüglich in Handlungen umgesetzt, in Lebensformen, 
Lebenswege, Institutionen, so daß in diesen zwar mehr Liebe zum 
Ausdruck kommt, als in allen, die im Orient gelten, das Gemüt als 
solches aber entleert erscheint. Die Seele des Europäers ist im 
gleichen Verhältnis gefühlsarm, wie sie im Geist erhabener Gefühle 
schafft. Es scheint nicht möglich, einen Geist sowohl als solchen 
festzuhalten, als ihn äußeren Organen einzuverleiben. Wie dürftig 
wirkt Thomas a Kempis neben Ramakrishna! Wie arm die höchste 
europäische Bhakti neben der etwa der persischen Mystiker! 
Das westliche Fühlen ist stärker als das östliche, insofern es mehr 
kinetische Energie enthält; aber es ist auch nicht annähernd so 
reich, so zart, so differenziert. San Juan de la Cruz wirkt häufig 
obszön, trotz echtester Gottesliebe, weil eben seine rohe Spanier- 
seele keines feineren Ausdrucks fähig war ; Franz von Assisi, 
trotz seiner Süßigkeit, mehr als Naturgewalt denn als verklärter 
Geist. Es wäre hohe Zeit, den Aberglauben aufzugeben, daß 
die Christenheit ein Monopol auf die Liebe hätte. Sie steht obenan, 
soweit Arbeit im Sinne der Liebe in Frage kommt, von dieser 
selbst, als Erleben, weiß sie weit weniger, als die sanftere 
Menschheit Hindustans. Ich verstehe jetzt gut, daß Europäer- 
herzen dem gebildeten Hindu roh erscheinen : sie sind roh, 
daran kann kein Zweifel sein. Und schwerlich werden sie jemals 
echter Bhakti fähig werden : unsere Entwickelung bewegt sich nach 
anderer Richtung zu. Wir werden weniger und weniger devotioneil. 
Man lasse sich durch den Devotionalismus nicht irre machen, der 
heute in vielen religiösen Verbänden des Westens, zumal der von 
Indien inspirierten Theosophischen Gesellschaft, herrscht: er wird 
immer nur einer Minderzahl kongenial sein, selbst unter den Frauen. 
202 Sinn europäischer Unfrömmigkeit. 
Und diese Minderzahl wird zusammenschmelzen im gleichen Ver- 
hältnis, wie das Bewußtsein ihrer eigentlichen Seele der westlichen 
Menschheit deutlicher wird. Hier wie überall setzt die gegebene 
Natur eine Grenze, die zu überschreiten nur scheinbar glückt. Um 
im indischen Sinne fromm sein zu können, muß man als Inder oder 
Russe geboren sein. Es muß einem das Verehrungsbedürfnis im 
Blute liegen ; es muß die Verehrungsfähigkeit hoch ausgebildet sein. 
Die Seele muß sich sehnen, sich hinzugeben, dem Eigenwillen zu 
entsagen, mit sich geschehen zu lassen ; sie muß weiblich geartet 
sein. Das sind die besten Europäerseelen nicht ; die sind männlich 
bis zum Extrem. So beruht die Unfrömmigkeit des Europäers, sein 
grobes Mißverstehen des Sinns von Glauben und Gebet letzthin 
wohl darauf, daß die Bhakti-Yoga nicht den Weg bezeichnet, der 
ihn am sichersten zur Gottheit führt. 
Viele Stunden jedes Tages verbringe ich im Labyrinth der 
Gassen, welche Tempel mit Tempel verbinden und ihrerseits 
von Götterschreinen und Altären dicht umsäumt sind. Soviel 
„Stationen", wie Benares, hat kein Wallfahrtsort der Christenheit, 
und fast auf jeder wird die Gottheit in besonderer Form und unter 
spezifischem Aspekte verehrt. Am meisten Zuspruch finden natür- 
lich die Idole, die auf das Verständnisvermögen des kleinen Mannes 
zugeschnitten sind ; so wird auch in Benares, der Stadt Shivas, 
Ganesha, dem elephantenköpfigen Schutzherrn irdischen Erfolges, 
am reichlichsten geopfert. Die Gebildeten haben nichts dagegen ; 
ihre Weltanschauung billigt und ermutigt jede Form der Devotion. 
Alle Glaubensvorstellungen, so lehrt sie, haben den einzigen 
Zweck, dem Menschen ein Hilfsmittel zu bieten, sich seines 
tiefsten Selbst bewußt zu werden. Je einfältiger und roher einer ist, 
desto gröber und ungeistiger müssen die Bilder sein, die seiner Auf- 
merksamkeit entgegenhalten werden, denn feinere verfehlen bei ihm 
ihr Ziel. Vom Bauern ist nicht zu verlangen, daß er unmittelbar 
zum Brahman in ein Verhältnis träte. Der möge nur getrost zu den 
Göttern beten, deren Gestalten eine ungebildete Volksphantasie er- 
schuf, denn sofern er nur glaubt, sofern der Gegenstand seiner Ver- 
ehrung seine Seele wirklich zu bannen vermag, leistet dieser ihm 
eben das, was dem Rishi, dem Muni, die Kontemplation des Ab- 
soluten leistet. Im übrigen aber gibt es nicht viele Wissende ; nicht 
Götter glauben als Mittel zum Zweck. 203 
viele, die über die Ratsamkeit der Disziplin, des traditionellen Kultes 
tatsächlich hinaus wären. Es gilt, die Gottheit wirklich zu reali- 
sieren, nicht bloß sich einzubilden, daß man es tut : wer ist so weit, 
dies ohne „Namen und Form" zu können? Shankara war es nicht, 
auch Ramanuja nicht, sonst wären beide nicht so eifrige Opferer 
gewesen ; beide blieben den altgeheiligten Glaubensformen treu, 
verschmähten es sich neue, ihren Philosophien scheinbar ge- 
mäßere auszudenken, denn sie hatten gefunden, daß angeborene 
oder -erzogene Vorstellungen die Gefäße sind, in die sich der 
heilige Geist am leichtesten ergießt. Und Ramakrishna, der suesse 
Heilige von Dakshinesvar, von dem es heißt, daß er ein Jivan- 
mukta war, hinaus über alle irdischen Bindungen, der folglich 
besser als irgendeiner wissen konnte, was nötig und was über- 
flüssig ist, hat jüngst erst seinem Volke wieder ans Herz gelegt, 
nur ja dem Ritual gemäß zu praktizieren, da ohne geistliche 
Übungen (ohne Sädhana) Erleuchtung schlechterdings nicht zu er- 
ringen sei und von allen die altüberlieferten die wirkungskräftig- 
sten seien. — In der Tat waren alle gebildeten Hindus, denen 
ich begegnet bin, aufrichtig göttergläubig (was sie freilich nicht 
hinderte, sich als Philosophen bald zum Advaita, bald zum Visishtad- 
vaita zu bekennen) ; sie alle praktizierten ihren Glauben. Wohl 
hielten sie sich von den primitiven Riten fern, welche heute noch 
die Hauptmasse hinduistischer Kulthandlungen ausmachen, aber an 
irgendeinem Rituale nahmen sie alle Teil. 
Der Geist des Hinduismus, als Zusammenhang von Glaubens- 
vorstellungen betrachtet, ist identisch mit dem des Katholizismus. 
Nur erscheint er bei ersterem mehr intellektualisiert. Die praktischen 
Vorschriften, die den Gläubigen beider Religionen erteilt werden, 
sind überall eines Sinnes, gleich weise, gleich psychologisch tief, 
gleich zweckentsprechend. Nur haben die Hindus das gleiche besser 
verstanden. Während die katholische Kirche die Heiligenverehrung 
empfiehlt, weil die Heiligen wirklich im Himmel säßen, wirklich 
Fürsprache einlegten vor Gott, der es so angeordnet hätte, daß man 
sich nicht unmittelbar an Ihn, sondern an die zuständigen Mittel- 
instanzen wenden solle, wissen die Inder, daß die Anbetung spezi- 
fizierter Gottheiten deshalb ratsam ist, weil es den Menschen allzu- 
schwer gelingt, die Gottheit als solche zu realisieren, weil Reali- 
sieren das Eine ist, worauf es ankommt, und eine spezifische Form, 
spezifischen Aspirationen angemessen, am meisten fördert. Katholi- 
204 Hinduismus und Katholizismus. 
zismus sowohl als Hinduismus treiben Bilderdienst; aber während 
es sich bei jenem praktisch nur zu oft um echten Fetischismus 
handelt, um Götzendienst in dessen rohester Gestalt, weiß jeder 
Hindu (oder kann er es wenigstens wissen), daß der Wert der 
Bilder einzig darauf beruht, daß sie die Aufmerksamkeit des Beters 
konzentrieren helfen ; es ist den allermeisten unmöglich, ihre Seele 
anders als in bezug auf einen sichtbaren Gegenstand zu sammeln. 
Und so fort. In der katholischen Kirche leben die tiefen Lehren des 
Altertums mißdeutet fort; innerhalb des Hinduismus meist richtig 
gedeutet. Das ist, soweit das Prinzip in Frage kommt, zwischen 
beiden der einzige Unterschied. 
Die indische Religions- und Ritualphilosophie ist eine reichste 
Fundgrube psychologisch-metaphysischer Weisheit. Es liegen darin 
Erkenntnisschätze aufgespeichert, die, wenn gehoben und gesichtet, 
aller Wahrscheinlichkeit nach den wissenschaftlichen Begriff vom 
Psychisch-Wirklichen modifizieren werden. Denn die Inder sind in 
zwei Hinsichten auf einmal groß gewesen, die sich unter Abend- 
ländern gewöhnlich ausschließen: im Glauben und im Verstehen des 
Glaubens. Bei allem Sinn für die Form und deren Wirkungs- 
möglichkeit haben sie ihre objektive Bedeutung meist richtig 
beurteilt. So ist denn schon das Eine hochbedeutsam, daß die 
Inder, die in der Selbsterkenntnis weiter gelangt sind als 
irgendwelche Menschen, deren Bewußtsein sich in unerhörtem 
Grade der verstrickten Fesseln von Name und Form entledigt hat, 
in praxi immer katholisch geblieben sind ; alle größten indischen 
Philosophen wie Ramanuja, Shankaracharya — ich sagte es 
schon — praktizierten gleich Thomas von Aquin. Wohl sind auch 
unter Indern, wie überall, protestantisch gesinnte Reformer aufge- 
treten. So Buddha, die Gurus des Sikhs, und neuerdings die Stifter 
des Brahmo-Samaj. Aber erstens ist keiner von diesen so weit ge- 
gangen, wie ein Luther unter uns, dann aber haben sie den Hindu- 
geist in großem Maßstab nie ergreifen können ; sie wurden niemals 
populär. Der Buddhismus verschwand aus Indien, sobald er an der 
Königsgewalt keine äußere Stütze mehr hatte, und die anderen 
protestantisierenden Religionen sind allesamt beschränkte Sekten 
geblieben. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß der Katholizismus 
der Ansicht der Hindus nach ein System geistlicher Hygiene ver- 
körpert, wie es weiser nicht erdacht werden könnte ; daß, was 
immer der letzte Sinn der Religion, die katholische Form dessen 
Katholizismus und Protestantismus. 205 
Realisieren am meisten begünstigt. Das technisch Wesentliche an 
allen protestantischen Reformen ist, daß sie den Apparat, der dem 
geistlichen Fortkommen dient, vereinfacht haben. Während der 
Katholizismus alle Mittel in Anwendung bringt, die das religiöse 
Gefühl zu stimulieren geeignet scheinen, sanktioniert der Protestan- 
tismus nur einige wenige und stellt es der Seele im übrigen anheim, 
sich ohne äußere Beihilfe, schlecht und recht, mit Gott in Ver- 
bindung zu setzen. Das wäre schön und gut, falls die Vereinigung 
mit Gott auf diese weniger umständliche Weise gleich vollkommen 
zu erzielen wäre. Das ist sie nach Ansicht der Hindus nicht. Ihrer 
Erfahrung nach hat nur der höchste Mensch das innere Recht, den 
Weg des Protestantismus zu wandeln, denn er allein hat Aussicht 
Gott zu finden, indem er ihn auf seine Weise sucht. Die anderen 
finden ihn nicht. Denen ist es besser, den ganzen Hilfsapparat zu 
benutzen, den die "Weisheit der Generationen ausgebildet, und die 
breite Straße zu wandeln, die sie für alle abgesteckt hat. 
Es bedeutete ein Mißverständnis, die Frage aufzuwerfen, ob 
die Hindus absolut Recht haben mit ihrer Auffassung: sicher haben 
sie für sich selber recht. Die Wege des Katholiken und des Prote- 
stanten führen beide zu Gott, aber jeder von ihnen ist einer be- 
sonderen Naturanlage angemessen. Wer sich eines Sinnes am besten 
so bewußt wird, daß er sich in seine objektivierte Form versenkt 
und diese Form seine Seele gestalten läßt, ist katholisch veranlagt, 
gleichviel zu welcher Konfession er sich de facto bekennen mag. 
Und gleichermaßen ist der wesentlich Protestant, der vom Sinne her 
der Form zustrebt. Soweit Fortkommen in der Welt (wozu auch 
wissenschaftliche Erkenntnis gehört) in Frage steht, kann man wohl 
sagen, daß die protestantische Gesinnung die objektiv zweck- 
mäßigere ist. Andrerseits bedingt die katholische einen absoluten 
Vorzug überall, wo Realisieren Gottes in der Kontemplation als Ziel 
vorschwebt. Dieses kontemplative Realisieren ist nicht die einzig- 
mögliche Form religiösen Erfahrens ; wer das Himmelreich nicht 
schauen, sondern auf Erden verwirklichen will, dem ist eine Prote- 
stantenseele ersprießlicher. Der Katholik hat keinen Beruf zur Um- 
gestaltung, ist seinem Wesen nach nicht fortschrittlich gesinnt. Aber 
ihm wird es leichter zu teil, Gott zu schauen. So kann es nicht 
fehlen, daß das Indervolk, dem es ausschließlich um Erkenntnis zu 
tun ist, welches praktischen Fragen ganz gleichgültig gegenüber- 
steht, das kontemplativ ist in extremem Grade, auch in extremem 
206 Katholizismus und Protestantismus. 
Grade katholisch denkt und fühlt. Denn es ist ein grober Irrtum, 
wie oft es gelehrt werde, zu glauben, daß der Protestantismus die 
religiöse Erkenntnis vertieft hätte; das Gegenteil davon ist wahr. 
Das Handeln im Sinne der Religion hat er vertieft, aber der Er- 
kenntnis hat er nicht zugute kommen können, weil die nach aus- 
wärts gerichtete protestantische Bewußtseinsstellung dem Influx 
des Göttlichen direkt den Rücken kehrt. Gott kann man nicht aus- 
denken, man muß Ihn hinnehmen. Er kommt über einen, man stellt 
Ihn nicht aus sich heraus ; Er offenbart sich wie Er will, nicht wie 
wir wollen: so ist der, den es nach persönlichem Ausdruck drängt, 
dessen Geist darauf gewandt ist, neue Formen zu erfinden, gegen- 
über dem aufnehmend gestimmten Autoritätengläubigen im Nach- 
teil als Religiös-Erkennender. Man mag mir einwenden, Luther sei 
ja gerade hinnehmend gewesen ; gerade er hätte ja Glauben und 
Demut hoch über alles Wissenwollen gestellt. Allerdings ; in vielen 
wesentlichen Hinsichten blieb er persönlich bis zum Schluß, was 
ich katholisch heiße. Aber das Prinzip, dem er zum Sieg verholfen 
hat, ist dem Glauben und der Demut feind ; der echte Geist des 
Protestantismus tritt heute nicht mehr in der lutherischen Kirche, 
sondern in der kritischen Wissenschaft zutage. Wäre es anders, die 1 
protestantisch-religiösen Verbände litten nicht auf der ganzen Welt 
an unheilbarer innerer Zersetzung, wäre speziell das Luthertum nicht 
heute schon sterbenskrank. Es heißt eben: entweder glauben oder 
freibestimmen ; entweder Katholik sein oder Protestant. Und wem 
es darauf ankommt, Gott zu schauen, wird stets die erstere Alter- 
native ergreifen. Alle Mystiker der Welt waren katholisch gesinnt ; 
alle kontemplativen Naturen katholisieren. Alle großen religiösen 
Offenbarungen sind katholisch gesinnten Geistern gekommen und so 
wird es in aller Zukunft sein. 
Damit will ich freilich nicht behaupten, daß irgendein heute 
herrschendes katholisches System sich dauernd als solches erhalten 
wird. Dieser Tage, wo ich so vielen Kulthandlungen beigewohnt 
habe, ist mir bewußter geworden als je, wie sehr die Entwickelung 
der Menschheit überall vom Ritualismus abführt; mehr und mehr 
verliert die Magie an Bedeutung und Zweck. Insofern treibt die 
Welt ohne Frage in der Richtung des Protestantismus. Weniger 
und weniger gebildete Hindus befolgen genau die Vorschriften der 
Tantras ; weniger und weniger wird von der katholischen Kirche 
auf die Heilwirkung der Riten Gewicht gelegt. Offenbar wirken 
Warum Riten immer weniger wirken. 207 
diese weniger und weniger. Schon seit dem 18. Jahrhundert leistet 
der Katholizismus in Europa nicht das, was er der Idee nach leisten 
sollte und könnte, und heute scheint es, daß sein Bekenntnis im 
allgemeinen mehr schadet als nützt. Warum das? Sicher liegen die 
Dinge nicht so, daß die Tantras nichts als Aberglauben verkörperten, 
so daß man jetzt nur erkennt, was immer der Fall war; sicher auch 
nicht so, daß sich die moderne Menschheit, wie die Theosophen be- 
haupten, eines wichtigsten Heilsmittels begäbe ; und sicher be- 
zeichnet das Aufhören des Glaubens an die Magie als solches nicht 
die letzte Ursache des Verhältnisses. Ich persönlich bin überzeugt, 
daß die Lehren der Tantras im ganzen zutreffen und daß es trotz- 
dem in der Ordnung ist, daß sie weniger und weniger Beachtung 
finden. Magie kann nur wirken, wo das Bewußtsein sich in einer 
bestimmten Lage befindet ; diese Lage kann ihrerseits nur bestehen 
bei einem bestimmten Gleichgewichtszustande der psychischen 
Kräfte, wo zumal der kritische Verstand Phantasie- und Glaubens- 
bildungen nicht stört. Wo das erforderliche Gleichgewicht besteht, 
dort wirkt sie freilich ; dort bedeuten auch tantrische Zeremonien 
sehr oft die sichersten Hilfsmittel zum inneren Fortschritt. Aber 
wo es verschoben ist, dort versagen sie. Nun verschiebt es sich bei 
der ganzen Menschheit mehr und mehr in dem Sinne, daß der Ver- 
stand über der Phantasie das Übergewicht gewinnt. Dies bedingt 
einen Fortschritt überall, wo es sich um Meisterung der Außenwelt 
handelt; es bedingt aber gleichzeitig das Aus-dem-Auge-verlieren 
einer anderen Seite der Wirklichkeit. Wer über das Tantrikästadium 
hinaus ist, ist erhaben über viele Einflüsse der psychischen Sphäre, 
welche vielfach stören, aber andrerseits entgeht ihm auch deren 
Positives. Das Äußerste kann dieser so gut wie jener realisieren; 
er kann es überdies viel besser verstehen. Während der Tantrikä 
wahrhaftige Erlebnisse meist im Sinn absurder Theorien interpretiert, 
ist der Verstandesklare in der Lage ein gleiches Erleben, wo er es 
kennt, objektiv-richtig zu deuten. Aber er kennt es zunächst sehr 
viel seltener. Ohne Zweifel steht die Seele des Tantrikä Einflüssen 
offen, die auf eine andere Bewußtseinslage überhaupt nicht ein- 
wirken ; sicher bedingt das Hinauswachsen über die seinige insofern 
einen Verlust. Wir verstandesklaren Europäer erleben vieles von 
dem nicht mehr, was der abergläubische Hindu erlebt. Und wahr- 
scheinlich schließt uns unsere Seelenverfassung nicht allein von 
vielen unwichtigen Erlebnissen aus, sondern auch von einigen der 
208 Gott offenbart sich im Rahmen unserer Vorurteile. 
höchsten, die der Menschenseele zugänglich sind. So allein wenig- 
stens vermag ich es mir zu deuten, daß alle höchsten Offenbarungen 
von Geistern herstammen, die in vielen Hinsichten nicht nur unbe- 
fangen, sondern auch unentwickelt, unreif, unzulänglich, unkritisch 
und unverständig wie die Kinder gewesen sind. 
Freilich übertrifft der Hinduismus den noch so weisen christ- 
lichen Katholizismus an psychologischer Einsicht vielhundert- 
fältig ; ich wüßte keinen Zustand der Seele, dem er aus dessen 
inneren Voraussetzungen heraus nicht gerecht würde. Selig das 
Volk, dessen Propheten und geistliche Lehrer Weise waren ! Die der 
Christenheit waren alles, nur nicht das ; sie waren tiefbefangen in 
„Name und Form"; ihre noch so weitherzigen Lehren schlössen 
ausnahmslos den größten Teil des Menschengeschlechts vom Heile 
aus. Daß mußte so sein, sintemalen es Sonderlehren waren ; sinte- 
malen sie in einer bestimmten Glaubensform die Substanz der Wahr- 
heit erblickten. Dieser Irrtum aller Irrtümer ist dem Hinduismus 
fremd ; die Inder sind darüber hinaus, irgendeine Gestaltung meta- 
physisch ernst zu nehmen ; sie wissen daß alle Konfession nach 
den Maßstäben des Pragmatismus allein zu bewerten ist. Freilich 
muß die absolute Wahrheit eine Form annehmen, wenn sie dem 
Menschen deutlich werden soll ; für das An-Sich fehlt ihm das 
Organ. Aber diese Form stammt immer vom Menschen her, ist ein 
irdisch Gefäß, das der göttliche Geist im günstigsten Falle ganz er- 
füllt. Wie könnte es sonst wohl gelingen das Sosein aller konkreten 
Religionen historisch und psychologisch abzuleiten? Wie wäre es 
sonst wohl denkbar, daß alle Visionen, die gottbegeisterten Heiligen 
kamen, den Vorstellungen entsprachen, welche die Kirche, der sie 
angehörten, vertrat? Das Göttliche offenbart sich dem Menschen 
überall im Rahmen seiner intimen Vorurteile. Deswegen riet Rama- 
krishna seinen Jüngern von einem Wechsel der Glaubensvorstel- 
lungen so dringend ab ; der Krishnaanbeter bleibe bei Krishna, der 
Vaishnava ein Vaishnava, der Christ bei Christus : neue Vorstellungen 
säßen nie so fest wie angeborene, könnten dem Heiligen Geiste 
daher niemals ein gleich gutes Verkörperungsmittel bieten. So blieb 
er, der längst in der Extase mit Parabrahman einsgeworden war, in 
normalem Zustand ein Anbeter der Kali, der Gottheit in ihrem 
mütterlichen Aspekt. 
Spirituelle Bedeutung der Abstinenz. 209 
Wunderbar ist es, in der Tat, bis zu welchem Grade die Viveka, 
das Unterscheidungsvermögen in Sachen der Religion, bei den 
Indern ausgebildet ist. Unter den kultivierten herrscht keine Vor- 
stellung, die ich wüßte, deren Rationales nicht verstanden würde. 
Hier gibt es kein Credo quia absurdum, hier wird nirgends Un- 
begreiflichkeit postuliert ; sie wird gelten gelassen, wo sie vorliegt, 
dann aber wird das „warum" ihrer nach Möglichkeit bestimmt. Ich 
komme immer wieder auf die Tantras zurück: so abenteuerlich 
manche ihrer Sätze klingen, überall ist es möglich ihrem Sinne nach- 
zugehen ; überall sind die Grundideen vernunftgemäß. 1 ) Wie vielen 
Irrtümern, denen die Christenheit noch heute unterliegt, hat in 
Indien die Einsicht vorgebeugt ! Die geschlechtliche Enthaltsamkeit 
gilt hier wie dort als spirituell wertvoll. Weshalb und inwiefern 
ist sie das? Die christliche Kirche hat das nie herausgebracht. So 
verkündete sie die abenteuerlichsten Doktrinen : die Liebe als 
solche sei Sünde, das Weib gar eine Teufelin, Virginität sei der 
einzige Zustand, der gottselig zu nennen wäre ; sie erhob das 
Naturwidrige zum Ideal. Die Inder haben versucht den Sinn des 
problematischen Werts eines Verzichts auf Liebesfreuden zu er- 
gründen ; wobei sich herausstellte, daß den zur Heiligkeit Reifen 
Enthaltsamkeit fördert, weil in seinem Fall die prokreative Energie 
einer Umsetzung in spirituelle fähig ist ; ihm bedeutet sie ein tech- 
nisches Hilfsmittel. Aber diese Umsetzung gelingt nur den seltenen 
Organisationen, die wir eben die Heiligen heißen, woraus folgt, 
daß Enthaltsamkeit den Durchschnittsmenschen spirituell nicht 
vorwärts bringt. Dessen Seele bekommt es besser, dem Körper 
zuzugestehen, was er verlangt, da sonst seine verdrängten Aspi- 
rationen in die Psyche hinaufgestaut würden. — So handelt es sich 
bei dem, was die Christenheit Jahrhunderte lang als Ideal verehrt 
hat, in Wahrheit nur um ein technisches Optimum für bestimmte, 
exzeptionelle Veranlagungen. — Auch den Sinn der geistlichen Liebe 
haben die Inder besser verstanden als wir. Wie ichs schon bemerkt 
habe: inbrünstige Liebe zu Gott ist in Indien verbreiteter als bei 
uns, sie ist heute die herrschende Form des Gottesdienstes. Die 
*) Man lese Arthur Avalons Principles of Tantra, und vor allem die vor- 
zügliche Einleitung zu seiner Übersetzung der Mafia paranirvana-T antra. 
(London, Luzac <& Co.). Es ist die erste wirklich bedeutende Arbeit, die ich 
wüßte, über den Geist irgendeiner Ritualphilosophie. Kein denkender christ- 
licher Theologe, zumal kein katholischer, sollte dieselbe ungelesen lassen. 
Keyserling, Reisetagebuch. 14 
210 _Liebe als leichtester Weg zu Gott. 
Alten unterschieden drei Wege, die zum Höchsten führten : den 
der Erkenntnis (Gnana Yoga) y den der Liebe (Bhakti Yoga) und 
den des Werks (Karma Yoga). Von denen galt der erste als der 
höchste insofern, als die Erlösung (Mukti) in jedem Fall in Er- 
kenntnis bestehe, der Philosoph also von vornherein im Licht des 
Höchsten wandele ; der letzte als der niederste deshalb, weil hier 
der autonome Geist fast gar nicht mitwirkt und der Erfolg 
durch die Tugend blind befolgter Vorschriften, also gleichsam 
mechanisch, herbeigeführt wird ; der Weg der Liebe aber als der 
leichteste. Inwiefern ist er das? Er ist es insofern, als es in der 
Natur dieses Gefühls liegt, auszuströmen ; wer da liebt, denkt der- 
weil nicht an sich ; dessen Seele öffnet sich naturnotwendig ; 
wer aber von sich ganz frei geworden ist, hat eben damit 
Gott gefunden. Aus dieser Tugend der Liebe haben die Be- 
gründer des Christentums den Schluß gezogen, die Liebe sei das 
Höchste an und für sich. Die Inder, zu tief bewußt, um einem 
empirischen Gefühl* metaphysische Wirklichkeit zuzuerkennen, zu 
scharfsichtig, um ein Über-Empirisches in ihr zu sehen, zu kritisch, 
um ein noch so gutes Mittel zum Endzweck zu hypostasieren, haben 
einfach gefolgert, daß der Weg der Liebe den Menschen der gang- 
barste ist. Deshalb empfehlen sie ihn vor allen anderen. Jeder 
folgende Heilige hat größeres Gewicht auf die Vorzüge der Bhakti- 
Yoga gelegt und auf die Schwierigkeiten des Pfades der Erkenntnis, 
so daß heute eben das, was die christliche Kirche ihr Eigenstes 
wähnt, das Herz des Hinduismus bezeichnet. Aber noch heute, wie 
zu den Zeiten der großen Weisen, gilt der Weg der Erkenntnis als 
der höhere, gilt die Liebe nicht entfernt soviel wie bei uns. Freilich 
ist Gott die Liebe, sagen die Bhaktas, wie Er denn die Quintessenz 
alles Positiven ist; aber das Gefühl der Liebe, wie Menschen es 
kennen, und strebe es noch so sehr himmelwärts, ist an sich kein 
Göttliches. Wie sollte Sehnsucht ohne Eigennutz sein? Wunsch 
nach Vereinigung ohne Selbstsucht? Menschliche Liebe ist wesent- 
lich nicht selbstlos. Wohl beschließt sie trotzdem den Weg, der 
am schnellsten zur Entselbstung führt, weil sie die Seele öffnet, allein 
das heiligt sie nicht. — In der Tat, menschliche Liebe ist wesentlich 
nicht selbstlos. Wer daran zweifelt, der betrachte unbefangen die 
Geschichte der Christenheit: diese Menschheit, vom Geist der Liebe 
beseelt, hat die Ära des krassesten Egoismus herbeigeführt, die je 
geherrscht hat; von allen Anhängern höherer Religionen ist der 
Liebe an sich nichts Göttliches. 2 1 1 
Christ der Unfreieste. Es tut nicht 'gut, Menschliches göttlich zu 
heißen : ohne den Kult, der in Europa mit der Liebe getrieben wird, 
wären wir geistlich weiter als wir sind. Wir wären weniger aggres- 
siv, weniger rücksichtslos, wir wären einsichts- und verständnis- 
voller; wenn ihr Deckmantel uns gefehlt hätte, wir hätten uns 
nicht so hemmungslos in unseren selbstischen Impulsen gehen ge- 
lassen. Die Liebe als Gefühlsstimmung ist gar nichts Göttliches ; 
sie ist ein rein Empirisches, das, je nachdem wie es gehand- 
habt und gepflegt, wie es verstanden, gerichtet und beseelt wird, 
hinauf oder abwärts führt; von Hause aus ist sie wesentlich un- 
gerecht, parteiisch, exklusiv, akkaparierend und karitätslos : genug 
Attribute, fürwahr, um sie als allzumenschlich zu kennzeichnen. 
Was Liebe — in ach ! wie seltenen Fällen — zu einem Gött- 
lichen verwandelt, ist ein Höheres, das sie beseelt. Hat sich 
der Geist reinen, absichtslosen Gebens, des Schenkens ohne 
Nehmenwollens ihr eingebildet, dann ist sie freilich göttlich ge- 
artet. Aber dieser wohnt ihr von Hause aus nicht inne, schmilzt 
alles, was sonst als „lieb" gilt ein und kann sich überdies genau 
so gut dem Erkenntnisstreben, dem Tatendrang, dem künst- 
lerischen Schöpfungstriebe einverleiben. Es ist ein Unglück, daß 
dieser Geist nun schon mehr als zweitausend Jahre entlang mit der 
Liebe identifiziert worden ist. Plato ist es, der den Anstoß dazu 
gab. Bei seiner Vorliebe für mythische Ausdrucksweise benannte 
er die Urkraft der Spontaneität nach dem Liebesgott, in der Er- 
kenntnis dessen, daß sie in der Zeugung ihren greifbarsten Ausdruck 
findet. Aber nie doch identifizierte er sie mit ihr. Dieses ist später 
im Christentum geschehen, als die Sehnsucht der Schwachen mehr 
und mehr alle Begriffsbildung zu bestimmen begann. Heute ist es 
dahin gekommen, daß er als selbstverständlich gilt, in der Liebe das 
schlechthin Höchste zu sehen. Alle höhere Aspirationen werden 
diesem Dogma entsprechend bestimmt. Dagegen wäre nichts ein- 
zuwenden, wofern es möglich wäre, den Begriff der Liebe so weit 
zu fassen, daß er alle schöpferische Spontaneität in sich beschlösse. 
Dies gelingt aber nicht. Liebe ohne persönliche Zuneigung, ohne 
emotionelles Verhalten, ohne Herzensdrang bleibt ein leerer Begriff. 
So bedingt es die dogmatische Voraussetzung, daß die meisten im 
speziell Empirischen der Liebe das Transzendente sehen. Wer die 
Menschen nicht persönlich liebt, und sei sein Streben sonst noch 
so ideal, der sei ein tönendes Erz und eine klingende Schelle: so 
14* 
212 Gemüt wertlos ; Sinn religiösen Glaubens. 
verstehen sie den Ausspruch des Heidenapostels. „Gemüt" gilt 
ihnen als Ausdruck seelischer Tiefe, obgleich kein Heiliger je 
gemütvoll war, Anhänglichkeit als Beweis von Spiritualität. O über 
den Aberglauben! — Noch werden der Menschheit viele Nietzsches 
nötig sein, viele Feinde des Christentums, ehe sie dahin gelangt, 
den Geist vom Buchstaben zu trennen, im Geist und in der Wahr- 
heit zu leben. 
Auch den Sinn der Bedeutung des Glaubens in der Religion 
haben, soweit ich urteilen kann, die Inder allein bisher 
richtig verstanden. Praktisch lehrt der Hinduismus ge- 
nau das gleiche über die Heilswirkung des Gottvertrauens wie 
das Christentum. Mehr und mehr hat sich die indische Mensch- 
heit im Laufe ihrer Entwickelung die Versicherung Krishnas (in 
der Bhagavat-Gita) zu Gemüte geführt: wer weder den Weg der 
Erkenntnis, noch den der Liebe, noch den des Werks voll- 
kommen zu wandeln weiß, sich aber Mir nur vertrauend über- 
antwortet, den erlöse Ich doch. Sie hat aber diese Wunderkraft 
des Glaubens doch nie so aufgefaßt, daß Für-wahr-halten und Ver- 
trauen als solche sie besäßen, sich vor allem nie zur Wahn- 
vorstellung verstiegen, blindes Glauben sei mehr als Erkennen, und 
Wissen-Wollen gar frevlerisch. Sie hat mit der Intuition des genialen 
Psychologen erkannt, daß Glauben auch den zur Erkenntnis führen 
kann, dem sein Begabungsmangel direktere Wege versperrt. Erkennt- 
nis führt nicht zur Erlösung, sondern ist sie. Wer wirklich 
(d. h. lebendig, nicht bloß theoretisch, mit dem Verstände) weiß, 
daß er eins mit dem Brahman ist, ist eben damit aller Banden ledig. 
Aller Anstieg auf der Stufenleiter der Wesen besteht in Veränderung 
der Bewußtseinslage ; solche Veränderung ist der Seinsgrund aller 
Unterschiede, sie scheidet den Wilden vom Weisen und diesen von 
Gott. Wenn man sagt, der höhere Mensch stehe über gewissen 
Dingen, so ist das buchstäblich wahr: gewisse Tatsächlichkeiten 
binden ihn nicht mehr; dadurch, daß er sie anders ansieht, anders 
auffaßt, weil er anders ist, besitzen sie keine Macht mehr über ihn. 
Dieses Anders-Sehen schließt aber ein Besser-Erkennen ein, also 
bedingt nicht nur, sondern ist Erkenntnis Erlösung. Es gibt keine 
größere Macht als die des Wissens. Es gibt keine andere Art des 
inneren Fortschritts, als den in der Erkenntnis. Wer das Gute will, 
Alle Erlösung besieht in Erkenntnis. ' 213 
ist wissender als der Böswillige, wer nach Erkenntnis strebt, weiser 
als der Goldjäger. Auch wo es sich scheinbar um Nicht-Intellek- 
tuelles handelt, um moralisches, um ethisches Weiterkommen, wo 
der Fortgeschrittene selber nicht versteht, handelt es sich in Wahr- 
heit um ein Weiserwerden, denn alle innere Entwicklung verläuft 
dem Geiste zu. Es gibt keinen gröberen Aberglauben, als den an die 
Unüberwindlichkeit der Naturbestimmtheit. Die Natur ist freilich 
wie sie ist — ihr Tatsächliches als solches ist wohl unüberwindlich ; 
aber alle Kräfte wirken nur auf bestimmter Ebene, und wer sich 
über diese erhebt, entrinnt ihrem Einfluß. Der entrinnt ihnen nicht 
etwa in der Einbildung, sondern in voller Wirklichkeit, weil Besser- 
wissen Anderssein impliziert. Der Mensch ist Geist seinem tiefsten 
Wesen nach, und je mehr er das einsieht, je fester er es glaubt, 
desto mehr Fesseln fallen ab von ihm. So könnte es sein, daß, 
dem indischen Mythos entsprechend, vollkommene Erkenntnis so- 
gar den Tod überwindet. 
Alle Erlösung besteht in Erkenntnis, aber der Glaube bereitet 
ihr den Weg. Er vermag dies dadurch, daß das Glauben eines Er- 
kenntnisinhaltes diesem die Möglichkeit gibt, seine immanenten 
Kräfte auszuwirken. Jede Vorstellung, ohne Widerstand aufge- 
nommen, gläubig festgehalten, verehrungsvoll fixiert, wirkt auf das 
Bewußtsein zurück. Nun ist der Mensch viel empfänglicher als er 
scheint; sein Unterbewußtsein faßt mehr auf als sein Bewußtsein; 
ihm prägt sich der Glaubensinhalt auf und regt in ihm eine 
Entwicklung an, die naturnotwendig im Sinne des geglaubten 
Vorbildes abläuft. Ist dieses nun weise gewählt, wie solches in der 
Tat von den meisten konkretisierten Idealen aller höheren Re- 
ligionen gilt, so beschleunigt es den inneren Fortschritt; es führt 
der Erkenntnis zu. Und dies im Falle aller Nicht-Begabten weit 
schneller als selbständiges Forschen. Eine Idee ist eine Kraft, die mit 
der gleichen Notwendigkeit die ihr eigentümlichen Wirkungen auslöst 
— organisierend, stimulierend, prokreirend — , wie nur irgendeine 
Naturpotenz, vorausgesetzt, daß sie genügend Glauben findet. Eine 
gläubige Psyche ist das Medium, dessen sie bedarf. Deshalb lehren 
alle Religionen mit Recht, man solle nur glauben ; das weitere finde 
sich von selbst. Der Automatismus der Seelenvorgänge führt 
schneller zum Ziel, als verständnislos arbeitende Autonomie. 
Der Glaube ist also ein Mittel zum schnelleren Erkennen ; 
andere Bedeutung hat er nicht. Deswegen ist es belanglos im 
214 Die Existenz Christi kein religiöses Problem. 
Prinzip, woran man glaubt, ob das Geglaubte wirklich sei, dem 
kritischen Denken standhält. Ungebildete Menschen werden wohl 
immer nur dann zu glauben vermögen, wenn sie gleichzeitig über- 
zeugt sind, daß ihr Glaubensinhalt objektiv wirklich ist: daß Krishna 
wirklich ein Avatar war, die Bibel wirklich Gottes Wort, daß Chri- 
stus im Sinne der Geschichte die Menschheit vom Tode erlöst hat. 
Der Gebildete weiß, daß Glauben im religiösen Sinne und Für-wahr- 
halten im wissenschaftlichen nichts gemein haben mit einander, daß 
es religiös vollkommen gleichgültig ist, ob Christus existiert hat 
oder nicht. Und der vollendet Gebildete, der Spiritualisierte, ver- 
wendet den Glauben nach Wunsch, wie ein Instrument. So weit 
waren die größten unter den Indern. Diese hatten die Vereinigung 
mit Brahman erreicht, sie wußten, daß alle religiöse Gestaltung 
menschlichen Ursprungs ist. Allein sie opferten bald diesem, bald 
jenem Gott, von Herzen gläubig, wohl wissend daß diese Übung 
der Seele nützt. Ramakrishna war zeitweilig Christ und Musel- 
mann ; er wollte sehen, wie diese Ideale wirken ; und während 
dessen glaubte er so stark, daß Mohammed sowohl als Jesus ihm 
im Geist erschienen. Im übrigen hielt er an der Verehrung Kalis 
fest, der göttlichen Mutter, als dem Kulte, der seiner Natur am 
besten entsprach, der Wahrheit bewußt, daß keine Form der Gott- 
heit wesentlich eignet. 
Überall, wo eine Religionsform allen gemäß sein soll, erscheint 
es notwendig, den Akzent auf den Glauben zu legen ; nur Glauben 
ist allen gemäß. Durch Erkenntnis gelangt zu Gott nur der Be- 
gabte ; auf dem Wege der Liebe nur der, dessen Natur reich an 
Gefühlsmöglichkeiten ist; auf dem des Werks nur der physisch- 
Energische. Jeder Weg ist nur bestimmten Temperamenten an- 
gemessen, und seine Anlagen vermag kein Mensch zu ändern. 
Aber glauben, vertrauen, kann jeder im Prinzip. Hierher rührt es, 
daß das Gebot des Glaubens überall auf die Dauer zur Vor- 
herrschaft gelangt ist, sogar unter den Nachfolgern Buddhas, 
dessen Lehre doch wie keine andere den Nachdruck auf selb- 
ständiges Erkennen* gelegt hatte; es bedeutet nicht, daß ein 
höheres Prinzip niedere verdrängt hätte (es sei denn, man heiße den 
Willen zur Katholizität ein höheres Prinzip). Aber irgendeinmal 
kommt der Augenblick, wo der Glaube seine Heilkraft zu Verlieren 
beginnt. Er ist da, wenn der Verstand sich emanzipiert hat. Dieser 
beginnt seine selbständige Laufbahn als zerstörendes und zer- 
Intellektualisierung zersetzt den Glauben. 215 
setzendes Element; erst wo er reif geworden ist, vermag er auf- 
zubauen. Wo «r nun zur Dominante einer Seele wird, dort ver- 
ändert sich deren Bewußtseinslage. Sie erscheint jetzt außerstande, 
ihr Tiefstes unmittelbar, wie vorher, zu realisieren, sie kann es nur 
durch den Intellekt hindurch, und da dieser tieferen Problemen zu- 
nächst nicht gewachsen ist, so verliert sie alle Fühlung mit ihrer 
Tiefe. Sie wird oberflächlich. So sind die Menschen unseres Altertums 
oberflächlich geworden, nachdem ihr Verstand die vom Glauben ge- 
setzten Schranken durchbrochen hatte, und Gleiches gilt seit den 
Tagen der Reformation von uns Modernen. Was ist da zu tun? 
Das schlechteste aller Mittel wäre, den Intellekt unterdrücken zu 
wollen, die Rückkehr zum Köhlerglauben zu befürworten: es ist 
ein Vorzug, kein Nachteil, daß der Mensch verstandeskräftiger wird. 
Es gilt den Intellekt zu vertiefen. Ist dieser so weit, des Glaubens 
Sinn zu verstehen, die tiefe Bedeutung alles dessen, was er 
anfangs für Unsinn hielt, dann wird er auch wieder religiös 
werden. Vorher nicht. Der moderne Mensch ist ein wesentlich 
intellektuelles Wesen. Nur was er verstanden hat, wird zur Lebens- 
kraft in ihm. So möge er denn möglichst bald möglichst viel von 
dem verstehen, was seine unreflektierten Vorfahren groß gemacht. 
Nichts ist häufiger unter den Betern am Ganges zu vernehmen, 
als die Wiederholung der heiligen Silbe Ortl. Diese soll den 
letzten Sinn der Welt verkörpern, das A und ü aller Weis- 
heit ; ferner die Tugend besitzen, dank den besonderen Inner- 
vationen, die bei ihrer Aussprache statthaben, nach genügend aus- 
dauernder Wiederholung den Organismus dem Zustande zuzuführen, 
welcher der Realisierung des Atman am günstigsten ist. Es mag 
Wahres daran sein. Ich habe mir zeigen lassen, wie man das Om 
herauszubringen hat : es ist nicht leicht ; lange kann es anscheinend 
keiner auf die einzig-ersprießliche Weise tun ; es ist gut möglich, 
daß die Kombination bestimmter Körperbewegungen mitbestimmten, 
gleichzeitig festzuhaltenden Vorstellungen auch in diesem Falle 
nachhaltige Veränderungen im psychophysischen Gleichgewicht ein- 
leitet. 
Aber selbst wenn der Glaube an die physische Wirkung der Om- 
Artikulation gegenstandslos sein sollte, bliebe der an die Tugend 
der Wiederholung gerechtfertigt. Der „Aberglauben" hat Recht 
2 1 6 Die Silbe Om; Wert der Wiederholung; Form und Sinn. 
gegenüber dem Rationalismus: es hat Sinn, einen geistigen Inhalt, 
von dem man ergriffen werden will, laut zu wiederholen. Napoleon 
pflegte zu sagen, la seute formale rhetorique serleuse c'est la repe- 
titlon: er wußte, daß. man durch Wiederholung zuletzt jenes Unter- 
bewußtsein beeinflußt, aus dem alles Tiefe und Dauerhafte stammt. 
In eben dem Verstände nützt es dem Gläubigen, sich das, was er 
realisieren will, in möglichst kurzen Worten vorzusprechen. Solche 
Wiederholung wirkt stärker als Denken ; sie beeinflußt das Unter- 
bewußtsein unmittelbar, das alle Inhalte automatisch mit dem 
Wort verknüpft, welche das Oberbewußtsein je mit ihm assoziert 
hatte. 
Aber freilich ist dies Verfahren nur im Falle dessen wirk- 
sam, dem das Wort einen lebendigen Sinn bedeutet und ernstlich 
zu tun ist darum, es in Leben umzusetzen. Die meisten Beter am 
Ganges „plappern wie die Heiden", was immer die Idee ihres 
Handelns sei, mit keinem besseren Erfolg, als daß die andauernde 
Wiederholung der gleichen Laute sie in angenehmen hypnotischen 
Halbschlaf einwiegt. Ist je einem Gnaden- und Erbauungsmittel 
dieses Schicksal des Sinnlos-Werdens erspart geblieben? Ich glaube 
nicht. Desto weniger, als sie an sich ja alle sinnlos sind, genau 
nur soviel Sinn verkörpern, als der, welcher sie anwendet, ihnen 
zu schenken weiß. Das hat vielleicht kein religiöser Führer, mit 
der einzigen Ausnahme Buddhas, eingesehen ; die meisten haben 
gemeint, was ihnen nütze, müsse allen nützen. Alle großen in- 
dischen Bhaktas haben das bloße Wiederholen des Namens Gottes 
als wirksamste geistliche Übung gepriesen. Für sich selbst mit 
Recht: in ihren exaltierten Seelen rief sie alle Vorstellungen, die 
sie allenfalls mit ihm verknüpfen konnten, besser wach als jedes 
umständliche Gebet, welches einerseits mehr Aufmerksamkeit auf 
den "Wortlaut erforderte, andrerseits nie auch nur annähernd soviel 
besagen konnte, als der Name Gottes ihnen bedeutete. Ihren 
Jüngern nützte die gleiche Übung schon weniger, da deren 
Seelen nicht von der gleichen Glut verzehrt wurden, und deren 
Schülern bald überhaupt nichts mehr. — Es ist wohl ausgeschlossen, 
daß je eine Formel gefunden werden wird, die als solche einen 
religiösen Inhalt festzuhalten imstande wäre. Riten sind gut, denn 
sie regen seine Neuentstehung an ; Dogmen sind immer mißlich, 
denn sie verfälschen ihn. Hierfür gibt Luther wohl das eindrucks- 
vollste Beispiel ab. Ich wüßte von wenigen gewaltigeren religiösen 
Die Tragödie Martin Luthers. 2 1 7 
Erlebnissen, als es das seine war ; was er unter „Rechtfertigung 
durch den Glauben" verstand, war ein so Ungeheures, eine so tief- 
innerliche religiöse Erfahrung, wie sie in der ganzen Geschichte des 
Christentums außer ihm nur Augustin vielleicht beschieden gewesen 
ist. Nun aber die Formel „der Rechtfertigung durch den Glauben" 
selbst! Sie ist eine der unglücklichsten, die je gefunden ward, 
vielleicht die oberflächlichste aller möglichen Fassungen. Sie zwingt 
geradezu zur Auffassung, daß die Tatsache des Anerkennens eines 
bestimmten Dogmenkomplexes genügt, die Seele zu rechtfertigen 
und zu erlösen ; daß alles tiefere Streben überflüssig, wenn nicht 
vom Übel ist. Dementsprechend hat Luthers Formel auf ihre An- 
hänger gewirkt. Die lutherische Religiosität wurde nur zu bald zu 
dem, was sie im großen und ganzen heute ist: einem billigen 
Fürwahrhalten gewisser Dogmen, gepaart mit noch billigerem 
Vertrauen auf Gottes Güte ; zu einer Religiosität, die alles 
tiefere Erleben ausschließt. Im Fortwirken von Luthers Gottes- 
erlebnis liegt echte Tragik. Die desto größer erscheint, wenn man 
erkannt hat, daß sie unabwendbar war: Luthers Erlebnis war ein 
schlechterdings Einziges ; es konnte nicht verallgemeinert, kaum 
fruchtbar gemacht, werden. Martin Luther war zu wenig universell, 
um im Guten vorbildlich zu wirken. Und gerade er hat eine neue 
Epoche einzuleiten gehabt. . . . 
Gestern, gegen Sonnenuntergang, habe ich den einen Schau- 
Heiligen gesehen, von dem meine indischen Freunde mir 
sagen, daß er ernstzunehmen sei. Der Mann hat mir sehr 
imponiert. Nicht, weil .er nun schon sieben Jahre in einem tauben- 
schlagartigen Gehäuse sitzt, das er nur einmal täglich verläßt, um 
im Ganges zu baden, und weil er diese ganze lange Zeit hindurch 
kein Wort geäußert hat; nicht weil sein Gymnosophisten-Dasein 
den Abschluß eines erfolgreich-tätigen Schulmeisterlebens darstellt 
— in diesem Zusammenhang ist fast jeder Inder bewunderns- 
wert, da fast jeder noch fähig ist, von heute auf morgen der 
Welt zu entsagen und in Armut und Abgeschiedenheit seine Tage 
zu beschließen : imponiert hat mir der Heilige durch seinen hoch- 
intelligenten, wunderbar durchgeistigten Gesichtsausdruck. Seine 
Augen zeigen nichts von dem feuchten Glanz, der emotionellen 
Halluzinanten eignet, seine Züge nichts von jener Entrückung, 
218 Ein Schau-Heiliger ; Metaphysik als Kompromiß. 
die zugleich ein Wahrzeichen der Verrückung des inneren Gleich- 
gewichtes ist. Wohl geht sein Bewußtsein ganz im Innerlichen 
auf, aber es muß sein wirkliches Innerstes sein, welches es 
spiegelt, denn sonst könnte sein Ausdruck kein dermaßen reeller 
sein ; er schaut so gehalten-kraftvoll drein, wie nur irgendein 
Mann der Tat. Wenn dieser reden wollte, er könnte viel offen- 
baren. Allein er redet nicht. Ich kann das gut verstehen. Das 
Mitteilungsbedürfnis schwindet gleichen Schritts mit der fortschrei- 
tenden Verinnerlichung, und wer nicht das Temperament eines 
Wissenschaftlers hat, wer nicht insofern Weltkind bleibt, wie welt- 
fern sein Ziel immer sei, der wird immer einsilbiger, bis daß er zu- 
letzt verstummt. Das liegt daran, daß alles Äußerste ausschließlich 
ist. Wer buchstäblich hinter seine Gedanken kam, der weiß, daß 
seine eigentliche Meinung nicht mitteilbar ist, weil Eigenart 
einzig ist und im gleichen Sinne nur von einem verstanden werden 
kann, wie das Sein einer bestimmten Persönlichkeit nur von dieser 
einen gelebt zu werden vermag. Was unsereiner anstrebt, erscheint 
vom Atman her gesehen als Kompromiß. Was tue ich, indem ich das 
Metaphysisch-Wirkliche objektiv zu bestimmen strebe? Ich suche 
nach einem Schema, das es allseitig umgrenzte, und dieses Schema 
könnte ich finden. Aber nachdem dies geschehen, wäre das, was 
ich meine, nicht als solches ausgedrückt, sondern nur seinen äußeren 
Umrissen nach umschrieben. Freilich könnte es scheinen, als hätte 
ich mehr getan, denn wenn die Umrisse sowohl deutlich als richtig 
hingezeichnet sind, so wird jeder andere verständnisfähige Mensch 
den Inhalt selbständig hineintun, so daß er glauben möchte, ich 
hätte ihm das Ding gezeigt. Das hätte ich aber nicht wirklich ge- 
tan, weil es unmöglich ist. Aller wissenschaftliche Ausdruck ist 
nur ein Rahmen dessen, weß man sich ohnehin bewußt sein muß, 
um es zu erkennen ; wer da kein Selbst besitzt, oder auch nur 
kein dem meinen ähnliches Selbstgefühl, wird nie verstehen, was 
ich meine, und gäbe ich die bestmögliche Definition. Der Heilige, 
welchem der Fortschritt der Wissenschaft gleichgültig dünkt, zieht 
es drum vor, sein Wissen für sich zu behalten, da er es als solches 
doch nicht aussprechen kann. 
Nach modern-europäischen Begriffen beurteilt, erscheint das 
Leben solches Mannes ganz wertlos ; er tut ja nichts, lehrt nicht 
einmal, lebt nur sich selbst, und läßt sich obendrein von seinen 
Mitmenschen durch Opfergaben erhalten. Die Inder beurteilen es 
Indische Auffassung von Menschenwert. 219 
ais wertvoller, als es das des tätigsten Philanthropen wäre. Sie 
sind dankbar für sein Dasein, rechnen es sich zum Segen an, daß er 
unter ihnen weilt, und zur Ehre, daß sie zu seiner Erhaltung bei- 
steuern dürfen. Hierin äußert sich eben die spirituelle Idealität, 
von der ich schon in Ceylon zu reden Gelegenheit hatte: es ist 
dem edleren Menschen Bedürfnis seinem Ideal zu dienen, Bedürf- 
nis dies im Schein der Selbstlosigkeit zu tun. Aber wie ist es zu 
verstehen, daß gerade der untätige Heilige dem Inder sein Ideal 
verkörpert? — Hier fasse ich ein entscheidendes Motiv seiner Welt- 
anschauung. Unzweifelhaft liegen die Dinge nicht so, wie die 
Theosophen meinen, die ihren Okzidentalismus nun einmal nicht 
abschütteln können, und sich den Tatbestand mundgerecht machen, 
indem sie ihn dahin umdeuten, daß der Yogi tatsächlich viel mehr 
arbeitet, als der weltliche Arbeiter, nur tue er es in einer anderen 
Sphäre ; er sende rastlos astrale und mentale Schwingungen aus, 
die der übrigen Menschheit mehr Nutzen brachten, als alle irdischen 
Werke. Das mag so sein ; aber das meinen die Inder nicht. Sie 
meinen, daß es auf Tun, auch auf Gutes-Tun, nicht wesentlich an- 
kommt. Nur das Sein ist von wirklicher Bedeutung. Wozu die 
Menschheit glücklicher machen, belehren, bessern wollen, wo jeder 
genau auf der Stufe steht, zu der er sich im Lauf seiner Verkör- 
perungen hinaufgearbeitet hat, genau soviel Gutes erfährt, genau 
soviel leidet, als er verdient? Unmittelbar kann man anderen 
überhaupt nicht helfen ; keinerlei Wohltätigkeit, auch die ener- 
gischeste, bestorganisierte nicht vermindert die Sünde, das Elend 
in dieser Welt. Da Unglück und Glück von der inneren Verfassung 
abhängen, wird durch noch so günstige Veränderung der äußeren 
Verhältnisse nichts Wesentliches geleistet. Freilich ist Wohltun ge- 
boten, Arbeit für andere, Wohlwollen, Selbstopferung — aber 
wozu? auf daß der Wohltäter innerlich vorwärts komme, nicht weil 
anderen damit viel geholfen würde. Um seiner selbst willen 
soll der Mensch das Gute tun; es gehört zur Sädhana, 
die der Vollkommenheit zuführt. Wer nun vollkommen ist, oder 
nahe daran, der bedarf dieser Übung nicht mehr. Der braucht 
nicht mehr zu handeln, nichts zu leisten ; der hat das Ziel aller 
möglichen Arbeit erreicht. Der ist entselbstet, den Banden des 
Ich entwachsen ; was immer er tun mag, ist bedeutungslos für 
ihn. Für die anderen aber? — Auf die anderen kommt es in dem 
Sinn nicht an, wie der Westen wähnt in seinem Aberglauben, es 
220 Fluch der Wohltätigkeit; Überschätzung der Arbeit. 
sei anderen wesentlich zu helfen. Altruismus ist keinen Deut mehr 
wert als Egoismus, ja er kann verderblicher wirken insofern, als 
er den Gewinn dessen, welcher ihn ausübt, durch den Nachteil 
vieler anderer erkauft. Es ist kaum möglich einem anderen wohl- 
zutun, ohne diesen in seiner Selbstsucht zu befestigen; dieser 
sieht doch, daß seine persönlichen Wünsche ernstgenommen 
werden und das beeinflußt ihn im Sinn seines Verderbens. Es 
lenkt seine Aufmerksamkeit auf sein persönliches Glück, erschwert 
es ihm frei zu werden von sich, und auf Befreiung (Mukti) allein 
kommt alles an. Nur dadurch kann man anderen wahrhaft nützen, 
daß man ihnen ein Beispiel gibt. Nun gibt der Yogi, der allen 
irdischen Fesseln entwachsen ist, der hinaus ist über Arbeit und 
Werk, über Egoismus und Altruismus, über Zu- und Abneigung, 
von allen das höchste. Deshalb ist sein Dasein unter Menschen 
wertvoller, als das des nützlichsten der Arbeiter. 
Wie weit diese Auffassung im ganzen zutrifft, will ich heute 
nicht ergründen. Sicher schließt sie zwei allgemeingültige Wahr- 
heiten ein. Die erste von diesen ist die, daß Arbeit nur ein Mittel, 
kein Zweck ist. Es ist sicherlich richtig, daß die innere Not- 
wendigkeit der Arbeit für einen Menschen die Jugend seiner Seele 
beweist. Wenn der rohe Mensch nicht arbeitet, so verkümmert er, 
verschließt er sich die Möglichkeit des Fortschritts ; der Grand- 
Seigneur braucht nichts zu tun, und bleibt doch auf der Höhe ; 
der Weise vollends ist erhaben über alle Beschäftigungsnot- 
wendigkeit. Nun beziehen sich alle ewigen Werte auf das Sein, 
nicht auf die Leistung ; diese ist genau nur insoweit von wesen- 
hafter Bedeutung, als sie ein Sein vergegenständlicht. Nichts 
illustriert diese Wahrheit deutlicher, als die westliche Zivilisation, 
die auf der entgegengesetzten Auffassung aufgebaut ist. Die Okzi- 
dentalen leben ihrer Arbeit, sehen in ihr das Wichtigste, das Eigent- 
liche, beurteilen alles Sein nach seiner Effikazität. Mit dem Erfolg, 
daß ihre Leistungen wohl alles überflügeln, was je auf Erden 
geschaffen worden ist, das Leben jedoch zu kurz kommt wie nie 
vorher. Je mehr ich vom Orient sehe, desto unwesenhafter erscheint 
mir der Typus des modernen Abendländers. Er hat eben sein Leben 
zugunsten eines Lebensmitteis abgedankt. — Die zweite absolute 
Wahrheit, die in der indischen Weltanschauung beschlossen liegt, 
ist die, daß man durch Wohltun wesentlich nur sich, nie anderen 
nützt. Eine ungeheure Selbstüberhebung, gepaart mit kläglichem 
Überschätzung der Arbeit; der Wohltätige nützt nur sich selbst. 221 
Mißverstehen liegt im Glauben beschlossen, der die westliche Wohl- 
tätigkeit beseelt. Es ist erfreulich, daß sie besteht: sie bringt die 
Wohltäter vorwärts ; daß sie die Empfangenden vielfach schädigt, 
ist gewiß, aber deren Nachteil ist im ganzen wohl geringer, als der 
Vorteil, welchen jene von ihr haben. Aber deren Gewinn würde noch 
viele Mal größer sein, wenn sie nicht im Wahne befangen lebten, 
anderen Gutes zu tun ; zu geben, nicht vielmehr zu empfangen ; 
auf Dankbarkeit rechnen zu dürfen. Dieser Wahn bringt sie oft um 
ihren Lohn. Man sehe sich unsere typischen Wohltäter an : sie sind 
meist Pharisäer der schlimmsten Sorte, selbstbewundernd, selbst- 
gerecht, agressiv, präpotent, takt- und rücksichtslos, eine mora- 
lische Plage für ihre Klienten. Wenn sie wüßten, daß sie nur sich, 
nichf anderen wesentlich nützen, indem sie ihr Überflüssiges her- 
geben, daß sie also mehr Grund haben den Armen dankbar zu sein, 
als Dankbarkeit von ihnen zu erwarten, ihr Tun wäre segensreicher. 
Es brächte sie schneller vorwärts, ließe sie liebenswerter er- 
scheinen ; vor allem aber erzeugte es in den Seelen der Armen 
nicht den inneren Widerstand, welchen Dankforderung in den 
meisten wachruft und auf den soviel der innerlichen Schrumpfung 
zurückzuführen ist, die bei unseren Armen vorherrscht; endlich er- 
schiene dann der Akzent der Lebensbewertung weniger ausdrück- 
lich auf das Unwesentliche verlegt. Wer sich einbildet, Wunder 
was Gutes zu tun, indem er einen Notleidenden zufrieden stellt, 
der bekennt damit die Weltanschauung, daß materielles Wohl- 
befinden die Hauptsache sei. 
Unter den Eingeborenen kidiens, wie des ganzen Orients, 
herrscht de facto viel mehr Wohltätigkeit, als unter uns. Das 
Zusammenhangsgefühl ist dort so groß, das Einzigkeitsbewußtsein 
so gering, daß es keines außerordentlichen Entschlusses bedarf, um 
seine Nächsten an seinem Besitze teilhaben zu lassen. Wenn man 
von Katastrophen absieht, echten Hungersnöten, erscheint der Arme 
im Orient der Gefahr des Verhungerns viel weniger ausgesetzt als 
unter uns. Jeder gibt, soweit er kann, dem Bedürftigen, unter- 
stützt arme Verwandte, Kranke, Pilger und Wanderer ; er tut es 
wie selbstverständlich, ohne Aufhebens davon zu machen, glaubt 
nicht, etwas Besonderes damit zu tun, rechnet vor allem nicht auf 
ewige Dankbarkeit. Er weiß, daß er zu seinem Besten wohl- 
tut. Deshalb herrscht im ganzen weiten Osten so unverhältnis- 
mäßig viel weniger Ressentiment unter Armen den Wohlhabenden 
222 Der Orient barmherziger als der Okzident. 
gegenüber, so viel weniger Überschätzung des Reichtums, eine so 
viel freiere Stellungnahme materiellen Bedürfnissen und deren Be- 
friedigung gegenüber. Dort macht sich kein Bedürftiger etwas 
daraus, Unterstützungen anzunehmen ; dort fällt es keinem Geist- 
lichen ein, für Opfergaben besonders zu danken ; dort ist die 
Existenz eines Heiligen selbstverständlich, der, nichts tuend, von 
seinen Mitmenschen erhalten wird. So sollte es überall sein. Aber 
schwerlich wird der stoffbeschwerte Westen so bald einen so 
hohen Standort erklimmen. 
Benares ist überfüllt von Kranken und Siechen. Kein Wunder: 
ein großer Teil der Pilger zieht ja her, um am Gestade des 
Ganges zu sterben. In diesen Tagen habe ich mehr von dem 
zu sehen bekommen, was den Prinzen Siddhartha einst zum Ver- 
lassen der Welt bewog, als je vorher. Und doch habe ich nie 
weniger Mitleid empfunden. Diese Leidenden leiden so wenig ; 
sie haben vor allem so gar keine Todesfurcht. Die meisten sind 
überglücklich, am heiligen Strom dieses Dasein beschließen zu 
dürfen, und was das jeweilige Ungemach betrifft — nun, das muß 
eben ausgestanden werden ; gar lange währt es ja nicht mehr. Und 
sicher amortisiert sich in ihm eine alte Schuld. — Der Glaube der 
Inder soll pessimistisch sein ! Ich kenne keinen, der es weniger 
wäre. Er statuiert eine Weltordnung, in der die Wesen mit Un- 
vermeidlichkeit aufwärts steigen, in welcher es höchstens unter 
Milliarden einem gelingt, hinabzusinken. Der ganze Weltprozeß 
trägt ihn, wofern er fortschreitet, des ganzen Widerstand muß er 
überwinden, um zu verderben. Das Ziel dieses Aufstiegs ist freilich 
keines, dem der Westländer zulächeln mag ; seine Seele ist noch 
zu jung, um nach Befreiung zu streben. Aber sicher ist, daß diese 
dem Hindu die gleiche Seeligkeit verspricht, wie dem Christen sein 
Himmel. 
Diesen Tag habe ich mit den Mitgliedern der hiesigen Rama- 
krishna-Mission verbracht. Die hat ein Asyl gegründet, in welcher 
die zum Sterben nach Benares Gekommenen Heimstatt und Pflege 
finden können. Wenige Kranke kämen wohl von selber darauf, um 
Aufnahme nachzusuchen ; dazu dünkt ihnen ihr körperliches Leiden 
nicht wichtig genug. Aber eine bestimmte Anzahl Mitglieder der 
Mission macht täglich die Runde durch die Gassen der Stadt und 
Der Inder kennt keine Sunde in unserem Sinn. 223 
sammelt die Siechen ein, deren Zustand ihnen am schlimmsten dünkt. 
Nie habe ich in einem Krankenhause geweilt, in dem eine freudigere 
Stimmung geherrscht hätte ; die Heilsgewißheit versüßte aller Leiden. 
Und die Qualität der Nächstenliebe, welche die Pfleger beseelte, 
war exquisit. Diese Menschen sind wahrlich echte Nachfolger 
Ramakrishnas, des Gottestrunkenen. Voll Liebe und doch allver- 
stehend, unfanatisch, unzudringlich. So wie alle Menschenfreunde 
sein sollten. 
Der Umgang mit ihnen hat mir das, was die indische Frömmig- 
keit von der christlichen auch dort, wo sich beide Religionen am 
nächsten kommen, unterscheidet, recht deutlich zum Bewußtsein 
gebracht: der Inder kennt kein Sündigkeitsgefühl. Wohl kommt 
das Wort Sünde in seiner religiösen Literatur, falls den Über- 
setzungen geglaubt werden darf, nicht selten vor, aber der Inhalt, 
der ihm entspricht, ist ein anderer. Was wir Sünde heißen, kennt 
der Inder nicht. Er kann es nicht kennen, sintemalen er alle Ver- 
gehen (wie auch alle guten Handlungen) der Mäyä zurechnet, so 
daß keines metaphysische Bedeutung besitzt. Jede Tat zieht, dem 
Gesetze des Karma gemäß, ihre naturnotwendigen Folgen nach 
sich ; die hat jeder auf sich zu nehmen, von denen kann keine 
Gnade befreien. Die Erlösung aber besteht in der Befreiung von 
aller Naturbestimmtheit überhaupt, und ist diese erreicht, so er- 
scheint aller Taten Spur verwischt. — Aber mit dieser Feststellung 
ist das eigentliche Problem noch nicht berührt. Das christliche 
Sündigkeitsbewußtsein beruht weniger auf dem Tatbestand der ge- 
glaubten Sündhaftigkeit, als auf dem Gebot, ihrer ständig zu ge- 
denken. Und dieses verbieten die indischen Heilslehren. In denen 
heißt es : wie der Mensch von sich denkt, so werde er ; stellt er 
sich dauernd als schlecht und niedrig vor, so werde er schlecht. 
Der Mensch soll nicht möglichst schlecht sondern möglichst gut 
von sich denken; nicht so zwar, daß er seinen jeweiligen Zustand 
exaltiert, sondern daß er niemals zweifelt, besser werden zu können. 
Es gäbe nichts Fortschritts fördernderes als Optimismus, nichts Ver- 
derblicheres, als Mangel an Selbstgefühl. Wer an sich selbst nicht 
glaube, der sei im eigentlichsten Sinne Atheist. Das Höchste wäre, 
wenn ein Mensch sich nicht als Sündigsten der Sünder, der christ- 
lichen Vorschrift gemäß, sondern dauernd als vollkommen vorstellen 
könnte: dem würde gewiß noch in diesem Leben die Vollkommen- 
heit zuteil. 
224 Fluch des Sündigkeitsbewußtseins. 
Wieder einmal ist der Hinduismus absolut im Recht; aus dem 
Verbot, bei der Sündhaftigkeit zu verweilen, spricht vollendete 
Seelenkenntnis ; nichts könnte prinzipiell verfehlter sein als die 
christliche Auffassung. Ohne Zweifel sind unzählige Gebrechen der 
westlichen Menschheit auf diesen psychologischen Irrtum zurück- 
zuführen. Heute darf er ja wohl als überwunden gelten. Nicht nur 
die emanzipierten Geister unter uns verwerfen die traditionelle 
Lehre, ein Gleiches geschieht immer mehr innerhalb der lebendig 
gebliebenen und folglich fortwachsenden Zweige der christlichen 
Kirche. Dieser Begriff der Sünde ist ein Überbleibsel aus dem Vor- 
stellungskomplexe roher Zeiten, Dazumal war er heilsam genug: 
nur durch ständige Angst vor dem Zorne Gottes konnten unsere 
gewalttätigen Vorfahren im Zaum gehalten, nur durch Zerknir- 
schungskrisen hindurch einem höheren Zustande zugeführt werden. 
Auch heute noch tut vielen das Sündigkeitsbewußtsein gut. Und 
vielen ist es ferner so lieb, daß sie es wohl trotz besserer Ein- 
sicht weiterpflegen werden. Der Masochismus liegt dem Menschen 
tief im Blut; bis zu einem gewissen Grade empfindet jeder es als 
lebenssteigernd, von Übermacht vergewaltigt zu werden ; aus der 
Zerknirschung der meisten christlichen Büßer klingt vernehmlich 
die Note der Wollust heraus. Gleichwohl wird jede spiritualisierte 
Menschenart früh oder spät den Sündigkeitsbegriff verwerfen 
müssen; von einem gewissen Punkt ab schadet er nur, denn in 
und an sich ist er verfehlt. Wohl gibt es Sünde — Sünde heißt 
man das, was der Mensch dem Gott in sich zuwider denkt und 
tut; in diesem Verstände wird jeder tiefere Mensch in aller Zu- 
kunft Sündbewußtsein kennen. Aber es gibt keine Sündigkeit im 
christlichen Sinn, keine Sünde, die nur und wesentlich Fessel 
wäre. Der Mensch, wie er dasteht, ist das Produkt seiner 
eigenen und seiner Vorfahren Taten. In jedem Augenblicke seines 
Daseins erlebt er die Vergeltung, welche der Christenglaube 
dem Jenseits aufspart. Und nichts, was er getan hat, richtet ihn. 
Solange die Seele lebt, solange ist sie des Aufstiegs fähig, ja 
meist gelangt sie aus rabenschwarzer Nacht heraus am schnellsten 
in den Glorienschein des Tags, weil deren Schrecken sie zur Er- 
kenntnis zwingen, die ihr das Dämmerlicht nicht notwendig bringt, 
daß und inwiefern sie irre geht. — Hier, wie in so vielen anderen 
Fällen, stehen uns die Inder als die älteren und weiseren gegenüber. 
Aber nicht die Weisheit allein, auch die Torheit hat ihre Vorzüge. In 
Fakirn als Rückbildungen dem Tiere zu. 225 
Adyar, dächte ich, verweilte ich dabei, wie gut uns der wahnwitzige 
Glaube an eine ewige Verdammnis getan, wie sehr ihre tiefere 
Lehre der Masse der Hindus geschadet hat. Ähnlich steht es mit 
dem Sündigkeitsbewußtsein. Dieses schafft ein Pathos, das nichts 
ersetzen könnte, gibt dem Erleben eine spezifische Tiefe, die mit 
ihm steht und fällt. Von allen Menschen haben die Puritaner und 
die Muslim am meisten, die Hindus wohl am wenigsten Charakter. 
Das liegt daran, daß jene an ein massives unabänderliches Schick- 
sal glauben, das dem Menschen als ein Äußerliches entgegensteht, 
diese hingegen an dessen schlechthinige Autonomie. Der indische 
Glaube entspricht der Wirklichkeit; im vollendet gebildeten Men- 
schen gestaltet er das Höchste, was an Menschentum denkbar ist. 
Den ungebildeten hingegen entspannt er; er legt ihm nahe, sich 
gehen zu lassen, schlaff dahinzuleben. Dem bekommt es wohl 
besser, an der heilsamen Furcht vor einer noch so fiktiven äußeren 
Macht ein Motiv dauernder Selbstkontrolle zu haben. 
Freilich wird der an Benares eine arge Enttäuschung erleben, 
der in der heiligen Stadt nur Heiligen und Weisen, nur dem 
Ausdruck echter Religiosität und tiefsten Verständnisses zu 
begegnen erwartet: nirgends auf der Welt, im Gegenteil, bekommt 
man mehr Aberglauben und mehr Unverständnis, mehr merkantiles 
Pfaffentum und wohlberechneten Schwindel zu sehen. Es ist nicht 
möglich, daß die Masse dort nicht abergläubisch wäre, wo das Sicht- 
und Greifbare so sehr dazu verleitet; nur der Entwickelte kann 
sicher unterscheiden zwischen Symbol und empirischer Wirklichkeit. 
Und es wäre unmenschlich, wenn sich keine Leute fänden, die 
solches Mißverstehen nach Möglichkeit zu Geld machten. Unter 
den Yogis trainiert sich ein allzu großer Teil nicht aufwärts zu Gott, 
sondern abwärts zum Tiere zurück: denn wenn einer Macht über 
sonst dem Willen nicht unterworfene Muskeln gewinnt, z. B. den 
Herzschlag bewußt regulieren lernt, so bedeutet das, daß er in den 
Zustand des Wurmes zurückgerät; insgleichen, wenn einer sich auf 
Wochen, ohne Schaden zu nehmen, begraben lassen kann, daß er 
vermag, was des Winterschlafs fähige Tiere noch besser leisten. 
Diese Hatha-Yogis sind sämtlich stupid, und gelten auch dafür; 
die ganze Energie, über die ihr Intellekt allenfalls verfügen könnte, 
ist bei ihnen im Körper gebannt. Und wohl die meisten Pilger 
Keyserling, Reisetagebuch. 15 
226 Versöhnung von Weisheit und Aberglauben. 
sind mehr oder weniger abergläubisch. Das muß so sein, wo das 
Psychische als das Primäre gilt, denn nur der Begabte und Gebil- 
dete hat genügend Selbstkritik, um ohne Hilfe von außen her wahr- 
haftige von falschen Vorstellungen zu unterscheiden. Der Masse, 
soweit sie vorwärts kommen soll in dieser Welt, bekommt eine 
roh-realistische Veranlagung doch am besten; deshalb macht die 
der Christen und der Mohammedaner einen so viel reelleren Ein- 
druck als die der Hindus. Jene lassen nur das Greifbare gelten ; 
das ist ein Wirkliches, kein Eingebildetes, ein wie geringer Teil 
immer der ganzen Wirklichkeit; während diese, nur zu häufig, auf 
Unwirkliches bedacht, dann selber unwirklich werden. 
Aber gerade darin erweist sich die Tiefe der indischen 
Weltanschauung, daß diese den Irrtum überall als Ausdruck der 
Wahrheit versteht, und so nichts ausschließt am Leben. Der Inder- 
geist hat längst die Bedingtheit aller empirischen Bildungen er- 
kannt; er weiß, daß es von Äußerlichkeiten abhängt, ob einer 
falsch oder richtig denkt, das Gute oder das Schlechte tut, an 
Wirkliches oder Unwirkliches glaubt;, er weiß, daß es Zufallssache 
ist (vom Standpunkte eines gegebenen Lebens gesehen, ohne Rück- 
bezug auf die Totalität der verflossenen), ob einer sich als Heiliger 
oder Verbrecher darstellt: im letzten bedeuten alle Erscheinungen 
das gleiche. Verrückt sich ein Rädchen im Gehirn, so wird aus 
dem Weisen ein Narr ; besonders günstige äußere Umstände 
lassen einen Kleinen groß erscheinen ; eine zufällig nicht gemachte 
Erfahrung enthält dem Gottsucher die letzte Erleuchtung vor: 
wer mag da behaupten, daß Gestaltung zum Wesen in notwendiger 
Beziehung steht? So bedeutet es kein willkürliches Konstruktions- 
prodükt, wenn der Glaube an Falsches dem an Wahres meta- 
physisch gleichgesetzt wird: der Verständnisunfähige muß sich in 
anderer Form mit der Gottheit in Gleichung setzen, als der 
Erkennende. Exoterismus und Esoterismus stehen in Indien in 
wesentlichen Beziehung, als innerhalb des Katholizismus. Letzterer 
statuiert nur ein pragmatisches Band zwischen höheren und 
niederen Ausdrucksformen ; das heißt, exoterische und esoterische 
Wahrheiten gelten für gleichwertig, insofern sie den gleichen 
Zweck erfüllen. Die gleiche Beziehung statuiert der Inder natürlich 
auch ; aber er weiß überdies, daß der Irrtum nicht allein im prag- 
matischen, sondern auch im ontologischen Sinne der Erkenntnis 
gleichwertig sein kann : unter bestimmten empirischen Bedin- 
Versöhnung von Monismus und Dualismus; die Bhagavat-Oita. 227 
gungen — unzulänglicher Verstandesbegabung, Erziehungsmangel, 
ausgesprochener Emotivität usf. — tritt eben das metaphysische 
Wirklichkeitsbewußtsein in Form des Glaubens an Unwirkliches zu- 
tage, das sich dem großen Geiste als reine Erkenntnis offenbart. 
Es ist ganz gleichgültig im Prinzip, ob die Verknüpfung von Sonder- 
vorstellungen mit ihrem letzten objektiven Sinn von Anfang her be- 
stand, oder erst nachträglich hergestellt wurde ; fast immer war 
wohl letzteres der Fall: metaphysische Verknüpfungen bestehen 
unabhängig von der Geschichte. Es geschähe, was da wolle, aus 
welchen Ursachen immer, gleichviel zu welcher Zeit: immer und 
überall werden die Ereignisse die von den Rishis erkannte Wahrheit 
bestätigen. 
So klafft denn kein Bruch zwischen indischem Irrtum und 
indischer Weisheit ; allerorts erscheint es möglich vom einen zum 
anderen hinüberzugelangen. Bei uns ist das anders, weil wir noch 
immer festhalten an der Substantialität von Name und Form, noch 
immer ferner mit dem Intellekte der Ganzheit des Lebens gerecht 
werden wollen. So scheint uns die Wahrheit den Irrtum zu wider- 
legen, der vollkommene Ausdruck den unvollkommenen aufzuheben, 
und wo zwei Vorstellungen sich logisch widersprechen, dort wähnen 
wir, nur eine von ihnen könne richtig sein. Wir befinden uns in 
dieser, wie in so vielen Hinsichten, in einem rudimentäreren Ent- 
wickelungsstadium. Deswegen ist die Mehrzahl unter uns noch 
außerstande, die ganze Tiefe der indischen Weisheit zu verstehen. 
Die Bhagavat-Gita z. B., dies vielleicht schönste Werk der Welt- 
literatur, gilt vielen als philosophisch wertloses Kompilat, weil aller- 
dings viele Denkrichtungen in ihm gleichzeitig zu Wort gelangen. 
Dem Inder erscheint es absolut einheitlich im Geiste. Shankärä- 
chärya, der Begründer der Advaita-Philosophie, des radikalsten 
Monismus, den es jemals gab, war praktisch zeitlebens Dualist, d. h. 
ein Anhänger der Sankhya-Yoga, und als religiöser Praktikant Poly- 
theist. Wie war das möglich? — Shankäräs logische Kompetenz 
steht außer Frage. Er war aber mehr als ein bloßer Logiker. 
So dünkte es ihn selbstverständlich, daß zu verschiedenen Zwecken 
verschiedene Mittel angewandt werden müssen. Über den Dualis- 
mus gelangt praktisch keiner hinaus; es ist unmöglich, das 
Mindeste zu denken, zu wollen, zu erstreben, zu tun, ohne implizite 
eine Zweiheit zu setzen. Wozu es also leugnen? Das ändert an der 
Sache nichts. Aber andrerseits beweist die praktische Unüberwind- 
15* 
!28 Philosophien als Ausdrucksfortnen; keine Gestaltung wesenhaft. 
lichkeit des Dualismus nicht, daß er dem Wesen anhaftet; aller 
Wahrscheinlichkeit hängt sie vielmehr nur ab von der Be- 
schaffenheit des Erkenntnisinstruments. Das Wesen mag trotzdem 
Eines sein, „ohne ein Zweites"; was aber seinerseits nicht ver- 
hindert, daß es sich in der Mannigfaltigkeit manifestiert. So mag 
ein extremer Monist doch zu vielen Göttern beten, wofern ihm das 
die Realisierung des Einen leichter macht. — Shankäräs Auffassung 
stehen andere gegenüber: es gibt Schulen, die auch dem Wesen 
Zweiheit zusprechen, wieder andere, die es sowohl als Einheit wie 
als Zweiheit vorstellen ; es gibt theistische, pantheistische, athei- 
stische Ausdeutungen. Sofern sie unmittelbare Ausdrücke des meta- 
physisch Wirklichen sein sollen, gelten sie sämtlich als gleich- 
berechtigt und orthodox: es sei doch unmöglich, jenseits des Macht- 
bereiches der Vernunft eine gültige Entscheidung zu treffen ; hier 
können alle Philosophien nur Ausdrucksformen sein. Für 
praktische Erkenntniszwecke wird ausschließlich die Sankhya- 
Yoga anerkannt, denn alles praktische Erkennen setzt nachweislich 
Dualität voraus. Als Gläubiger endlich mag jeder es halten, wie er 
will, denn hier kommt ausschließlich der Wahrheitsbegriff des 
Pragmatismus in Frage. Sind die Inder also Eklektiker? Beileibe 
nicht ; sie sind bloß das Gegenteil von Rationalisten ; sie leiden 
nicht am Aberglauben, daß metaphysische Wahrheiten in irgend- 
einem logischen System einer erschöpfenden Verkörperung fähig 
wären ; sie wissen, daß spirituelle Wirklichkeit nie durch eine, 
sondern allenfalls durch mehrere intellektuelle Koordinaten bestimmt 
werden kann. Daß Monismus und Dualismus sich widersprechen, 
bedeutet in diesem Zusammenhang ebensowenig, wie der Wider- 
spruch zwischen dem Fuß- und Metermaßsystem. Natürlich gibt es 
Leute, die auf die eine oder die andere Maßeinheit schwören : das 
ist ihre persönliche Angelegenheit. Es ist sogar unbestreitbar, daß 
zu diesem oder jenem Behuf e die eine vor der anderen Vorzüge 
aufweist: ein Narr ist, wer sich diese nicht zunutze macht. Aber 
nie, nie sind die indischen Weisen — ich rede nur von den 
Weisen, die Pandits, die Schriftgelehrten meine ich nicht — unserem 
typischen Irrtum verfallen, irgendeine intellektuelle Gestaltung meta- 
physisch ernstzunehmen. Diese Gestaltungen sind nicht dichter, 
nicht wesenhafter, als nur irgendein Mäyägebild. Sie können das 
Eigentliche in mehr oder weniger deutlicher und überzeugender 
Symbolik zum Ausdruck bringen — dieses mehr oder weniger ent- 
Warum die indische Weisheit noch kaum erkannt ist. 229 
scheidet über ihren Wert — wesenhaft an sich sind sie nie. Um das 
Wesen allein aber ist es den Indern zu tun. Sie sehen es in allem, 
aus allem hindurch, trotz allem. So lassen sie sich nicht irre machen 
durch intellektuelle Unzulänglichkeit, durch Widersprüche niemals 
beirren. Sie lesen die Gita buchstäblich als „des Erhabenen Ge- 
sang", als den Ausdruck eines göttlichen Geistes, denn Er ist es, 
der aus noch so brüchigem Körper zu ihnen spricht. 
Woher kommt es, daß der eigentliche Sinn der indischen 
Weisheit in Europa noch so unvollkommen erkannt ist, 
trotz der vielen gelehrten Arbeiten, die sie zum Gegen- 
stande haben? — Soweit allgemeine Ursachen überhaupt in Frage 
kommen, dürfte die Hauptschuld wohl dem äußeren Umstände zu- 
zumessen sein, daß unsere bedeutendsten Forscher nur flüchtig, 
wenn je, in Indien geweilt und mit dessen lebendigem Geiste keine 
Fühlung gewonnen haben. Freilich kann es gelingen, ohne Personal- 
und Lokalkenntnis den Geist eines gegebenen Ausdrucks zu ver- 
stehen — so den einer Sprache als solcher, des Wortlauts einer 
Philosophie ; es muß dem Westen gelassen werden, daß er Indien 
in diesem Sinne besser verstanden hat, als dieses sich selbst ver- 
steht. Aber was ein Mensch oder Volk hat sagen wollen, was es 
innerlichst gemeint hat, ist aus dem Ausdruck nur dort zu ersehen, 
wo dieser als vollendete Verkörperung des Sinnes gelten darf. Das 
kann er überaus selten ; es ist sehr fraglich, ob selbst die Kantische 
Philosophie, von allen die eindeutigste, von einem Fremden, außer 
Fühlung mit unserem lebendigen Vorstellungskreis, wirklich ver- 
standen werden könnte. Die indischen Geistesschöpfungen nun 
dürfen weniger als irgendwelche andere in der Weltliteratur 
als vollendete Verkörperungen gelten, sie sind es schon deshalb 
nicht, weil es ihren Urhebern gar nicht darum zu tun war, sich in 
unserem Sinne eigentlich auszudrücken. Weder kam es ihnen auf 
wissenschaftliche Exaktheit, noch auf künstlerische Prägnanz des 
Ausdrucks an. Ihre Schriften zielten auf ganz anderes ab: 
sie sollten einerseits ein Knochengerüst abgeben für die lebendige 
Tradition, andrerseits ein Mitte! zur Realisierung spiritueller Wahr- 
heiten sein, endlich eine leicht faß- und behaltbare Fixierung der- 
selben in konventioneller Symbolik zum Besten der Wissen- 
den. Nicht derer, die erst erfahren wollen. Sie sollten also einge- 
230 Indische Philosophie beruht nicht auf Denkarbeit. 
standenermaßen keine in unserem Sinne eigentlichen Ausdrücke sein. 
Wie sollte es unter solchen Umständen gelingen, aus dem Buch- 
staben den Sinn zu erschließen? — Es ist durchaus erklärlich, wie- 
wohl bedauerlich, daß es zu der ebenso populären als mißverständ- 
lichen Parallelisierung der indischen Philosophie mit der helleni- 
schen und gar der kantischen gekommen ist: auf falsch bestimmte 
Tatsachen sind richtige Theorien nicht zu gründen. 
Die indische Philosophie — sofern sie überhaupt so bezeichnet 
werden darf — ist, um das Wesentliche gleich zu sagen, mit der 
unserigen schon deshalb unvergleichbar, weil sie überhaupt nicht 
auf Denkbarkeit beruht. Man entsinne sich der traditionell-indischen 
Lehrmethodik, wie sie hie und da in den Upanishads erwähnt wird: 
stellt der Schüler eine Frage, so beantwortet der Lehrer sie nicht 
direkt, sondern sagt bloß :* komm und lebe bei mir zehn Jahre lang. 
Und in diesen zehn Jahren unterrichtet er ihn nicht, wie wir es 
verstehen : er gibt ihm bloß einen Satz auf zur Betrachtung. Er 
soll nicht etwa über ihn nachdenken, ihn analysieren, von ihm aus 
entwickeln, konstruieren — er soll sich in ihn versenken, bis daß 
er ganz von seiner Seele Besitz ergriffen hat. Kant pflegte 
seinen Studenten zu sagen : Sie sollen bei mir keine bestimmte 
Philosophie, sondern denken lernen. Gerade das lehrt der indische 
Guru seinen Chelah nie. Sofern dieser überhaupt auf eine bei uns 
bekannte Art studiert, lernt er auswendig — tut also genau das 
Gegenteil dessen, was wir für ersprießlich halten. — Man er- 
innere sich ferner des berühmten Sütrastils : die wichtigsten Er- 
kenntnisse und Lehren der Inder erscheinen in derartig verstümmeln- 
der Kürze dargestellt, daß sie ohne Kommentar schlechterdings 
nicht verstanden werden können : dies geschieht, auf daß der 
Schüler ja nicht in Versuchung gerate, auf unsere Art zu 
studieren. Nach indischer Überzeugung ist Brahmavidya, Wesens- 
erkenntnis (die einzige, die als erstrebenswert gilt), durch Denken 
nicht zu gewinnen ; alles Denken bewege sich in seiner ursprüng- 
lichen Sphäre fort, ohne je über sie hinauszuführen; es sei ebenso 
unfähig metaphysische Erkenntnis zu vermitteln, wie die Sinne. 
Genau wie keine Ausbildung dieser von Wahrnehmungen zu Ge- 
danken führt, könne kein Denken der Welt zur metaphysischen Er- 
kenntnis führen. Solche gewinnt allein, wer eine neue Bewußtseins- 
lage erreicht. Dieser tieferen Bewußtseinslage bedeuteten jene 
ein ebenso unmittelbar Gegebenes, wie dem Auge die äußere Natur 
Unver gleichbar keit der Philosophien Indiens und des Westens. 231 
und dem Verstände die Welt der Begriffe. Also komme es beim 
Studieren nicht auf Denkarbeit, sondern auf Selbstvertiefung an ; 
nicht auf Ergründung der Wirklichkeit vermittelst eines gegebenen 
Instruments, sondern auf Heranbildung einer neuen besseren. Die 
Methoden des Studiums in Indien und bei uns zur Gewinnung philo- 
sophischer Erkenntnis sind also völlig unvergleichbar: unsereiner 
denkt nach, experimentiert, kritisiert, definiert ; der Inder treibt 
Yoga. Sein Ideal ist, durch Verwandlung seines psychischen Organis- 
mus hinauszugelangen über die Grenzen, welche Kant möglicher 
Erfahrung gesetzt hat. 
Aus dieser Unvergleichbarkeit der beiderseitigen Methoden 
folgt die der Ergebnisse. Der Westländer schreitet fort von Ge- 
danke zu Gedanke, induzierend, deduzierend, differenzierend, inte- 
grierend ; der Inder von Zustand zu Zustand. Jener steigt immer 
höher hinan im Reiche der Abstraktionen, von Sonder- zu Allgemein- 
begriffen, von diesen zu Ideen und so fort; dieser wechselt fort- 
schreitend die Form seines Bewußtseins. Nun hat er das, was er 
auf dessen verschiedenen Ebenen erlebt, natürlich objektiviert, be- 
nannt, in Begriffsform ausgedrückt; und diese Begriffe lauten 
vielfach identisch mit den unserigen. Auch der Inder spricht vom 
Absoluten. Aber während dieser Begriff uns eine Stufe der Ab- 
straktion bezeichnet, bedeutet er ihm die Vergegenständlichung 
eines erlebten Zustandes. Also handelt es sich nicht um Identität, 
sondern um Inkommensurabilität. Der Atman ist dem Inder keine 
Vernunftidee, sondern die Bezeichnung einer erreichbaren konkreten 
Bewußtseinstufe, der Purusha keine imaginierte Weltseele, sondern 
ein Erlebensprinzip, und so fort. Wir haben also einerseits, in jeder 
westlichen Weltanschauung, einen systematischen Zusammenhang 
nach Vernunftgesetzen, zu unterst von gegebenen Erscheinungen, zu 
oberst von äußersten Abstraktionen abgegrenzt ; andrerseits die 
empiristische Beschreibung des möglichen Aufstiegs der Seele von 
niederen zu höheren konkreten Daseinsformen. Mögen noch so 
ähnliche Begriffe in beiden Fällen zur Bezeichnung der Etappen ver- 
wandt werden — der Sache nach sind die Philosophien Indiens und 
des Westens vollkommen unvergleichbar. Es besteht keinerlei Zu- 
sammenhang zwischen ihnen. 
Freilich sieht man den lebendigen Kern der indischen Welt- 
anschauung vielfach von harter scholastischer Schale überwachsen. 
Aber wer in dieser das Wesentliche, überhaupt ein Notwendiges 
232 Indische und europäische Scholastik. 
sieht, der irrt sich noch mehr, als der, welcher das Wesentliche c\t\- 
Lehre des heiligen Thomas in dessen logischen Konstruktionen zu 
greifen glaubt : hier wie dort handelt es sich um einen Versuch, das 
als rationalen Zusammenhang darzustellen, was in Wahrheit ein 
lebendig-zuständlicher ist. Solche Versuche glücken nie, können 
nicht glücken, sind infolgedessen nicht ernstzunehmen. Man muß 
durch sie hindurchsehen, wenn man das Wesentliche erkennen will. 
Und dieses Wesentliche ist im Falle der indischen Scholastik nie 
schwer zu fassen ; es liegt meistens offen zutage. Nie sind die Inder 
überzeugte Rationalisten gewesen, wie unsere mittelalterlichen 
Philosophen es doch waren, da keine griechische Erbmasse sie be- 
lastete ; so sind ihre logischen Netze überall fadenscheinig und 
nirgends stark. Alle tieferen Philosophen haben gewußt, was sie 
eigentlich meinten. So gilt denn auch noch unter den indischen 
Scholastikern Yoga-Praxis als der Weg zur Wesenserkenntnis. Die 
Pandits gelten nirgends in Indien als Weise, wie noch immer unter 
uns, sondern für das, was sie sind : für Grammatiker und Antiquare. 
Ich erwähnte den heiligen Thomas von Aquin : in der Tat, 
wenn irgendetwas in der westlichen Literatur mit der indischen 
Philosophie verglichen werden darf, dann sind es die Schriften der 
großen theologischen Doktoren. Aber auch dieser Vergleich führt 
nicht weit, weil diese den ursprünglich gleichen Weg in anderer 
Richtung verfolgt haben als die Rishis. Die katholische Kirche hat 
die Yoga immer nur dazu verwandt, den als wahr vorausgesetzten 
Glauben zu stärken und den Menschen im Geiste eben dieses 
Glaubens der Vollendung entgegenzuführen. Nie hat sie ihn selb- 
ständig erkennen lehren wollen. Selbständige, echte Erkenntnis zu 
vermitteln war die eine Absicht aller Schulung in der erhabenen 
und mühsamen Kunsf der Raja-Yoga. 
Alles Rational-Systematische an der indischen Philosophie ist 
ebensoviel Spreu ; es ist Scholastik im übelsten Sinne. Seit 
es Weltanschauung gibt, sind spirituelles Wissen und schola- 
stisches Denken zupaar gegangen : wo der Geist unmittelbar erfaßt 
(oder zu erfassen glaubt), was höher ist, denn alle Vernunft, dort 
muß er außerordentlich gebildet sein, um dieser ihre Selbständigkeit 
zu belassen. Meist heißt er sie coüte que coute beweisen, was er 
ohnehin schon weiß, und da er der Wahrheit gewiß ist, mithin der 
Indische Philosophie in keinem System restlos verkörpert. 233 
Beweise nicht wirklich bedarf, so befriedigt ihn jede, noch so be- 
denkliche Demonstration, sofern sie nur demonstriert was er voraus- 
setzte. Nur so ist es zu erklären, daß ein so erlauchter Geist wie 
Thomas von Aquin die Unzulänglichkeit seines Systems niemals er- 
kannt hat. 
Die indische Scholastik nun ist noch um vieles schlimmer, als 
die des Westens (wie denn auch die Pandits die übelste Ver- 
körperung des Schriftgelehrtentypus bezeichnen, von der ich wüßte), 
weil die Begriffe, mit denen sie jongliert, ursprünglich gar keine 
Verstandesbegriffe sind, sondern Bezeichnungen für konkrete Zu- 
stände, so daß ihren Konstruktionen jede Basis fehlt. Mehr oder 
weniger scholastisch ist aber alle indische Philosophie. Es nützt 
nichts, Shänkärä oder Ramanuja hier in Schutz zu nehmen: als 
Philosophen waren sie Scholastiker, das heißt, sie gingen von be- 
stimmten Überzeugungen aus, welche ihr Denken auszuführen und 
zu erweisen hatte; das macht sie jedem kritischen Denker des 
Westens unterlegen. So haben Oldenberg und Thibaut unzweifel- 
haft denen gegenüber recht, welche die indische Philosophie in den 
Himmel erheben. Aber es bezeichnet ein arges Verkennen des 
indischen Geistes, wenn man ihn in irgendeinem System restlos 
verkörpert wähnt, überhaupt in irgendeiner bestimmten Weltansicht. 
Dem Advaita stehen Dvaita und Visishtadvaita entgegen, die moni- 
stische Metaphysik ergänzt eine dualistische Daseins- und Erkennt- 
nistheorie ; das scheinbar Gleichmacherische des Spruches tat twam 
asi wird durch subtilstes Unterschiedsbewußtsein aufgehoben, dem 
Entleerenden eines extremen Einheitsbewußtseins durch die üppigste 
Mythen- und Göttersprossung entgegengewirkt. Es gibt in Indien 
überhaupt keinen Monismus, keinen Pantheismus, keine Allheits- 
lehre und kein Einheitsbewußtsein im westlichen Verstände; das 
heißt, nirgends beeinträchtigt letzteres die unbefangene Anerkennung 
der Mannigfaltigkeit. Fern davon, den Reichtum der Erscheinungs- 
welt aufzulösen, bezeichnet die Advaitalehre als solche nur einen 
Ausdruck mehr eben dieses Reichtums ; einen Zweig mehr am über- 
vitalen Stamm des Indergeists. So, nicht anders, haben die Rishis 
sie gemeint. Und bekannten sie sich persönlich zu ihr im Gegensatz 
zu irgendeiner anderen Lehre, so geschah das in dem Sinne, daß 
jedem Wesen irgendeine empirische Form aus empirischen Gründen 
am gemäß esten ist. Es sei müssig, darüber zu streiten, was Brah- 
man an sich sei, ja ob es ihn gäbe, ob er einfach oder vielfach sei. 
234 Die indischen Weisen als Pragmatisten; was Wahrheit ist. 
Das Dasein irgendeiner absoluten Wirklichkeit sei evident; auf die 
weist eben die Bezeichnung Brahman hin. Wie man sich sie vor- 
stelle, hänge ab von der Veranlagung. Der Bhakta wird immer zum 
Theismus neigen, der Gnani hingegen zu einer Lehre, welche das 
Einheitliche betont. Denn je tiefer man eindringe in sich selbst, je 
mehr man sein Wesen im Bewußtsein realisiere, desto stärker würde 
das Einheitsgefühl: also hätte man allen Grund zur Annahme, daß 
vom Standpunkte der Erkenntnis die Lehre von der wesentlichen 
Einheit der beste Ausdruck des Metaphysisch-Wirklichen sei. Die 
Rishis waren als Forscher extreme Empiriker ; nur dem Erlebnis 
trauten sie. Sofern man aber ihre Weltanschauung überhaupt unter 
eine der üblichen Rubriken bringen kann, muß man sie prag- 
matistisch heißen. Sie waren in der Tat die idealen Pragmatisten. 
Gleich würden sie William James und F. C. S. Schiller zugestehen, 
daß alle lebendige Wahrheit in concreto auf Postulate zurückgehe ; 
keine Gestaltung sei metaphysisch wesentlich, jede sei das Pro- 
dukt empirischer Umstände, was im Falle der Erkenntnis besagt, 
daß die Wahrheit des Einzelnen, als bestimmte konkrete Erschei- 
nung, von seinen Anlagen, Vorurteilen und Wünschen abhängt. Nur, 
würden sie lächelnd hinzusetzen, sagt diese Theorie nicht das letzte 
Wort; sie handelt nur vom Ausdruck dessen, was man Wahrheit 
heißt ; der Sinn entgeht der Fassung des Pragmatismus. Es gibt 
ein „Jenseits" der Gestaltung, ein Reich des reinen Sinns, in 
welches kein Postulat hinaufreicht, das aber umgekehrt alle leben- 
digen Postulate beseelt und ihnen die Substanz verleiht. Wer 
nun sein Bewußtsein in diese Sphäre hinaufgehoben hpt, und 
dauernd in ihr zu erhalten weiß, der ist über den Pragmatismus 
hinaus ; der sieht durch alle Postulate hindurch ; dessen Erkenntnis 
spiegelt unverfälscht die rein in sich selbst beruhende Schöpferkraft 
wieder, die der lebendige Seinsgrund aller Erscheinung ist. Von 
dem könnte man sagen, daß er „die Wahrheit" besitzt; aber das 
wäre ein uneigentlicher Ausdruck ; die Pragmatisten hätten voll- 
ständig recht, diesen Begriff (sofern es sich um lebendige, nicht um 
logische Wahrheit handelt) leer zu finden ; denn nur als Ausdruck 
eines Sinns könne er definiert werden, nicht als dieser selbst, und 
aller Ausdruck sei notwendig relativ. Das richtigste wäre zu sagen, 
daß der „Wissende" über Wahrheit sowohl als Irrtum hinaus ist; 
daß es diesen Unterschied für ihn nicht mehr gibt. Er lebt im 
Reich des reinen lebendigen Sinnes, der sowohl als Wahrheit wie 
Indien als Vorbild; Begabung und Yoga. 235 
als Irrtum in die Erscheinung treten Kann. Dieser Sinn ist eine 
Dynamis, ein rein Intensives, kann als solches nicht vorgestellt, nicht 
gefaßt werden ; wo immer, wie immer dies versucht wird, greift 
man anstatt des ewigen Sinnes eine unzulänglich-vergängliche Ge- 
stalt. So bekennt sich auch der Rishi, wo er reden muß, notge- 
drungen zu irgendeinem relativ-richtigen System, das durch Postu- 
late definiert werden kann. Aber man kann diesen Sinn unmittelbar 
leben, von ihm aus denken und handeln, >und dann erscheint es 
irrelevant, was gerade man denkt und tut. . . . 
Das Vorbildliche, ewig Wertvolle an der indischen Weltanschau- 
ung ist der Geist der Tiefe, aus dem sie stammt. Alle seine Gestal- 
tungen können vollkommener gedacht werden ; ich glaube nicht, 
daß man tiefer in das Wesen eindringen könnte ; mir scheint hier 
die äußerste Tiefe erreicht. Die Inder haben den statischen Wahr- 
heitsbegriff überwunden und ihn durch einen dynamischen ersetzt, 
der seinen Sinn transfiguriert: auch wir werden das früher oder 
später tun. Auch wir werden früh oder spät einsehen, daß 
Wesenserkenntnis nicht durch noch so weitgehende Vervollkomm- 
nung des Begriffsapparats, nicht durch noch so erschöpfende 
Erforschung unseres Bewußtseins, wie es ist, zu erreichen ist, son- 
dern nur durch Gewinnung einer neuen, höheren Bewußtseinsform. 
Der Mensch muß sich erheben über sein sekulär.es Erkenntnis- 
instrument; hinausgelangen über die biologischen Grenzen, deren 
klassischer abstrakter Ausdruck in Kants Kritiken enthalten ist; 
er muß hinauswachsen über sein bisheriges Maß ; sein Bewußtsein 
muß, anstatt an der Oberfläche zu haften, den Geist der Tiefe 
spiegeln lernen, der sein Seinsgrund ist. Diese Höherentwickelung 
hat in Indien begonnen ; daher die Wunder seiner Seinserkenntnis 
und Lebensweisheit. An uns ist es, sie weiterzuführen. 
Daß die Weisen, auf deren Intuitionen alles Wertvolle an 
der indischen Metaphysik zurückgeht, jene so erwünschte 
tiefere Bewußtseinslage erreicht haben, verdanken sie ein- 
gestandenermaßen der Yoga-Praxis. Diese bezeichnet den prak- 
tischen Angelpunkt aller indischen Weisheit. Wo wir alles vom 
Genie erhoffen, erwarten jene das Meiste von der Ausbildung. — 
Neulich sagte mir ein Hindu: daß Ihr großer Geister bedürft, um 
die Wahrheit zu entdecken, ist ein Zeichen, wie ungebildet Ihr seid ; 
236 Tiefste Erkenntnis durch mittelmäßige Denker gewonnen. 
Ihr seid auf außerordentliche Zufälle angewiesen. Die Wahrheit ist 
doch da, liegt jedermann vor, ist im Geringsten enthalten: nach ge- 
nügender Schulung kann jeder ihrer ansichtig werden. Welch' 
supreme Ironie liegt darin, daß Ihr, die Ungeduldigen, die Geburt 
eines Originales abwarten müßt, um Euch einer Selbstverständlich- 
keit (denn jede Wahrheit versteht sich von selbst) bewußt zu 
werden ! — Natürlich hatte er Recht im Prinzip. Unsere Ab- 
hängigkeit von der Begabung hat etwas Beschämendes. Aber 
ist es möglich, ihr zu entrinnen? — Daß es möglich ist, be- 
weist das bloße Dasein der Wunder der indischen Weisheit: 
soweit deren Urheber bekannt sind, handelt es sich nicht um 
große Geister in unserem Sinne. Man kann aus dem Stil und dem 
Tonus mit großer Sicherheit auf die Qualität eines Genius schließen, 
seine Originalität, seine Potenz, den Reichtum seiner Anlagen; ich 
wüßte keinen in der ganzen indischen Geschichte, mit der einen 
Ausnahme Buddhas, der im westlichen Sinne als großer Geist 
gelten dürfte ; keinen indischen Philosophen, der auch nur einiger- 
maßen den Vergleich mit unseren großen Denkern aushielte. So- 
wohl Shankärä, als Vyasa, als Ramanuja, waren allerhöchstenfails 
Philosophen zweiten Ranges. Und doch stammen viele der tiefsten 
Einsichten von diesen, nicht von den Rishis des Altertums her ; den- 
noch ist die indische Weisheit als Ganzes die tiefste, die es gibt. 
Ich behaupte hiermit nichts Unerweisliches; je weiter wir kommen, 
desto mehr nähern sich unsere Anschauungen den indischen. Schritt 
auf Schritt bestätigt die psychologische Forschung die in noch so 
unzulängliche Theorien eingefaßten Behauptungen der altindischen 
Seelenkunde ; wieder und wieder stimmen die Ergebnisse der philo- 
sophischen Kritik mit den noch^ so mythisch eingekleideten Intui- 
tionen der alten Rishis überein ; und mit Bergson ist auch die 
Metaphysik in die Richtung, in welcher Indien seit jeher wandelt, 
eingebogen. Denn keiner Metaphysik ähnelt die seine mehr, als 
der des Inders Agvagosha. 
Indien verdankt seine Erkenntnisse eingestandenermaßen der 
Schulung gemäß dem Raja-Yoga-System. Dessen Grundidee ist die 
folgende: durch Potenzierung des Konzentrationsvermögens ge- 
lange der Mensch in den Besitz eines Werkzeugs von ungeheurer 
Kraft. Habe er dieses vollkommen in seiner Hand, so sei es ihm 
möglich, mit jedem beliebigen Gegenstand der Welt in unmittel- 
baren Kontakt zu kommen, Fernwirkungen auszuüben, göttergleich 
Wesen der Yoga; alle Erkenntnis ist Perzeption. 237 
zu schaffen, zu erreichen, was immer er will. Er habe seine konzen- 
trierte Aufmerksamkeit nur auf einen Punkt hin zu richten, so wisse 
er alles, was diesen betrifft, nur einem Probleme zuzuwenden, so 
habe er es schon erfaßt und gelöst. Der vollkommene Yogi bedürfe 
keiner materiellen Werkzeuge, um in der Welt zu wirken, keines 
wissenschaftlichen Apparats, um Erkenntnis zu erlangen ; alles er- 
fahre und vermöge er unmittelbar. — Es ist gleichgültig, ob es je 
einen vollkommenen Yogi gegeben hat. Das Wesentliche, Ent- 
scheidende ist, wie ich schon in Adyar auseinandergesetzt 
habe, die evidente Richtigkeit des Prinzips der Yoga-Theorie, 
ihr Gerechtwerden allen erwiesenen Erfahrungstatsachen, und 
die innere Wahrscheinlichkeit des noch so Außerordentlichen, 
was sie als erreichbar hinstellt. Unzweifelhaft ist das Konzentra- 
tionsvermögen die eigentliche Triebkraft unseres ganzen psychischen 
Mechanismus. Nichts erhöht dessen Leistungsfähigkeit so sehr, wie 
deren Steigerung, jeglicher Erfolg auf welchem Gebiete immer läßt 
sich auf intelligente Ausnutzung dieser Kraft zurückführen. Einer 
exzeptionellen, d. h. aufs Äußerste konzentrierten Willenskraft 
hält kein Hindernis dauernd Stand ; konzentrierte Aufmerksamkeit 
zwingt jedes Problem früh oder spät seine sämtlichen einer ge- 
gebenen Begabung erkennbaren Seiten aufzuweisen. Die Yoga- 
Philosophie behauptet nun, daß ein genügend hoher Grad von 
Konzentration Begabung ersetzen kann. Was kennzeichnet im 
Letzten die Sonderbefähigung des Mathematikers? Die Fähigkeit, 
erwidern die Yogis, mathematische Verhältnisse so fest im Auge zu 
halten und so aufmerksam zu betrachten, daß ihr Charakter und 
dessen mögliche Konsequenzen ihm vollkommen deutlich werden. 
Denn sie sind ja da, gegeben in der Welt des Geistes, wie nur 
irgendein Gegenstand in der Natur, es kommt nur darauf an, sie zu 
erkennen. Handelte es sich nicht um objektiv Gültiges, also an sich 
Existentes, unabhängig davon ob es erkannt wird oder nicht, es 
könnte keine mathematische Wissenschaft geben. Alles Erkennen 
ist Perzeption ; Reflexion, Induktion, Deduktion sind nur Mittel, 
zur Perzeption zu gelangen. Nicht umsonst sagt man auch im Falle 
nichtsichtbarer Verhältnisse, ich sehe wie die Dinge liegen; man 
perzipiert eben auch einen abstrakten Zusammenhang. Es ist un- 
berechtigt, einen prinzipiellen Unterschied zu statuieren zwischen 
dem Beobachten eines äußeren Gegenstandes, dem Visualisieren des 
Malers in der Phantasie, dem Vorstellen eines Gedankens und dem 
238 Der Yogi braucht nicht zu denken; das Genie. 
geistigen Schauen einer Idee; überall handelt es sich um dasselbe: 
um Perzeption. Nur die Objekte sind verschieden und die Organe. 
Aber eine Idee ist als Phänomen ein genau so äußerlich Ge- 
gebenes wie der Baum, welcher vor einem steht; man nimmt 
sie wahr oder nicht. Wie in der Welt der Sinneswahrnehmungen 
die Auffassung, so hängt in derjenigen der Ideen das Verständnis 
lediglich' davon ab, wie deutlich einer sieht. Hieraus ergibt sich 
denn zweierlei. Erstens der objektive Sinn dessen, was man Talent 
heißt: Talent ist die Idiosynkrasie des einzelnen, vorzüglich eine 
Art von Erscheinungen zu perzipieren; der schlechte Mathe- 
matiker ist der, dem es nicht gelingen will, sein Konzentrations- 
vermögen auf abstrakte Symbole und deren Beziehungen zu fixieren ; 
welche Deutung dadurch als richtig erwiesen wird, daß es möglich 
ist, einem Hypnotisierten Fähigkeiten zu „suggerieren", die er 
sonst nicht hat. — Die zweite und wichtigste Folge aus den vorher- 
gehenden allgemeinen Feststellungen ist aber die: wer seinen psy- 
chischen Apparat vollkommen beherrscht, so daß er sein Konzen- 
trationsvermögen in jeder Richtung gleich gut verwenden kann, 
also fähig ist, mit vollendeter Aufmerksamkeit auf jedem beliebigen 
Punkte, bei jedem beliebigen Probleme zu verweilen, der wird, 
falls sein Konzentrationsvermögen als solches stark genug ist, 
augenblicklich jeden Zusammenhang erkennen, dem er sich zu- 
wendet (da er ihn ja vollkommen deutlich sieht); er wird überall 
unmittelbar die Wahrheit erfassen. Ein solcher Mann bedürfte offen- 
bar keines wissenschaftlichen Apparats, er könnte aller Logik, alles 
Denkens überhaupt entraten, denn dieses ist ja nur ein Hilfsmittel 
zur Perzeption; er bedürfte nicht einmal einer außerordentlichen 
Begabung, denn auch mit unvollkommenen Mitteln erzielt der, 
welcher sie vollkommen beherrscht, bedeutende Erfolge. Und auch 
hier kommt eine Analogie der Erfahrung der Theorie von vorn- 
herein zu gut: ist es nicht gerade das Wesen des Genies, unmittel- 
bar, augenblicklich zu erfassen, was andere allenfalls auf vielen Um- 
wegen, wenn überhaupt, durch tausend Zwischenstationen hindurch 
erreichen? Es ist in der Tat möglich, durch Schulung die Anlagen 
zu ersetzen, ja weiter zu gelangen, als Begabung für sich allein 
einen führen könnte. Daher ist gar nichts Wunderbares daran, 
daß die indischen Weisen, trotz unzweifelhaft geringerer Be- 
gabung, tiefere Erkenntnis zutage gefördert haben, als die größten 
Genien des Westens. 
Inspiration ist festzuhalten; Piatos Ideenwelt. 239 
Soweit die Yoga-Philosophie ; ish will nicht behaupten, daß sie 
wörtlich das lehrt, was ich hier ausführe, aber sicher bedeutet 
dieses eine mögliche Verkörperung ihres letzten Sinns. Und 
gegen diesen wüßte ich gar nichts zu erinnern; ich bin über- 
zeugt, daß er der Wirklichkeit entspricht. Ich bin ferner über- 
zeugt, daß die Entdeckung der Inder der fundamentalen Be- 
deutung des Konzentrationsvermögens und vor allem der Methode, 
es zu steigern, eine der bedeutsamsten ist, die je gemacht wurde. 
Toren wären wir, wollten wir sie uns nicht zunutze machen. 
Wir sind so viel vitaler als die Inder, verfügen über so viel mehr 
psychisches Kapital — wer weiß, wohin wir erst gelangen werden, 
wenn wir uns genügend ausbilden? — Ich antizipiere hier nicht bloß, 
ich rede aus Erfahrung. Ganz am Anfang meines Aufenthaltes in 
Indien unterhielt ich mich mit einem Yogi einmal über Inspiration. 
Ich erzählte ihm, was wir Westländer darunter verstehen, und wie 
es die Tragödie aller derer sei, die sie gelegentlich heimsucht — 
und solchen Heimsuchungen verdanke ihr Bestes seine Entstehung 
— daß sie nie weilt; sie sei nicht zu halten. Hier unterbrach mich 
der Yogi: warum weilt sie nicht? Doch offenbar nur, weil Ihr sie 
nicht zu halten wißt. Freilich kann sie gehalten werden; sie be- 
zeichnet ja nur eine besondere, keineswegs übernatürliche Bewußt- 
seinslage, die zur normalen werden kann wie jede andere auch. Ich 
an Ihrer Stelle würde nun nimmer rasten — sintemalen Ihr Bestes, 
wie Sie sagen, aus inspirierten Zuständen stammt — bis daß ich 
normalerweise inspiriert wäre. — Dieser Rat frappierte mich da- 
mals sehr. Ich begann mich nach der Raja-Yoga-Methode zu üben; 
anstatt, wie bisher, die Inspiration des Augenblicks sofort in Ge- 
danken und Worte hinabzuleiten, bemühte ich mich die Region zu 
fixieren, aus der sie kam, womöglich ganz in sie hinaufzusteigen. 
Und siehe da, es gelang. Es erwies sich nicht allein als möglich, 
beträchtliche Zeitspannen entlang in Zuständen zu verharren, die 
sich sonst nach Sekunden verflüchtigten: mir kam nun die Ahnung 
noch höherer. Ich erprobte an mir selbst, was die Yogis behaupten : 
daß jede Bewußtseinslage phänomenologisch jeder anderen äqui- 
valent ist. Wie jeder seinen Geist in der sinnlich wahrnehmbaren 
Außenwelt, die ihm als feste Gegebenheit erscheint, mühelos 
schweifen läßt, so ist es möglich, wenn die Vorstellungswelt „ge- 
stillt ist", wenn die Einbildungskraft, der „betrunkene Affe", sich 
ruhig zu verhalten gelernt hat, auch in dieser gleichsam spazieren 
240 Intellektuelle Anschauung ; inwiefern die Rishis unsere Größten übertrafen. 
zu gehen und seine Vorstellungen ebenso gelassen zu mustern, 
wie Bäume. Und lernt man weiter, die sich bildenden Ideen nicht 
gleich in Gedanken und Vorstellungen hinabzuleiten, sondern als 
solche zu fixieren, dann erlebt man, was Plato zu seiner Ideen- 
lehre veranlaßt hat. Aber die Ideenwelt bezeichnet nicht die 
höchste Stufe: hoch über dieser thront ein Reich des reinen 
Sinns, und wer in diesem dauernd wohnt, mag wohl allwissend 
sein. ... Ich brauche wohl nicht ausdrücklich zu versichern, daß 
ich soweit nicht gelangt bin. Wohl aber habe ich schon öfters 
das Erlebnis Piatos nacherlebt, habe Ideen wie Gegenstände ge- 
mustert. Derweil perzipierte ich ihren Zusammenhang, ihren 
Ursprung, ihren Sinn; ich brauchte nicht nachzudenken; und bis- 
weilen gelang es mir buchstäblich, hinter sie, um sie herum zu 
kommen. Ich übte das Vermögen aus, das die Philosophen von 
Plotin bis Schelling so schlecht als „intellektuale Anschauung" 
bezeichnet haben (sie ist nicht intellektuell, sondern genau so em- 
pirisch wie jede andere, nur von einer anderen Bewußtseinlage her), 
ich schaute unmittelbar, was sonst nur mittelbar erschlossen ward. 
Seit diesen Erfahrungen wundere ich mich nicht mehr über die 
Tiefe der indischen Einsichten. Erkenntnis ist unvermeidlich, sobald 
man gelernt hat, das psychische Geschehen mit vollendeter Auf- 
merksamkeit zu beobachten. Denn jede scheinbar letzte Instanz 
kann ihrerseits zur Grundlage der Beobachtung gemacht werden, 
so daß es nun ebensowenig Schwierigkeiten bereitet, Begriffe und 
Vorstellungen zu fixieren, wie äußere Gegenstände, ideelle Zu- 
sammenhänge zu übersehen, wie räumlich-empirische. Hierher rührt 
es, daß die Inder ohne vorhergegangene Kritik, trotz äußerst 
mangelhafter wissenschaftlicher Ausrüstung, das Metaphysisch-Wirk- 
liche gleich richtig erkannt haben in seinem Verhältnis zur Ideen- 
und Erscheinungswelt ; daß ihre Psychologie, was immer gegen 
ihren Ausdruck einzuwenden sei, unvergleichlich viel tiefer greift, 
als die unserige bisher. Hierher rührt im letzten die einzigartige 
Tiefe der indischen Weisheit als Ganzes. Die großen Rishis haben 
dauernd in der Tiefe gelebt. Das hat kein Weiser des Westens 
getan. Plato, der des Schauens der Ideen wohl fähig war, wußte 
über diese doch nicht hinauszublicken und verkannte daher ihren 
eigentlichen Charakter; er überschätzte sie. Überdies schaute er 
sie nur gelegentlich : so wies er nur immer wieder auf sie hin, oder 
belichtete von ihnen aus in inspirierten Momenten die Erscheinungs- 
Goethes Oberflächlichkeit ; aller Fortschritt beruht auf Konzentration. 241 
weit. Plotin ist vom Atman immer nur hinabgestiegen ; seine Äuße- 
rungen haben ihn im Rücken. Fichte und Hegel haben ihrerseits 
von der Tiefe her die Erscheinung zu gestalten versucht, und mit 
Erfolg; Nietzsche hat sie sprunghaft beleuchtet; in der Tiefe 
gelebt hat keiner von ihnen. Sie hatten .eben, so begabt sie 
waren, ihr Konzentrationsvermögen nicht genügend ausgebildet ; 
sie blieben abhängig von empirischen Zufälligkeiten. Kein Geist des 
Westens war konzentrationsfähig genug, um dauernd in seinem 
tiefsten Selbst zu leben. Am deutlichsten vielleicht tritt dieser 
Mangel an Goethe in die Erscheinung. Dieser Mann hat wohl 
mehr Blitze aus der Tiefe in Worte gebannt, als irgendein neu- 
zeitlicher Mensch; aber zugleich ist er unfähiger, als irgendein 
anderer Großer gewesen, in der Region, aus der sie stammten, 
zu verweilen. Sein normales Dasein verlief an der Oberfläche, 
und tauchte er zur Tiefe hinab, so mußte er sich desto länger 
auf jener erholen. Der Faust stellt den verklärten Ausdruck dieser 
letzten Unzulänglichkeit dar. In dieser Dichtung sieht man Zu- 
stand an Zustand gereiht, ohne daß je der folgende eine wesent- 
liche Vertiefung des vorhergehenden bedeutete, und der Schluß- 
akt gibt keine Erfüllung des Gesamtlebens, sondern nur einen 
Zustand mehr, welcher zufällig der letzte ist und ebenso zufällig 
als der höchste bewertet wird. 
Alles innere Weiterkommen, vom Augenblicke an, da die Or- 
gane erwachsen sind, beruht in der Tat auf Konzentration ; 
meine eigene Entwicklung bestätigt das durchaus. Mit 
zwanzig Jahren war ich nicht dümmer als heute. Aber meine Fähig- 
keiten waren unkoordiniert, und da keine von ihnen, für sich allein 
betrachtet, bedeutend ist, so konnte ich nichts von Belang zustande 
bringen. Wie dann die literarisch-philosophische Tendenz zur Domi- 
nante ward, gewann ich einen ideellen Brennpunkt, um die Strahlen 
meines Geistes zu sammeln, und je mehr diese sich konzentrierten, 
desto leistungsfähiger wurde ich. Aus einer Republik erwuchs ich 
allmählich zur Monarchie, jedes Jahr wurde ich mehr Herr meiner 
selbst, und entsprechend geisteskräftiger. Lange Zeit hindurch ward 
mir das Sammeln, das ich früh als das Hauptproblem der Selbst- 
erziehung erkannt hatte, durch Nervenschwäche erschwert; auf jede 
Anspannung erfolgte ein Zusammenbruch, was mich bis zu einem 
Keyserling, Reisetagebuch 16 
242 Tief sinn und Nervenkraft; Überlegenheit des Alters. 
gewissen Grade zur Oberflächlichkeit zwang. Freilich, das Gefüge 
der Welt ist kein oberflächliches Werk, denn damals trug mich die 
Leidenschaft der ersten Jugend; aber die Unsterblichkeit hat 
Untiefen, und dieses nur, weil meine Nerven zur Zeit seiner Ent- 
stehung nicht gesund waren. Wären sie dies gewesen, dieses Werk, 
das meinem Herzen näher liegt, als alle anderen, wäre nicht schlechter 
ausgefallen als die Prolegomena; denn konzipiert habe ich diese ja 
im gleichen Jahr, nur glücklicherweise erst drei Jahre später aus- 
gearbeitet. Tiefsinn als Triebkraft ist eine unmittelbare Funktion 
der nervösen Energie: wer sein Gehirn nicht anspannen darf, kann 
nicht tief denken, so tiefe Intuitionen ihm immer kommen mögen. 
Es scheint ja wohl gewagt, Gedankentiefe am Dynamometer messen 
zu wollen, aber es ist möglich, weil die Durchdringungskraft der 
geistigen Strahlen vom Grade ihrer Sammlung abhängt, und diese ihrer- 
seits von der vorhandenen Nervenkraft. Aber mit dieser Feststellung 
ist die Bedeutung der Konzentration für die Entwicklung nicht er- 
schöpft. Je mehr der Geist sich sammelt, desto ruhiger wird er, 
desto leistungsfähiger als Instrument. Solange die Oberfläche in 
ständiger Bewegung ist, können die Intuitionen aus der Tiefe nicht 
stetig hindurchscheinen ; sie mögen noch so oft hervorblitzen, die 
Dauer der Belichtung ist zu kurz, um die Oberfläche zu trans- 
figurieren. Der gesammelte Intellekt läßt nicht allein die Intuitionen 
hindurch, er wird ihnen zum gefügigen Organ, so daß die ganze 
Psyche zuletzt zum Ausdrucksmittel des innersten Lichtes wird. So 
finde ich mich von Jahr zu Jahr voller werden. Anstatt daß der 
kalte Verstand mehr und mehr das Übergewicht über die lebendigen 
Kräfte der Seele gewinnt, entwickele ich mich umgekehrt vom Ver- 
standesmenschen wachsender Konkretheit zu ; der Intellekt wird mir 
immer mehr zum gefügigen Ausdrucksmittel, nachdem er einst- 
mals mein Beherrscher war. Alle diese Fortschritte sind unmittel- 
bare Folgen der zunehmenden Konzentration. Auf allen Gebieten, 
den schönen Künsten bis zu einem gewissen Grade ausgenommen, 
schafft das Alter das Bedeutendste, obschon die Produktionskraft 
als solche wohl bei allen Menschen in den dreißiger Jahren am 
größten ist. Das liegt daran, daß der Geist erst spät den Grad der 
Sammlung erreicht, der ihm das längst Erfundene ganz zu fassen 
erlaubt. 
Das Vorbildliche an der indischen Kultur beruht darauf, daß sie 
wie keine andere auf Konzentrierung allen Nachdruck gelegt hat. 
Nur der Oberflächliche kann irreligiös sein. 243 
Was ich im Vorhergehenden über die Yoga ausgeführt habe, be- 
zeichnet ja nur einen Bruchteil dessen, was dieser Begriff dem Inder 
umfaßt: ihm umfaßt er alles Bildungsstreben überhaupt. Bei der 
Steigerung der Fähigkeiten zur Erkenntnis handelt es sich schließ- 
lich um ein Technisches ; es liegt, in wie verschiedener Richtung 
immer, auf einer Ebene mit unseren Bestrebungen, uns die Kräfte 
der Außenwelt dienstbar zu machen. Wir haben vermittelst eines 
gegebenen Werkzeugs die Welt verwandelt, die Inder sich in 
erster Linie der Vervollkommnung des Werkzeuges gewidmet, und 
nur in Rücksicht auf vorausgesetzte praktische Zwecke ist eine Ent- 
scheidung möglich darüber., welche Alternative vorzuziehen sei. 
Indiens absoluter Vorzug vor dem Westen beruht auf der Grund- 
erkenntnis, daß Kultur im eigentlichen Sinne nicht auf dem Wege 
der Verbreiterung, sondern nur dem der Viertiefung zu erringen sei, 
und daß das Tieferwerden vom Konzentrationsgrade abhängt. 
Ein konzentrierter Mensch ist niemals oberflächlich ; in der Rich- 
tung, nach welcher zu er sich verdichtet hat (was freilich nicht alle 
und nicht die wesentlichsten zu sein brauchen) ist er notwendig tief. 
Deswegen behauptet die indische Weisheit, daß Religiosität und 
Moralität erarbeitbar seien ; nicht zwar lehrbar im sokratischen 
Sinne, aber erreichbar jedem Einzelnen auf dem Wege bewußter 
Selbstkultur. Nur der Oberflächliche könne irreligiös sein ; sobald 
die Tiefe der Seele durch die Oberfläche hindurchscheint, entstehe 
Gottesbewußtsein. Nur der Oberflächliche könne zweifeln an dem 
Unterschied zwischen Gut und Böse, denn es handele sich um ob- 
jektiv wirkliche Verhältnisse, die man entweder wahrnimmt oder 
nicht; und der vollendet Vertiefte könne nur Gutes wollen. 
Deswegen komme alles auf Selbsterziehung, auf Yoga an. Es sei 
absolut gleichgültig im Prinzip, als wer man anhebe: als Atheist 
oder Theist, als Immoralist oder Skeptiker ; Ansichten, und Mei- 
nungen seien immer irrelevant; man müsse wissen. Das Wissen 
aber ergebe sich von selbst mit fortschreitender Verinnerlichung. 
Daß der Grad des religiösen Realisierens (im weitesten Sinne) 
und des moralischen Unterscheidungsvermögens von der Tiefenlage 
abhängt, in der eines Menschen Bewußtsein' wurzelt, ist gewiß. Und 
daß der Mensch vertiefungsfähig ist, kann ebensowenig bestritten 
werden. Die Besten im Westen haben dies auch immer erkannt. 
Aber Indien allein hat es verstanden, diese Erkenntnis fruchtbar zu 
machen für die weiteste Praxis. Das ist, wie gesagt, das Vorbild- 
16* 
244 Leidenschaf t bedeutungslos ; der Weg zur Unmittelbarkeit. 
liehe dieser Kultur. Wir werden gut tun, ihr baldmöglichst hierin 
nachzueifern. Was ist denn der Kern alles dessen, was uns an 
unserem Zustande tadelnswürdig scheint? daß unsere aufs äußerste 
differenzierten Kräfte zu dermaßen selbständigen Wesenheiten heran- 
gewachsen sind, daß deren Zentralisierung nicht mehr gelingen will, 
weswegen alles, was nur aus dem Zentrum hervorgehen kann, zu 
sein aufhört. Vom höchstentwickelten modernen Kulturmenschen 
heißt es, daß er nicht mehr zu lieben wisse. Allerdings nicht: er 
besitzt wohl sämtliche Elemente, die zur Liebe gehören, und in 
reicherer Ausgestaltung vielleicht als irgendein früherer, aber 
deren Synthese gelingt ihm nicht. Die Sinnlichkeit geht ihre be- 
sonderen Wege, desgleichen die Idealität, desgleichen die gefühls- 
mäßige Zuneigung und so fort. Zur vollen Liebe kommt es nicht, 
außer im Paroxysmus der Leidenschaft. Folgerichtig wird denn zu 
unserer Zeit die Leidenschaft als solche verherrlicht ; wie nie vorher 
wird die Naturkraft über alles hochgeschätzt. Wieder einmal wird 
von den Dächern sämtlicher Großstädte „zurück zur Natur" ge- 
schrieen. Das sind ebensoviel Mißverständnisse. Die Leidenschaft 
bezeichnet auch beim Tier eine Krisis, und alle Großtaten, die 
während ihrer vollbracht werden, bedeuten nichts ; in der Leiden- 
schaft erweisen sich Schwächlinge als stark, Feiglinge als mutig, 
und bleiben doch wesentlich was sie waren. Was aber das „zurück 
zur Natur" betrifft, so kann eine erreichte Kulturstufe durch Hinab- 
steigen nimmer überstiegen werden. Freilich sollen wir wieder un- 
mittelbar werden, aber Unmittelbarkeit und Tierischsein sind nicht 
Wechselbegriffe. Um auf das Beispiel der Liebe zurückzukommen: 
animalische Sinnlichkeit wird vielfach als ihr Ganzes betrachtet, 
weil sie ein Unmittelbares ist, was von ihren höheren Formen 
selten gilt. Wirklich scheint die Sinnlichkeit das Ganze der 
Liebe zu werden, wo ein Kulturvolk seiner Erschöpfung nahe- 
kommt; so geschah es bei den späten Römlingen, so wird es 
heute mehr und mehr in allen degenerierten Kreisen West-Europas. 
Aber wo die Lebenskraft noch nicht erschöpft ist, dort gibt .es 
einen besseren Weg zur Unmittelbarkeit: über die Differen- 
zierung hinaus durch Konzentration. Das ist der Weg, den Indien 
gegangen ist, das ist der, auf dem wir jetzt weiterschreiten müssen. 
Dieser Weg, t allein, führt über unseren heutigen Zustand 
hinaus. Es gilt durch Konzentration die emanzipierten Kräfte dem 
zentralen Leben wieder zuzuführen, aus Streikern zu dienstwilligen 
Heilung der Zersplitterung; unsere mögliche große Zukunft. 245 
Organen zu machen. Nichts an unserem Zustande brauchen wir zu 
verleugnen. Die in der Geschichte der Menschheit unerhörte Breite 
der modernen Seele darf nicht eingeschränkt werden, denn sie be- 
zeichnet ein absolutes plus ; die ungeheure Differenziertheit unseres 
Wesens ist ein Vorzug. Wir müssen nur diesen ganzen, so wunderbar 
reichen Körper von der gleichen Tiefe her beseelen, in welcher der 
Inder lebt ; wir müssen die Oberfläche, deren allein der moderne 
Mensch sich meistens bewußt ist, zum Spiegel der Tiefe machen und 
die Organe aus Selbstzwecken wieder zu Ausdrucksmitteln. Gelingt 
uns dies, so werden wir ohne jeden Zweifel zu Vertretern des 
höchsten Menschheitszustandes werden, der bisher dargestellt wor- 
den ist. Je reicher die Ausdrucksmittel, desto besser kann der Sinn 
sich manifestieren ; Gott, dem das Weltall zum Ausdrucksmittel 
dient, ist eben deshalb mehr Gott als der Mensch. Aber anderer- 
seits: je reicher die Mittel, desto größerer Energie bedarf es, sie 
zu beherrschen. Deshalb ist die Aufgabe für uns viel mühsamer als 
für die Inder. Wie oft habe ich neidvoll geseufzt, indem ich sie an- 
sah : wie leicht habt ihrs, tief zu sein ! Eure Fläche ist so gering, 
euer Leib so mager, daß es nicht eben schwer halten kann, eure 
ganze Natur zum Ausdrucksmittel des Geistes zu machen. Wir 
fetten, reichen Europäer müssen es uns sauer werden lassen, um 
nur einen Teil eures Weges zu durchmessen. . . . Dann aber sagte 
ich mir: gelingt uns nun, was euch gelang — werden wir dann nicht 
Übermenschen sein? — Nietzsches Übermensch grenzt nur die 
physiologische Basis ab, bezeichnet sonach einen Weg, vielleicht 
den Westländerweg, aber nicht das Ziel. Die Übermenschen der 
Theosophie, die Meister, sind zu weltentrückt, zu menschheitsfern, 
um uns als Vorbilder voranzuleuchten. Ich weiß nicht, wie be- 
schaffen der Übermensch sein wird. Aber sicher wird er, wenn 
überhaupt, aus der Konzentrierung unserer sämtlichen Kräfte 
hervorgehen. 
Daß das Vorbildliche der indischen Kultur nicht früher erkannt 
worden ist, und wo dies geschah, nicht immer zu gutem 
Ende, liegt an der Unfähigkeit der meisten, einen Sinn un- 
abhängig von der Erscheinung zu erfassen. Eine Erscheinung ist 
nirgends übertragbar, ohne daß sie Schaden stiftete; sie ist überall 
246 Atemübungen; das Vorbildliche der Inder. 
das Produkt bestimmter, nur einmal vorhandener Verhältnisse, und 
daher nur einem bestimmten Zustande gemäß. Wenn schon die 
Anglomanie noch keinen gefördert hat, so gilt dies in erhöhtem 
Maße von der Indomanie, und am meisten bezüglich des Bedeutend- 
sten an Indien : seiner Konzentrationskultur. Es ist sehr bezeich- 
nend, daß die indischen Atemübungen, welche der Svami Vive- 
känända durch seine Vorträge in Amerika populär gemacht hatte, 
keinem einzigen Amerikaner zu einem höheren Zustande verholfen, 
aber desto zahlreichere in Kranken- und Irrenhäuser gebracht haben 
sollen. Hatha-Yoga gilt schon in Indien als nicht gefahrlos ; viele 
Übungen sind von allen Autoritäten schon längst als unbedingt 
schädlich gebrandmarkt worden und erhalten sich nur dank der un- 
ausrottbaren Neigung aller Menschen, das Bedenkliche dem Unbe- 
denklichen vorzuziehen. Aber selbst von den harmlosesten unter 
ihnen ist nicht erwiesen, ob sie Europäerorganismen angemessen 
sind ; es könnte sein, daß sie alle den Meisten mehr schaden als 
nützen. So förderlich Atemübungen im allgemeinen sind — über die 
Richtigkeit der Idee, daß das Atmen gleichsam das Schwungrad des 
ganzen psychophysischen Organismus bezeichnet, und daß vollendete 
Kontrolle des Atmens zu Selbstbeherrschung in jedem Sinne führt, 
besteht kein Zweifel — welche besonderen in Frage kommen, hängt 
ganz von den jeweiligen empirischen Umständen ab. Das Vorbild- 
liche an der indischen Konzentrationskultur ist deren Grundidee, 
nicht die spezifische Erscheinung. Was diese betrifft, so kann 
schwer geleugnet werden, daß sie vom Standpunkte unserer 
Ideale nicht wenig zu wünschen übrig läßt ; das Meiste von dem, 
was unseren Stolz bezeichnet, fehlt in Indien. Aber die Inder haben 
auch nie unsere Ziele verfolgt ; also kann man ihnen ihr Versagen 
nicht zum Vorwurf machen. 
Um das wahrhaft Vorbildliche an ihrer Kultur zu erfassen, ist 
es gut, anstatt an indische, an okzidentalische Erscheinungsformen 
der gleichen Idee zu denken (die im Westen freilich nie als solche 
bewußt die Entwickelung bestimmt hat) : z. B. die Engländer als 
Nation und gewisse höchste amerikanische Geschäftsmänner-Typen. 
Die Naturanlage des Engländers ist beschränkter als die des Deut- 
schen und des Russen ; aber jener bringt doch mit seinem Wenigen 
mehr zustande als diese mit ihrem Überfluß. Man staunt oft über 
die Vielseitigkeit englischer Aristokraten, die heute Journalisten, 
morgen Vizekönige, übermorgen vielleicht Handelsminister sind, und 
Der Grund der englischen Überlegenheit. 247 
wenn sie gerade Zeit haben, gute Werke historischen oder philolo- 
gischen Inhalts schreiben. Nun könnte, was die Vielseitigkeit als 
solche betrifft, Deutschland sowohl als Rußland einem vielseitigen 
Briten ein Schock weit vielseitigerer entgegenstellen; aber jener 
allein weiß seinen Reichtum so zu organisieren, daß jedes einzelne 
Element sich als produktiv erweist. Der Engländer hat sich mehr 
in der Hand, als irgendein Europäer; eben deshalb wirkt er als 
der tiefste ; als der tiefste im menschlich-charakterlichen Sinne. Er 
ist, trotz seiner Kulturhöhe, ganz ungebrochen, ganz unzersetzt, fest 
verankert in seinem lebendigen Grund, wie kein anderer überlegen. 
Das verdankt er der Yoga. Nicht der indischen zwar, aber der, 
welche Puritanismus und Methodismus durch ihren Ideengehalt ent- 
stehen ließen ; einer Konzentrationskultur nicht minder intensiv, wie 
abweichenden Charakters immer, als die von Indien. — Das andere 
okzidentalische Beispiel für die Bedeutung der indischen Grundidee 
liefern die ersten der amerikanischen Geldkönige. Wer immer solchen 
begegnet ist und sie nach der Formel ihres Schaffens gefragt hat, 
wird die Antwort erhalten haben : wir arbeiten mit der Intuition 
allein ; Reflexion führt nicht schnell genug vorwärts. Das heißt, sie 
operieren dauernd mit dem Vermögen, das der gewöhnliche Mensch 
nur ausnahmsweise ausübt, meist nur beim Planen und in wichtig- 
sten Entscheidungen, die keinen Aufschub dulden. Und das heißt 
weiter: sie haben eine Entwickelungshöhe erreicht, auf welcher das 
Außergewöhnliche normal, das Äußerste zur Basis geworden er- 
scheint. Eben dies gilt von den indischen Yogis. Was diesen den 
absoluten Vorrang gibt in der Idee, so daß man vor der Ewigkeit 
Recht hat, indem man von westlichen Erscheinungsformen des 
indischen Grundgedankens spricht, ist, daß sie allein Sinn und Wert 
ihres Tuns erfaßt haben. Erkenntnis ist das Wichtigste aufc dieser 
Welt ; erst eine erkannte Wahrheit wird ganz produktiv. Uns kann 
es gleichgültig sein, ob die Inder selbst es weit gebracht haben oder 
nicht. Aber ewig werden wir ihnen Dank wissen müssen dafür, 
daß sie den Sinn dessen erfaßt und geoffenbart haben, was von 
jeher, ob noch so unerkannt, die Seele alles inneren Fortschreitens 
war. Dank dieser Erkenntnis werden wir nunmehr, jedes Volk 
und jeder Einzelne in der Richtung, die seine Naturanlagen ihm 
weisen, zehnmal schneller vorwärts kommen als bisher. 
248 Kunst des Westens beruht auf Vernunftkonzentration. 
Alle höchsten, alle gesteigerten Lebensausdrücke bezeichnen 
ebensoviel Wirkungen der Konzentration ; diese bedingt mit 
Unvermeidlichkeit Vertiefung. In welchem Sinne sie tief 
macht, hängt davon ab, in welchem Geiste und zu welchem Ende sie 
geübt wird; jeder nur denkbaren Bildung kommt sie zugute. Aber 
freilich : wem es um Wesenserkenntnis und um Heiligung zu tun ist, 
der wird immerdar den Indern nachzueifern haben. Desgleichen der 
Künstler, der im selben Sinne Wesenhaftes schaffen will, wie sie 
und ihre größeren Schüler im Fernen Osten. Schon sind wir uns 
ja leidlich dessen bewußt, daß unsere Kunst an seelischen Aus- 
druckswert die der alten Kulturvölker des Orients nicht erreicht ; 
auch das wissen wir, daß dieses irgendwie mit dem Nicht-Naturalis- 
mus der letzteren zusammenhängt. Aber was das eigenste Wesen 
orientalischen Kunstschaffens ist, darüber sind sich die meisten nicht 
klar ; sicher nicht, denn sonst verfielen sie nicht darauf, die bud- 
dhistische Kunst mit der griechischen zu vergleichen und die Jungen 
überlegten es sich zweimal, ehe sie den Sinn, den sie meinen, mit 
östlichen Formmitteln darzustellen versuchten. Denn dieses kann zu 
keinem guten Ende führen : der Sinn der Kunst des Ostens ist ein 
ganz anderer, als der der westlichen, und nur ihm sind jene Formen 
entsprechende Ausdrucksmittel. 
Welches ist der Sinn der spezifischen „Stilisierung" (das Wort 
ist schlecht), welche in allen östlichen Bildwerken zutage tritt? — 
Sie bedeutet nicht Vereinfachung im Geiste der Vernunft. Die Typik 
der Griechen, die, mehr oder weniger offenbar, aller westlichen 
Kunst seither zugrunde liegt, ist rationellen Ursprungs. Von allen 
möglichen Verbindungslinien zwischen zwei Punkten ist die gerade 
die kürzeste ; von allen konstruierbaren Bewegungen zum Ziel ist 
die zweckmäßigste die beste; von allen denkbaren architektonischen 
Anordnungen ist die vollkommenste die, welche den inneren Ge- 
setzen der geplanten ^mathematischen Figur, des benutzten Materials 
und der Idee, die ein Gebäude verkörpern soll (als Tempel, als 
Palast usw.) zugleich am vollständigsten Rechnung trägt: das sind 
Axiome aller rationellen Kunst. Die nur eine geringe Umkleidung, 
keine Umdeutung erleiden, wenn der ästhetische Schwerpunkt vom 
Werk in den Beschauer hinüberverlegt wird : in diesem Falle wird 
von allen Formen denen der Vorzug zuerkannt, die im Bilde das 
am stärksten realisieren, was im vorher betrachteten vom Werk als 
solchen verwirklicht wird. Aus diesem Geiste sind die Kurven des 
Bildende Kunst, Poesie und Musik. 249 
Parthenons, Michelangelo^ Contraposto und die noch so kompli- 
zierte Rhythmik Rodins hervorgegangen. Es ist der Geist der reinen 
Vernunft. Er ist fruchtbar geworden durch Konzentration. Genau im 
selben Sinne wie Konzentration der Vernunft auf einen Naturvorgang 
zur Entdeckung einer Formel führt, die dem Geiste dessen Gesetz und 
mithin dessen Wesen viel faßbarer erscheinen läßt, als er in konkreter 
Verkörperung erschien, genau so führt Konzentration der Vernunft den 
Künstler zur Erfindung einer Form, die in der Vereinfachung dem Auge 
deutlich macht, was es in der Natur nur zu leicht übersieht. Man 
lasse sich nicht beirren durch den Umstand, daß Künstler der Über- 
legung meist abhold sind und aus reinem Gefühl heraus zu schaffen 
behaupten, daß die Wirkung, die ein Kunstwerk ausübt, weit 
reichere Befriedigung gewährt, als die Erfüllung bloßer Ver- 
nunftforderungen gewähren könnte : weder hängt die Existenz eines 
Vorgangs von dessen Bewußtwerden ab, noch beweist die Vielfach- 
heit der Wirkung, daß die Ursache nicht einfach gewesen wäre. Der 
Mensch ist wesentlich ein Vernunftwesen, weshalb das Vernunft- 
gemäße, wo es in ansprechender Verkörperung erscheint, sämtliche 
Lebensgeister wachruft, während umgekehrt sämtliche Geister an 
der Schöpfung des Vernunftgemäßen beteiligt gewesen sein mögen. 
Alle spezifisch-westliche Formgebung beruht im Prinzip auf Konzen- 
tration der Vernunft. 
Nun ist auf diesem Wege nur das am Leben zu fassen, was von 
außen nach innen zu ergriffen werden kann. Deswegen hat unsere 
bildende Kunst das nie zum Ausdruck gebracht, was unsere Musik 
und Poesie zu sagen vermocht haben. Beider Angelegenheit ist, Ge- 
fühlen einen Körper zu geben; die Poesie ist den artikulierten 
gewachsen, den unartikulierten, lebendigsten, tiefsten die Musik allein. 
Weswegen mißlingt es, diese Subj ektivitäten im Bilde zu obj ektivieren ? 
Weil noch so große Vernunftkonzentration nie ins Innere der Seele 
führt. Da wir als Bildner immer Rationalisten gewesen sind, so haben 
wir „Seele" im Bild nie unmittelbar zum Ausdruck bringen können, so 
wunderbar uns dies in der Musik gelang. Unsere Madonnen, unsere 
Heiligen, unsere Christusgestalten sind irdische Wesen durchaus ; nicht 
spiritueller deshalb, weil ihre Gebärden seelische Erregung verraten. 
Die einzigen Ausnahmen, die ich wüßte, bezeichnen einige Meister- 
werke des Frühmittelalters, die aber auch eines anderen Geistes 
Kinder sind, und die Gemälde Peruginos. Aber bei diesen letzteren 
beruht der religiöse Charakter, wie Berenson nachgewiesen hat, 
250 Das Geheimnis der ostasiatischen Kunst. 
nicht auf unmittelbarer Verkörperung des religiösen Geistes, sondern 
auf einer besonderen Raumbehandlung, die im Beschauer religiöse 
Assoziationen wachruft. Um Seele unmittelbar zum Ausdruck 
bringen zu können, müßte die sichtbare Form eben unmittelbarer 
Ausdruck der S.eele sein, mithin in der Konzentration eines anderen, 
als der Vernunft, ihren Grund haben. Sich in diesem Sinne zu kon- 
zentrieren, haben die Künstler des Westens nie verstanden. 
Eben das haben die des Ostens vermocht, dank welchem sie 
Schöpfungen hervorgebracht haben, denen wir gar nichts zur Seite 
stellen können. Vom Standpunkte der Vernunft ist freilich kein 
Werk des Orients den hellenischen ebenbürtig, aber von der Vernunft 
her sind sie nicht zu beurteilen. Sie entspringen der gleichen Tiefe 
des Lebens, wie bei uns nur Poesie und Musik. Damit erscheinen denn 
alle Maßstäbe verschoben. Rationalität kommt unmittelbar nicht in 
Frage (obschon sie immer auch nachzuweisen ist, da der Mensch 
nun einmal ein Vernunftwesen ist); die sichtbare Form ist unmittel- 
barerWesensausdruck und als solcher oft gerade dort am überzeugend- 
sten, wo der Sinn mit dem Verstand gar nicht zu fassen ist, wie beim 
Lachen des Kindes oder der Laune einer Frau. Immer wieder muß 
ich des tanzenden Shiva gedenken im Museum von Madras : diese 
vielarmige, anatomisch unmögliche Bronze verwirklicht eine Mög- 
lichkeit, die kein Grieche je auch nur hat ahnen lassen — eben einen 
ausgelassenen Gott ; der mutwillig die Welt zertanzt. — Wie ge- 
langt man zu solcher Schöpfung? Nur durch Realisieren des Gottes 
in uns selbst, und durch das Vermögen, dieses unmittelbare innere 
Erleben unmittelbar in der Sichtbarkeit wiederzugebären. Dieses 
scheinbar Unmögliche haben die Künstler des Orients vermocht. 
Und es ist ihnen gelungen eben dank dem, was meine Aufzeich- 
nungen alle diese Tage über behandelt haben : ihrer Kultur der 
Konzentration. Wir wissen wenig oder nichts von den großen 
Künstlern Hindustans. Aber von denen Chinas und Japans, ihren 
Erben, wissen wir, daß sie sämtlich Yogis waren, in der Yoga den 
einzigen Weg zur Kunst erblickten. Wohl zeichneten und malten sie 
in ihren ersten Schülerjahren mit ernstester Ausdauer nach der 
Natur, um zu vollkommenen Beherrschern der Ausdrucksmittel zu 
werden; aber das galt ihnen bloß als Propädeutik; das Eigentliche 
war ihnen die Versenkung. Sie versenkten sich in sich selbst, 
oder in einen Wasserfall, eine Landschaft, ein Menschenantlitz, 
je nachdem was sie darstellen wollten, bis daß sie völlig eins 
Die Maler Chinas als Yogis. 25 1 
geworden waren mit ihrem Objekt und dann schufen sie von 
innen heraus, unbekümmert um alle äußere Norm. Von Li Lung- 
Mien, dem Meister der Sung-Dynastie, wird überliefert, daß seine 
Hauptbeschäftigung nicht aus Arbeiten bestand, sondern darin, 
an Bergesabhängen oder am Bachgestade zu meditieren. Tao-tse 
ward einst vom Kaiser aufgefordert, eine bestimmte Landschaft 
abzubilden. Er kehrte ohne Skizzen, ohne Studien zurück, und 
erwiderte auf erstaunte Fragen: „ich habe die Natur im Herzen 
mitgebracht." Kuo Hsi lehrt in seiner Schrift über die Land- 
schaftsmalerei: „Der Künstler muß sich vor allem in seelische 
Verbindung setzen mit den Hügeln und Bächen, die er malen 
will." Innere Sammlung galt diesen Künstlern wichtiger, als 
äußere Ausbildung. Und freilich: der vollkommen Verinnerlichte 
steht über der Vernunft, denn seinem Geist sind ihre Gesetze 
immanent; er braucht sie nicht mehr zu befolgen, gleichwie der 
Wissende jenseits von Gut und Böse steht. Wie dessen Wissen 
unwillkürlich all sein Tun beherrscht, so lenkt das des Künstler- 
Yogis unfehlbar die kapriziöseste Linienführung. Die Rhythmik 
ostasiatischer Zeichnung ist nicht rationellen Ursprungs: sie ist 
innere Rhythmik, wie die der Musik. Man halte ihr nur die 
Schematik Leonardos oder Dürers gegenüber, und sofort sieht man, 
worin der Unterschied besteht: ist diese durch Konzentration der 
Vernunft entstanden, welche notwendig zur Entdeckung objektiver 
Regeln führt, so ist jene das Ergebnis reiner Selbstbesinnung, 
die zur Form verdichtete reine Subjektivität. So ist dem Osten 
gelungen, was dem Westen noch niemals gelang: das Göttliche 
als solches sichtbar darzustellen. Ich kenne nichts Erhabeneres 
auf dieser Welt, als die Gestalt des Buddha; sie ist eine 
schlechterdings vollkommene Verkörperung des Spirituellen im 
Reiche der Sichtbarkeit. Und dies nicht dank dem Ausdrucke der 
Ruhe, der Beseeltheit, der Innerlichkeit, welchen sie trägt, son- 
dern an sich, unabhängig von aller Übereinstimmung mit Ent- 
sprechendem in der Natur. 
Vielleicht wäre das Herz des Yoga-Gedankens am zeitge- 
mäßesten (denn in jeder besonderen Periode erscheint den 
gleichen Ideen eine spezifische Verkörperung am gemäße- 
sten) in folgendem Satz auf europäisch wiederzugeben: es ist die 
252 Das Herz des Yoga-Gedankens; Erkenntnis ist Erlösung. 
Bestimmung des Menschen über das Menschentum als Natur- 
bestimmtheit hinauszugelangen, und von ihm allein hängt es ab, ob 
und wie weit er sie erfüllt. Von allen Lastern ist Trägheit das 
Schlimmste: nie darf er sich ihm überantworten. Er soll nicht etwa 
arbeiten um jeden Preis, gemäß dem Imperativ des Westens — wie 
sinnlos käme den Rishis unsere Vergötterung der Arbeit vor ! — 
sondern unentwegt darnach trachten, dem ewigen Geist, der ihn be- 
seelt, zum Ausdruck zu verhelfen, indem er das Positive in sich 
potenziert und das Negative in Positives umwandelt. Im übrigen 
führt jeder Weg zum Ziel, und jeder kann es erreichen. Wie Sri 
Krishna zu Arjuna in der Bhagavat-Gita sagt: wie immer die 
Menschen mir nahen, eben so nehme Ich sie an ; denn alle Wege, 
die sie wandeln können, sind Mein. So ist es. Eine Urkraft durch- 
strömt das Universum, alle Gestaltung bedingend, beseelend, in aller 
sich manifestierend; so ist jede nicht allein Ausdruck, sondern ein 
möglicher vollendeter Ausdruck des Göttlichen, und Vollendung ist 
das Ziel, jede Gestaltung ist fähig, nicht trotz sondern in ihrer 
Eigenart, die Gottheit zu realisieren ; ob es ihr gelingt, hängt vom 
Geiste ab, aus dem heraus sie lebt. Lebt sie aus dem Geiste der 
Tiefe heraus, dem der äußersten inneren Wahrhaftigkeit, so kommt 
auch der Verbrecher zu Gott, denn nichtig ist der Unterschied vor 
Ihm zwischen guten und bösen Zuständen als solchen. Der Ver- 
brecher, der im Geist der Wahrhaftigkeit Übeles tut, erkennt früher 
oder später sein Mißverständnis und verwandelt sich, wie der 
Schacher am Kreuz neben dem Heiland, wie die Marquise de Brain- 
villiers auf dem Schafott, und in der Verwandlung ist der alte Zu- 
stand aufgehoben. Solche Verwandlung besteht aber immer in Er- 
kenntnis. Alle Wege führen zu ihr hin. Die kürzesten von allen sind 
die altempfohlenen der Liebe, der selbstlosen Arbeit, des Ver- 
stehenwollens, aber auch die des Egoismus und des Nicht-Wissen- 
Wollens führen hin, sofern sie im Geiste der Wahrheit betreten 
werden, denn früher oder später kehren die, so sie wandeln, um. 
Und alle münden ein in der Erkenntnis. Die Erkenntnis ist die Er- 
lösung. Sobald die Kreatur ihr wahres Wesen erkannt hat, wird sie 
zum Ausdrucksmittel Gottes, und alles erglänzt in göttlichem Licht. 
Dann gibt es die Gegensätze von Gut und Übel nicht mehr, von- 
Glück und Unglück, Freude und Schmerz; dann härmt kein Un- 
gemach die Seele mehr; dann wird das Leben der Sonne gleich 
zu einem einzigen Quell reinen Gebens. Wohl und Übel sind Gegen- 
Überwindung des Übels ; Eigenart der indischen Weisheit. 253 
sätze nur vom Standpunkte der Unwissenheit. Freilich bestehen 
sämtliche Tatsachen, auf welchen der Unterschied im Urteil beruht, 
und werden fortbestehen solange wie die Welt, denn anders könnte 
es kein Geschehen geben. Welche Verblendung, auch nur zu hoffen, 
daß es einstmals objektiv anders würde! Was sich ändern kann, ist 
die menschliche Bewußtseinslage. Hat sich der Mensch endlich mit 
seinem wahren Wesen identifizieren gelernt, dann sieht er in den 
Widerwärtigkeiten des Lebens kein größeres Übel mehr, als in den 
Widerständen der Gefäße, dank welchen dem Blut sein Kreislauf 
durch den Körper allererst möglich- wird. 
Ich habe in aller Unbefangenheit von Kind auf in vielen wesent- 
lichen Hinsichten indisch gedacht; und wie mir dann die Upani- 
shads in die Hände kamen, da freute ich mich nicht wenig, aber sagte 
mir stolz: was die wissen, das alles weißt du auch. Man erkennt 
sein Nicht-Wissen immer erst dann, wenn man zum Wissenden ge- 
worden ist. So kann ich erst» jüngst, seit ich mit dem Geiste Hindu- 
stans persönliche Fühlung gewonnen und mich von seinem leben- 
digen Einflüsse habe durchdringen lassen, ermessen, wie Wenig ich 
damals wußte von dem, was die Inder eigentlich gemeint haben. 
Ich erkannte in den Upanishads mich selber wieder nur deshalb, 
weil ich mich selbst in sie hineingelegt hatte. Freilich ist der Geist 
der Tiefe wesentlich Einer überall ; so meinen alle tiefen Geister 
wesentlich gleiches; so verstanden sich Yajnavalkya, Laotse und 
Eckhart sicherlich bei ihrer ersten Begegnung im Elysium. Aber die 
wesentliche Einheit schließt Unterschiede in der Erscheinung nie 
aus ; was ich vorhin niederschrieb, war eine Übersetzung, nicht das 
Original ; als Erscheinung ist die indische Weisheit ein ebenso 
Spezifisches, wie nur irgendeine individuelle Lebensform. Wäre sie 
das nicht, sie hätte niemals Leben schaffen können ; nur durch 
Individuen, nicht durch Allgemeinheiten hindurch setzt sich das 
Leben fort. Jüngst erfuhr ich, daß der Familienguru jedem Hindu- 
kinde bei dessen Einweihung einen besonderen Namen schenkt, 
vermittelst dessen es zu Gott beten solle. Dieser Name ist sein 
schlechthiniges Eigentum ; keinem teilt es ihn mit, keiner darf es 
nach ihm fragen ; es wird vorausgesetzt, daß es allein im Weltall 
diesen Namen kennt, durch ihn in einzigartiger Beziehung zur 
Gottheit steht. Dies ist eine Illustration mehr der gleichen Wahrheit. 
Nur Eigenartiges, Individuelles, Persönliches, Ausschließliches kann 
ein lebendiges Gefäß des Universellen sein. So ist denn die indische 
254 Der Sinn als Primäres; Egoismus und Altruismus gleich wertlos. 
Weisheit, trotz ihrer Universalität, eine Monade, in welche keiner 
eindringen kann, welchen sie nicht besitzt. 
Mir ist, als besäße sie mich nun. Mehr und mehr erlebe ich 
auf indisch, sehe ich die Welt und das Leben im Lichte der 
geistigen Sonne Hindustans. Ich will diese letzten Tage, die mir 
für Benares noch übrig bleiben, damit verbringen, mir über die 
Sonderart der indischen Weisheit Rechenschaft abzulegen. Aber 
heute ist es zu spät, um zu beginnen. Schon schläft die ganze Stadt. 
Und morgen, beim Tagesgrauen, will ich wieder, wie so oft, auf dem 
Ganges sein, den Segen der ersten Sonnenstrahlen zu empfangen. 
Keine Weltanschauung der Welt vertritt mit gleichem Radika- 
lismus, wie die indische, die Überzeugung, daß im Bereiche 
des Lebens der Sinn den Tatbestand schafft. Was einer tut, 
sei an sich völlig gleichgültig; es komme darauf an, in welchem 
Geist er es tut. — So ist es. Man verfolge diese Ansicht noch so 
weit, bis zu ihren verstiegensten Konsequenzen hinan : überall wird 
man ihr Prinzip bestätigt finden. Wie viele Europäer hat die These 
der Bhagavat-Gita befremdet, daß von dem, welcher das Selbst 
realisiert hat, alle Handlungen abfallen, so daß es kein Gut und kein 
Böse für ihn mehr gibt! Und doch spricht sie durchaus wahr, wie 
aus zeitgemäßerer Fassung des gleichen Gedankens sofort erhellt: 
wer immer nur tut, was seinem tiefsten Wesen gemäß ist, tut not- 
wendig recht, welchen Eindruck immer sein Handeln auf andere 
machen mag. Man könnte ja meinen — wie in der Tat alle 
Philister wähnen — ' das Handeln des Gottmenschen müßte immer 
und allen als gut erscheinen, aber das ist nicht richtig, nicht 
möglich. Es könnte so sein, wenn alle gleich tief verinnerlicht 
wären, wie er; aber da diese Voraussetzung nicht zutrifft, so 
dünkt sie sein Handeln häufig tadelnswert, wie die üblichen 
Verfolgungen der geistlich Großen zur Genüge beweisen. Man 
nehme die banalste Unterscheidung, die zwischen Ego- und Altruis- 
mus. Im allgemeinen gilt als gut, auf die Gefühle und Wünsche 
anderer Rücksicht zu nehmen; wer das nicht tue, sei tadelnswert. 
Aber kein wahrhaft tiefer Mensch kann in diesem Sinne 
Altruist sein, da er bei anderen nicht mehr als bei sich selbst 
in der Neigung ein genügendes Motiv erblickt; er tut den Men- 
schen das an, was deren Weiterkommen am meisten fördert, und 
Jenseits von Gut und Böse. 255 
dieses kommt nur zu häufig unerwünscht; er macht sie häufiger 
unglücklich als glücklich, tritt ihre Wünsche häufiger mit Füßen als 
daß er sie erfüllt. Da er keinen Egoismus mehr hat, so kennt er 
auch keinen Altruismus mehr. — Ein anderer Fall, der die Wahrheit 
der indischen Lehre gut illustriert, ist der des großen Staatsmanns. 
Einem solchen wird, nachträglich wenigstens, allgemein zugestanden^ 
daß er jenseits von Gut und Böse steht, aber weshalb? Weil, 
wie alle dunkel ahnen, die Bedeutung seiner noch so blutigen 
Handlungen mit diesen nicht zusammenfällt. Wer im Strudel der 
Welt, vermittelst der Welt ein Ideal verfolgt, kann nicht so rein 
durchs Leben schreiten, wie der Anachoret ; er wird, je nach der 
Zeit, in der er lebt, mehr oder weniger Unheil anrichten müssen, 
weil es anders in der Welt nun einmal nicht geht. Aber was er da 
tut, geht sein tiefstes Selbst nichts an; es tangiert ihn nur im 
Sinn der Erbsünde, des Rassenkarmas (wie denn jeder für die 
Gebrechen seiner Zeit mitverantwortet, am Verschulden aller mit- 
schuldig ist); blutbefleckt mag er doch wesentlich rein sein. 
Über den wesentlichen Charakter eines Menschen entscheidet 
der Geist, in dem er lebt. Wer daran noch zweifeln sollte, der 
bedenke, daß es sich beim Täter und beim Heiligen um eben das 
Verhältnis zwischen Tatsache und Bedeutung handelt, wie bei dem, 
welcher pflichtmäßig tötet. Keiner brandmarkt den Richter, der ein 
Todesurteil fällt, als Mörder, noch den Soldaten, der in der Schlacht 
noch so viel Feinde niederschoß. Das Pflichtmäßige wertet den 
Sachverhalt um. Das gleiche gilt überall vom Geist, in dem 
etwas geschieht: er entscheidet letzthin über den Tatbestand. Das 
haben die Inder mit unerreichter Klarheit erkannt. 
Aber sie haben diese Erkenntnis so sehr ihr ganzes Leben be- 
stimmen lassen, daß es für sie überhaupt keine Facta gibt, sondern 
nur Symbole. Die Bedeutung gilt dermaßen als Primäres gegen- 
über dem Faktischen, daß diesem aller Eigensinn genommen 
scheint. Nun haben aber die Tatsachen einen solchen; und 
dieser bleibt unberücksichtigt. So ist es nicht zu verwundern, daß 
sie Rache nehmen. Die Nicht-Anerkennung faktischer Zusammen- 
sammenhänge (wie solche neuerdings unter uns die Christian 
Science bewußt und systematisch betreibt) wäre gut genug, wenn 
die Psyche wirklich die Macht hätte, alle anderen Wirklichkeiten 
zu verwandeln. Die hat sie nicht; sie kann sie beherrschen, nur 
sofern sie sie anerkennt. Wir sind zu Beherrschern der Natur ge- 
256 Warum die Hindus im Leben versagen; Katholische Gesinnung. 
worden, weil wir gelernt haben, ihre Gesetze nicht zu ignorieren, 
sondern auszunutzen. Die Inder ignorieren sie durchaus. Sie leben 
in einer Welt rein psychischer Verknüpfungen, die als solche wirklich 
genug und fast immer tiefsinnig konstruiert sind, so daß, wer 
über sie nachdenkt, von ihrer inneren Wahrheit beeindruckt wird. 
Aber diese psychischen Bande sind weniger stark und fest, als die 
objektiven der Natur; wo beide in Streit geraten, dort siegt diese. 
So daß man im Inderleben überall einem seltsamen Zwiespalt gegen- 
übersteht: im höchsten Grade Sinnvolles und innerlich Wahres be- 
deutet praktisch dennoch Aberglauben ; noch so gut Begründetes 
vom Standpunkt der Psyche stellt sich faktisch doch als Willkür- 
verknüpfung dar. So ist der freilich im Irrtum, der aus der Er- 
kenntnis der unzulänglichen Tatsachen heraus über den Sinn ent- 
scheiden zu können glaubt; aber andrerseits hilft dieser zur 
Praxis des Lebens gar wenig. Das Inderleben ist niemals vor- 
bildlich gewesen. Die Führer des Volkes haben verkannt, daß 
der Sinn sich nur dann in der Erscheinung vollkommen ausprägen 
kann, wenn er deren Gesetze voll berücksichtigt. So tritt bei den 
Indern metaphysische Erkenntnis nur zu oft in Form unzuläng- 
lichster Theorie, echteste Religiosität in Form von Aberglauben und 
tiefste Moralität in der eines bedenklichsten Lebenswandels in die 
Erscheinung. 
Schon öfters habe ich des katholischen Charakters der indischen 
Religiosität Erwähnung getan. Wohl hat es auch Protestan- 
ten unter den Indern gegeben: Devendranath Tagore, z. B. 
der Maharshi, war ausgesprochen puritanisch gesinnt ; wer nicht 
wüßte, daß dessen Autobiographie von einem Hindu stammt, könnte 
beinahe glauben, ein Pilger-Vater Neu-Englands hätte sie verfaßt. 
Aber der allgemeine Geist der indischen Religiosität ist streng 
katholisch ; alles Beste und Tiefste ist von ihm beseelt ; so vor 
allem die Lehre vom Weg, der zur Erkenntnis führt. 
Ich will noch einmal kurz daran erinnern, was ich unter katho- 
lisch im Gegensatz zu protestantisch verstehe. Der Katholizismus 
lehrt, daß Anerkennung einer objektiven Ordnung und gehorsames 
Befolgen autoritativer Vorschriften den Weg zum Heil bezeichnen ; 
der Protestantismus hingegen, daß jede Seele auf persönlich selb- 
ständige Weise zu Gott hinanstreben soll. Letztere ist gewiß nicht 
Die Hindus als Katholiken. 257 
die Lehre Luthers oder Calvins, aber es ist die Lehre des heute 
lebendigen Protestantismus ; ebenso wie meine Definition des 
Katholizismus das Lebendige an ihm allein berücksichtigt. — Der 
Inder, was immer er im Besonderen glaube, urteilt über den Weg 
zum Heil als Katholik. Er verwirft das Suchen selbständiger Wege ; 
ihm gilt Vertrauen auf die Autorität als Grundbedingung alles 
inneren Fortschritts. Kein großer Inder, von den Protestanten 
Buddha, Mahavira u. a. abgesehen, hat je am Offenbarungscharakter 
der Veden und Shastras gezweifelt, und alle haben Zweifel als ver- 
derbenbringend denunziert. Das bedeutet, daß auch die größten 
Erkenner unter den Hindus tief durchdrungen waren vom Wert des 
Glaubens als Erkenntnismittels. Wer da zweifelt, könne nicht zum 
Wissenden werden; und da Glauben nur möglich ist an fest- 
stehende Dogmen und Normen, haben sie alle deren Umwandel- 
barkeit postuliert Sie haben ferner sämtlich Gehorsam gefordert 
dem Guru, dem spirituellen Direktor gegenüber (wie denn alle, auch 
die erlauchtesten Geister unter ihnen, dem ihrigen bis zum Tod ge- 
horsam gewesen sind), aus der Einsicht heraus, daß Lehren, von 
einem anderen, zu dem man sich absolut empfänglich verhält, laut 
mitgeteilt, stärker einwirken auf das Unterbewußtsein als dieselben 
Lehren, wofern man sie sich selbst erteilt. 
Das ist so katholisch gedacht wie nur möglich. Dem Wortlaute 
nach haben alle theologischen Doktoren unseres Mittelalters das 
gleiche gelehrt, unter diesen zum Teil auch Martin Luther. Aber 
allerdings haben die Inder den Sinn der gleichen Lehren besser ver- 
standen, so daß der Hinduismus die Seelen nie geknechtet hat, wie 
der christliche Katholizismus nur zu oft. Freilich darf der Grad 
dieser Knechtung nicht überschätzt werden: der Idee nach gewährt 
der Katholizismus dem Denker genau so viel Freiheit wie der ortho- 
doxe Protestantismus ; nur in praxi geschieht es meistens anders. 
Der Idee nach darf der katholische Christ frei forschen und denken 
auf allen Gebieten, auf denen Verstand und Vernunft kompetieren, 
und mehr ist nicht zu verlangen, denn jenseits dieser Gebiete kann 
Vernunft zu keiner Erkenntnis führen. Mag diese Idee noch so 
selten richtig verstanden worden sein, sie ist da, und wird früher 
oder später wohl sicher in ihrer Reinheit zur Herrschaft gelangen, 
wenn die Kirche keinen anderen Weg mehr sieht, um fortzubestehen. 
Der äußere Apparat der katholischen Kirche aber, ihr Ritualismus, 
ihr Zeremonial, bezeichnet einen absoluten Vorzug, dessen der Pro- 
Keyserling, Reisetagebuch. 17 
258 Indien ohne Freidenker ; Glauben und Wissen. 
testantismus, gerade in seinen extremsten, dogmenfeindlichsten For- 
men, mehr und mehr gewahr zu werden beginnt. Um nun zum Hin- 
duismus zurückzukommen: diesem gelten die Glaubensformen, die 
als solche ebenso streng gewahrt werden wie seitens katholischer 
Christen, nicht als Substanzen, sondern als Ausdrucks formen des 
Göttlichen, gleichzeitig als Mittel, dieses zu realisieren. Demzu- 
folge werden sie einerseits weniger ernst genommen als unter uns, 
sie gelten nie als metaphysische Wirklichkeiten, andrerseits mehr, 
da kein Hindu ihre Zweckmäßigkeit verkennt. Auch das Glauben 
als solches wird von ihnen aus eben dem Grunde ernster ge- 
nommen, als mir dies je in Europa begegnet ist: sie wissen eben, 
was Glauben bedeutet; daß es ein Mittel ist wie kein anderes, 
um das Sein zu realisieren. Deshalb gibt es unter hochgebildeten 
Hindus keine Freidenker, so häufig solche unter halbgebildeten vor- 
kommen, und noch so scharfsinnige weisen die Zumutung weit von 
sich, an den religiösen Grundwahrheiten zu zweifeln — es sei denn, 
sie seien über das Glauben deshalb hinaus, weil sie aus persönlicher 
Erfahrung wissen. Die Hindus sind seelisch so weit gebildet, 
daß sie zwischen Glauben und Für-wahr-halten rein unterscheiden; 
daß sie glauben können an etwas, ohne zu verlangen, daß es 
objektiv existierte. Glauben ist ihnen ein Mittel, das souveräne 
Mittel; ein Narr sei daher, wer nicht glaubte. Im übrigen möge 
er denken was er wolle. Meredith Townsend erzählt von einem 
indischen Astronomen, welcher wissenschaftlich geschult, jede 
Sonnenfinsternis auf die Sekunde richtig vorausberechnete, aber 
jedesmal, wenn sie hereinbrach, zur Trommel griff, um den 
Dämon zu verscheuchen, der das Gestirn verschlingen wollte, 
und auf seine verwunderte Anfrage lächelnd erwiderte, Glauben 
und Wissen wären doch zweierlei. Er hielt wohl an der mythi- 
schen Vorstellung fest, die er selbstverständlich durchschaute, 
weil er aus Erfahrung wußte, daß jene, dank Assoziationen mit 
Erlebnissen aus seinen Kindheitstagen, ihn das Göttliche reali- 
sieren half. 
Nur auf Realisieren kommt es den Hindus an ; alles übrige ist 
Mittel zum Zweck. Sie legen den Akzent auf das Realisieren mit 
solcher Ausschließlichkeit, daß deshalb zwei Tendenzen, die im 
Westen immer eine namhafte Rolle gespielt haben, beinahe voll- 
ständig fehlen: daß Streben nach Exaktheit der Formulierung (der 
Richtigkeit in der Bestimmung), und das nach Neuerung; was 
Neuerungsfeindschaft ; Wahrheit kann nur ^geschenkt" 1 werden. 259 
allein schon der indischen Metaphysik einen unverkennbar-indivi- 
duellen Charakter verleiht. In der Tat — was verschlägt es, ob eine 
Formulierung wissenschaftlich richtig sei oder nicht, wenn sie nur 
das Erlebnis, auf das allein es ankommt, hervorruft oder mitteilbar 
macht? Und ferner: wozu neue Formen erfinden, wenn die alther- 
gebrachten alles das leisten, was jene bestenfalls bewirken könnten? 
So sehen wir eine Metaphysik, die an Wahrheit und Tiefe un- 
erreicht dasteht, die unsere exaktere Forschung mehr und mehr 
bestätigt, in einem Körper von Theorien überliefert, die nicht 
selten aus primitivsten Denkstadien herstammen. Die Inder wissen 
eben, was sie meinen; und ihre Lehrmethodik bürgt dafür, daß 
der Sinn von Guru zu Chelah lebendig fort überliefert wird ; des- 
halb halten sie Neufassungen für überflüssig. Ja, deshalb stehen sie 
in ihrer göttlichen Toleranz praktisch kaum anders als engherzige 
Christen, sind oft sogar neuerungsfeindlicher noch als diese, 
eben weil sie der Vorstellung als solcher jeden Eigenwert ab- 
erkennen. Echte Wissenschaft verhindert solche Auffassung am 
Entstehen, und mit der ist es denn auch in Indien seit den Tagen 
des Altertums übel bestellt; aber den spirituellen Fortschritt be- 
fördert sie. 
Aus der katholischen Grundtendenz ergibt sich ferner die Eigen- 
tümlichkeit der indischen Weltanschauung, die den Westländer viel- 
leicht am meisten befremdet: ihr Leugnen der Möglichkeit, eine 
Wahrheit selbständig zu entdecken ; sie müsse geoffenbart, recht 
eigentlich gelehrt werden ; von einem, der sie seinerseits empfing. 
Man glaube ja nicht, diese Auffassung sei nichts als ein Brahmanen- 
trick, wie unzweifelhaft soviele der Vorschriften, die zur Mehrung 
des Prestiges der Gurus dienen : sie bezeichnet eine Grundanschau- 
ung der Inder und ist psychologisch gut genug begründet. Wo die 
Arbeit zum Zweck der Erkenntnis nicht in Denken besteht, sondern 
in Versenkung in einen aufgegebenen Satz, dort kann einem die 
Erleuchtung wirklich nur „kommen", man erringt sie nicht ; sie wird 
einem, um christlich zu reden, nicht durch Verdienst sondern durch 
Gnade zuteil. Nun setzen alle Inder das Dasein einer Hierarchie 
der Wesen voraus ; sie sind es gewohnt, nie ohne Anleitung Yoga 
zu treiben, haben keinen Begriff von „voraussetzungslosem 
Forschen": also ist es nur natürlich, daß sie in aller Erkennt- 
nis Offenbarung aus höheren Sphären sehen, und diese meist 
auf konkrete Wesen zurückführen. Das stimmt wieder ganz 
17* 
260 Unoriginalität, Autoritätenglauben, Spiritualität. 
mit der katholischen Autoritätsidee überein. Nur erscheint diese 
hier universalisiert, so daß sie der Priesterschaft nie zu einer 
Waffe im großen Stile hat werden können, und ferner, was wich- 
tiger ist, nie einer bestimmten Konfession zum Sieg verholfen hat. 
Alle Erkenntnis ist Offenbarung; hieraus folgt, daß kein Mensch 
und kein Institut aus seiner besonderen Offenbarung Kapital schlagen 
kann. — Auf diese Auffassung geht zum beträchtlichen Teil die 
Unoriginalität der indischen Denker zurück: es fehlt ihnen jeder 
Ansporn, originell sein zu wollen, denn Ursprünglichkeit in unserem 
Verstände gibt es für ihre Begriffe nicht; in ihr wurzelt die ganze 
Ödigkeit ihrer Scholastik ; auf ihr fußt die Hypertrophie des 
Autoritätenglaubens in Hindustan, — eine Hypertrophie, die wohl 
nirgends in der Welt eine Parallele findet: da alle Erkenntnis par 
definition „geschenkt" wird, so ist oberhalb der Autorität keine In- 
stanz mehr denkbar. Aber auf dieser Auffassung fußt andrerseits 
ohne Frage die unerreichte Wesenhaftigkeit des indischen Wahr- 
heitsbegriffs, der an sich den besten Schlüssel zur Erkenntnis be- 
zeichnet. Originalität kommt wirklich nicht in Betracht in Er- 
kenntnisfragen ; es besteht keinerlei notwendige Beziehung zwischen 
ihr und Wahrheitserkenntnis. Die Wahrheit ist da, liegt jedermann 
vor, sowie die Sonne alle beleuchtet; wenn der Sehende vor dem 
Blinden einen Vorzug hat, so kann er doch nichts dafür, und die 
Sonne schiene auch ohne ihn. Das Genie für eine Erkenntnis, nach 
Westländerart, unmittelbar verantwortlich zu machen und es dem- 
entsprechend zu vergöttern, ist im Prinzip genau so lächerlich, wie 
in dem einen Übermenschen zu sehen, der durch Drücken auf den 
Knopf am Leitungsdraht eine elektrische Lampe anzündet. Erkennen 
heißt gewahrwerden, entdecken, ausnutzen gegebener Möglich- 
keiten, genial sein von der Natur ein besseres Instrument über- 
kommen haben: wo bleibt da die absolute Originalität des Er- 
kenners? — Es ist wirklich wahr, was die Inder in noch so mythi- 
scher Ausdrucksweise lehren, daß man Wahrheit nicht eigentlich 
entdecken kann. Und daß sie das erkannt haben, ist mit ein 
Hauptgrund dessen, daß sie es im metaphysischen Wissen so 
wunderbar weit gebracht. — Auf dieser Auffassung fußt ferner un- 
mittelbar die unvergleichliche indische Spiritualität. Wo es als 
Axiom gilt, daß es kein selbständiges Erkennen gibt, dort können 
in dem, der sich nach Wissen sehnt, keine hochmütigen Regungen 
entstehen, keine Velleitäten des Besserwissens, keine eitlen Vor- 
Trivialität des Stils; Vitalitätsmangel der Ideen. 261 
urteile ; er gibt sich demütig hin. So daß die spirituellen Wahr- 
heiten, die in den Heiligen Schriften verkörpert sind, in seiner 
Seele ein Minimum an Widerstand finden und leicht von ihm Besitz 
ergreifen können. Aus eben dem Grunde ist die katholische Christen- 
heit, wo von echter Religiosität überhaupt die Rede sein kann, an 
Spiritualität der protestantischen so weit voraus. Daß sie darin 
gleichwohl hinter der indischen weit zurücksteht, erscheint verständ- 
lich genug, wenn man erwägt, daß die Heiligen Schriften der Inder 
von allen der Welt wohl die heiligsten, weil erkenntnistiefsten, sind 
und in einzig geringem Grade, dank der psychologischen Bildung 
des Indervolkes, durch Verballhornung, Mißdeutung und falsche 
Behandlung in ihrer heiligenden Wirkung behindert werden. 
Um spirituelles Realisieren allein war es von je den Rishis zu tun ; 
sie sind weiter darin gelangt als alle anderen Menschen. Viele von 
ihnen haben wahrhaftig eine Bewußtseinslage erreicht, die man als 
übermenschlich bezeichnen darf — eine Lage, in welcher der Geist 
unbeirrt in der Sphäre des reinen Sinnes lebt, vom reinen Sinne her 
alles auffaßt, alles versteht. Aber eben daher rührt es, daß sie sich 
so seltsam gleichgültig ausgedrückt und nie Ideen in die Welt ge- 
setzt haben von auch nur annähernd so großer Lebenskraft, wie die 
eines Plato oder Hegel. Wer auf der Bewußtseinsstufe steht, 
welche die größten Inder erreicht haben, dem ist der Sinn der Dinge 
ebenso unmittelbar bewußt, wie dem Durchschnittsmenschen die 
physische Außenwelt; er bedarf keiner Originalität, um seiner ge- 
wahr zu werden. Eben deshalb aber kann er nicht mehr geistig 
schaffen. Alle Produktion stammt aus der Tiefe des Unbewußten ; 
man gebiert nicht, was schon vor einem steht. Dieses kann man 
allenfalls kopieren. Kopisten und nicht mehr sind denn die Rishis 
als Schriftsteller und Denker gewesen ; dies erklärt die Trivialität 
ihres Stils und den Mangel an Vitalität ihrer Ideen. Unsere großen 
Denker haben die Bewußtseinslage nie erreicht, von welcher aus 
man die Wahrheit wie eine Landschaft ausgebreitet vor sich 
sieht: so konnten sie dieselbe gebären. So sind ihre Erkenntnisse 
zu schöpferischen Ideen geworden und wirken fort, wie keine 
indische dies ie vermocht hat. 
262 Männer des Glaubens und der Tat originalitätsfeindlich. 
Nur um Realisieren war es den indischen Weisen zu tun ; so 
konnten sie in der Originalität keinen Wert sehen. Das, 
dessen Spiegelung im Bewußtsein man Wahrheit heißt, sei 
da ; Erfinden komme nicht in Frage. Das Entdecken aber bedinge 
kein persönliches Verdienst, da der Mensch immer nur das ent- 
decken könne, was die Natur oder höhere Mächte ihm offenbarten : 
„nur wenn er wählt, von dem wird er begriffen" (Ruysbroek). Was 
nun die Verkörperung der Wahrheit betrifft, so lasse sich nur eine 
feststehende realisieren, in Wandlung begriffene taugten nicht ; 
überdies verbrauchte Neueinstellung Energie, die besser anders ver- 
ausgabt würde. Die Männer des Glaubens wie der Tat sind, was 
Vorstellungen als solche betrifft, mit physiologischer Notwendigkeit 
originalitätsfeindlich. Beide schaffen in einer anderen Dimension, 
als der geistige Schöpfer; jene setzen Ideen in innere, diese in 
äußere Wirklichkeit um, als solche bedeuten sie ihnen nichts ; sie 
sind ihnen Vorwürfe, Grundrisse, Ausgangspunkte, von Wert nur 
insofern als sie verwirklicht werden. Solchen Naturen kommt alles 
Theoretisieren müßig vor. Nicht nur Napoleon, auch Bismarck hat 
die Ideologen von Herzen gehaßt, und beide haben fest an eine Vor- 
sehung geglaubt. Dieser Glaube war ihnen physiologisch notwendig: 
ohne sichere Deckung im Rücken hätten beide nicht unbefangen 
vorwärts schreiten können. Und wie die Männer der Tat, so die 
des Glaubens. Religiössein heißt realisieren, geistige Werte in Leben 
umsetzen wollen. Damit sich einer dieser Aufgabe ganz unbe- 
fangen widmen könne, müssen die Werte an sich außer Frage 
stehen. Also muß er an Dogmen glauben, an bestimmten Vor- 
stellungen unverbrüchlich festhalten ; ob er im übrigen tolerant oder 
fanatisch ist, hängt vom Grade seiner seelischen Bildung ab, der 
Weite seines geistigen Horizontes. Der orthodoxe Christ in seinem 
Wahn, das Dogma an sich verkörpere das Heil, will alle Anders- 
gläubigen coüte que coüte bekehren, und sieht derweil auf sie 
herab. Ich bin keinem Hindu begegnet, der nicht felsenfest an 
irgendein Dogma glaubte, aber andrerseits keinem, der irgend 
jemanden bekehren wollte oder irgendeinen um seines Aberglaubens 
willen verachtete. Die Hindus sind gebildet genug, um zu wissen, 
daß nicht das Dogma als solches das Wichtige ist, sondern dessen 
Wirkung auf das Leben. 
Aber die ablehnende Haltung des Inders der Originalität gegen- 
Täter mehr als Skeptiker ; Allwissenheit frommt nur Gott. 263 
über hat noch einen tieferen Grund als den bisher betrachteten. Aus 
der Tiefe ihrer Bewußtseinslage heraus, die ihnen ein unmittelbares 
Schauen des Sinns ermöglichte, dachten die Rishis : wozu eine Er- 
scheinung mehr in die Welt setzen, wo es deren schon so viele gibt? 
Was sind denn schöpferische Ideen mehr, als die Blümelein, die aus 
dem Rasen sprießen? Was verschlägt es, wie weit es die einzelne 
bringt? — So dachten sie nicht als Skeptiker, sondern als All- 
wissende. Oft ist bemerkt worden, daß Skeptizismus und tiefste 
metaphysische Erkenntnis an der Oberfläche zusammenfallen ; das 
ist auch so. Skeptiker sowohl als Mystiker erkennen die Relativität 
der Gestaltung, also stimmen sie in deren Bewertung überein; nur 
wissen diese, was jene nicht ahnen, daß sich die Wirklichkeit im 
Relativen nicht erschöpft. Sie sind sich des Wesens bewußt, das 
sich vermittelst der Erscheinung ausdrückt. Das gilt im Kleinen von 
jedem Mann der Tat, jedem Schöpfer, jedem überhaupt, der irgend- 
etwas ganz ernst nimmt, den denn die Menschheit, mit richtigem 
Instinkte, von jeher dem noch so klugen Zweifler vorangestellt hat. 
Aber es gilt von ihm eben nur im Kleinen ; daher die Beschränkt- 
heiten aller Täter, ihre Einseitigkeiten, Unzulänglichkeiten, Vor- 
urteile, denen gegenüber der skeptische Betrachter so leichtes 
Spiel hat. Im Großen gilt das gleiche vom Weisen: er nimmt alle 
Erscheinung nicht gleich unernst, sondern gleich ernst. So ist er, 
gleich Gott, über alle Engigkeit hinaus. 
Aber kann solche Erkenntnis zu fruchtbarem Leben werden? 
Im Falle Gottes wird sie es. Er kennt die Relativität jeder Er- 
scheinung, und lebt sich doch in jeder mit äußerster Einseitigkeit 
aus; Er kennt die Unzulänglichkeit jeder Sonderäußerung, und das 
schwächt Ihm doch niemals die Energie. Er schafft eben im Zu- 
sammenhäng. Der Mensch kann als Versteher wohl göttliche Uni- 
versalität erreichen, aber als Handelnder bleibt er streng beschränkt ; 
als Lebender gelangt er nimmer hinaus über die Einseitigkeiten 
des Sonderdaseins. So lähmt ihm die allzutiefe Einsicht die Kraft. 
Sie brauchte es nicht zu tun, jedoch sie tut es meist; sie hat es im 
Fall der Inder getan. Gegen die Wahrheit ihrer Auffassung ist 
nichts zu sagen. Unzweifelhaft bedeuten die Ideen Alexanders 
dem Kosmos nicht mehr als Blümelein; beide sind Natur- 
erscheinungen, jede in ihrer Art. Wer Ideen gebiert, tut im Prinzip 
nichts anderes als jede Kuh, wenn Erkenntnisse sich entwickeln und 
das Leben ergreifen, so ist das ein Naturvorgang unter anderen. 
264 Wissen und Leben sind zweierlei. 
Der Kampf der Künstler um Anerkennung, der Staaten um Macht, 
der Menschheit um Ideale ist eine Form unter anderen des allge- 
meinen Kampfes ums Dasein und der Fortschritt -ein biologischer 
Prozeß, der überall seine Parallelen findet. So ist kein Ehrgeiz 
wesentlich mehr als animalischer Wachstumsdrang, kein Idealismus 
mehr als ein Exponent unter anderen des allgemeinen Strebens alles 
Lebens nach Aufstieg und Steigerung, und ob dieses oder das ge- 
schieht, ob ein Meisterwerk, eine Erkenntnis, eine Heldentat mehr 
die Welt bereichert, bedeutet im Zusammenhang wenig genug. 
Desto weniger, als der Sinn überall Einer ist und durch Vermehrung 
oder Verbesserung seiner Ausdrucksformen von seinem Standpunkte 
aus nichts hinzugewinnt. Ja, die Ideen Alexanders bedeuten nicht 
mehr vor Gott als Blümelein. Aber hätte es Alexander gefrommt 
also zu denken? Ja, wenn er so groß gewesen wäre, daß er 
trotzdem als Alexander sein Schicksal erfüllt hätte; aber das 
hätte er dann schwerlich getan. 
Die Inder haben gewußt, daß keine Erkenntnis das Handeln 
dem Dharma gemäß beeinträchtigen darf; dieses ist zumal die 
Grundidee der Bhagavat-Gita. Dort lehrt Sri Krishna den Arjuna, 
daß er kämpfen soll, was immer er weiß und erkennt, denn zum 
Kämpfen sei er geboren. Die gleiche Grundidee durchdringt die 
ganze Lehre vom Nicht-Attachement: töte den Ehrgeiz in dir, 
aber handele so, als ob du vom äußersten Ehrgeize beseelt wärest; 
ersticke allen Egoismus, aber lebe dein Sonderleben so tatkräftig, 
wie nur irgendein Egoist; liebe gleichmäßig alle Kreatur, aber ver- 
säume darum nie, das Nächstliegende zunächst zu tun. Gewußt 
haben die Inder eben alles. Aber Wissen und Leben sind zweierlei 
und nirgends erweist sich das eindrucksvoller als bei ihnen. Wir 
wissen von keinem Inder, der als lebendiger Mensch diese Weisheit 
im Großen verwirklicht hätte ; und es gibt wahrscheinlich weniger 
Hindus, die es im Kleinen tun, als unter Türken und unter Chinesen. 
Das ist der Fluch jenes Primates des "Psychischen, das wie nichts 
anderes den indischen Bewußtseinszustand charakterisiert. Die Inder 
haben von je den Akzent des Daseins auf das psychische Erleben 
gelegt, also das Realisieren des Lebens in der Sphäre des Psy- 
chischen. Dank dem sind sie als Erkenner und als Schauer des 
Göttlichen wunderbar weit gelangt; aber eben dank dem sind sie 
nie auch ein Bruchteil dessen gewesen, als lebendige, handelnde 
Menschen, was ihre Theorie postuliert. Und das ist nur natürlich. 
Inder als Erkenner groß, als Menschen minderwertig. 265 
Wenn der Geist sich in der Vorstellungswelt zentriert, so entstehen 
Erkenntnisse als selbständige Wesenheiten, ohne Zusammenhang mit 
dem persönlichen Leben ; dieses bleibt, trotz aller Erkenntnis, wo es 
war. Es bedarf einer anderen Einstellung, um einen großen Men- 
schen zumachen. So illustrieren die Hindus mit vorbildlicher Deut- 
lichkeit die Vorteile sowohl als die Nachteile eines rein auf Er- 
kennen gerichteten Daseins. Es führt zur Erkenntnis, wie kein 
anderes ; es führt ferner die geborenen Weisen und Heiligen zu 
einer Vollendung, wie sie unter anderen Voraussetzungen unerreichbar 
scheint; aber dem Leben der übrigen Menschen tut es nicht gut. 
Neuerdings weisen des Englischen mächtige Hindus, aufgestachelt 
durch ihnen mißfällige Urteile Europas, immer wieder darauf 
hin, daß die indischen Lehren dem praktischen Leben wohl gerecht 
werden und mit nichten Quietismus predigen. Gewiß tun sie 
das nicht; sie sind als Lehren die wahrsten und tiefsten, die um- 
fassendsten und erschöpfendsten, die es gibt. Aber sie haben auf 
das indische Leben nie eingewirkt. Dem Durchschnittsmenschen 
tut es nicht gut soviel zu wissen ; hört Alexander einmal, daß er vor 
Gott nur ein Blümlein ist, so dankt er nur allzu bereitwillig als 
Alexander ab. Er entscheidet für sich, daß kein bestimmtes Dasein 
Zweck habe, tut bestenfalls das Nächstliegende, füllt schlecht 
und recht die Stellung aus, in die er hineingeboren ward. Er ver- 
leugnet allzufrüh allen Ehrgeiz. Wohl lehren die heiligen Schriften, 
zum höchsten Leben sei nur der Höchste reif ; die übrigen hätten 
zu kämpfen, zu streiten, tätig zu leben, ehrgeizig zu sein, denn nur 
das bringe sie innerlich vorwärts. Aber welcher nicht Höchst- 
gebildete bescheidet sich dabei, nicht zum Höchsten geboren zu 
sein? Wo einmal ein Zustand als höchster proklamiert ward, dort 
sucht ihn jeder auf seine Art darzustellen. Im Osten gilt Ehrgeiz 
allgemein als gemein: das ist ein Unglück. Wohl bezeichnet es 
das Höchste, wenn ein Gewaltiger ohne Ehrgeiz ist, aber der 
Kleine, der keinen Ehrgeiz hat, kommt nicht vorwärts. Den Hindus, 
gleich Christus, gilt Sanftmut als höchste Tugend : dies ist ein Un- 
glück. Nur wer die Leidenschaft eines Peters des Großen besitzt, 
darf sich zum Ideal der Sanftmut bekennen; die Schwachen — 
und schwach sind die Hindus — macht es noch schwächer. 
Allverstehen gilt als Höchstes: von Unverständigen bekannt, 
hemmt dieses Ideal wie kein anderes die Entwickelung, denn es 
macht sie zu energielosen Skeptikern. So hat gerade die einzig- 
266 Fluch der Erkenntnistiefe ; der Yogi kein höchster Mensch. 
artige Tiefe ihrer Erkenntnis den Indern als Volk zum Verderben 
gereicht. Sie hat sie schlaff und schwach gemacht. Das ist höchst be- 
deutsam. Es ist wieder ein Beispiel, das Indien der ganzen Mensch- 
heit gibt. Es zeigt, wie wenig gut es tut, wenn alle als 
Philosophen nach Vollendung streben. Dieser Weg ist nur den ganz 
wenigen gemäß, die diesem Wesenstypus angehören ; alle anderen 
führt er ins Verderben. So bedeutet denn die indische Theorie, nach 
welcher der Rishi, der Yogi, ja der Sanyassi von allen Menschen 
der höchste sei, ein anderes als es den Anschein hat. Sie bedeutet 
nicht, daß diese Typen von allen tatsächlich die höchsten seien, 
nicht daß alle in deren Rahmen ihre äußerste Selbstverwirklichung 
finden würden: sie bedeutet, daß unter indischen Voraussetzungen 
nur geborene Philosophen und Heilige vollkommen werden können. 
Während die übrigen Menschen verkümmern. 
Dies denn wäre die wahre Ursache dessen, daß die Welt- 
anschauung der Inder nicht mit Unrecht als quietistisch gilt : 
nicht die Lehre als solche erkennt dem Nicht-Handeln gegen- 
über dem Handeln, der Apathie gegenüber der Energie den Vorrang 
zu, sondern dies ist der Sinn, in dem sie eingewirkt hat auf das 
Leben. Nicht nur die Theosophen haben aus den theoretischen 
Lehren der Alten, die als solche wohl auf Allgemeingültigkeit An- 
spruch erheben können, besondere praktische Folgerungen gezogen, 
gegen welche mancherlei zu erinnern ist, ein gleiches gilt von den 
Indern selbst. Als Erkenner haben sich die Hindus wie sonst kein 
Volk über die Zufälle der Empirie hinausgehoben ; aber das prak- 
tische Leben ist dem Hochflug des Geistes nicht nachgefolgt; es 
hat ihn durch desto ausgesprochenere Spezifität als Ausdruck jener 
Hybris entlarvt, welche die Götter niemals ungestraft lassen. 
Ein Allgemeines kann nicht zur Lebensmacht werden, nur Be- 
stimmtem gelingt dies; was im Falle einer Weltanschauung besagt: 
eine bestimmte Auffassung und Ausdeutung ihrer, eine bestimmte 
praktische Anwendung. So sind die noch so universellen Erkennt- 
nisse der Rishis von vornherein spezifisch verstanden worden. Der 
Atman, lehren die Veden, ruht jenseits der Erscheinungen rein in 
sich, nicht Name, nicht Gestalt, nicht leidend, nicht handelnd. Des 
Daseins höchstes Ziel ist, eins mit ihm zu werden, d. h. sich so tief 
zu verinnerlichen, daß das Bewußtsein im Prinzip des Lebens 
Quietistische und aktivistische Deutung vedischer Lehren. - 267 
Wurzel faßt. Aus dieser Lehre können mehrfache praktische Kon- 
sequenzen gezogen werden. Die Hindus haben als Höchstes hin- 
gestellt, sich aus dem Leben in die Gottheit zurückziehen, mithin 
die Schöpfung zu eskamotieren. Pias royalistes que le rol, weiser 
als Brahman selbst, der es für gut befand, sich zum Weltall 
zu entfalten, haben sie ihr ganzes Streben darauf gerichtet, 
über das Werden hinauszugelangen. So mußten ihnen die Entsager 
als absolut-höchste Menschentypen gelten, konnten sie in der Ge- 
staltung dieses Lebens keinen Wert erkennen. Ich würde aus den 
gleichen Lehren mit gleicher logischer Berechtigung die entgegen- 
gesetzten praktischen Schlüsse ziehen. Wir sollen den Atman in uns 
erkennen und dann verwirklichen in dieser Welt ; wir sollen Brah- 
man, dessen Teilausdrücke wir sind, dazu verhelfen, sich in der Er- 
scheinung zu vollenden. So aufgefaßt, wirken die vedischen Lehren 
nicht sterilisierend, sondern im höchsten Grade produktiv. Unsere 
Handlungen, erkennt die Vernunft, stehen in keinem notwendigen 
Verhältnis zum Selbst: man bringe es dahin, daß alle den 
Atman spiegeln! Das Bewußtsein, das der Synthesis des Ver- 
standes entspricht, ist an sich nicht das tiefste Ich: man bilde 
es soweit aus, daß es diesem zum Ausdrucksmittel wird. Und 
so fort. Hätte einer nun dieses erreicht, hätte er sein Gött- 
liches im Irdischen ganz verwirklicht, dann stellte sich für ihn die 
ganze Frage des Unterschiedes zwischen Absolutem und Relativem 
nicht mehr, dann brauchte er sie weder zu bejahen noch zu ver- 
neinen, da er als Wesen in der Erscheinung lebte. Daß die Inder 
nicht diese Alternative gewählt, die sie doch wieder und wieder als 
höhere erkannt haben und die zweifelsohne alle Vorzüge für sich 
hat, ist auf empirische Umstände zurückzuführen: vorzüglich wohl 
auf die Einflüsse der Tropenwelt. Diese haben die arischen Ein- 
wanderer mehr und mehr aus energischen zu indolenten Geschöpfen 
umgewandelt, ihrem Leben mehr und mehr jenen vegetationsartigen 
Charakter verliehen, der seinen vollendeten Ausdruck dann im Bud- 
dhismus fand. Es hat nichts genützt, daß sie diesen als solchen 
überwunden haben, wohl aus der unbewußten Erkenntnis seines 
Entartungscharakters heraus; seine Tendenz war die Tendenz 
ihres Blutes. 
Nun fragt es sich : hätten die Hindus als Erkenner und Schauer 
des Göttlichen eine so einzig hohe Stufe erreicht, wenn sie als 
Menschen anders gewesen wären? Hätten sie das, was not tut, so 
268 Grund der indischen Indolenz; der Verstehende Immer charakterlos. 
klar erkannt, wenn sie fähig gewesen wären, es zu verwirk- 
lichen? Wahrscheinlich nicht. Der große Moralist ist typischer- 
weise amoralisch, weil Vorurteilsfreiheit Hemmungslosigkeit be- 
dingt; der große Versteher typischerweise charakterlos, weil er 
keine Gestaltung als absolut beste beurteilen kann; umgekehrt 
ist der große Täter typischerweise beschränkt. Hier bestätigen 
die Ausnahmen nur die Regel, sofern sie nicht einer höheren 
Daseinsstufe angehören, auf welcher die menschliche Kompensations- 
norm nicht mehr gilt. Daß die Inder sich der Einseitigkeit ihrer 
Veranlagung gefühlsmäßig auch bewußt sind, beweist ihre gut 
katholische Gesinnung, ihre ausgesprochene Abneigung gegen alles 
Protestantisieren : sie fühlen, daß sie, innerlich allzu frei, der festen 
äußeren Normen bedürfen, um nicht auseinanderzugehen. Es wird 
ferner bewiesen dadurch, daß sie in unerhörtem Grad bei allen 
Erkenntnisfähigen das Erwerben vollkommener Erkenntnis (nicht 
eines edlen Charakters, einer vornehmen Gesinnung usw.) als 
das Ziel des Lebens hingestellt haben : der wesentlich erkennende 
Mensch kann sich nur aus der Verstandeseinsicht heraus entscheiden. 
Aber gleichviel ob sie es gewußt haben oder nicht: die Tatsache 
steht fest. Zur höchsten Vollendung in den Sphären des Erkennens 
und des religiösen Realisierens ist eine Naturbasis erforderlich, die 
Vollendung in anderen Richtungen, wenn nicht ausschließt, so doch 
äußerst erschwert. Das weiß das Volk, sofern es sich wundert, wenn 
ein „Kluger" gleichzeitig „gut" ist; das weiß die Wissenschaft, so- 
fern sie konstatiert; daß ein höheres Maß von Religiosität außer- 
ordentlich häufig an eine Naturanlage gebunden erscheint, die sie 
als „pathologisch" beurteilt; das weiß im Fall der Künstler die 
öffentliche Meinung der ganzen Welt. Nur ganz selten sind 
solche menschlich vollwertig. Es ist, um eine Analogie aus der 
Biologie, die vielleicht mehr als eine Analogie ist, anzuführen, als 
ob im Erkenner, im Religiösen, im Dichter „Gene" in Kraft träten, 
welche die Äußerung derer des Täters, des Charakters, des 
Ethikers hindern. Bei jenen verläuft das eigentliche Leben in der 
Sphäre des Psychischen; dessen Umsetzen in und Wirkung auf 
das, was anderen das „wirkliche" Leben ist, bedeutet fast nichts 
in bezug auf ihr Wesen. Um vollkommen zu erkennen, muß man 
nicht allein ganz der Erkenntnis leben, man muß gewissermaßen 
Erkenntnis sein; man muß sich ausleben im Erkennen, wie Frauen 
in der Liebe. Wer dies nun tut, der kann seine primäre Energie 
Antinomisches Verhältnis von Erkennen and Leben. 269 
der Anwendung seines Wissens auf das Leben nicht zuwenden, 
denn sie ist schon anderweitig gebunden. 
So bedeutet es letzthin ein Mißverständnis, den Hindus 
einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie sich in der Welt des 
praktisch-tätigen Lebens nicht ebenso groß erwiesen haben, wie in 
denen der Erkenntnis und des religiösen Gefühls. Ihre Schwächen 
bezeichnen den Kaufpreis ihrer Vorzüge. Freilich sind nicht alle 
Hindus Erkenner, und die Nicht-Erkenner unter ihnen sind 
dementsprechend minderwertiger als europäische. Aber im glei- 
chen Sinn sind die Faulenzer Europas unverhältnismäßig viel 
schlimmer als die von Indien. Jedes Kultursystem ist am Durch- 
schnittscharakter des Volkes orientiert, das es erfand, und Erziehung 
in dessen Geist und Rahmen gereicht mit Unvermeidlichkeit 
denen zum Nachteil, deren Art von der durchschnittlichen ab- 
weicht. Nun mag man die Frage aufwerfen, ob nicht irgendeine 
Richtung in der Gestaltung vor den anderen absolute Vorzüge be- 
sitze? so die christlich-europäische vor der indischen? Viele halten 
dafür; ich kann mich nicht entscheiden. Sofern die größte Voll- 
kommenheit der Massen als Maßstab angesetzt wird, ist es wohl 
möglich, daß wir das bessere Teil erwählt haben. Aber kommen 
quantitative Gesichtspunkte in wesentlichen Verhältnissen in Frage? 
— Ich bescheide mich bei der Feststellung der Tatsache, daß Indien 
und nicht Europa die bisher tiefste Metaphysik und das bisher voll- 
kommenste religiöse System hervorgebracht hat. 
Sintemalen nun den Indern das Psychische das Primäre be- 
deutet, insofern ihr Realisieren in der Vorstellung biologisch äqui- 
valent ist dem Realisieren in der Praxis unter uns, ist es klar, daß 
ihnen die Erkenner, die Versteher, die weltfeindlichen Schauer 
und Ekstatiker als höchste Typen gelten müssen. Unter ihren Voraus- 
setzungen sind sie es. Und es ist nicht weiter befremdlich, daß sie 
verwundert aufschauen, wenn ein Europäer sie fragt, ob nicht höhere 
Daseinsformen denkbar seien. 
So bezeichnen denn die Rishis, die stillen Weisen ^us den 
Himalayas, nicht den höchsten Menschentypus überhaupt? Ist 
ein höherer denkbar? — Beide Fragen sind zu verneinen ; die 
erste schlechthin, die zweite, weil sie ein Mißverständnis einschließt. 
Daß der höchste Erkenner nicht gleichzeitig der höchste Mensch 
270 Der „höchste Mensch" ein Unbegriff. 
überhaupt ist, geht aus den vorhergehenden Betrachtungen ein- 
deutig hervor; jener setzt eine Naturbasis voraus, die als solche be- 
schränkt, viel wertvolle Möglichkeiten ausschließt. Die Frage aber, 
ob ein höherer denkbar sei, schließt ein Mißverständnis ein, inso- 
fern sie der Voraussetzung entspringt, es könne einen absolut höch- 
sten geben. Es gibt keinen solchen, kann ihn nicht geben, weil jeder 
bestimmte Typus an Grenzen gebunden ist, die ihn vom Stand- 
punkte der Universalität entwerten. Keine Beschränkung ist ein 
Vorzug, kein Trieb sollte erstickt werden; der absolut höchste 
Mensch wäre der, welcher sämtliche Potenzen des Menschen- 
tums in sich zu vollendeter Verkörperung brächte; und das kann 
nicht gelingen, weil jede verwirklichte Möglichkeit viele andere 
aufhebt oder ausschließt. Alle konkretisierbaren Ideale stehen in 
Wechselbeziehung zu einer bestimmten Naturbasis ; so lassen sich 
vollendete Engländer oder Franzosen, vollendete Weisen, Heilige, 
Könige, Künstler denken, aber keine vollendeten Menschen schlecht- 
hin. „Der vollendete Mensch", als Typus gedacht, ist ein Unbegriff. 
Daß die Menschheit dies so lange nicht begriff, hat ihr unberechen- 
baren Schaden zugefügt. Wie teuer ist uns die Nachfolge Christi 
zu stehen gekommen ! Auch er bezeichnet nur die Vollendung eines 
bestimmten Typus (der freilich gewechselt hat, je nach der Vor- 
stellung, die man sich von Jesus machte), und dessen Hypostasierung 
zum allgemeingültigen Menschheitsideal hat Millionen schönster 
Anlagen an der Entfaltung verhindert. Daher die in so vielen 
Hinsichten niedrigere Kulturstufe der christlichen Menschheit 
gegenüber der antiken, daher gewisse auf Verdrängungen zurück- 
gehende unreinliche Züge, die den Christen überall noch heute 
von allen Andersgläubigen unvorteilhaft auszeichnen. Die indische 
Weltanschauung hat freilich in der Theorie diesen Gefahren vor- 
gebeugt; aber eben, wie wir sahen, nur in der Theorie. In der 
Praxis hat die Idealisierung der entsagenden Erkenner den Tätern 
die Kraft gelähmt, alle äußere Lebensgestaltung entmutigt, den Tonus 
des ganzen Daseins herabgestimmt. Immerhin ist die Theorie gar 
wundersam. Sie lehrt einerseits, daß jeder Typus sein besonderes 
Dharma habe und nur diesem nachstreben soll, andererseits aber 
statuiert sie eine normale Folge: aus dem Dharma des Qudra er- 
stehe das des Vaicja, aus dem des Vaicja das des Kschattrya, aus 
dem des Kschattrya das Dharma des Brahmanä und wer dieses voll- 
kommen erfüllt, verkörpere den höchstdenkbaren Menschentypus. 
Kein Zustand ideal; die Menschheitssymphonie. 27 1 
Sie statuiert also wohl den Zustand des Rishi als höchstes Mensch- 
heitsideal, lehrt aber andrerseits, daß dieser Zustand nur einer be- 
bestimmten Anlage erreichbar sei, die ihrerseits vom — Alter der 
Seele abhänge. Das höchste Ideal ist ihr sonach das höchste nicht 
eigentlich im Sinn absoluter Allgemeingültigkeit, sondern in dem, 
daß es das letztmögliche darstelle. Damit haben die Inder in 
der Tat die Wahrheit erfaßt, welche wahr bleibt, auch wenn man 
das mythische Gerüst, das sie trägt, ganz fallen läßt. Unzweifel- 
haft trägt die Weisheit Alterszüge, unzweifelhaft steht sie der 
Jugend nicht an; unzweifelhaft läßt sie den alt erscheinen, der 
sie in noch so jungen Jahren gewann. Aber ebenso unzweifelhaft 
bezeichnet sie die Krönung des Lebens. Mehr als weise kann 
man nicht sein. — . Wären die Inder in der Praxis ebenso ein- 
sichtig gewesen wie in der Theorie, so könnte man wohl sagen, 
sie hätten das Lebensproblem gelöst. Aber die Voraussetzung 
trifft eben nicht zu. Trotz ihrer besseren Einsicht haben sie im 
Weisen als Typus ein allgemeingültiges Vorbild gesehen. So ist 
es zu erklären, daß die modern-europäische Menschheit trotz ihrer 
Roheit, Erdbefangenheit und Seelen-Blindheit, ja wegen ihrer 
materialistischen Ideale, die eben die echten Ideale ihrer Natur- 
stufe sind, im ganzen auf einer menschlich-höheren Stufe steht, 
als die von Indien. 
Es ist ein Aberglaube — vielleicht der Aberglaube, welchen 
abzulegen heute am meisten not tut — , daß das Ideal in irgend- 
einem bestimmten Zustande verkörpert liegt. Kein Wesen steht 
vereinzelt da; vom Standpunkte des Alls ist die ganze lebendige 
Natur ein Zusammenhang, ist das Einzelne nie mehr als ein Ele- 
ment und keins ist denkbar, welches die übrigen resümierte, wie 
dies der Fall sein müßte, damit es allen als Vorbild gelten könnte. 
Jedes ist ein Organ des Lebens, nicht mehr, und daher nur vom 
Ganzen her zu verstehen, nur in Wechselbeziehung zu anderen, anders 
qualifizierten Organen in seiner Sonderart daseinsberechtigt. Aber 
es gibt Elemente von verschiedener Bedeutung ; auf einigen ruht 
viel Nachdruck, auf anderen wenig. Und auf die hin, welche viel be- 
deuten, ist das übrige abgestimmt. Die Typen, welche die Mensch- 
heit seit je als höchste verehrt hat, verkörpern die Grundtöne in 
der Symphonie; je richtiger sie verteilt sind, je voller und reiner 
sie erklingen, desto schöner die Musik. Die Heiligen und Weisen 
verkörpern die Grundtöne, während in den übrigen Typen nur 
272 Weise und Heilige als Grundtöne. 
Mittel- und Obertöne inkarniert sind: dies ist der einzige Sinn, 
in welchem jene über den anderen stehen. Aus dieser Bestimmung 
ergibt sich von selbst, wie sich die einen zu den anderen ver- 
halten sollen. Die Obertöne sollen nicht zu Grundtönen werden 
wollen, aber abstimmen sollen sie sich nach ihnen: in diesem 
Verstand tut allen Menschen die Verehrung der Weisen und 
Heiligen gut. Insofern diese Grundtöne sind, ist ihr Dasein auch 
notwendig — notwendiger fürwahr als alles nützliche Handeln 
der Männer der Tat: sogar ein verhaltener, ja ein nicht ange- 
schlagener Grundton wirkt; ist die Musik auf ihn nur abgestimmt, 
so ist es gut. Deshalb schadet es nicht, daß Heilige selten sind, 
daß ein Christus, wie wir ihn verehren, vielleicht niemals gelebt 
hat; so ist es durchaus in der Ordnung, daß die verehrten Großen 
Metamorphosen durchmachen im Laufe der Zeit: wo die Melodie 
ihre Tonart ändert, muß gleiches mit den Grundtönen geschehen. 
Aber diese allein tun es nicht; keine Baßgeige ersetzt das 
Orchester; nur in diesem kommt sie selber zur Geltung. So 
macht der Heilige das Weltkind nicht überflüssig, sondern beide 
sind unmittelbar auf einander angewiesen. 
Von hieraus erscheint denn die alte Frage der absoluten Werte 
gelöst. Freilich gibt es solche, aber nur im Sinn von Grundtönen. 
Auf sie ist das Lebensganze bezogen; immer gelingt es, sie 
als das Wesentliche zu erweisen. Aber andrerseits mißlingt es je 
und je, von ihnen allein aus dem Leben theoretisch gerecht zu 
werden oder es praktisch zu gestalten. So oft das versucht ward, 
erschien es verdürftigt, verarmt; es war, als ob die Pastoral-Sym- 
phonie von lauter Kontra-Bässen aufgeführt würde. Eine purita- 
nische Weltauffassung hat immer nur geschädigt; wo das Mora- 
lische oder das Spirituelle allein als wertvoll anerkannt ward, ist 
dieses immer zum Nachteil der menschlichen Vollkommenheit ge- 
schehen. So mußte es kommen. Allerdings sind die absoluten 
Werte an sich selbst in den Typen des Heiligen und des Weisen 
verkörpert, aber für sich allein sind diese nichts; sie setzen alle 
anderen voraus. Drum ist es lächerlich, verfehlt, ja frevelhaft, 
vom Standpunkt absoluter Werte her irgendwelche Erscheinungen 
vernichten zu wollen, die in ihrer Art vollkommen sind: was 
immer sie seien, sie widerstreiten den absoluten Werten nicht; 
diese bedingen vielmehr jene von innen her, wie der Grundton 
die Diskantfolgen bedingt. So münden denn auch diese Betrach- 
Die indische Götterdämmerung. 273 
tungen in der Erkenntnis ein, die sich so oft schon als letztes Wort 
erwies: Vollendung, spezifische Vollendung ist das eine, einzige 
Ideal, welches jedem gemäß ist. Ob einer zum Grund- oder zum 
Oberton geboren ward, ist Gottes Sache; die seine ist, rein zu 
erklingen. 
Nun ist klar, inwiefern Buddha und Christus nicht allein, son- 
dern auch die großen indischen Erkenner, die Rishis, doch als all- 
gemeingültige Vorbilder gelten dürfen : nicht als Typen, sondern als 
Vollendete. Als Typen bezeichnen sie Sondererscheinungen, nur 
denen als Ideale ersprießlich, die dem gleichen Typus angehören 
wie sie. Aber als Vollendete, als Wesen, die im Rahmen eines be- 
liebigen Typus ihre Möglichkeiten vollkommen erfüllt haben, 
können und sollen sie allen ein Beispiel sein. 
Heute, um Sonnenuntergang, zum Abschied von Benares, bin 
ich noch einmal in Sarnath gewesen, dem Ruinenkomplex, 
der den Ort bezeichnet, an welchem Buddha seine erste be- 
rühmtgewordene Predigt hielt. Mehrere Besucher aus Ceylon waren 
anwesend, unter diesen zwei gelbgewandige Bhikshus. Sie scharten 
sich um die von Acoka errichtete Stupa und hielten im kleinsten 
Kreis einen liturgischen Gottesdienst ab. Welcher Gegensatz mit 
den Riten der Hindutempel ! Wie schlicht, wie einfach, wie un- 
kompliziert ist die buddhistische Frömmigkeit! — Ich ließ die 
Stimmung von, Sarnath von meiner Seele ganz Besitz ergreifen und 
vergegenwärtigte mir dann alles das, was ich in Benares gesehen und 
erlebt. Ja, der Buddhismus kann dem wohl eine frohe Botschaft 
sein, dessen Seele müde geworden ist des Reichtums und der Viel- 
fältigkeit; der sich abgehetzt fühlt nach so vielen Wiedergeburten, 
dem es um Weiterkommen nicht mehr zu tun ist, welcher nur 
noch das Ende will. Im Buddhismus geht die Sonne Indiens unter; 
ihm eignet der ganze Stimmungsgehalt der Dämmerstunde, die 
ganze Süßigkeit der Hoffnung auf baldige Ruh, die ganze Heil- 
kraft des liebreich gegebenen Versprechens: nun wird bald alles, 
alles überstanden sein. 
Noch hält mich die Stimmung von Sarnath. Nur Ruhe will ich 
heute Nacht, Ruhe um jeden Preis. Und da denke ich mir, wie 
wunderbar wäre es doch, wenn Buddha wahrgesprochen hätte mit 
seiner Behauptung, es sei möglich, für immer zu verlöschen. 
Keyserling, Reisetagebuch. 18 
274 Das Nirwana; der Schauplatz von Buddhas Erleuchtung. 
Aber ist es möglich? Steckt nicht vieltausendmal mehr Hybris in 
dieser Vorstellung, als in der vieltausendfacher Wiedergeburt? 
Als Hybris faßten die Götter das Unterfangen Buddhas auf; und 
er wußte wohl, wie Ungeheueres er vollbracht hatte. Die ganze 
Schöpfung von Brahma abwärts muß ewig weiter werden, nur er, 
ein Menschensohn, vermochte es, aus . dem Kreislauf heraus- 
zutreten. . . . Das Nirwana Buddhas ist ein anderes, als das des 
Hindutums; diesem galt es als positivster Zustand, Buddha faßte 
es wesentlich als Ende auf. Er hat nichts darüber geoffenbart, 
was es sei, hat alle Möglichkeiten offen gelassen; aber der Nach- 
druck lag ihm unstreitig auf dem Ende. Dies gibt dem Buddhis- 
mus seinen einzigartigen Stimmungsgehalt, seine süße Sonnen- 
untergangsfärbung. Von allen Götterdämmerungen, die es ge- 
geben, ist die, zu welcher die Predigt von Benares den Anstoß 
gab, einer Dämmerung am ähnlichsten gewesen. 
BUDDHA-GAYA. 
An dieser heiligsten Stätte des Buddhismus weht eine wunder- 
same geistige Luft. Es ist nicht die Atmosphäre des Bud- 
dhismus als solchen, wie ich sie vorgestern erst in Sarnath 
gespürt; nicht die der Andacht überhaupt, wie am Ganges oder 
zu Rämeshväräm ; auch nicht jene Stimmung der Weihe, welche 
jedes große Denkmal umgibt: es ist der eigenste Geist einer Stätte, 
wo ein bestimmter Mensch von einzig dastehender Größe sich selbst 
gefunden hat. Vieles mag dazu beigetragen haben, daß er sich so 
mächtig und rein erhalten hat, so mächtig und rein in jedem 
empfänglichen Gemüte neuersteht. In erster Linie ist es gewiß die 
Tatsache, daß Buddha eben hier, im Schatten des Bodhibaums, der 
heute noch grünt, seine Erleuchtung fand — eine Erleuchtung von 
solcher Intensität, daß sie fort und fort in Millionen von Seelen nach-\ 
leuchtet. Dann stellt Buddha-Gaya eine historische Monade dar, so 
ausschließlich, wie nur ganz wenige Stätten dieser Welt; ich wüßte 
nur noch Delphi zu nennen. In einem künstlichen Tale abge- 
schlossen ruht das Heiligtum, eine Welt für sich, in der jedes 
Einzelne an die großen Tage von einst gemahnt; der Tempel, die 
Buddha größer als Christus; Wesen der „Gnade 41 . 275 
Steinzäune, die Daghobas — alle stammen noch aus Acokas Zeiten. 
Endlich tragen die Pilger dazu bei, daß die verklingenden 
Schwingungen immer wieder aufleben. Buddha-Gaya liegt fern 
ab von den Reichen, in denen der Buddhismus heute blüht; nicht 
viele wallfahrten her. Die aber, welche den weiten Weg nicht 
scheuen, meinen es ernst; bloß Neugierige kommen nicht. Heute 
weilen einige Birmaner, ein paar Japaner und ein Dutzend Tibetaner 
hier; alle tief durchdrungen davon, was Gaya für die Mensch- 
heit bedeutet, und so vibrieren ihre Seelen in Harmonie mit den 
Schwingungen der Stätte selbst. Tiefster, heiligster Friede waltet 
hier; alle Stimmen dämpfen sich von selbst. Und die alten Bäume 
flüstern sich leise leise ihre großen Erinnerungen zu. 
Buddha-Gaya ist für mein Gefühl der heiligste Ort der ganzen 
Erde. Jesu Lehre war tiefer als diejenige Gautamas, aber ein so 
überlegener Mensch, wie der Buddha, war er nicht. Er war eine 
jener Sonnennaturen, wie sie hie und da von ungefähr auf der 
dunklen Erde erstehen, ein Sonntagskind, über das der Geist als 
ein reines Geschenk gekommen war, der für Menschenbegriffe 
nichts dafür konnte, was und wer er war. Er war wirklich ein 
Gott unter Menschen. Allein der geborene Gott bedeutet weniger 
für uns als der Mensch, der sich zur Gottheit emporrang, und ein 
solcher ist Buddha gewesen. 
Die buddhistische Legende erzählt, daß die Götter vor Buddha, 
dem Menschen, angebetet hätten ; und den Brahmanen erscheint sie 
nicht unglaubwürdig. Die Inder haben, im Gegensatz zu uns, das 
Verhältnis von Gnade und Verdienst immer richtig verstanden und 
gedeutet. Ohne Zweifel wird das Äußerste dem Menschen durch 
Gnade allein zuteil, aber nie doch kommt die Gnade unverdient: sie 
ist die notwendige Krönung des Verdienstes. Was die mystische 
Redeweise mit dem Erlebnis des Hereinbrechens der Gnade besagen 
will, ist jenes Hindurchgehen durch einen kritischen Punkt, jene 
scheinbare Solution de continuite, die überall in der Natur zwischen 
qualitativ verschiedenen Zuständen liegt. Wie nach stetiger 
Temperaturerhöhung das Wasser auf einmal zu Dampf verweht 
oder nach stetigem Sinken auf einmal zu Eis gerinnt — so folgt 
der Zustand der Gnade auf den des Verdienstes. Freilich braucht 
das „Verdienst" nicht in unserem Sinne eines zu sein; die Wege 
Gottes entsprechen nicht notwendig den Postulaten von Ver- 
nunft und Moral ; unbefangene Sünder sind dem Heil meist näher 
18* 
276 Christus nicht Vater des Christentums; Buddha und Augustin. 
als behutsame Gerechte. Aber nie doch wird die Gnade einem zuteil, 
der sich nicht in „seinem dunkelen Drange des rechten Weges wohl 
bewußt gewesen wäre", nie einem Kleinen, einem Feigen, einem 
Gemeinen; sie setzt eine Qualität des Willens voraus und eine 
innere Wahrhaftigkeit, die deren noch so unvollkommenen Besitzer 
über alle Tugendhaften hoch hinaushebt. Die Masse der Mensch- 
heit ahnt wohl, daß es einen Aufstieg gibt, aber sie weiß 
nicht wie und wo ihn zu beginnen. Erscheinen Sonnensöhne, 
gleich Jesus, an ihrem Horizont, so verehrt sie wohl, glaubt 
wohl auch der Verheißung, ist aber kaum ermutigt, denn der Ab- 
stand erscheint zu groß und der Weg zu ihnen hinan nicht 
deutlich. Ersteht hingegen einer aus ihrer Mitten, der, geboren 
ein Mensch wie alle, sich über das Menschentum dennoch hinaus- 
arbeitet, dann fühlt sie sich begeistert, beschwingt, und folgt ihnen 
hoffnungsfroh nach. So war es immer. Durch Christi Beispiel als 
solches wäre die westliche Menschheit nie zum Aufstieg angespornt 
worden ; er war zu inkommensurabel ; er ist auch nicht der Vater 
des Christentums. Wäre Paulus nicht aufgetreten, ein Mann, der, 
ein Weltkind, jedermann verständlich, zuletzt zum Heiligen er- 
wuchs, wir wüßten von Jesus nichts mehr. Und daß das Christen- 
tum zur Weltreligion ward, zu einer frohen Botschaft für den ganzen 
Westen, das ist das Verdienst Augustins. Diese gewaltigste aller 
ethischen Naturen, die der Okzident hervorgebracht, hat das mensch- 
liche Beispiel gegeben, dank welchem Christus erst zum Beispiel hat 
werden können. Sein Leben bewies, daß die Sünde nicht bloß 
Hemmung sondern auch Hilfe ist, daß es gerade die Schranken 
der Natur sind, die deren Überwindung möglich machen; daß die 
Unvollkommenheit eben der Stoff ist, dessen Gott bedarf, um im 
Menschen Gestalt zu gewinnen. So gilt sein Beispiel wirklich für 
jedermann. — Aber Buddha war noch größer als Augustin. Von 
größerem Menschentum ist er ausgegangen, tiefere und reichere 
Erfahrungen hat er gemacht; und eine Höhe der Überlegenheit 
zuletzt erreicht, wie keine andere Persönlichkeit der Geschichte. 
Er war so groß, daß der eine Antrieb genügt hat, um das Rad des 
guten Gesetzes bis heute in Bewegung zu erhalten. Der Buddhismus 
hat keinen Paulus gehabt und keinen Augustin. Sambuddha war 
ihm alles in allem. 
Die Schriftgelehrten wundern sich oft mit der Naivetät, die ihr 
Götterrecht ist, darob, woher es nur komme, daß Christus und 
Das Wort muß Fleisch werden; Buddhas einzige Größe. 277 
Buddha so viel mehr bedeuten als alle großen Geister der Vor- und 
Nachwelt, wo jener doch nichts gelehrt hat, was nicht vor ihm und 
nach ihm auch verkündet worden wäre und dieser an Tiefe der Er- 
kenntnis hinter seinen Vorgängern zweifellos zurückstand: der 
Grund ihrer größeren Bedeutung ist der, daß das Wort in ihnen 
nicht Wort geblieben, sondern zu Fleisch geworden ist; das aber 
ist das Äußerste, was zu erreichen ist. Um weise zu erscheinen, be- 
darf es bloß des Schauspielertalents, um im üblichen Sinne weise 
zu sein, nur eines überragenden Geistes: bis daß einer zum Buddha 
wird, muß das Höchsterkannte zur zentralen, treibenden Kraft des 
ganzen Lebens geworden sein, muß es die Macht gewonnen haben, 
unmittelbar die Materie zu regieren. Wie leicht läßt sich Ge- 
dankenstoff bewegen! wie leicht zu den herrlichsten Gestalten 
bilden! Im gleichen Sinn das ganze Ich zu formen, so daß jeder 
einzelne Trieb zum Organ des Ideales wird — das setzt ein Kraft- 
maß voraus, das übermenschlich scheint. Wohl ist es in jedem 
latent vorhanden, wie denn das kleinste Molekül genügend Energie 
in sich beschließt, um, falls sie frei würde, ein Reich in die Luft 
zu sprengen. Allein der Mensch verfügt nicht über sie; erst der 
Übermensch kann mit ihr schalten. Der Mann, in dem eine Er- 
kenntnis, die an sich geringer war, als ein Vyäsa sie besessen 
haben mag, zum schöpferischen Wesenszentrum ward, ist mehr 
als alle Weisen je waren. 
Es ist tief bedeutsam, daß der größte aller Inder kein Yogi und 
kein Rishi war; daß er, nachdem er zuerst dem traditionellen Ideale 
nachgestrebt hatte, dieses nachher verleugnete. Er als einziger Inder 
hat erkannt, daß kein bestimmter Zustand, so hoch er immer sei, 
ein absolutes Ideal verkörpert; daß der Yogi als solcher dem Ziel 
nicht näher steht als die Hetäre; daß Vollendung das eine ist, was 
not tut. Und weil diese Erkenntnis in ihm zum Leben ward, das 
„Wort" zu „Fleisch", nicht als Geschenk von oben, sondern auf 
dem Wege natürlichen Wachstums, durch intensive Selbstkultur be- 
schleunigt, deswegen bezeichnet Buddha das größte Beispiel der 
Geschichte. In ihm erst ist die indische Grunderkenntnis ganz 
fruchtbar geworden, daß es von uns abhängt, ob wir Menschen 
bleiben oder hinauswachsen über alle Bestimmtheit durch Name 
und Form. Die Rishis benutzten sie zum Hinausfliegen über die 
Erscheinungswelt, die Yogis meist nur zur Erklimmung einer 
höheren Staffel in derselben. Buddha allein unter Indern hat sie 
278 Buddha und der Buddhismus ; die Himalayas. 
richtig verstanden und für seine Person vollkommen richtig ange- 
wandt: daher die ungeheure Zeugungskraft seines Beispiels, das 
heute fruchtbarer zu werden verspricht, als es jemals war. Buddhas 
Lehre freilich ist nichts weniger als frei von den Bindungen von Name 
und Form; sie ist nur eine Ausdeutung unter anderen des indischen 
Grundgedankens, und von allen wirksam gewordenen vielleicht die 
oberflächlichste. Aber Buddha war überhaupt kein Denker. Man 
tut ihm Unrecht, indem man ihn nach dem Wahrheitsgehalt der 
buddhistischen Lehre beurteilt. Ihm bedeutete diese anderes und 
wesentlich mehr, als ihr Wortlaut zu ahnen gestattet und diese 
Bedeutung bestimmt noch heute zum großen Teil den Charakter 
des Buddhistentums. Die vier edlen Wahrheiten, an sich beinahe 
Trivialitäten, bergen einen spirituellen Kern, der durch die noch so 
dürftige Schale hindurchwirkt. Die buddhistische Lehre ist eben in 
Wahrheit nur ein Gelalle wie so vieles des Höchsten, was die Mensch- 
heit besitzt; ein Gelalle, das doch wieder und wieder verstanden 
wird und geheimnisvollerweise mehr Leben weckt als die meiste 
artikuliertere Weisheit. Aber der Buddhismus ist es doch nicht, 
der Buddhas einzigartige Größe bedingt: es ist das lebendige Bei- 
spiel, das er gab. So erklärt es sich, daß in dem Indien, wo sonst 
keine Wirklichkeit standhält, wo alle historischen Gestalten im 
Nu zu Träumen zerrinnen, dieser eine Mensch fortgelebt hat in 
Erinnerung, Wort und Bild, so wie er auf Erden gewandelt ist. 
Ich denke von hier aus an das zurück, was ich zu Benares 
über Heilige und Weise als Grundtöne niederschrieb. Eins habe 
ich damals auszuführen vergessen: inwiefern Buddha einen tieferen 
Grundton verkörpert als alle Rishis. Er tut es insofern, als das 
Leben tiefer liegt als die Erkenntnis. Ein zu Fleisch gewordenes 
Wort bedeutet mehr als dieses an sich. Deswegen steht der 
Heilige über dem Weisen. 
IN DEN HIMALAYAS. 
Heute früh, lange ehe die Sonne sichtbar ward, habe ich die 
Giganten des Himalaya ihre Strahlen auffangen sehen. Die 
Erde lag unsichtbar in Nacht; auf Wolkenhöhe, in un- 
sicherem Dämmerlicht, strichen bleiche Nebel dahin. Sie aber, hoch 
über allen Wolken, erglühten im Frühgruß des Tags. 
Das Reich der Götter. 279 
Gestern, als ich anlangte, war der Himmel bedeckt, aber wieder 
und wieder zerriß ein scharfer Wind das graue Tuch und man be- 
deutete mir, daß ich auf kurze Augenblicke vielleicht des Kinchin- 
yonga ansichtig werden möchte. Ich suchte nach ihm, wo nach an 
Alpenerfahrungen gewonnenem Maßstabe ein über hundert Meilen 
entfernter Berggipfel zu sichten sein müßte, fand jedoch nichts ; 
bis ich zufällig meine Augen aufwärts wandte: dort, wo ich nur 
Himmelskörper vermutete, erglänzte sein Firn. . . . Noch nie bin ich 
gleich überwältigender Materie gegenüber gestanden. Der Himalaya 
ist kein Gebirgsmassiv, wie andere auch ; es ist, als hätte der ge- 
borstene Mond sich jählings der grünen Erde aufgepflanzt, so un- 
irdisch, kosmisch-groß, so außer alles Zusammenhangs mit den 
Gestaltungen dieses Planeten wirkt er. Weit, weit vom Punkte, da 
ich stehe, reicht der Blick über Berge und Täler hinaus, die Ketten 
aufgefaltet zum Niveau höchster Alpengipfel, die Täler ausge- 
schnitten schier bis zum Spiegel des Meers. Formation schichtet 
sich auf Formation, Flora auf Flora, Fauna auf Fauna; subtropische 
Vegetation geht mählich in arktische über; auf das Reich des Ele- 
fanten folgt das des Bären und zuletzt des Schneeleoparden. Und 
über diesen Welten erst beginnt der eigentliche Himavat. — Freilich 
muß dort, wenn irgendwo, das Reich der Götter liegen. Ich ge- 
denke jenes Reliefs zu Ellora, welches darstellt, wie der Riese Kailas 
den schlummernden Shiva zu vernichten trachtet, indem erdieHima- 
layas ins Wanken bringt: von der besorgten Parvati geweckt, setzt 
der Gott einen Fuß vom Lager herab und zerdrückt damit lässig 
den Titanen. — Mir scheint: hier bedarf es keiner ungeheueren 
Phantasie, um ungeheure Bilder zu erfinden : in dieser Natur wird das 
Überschwängliche von selbst. Durch Übertreibung gebildet, zwingt 
sie ihrerseits zum Übertreiben, und das Größte wirkt hier immer 
noch zu klein. Jauchzend setzt sich der Geist über alle Schranken 
hinweg, triumphierend übersteigt er alle Grenzen. Was war, wenn 
nicht mein erster, so doch mein zweiter Gedanke, als ich der Riesen 
ansichtig geworden war? — Daß der Geist Berge versetzen könne ! 
Jeder Zweifel daran kam mir lachhaft vor. So oft ein menschlich- 
begrenzter Gedanke mein Hirn durchzuckte, war mir, als tönte 
drüben vom ewigen Schnee das metallene Lachen Shivas herüber, 
und die bloße Scham trieb mich zum Mitlachen an 
In einer Natur, die solche Berge auftürmt, mag schon ein 
Mahäbhäratam entstehen; alle Großheit der indischen Mythe liegt 
280 Das Licht Brahmas; Lösung des Welträtsels. 
in ihm vorgebildet. Wie gut verstehe ich heute die Bedeutung, 
die der Himavat für das indische Bewußtsein hat! In seinem 
Bereich liegt Shivas Paradies; ihm entspringt der heiligste der 
Ströme. In den Himalayas hausen die Munis und Rishis, und un- 
aufhaltsam, in endlosem Zug, streben die Weisheitsdurstigen zu 
ihnen hinan. In den Himalayas sind die Veden entstanden, die Upani- 
shads, und noch heute stammt von ihnen alle Inspiration. So 
ist es wohl. Noch nie habe auch ich, der Fremdling, meine Seele 
ähnlich beschwingt gefühlt. Mir ist, als seien tausend Genien 
dabei, glitzernd-scheinend wie der Firn im Morgenlicht, fröhlich 
lachend wie frisch-erwachte Kinder, vertraulich als kennten sie mich 
von je, sie aller Vorurteile zu entkleiden. Nun rufen sie: komm! 
und eilen mir voran in den unendlichen Raum. Kannst du nicht 
mit? — Ich komme schon. Aber ich kann die göttliche Freiheit 
nicht so leicht nehmen wie ihr. Wo ihr lacht und spielt, ist mir 
weihevoll zu Mut. Mich macht es schwindelig, hoch über dem 
zu schweben, was mich jüngst erst allseitig band. Und noch ver- 
stehe ich nicht, wie das nur möglich ist. — Sie lachen: was ist 
da zu verstehen? es ist doch selbstverständlich! — Ist das das 
Geheimnis? — Mir ist, als würde es auf rätselvolle Weise, in unbe- 
schreiblichem Sinne jählings Licht in mir; als öffneten sich mir neue 
nie geahnte Erkenntniswege, als verflüchtigten sich alle erdge- 
borenen Schranken, als machte die Menschenwelt einer neuen Platz. 
Nun schaue ich vordem Unsichtbares, Zusammenhänge ganz anderer 
Art, als ich sie früher gewahrt, und mit der Welt ringsum ver- 
wandele ich mich selbst. Nun erkenne ich mich als sonnenhaften 
Born unendlicher Kraft, rastlos gebend, rastlos ausströmend, ohne 
Hemmungen noch Widerstand. Kein Problem beunruhigt mich 
mehr, und ich kann mein Forschen von jüngst nicht mehr ver- 
stehen. — Das geistige Licht verlischt, ebenso plötzlich, unver- 
mittelt und rätselvoll. Nun treten die alten Probleme wieder hervor, 
nicht lösbarer erscheinend als zuvor. Aber ich ahne jetzt den 
Zusammenhang. Wenn das Licht Brahmas in einer Seele aufge- 
leuchtet ist, dann hören sie auf zu sein: das ist des Welträtsels 
Lösung. Als Fragen des Erdbewußtseins aber sind sie unbeant- 
wortbar. An sich selbst stellen sie Gleichungen dar, deren Ansatz 
falsch ist und die nicht aufgehen können. Der Erdbefangene verhält 
sich zum Wissenden wie die Ameise zum Menschen, der ihre 
Wege kreuzt: so instinktsicher sie ist, sie weiß sich nicht zu 
In jedem lebt die Ahnung des Lichts. 28 1 
helfen, wo sie sich Aufgaben gegenübersieht, die von ihrer Organi- 
sation her transzendent erscheinen. So der Forscher, der das 
Welträtsel zu lösen sucht. Es ist unlösbar vom Standpunkt der 
Vernunft. Ihr fehlen zu viele Daten, sie kann den Zusammenhang 
nicht übersehen. Und der Mensch ist schlimmer noch dran als 
das hilflose Tier, weil er zu fragen weiß, was zu beantworten 
über seine Kraft geht, weil sein Bewußtsein eine unglückliche 
Zwischenstufe darstellt zwischen Blindheit und Allwissenheit. — 
Aber es liegt in ihm, sich selbst zu übersteigen, der Gott in 
ihm ist dem Erwachen nahe. Irgend einmal, unerwartet, unver- 
mittelt entzündet das Licht Brahmas sich in seinem Sinn, dieses 
Licht aber löscht alle Menschenprobleme aus. — Noch glimmt 
es nach in meiner Phantasie; noch spüre ich mein Menschentum 
als ein Fremdes, Lästiges; und als wäre ich einer der Genien, 
die mich umschwirren, möchte ich lachen über das Elend der 
Welt. Seht ihr denn nicht? schaut doch bloß auf! versteht! . . . 
Wie sollen sie verstehen? Auch ich habe ja bloß verstanden, 
verstehe jetzt nur mehr trübe in der Erinnerung. Und wenn ich 
aussprechen soll, was ich meine, so kann ichs nicht. Die beru- 
fenen Worte kehren um, die Gedanken fliehen. Sie können nicht 
fassen, was ich weiß, befürchten zersprengt zu werden. Und 
zwinge ich sie, so klingt meine Weisheit wie Torheit. Es gibt kein 
Übel .... — Freilich ist das Unsinn, nicht Sinn vom Standpunkt 
des Menschenbewußtsein; so scheint es wohl nutzlos, ihm davon zu 
sagen. Es hätte gar keinen Zweck, wenn nicht in jedem, noch so 
nachtumflorten, die Ahnung des Lichtes lebte, eines Lichts, das 
langsam, von Geburt zu Geburt, die Finsternis verzehrt. Wäre es 
anders, nie käme die Christenheit dazu, die paradoxale Lehre 
Jesu zu glauben, das Indervolk im Entsagen das Höchste zu 
sehen, die buddhistische Menschheit nach dem Nirwana zu streben, 
in welchem alles, was sonst das Leben macht, verlöschen soll . . . 
— Wir wissen alle mehr, als wir für wißbar halten. Dieses 
Wissen diktiert uns das Ideal, inspiriert unsere Sehnsucht. Als 
unbewußt-Wissende halten wir fest an den Paradoxien der Re- 
ligion, werden wir festhalten an ihnen bis zum Jüngsten Tag, an 
welchem das Licht Brahmas endlich zum Lichte Aller werden wird. 
In den Himalayas ist der Mensch der Gottheit wunderbar 
nahe; diese Natur, mehr als irgendeine auf Erden, weitet die 
Grenzen des Bewußtseins aus. Alle kleinlichen Zusammenhänge 
282 Der Geist kann Berge versetzen. 
zerreißen, die weitesten, scheinbar äußersten, rotieren unsicher in 
der Luft, wie Seifenblasen, jeden Augenblick bereit, im Licht der 
Höchsten Sonne zu zergehen. Und in die weite Leere, die also ge- 
schaffen ward, strömen übermächtig die Kräfte von oben ein. — In 
grenzenloser Sehnsucht blicke ich auf zu den Zinnen des Himavat. 
Wenn ich hinan könnte in die reine Götterluft, würden dann 
nicht für immer die Hüllen fallen? würde ich da nicht endlich 
frei aufatmen, im beseligten Gefühl der Erfüllung: ich wußte 
es ja? Von Jahr zu Jahr stärker spüre ich in mir das Walten 
eines Neuen, Höheren, das krampfhaft zur Entstehung drängt. Ich 
fühle wie einen körperlichen Zug von unten aufwärts; noch 
nirgends spürte ich ihn so stark wie hier. Und dankbar möchte ich 
beten vor Shivas Paradies, dessen Anblick solchen Segen bringt. 
Jedesmal, wo mein Blick auf die Giganten vor mir fällt, kommt 
mir refrainartig der Spruch in den Sinn „der Geist kann Berge 
versetzen". Nie bin ich mir dieser Wahrheit mit solcher Selbst- 
verständlichkeit bewußt gewesen wie hier, wo die Materie über- 
mächtig scheint. Anstatt mein Freiheitsgefühl zu beeinträchtigen, 
steigert sie es ; wie denn alles Bewußtsein überhaupt am Wider- 
stand entsteht. 
Der Geist kann Berge versetzen. (Die übliche Fassung, welche 
dem Glauben solche Macht zuerkennt, ist zu eng und überdies miß- 
verständlich : nicht die Zuversicht als solche wirkt das Wunder, 
sondern der Glaube setzt den Geist in den Vollbesitz seiner Kraft.) 
Selbstverständlich kann er das. Es ist lächerlich, diese Wahrheit zu 
bezweifeln, fast so lächerlich, wie sie besonders beweisen wollen. 
Was tue ich denn, indem ich will, denke, handele? Ich beeinflusse 
als Geist den Stoff; es besteht kein Unterschied des Prinzips 
zwischen der banalsten Gebärde des Augenblicks und dem Wunder, 
daß ein Zauberer wirken mag. Meine eigene Vorstellungswelt ist 
Außenwelt dem „Ich" gegenüber genau so sehr, wie der fernste 
Stern im Weltenraum; soweit die Eigengesetze der Materie dies 
gestatten, genau soweit hat der Geist Macht über sie. Diese 
Grenze ist freilich unüberschreitbar, denn mit ihrer Aufhebung 
verflüchtigte sich die Natur; aber innerhalb ihrer ist nichts ihm 
prinzipiell unmöglich, und innerhalb ihrer liegt die Welt. 
Also stehe ich den Schneegipfeln des Himavat nicht wesentlich 
anders gegenüber, als jenem Leib, der mir nun schon über dreißig 
Fernwirkung ; warum Egoismus vom Übel ist. 283 
Jahre zum nächstliegenden Werkzeuge dient. Sogar das trifft nur 
in einer Hinsicht zu, daß ich ihnen leiblich ferner stehe als mir 
selbst: mit meinen Augen berühre ich sie unmittelbar, in Gedanken 
bin ich bei ihnen, auf ihnen; denn soweit bei Gedanken überhaupt 
von Raum die Rede sein kann, sind sie dort, worauf sie sich heften. 
Es gibt keinen Punkt im Universum, dem ich nicht ebenso nahe sein 
könnte wie mir selbst. Ob ich es bin, hängt von der Richtung meiner 
Aufmerksamkeit ab; man kann buchstäblich fern von, ja außer sich 
sein. So ist es wohl buchstäblich wahr, was die indische Weisheit 
lehrt, daß die Vereinzelung letztlich vom Egoismus (Ahankara) ver- 
ursacht wird und mit dessen Überwindung verschwindet: strömten 
alle meine geistigen Energien aus, wie die Strahlen der Sonne, kehrte 
keine zurück, durch Interesse in meine Person zurückgebannt, dann 
wäre ich frei sowohl als grenzenlos. Und solches Freiwerden ist 
möglich, denn es besteht keine unlösbare Verknüpfung, (wie 
andrerseits keine, die nicht herstellbar wäre) zwischen Geist und 
Naturvorgängen. Dies denn wäre der Sinn jener Verdammung 
des Selbstinteresses, in dem alle höheren Religionen überein- 
stimmen: durch Selbstsucht verringert sich der Mensch. Mit jedem 
Gedanken, der nicht ausströmt in die Unendlichkeit, sondern 
zurückkehrt zum Körper, der ihn entsandte, schneidet er sich ab 
von seiner eigenen weiteren Wirklichkeit. 
Ich blicke hinaus in die herrliche Welt ringsum, als die ich 
mich empfinden könnte, wofern ich freier wäre von meiner Per- 
son. Objektiv, als Natur, hänge ich ja fest mit ihr zusammen: ich 
bin nur ein Kraftzentrum unter anderen im unendlichen Konti- 
nuum. Aber ich könnte mich eins wissen mit ihr, ihr bedingendes 
Zentrum sein, als bewußtes Selbst, wofern ich tief genug in meinem 
Wesen Wurzel faßte. Weshalb bin ich noch immer nicht so weit, 
wo ich doch lange schon weiß, worauf es ankommt? — Weil meine 
Natur noch immer undurchdrungen ist. Mein Geistbewußtsein hat 
sich noch immer nicht dem Körper meiner Leidenschaften einge- 
bildet. Diese leben ihr Eigenleben weiter, unbeirrt. Ja sie wachsen, 
anstatt zu verkümmern, in ihrem plutonischen Reich, und jedesmal, 
nachdem ein geistiger Fortschritt in mir stattgefunden hat, muß ich 
erkennen, daß auch sie sich gekräftigt haben. Sie aber sind blind. 
Sie brauchen es nicht zu bleiben. Es muß gelingen, sie auf mein 
Tiefstes zurückzubeziehen, ihre elementare Kraft zum willigen Werk- 
zeug zu gewinnen. Aber noch weiß ich nicht, wie solches sich 
284 Die Mahatmas; unbewußte Zielbewußtheit. 
bewerkstelligen läßt; noch bin ich in dem Stadium, wo das Leben 
im Geist, wie bei den Indern, über die Materie hinwegschwebt . . . 
Es gibt wohl noch Zeiten, da ich irdisch groß sein möchte. 
Allein hier, in dieser grandiosen Natur, kann keine Kleinlichkeit 
bestehen. Indem ich hinausblicke auf die schneebedeckten Kuppen, 
die sich eben jetzt im Abendglanz zu röten beginnen, entbrennt 
namenlose Sehnsucht in mir aus den Grenzen persönlichen Daseins 
ganz hinaus. 
In diesen Bergwäldern also hausen die Mahatmas, die stillen un- 
erkannten Übermenschen, welche selbstlos die Geschicke der 
Menschheit lenken. Die sind über die Bindungen der Materie 
hinaus. Äußerlich uns gleich, mit einem sterblichen Körper be- 
haftet, geringer erscheinend als unsere Großen, was menschliche 
Kraftfülle betrifft, sind sie doch mehr als Menschen, weil voll- 
kommen frei. Sie sind gebunden nur, weil sie es selbst so wollen, 
brauchten weder zu sterben noch wieder zu entstehen ; wo sie 
hinwollen, dort sind sie gegenwärtig, worauf sie ihre Aufmerksam- 
keit heften, das wissen sie. Ihr Bewußtsein umfaßt die Welt ; sie 
springen als Geister von Stern zu Stern hinüber, so wie wir von 
Erinnerung zu Erinnerung. Sie wirken im Stillen, Geheimen. Nur 
ganz selten greifen sie sichtbar ins Geschehen ein. Aber sie bilden 
sich Gehilfen in der Stille, die ihre Pläne sichtbarlich fördern 
sollen. Wo ein strebendes Menschenkind reif erscheint zur Über- 
setzung in eine höhere Dimension, kommt ihm der Meister lieb- 
reich entgegen und weist ihm den Weg auf neuer, höherer Bahn. 
Ob diese Sage der Wahrheit entspricht, das weiß ich nicht ; 
doch es gefällt mir heute, ihr Glauben zu schenken. Indem ich 
einsam durch die Wälder streife, und meine Blicke weit über 
Ströme und Täler hin zu den Schneegipfeln und Eisfeldern hin- 
übersende, vergegenwärtige ich mir dieses übermenschliche Dasein 
und hoffe bei jeder Biegung des Wegs, ein Mahatma möchte mir 
begegnen. Sollte er meiner nicht ansichtig werden oder wirk- 
lich ablehnen, sich auf gnädigem Gedanken zu mir hinüberzu- 
schwingen? Ich bedürfte seiner so sehr. Gerade jetzt befinde ich 
mich wieder an einem Punkte, wo ich unschlüssig bin darüber, 
was ich weiter soll. Wohl hat mein Unbewußtes die rechte Rich- 
tung immer gekannt, und gewiß wird es auch heute so sein. Als 
Bedeutung von Beispiel und gesprochenem Wort. 285 
Jüngling, als Geist noch ungeboren, habe ich, oft aller Vernunft 
zum Trotz, doch stetig meinem Schicksal vorgearbeitet; alle Be- 
tätigung habe ich abgewiesen, die meiner besten Zukunft nicht 
entsprach, ohne eigentliches Interesse so manches Jahr in Labora- 
torien experimentierend zugebracht, als ob ich mir darüber klar 
gewesen wäre, daß solche Schulung mir unbedingt vonnöten 
war, und ohne eigentliches Bewußtsein der Ursache dem Natur- 
studium in dem Augenblick den Rücken gekehrt, wo es aufhörte 
mich zu fördern. In den Perioden physischen Tiefstandes bin ich 
mit dem Instinkt des Wandervogels den unbekannten Breiten zu- 
geeilt, die mir zum Heil gereichen sollten und ebenso unbeirrbar 
habe ich mein Lebelang die Erfüllung der Herzenswünsche selbst 
vereitelt, die mein Schicksal gebrochen haben würden. Und doch 
hätte ich, auf mich selbst angewiesen, sogar mein heutiges, so 
vorläufiges Stadium nicht erreicht: an allen kritischen Punkten sind 
mir freundliche Menschen begegnet, die mir weiterhalfen. Es ist 
ein Wundersames um das geschaute Beispiel und den Einfluß des 
gesprochenen Worts. Man sei noch so strebsam, noch so willens- 
stark: das Unterbewußtsein folgt Autosuggestionen nie so gut wie 
von anderen erteilten; wäre es anders, so bedürfte es weder der 
Lehrer noch der Ärzte, weder der Schulen noch der Heilanstalten. 
Dies erweist sich zumal, wo es sich um einen neuen Anfang han- 
delt oder um einen Fortschritt von neuer Basis aus. Zum Durch- 
messen eines Wegs, der dem Bewußtsein klar vor Augen liegt, 
bedarf es keines Führers, weil es hier eben weiß und das Wissen 
von innen her bestimmt. Der Sünder jedoch, der noch so nahe an 
das Tor der Heiligung herangetreten ist, der weiß es nicht, denn 
sein Bewußtsein ist ja sündbefangen; die Raupe kann erst als 
Schmetterling empfinden, wo sie zum Schmetterling geworden ist. 
Aber wo der Werdende dicht vor der Krisis steht, wo er innerlich 
reif ist zur Erneuerung und nun außer sich ein Wesen gewahrt, 
das dort angelangt ist, wohin er strebt, dort erkennt er es und die 
Erkenntnis weckt in ihm das Unbewußte auf einmal zur Bewußtheit. 
Jetzt weiß er, wohin er soll und will; was sonst in langen Zeit- 
räumen geschähe, ereignet sich nun vielleicht in einem Augenblick. 
Das ist das Werk des Meisters, des Erlösers. — Mir ist, als be- 
fände ich mich an ähnlichem kritischen Punkt. Meine einstigen 
Ziele kommen mir wertlos vor; bei allem, was ich im Geist meiner 
Vergangenheit betreibe, spüre ich, daß ich eigentlich anderes will. 
286 Übermenschentum ; Protist und Psyche. 
Aber was? Ich weiß es nicht. So täte mir ein Meister gar not, 
einer der dort steht, wohin ich strebe. 
Heute ist mir, als läge im Mahatmatum mein Ziel ; als sei ich 
reif, aus dem Menschentum auszukriechen; schon gibt es ja nichts 
Menschliches mehr, das mich innerlichst bände. Und so wie die 
Mahatmas sein sollen, müßten, könnten Übermenschen sein. Als 
jahveh sich dem Elias zu offenbaren versprach, erwartete dieser 
ihn in Form des Sturms, Er aber kam als stilles, sanftes Sausen. 
Welche Verblendung, sich den Übermenschen als Hebbelschen 
Holofernes vorzustellen! Je höher ein Wesen steht, desto gei- 
stiger ist es, und je geistiger, desto geringer ist seine unmittel- 
bare materielle Macht. Gott wirkt in das physische Geschehen 
gar nicht ein; Er ist nicht nachzuweisen, kaum zu erschließen. 
Die Mahatmas wirken nur noch indirekt. In ihrer Sphäre gilt keine 
der Normen, welche irdische Größe bestimmen, erscheint selbst- 
verständlich, was die Erlöser und Heiligen aller Länder und 
Zeiten gelehrt, den Menschen aber ewig paradox klingen wird: das 
Demut mehr ist als Stolz, Ehrgeiz vom Übel, alles Streben nach 
irdischem Glück ein Mißverständnis, daß nur der sein Leben ge- 
winnt, der es verliert. . . . Die Mahatmas heischen von dem, der 
ihnen nachfolgen will, Verzicht auf alles, was hienieden als er- 
strebenswert gilt. Natürlich. Bin ich so weit schon, verzichten 
zu können? Heute ist mir, als wäre ich es; als sei alle Absicht 
in mir schon abgestorben, alle Eitelkeit, alles Streben nach Er- 
höhung und Ruhm. Erschiene mir heute ein Meister und sagte 
mir: Komm!, ich folgte ihm blindlings. 
Kein Mahatma erscheint mir. Keine Stimme eines Meisters 
vernehme ich weder in noch außer mir. Aber wunderbar 
anregend wirkt in den Himalayas die Luft. Lange ist mir 
das Denken nicht so leicht gefallen, hat es mich so wenig Mühe 
gekostet, bei den Problemen, die mich just beschäftigen, zu ver- 
weilen. So verbringe ich jeden Tag etliche Stunden ohne merkliche 
Ermüdung mit Yoga-Experimenten. 
Während dieser fiel mir heute die Äußerung eines Biologen ein, 
unser Gehirn sei protoplasmatischer Natur; es sei das einzige 
unserer Organe, das noch in eben dem Sinne plastisch wäre, wie 
der Gesamtkörper des Protozoons. Das ist nicht richtig. Wie 
Gebilde der Psyche als materielle Erscheinungen. 287 
schwierig es sei, die Struktur des Gehirnes festzustellen : es ist ein 
differenziertes Organ, das sich in keinem anderen Sinn verändert,, 
als ein Muskel, der durch Übung umgestaltet wird; nichts wesent- 
lich Neues entsteht in ihm. Das Eigentümliche des Protisten liegt 
aber darin, daß er aus gestaltloser Grundmasse je nach den Um- 
ständen Gestalten schafft, die früher oder später ins Amorphe 
zurücksinken. Der Mensch nun, dessen gesamter physischer Leib, 
seinen Samen ausgenommen, fest ausgestaltet ist, ist allerdings auch 
protoplasmaartig — nicht aber als physischer, sondern als psychi- 
scher Organismus. Befasse ich mich mit Protisten, so kann ich 
mir deren Eigenart nur durch den Vergleich mit der Psyche deut- 
lich machen: ihre Organe entstehen, wie beim Menschen die Ein- 
fälle kommen. Kehre ich den Vergleich nun um, urteile ich vom 
Protisten her, so sehe ich mich logisch gezwungen, zu folgern, daß 
der Stoff, aus dem sich die Gedanken und Anschauungen zusammen- 
ballen, genau den Charakter des Protoplasmas trägt. Im Zustande 
der Ruhe ist der Inhalt der Psyche, soweit wir uns seiner bewußt 
sind, amorph ; sobald die Aufmerksamkeit erwacht und sich irgend- 
wohin lenkt, oder sobald die Masse überhaupt in Bewegung ge- 
rät, entstehen Strukturen — Gedanken, Töne, Bilder usw. — die 
sich verflüchtigen, sobald das Bewußtsein sich umzentriert. Ich 
habe mir diese Gestaltungen nun als solche anzusehen versucht, 
was insofern nicht ganz einfach ist, als sie nur ungern weilen, und 
jeder Gedanke, den man sich über das Gesehene macht, seinerseits 
eine Gestalt bildet, die das ursprüngliche Bild überschichtet; der 
Schluß, zu dem ich übereinstimmend mit den Indern gelange, ist 
der, daß die Gebilde der Psyche wirkliche Gegenstände sind,, also 
Objekte, die nach den Kategorien von Kraft und Stoff begriffen 
werden müssen. Selbstredend gehören sie einer anderen Ordnung 
des Erscheinenden an, als die Gegebenheiten der äußeren Natur, 
aber es wäre verfehlt, ihr materielles Dasein abstreiten zu wollen, 
da sie doch Gegenstände der Erfahrung und als „Geist" nicht zu 
begreifen sind. Was hat es denn mit der Unterscheidung von Natur 
und Geist letzthin für eine Bewandtnis? Daß es sich um eine reale 
handelte, halte ich für überaus unwahrscheinlich, und zu entscheiden 
ist diese Frage keinesfalls; es ist unmöglich, mit den Mitteln des 
Verstandes in der Sphäre des Metaphysischen sichere Schlüsse zu 
ziehen. Sicher betrifft die Antithese von Natur und Geist nur ein 
epistemologisches Verhältnis, eine ratio cognoscendi. Alles Ge- 
288 Sinn der Antithese von Natur und Geist. 
gebene, Aktuelle ist Natur, folgt deren unwandelbaren Normen. Das 
schöpferische Prinzip, das wir voraussetzen müssen, kommt in der 
Schöpfung zum Ausdruck, aber ist sie nicht. Ich bin frei, insofern 
als ich wollen kann, aber sobald ich gewollt habe, befinde ich mich 
strengstens determiniert; sobald eine Gestaltung entstanden ist, ist 
es aus mit der Spontaneität. So mag die Freiheit dem Körper, 
und Gott der Natur zugrunde liegen, aber in dieser Gott un- 
mittelbar am Werk sehen zu wollen, ist ebenso widersinnig, wie die 
Fingernägel als freien Willensentschluß zu beurteilen. Von allen 
Fassungen die gegenständlichste scheint mir die meinige zu sein, die 
das Metaphysisch-Wirkliche mit dem Begriff des Lebens identifi- 
ziert, denn im Leben allein sehen wir uns je und je auf den schöpfe- 
rischen Urgrund zurückgewiesen. Wohl mag alle Natur in diesem 
Sinn ursprünglich lebendig gewesen sein, mag das Sternenheer 
seine Entstehung einem Einfall Gottes danken — wer kann das 
wissen? — aber was wir tatsächlich erfahren, ist nicht der Wille 
Gottes, sondern ein Geschehen, das mechanischen Gesetzen folgt, 
also Natur; gleichermaßen folgt der fertiggestaltete Organis- 
mus keinen anderen als physiologischen Gesetzen, folgt das 
soziale Leben den toten Normen des Usus und des Rechts usf. 
Aus allem diesem geht hervor, daß, gleichviel in welchem Wesens- 
verhältnis Natur und Geist zueinander stehen mögen, der Verstand 
nicht umhin kann, zwischen ihnen zu scheiden, und da der Seins- 
grund dieser Scheidung in ihm selber liegt, sie wohin immer 
übertragen mag. Also bin ich berechtigt, die Gegebenheiten 
des Bewußtseins als Materie zu begreifen. Welcher Art diese 
Materie sei, kann ich nicht sagen ; ich selbst bin hier zu keinen 
befriedigenden Einsichten gelangt und die Behauptungen der 
Inder und Theosophen können vorläufig nicht nachgeprüft werden. 
Aber daß es tatsächlich so etwas wie einen Gedankenstoff gibt, 
scheint mir gewiß, und aus dieser Bestimmung, sowie aus den Mög- 
lichkeiten, die sie einschließt, ergeben sich nicht uninteressante 
Folgerungen. 
So scheint es, daß die Sphäre der Freiheit mit fortschreitender 
Entwicklung immer mehr zurückweicht. Bei den Protisten schließt 
sie noch den Körper ein; bei diesen erweist sich die physische 
Seite des Lebens noch im selben Sinn und Maße als plastisch, 
wie beim Menschen nur mehr die psychische. Je festere Ge- 
stalt die Physis annimmt, desto unfreier wird sie. Seesterne ver- 
Sphäre der Freiheit verringert sich im Fortschritt. 289 
mögen noch die Hälfte ihres Körpers, Reptilien wenigstens die Ex- 
tremitäten zu regenerieren, die höheren Tiere haben von der einst 
unbeschränkten Phantasie des Körpers nur noch soviel übrig be- 
halten, daß sie meist schnell und ohne Pflege genesen. Beim er- 
wachsenen Menschen äußert sich die Freiheit im Körper so gut 
wie gar nicht mehr. — Dafür tut sich in ihm eine neue Sphäre des 
Wirklichen auf. Er ist als Psyche ebensosehr Protoplasma, wie als 
Physis nur irgendein Protist; ungestaltet an sich, doch jeder Ge- 
staltung fähig. Aber auch hier verläuft die Entwickelung der Festi- 
gung zu ; je vorgeschrittener eine Psyche ist, desto differenzierter 
sind ihre Organe und Gebilde, und destomehr neigt sie zur Kri- 
stallisation. So haben wir nicht allein Gesetze, soziale Systeme, 
Religionen, feste Weltanschauungen : jedes Einzelnen Geist kristalli- 
siert früh oder spät zu einem festen Gebilde aus, das, einmal voll- 
endet, keiner Veränderung mehr fähig erscheint und nur mehr 
wächst und den Stoff wechselt, wie der physische Körper auch. 
Nun aber kommt das Paradox : als der höchste Geist gilt uns nicht 
der, welcher die festeste Gestalt zu eigen hat, sondern umgekehrt 
der plastischeste ; der, welcher niemals fertig (fige) ist. Also scheint 
das Protoplasmatische prinzipiell doch das Höhere zu sein, obgleich 
dessen eigene progressive Tendenz unzweifelhaft fester Gestaltung 
zustrebt. 
Ich weiß mir diesen Tatbestand im Augenblick nur so zu 
deuten, daß es in der Sphäre des Lebens wohl ein Höheres, jedoch 
kein Höchstes gibt. Höher als das Unbestimmte steht das Be- 
stimmte, aber höher als dieses wiederum ein neues Unbestimmtes, 
das seinerseits seine Erfüllung in der Bestimmung fände usf. ad 
infinitum. Die Bestimmtheit ist das Maximum für einen gegebenen 
Augenblick, sobald dieser zur Zeit wird, nimmt das Maximum mehr 
und mehr den Aspekt eines Minimums an. Also läßt sich schlechter- 
dings keine absolute Vollkommenheit denken, es sei denn, man ver- 
stände unter dieser, mit Hegel, das Endprodukt eines endlosen Pro- 
zesses — eine bloß mathematisch reelle, empirisch imaginäre Größe. 
Was für praktische Konsequenzen soll man aus dieser Erkenntnis 
ziehen? — Ich sehe keine andere als die, welche von je mein Leit- 
motiv war: überall nach Vollendung zu streben, aber keine er- 
reichte je als Definitivum zu betrachten. Soviel in der Theorie. 
Praktisch liegt die Frage erheblich einfacher. Der Amöbe ist die 
vollendete Menschengestalt ein Unerreichbares, uns allen die 
Keyserling, Reisetagebuch. % 19 
290 Keine Vollendung ein Definitivum ; Sinn der Evolution, 
Vollendung eines Buddha. Da jedermann bestimmte, begrenzte 
Möglichkeiten verkörpert, so gibt es auch für jeden (in einer ge- 
gebenen Existenz, sofern jeder deren mehrere vor sich haben sollte, 
was ich nicht weiß) ein absolutes Maximum. Dieses zu erreichen, 
soll sein Lebensziel bedeuten. Dieses Ideal hat er auch in dem Fall 
festzuhalten, wo er gewahr wird, daß in ihm höhere Möglichkeiten 
leben, als ihm ursprünglich schien, denn der Weg zu einer höheren 
Stufe der Vollendung führt immer über das Streben nach einer 
niedrigeren hin und ist anders überhaupt nicht zu finden. Dies 
denn ist die Wahrheit, welche der Evolutionstheorie zugrunde 
liegt, obgleich sowohl der indische als der darwinische Ausdruck 
derselben den wirklichen Verhältnissen nur unvollkommen gerecht 
wird: es gibt wirklich eine Stufenfolge, eine Hierarchie der Wesen, 
von denen jedes' unmittelbare Ideal in der nächsthöheren Stufe liegt. 
Wir haben nach Vollendung zu streben, wiewohl jede erreichte Voll- 
endung vom nächsthöheren Standpunkte gesehen als Beschränkung 
wirken wird. Nur eine einzige andere Möglichkeit ist noch denk- 
bar, von der es mir aber zweifelhaft scheint, daß Menschen sie ver- 
wirklichen können: unter Verzicht auf allen Ausdruck nach außen 
zu sich so tief zu verinnerlichen, daß man in seiner eigenen reinen 
Möglichkeit lebte. In dem Falle wären alle Grenzen überwunden, 
weil vorweggenommen. . . . 
Ich setze den abgebrochenen Gedankengang nach einer anderen 
Richtung hin fort. Wenn das innerste Prinzip des Lebens an sich 
jeder Gestaltung fähig ist, wovon hängt die gegebene Gestalt ab? 
Offenbar von den äußeren Umständen, zu welchen natürlich die 
Erbmasse, das Karma, die Naturanlage mitgehören. So könnte einer- 
seits die Evolution der Organismen weit, andrerseits das Schicksal 
des Einzelnen, so weit ich heute sehe, erschöpfend verstanden 
werden. Es treten überall die einerseits möglichen, andrerseits not- 
wendigen Bildungen in die Erscheinung. Denke ich nun von hier 
aus an jenes Proteusideal, zu dem ich mich so lange bekannt habe, 
so erkenne ich, daß zu dessen Verwirklichung nicht mehr als eine 
unbegrenzte Plastizität und die Gelegenheit, unendlich viele Um- 
stände auf sich einwirken zu lassen, erforderlich wäre. Ein Ge- 
dankenwesen könnte buchstäblich jede Gestalt annehmen; mate- 
rielle müssen sich immerhin an ihre Spezies und ihren Typus halten. 
Je mehr ich mich mit dem Problem befasse, desto mehr be- 
Feste Gestaltungen durch Trägheit bedingt; Proteus tum. 291 
fremdet es mich, daß Philosophen die geistigen Gestaltungen 
so ernst nehmen können, wo sie doch jeden Augenblick erfahren 
müssen, wie flüchtig diese sind, wie oberflächlich und zufällig be- 
gründet. Menschen kristallisieren zu Berufstypen aus, religiöse Ver- 
bände schaffen Nationen, die Lebensstellung prägt sich der Physis 
auf, gewiß. Aber woran liegt das? Doch ausschließlich an der Inertie. 
Hätten die Menschen ein klein wenig mehr Phantasie, so könnten 
alle diese Klassen nicht bestehen, oder vielmehr, sie würden be- 
stehen, aus Gründen der Nützlichkeit, aber nicht so bitter ernst 
genommen werden. Ich, für meinen Teil, kann alle noch so festen 
Gestaltungen nicht anders beurteilen, als die Gebilde der schweifen- 
den Phantasie, und anstatt mich dessen zu freuen, leide ich darunter, 
daß viele so dauerhaft sind. Allein die meisten Menschen sehen 
die Lage anders an, und wahrscheinlich ist das so gut; denn sonst 
käme dieser Planet überhaupt zu keinem festen Inventar. Freilich, 
ginge es nach mir. ... Ich gestehe, daß ich in vielen, immer 
wiederkehrenden Stimmungen mein Vollendungsstreben als pis-aller 
beurteile. Unter den gegebenen Verhältnissen, bei der Unüberwind- 
lichkeit der Trägheit läßt sich leider nichts Besseres anstreben. Aber 
lieber wäre mir wohl, ich könnte ohne aufgedrängte Bestimmung 
dauern, und unfaßbar an mir selbst, gelegentlich, wie es sich gerade 
gibt, bald als Keyserling, bald als Tier oder Gott, und bald als 
Weltall in die Erscheinung treten. 
Nein, wesentlich bin ich kein Mensch ; mein Menschen- 
tum ist Zufall . . . oder Notwendigkeit, wie man es nimmt, 
aber gewiß nicht mehr. In der Luft der Himalayas, die 
den Geist beschwingt, wie keine, wird mir die wunderliche 
Tragödie meines Daseins schmerzhaft deutlich. 
Schon in meiner Kindheit wunderte ich mich darüber, daß ich 
als Person unveränderlich sei ; ich fühlte mich so wenig identisch 
mit „mir", wußte mich so grenzenlos wandlungsfähig, daß es 
mir natürlicher geschienen wäre, wenn mein Körper sich eben so 
verhalten hätte, wie meine Vorstellungen, die bald so, bald wieder 
anders aussahen, je nach meiner Stimmung. Und wie mir dann von 
Proteus vorgelesen wurde, da dachte ich: endlich ein Wesen, 
welches durchaus natürlich wirkt. So wie Proteus, müßte auch ich 
mich verwandeln können, denn „eigentlich" kann ich es ja. „Wesent- 
lich" bin ich nicht mehr Hermann Keyserling, als ein Tier oder ein 
19* 
292 Person mit Ich nicht identisch; Proteusideal unverwirklichbar. 
Baum oder irgendein anderer Mensch, und scheint es anders, so kann 
ich nichts dafür. Das Staunen meiner Kindheit hat mich nie verlassen ; 
es ist nur immer tiefer geworden. Nie, mein ganzes Leben hindurch, 
habe ich mich mit meiner Person identisch gefühlt, nie Persönliches 
als wesentlich empfunden, nie mein Selbst in Mitleidenschaft ge- 
zogen durch das, was ich jeweilig schien, war und tat, was ich er- 
litt und was mir widerfuhr. Und jahrelang habe ich darnach ge- 
strebt, die Fesseln bestimmten Daseins zu zersprengen, mich so 
darzustellen, wie ich wußte das ich war. Bald mußte ich einsehen, 
daß dieses so, wie ichs meinte, nicht möglich sei: der Menschen- 
leib ist nicht proteisch plastisch. Dann versuchte ichs mit der 
Psyche, aber auch sie versagte. Der Schauspieler verwandelt nicht 
„sich", indem er anders wird, sondern er stellt nur einen anderen 
dar; der Dichter verändert nur seinen Ausdruck, nicht seine 
Person. Ich wußte, daß dieses noch nicht das Äußerste ist, daß es 
möglich sein muß, sein wirkliches Dasein ebenso zu wechseln, 
wie der Schauspieler seine Rollen, der Poet seine imaginativen 
Verkörperungen; mir offenbarte mein unmittelbares Erleben, daß 
meine Person mit mir nicht identisch ist, daß sie mich einschränkt, 
daß ich viel mehr sein könnte, wenn es mir glückte, irgendwie aus 
ihren Grenzen auszubrechen. Ich mußte einsehen, daß dies hie- 
nieden unmöglich ist. Auf meinen tiefsten Herzenswunsch habe 
ich verzichten müssen. 
Dieses Schicksal hat mich zur inneren Einkehr veranlaßt. Nach- 
dem ich erkannt hatte, daß nicht allein der Körper versagt, daß 
auch die Psyche viel zu träge ist für meine Zwecke, gab ich das 
Streben nach außen zu auf und zog mich tiefer und tiefer in meinen 
Grund zurück, dort meine Freiheit zu realisieren. Und wie ich 
weiter erkannte, daß die innere Verwirklichung ihren äußeren Ex- 
ponenten an der Vollendung hat, schwor ich dem Proteusideal 
im Letzten ab und strebte nur darnach, mich im Rahmen meiner 
Natur zu vollenden. Aber noch heute ist der Kummer darob nicht 
abgestorben, daß ich das, was ich eigentlich will, habe aufgeben 
müssen. Ich bin nicht ursprünglich dazu da, mich zu vollenden im 
allzu engen Rahmen des Menschentums, ich bin geboren frei zu 
wirken in freieren Sphären. Und zu den Stunden, da mein wandern- 
der Glaube bei der Karma-Lehre stehen bleibt, will mich be- 
dünken, daß mein diesmaliges Schicksal die Sühne bedeutet für 
eine Periode allzu schweiferischen Dämonentums. 
Intellektualität als Hindernis; „Verstehen" als Bewußtseinszentrale. 293 
Soviel ist gewiß: ich verfolge eine Bahn, die meiner Natur 
im Grunde nicht liegt; das Ziel, das ich mir gesteckt habe, zu 
erreichen, wird mir schwerer fallen, als irgendeinem anderen. Ein 
Proteus, der nach bestimmter Vollendung strebt. ... Es hat etwas 
Tragikomisches. Wenn ich wenigstens ein Bhakta wäre, wenn mir 
die inneren Hilfsmittel zur Verfügung ständen, die eine emotionell- 
religiöse Grundstimmung bedingt: sie fehlen mir; ich spüre keine 
eigentliche Begierde nach dem Heil. Oder wenn ich des Autori- 
tätenglaubens fähig wäre! Der Köhler hat es leicht, seine spezi- 
fische Vollendung zu erreichen. Er gibt sich überkommenen Vor- 
stellungen hin, die er kraft seines Unverstandes nicht in Frage stellt, 
und sind jene nur einigermaßen vernünftig, so bilden sie die Seele 
entsprechend aus. Ich nun bin als Mensch ein extremer Ausdruck 
des Typus, dem sein größter Vorzug, seine Intellektualität, die 
Selbstverwirklichung erschwert. Ich bin nicht fähig, auf die Dauer 
blind zu glauben, ich muß verstanden haben, auf daß eine geistige 
Wirklichkeit mir wirklich würde, geschickt, mich innerlichst zu 
beeinflussen; meine eigenen Triebe muß ich verstanden haben, 
bevor sie mich ganz erfassen können. Mein Bewußtseinszentrum 
ruht in der Sphäre des Verstehens im gleichen Sirin, wie beim Tier 
in derjenigen der Sinne, beim Weibe in der des Gefühls. Dies ver- 
zögert denn meine Entwickelung. Der Verstand hinkt entweder nach 
oder aber er greift dem Erleben vor, dieses verkürzend, und der 
Seele die Erfahrungen verderbend, welche sie wecken könnten. Wie 
lange hat es gedauert, bis daß ich über den Zustand des radi- 
kalen Zweiflers hinausgelangte, damit die erste Spur von Un- 
befangenheit gewann! In meinen Jünglingstagen war ich keiner 
Sache gewiß, da mein „Mensch" noch nicht erwacht und mein Er- 
kenntnisvermögen unausgewachsen war, und da mich die Wahr- 
haftigkeit verhinderte zu bekennen, was ich nicht wußte, so erschien 
ich charakterlos. Ich konnte mich für gar nichts entscheiden. Über 
dieses bittere Stadium bin ich hinaus. Aber noch weiß ich nicht 
annähernd so viel, wieviel ich wissen müßte, um vollkommen un- 
befangen zu sein. Noch einmal: wie leicht haben es innerliche 
Naturen von geringer Intelligenz ! Die brauchen nicht verstanden zu 
haben, damit das in ihrer Seele Lebendige für ihr Bewußtsein 
wirklich würde. Unsereiner bleibt unsicher, bis daß er weiß, und 
er weiß so schwer. Und das Ende ereilt ihn meist lange bevor 
er sich zur Erkenntnis, die seine Erlösung ist, durchgerungen hat. . . 
294 Die Zeiten des Autoritätenglaubens vorüber; der Weg der Zukunft. 
Dieses Verhältnis stellt in meinem Fall außerordentliche An- 
forderungen an die Geduld, weil ich mich nicht identisch fühle mit 
meiner Person ; ich dulde recht eigentlich für einen anderen. Da 
tröstet mich denn das Bewußtsein des Pioniertums. Meine Bahn 
wird in der Tat mehr und mehr zur Bahn aller werden, denn der 
Intellektualisierungsprozeß schreitet unaufhaltsam vorwärts. Die 
Zeiten blinden Glaubens sind vorüber. Nicht minder die Zeiten voll- 
endeten Ernstnehmens bestimmter Form. Ich denke zurück an Paul 
Dubois Ideen über Selbsterziehung; dieser entwickelt sehr richtig, 
daß es eine Frage der Erkenntnis sei, ob einer das Gute oder das 
Böse will, dann aber löst er das praktische Problem dahin, daß 
man sich binden solle durch gute Gewohnheiten — einen solchen 
Kristallisationsprozeß in sich einleiten, daß sich ein guter und 
tüchtiger Bürger niederschlägt. Dieses wäre nur eine neue, Frei- 
denkerkreisen angepaßte Fassung des alten Mittels, den Men- 
schen durch Dogmen zu binden. Keiner, der die Bewußtseinslage 
erreicht hat, wo das lebendige Zentrum im Verstehen ruht, wird 
es für seine Person mehr gut heißen können; der steht wirklich 
„jenseits von Gut und Böse" insofern, als keine besondere Ge- 
staltung ihm ein Äußerstes bedeuten kann. Er strebt nach einer 
höheren Art Gewißtheit: nicht in der Gebundenheit, sondern in 
der Freiheit. Er will nicht mehr das Gute als zweckmäßige 
Gewohnheit wollen, sondern über alle Gewohnheit hinaus. Er. 
will Wurzeln fassen im Urgrund seines Wesens, das alle Bin- 
dungen bedingend, selbst ungebunden ist, rein erkennen ohne Vor- 
urteile, rein wollen ohne Absichten, rein sein ohne Daseins- 
bestimmtheit. Dieser höhere Zustand ist erreichbar. Nur führt er 
durch große Unsicherheit hindurch, durch viel Gefahren, an denen 
so manche scheitern mögen. Aber nie noch ward Wesentliches ohne 
Verlust erreicht. Das Persönlichkeitsideal ist nicht mehr das Höchste. 
Schon ist die Vorhut der Menschheit so weit, ein Höheres be- 
kennen zu müssen, wenn sie nicht verderben will. Wo der Glaube 
an den absoluten Wert bestimmter Gestaltungen verging, Autori- 
tät nicht mehr bindet, Ritual nicht mehr nützt, wo nur noch 
Verstandenes ganz wirklich erscheint, stehen nur mehr zwei Mög- 
lichkeiten offen: die eine ist die des Untergangs. Wir werden an 
Selbstzersetzung zugrunde gehen, wofern wir nichts Neues ent- 
decken, denn die alten Heilmittel wirken nicht mehr und ein Herab- 
steigen von einmal erklommener Naturstufe, wie sie uns immer 
Persönlichkeit kein Höchstes; die neue Natur stufe und ihr Ideal. 295 
wieder gepredigt wird, gelingt nur als Sturz. Die andere, positive 
Möglichkeit — und zwar die einzige — besteht darin, daß wir die 
neue Naturstufe anerkennen und von ihr aus ein höheres Ideal 
aufstellen. Von wie wenigen sie bis heute erreicht sei — 
diese wenigen entscheiden; von ihrem Beispiel wird es abhängen, 
ob die Masse in den Abgrund stürzen wird oder fortschreiten 
freieren Höhen zu. Die neue Naturstufe äußert sich darin, daß der 
Mensch nicht mehr glauben kann, ohne zu verstehen, daß er keine 
zufälligen Schranken mehr anerkennt, daß er unfähig scheint, Name 
und Form im bisherigen Sinne ernstzunehmen. Hieraus ergibt sich 
das entsprechende Ideal: wir müssen vollkommen verstehen, ganz 
frei werden von Dogma und Vorurteil. Und eine Synthese des 
Menschentums realisieren oberhalb der Persönlichkeit. Eine Syn- 
these, in welcher der vollkommen verinnerlichte Mensch, im Geist 
und in der Wahrheit lebend, das Empirische nur mehr als Aus- 
drucksmittel nutzt. 
Noch einmal bin ich diese Nacht den Qipfel, welcher von allen 
ringsum die weiteste Aussicht bietet, hinangeritten, den 
Aufgang der Sonne zu sehen. Dieser verlief leider unmerk- 
lich, da die Nebel schon zu hoch hinangestiegen waren. Aber durch 
Stunden vorher war mir vergönnt, die Giganten zu schauen, die sich 
alabastern vom schwarzen Himmel abhoben. Während dieser Stun- 
den war mir Wunderbar weit zumut. Wieder einmal war mir, als 
hätte ich mein Ziel bereits erreicht, als wäre ich schon ausgekrochen 
aus der Puppe meines Menschen. Und wie ich da der Wirklichkeit 
gedachte, die so kläglich zurücksteht hinter dem, was sein sollte 
und möglich ist, da verwandelte sich meine Bitternis von jüngst 
auf einmal in Freude. Wie schön, dachte ich jetzt, daß ich noch 
nicht am Ziele bin ! So habe ich zu tun ; so hat mein Erdendasein 
Sinn. Und wie gut, daß meine Anlage nicht günstig ist! So werde 
ich Freude erleben an der getanen Arbeit. Nicht das erreichte Ziel 
ist es ja, sondern die bezwungene Schwierigkeit, die das Lebens- 
gefühl beglückend steigert. Ich will zusehen, wie weit ich komme 
mit dieser Person, die ich hinieden doch nie ganz überwinden werde. 
So allein sollte ich immer, sollte jeder das Problem seines 
Lebens stellen. Es ist nicht möglich, seine Anlagen zu verändern 
— aber wozu auch? Keine verkörpert an sich einen Wert, jede 
296 Das Lebens problem ; Segen der Schwierigkeit 
ist nur eine Ausdrucksgelegenheit, vermittelst jeder kann das 
Äußerste verwirklicht werden. Und je mehr Schwierigkeit dies 
bietet, desto eher gelingt es. Noch nie hat jemand Größtes auf 
dem Gebiet vollbracht, dessen Beherrschung ihm am leichtesten 
fiel; nichts steht dem Genie mehr im Wege, als sein Talent. Fast 
nie wird ein Gerechter zum Heiligen. Äußerste Kraftanspannung 
lösen ungünstige Umstände am sichersten aus. So habe ich alle 
Ursache zur Freude. 
Ich will zusehen, wie weit ich komme auf meiner Bahn ; jetzt 
müßte es ja im Sturmschritt vorwärts gehen, weit schneller zum 
mindesten als dazumal, da ich nicht klar erkannte, worauf es an- 
kommt. Damals verlor ich viel Zeit durch Zweifel, Rück- und Seiten- 
blicke; ich machte mir Vorwürfe, vielen Ansprüchen nicht genügen 
zu können, die an mich herantraten, zumal was das Gebiet altrui- 
stischer Betätigung betraf. Die hätte ich mir ersparen können. Ich, 
als bestimmte, beschränkte Person bin ja nur ein Organ des Selbst, 
das mein Wesen bezeichnet; und dies Organ soll funktionieren, seiner 
Natur gemäß; dazu allein ist es da. Indem es sein Äußerstes leistet, 
noch so blind auf sein Sonderziel bedacht, handelt es besser im 
Sinn des Ganzen, für das Ganze, als wenn es versuchte, diesem 
direkt zu dienen. Zu letzterem sind andere berufen. Die Mahnung 
Sri Krishnas: lieber sein eigenes, noch so niedriges Dharma er- 
füllen, als das noch so erlauchte eines anderen, enthält die Quint- 
essenz aller Ethik. Das objektive Ideal, das Absolute, kann die 
Erscheinung nur dann vollständig durchdringen, wenn der persön- 
liche Mittelpunkt dieser zu jenes Brennpunkt wird. Das innerlichst- 
Persönliche, keiner Außenwelt zugängliche, ist gleichzeitig der Ort, 
der mit dem Zentrum des Alls in unmittelbarem Zusammenhange 
steht. Dank dem kann Gott sich durch jede Natur manifestieren, 
aber nur insoweit, als diese sich selbst gemäß lebt. So braucht sich 
keine um sich selbst zu grämen. Ich nun bin ganz besonders günstig 
gestellt deshalb, weil ich nun vollkommen klar erkenne, worauf es 
ankommt. Jetzt kann ich alles und jedes im Geist des „Einen" 
betreiben, so daß mir auch alles und jedes zum Heil gereichen 
muß. Was soll mich noch entmutigen, seitdem ich weiß? Was 
mich noch aufhalten? Weder Krankheit noch Unglück, weder 
eigenes noch fremdes Versagen, weder JTugend noch Laster. Alles 
im Leben dient dem Wissenden. . . . 
Ich habe es gut. Heute fühle ich mein Glück so intensiv, daß 
Keiner als Naturprodukt vorbildlich ; Vollendung das Ideal. 297 
ich es ausstrahlen möchte über die ganze Menschheit. Möchte ich ihr 
doch zu ermutigendem Beispiel werden! Möchte sie lernen an mir, 
wie wenig Grund sie zum Verzagen hat! Noch immer krankt sie am 
Aberglauben der guten Anlage, noch immer verehrt sie in bestimm- 
ten Zuständen Ideale; noch immer wähnt sie, daß es vorbildliche 
Naturen gibt. So wird sie nicht freudig, sondern beklommen, wo 
sie aufschauen muß, und die Liebe nicht ausreicht, den Neid zu 
ersticken. Aber es gibt keine vorbildlichen Naturen, kann keine 
geben. Kein noch so Großer war als Natur verehrungswert. Wenn 
Buddha und Christus uns höchste Beispiele bedeuten, so liegt dies 
nicht an ihrer Anlage, sondern an dem, was sie gemacht haben aus 
ihr; es liegt an ihrem Wiedergeborensein im Geiste. Aber jene 
Größten waren von Hause aus doch so begnadet, daß es nicht leicht 
gelingt, über ihr Angeborenes hinwegzusehen; jeder fühlt unwill- 
kürlich, indem er ihrer gedenkt, seine ungünstigere Stellung. Meine 
Person nun ist vollendet unvorbildlich. Mein Dharma erfordert 
eine Existenz, die kaum jemand außer mir ersprießlich wäre, ein 
Abweisen der allermeisten Bindungen, die mit Recht als bildendste 
gelten, so daß wohl nichts von dem, was ich tue und bin, irgend- 
jemand ein Beispiel im Guten sein kann. Geradezu abnorm muß 
ich erscheinen, weil ja Proteus auf der Ebene des Menschendaseins 
nicht als universellere, sondern als extrem spezialisierte Erschei- 
nung wirken muß. Eben das macht mich zum Beispiel geschickt. 
Kein Mensch ist als Naturprodukt vorbildlich — es 
besteht keinerlei Gefahr, das irgendjemand mich zum Vorbilde 
nähme; aber jeder wird es in dem Fall, daß er innerhalb 
naturgegebener Grenzen seine äußerste Vollendung 
erreicht; dahin könnte ich, müßte ich kommen. Und selbst wenn 
ich nicht soweit gelange, wenn mich der Tod ereilt auf halbem 
Weg, wird, wenn Vollendungsstreben nur mein ganzes Leben be- 
seelte, wenn jede Leistung dieses rein zum Ausdruck bringt, und sei 
die Leistung an sich noch so gering, jeder Strebende von mir lernen 
können. Er wird sehen an mir, daß die Natur in Wahrheit keine 
Fessel bedeutet, sondern den Weg zur Freiheit, daß der Geist es 
vermag, alle Erscheinung zu transf igurieren ; daß wir wesentlich 
einem Geistesreiche angehören, dessen Gesetze ganz andere sind, 
als die der Erde, deren ganze Bedeutung eben darauf beruht, daß 
sie jenem zum Mittel dienen kann. Es gibt überhaupt nur geistige 
Bedeutung; die Bedeutung allein wiederum gibt Tatsachen Sinn. 
298 Die Weltschöpfung als Spiel. , 
So hängt es vom Geiste ab, in dem er lebt, ob eines Menschen 
unzulängliche Anlage, ob sein Mißgeschick, sein Leid, und um- 
gekehrt sein Glück, ihm zum Heil wird oder zum Verderben. 
Des Abends versammeln sich die Tibetaner gern bei Fackel- 
schein zur Mummenschanz. Sie sind reich an Humor, wahre 
Meister der Pantomime und zumal wenn sie als Drachen ver- 
kleidet tanzen, so stilgerecht, daß jede Bewegung wie naturnot- 
wendig wirkt, den Geist der Kreidezeit recht eigentlich zurück- 
beschwörend, dann stimme ich laut mit ein in den Applaus der 
Menge. — Es wirkt auf mich wie das Erlebnis eines Mythos, dieses 
nächtliche Spiel in der Bergwelt der Himalayas. Mir kommen die 
indischen Sagen vom Weltanfang und Weltende in den Sinn. 
Spielend, heißt es, und wie zum Spiel, hat Brahma die Welt 
erschaffen; ohne Zwang, ohne Absicht, ohne Vorbedacht, eben 
wie ein Kind, das spielt. Und im Spiel wird sie einmal vergehen. 
Am jüngsten Tag wird Shiva einen wilden Tanz beginnen, bac- 
chantenhaft, jauchzend, immer frenetischer, bis schließlich das Uni- 
versum zertanzt ist. 
Wie sublim ist dieser Mythos ! Wieviel größer als der vom 
bedachtsamen Greis, der sich sechs Tage lang absichtsvoll abmühte 
und dann am siebenten so sehr mit sich zufrieden war ; der zum Schluß 
eine Generalabrechnung plant, bei der jeder Posten bis zum ge- 
ringsten durchgenommen werden soll. Da lobe ich mir Brahma, 
den Spieler. Wahrscheinlich spricht der indische Mythos wahr. Hat 
diese Welt einen Anfang, liegt eine intelligente Ursache ihr zugrunde, 
dann muß sie zweck- und absichtslos entstanden sein, so wie im 
Dichtergeist das Kunstwerk entsteht. Nur in dem Fall kann sie 
als Meisterwerk gelten; vom Standpunkt jedes Zwecks, der nicht 
sie selbst wäre, ist sie verfehlt. Hat aber Brahma gespielt, als er 
die Welt erschuf, dann ist die Schöpfung freilich zu loben. Wie 
abwechselungsreich ist das Geschehen ! Wie überraschungsvoll greift 
eines in das andere! Und wie so sinnvoll sind die Spielregeln 
erdacht! 
Ist der Mensch nicht im Irrtum, indem er das Leben tragisch 
nimmt? Wäre es nicht das Höchste, wenn auch er sich wie Brahma 
verhalten könnte? Denn was unterscheidet das Spiel von der 
Arbeit? Nicht der Ernst dieser: ich kenne nichts Ernsthafteres, 
Ernst und Spiel; Shakespeares Komödien. 299 
als die Art, wie echte Kinder spielen. Es ist das Zweckhafte der 
Arbeit gegenüber dem Absichtslosen des Spiels. Nun ist das Leben 
an sich vollkommen zweck- und absichtslos. Es ist ein reines Aus- 
strömen, Wachsen, Geben, ein reines Streben nach immer vollerem 
Ausdruck, wobei Zweckvorstellungen und Zwecke nur hinderlich 
sind. Je ursprünglicher also ein Wesen, je wahrhafter, lebendiger, 
echter, desto mehr gleicht sein Dasein einem Spiel. So ist ein 
Götterdasein nur als Spiel zu denken. 
Ich versetze mich in den Bewußtseinszustand hinein, der 
ihm entspräche: was fehlte mir, wenn ich so weit wäre? Ich 
stände über dem Schicksal, über der Sorge, über mir, über 
allem was mich anginge. Wie scharf ich auch hineinblickte in die 
Welt, nichts Übeles könnte ich in ihr entdecken. So sah Shake- 
speare sie an in den Stimmungen, in der er die Komödien schuf. 
Die sind das Werk eines Gottes, keines Menschen; eines Wesens, 
für das es keine Tragik mehr gibt, dem Gesetz und Schicksal leere 
Worte sind, weil es nur mehr Spielregeln kennt 
CALCUTTA. 
Es war bei den Tagores, in altertümlichem Palaste. Auf seidenen 
Teppichen lagerten die Musikanten und trugen auf seltsamen 
Lauten uralte Weisen vor. Ihre Musik ließ sich weder in den 
Rahmen einer Melodie einspannen, noch auf bestimmte Harmonien 
beziehen, noch nach eindeutigem Rhythmus zergliedern ; sogar die 
Einzeltöne schwankten in ihren Umrissen. Dennoch stellte jedes 
vorgebliche Ganze eine wirkliche Einheit dar: die Einheit des Zu- 
stands, welcher andauert, bis er in einen andern übergeht. Die 
Theorie, fast möchte ich sagen : die Mythologie dieser Musik ist 
gar wundersam. Seit Urzeiten entsprechen bestimmte Tonfolgen be- 
stimmten malerischen Themen ; zu jedem Bildmotiv weiß der Kenner 
den korrespondierenden Rag. Und jeder Rag entspricht einer be- 
stimmten Jahreszeit, und darf nur zu bestimmter Stunde gespielt 
werden. Es gibt Rägs für jede Stunde des Tages und der Nacht. 
Wie gestern, dem Winterabend, auf meinen bestimmten Wunsch, 
300 Bei den Tagore's; indische Musiktheorie; Programmusik. 
eine Hochsommermittagsweise erklingen sollte, wurden die Musiker 
unruhig ; sie konnten sich nicht vorstellen, wie das nur möglich sei. 
Es ist nicht leicht, in Worten klar zu machen, was die indische 
Musik bedeutet, denn mit der unsrigen hat sie wenig gemein: sie 
ist wesentlich eines Sinnes mit dem indischen Tanz. Keine Absicht, 
keine umrissene Gestaltung, kein Anfang, kein Ende; ein Wallen 
und Wogen des ewigfließenden Lebensstroms. Daher die gleiche 
Wirkung auf den Hörer: sie ermüdet nicht, könnte ewig fort- 
dauern, denn des Lebens wird keiner je satt. Aber was vom 
Nautsch mehr im allgemeinen gilt, ist in dieser Musik bis ins 
Feinste, Intimste durchgeführt. Nicht die Zeit überhaupt, sondern 
die bestimmten Zustände des Lebens erscheinen in ihr auf den 
Hintergrund der Ewigkeit hinausprojiziert. 
Die Programm-Musik Europas irrt, wo sie Qualitäten, die nicht 
Musik sind, in Tönen darstellen will. Für musikalische Qualitäten 
gibt es keine Äquivalente in anderen Sphären ; Musik kann nur un- 
mittelbarer Ausdruck sein. Im Tristanvorspiel scheint das Verlaufen 
der Wogen auf dem Sande greifbar wiedergegeben, aber nur 
deshalb, weil der Hörer das Ufer vor Augen hat oder weiß, was 
er vorstellen soll; an sich entsprächen seine Harmonien dem 
Waldesrauschen schwerlich schlechter. Wirklich bringt diese 
Musik nur eine bestimmte Zuständlichkeit zum Ausdruck, die durch 
kein Gegenständliches zu definieren ist. Ebensowenig würde ein 
Sommermittags-Räg mit Notwendigkeit die Vorstellung lähmender 
Hitze hervorzaubern. Aber das haben die Inder auch nie von ihm 
verlangt: der Sommermittagsräg soll seinem Gegenstand nur soweit 
entsprechen, daß er dem wirklichen Zustand, indem man ihn durch- 
lebt, einen steigernden Spiegel vorhält — und das vermag Musik. 
Ein französischer Künstler hat einmal von der indischen, welche dies 
mehr als jede andere kann, bemerkt: c'est la musique da corps 
astral. Das, gerade das ist sie (sofern es ein Astralreich gibt, das 
den überlieferten Vorstellungen entspricht) : eine weite, unermeß- 
liche Welt, in welcher Zustände die Stelle der Gegenstände einnehmen. 
Man erlebt nichts bestimmtes, nichts Greifbares, indem man ihr 
lauscht, und doch fühlt man sich aufs Intensivste leben. Man hört 
eben, indem man dem Wechsel der Töne folgt, in Wahrheit sich 
selber zu. Man fühlt wie der Abend zur Nacht und die Nacht zum 
Tag wird, wie auf den taufrischen Morgen der lastende Mittag folgt, 
und anstatt stereotype Bilder an sich vorüberziehen zu sehen, die 
Die indische Musik; Rägs und Räginis. 301 
einem die Erfahrung so leicht verleiden, wird man sich im Spiegel 
der Töne der immer neuen Nuancen bewußt, mit denen das Leben 
auf die Reize der Welt reagiert. Wie soll einem die Zeit da lang 
werden? Wie soll einer es müde werden, zuzuhören? Da ich blind 
war, überraschte mich die Entdeckung, daß der Augenlose keine 
Langeweile kennt. Die Zeit, die wir sonst am Verhalten der Gegen- 
stände abmessen, die sich selten so schnell verändern, als wir's 
wünschten, wird jetzt am Wechsel der Vorstellungen abgeschätzt. 
Da nun die Seele unaufhaltsam produziert, rastlos Bilder auf Bilder 
häuft, kann kein Bewußtsein der Einförmigkeit aufkommen. Dieser 
Trost, den die Natur dem Erblindeten schenkt, hat die indische 
Musik zum Gemeingut aller gemacht, welche Ohren haben zu hören. 
Es gibt Variationen zu jedem Rag; diese heißen Räginis, 
weibliche Rägs, und solcher sind viele jedem männlichen zuge- 
wiesen. Deren Verhältnis zueinander prägt sich in der Musik höchst 
merkwürdig aus. Wohl handelt es sich zum Teil um musikalische 
Verwandtschaft, aber das Eigentliche des Verhältnisses der Rägs 
zu den Räginis erweist sich in der spezifischen Wirkung, in den 
besonderen Zuständen, die sie wecken. Frauen wirken nämlich 
anders als Männer. Die indische Musik liegt, was ihr Eigenstes 
betrifft, geradezu in einer anderen Dimension als die unsere. Unser 
Objektives existiert für sie kaum. Anschließende Töne sind nicht 
notwendig harmonisch verknüpft, Taktabteile fehlen, Tonart und 
Rhythmus wechseln immerfort; ein indisches Musikstück wäre, 
seinem wahren Charakter nach, in unserer Schrift nicht zu objekti- 
vieren. Das Objektive der indischen Musik, das einzig Bestimmende 
ist das, was in Europa subjektivem Ermessen überlassen bleibt: 
der Ausdruck, der Vortrag, der Anschlag. Sie ist reine Ursprünglich- 
keit, reine Subjektivität, ganz reine duree reelle, wie Bergson sagen 
würde, unbeeinträchtigt durch äußerliche Bindungen. Nur als 
Rhythmus ist sie allenfalls objektiv faßbar, wie denn der Rhythmus 
den Indifferenzpunkt gleichsam bezeichnet zwischen Gegen- und 
Zuständlichkeit. So ist diese Musik einerseits jedem verständlich, 
andrerseits aber nur dem seelisch Höchstgebildeten. Jedem inso- 
fern als jeder lebendig ist, und sie unmittelbares Leben verkörpert; 
nur dem Höchstgebildeten, als ihren geistigen Sinn nur der Yogi zu 
fassen vermag, der seine Seele kennt. Der Musikalische nimmt gegen- 
über dieser Kunst kaum eine Vorzugsstellung ein. Wohl aber tut 
es der Metaphysiken Der Metaphysiker ist ja der Mensch, der die 
302 Die Musik der Inder als Spiegel ihrer Metaphysik. 
Ursprünglichkeit des Lebens als solche im Geiste spiegelt, und eben 
das tut die indische Musik. Indem er ihr lauscht, vernimmt er sein 
eigenstes Wissen, herrlich wiedergeboren in der Welt der Sonorität. 
Sie ist in der Tat nur ein anderer farbigerer Ausdruck der Indischen 
Weisheit. Wer sie ganz verstehen will, muß sein Selbst realisiert 
haben, muß wissen, daß der Einzelne nur ein flüchtiger Ton ist in 
der Weltensymphonie, daß alles zusammengehört, nichts losgelöst 
werden kann ; daß nichts Gegenständliches wesentlich mehr ist als 
ein Zustand, und kein Zustand mehr als ein Augenblicksbild des 
dunkelen, stetig dahinfließenden Lebens. Er muß wissen, daß das 
Sein jenseits aller Gestaltung west, die nur dessen Ausdruck oder 
Abglanz ist, und daß die Erlösung darin besteht, sein Bewußtsein 
im Sein zu verankern. — So empfanden, so begriffen die Inder, 
deren Gast ich war, diese Musik. Die Vortragenden glichen Eksta- 
tikern, die mit der Gottheit kommunizieren. Und die Hörer 
lauschten mit der Andacht, mit der man göttlicher Offenbarung 
lauscht. 
Es war eine denkwürdige Nacht. In den hohen Saal, von alter- 
tümlichen Gemälden behangen, paßten die edlen Gestalten der 
Tagores, mit den feinen, durchgeistigten Gesichtern, in den male- 
risch gefalteten Togas, prachtvoll hinein. Abenindranath, der Maler 
der Familie, ließ mich der Typen gedenken, die einstmals Alexan- 
drien geziert haben ; JRabindranath, der Poet, beeindruckte mich 
gar wie ein Gast aus einer höheren, geistigeren Welt. Nie vielleicht 
habe ich soviel vergeistigte Seelensubstanz in einem Manne ver- 
dichtet gesehen. . . . Und nun übersehe ich mit einem Blick die 
indische Lebensgestaltung, die indische Weisheit und die indische 
Musik. Diese Musik ist, im Vergleich zur unserigen, monoton ; oft 
umspannt eine lange Komposition nur wenige Töne, oft ist es eine 
einzige Note, die eine ganze Stimmung trägt. Das Eigentliche dieser 
Musik liegt anderswo ; der Dimension der reinen Intensität ; da be- 
darf es keiner weiten Oberfläche. — Auch die indische Metaphysik 
ist monoton. Sie spricht immer nur vom Einen, ohne ein Zweites, 
in dem Gott, Seele und Welt zusammenfließen, dem Einen, daß aller 
Vielheit innerstes Wesen ist. Auch sie meint ein rein Intensives, 
das Leben selbst, jenes letzte ganz Ungegenständliche, aus dem die 
Gegenstände gleich Einfällen hervorgehen. Vom Nicht-Extensiven 
ist in der Sprache der Extensität nur in Form des Einfachen zu 
reden, das Extensive als solches interessiert sie nicht. Aber das 
Indische Lebensgestaltung, Weisheit und Musik, 303 
Eine hat keine Weisheit klarer erkannt als sie. — Und nun 
die Inder selbst. Auf das Wesenhafte allein bedacht, haben sie der 
Erscheinung wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diese hat bald vege- 
tationsartig gewuchert, bald kümmerlich ihr Leben gefristet, un- 
unterstützt vom bewußten Geist. So fehlt es der indischen Persön- 
lichkeit auffallend an Weite und Breite. Sie wirkt sogar im Höchst- 
fall als arm im Vergleich mit gleichwertigen aus dem Westen. Dafür 
kennt sie Modulationen in der Intensität, eine Mannigfaltigkeit in 
der Tiefendimension, wie keine sonst. Von aller Lyrik dieser Zeit 
verkörpert die Rabindranath Tagores die farbenreichste, farben- 
prächtigste Tiefe. 
IV. 
NACH DEM FERNEN OSTEN 
20* 
Vorzuge von Krankheit und Rekonvaleszenz. 309 
IM MEERBUSEN VON BENGALEN. 
"^Y Nachdem ich Monate lang nur den Geist berücksichtigt hatte, 
^J griff der Körper, der diesen Zustand nicht mehr ertragen 
-^- konnte, zum äußersten Mittel, um seine Rechte geltend zu 
machen: ich erkrankte schwer; die letzten Wochen in Indien habe 
ich auf dem Krankenlager zugebracht. In ihrer Art war es keine un- 
interessante Zeit. Es ist ein eigenes Bewußtsein, sich weniger als 
handelnde Person denn als Schauplatz zu fühlen: als das Ge- 
biet, auf dem Mikroben ihre Schlachten schlagen. Und dann er- 
lebt man zu Zeiten physischer Schwäche psychische Umlagerungen, 
die mir als Abwechselung nicht unwillkommen sind. Während 
des Krankseins treten Züge meines Wesens hervor, die ge- 
wöhnlich verborgen bleiben ; der weibliche Aspekt gewinnt die 
Oberhand, wodurch die Welt in einem anderen, persönlich-freund- 
licheren Licht erscheint. Während solcher Zeiten bin ich ohne 
Willen, ohne Wünsche ; und gedenke meiner gewohnten, oft so ge- 
waltsam sich äußernden Bestrebungen mit jener leise lächelnden 
Sympathie, mit der die Frau dem unverständigen Ehrgeiz des 
Mannes zusieht. 
Nun bin ich Rekonvaleszent, und diesen Zustand genieße ich 
immer intensiv. Sonst spüre ich meinen Körper als ein Fremdes, 
dem Geist als unveräußerbare Materie Gegebenes, ohne inneren 
Zusammenhang mit mir selbst.^ Jetzt verhält sich der Geist ganz 
passiv, während die regenerierenden physischen Kräfte desto emsiger 
walten ; und das im Körper zentrierte Bewußtsein hat das be- 
glückende Gefühl andauernder Produktivität. 
So beschaffen ist wohl das Glücksgefühl des kleinen Kindes. 
Der Erwachsene kennt Zustände ähnlichen Behagens nur während 
310 Körperliche und geistige Betätigung ; Irrtum der Yogis. 
körperlicher Schwäche, und in desto geringerem Grade, je mehr er 
Geistesmensch ist. Das theoretisch-normale psychophysische Gleich- 
gewicht, wo der Mittelpunkt des Bewußtseins zwischen Physis 
und Psyche mitteninne sitzt, so daß beide im gleichen Maß und 
Sinne wirklich erscheinen, ist unsereinem kein normales und kann 
es nicht sein. Mögen Körper- und Geistesleben noch so ver- 
schiedenen Dimensionen angehören — es ist eine Energie, die in 
beiden Sphären verausgabt wird, und wo sie in einer höchsten An- 
forderungen genügen soll, muß die andere entsprechend vernach- 
lässigt werden. Es scheint ja, als wüßten die Engländer die Lei- 
stungen auf beiden Gebieten zu vereinen, sie, die immer Sports- 
leute sowohl als Geistesarbeiter sind. In Wahrheit beweisen 
gerade sie die Unmöglichkeit solcher Vereinigung. Ihr geistiges 
Niveau ist, was die Tiefe betrifft, fast ausnahmslos niedriger als das 
der Deutschen, eben weil ihre Kalokagathia der Psyche einen Teil 
ihrer möglichen Kraft nimmt. 
Ja, es tut wohl, einmal rein körperlich zu existieren, nichts zu 
tun, sondern mit sich geschehen zu lassen. Solche Perioden be- 
deuten auch die natürliche Reaktion gegenüber Zeiten gesteigerter 
Geistigkeit. Die Yogis behaupten zwar, man dürfe nie aus- 
spannen : ein einziger Tag, während dessen das Ziel aus dem Auge 
verloren wird, bringe einen auf einen überwunden-gewähnten Stand- 
punkt zurück. Sicher haben sie recht damit, sofern endgültiges Hin- 
überschwenken in andere Welten beabsichtigt ward. Wer hingegen 
seine normalen Fähigkeiten nicht überwinden, sondern pflegen und 
steigern will, hat allen Grund, sich vor allzuviel Yoga in acht 
zu nehmen: denn die Vergewaltigung des Naturprozesses kann 
dauernde Lähmung zur Folge haben. Die Inder wären nicht so 
unproduktiv, wenn sie schlechtere Yogis wären, denn an Be- 
gabung fehlt es ihnen nicht; das ständige Fixieren des Geistes 
nimmt diesem seine Eigenbeweglichkeit; er arbeitet nicht mehr von 
selbst. Produzieren aber besteht eben darin, daß der im stillen ge- 
schäftige Geist sich von Zeit zu Zeit seiner Geschöpfe nach außen 
zu entladet. Deshalb darf der, welcher hienieden etwas leisten will, 
die Natur nie vergewaltigen — deren normaler Weg verläuft 
aber nicht geradeaus, sondern in Spiralenform. Das Alternieren 
verschiedener Bewußtseinslagen, der rhythmische Wechsel der 
Interessen ist im gleichen Sinne notwendig und heilsam, wie der 
Wechsel von Wachen und Schlaf. Ich habe es längst verlernt, unter 
Birma ; Blindheit der Inder. 3 1 1 
Depressionsperioden zu leiden und mich über Zeiten der Ver- 
dummung zu entsetzen: ich weiß, daß zeitweilige Verdummung 
recht eigentlich die Vorbedingung künftiger Erleuchtung ist. 
RANGOON. 
Wie gut diese Welt kontrapunktiert ist! — Wer ermüdet 
ein Land verläßt, meint jedesmal, nun sei er nicht mehr 
aufnahmefähig ; und wird er alsdann in ein anderes 
hineinversetzt, so überrascht ihn die willkommene Erfahrung, daß 
er noch gerade so empfänglich ist wie früher — denn zu den neuen 
Eindrücken bedarf es anderer Organe, als er ehedem zu verwenden 
Gelegenheit hatte. So bedeutet Birma das fast mathematisch ge- 
naue Komplement zu Indien deshalb, weil hier alles für und 
durch die Sinne lebt. 
Indien ist schön, strichweise großartig; allein kein typischer 
Brahmane würde sich Theophile Gautier anschließen dürfen in 
dessen Bekenntnis : je suis de ceux pour lesquels le monde visible 
existe; ihm ist das Sichtbare Mäyä, Schein, oder zum mindesten 
nicht sehenswert. Der ungeheure Zug ins Übersinnliche, der ihn 
beseelt, hat ihm die Natur zum Schattenspiel verbleicht. Er weiß 
wenig oder nichts vom eigenen Geist der Berge, nichts vom Ur- 
wald, nichts vom Meer; er weiß allenfalls von Gärten zur Stunde 
der schwülen Träume ; und wo die Natur so übermächtig wirkt, daß 
er sich ihrem Eindruck nicht entziehen kann, dort transponiert er 
ihren Sinn ins Transzendente hinüber, wodurch der Eigen-Sinn der 
Erscheinung wiederum verflüchtigt wird. Solche Einstellung ist 
normalen Menschen nicht ^nemäß; sie rächt sich bei allen, die 
für das Übersinnliche nicht ausdrücklich geschaffen sind (welche 
letztere ein Götterrecht haben, über das Sinnliche hinwegzu- 
sehen), insofern sie stumpfer nicht nur erscheinen, sondern sind, als 
sonst unbegabtere Menschen ; da sie das Sinnliche nicht sehen wollen 
und dem Übersinnlichen nicht gewachsen sind, so nehmen sie gar 
nichts wahr. Auf den nun, der sich diese Einstellung zeitweilig 
angeeignet hatte, wirkt sie auf die Dauer wie ein Alp. Nicht 
allzuempfängliche Gemüter mögen von Indiens psychischer Arno- 
312 Birma lebt ganz für die Sinne; die Birmanerin. 
Sphäre unbeeindruckt bleiben : auf sie wirkt die Landschaft un- 
mittelbar ein, sie sehen die Dinge vor sich, als ob Jahrtausende des 
Grübelns die Welt nicht transfiguriert hätten. Ich habe die Gegen- 
wart der Geister ohne Unterlaß gespürt. Auch ich vermochte die 
Natur in Indien nur als Mäyä zu schauen ; mir war, als sündigte 
ich, wenn ich sie irgendeinmal beim Worte nahm. So empfinde 
ich es wie eine Erlösung, daß ich mich heute in einer Welt be- 
finde, welche ganz für und durch die Sinne lebt. 
Dies ist in Birma in außerordentlichem Maße der Fall. Mehr 
als in Frankreich und Italien, ja mehr als im alten Griechenland, 
dessen Luft ja noch heute über den Trümmern weht. In Europa 
ist der Geist als Intellekt zu mächtig. Die Hellenen haben 
immerdar von ewiger Schönheit geträumt, und seither ist alle 
westliche Kunst im Zeichen des Ideals verblieben — sei es auch 
nur in dem Sinn, daß roheste Natur als Ideal verherrlicht 
wird. So ist die französische Sinnlichkeit im Grunde Metaphysik, 
denn sie ruht ganz auf geistigen Voraussetzungen: man nehme 
dem Franzosen seine Einbildungskraft, und seine Erotik verflöge. 
In Birma fehlt jeder geistige Hintergrund. Der Buddhismus, der 
solchen hätte schaffen können, hat tatsächlich nur einen neutralen 
Rahmen aufgebaut, innerhalb welches die Sinne unbefangen sich 
selbst leben. 
Der Grundton Birmas ruht auf der Birmanerin, dem un- 
bewußt-selbstbewußten Mädchen. Ihre Anmut beherrscht das Volks- 
leben, ihre Farben trägt die Natur, sie ist der gute Genius der 
Kunst. Wenn ich die mutwilligen Kurven an Tempeln und Pagoden 
betrachte, die zierlichen Holzschnitzereien, die glitzernden Säulen, 
so schweifen meine Gedanken unwillkürlich zu den Mädchen zu- 
rück, die sich scherzend unter ihnen bewegen: die Bewegtheit der 
Kunstformen Birmas ist eines Geists mit der Gangart der Landes- 
töchter, der Glasschmuck spiegelt ihr Lächeln, die Chromatik 
ihre eigensten Farben. Ja die furchtbaren Drachen und Schlangen 
auf den Firsten und Fahnenstangen scheinen keine ernstere Absicht 
als die zu hegen, die übermütigen Kinder hie und da inmitten ihrer 
Spiele zu erschrecken. In dieser Welt regiert das Mädchen sou- 
verän. Verständnis für sie belebt als Grundzug die freundlichen 
Geisenangesichter; und die Mönche scheinen nur deshalb so 
streng und würdig dreinzuschauen, auf daß die Jugend des Lebens 
Ernst nicht ganz vergesse — wie es denn gerade die Mädchen 
Die Schwee-Dagon-Pagode ; das goldene Zeitalter. 313 
sind, die drauf bestehen, daß jeder Junge einmal, wenn auch auf 
noch so kurze Zeit, (wie in Deutschland Soldat), ein richtiger 
Mönch gewesen ist. 
Bis die Nacht hereinbrach, bin ich auf dem Platz vor der 
Schwee-Dagon-Pagode gesessen. Ich sah die Strahlen der Sonne 
auf dem Gold der Dächer langsam abklingen; ich sah die 
Mädchen, Blumen in der Hand, ihre Abendandacht verrichten 
und die Alten, behäbig schmauchend, dem Treiben der Jungen 
zuschauen. Vor mir spielten zwei Bettler auf dschunkenartigem, 
hölzernem Klavizymbel seltsame Weisen. Um mich schlängelten 
sich neugierige Krähen; bunte Hähne bekundeten durch heral- 
dische Stellungen ihr wesentliches Stilgefühl. Und gelegent- 
lich erschien ein halbverhungerter Hund, so scheußlich, so un- 
wahrscheinlich häßlich an Gestalt und Ausdruck, daß ich unwill- 
kürlich mit den hölzernen Drachen über mir verständnisinnige Blicke 
wechselte. 
Wie es Nacht ward, fuhr ich zur Stadt zurück. Ein Birmaner- 
haus öffnete mir gastfrei die Tür; und während die runzelige 
Mutter gemütlich schnarchte, rauchte und scherzte ich mit ihren 
vier Töchtern, ausgelassenen Kindern von bezwingender Lieblich- 
keit. Ihnen war meine Zunge unverständlich, ich kannte die ihre 
nicht. Doch verständigten wir uns gut in der allgemein-mensch- 
lichen Sprache des Frohsinns, deren Symbolik jedem eingeboren ist. 
Wie soll man es umgehen, bei einiger künstlerischen Ver- 
anlagung, Land und Leute von Birma zu idealisieren? 
Was man hier sieht und erlebt, ruft einem wieder und 
wieder den Mythos vom Goldenen Zeitalter ins Bewußtsein. Da- 
mals gab es keine Sorgen noch Bedürfnisse; alle Menschen hatten 
sich lieb, waren unbekannt mit Krieg und Hader; das Leben floß 
selig dahin wie das von Kindern im Spiegel des Erwachsenen- 
Bewußtseins. Gerade so scheint das Birmanerleben dahinzufließen. 
Dieser Zustand ist das Verdienst des Buddhismus. Dessen un- 
geheure Gestaltungskraft in tropischer Umwelt tritt in Birma noch 
eindrucksvoller als auf Ceylon an den Tag, weil hier die Kirche 
weit mehr Bedeutung besitzt als dort und die etwaigen Vorzüge 
des Bildes dem Rahmen gegenüber kaum in Betracht kommen. 
Der Birmaner steht als Mensch in keiner Hinsicht hoch; weder 
314 Der birmanische Buddhismus. 
ist er tief, noch begabt, noch von echter Herzensgüte. Diese 
Tugenden sind bei Kindern nie ausgebildet. Sogar die Mönche, 
so würdig sie sich ausnehmen, können als durch den Buddhis- 
mus innerlich Geformte kaum betrachtet werden, wie so manche 
unter den Bhikshus von Ceylon: sie sind von außen her geformt, 
gleichwie der Durchschnitt katholischer Mönche. Die Weisheit 
katholischer Ordensregeln ist groß, aber sie erweist ihre Wirk- 
samkeit nur unter besonderen, abnorm zu nennenden Bedingungen. 
Der buddhistische Canon in seiner grandiosen Einfachheit ist eine 
Form, die fast jedem Tropenbewohner gemäß ist und ihn notwendig 
zur Vollendung führt. 
Wie dürftig und kindisch sind die Vorstellungen, die das 
Birmanerbewußtsein mit der Religion verknüpft ! Religion bedeutet 
ihm einerseits eine Lebensroutine, eine angestammte Form psycho- 
physischer Hygiene, und dann ein leichtes und billiges Mittel, sich 
für das Jenseits oder das nächste Erdendasein zu versorgen. Es 
genügt eine Pagode zu bauen, einen Brunnen oder ein Rasthaus 
zu stiften, den Armen das Überflüssige zu geben und an den reli- 
giösen Feiern, die unseren lustigsten Kirmessen gleichen, teilzu- 
nehmen, um soviel „Verdienst" aufzuhäufen, daß die Zukunft ge- 
sichert erscheint. Das ist eben der Typus der Religiosität, der im 
Volk Süd-Italiens und Spaniens vorherrscht, — vielleicht der niederste 
von allen denkbaren. Aber mit dieser Feststellung ist das Problem 
doch nicht erledigt. Darf man von oberflächlichen Kinderseelen 
eine tiefere Religiosität erwarten? Nein; dazu sind sie nicht 
selbständig genug. Ihnen kann Religion nur ein äußerer Rahmen 
sein, dessen Wert sich darnach ermißt, bis zu welchem Grade er 
sie bildet. Dies nun hat der Buddhismus in Birma in so hohem 
Grade vermocht, daß unter diesen unverantwortlichen Kindern 
tatsächlich ein dem Goldenen Zeitalter vergleichbarer Zustand 
herrscht; unter Voraussetzung ihrer gegebenen Naturanlagen 
könnten sie nicht mehr sein und nicht besser, als sie dank dem 
Buddhismus geworden sind. Und dieses liegt gewiß nicht an 
der äußeren Form an und für sich, sondern an der immanenten 
Tiefe des Buddhismus. Dessen Gestalt ist der unmittelbare Aus- 
druck seines Gehaltes, und weil dieser von wunderbarer Wahrheit 
ist, hat jene auch dort, wo ihr Sinn nicht verstanden wird, Wunder 
gewirkt. Es ist eben nicht unbedingt notwendig in Fragen des 
praktischen Lebens, daß einer sich der Weisheit der Regeln, die 
Magische Kraft unverstandener Formeln; die Tropennatur. 315 
er befolgt, bewußt sei; sind sie weise, so beweisen sie ihre 
magische Kraft auch wo sie unverstanden bleiben. Im uralten 
Glauben an Zauberformeln steckt mehr Wahrheit als unsere Zeit 
wahrhaben will: Worten und Satzungen wohnen Tugenden inne, 
die sich auch demjenigen mitteilen, dessen Geist nur den Buch- 
staben faßt. 
Die Gestade des Iraouaddy sind von mehr Denkmälern der 
Frömmigkeit bestanden, als die des Ganges. Pagode auf Pagode 
schmückt die Höhen, Kloster auf Kloster, von blühenden Bäumen 
überschattet, von grünenden Gärten umringt, belebt die Sandflächen. 
Aber der Iraouaddy ist kein heiliger Strom; er ist ohne tiefere 
Symbolik, ohne andere als quantitative Größe. Und der Ernst 
birmanischer Pilger wirkt nicht ernsthafter, als der von Schul- 
kindern, die ohne Rücksicht auf etwaige Ermüdung alle möglichen 
Freuden eines Sonntagsausflugs bis zur Neige auskosten wollen. 
PENANG. 
Die Vegetation der malayischen Halbinsel beeindruckt mich, als 
sähe ich ihresgleichen zum erstenmal. Voll Entzücken be- 
trachte ich die naive Selbstsicherheit der Schößlinge, die 
kluge Geschmeidigkeit der Schlingpflanzen, das sanftausdauernde 
Werben der Blätter um einen Platz am Licht — jenes wunder- 
same tropische Vegetieren, das in der Stille den Eindruck größerer 
Bewegtheit macht, als die Unrast einer Menschenmenge. Wohl 
fehlen, dank der überstarken Belichtung, die Farben- und Form- 
nuancen, von dem die Schönheit eines Waldes im Norden abhängen 
würde ; nur mit Mühe gelingt es, aus dem Grün eine Einzelgestalt 
herauszulösen. Aber gerade deshalb lebt das ganze desto mehr; im 
ganzen geht alles Einzeldasein auf. Wie tausend Bächlein zusammen 
einen Strom ergeben, so spürt man in den Tropen die Natur als 
unteilbare grandiose Lebenseinheit. Diese Flora ist unwahrschein- 
lich reich, üppiger noch als die von Ceylon. Und schöner ist sie in- 
sofern, als hier hochragende Stämme wieder und wieder dieWirrsal 
des Dschungels durchsetzen, so daß das zügellose Wuchern der Ge- 
wächse als Füllung einer klaren Umrißzeichnung wirkt. Zumal das 
316 Reiz des Pflanzendaseins ; Pflanze und Frau. 
lichte Grau der abgestorbenen Baumriesen hilft dem Auge das Grün 
übersehen. Hier hat der Tod gleichsam die Taktstriche einge- 
zeichnet in eine sonst allzu verwobene Partitur. 
Welch' wundersamen Zauber besitzt die Pflanzenwelt! Die 
stille, wie unvermeidliche Vollendung, das selbstverständlich-harmo- 
nische Zusammenbestehen, die bewußtlose Schönheit der Gewächse, 
ja ihr problemloses Dasein als solches, welches trotzdem das Lebens- 
problem vollkommen löst, wirkt auf mich allemal wie die Ver- 
sicherung, daß auch ich meinem Ziele nicht mehr fern bin. Ich 
selber wurzele ja tief im Pflanzenleben, so kann ich es ver- 
stehen ; es ist der beharrende Unterbau meiner Bewegtheit. Und 
je mehr ich mir dessen bewußt bin, desto geborgener fühle ich 
mich. Hier nun hüllen mich die freundlichen Gewächse beinahe 
stürmisch in ihre Wesensluft ein. Sie reden mir zu, daß ich die 
Gewißheit schon habe, nach der ich blind kämpfend noch immer 
suche, daß ich ja schon am Ziele bin, daß alles zum besten steht. 
— Wie sollte gerade der tätige Mann an der Pflanze nicht seine 
liebste Ergänzung finden? Fürst Bismarck weilte nirgends so gern 
wie im friedvollen Sachsenwald. Man redet von trotzigen Eichen, 
hehren Fichten: solche Bezeichnungen sind nicht gegenständlich. 
Das für uns Wesentliche an der Pflanze ist gerade, daß kein Wort 
noch Begriff aus dem tätigen Mannesleben auf sie übertragen 
werden kann. Aber dem Frauenleben ist sie vergleichbar, oder 
genauer gesagt: das Leben der Frau hat mit dem der Pflanze 
Ähnlichkeit; es ist ein gleiches Motiv, das den kämpfenden 
Mann zur stillen Frau und zur gleichmütigen Pflanze zieht. In 
beiden tritt die Modalität des Lebens zutage, die von vornherein am 
Ziele ist; die ist es, nach der seine rastlose Seele sich sehnt. So 
haben wir Männer denn auch, so lange wir zu bestimmen hatten, 
das Vegetative bei der Frau akzentuiert. Des aktiven energisch- 
tätigen Weibes bedürfen wir nicht. 
Dieser Planet muß wonnig gewesen sein dazumal, als die 
Pflanzenwelt auf ihm noch dominierte. War es nötig, daß das 
Leben überhaupt den schweren Gang tätigen Werdens antrat? 
Dem Sinne nach weiter als die Rose wird kein Übermensch jemals 
gelangen. Wozu die beschwerliche Spirale? Diese Frage, die ich 
so oft verstimmt gestellt, wenn ich von der Spitze eines endlich 
erstiegenen Turms auf die verflachte Landschaft niederschaute, 
ich stelle sie heute voll Wehmut. Ich weiß es: der Aufstieg ist 
Die Pflanzen als Idealwesen. 3 1 7 
unser Schicksal ; ich selber würde verzweifeln, wenn ich rasten 
sollte. Aber wenn ich an die Aussicht zurückdenke, die sich auf 
den frühesten Stufen vor mir entrollte, an die Freuden, die mir 
das Leben damals bot, dann bedauere ich es doch, daß ich habe 
aufsteigen müssen. 
SINGAPORE 
Die Pflanzenwelt bestimmt so sehr den Charakter der malay- 
ischen Natur, daß ich für anderes kein Auge habe; immer 
wieder fängt mein Blick sich in den Gewächsen. 
Seit Ceylon habe ich mich in diese Lebensform nicht mehr 
versenkt, so ist mein Interesse an ihr wie neu. Wieder er- 
kenne ichs: wer die Pflanze vollkommen verstünde, dem ver- 
schlösse das Leben kein Geheimnis mehr. Und sie gibt sich einem 
so freundlich hin. Niemand könnte aufrichtiger sein als sie, wahr- 
haftiger, echter ; sie allein vielleicht von allen Wesen der Welt stellt 
sich ganz so dar wie sie ist. Wie wenige Menschen tun dies, es 
sei denn für Augenblicke! Sie mögen noch so wahr sein wollen 
— immer wieder tritt Unwesentliches, Zufälliges in des Bildes 
Vordergrund, und der Zusammenhang, welcher das Wesen aus- 
macht, erscheint verrückt. Noch von den höheren Tieren gilt dies; 
während die Pflanzen, die seligen, reinen, Verstimmungen nie 
unterworfen sind und immerdar den Grund ihres Wesens spiegeln. 
Auch phänomenologisch bieten sie nicht weniger, als beweg- 
lichere Wesen: die Mannigfaltigkeit ihrer Formen ist so groß, 
daß nur eine göttliche Phantasie sie zu bereichern wüßte. Wahr- 
scheinlich hat der Aufschluß der psychischen Sphäre, die dem 
Menschen gegenüber dem Tier so viel Spielraum hinzugewonnen 
hat, zu keinerlei Neubildungen geführt, deren Geist auf ihrer 
Ebene die Pflanzen nicht auch verwirklicht hätten. Die Flora 
bezeichnet, auf bestimmtbelegener Fläche, nicht nur einen voll- 
ständigen Ausdruck des Geistes, sondern überdies bei weitem den 
vollkommensten, den dieser bisher gefunden hat. Vom Standpunkt 
der Vollendung her betrachtet und mit einer beliebigen Blume ver- 
glichen, wirken die höchsten Menschen als Mißgeburten. So stellt 
die Flora nicht nur, sie beantwortet sämtliche Probleme, die der 
Menschengeist aufwerfen mag. Die Betrachtung der Gewächse hat 
318 Die Flora beantwortet sämtliche Wesensprobleme. 
mir heute wieder einmal den empirischen Sinn der Freiheit zum 
Bewußtsein gebracht. Was heißt man eine freie Tat? Ein spontanes 
Geschehen nach streng vorgezeichnetem Gesetz. Mit wunderbarer 
Plastizität werden die Elementarbegriffe obiger Definition vom 
Pflanzenleben illustriert. Etwas Nicht-Mechanischeres, als das Auf- 
schießen eines Triebes in den Tropen kenne ich nicht; wenn etwas 
spontan genannt werden darf, dann ist es solch' triumphierender An- 
stieg. Dennoch treten die Gesetze der Natur nirgends eindeutiger in 
die Erscheinung als hier. Ich betrachte eines jener bizarren Riesen- 
blätter, die wie in mutwilliger Absicht verkehrt am Stengel hängen : 
wie gespannt ist diese Gestalt, wie vibrierend von innerem Leben I 
Und doch ist ihre Anlage ohne weiteres mathematisch-physikalisch 
zu verstehen, wäre von einem Techniker vielleicht zu entwerfen ge- 
wesen. — Sind wir praktisch überhaupt -in irgendeinem andern Sinne 
frei als die Pflanzen? Schwerlich. Was dem empirischen Freiheits- 
begriff zur Grundlage dient, ist die Möglichkeit der Willkür. Nun 
ist aber der Willkürhafte in Wahrheit der gebundenste; mag er die 
Welt noch so tyrannisch regieren, er ist Sklave seiner selbst, seiner 
Leidenschaften, der Elemente seiner Seele, nur durch das eine von 
der Pflanze unterschieden, daß seine Natur als solche beweglich- 
flüssiger ist. Auch wer sich selbst beherrscht, ist noch nicht wahr- 
haft frei, sondern erst der von sich freie, welchen Selbstsucht 
in keiner Form beschränkt; dies aber bedeutet, in der Sprache der 
Mystik ausgedrückt, wer vollkommen gehorsam ist gegenüber Gott, 
oder wissenschaftlicher gefaßt, wessen persönlicher Wille eins ist 
mit der überpersönlichen Macht, die ihm den Platz anwies in der 
Erscheinungswelt — und dies will wiederum sagen: wer gleich der 
Lilie mit sich geschehen läßt. Pflanze und Mensch sind beide im 
letzten frei; das heißt, das Leben, das sie beseelt, ist wesentlich 
Freiheit. Das empirische Geschehen aber hat in beiden Fällen den 
gleichen Sinn; es ist ein gesetzmäßiges Auswirken. Ob dieses ver- 
mittelst unbewußter Triebe, blinder Instinkte, persönlichen Wollens, 
der bewußten Einwilligung oder der Initiative in dem geschieht, 
was seinen Zielen nach über die Person hinausweist, bedingt keinen 
Wesensunterschied; das Treiben de* Pflanze, die Willkür, das Opfer 
des Menschen bedeuten gleiches. Könnte jene die Frage der Frei- 
heit stellen, sie beantwortete sie nicht anders als wir. 
Den Sinn des Unsterblichkeitsinstinkts hätte ich mit ge- 
ringerer Mühe ergründet, wenn ich, anstatt mein Selbstgefühl zu 
Die Flora beantwortet sämtliche Wesensprobleme. 319- 
anatysieren, tief ins Grüne hineingeblickt hätte. Alle Unsterblich- 
keitsvorstellungen sind Wucherungen des Wurzelbewußtseins, daß 
die Person das letzte nicht ist, daß der Sinn des Lebens tiefer liegt. 
Diese Wahrheit wird einem von der Flora ad oculos vordemon- 
striert. Die Pflanzen wissen nichts vom Individuum, wissen nur 
ausnahmsweise vom Sterben. Der Akzent jedes, auch des speziellsten 
Einzeldaseins ruht auf dem, was den Tod überdauert. 
Und die Schönheit? Angesichts der Gewächse springt einem 
ihr Sinn in die Augen. Jede Erscheinung wirkt schön, in der 
die vorhandenen Möglichkeiten vollendeten Ausdruck fanden; 
deshalb sind Pflanzen immer schön, wo nichts Äußerliches ihr 
Wachstum beeinträchtigt hat. Überdies aber tragen sie ein Fest- 
gewand, wenn die Zeit der Verewigung kommt; dann prangen sie 
in herrlichstem Blütenschmuck. Gelehrte haben das aus Nützlich- 
keitserwägungen zu erklären versucht: wie blind ist der Verstand! 
Die Schönheit ist überall Selbstzweck; sie ist der äußerste Ausdruck 
des Möglichen. Die ganze Schöpfung wird schön zur Zeit der Liebe, 
weil dann unendliche, überindividuelle Möglichkeiten für eine Weile 
im Individuellen in die Erscheinung treten, weil der Geist der 
Ewigkeit dann das Sterbliche verklärt. Beim Menschen bringt er 
die Seele zum Blühen; deren Herrlichkeit verschönt, so lange die 
Blüte währt, das unscheinbarste Antlitz. Bei den Pflanzen, die in 
der Leiblichkeit aufgehen, treibt der Geist leibliche Blüten hervor. 
Auch über das dunkelste, tragischeste Problem gibt einem die 
Anschauung der Pflanzenwelt Aufschluß: die Einseitigkeit jeder 
Entwicklungsrichtung. Ein Wesen ist entweder eine Monade 
oder ein Element; als Monade ist es dem Tode geweiht, als Ele- 
ment zwar unsterblich aber unpersönlich. Ein Baum ist vollendet 
im Blühen oder als Früchteträger, als Hochstamm oder als Schatten- 
spender, schnellwüchsig oder fest im Holz. Alles auf einmal kann 
er nicht sein. Das Äußerste, was seinem Streben offen steht, ist,, 
in der Folge seiner Lebensperioden nacheinander viele Vollendungs- 
möglichkeiten zu erfüllen: erst schnell zu wachsen, sich dann zu 
festigen; erst der Blüte, dann der Frucht zu leben; erst aufzu- 
schießen, dann sich auszubreiten. Aber wenige sind innerlich so» 
reich, daß sie in mehr als einem Sinn vollkommen werden können.. 
320 Aus den Tropen heraus; chinesische Kunst und Natur. 
HONGKONG. 
Die Landschaft von Hongkong gemahnt an die Riviera ; ich 
bin aus den Tropen heraus. Die Spannung der Atmosphäre 
hat nachgelassen, die Sonnenstrahlen drücken nicht mehr, 
alle Übergänge sind sanfter geworden. Sonnenunter- und -aufgänge 
in den Tropen enttäuschen den, der ihnen mit hoher Erwartung ent- 
gegensah: einer zitternden feurigen Blase gleich steigt sie des 
Morgens vom Horizonte auf — und es wird Licht; wie ein 
schwerer Tropfen flüssigen Metalls fällt sie des Abends ins Meer 
zurück — und es wird Nacht; keine Farbensymphonien vor- noch 
nachher, es sei denn, daß dichte Wolkengebilde die Lichtbrechungs- 
verhältnisse gemäßigter Zonen künstlich hergestellt hätten. An 
starken Kontrastwirkungen können diese mit den Tropen wohl 
nicht wetteifern ; aber deren Möglichkeiten sind nicht reich, und 
starke Kontraste verschlingen alle Nuancen. So ist mir diesen 
Abend, wo ich vom Pik auf die Fläche des chinesischen Meers 
hinausblicke, als seien neue Kräfte in mir geboren: ich fasse Fein- 
heiten und Abstufungen in Farben und Formen auf, die mir vor 
wenigen Tagen ganz entgingen. Und hierzu leitet die Natur des 
Fernen Ostens wie keine andere an: in ihr sind die Linien von 
einer Reinheit und die Übergänge von einer Reinlichkeit, wie sie 
bei uns nur künstlerisches Abstraktionsvermögen schafft; diese 
Natur hat schon Gott stilisiert. Viele der reizvollsten Eigentümlich- 
keiten chinesischer Malerei sind in jener schon vorgebildet. Wie 
ich zuerst auf die abendliche See hinausblickte, da schien sie mir 
von langen weißen Nebelstreifen überlagert. Wie erstaunte ich, als 
ich bald darauf über diesen Inseln schwimmen sah ! Kein unmittel- 
bares Sehen hätte mich lehren können, daß die Inseln nicht im 
Himmel lagen ; dieser Natur gegenüber bedarf es einer gleichen 
Phantasie, um den perspektischen Zusammenhang zu erfassen, wie 
gegenüber ostasiatischen Gemälden. 
Schon sehe ich's: in China werde ich mich zum Augenmenschen 
umwandeln müssen; hier strotzt alle Erscheinung von Sinn. Mir 
ahnt eine Synthese von Wesen und Schein, wie sie mir noch niemals 
begegnet isi 
V. 
CHINA 
Verhalten in Ausnahmesituationen bedeutungslos. 323 
CANTON. 
L 
eider trete ich meinen Aufenthalt in China unter ungünstigen 
Verhältnissen an : das Land steht in voller Revolution. Solche 
Perioden heißt man wohl „große Zeiten" und manche 
zehren ihr Lebenlang davon, daß sie „dabei gewesen sind": den 
Tieferblickenden dünken Epochen gewaltsamer politischer Um- 
wälzung als die uninteressantesten von allen nur möglichen. 
Angesichts außerordentlicher äußerer Ereignisse geraten die Aller- 
meisten nämlich außer Gleichgewicht; sie leben an der Oberfläche, 
die ihrerseits keine normale und für das Wesen nicht symbolisch 
ist ; ihr Eigentliches tritt gar nicht zutage. Was bedeuteten die Ge- 
walttaten der Terreur-Periode oder der Juli-Revolution in bezug 
auf die friedlichen bourgeois von Paris, die sie verübten? Nichts. 
Diese waren bloße Schauspieler eines Massenimpulses. Allerdings 
gibt es Ausnahmenaturen, echte Sturmvögel, die nur zu solchen 
Epochen ganz sie selbst sein können, und die sind dann hoch- 
interessant; aber Sturmvögel sind seltener als man denkt; bei 
der Mehrzahl hat das Betragen in Ausnahmesituationen nicht die 
mindeste symbolische Bedeutung. Fast jeder Gentleman beweist 
Mut im Augenblick der Gefahr, fast jede Mutter, wenn ihre Kinder 
bedroht sind, und speziell in Deutschland bewährt sich beinahe 
jeder angesichts der typischen Fährnisse, denen er von Berufs 
wegen ausgesetzt ist: der Kapitän beim Sinken seines Schiffs, der 
General in der Schlacht, der Bürgermeister, wenn eine Seuche 
seine Stadt befällt usw. Nur sind diese Leute als Helden nicht 
mehr sie selbst als sonst, sondern weniger oder gar nicht: sie han- 
deln nicht als Individuen, sondern als Repräsentanten; und sehr 
21* 
324 Revolutionen als Kinderkrankheiten. 
oft, nur zu oft, hat dieses typische Handeln den Sinn eines Sich- 
Verkriechens vor dem eigentlichen Selbst, wie die Rhetorik des 
Delinquenten auf dem Schafott. Wenn Napoleon bloß auf das 
Verhalten seiner Generäle in extremis Wert legte, so lag das 
daran, daß in seinem Fall alle Entscheidung in extremis fiel, und 
die Menschen an sich ihm gleichgültig waren; wäre ihm um deren 
eigentliches Sein zu tun gewesen, er hätte anders geurteilt. Frei- 
lich äußert sich dieses nicht notwendig im Rahmen ihres täglichen 
Daseins, wie Maeterlinck wahrhaben will, denn der paßt nicht 
notwendig zum Menschen; nur der entsprechende Rahmen 
kommt in Frage, dieser aber kann, par definition, kein Ausnahme- 
zustand sein. Zumal in China, dem Land des ewigen Friedens und 
der Ordnung! Diese Revolution kann ich überhaupt nicht ernst 
nehmen und wenn ich nicht sehr irre, so tut dies auch kein 
wurzelechter Chinese in dem Sinn, wie dies dem Europäer selbst- 
verständlich dünkt; ich habe den Eindruck, daß er sie so ansieht, 
wie Revolutionen überall angesehen werden sollten: als eine 
Krise des Organismus. Über gewisse Entwickelungsstadien kommt 
der Körper nicht ohne Gewaltsamkeit hinweg: er erkrankt, er 
fiebert, kocht auf; in diesem Sinn sind Revolutionen mitunter 
unvermeidlich, (wenn auch kaum die Hälfte derer, welche die neuere 
Geschichte verzeichnet, diesen Charakter tragen dürfte); speziell 
die französische entsprach ohne Zweifel einer inneren Notwendig- 
keit, so wenig erfreulich ihre Folgen im allgemeinen, zumal für 
Frankreich, sich erwiesen haben, denn auf andere Weise waren die 
nicht mehr lebensfähigen aber gerade dank ihrer Erstarrtheit 
starken Formen und Institutionen des ancien regime nicht zu 
brechen. Immerhin bedeutet eine noch so unvermeidliche Kinder- 
krankheit keine Heldentat. Ich kann schwer ein Lächeln unter- 
drücken, wenn ich „die Taten des Volks" verherrlichen höre. 
Dieses ridicule wird China sich nicht geben. Es wird Sun Yat-Sen 
auch nicht lange als Helden verehren, wie dies in Europa sicher 
geschähe, sondern ihm wohl vielleicht dankbar sein dafür, was er 
angestiftet, ihn im übrigen aber nicht anders beurteilen, als was 
er ist: als gutartigen wenn auch nicht harmlosen Ideologen. 
Nicht nur im Sinne der Zeit, auch in dem des Raumes stellt 
sich mein Anfang in China weniger günstig dar, als ich erhofft 
hatte: in Canton drängt sich einem die Außenseite des Lebens so 
übermächtig auf, daß es physisch unmöglich erscheint, durch sie 
Öffentliches Leben überall uninteressant. 325 
hindurchzusehen. Nun ist das öffentliche Leben als solches ganz 
uninteressant, weil dessen Formen Ausdruck nicht der Seele, son- 
dern der objektiven Notwendigkeiten oder Opportunitäten des Zu- 
sammenlebens überhaupt sind und daher nicht nur von Volk zu 
Volk, sondern sogar vom Menschen zum Tiere zu dem Sinne nach 
kaum variieren. Man hat viel über das Fremdartige der chine- 
sischen Institutionen geschrieben : ich finde sie den europäischen 
nur zu ähnlich ; so anders sie de facto sein mögen, so wenig 
weichen sie in der Bedeutung von ihnen ab. In dieser Geschäfts- 
und Großstadt, die berühmt ist wegen ihrer Außerordentlichkeit, 
habe ich kaum überhaupt das Bewußtsein, mich in fremder Um- 
gebung zu befinden. Was könnte (um die Gegenprobe zu machen) 
ein chinesischer Metaphysiker in Berlin oder Frankfurt lernen? 
Vom Geist, der dort freilich ein anderer ist als hier, würde er 
im Großstadtgetriebe wenig spüren. Er würde etwas weniger Fleiß 
und Arbeit, sehr viel mehr Unruhe feststellen und wahrscheinlich 
zum Ergebnis gelangen, daß wir Europäer Menschen seien ganz 
gleicher Art, nur von niedrigerem Kulturniveau. 
Um nicht leer auszugehen, schalte ich den Metaphysiker fürs 
erste aus und stelle den reinen Beobachter ein. An Geschäftig- 
keit übertrifft Canton wohl alles, was ich gesehen; Tagediebe 
scheint es überhaupt keine zu geben. Und das Unheimliche dabei 
ist, daß alle diese Arbeitstiere heiter dreinschauen. Ich beginne 
zu verstehen, warum die Chinesen dem Europäer so leicht als 
Unmenschen vorkommen. Wer sie mit Affen vergleicht, der 
bedenke, worin das spezifisch Groteske des Affen besteht: 
dem Kontrast zwischen einem menschlich -klugen Auge und 
einem tierischen Gesicht, weswegen jedes extrem intelligente 
und zugleich lebhafte Auge der Physiognomie etwas Affenartiges 
gibt, sogar im Fall eines Mannes wie Kant. Die Cantonesen 
wirken nicht tierisch sondern unmenschlich, weil man fühlt, daß 
hinter diesem für unsere Begriffe menschenunwürdigen Dasein 
nicht rohe Natur sondern Bildung steckt. Diese Heiterkeit ist ein 
Kulturprodukt. . . . Woher das über die Maßen Unsympathische 
dieser Stadt? es will mir wahrhaftig nicht gelingen, reine Ein- 
drücke zu gewinnen. Am Schmutz und Gestank kann es nicht 
liegen, gegen welchen in China nicht mehr einzuwenden ist, als 
in Italien: er gehört zum spezifischen Charakter und sogar zum 
spezifischen Charme; die an sich recht peinlichen Ausdünstungen 
326 Idealität des Geschäftsmanns ; Cantonesen und Ameisen. 
von Benares habe ich auf die Dauer beinahe lieb gehabt. Am 
spezifisch Chinesischen kann es noch weniger liegen, denn dieses 
scheint im Gegenteil sympathisch zu sein. Wahrscheinlich liegt 
es an der extrem-kommerziellen Atmosphäre. Noch nie bin ich 
längere Zeit unter Geschäftsleuten kleinen Stils geweilt, ohne 
eine Störung meines Gleichgewichts davonzutragen. Aber auch 
diese Erwägung entscheidet die Frage nicht. . . . Endlich hab' 
ichs: was mich in Canton so widerwärtig berührt, ist das Seelen- 
los-Maschinelle des Lebens. Die Menschen schaffen hier im tief- 
sten Sinne zweck- und ziellos; ihnen fehlt das vollkommen, was 
die Idealität des Geschäftsmanns ausmacht: das Handeln unter 
großen Gesichtspunkten; gleich Ameisen rackern sie sich ab. Und 
wenn Ameisen, die sicher nur Ameisen sind, hochintelligente Ge- 
sichter tragen und dabei unzweifelhaft gebildet sind, so wirkt das 
beängstigend. 
Es kann nicht wahr sein, daß in Canton das Herz Chinas 
schlägt, wie so häufig behauptet .wird. Canton ist nicht mehr 
typisch für dieses Reich, wie Marseille oder Neapel für Europa. 
Aber soweit typisch ist es wahrscheinlich doch, und vielleicht 
ist es gut, daß mir diese Seite Chinas ganz zuerst in so auf- 
dringlicher Form entgegengetreten ist, da ich sie sonst über dem 
vielen Schönen, das mir bevorsteht, übersehen hätte. Sicher steht 
der Chinese der Ameise näher als irgendein Mensch; sicher steht 
er gerade in diesem Sinne unter uns. Aber eben hier wurzelt seine 
unverständliche Superiorität: die ungeheure soziale Bildung der 
niedersten Volksschichten. Es gibt keine Arbeiterin unter Ameisen, 
die an Gebildetheit in ihrer Sphäre dem größten Grand-Seigneur 
nicht gleichkäme. 
Nun wäre ich doch soweit eingelebt, daß die negativen Emp- 
findungen, welche Canton nach wie vor in mir auslöst, 
mich bei der geistigen Betrachtung kaum mehr stören. Wie 
schön ist, trotz allem, diese Stadt! Alles Dekorative ist von einer 
Vollendung, wie ich es nirgends bisher gesehen. Die Gold- 
schmiede-, die Holz- und Elfenbeinschnitzkunst — was immer zum 
Kunstgewerbe gehört — steht auf unglaublich hoher Stufe; der 
erbärmlichste Handwerker hier scheint im höchsten Sinn Ge- 
schmack zu besitzen. Und wenn ich dann sehe, was für nüchterne, 
Langatmigkeit der chinesischen Kulturentwickelung. 327 
trockene Gesellen diese wunderbaren Kleinkünstler sind, dann bin 
ich jedesmal dekonzertiert. Offenbar bedeutet diese ganze Kultur 
in bezug auf den einzelnen gar nichts mehr; alle Vollendung be- 
ruht auf Routine. Unwillkürlich denke ich an die fernen Zeiten 
zurück, wo die erstarrte Form noch von Leben vibrierte. . . . 
Dann aber frage ich mich, ob schöne Formen je geherrscht haben, 
bevor sie sich von ihrem Sinne losgelöst hatten? Florenz wird 
damals, als Lionardo und Michelangelo in ihm schufen, nicht ent- 
fernt so schön gewesen sein, wie zur Zeit ihres Niedergangs; 
zur Epoche, da die Form entstand, war sie eben noch nicht vor- 
handen. So ist das China von heute vermutlich sehenswerter als 
das der Tang-Dynastie. . . . 
Die Chinesen, die einstmals gewaltige Schöpfer waren, haben 
ihre Erfindungsfähigkeit offenbar eingebüßt. Um so bedeutsamer 
ist es, daß sie nicht entartet erscheinen — in der Sphäre der Kunst 
nicht mehr als in der des Lebens — wie dies zu Zeiten der Stagna- 
tion im Westen fast immer geschah; bei ihnen scheint vielmehr 
das Befolgen der Tradition dem Erfinden biologisch äquivalent. 
Alles Ungestaltete ist in China schon auskristallisiert, womit das 
Ende der Neuschöpfung, für eine Weile wenigstens, erreicht ist. 
Wenn aber das gleiche mit unverminderter Kraft immer wieder von 
neuem entsteht, dann ist das alles eher als Sterilität: es ist der 
Weg der Natur, welche auch durch ungeheure Zeiträume am 
gleichen festhält, ehe sie sich zu Neuerungen entschließt. Man muß 
die Kultur der Chinesen offenbar nach geologischen Epochen beur- 
teilen, um ihr gerecht zu werden. So wird auch ihre Neuerungs- 
feindlichkeit zu deuten sein: sie sind sicher nicht wesentlich 
neuerungsfeindlich, denn im Lauf der Geschichte hat China keine 
geringeren Wandlungen als Europa durchgemacht; nur hat es sich 
weniger dabei beeilt. Und im allgemeinen ist es kein gutes sondern 
ein schlechtes Zeichen, wenn einer zu viel Eile beweist. Wohl 
kann es bedeuten, daß er sein Ziel so hochgesteckt hat, daß er 
keine Minute verlieren darf, wenn er es überhaupt erreichen will; 
meist aber bedeutet es nur, daß er sein Ende vorausahnt. . . . 
328 Die chinesische Schrift. 
Immer mehr frappiert mich die unerhörte Formen- und Farben- 
schönheit der Straßen Cantons; höchste Sinnenkultur spricht 
aus aller Gestaltung; kaum ein Nutzgegenstand, kaum eine 
Arabeske, die in der Idee nicht künstlerisch wertvoll wäre, so 
oft die Ausführung versagt. Nach Sonnenuntergang aber wirkt 
die Stadt wie eine Feerie, wie eine ungeheure Symphonie 
in Schwarz und Gold. Überall heben sich vom schwarzen Grunde 
der Nacht schöngeformte Lichtkörper ab, allenthalben leuchten 
feurige Ideogramme. 
An diesen könnte ich mich nimmer satt sehen. Sie sind der- 
maßen schön in der Form, daß chinesische Straßen allein dank 
ihren Reklame- und Ladenschildern das Auge entzücken. Wie 
sollte hier Schreiben und Malen nicht gleich geachtet werden? 
Schon der Idee nach steckt in den Hieroglyphen höchste Kunst; 
und um sie so darzustellen, wie dies immer verlangt wird und 
häufig geschieht, bedarf es der Hand eines echten Künstlers. Für 
eine schöne Handschrift wird von Kennern oft ebensoviel bezahlt, 
wie für ein Meisterwerk der Malerei. 
Ich gehe schwerlich fehl, wenn ich das hohe Kulturniveau der 
Chinesen, was die sichtbare Form betrifft, zum sehr großen Teil 
auf das Dasein ihres Schriftsystems zurückführe. Nicht nur leben 
sie alle von klein auf in einer Umgebung, die den Formensinn 
ausbilden muß — es bedeutet eine Lebensnotwendigkeit für sie, 
auf die Form genau acht zu geben. Eine chinesische Sprache im 
vokalen Sinn gibt es nicht; in jefler Region wird ein be- 
sonderer Dialekt gesprochen, der eine vom anderen oft nicht 
weniger verschieden, als es das englische vom deutschen ist. 
Nun benutzen aber alle Chinesen gleiche Schriftzeichen und können 
sich vermittelst ihrer noch dort verständigen, wo sie mündlich 
übereinander hinwegreden würden : wie sollte die Buchstabenschrift 
da nicht gründlich studiert werden? Ist dieses nun geschehen, 
dann ergeben sich weitere Vorteile von selbst. Die wesentliche 
Schönheit der Ideogramme bildet unwillkürlich den Geschmack, 
desto mehr als es für ungezogen gilt, nicht kalligraphisch schön zu 
schreiben, und die Notwendigkeit, eine große Anzahl solcher, deren 
Kennzeichen oft in winzigen Details besteht, augenblicklich von- 
einander zu unterscheiden, schärft Auge und Blick. Die Unfähigkeit 
gebildeter Chinesen, etwas Häßliches hervorzubringen, und der 
Ausdrucksfähigkeit der chinesischen Schrift. 329 
unerreicht hohe Formensinn, welchen die Masse in China besitzt, 
sind ohne Zweifel die unmittelbare Folge der Herrschaft dieses 
Schriftsystems. 
Aber dessen Vorzüge sind mit den aufgezählten nicht er« 
schöpft; ich bewundere es vor allem um seiner geistigen Be- 
deutung willen. Ein Gedanke kann innerhalb seiner meist nur 
symbolisch ausgedrückt werden, nicht gegenständlich oder an und 
für sich; es wird ein Beziehungssymbol hingemalt, aus dessen 
Zusammenhang mit an- oder nebenstehenden sich der Sinn des 
Gemeinten ergibt. Unter solchen Umständen ist es erstens un- 
möglich zu lesen, ohne dabei zu denken; hierher rührt das 
überraschende Kombinationsvermögen noch so niedriggestellter 
Chinesen, die aber des Lesens und Schreibens noch mächtig sind. 
Dann aber läßt sich vermittelst der Ideogramme viel mehr sagen, 
als mit artikulierteren Ausdrucksmitteln. Nur Leute, die nie einen 
tiefen Gedanken gefaßt haben, behaupten, was man meint, das 
wisse man unter allen Umständen zu bestimmen; die Sprache 
gibt es nicht, die das Wunder ermöglichte; jede Epoche hat 
ihre spezifischen Schranken, aus welchen kein Genius ausbrechen' 
kann, außerdem aber jede besondere Sprache an und für sich. 
Und daß je eine erfunden werden sollte, in welcher sich alles 
wird gegenständlich aussprechen lassen, scheint desto unwahr- 
scheinlicher, als die Entwickelungstendenz aller der Expliziert- 
heit und damit der Verarmung zustrebt; im Französischen läßt 
sich nicht ebensoviel sagen wie im Deutschen, im modernen 
Englisch nicht so viel als in dem des elisabethanischen Zeit- 
alters. Soviel gilt schon davon, was sich, prinzipiell gesprochen, 
explizieren läßt: was aber von dem, was über alle möglichen 
Ausdrucksformen hinausgeht, und doch das Wirklichste vom 
Wirklichen ist — den Objekten des metaphysischen Sinnens 
und des innerlichst-religiösen Erlebens? die sind in unseren 
Sprachen schlechterdings nicht darstellbar. Aber sie sind es in der 
chinesischen Schrift. Es ist möglich, Beziehungssymbole auf die 
Weise nebeneinanderzustellen, daß sie das Unendliche sowohl ein- 
schließen als qualifizieren, wie ein offener Winkel den unend- 
lichen Raum definiert. Wo ein „Wissender" diese Zeichen vor sich 
sieht, weiß er sofort was gemeint ist und erfährt, wo er es nicht 
vordem wußte, mehr, als die längste Auseinandersetzung ihn lehren 
könnte. Ein Beispiel. Der ganze Konfuzianismus ist in drei (im 
330 Der Dreiklang des Konfuzianismus ; suggestive Ausdrucksweise. 
7 M^ 
Zusammenhang zu lesenden) Symbolen darstellbar, wovon das 
erste sich konzentrieren, sich anstrengen bedeutet, das zweite 
Mittelpunkt, und das dritte Harmonie nach außen zu. Damit 
ist wirklich alles ausgesprochen, was in den vier Büchern enthalten 
ist, außer dem aber das, was dem Konfuzianismus 
in der Idee zugrunde liegt, dessen Begründer aber 
wahrscheinlich gar nicht gewußt hat. Was, in der 
*- ^ Tat, vermöchte ein Sterblicher mehr, als sich voll- 
/ XJuf kommen zu verinnerlichen durch äußerste An- 
f Spannung seiner Seelenkräfte, und die erreichte 
/* ^ Verinnerlichung in der Harmonie der äußeren Er- 
^^^" scheinung auszuprägen? Das ist nicht nur die 
Essenz des Konfuzianismus, das ist mehr, als Kon- 
fuzius je geahnt hat, das höchste Ideal menschlichen Strebens 
überhaupt. O, wenn ich doch chinesisch zu schreiben verstünde! 
gern gäbe ich dann alle anderen Ausdrucksmittel preis. Nachdem 
alle Worte verweht sind, werden selige Geister in Fragmenten 
chinesischer Graphik noch die Wahrheit von Angesicht schauen 
Die chinesische Ausdrucksweise ist nicht gegenständlich son- 
dern suggestiv, setzt also einen sympathetischen Hörer oder 
Leser voraus, wie die uneigentliche Ausdrucksweise von Frauen. 
Das ist in vielen Hinsichten ein Übelstand: nicht allein, daß 
er praktische Abmachungen erschwert — ohne Zweifel ist es 
weniger, anzudeuten als deutlich auszusprechen was man meint; 
unsere auf suggestive Wirkungen hinzielenden Dichter und Schrift- 
steller stehen denn auch nicht über sondern unter den expliziten, 
so Stephane Mallarme unter Beaudelaire. Besonders äußert sich 
dieser Übelstand in der Philosophie, deren eigentliche Aufgabe 
es ist, das deutlich zu machen, was alle vielleicht undeut- 
lich ahnen. Dementsprechend sind wissenschaftliche Erkenntnisse 
in der chinesischen Schrift nur unvollkommen darstellbar. . Dennoch 
wäre es verfehlt, dieser die Vorwürfe zu machen, welche die weib- 
liche Ausdrucksweise Mallarmes verdient, denn die Ideogramme 
sind ein Ausdrucksmittel anderer Art als die Worte oder unsere 
Schrift: sie sind mathematischen Formeln vergleichbar. Solche 
mag der unzulänglich nennen, welcher töricht genug ist, zu ver- 
langen, daß sie jedes bestimmte Ergebnis, dessen Gesetz sie be- 
stimmen, an sich definierten: in Wahrheit sind sie genauer, als 
irgendeine sprachliche Fassung sein könnte, und umfassen über- 
dies sehr viel mehr. Eben das gilt, sofern man sie zu lesen ver- 
Algebraischer Charakter der chinesischen Schrift. 33 1 
steht, von den chinesischen Formulierungen. Allerdings bestimmen 
sie nicht unmittelbar, aber sie definieren das Mögliche so scharf, 
daß sich aus dem Zusammenhang mit anderen Möglichkeiten das 
Wirkliche eindeutig ergibt. So steht die chinesische Schriftsprache für 
viele Zwecke nicht unter sondern über der unseren, eben weil sie, 
gleich der Mathematik, Verhältnisse unmittelbar zum Ausdruck 
bringen kann, die aller sprachlichen Fassung entrinnen. Welcher 
„Sinn" steht denn vereinzelt da? Tausend Ober- und Untertöne 
klingen mit, die wir abtöten müssen, wenn wir klar sein wollen; 
die chinesische Schrift bleibt eindeutig, obgleich sie keinen Oberton 
dämpft. Dabei nimmt sie dem Wirklichen nichts von dessen 
Farbigkeit, wie dies das Verhängnis mathematischer Formeln ist. 
Alle Aussprüche chinesischer Weisen sind ausgezeichnet durch 
einen gewissen Zug zur Paradoxie. Das ist insofern wohl selbst- 
verständlich, als alle Wahrheit dem Nicht-Wissenden paradox er- 
scheinen muß und zumal abliegende nur in starker Kontra- 
punktierung darzustellen sind — aber es ist doch zugleich höchst 
merkwürdig wegen der Art der Paradoxie: sie ist humoristisch 
gefärbt; ich wüßte keinen Anspruch chinesischer Weisheit, über den 
ich in gewissen Stimmungen nicht herzlich lachen könnte. Woran 
liegt das? Wenn ich von der Nationalanlage absehe oder diese auf 
allgemeine Prinzipien zurückführe, so finde ich, daß in jenen Aus- 
sprüchen die Farbe freundlichen Lebens auf den Kosmos über- 
tragen scheint. Humor ist ein überaus Tiefes; Humor hat der, 
welcher einen tieferfaßten Gegensatz vom Standpunkt eines wohl- 
wollend-serenen Gemütes zum Ausdruck zu bringen weiß. So faßt 
die chinesische Hieroglyphenschrift den ganzen Kosmos ein, und 
damit wird aus der mecanique Celeste ein Epigramm. 
So lange China sein Schriftsystem behält, besteht keine Ge- 
fahr, daß in einer Hinsicht zum mindesten der Sinn durch den 
Buchstaben ertötet wird : denn hier schafft die Bedeutung erst den 
Tatbestand. Ich glaube auch nicht, daß es je durch ein modernes 
verdrängt werden wird, wenn auch zu erwarten steht, daß China 
sich, gleich Japan, zu geschäftlichen Zwecken nebenbei ein hand- 
licheres anlegen wird. Jedenfalls wäre es Torheit zu glauben, daß 
die Ersetzung der chinesischen Schrift durch die unsere einen Fort- 
schritt bezeichnen würde, denn was man Fortschritt heißt, ist nicht 
Sieg des Geistes über die Materie sondern dessen Gegenteil. Was 
könnte wohl einen größeren Triumph der Materie bedeuten, als 
daß der Geist gezwungen wird, sich ganz ihr anzupassen? 
332 ■ Liebeskunst und Folter ; Schmerzexperimente. 
Heute war ich auf dem Platz, auf dem noch vor kurzem fast 
täglich Hinrichtungen stattfanden von grauenerregender 
Grausamkeit. Damit ist es auf einmal vorbei: die Folter 
ist abgeschafft worden und aller Wahrscheinlichkeit nach für immer. 
Diese Neuerung — für modern-europäische Begriffe ein Ereignis 
von ungeheuerer Bedeutung — scheint beschlossen und eingeführt 
worden zu sein, wie eine beliebige Steuerreform: ein Kom- 
missionsglied hatte ausgerechnet, daß sich Menschlichkeit unter den 
gegebenen Verhältnissen besser rentiert. Niemand in China scheint 
an dieser Änderung des Justizverfahrens etwas besonderes zu 
sehen, auch die am nächsten beteiligten, die Delinquenten nicht. 
Nur die Zunft der Henker soll murren, da deren Feinarbeiter 
nunmehr in eine mißliche Lage geraten sind. 
Während ich auf dem Schauplatz so vieler Qualen weilte, 
beschäftigten sich meine Gedanken naturgemäß mit dem Sinne 
der Grausamkeit beim Töten, was mich zum Schluß führte, 
daß diese in der Idee recht gut begründet ist; nicht schlechter 
jedenfalls als das Raffinement beim Liebesgenuß. In beiden Fällen 
handelt es sich nicht um ein unmittelbares Steigern des Emp- 
findens, sondern ein mittelbares : durch die Vorstellungen, die 
mit ihm verknüpft werden. Wo nun das Sterben die Menschen, 
wie überall im Osten, an sich nicht schreckt, dort liegt es nahe, 
es möglichst eindrucksvoll zu inszenieren, damit das Gericht 
seine abschreckende Wirkung nicht ganz verfehlt. Unter allen Um- 
ständen liegt der Sinn des Tötens unter Qualen nicht in dem, der 
es erleidet, sondern in dem, welcher ihm zuschaut oder es erleiden 
könnte — der es also nur vorstellt — begründet, wie denn der 
noch so furchtbar Gemarterte aller Wahrscheinlichkeit nach auch 
nicht annähernd so furchtbar leidet, wie der mitleidsvolle Zu- 
schauer wähnt. Bei jenem nämlich tötet die absolute Größe des 
Schmerzes bald alles Vorstellungsvermögen und damit die Fähig- 
keit, die Empfindung eines Augenblicks mit der vergangenen 
und zu gewärtigenden zu verknüpfen; ist dieses aber ge- 
schehen, wird das Bewußtsein nur von der Gegenwart erfüllt, 
dann dürfte die schlimmste Tortur kaum schlimmer empfunden 
werden, als die Behandlung eines kranken Zahns durch einen 
rohen Arzt. Ich habe viel in der Sphäre der Schmerzempfindungen 
zu experimentieren Gelegenheit gehabt, und dabei gefunden, daß 
Sinn der Tortur im Zuschauer begründet. 333 
an sich kaum erträgliche Schmerzen durch Umzentrierung des Be- 
wußtseins — also durch Ablenkung der Aufmerksamkeit als solcher 
oder durch Ausschaltung steigernder Einbildungen — ohne weiteres 
auf die Hälfte reduziert werden können; wozu sich der weitere 
mildernde Umstand gesellt, daß sich der Mensch auch an Schmerzen 
gewöhnt und solche über ein gewisses Maß hinaus zu empfinden 
außerstande ist: wo er nicht abfällt, dort stumpft er ab. Diese 
Erwägung wird durch alle Erfahrungen bestätigt, die bei Foltern 
gemacht worden sind. Erstens leiden rohe Menschen weniger als 
feinorganisierte, eben weil ihre Vorstellungsfähigkeit geringer ist; 
dann bekunden speziell gemarterte Chinesen ungeheure Gelassen- 
heit, weil sie in der Tortur nichts Schreckliches sehen; endlich 
haben unstreitig feinfühlige Naturen im Mittelalter die Folter er- 
staunlich gut vertragen. Wenn diese sonach im Delinquenten ihren 
Sinn haben sollte, und nicht in dem, der ihr zusieht oder an sie 
denkt, dann hätte ihre Erfindung und Einführung auf einem Miß- 
verständnisse beruht. 
Dieses dient zur Erklärung des Umstandes, daß sonst hoch- 
gebildete Nationen so lange an grausamen Hinrichtungsarten fest- 
gehalten haben; wo die Theorie, daß Strafe vor allem abschrecken 
soll, überhaupt gilt — und wo gälte sie nicht? — erscheint Tortur 
im Prinzip als gerechtfertigt und es hängt mehr von Zweckmäßig- 
keits- als von Menschlichkeitsgründen ab, ob und wann sie ab- 
geschafft wird. Deswegen besteht zwischen uns, die vor über 
hundert Jahren diesen Schritt unternahmen, und den Chinesen, 
die erst in der vergangenen Woche unserem Beispiel folgten, 
wahrscheinlich kein großer innerer Unterschied, welche Erwägung 
deren Verhalten zu dieser Reform, auf das ich zu Beginn dieser 
Betrachtung hinwies, einen guten Teil seines paradoxalen Charak- 
ters nimmt. Auch in Europa sind mehr die Systeme als die Men- 
schen humanisiert. Die Fortschrittsgläubigen wissen zwischen 
diesen zwei Faktoren nicht so reinlich zu scheiden, als geboten 
wäre: vom System auf den Menschen, der ihm gemäß handelt, ist 
nur in seltenen Fällen zu schließen erlaubt. Ein Richter, der im 
Mittelalter die Anwendung außerordentlicher Torturen verordnete, 
braucht kein schlechterer Mensch gewesen zu sein, als ein mensch- 
licher zu unserer Zeit, während umgekehrt des letzteren Humanität 
nicht das mindeste in bezug auf sein Wesen zu bedeuten braucht; 
sogar Henker sind nicht selten gutmütig. Weß er gewohnt ist, das 
334 Die Schadenfreude als Elementarinstinkt. 
findet der Durchschnittsmensch fast immer billig; der Mann, der 
zuerst auf die Unmenschlichkeit der Folter hingewiesen hat, braucht 
nicht notwendig ein Engel gewesen zu sein, aber sicher war es ein 
Original. Marc Aurel hatte gar nichts dagegen, an grausamen 
Zirkuskämpfen teilzunehmen, im modernen Sinne human empfand 
noch Luther nicht; die heilige Theresa, eine der herrlichsten Seelen, 
die jemals gelebt, fand am Justizverfahren Philipps II. nichts aus- 
zusetzen und sah nur Edelmut am Werk in jenem Vernichtungs- 
kriege gegen die Azteken, den wir heute zum schändlichsten zählen, 
was Menschen verübt. — Eines ist aber wohl richtig: allen Asiaten, 
und unter diesen an erster Stelle den Chinesen, fehlt es auffallend 
an der Fähigkeit des Mitgefühls. Schon Buddhas „Mitleid" war 
nicht Mitgefühl in unserem Sinne; es enthielt keinen Ansporn zum 
Helfen; kein heutiger Inder, soweit er nicht westlichen Geistes 
ist, scheint jene Phantasie des Herzens zu besitzen, die ein untätiges 
Mitansehen fremden Leidens zur Qual macht; und kein Chinese 
vor allem ist im christlichen Sinne sympathiefähig. Handelt es sich 
hier um physiologische Differenzen? Wohl nur insofern, als das 
Selbstbewußtsein im Orient weniger als bei uns seinen Mittel- 
punkt im Individuum hat, weswegen individuelles Leiden verhält- 
nismäßig gleichgültig erscheint; der Hauptsache nach ist der Unter- 
schied psychisch begründet. Er beruht darauf, daß die Erkenntnis 
der Solidarität alles Lebens, die sie als solche in hohem Grad 
besitzen, weniger als bei uns das Empfinden ergriffen hat, daß 
das tat twam asi, in keinen Geboten, Gesetzen und Einrichtungen 
verkörpert, die unwillkürlichen Impulse ihrer Seele weniger be- 
stimmt. Von Natur sind alle Menschen teilnahmlos gegenüber 
allem, was ihre Person nich,t angeht, liegt zumal Männern Grau- 
samkeit näher als Menschlichkeit. Jene beruht auf dem animalischen 
Urinstinkt der Schadenfreude, welche ihrerseits die erste abgeleitete 
Funktion der Zustimmung zum Daseinskampfe ist. Jedes Wesen 
lebt objektiv auf Kosten anderer; schon auf der Bewußtseinsstufe 
des Hundes bedingt dies subjektiv ein Gefühl der Lebenssteigerung, 
wo es anderen schlechter ergeht als einem selbst; von hier bis zur 
absichtlichen Peinigung ist der Weg nicht weit. Deshalb ereignen 
sich Greuel auch seitens humaner Völker regelmäßig, so oft, wie 
im Kriege, das Tier in ihnen die Oberhand gewinnt. Wird der 
Hang zum Grausamsein je überwunden werden? Ich wage keine 
Prognose. Von allen Europäern ist allein der Engländer schon 
Ursprung und Überwindung der Grausamkeit. 335 
häufig so weit, daß er einen natürlichen Abscheu davor empfindet, 
andere leiden zu machen oder zu sehen — doch auch er nur, wo 
die Umstände seinen Nerven günstig sind; im tropischen Afrika 
verroht auch er. Im allgemeinen scheint der Hang zur Grausam- 
keit unter uns mehr verdrängt als ausgewachsen. Aber einmal mag 
es doch dahin kommen, daß das Menschenbewußtsein sich von dem 
Plan, auf dem ein Wesen auf Kosten anderer lebt, endgültig auf 
den höheren umzentriert, wo Eines Leid allen widerfährt, wo 
Eines Gewinn allen zugute kommt. Dann, aber erst dann, wird 
die Bestie niedergerungen sein. 
In den meisten Tempeln haben die Soldaten die Götterbilder 
zerschlagen und die Masse sieht hierin kein Sakrileg. Vom 
Standpunkte der Kirche her betrachtet sind die Chinesen frei- 
lich irreligiös; als ausgesprochene Verstandesmenschen verhalten 
sie sich skeptisch zu allen Jenseitsmythen. Die Grundstimmung 
der meisten Gebildeten theologischen Fragen gegenüber ist die des 
Konfuzius, daß es überflüssig und schädlich sei, sich mit tran- 
szendenten Problemen abzugeben ; der Sinn der Welt träte im 
Natürlichen" und Greifbaren ganz zutage. Daß nun die Chinesen 
im tieferen Sinne irreligiös wären, ist sicher nicht wahr, und 
hierauf werde ich später wohl zurückzukommen haben. Aber soviel 
scheint gewiß, daß ihnen der Gottesdienst nichts Religiöses be- 
deutet ; was hier zutage tritt, ist nichts als Aberglaube und Magie. 
Mich wunderte es nun, daß auch die Gebildeten in diesem Land, 
wo die öffentliche Meinung in ecclestasticis so frei ist, sich bis 
zu einem gewissen, keineswegs geringen Grade an den Tempel- 
riten und religiösen Verrichtungen beteiligen und ich bemühte mich, 
hinter den Sinn der Tatsache zu kommen. Da stellte sich denn ein 
gar Merkwürdiges heraus: ihnen bedeuten die Tempel ungefähr 
das, wie bei uns Kulturbureaus und Wirtschaftsberatungsstellen, 
und die Priester soviel wie Ingenieure. Sie sind die Fachleute, 
welche den Verkehr mit der Geisterwelt zu regeln haben. 
Diese Idee finde ich nun nicht oberflächlich, sondern tief, 
wenn auch ein wenig grotesk gefaßt, wie es in China für unsere 
Begriffe so häufig vorkommt. Auch den Indern sind die Götter 
nicht transzendente Wesen im Sinn des Christengotts, sondern 
Naturerscheinungen höherer Art, und die Riten dazu da, zu diesen 
336 Chinesische Religiosität ; Priester als Ingenieure. 
gute Beziehungen zu unterhalten. Aber der Inder ist so kirchlich- 
religiös, daß er den Göttern unwillkürlich mehr zugesteht, 
als seiner strikten Vorstellung von ihnen entspricht ; daher wirkt 
selbst der Käli-Kultus nicht wesentlich verschieden von einem 
christlichen Gottesdienst. Die Chinesen hiergegen, praktisch und 
nüchtern, haben aus den Prämissen sämtliche Folgerungen gezogen, 
die überhaupt aus ihnen zu ziehen waren: wenn es Dämonen gibt, 
und wenn es möglich ist, ihre unwillkommene Wirksamkeit in 
eine willkommene umzusetzen, dann muß dies selbstredend ge- 
schehen ; es muß Institutionen und Leute geben, welche dies 
wichtige Geschäft berufsmäßig betreiben. Das soll denn der Sinn 
der Kirche sein. 
Es ist nicht zu glauben, wie beschäftigt die Techniker sind, 
welche die Dämonen zu besänftigen haben. China strotzt buch- 
stäblich von Geistern, so sehr, daß die Bequemlichkeit des Lebens 
ernstlich unter den Störungen leidet, welche die unaufhörliche 
Rücksichtnahme auf sie bedingt. Weder kann man begraben, 
noch heiraten, wenn es einem beliebt, noch dort, wo man 
möchte, noch immer den Menschen, den mag mag: alles hängt 
von Inkommensurabilien ab. Ein Missionar nun, den ich sprach, hat 
einen hohen Beamten einst befragt, in der Absicht, ihm seinen 
Glauben an Geister zu nehmen, woher es denn komme, daß in 
Europa keine umgingen? Er erhielt darauf die Antwort: wenn 
niemand in Europa an Geister glaubt, dann gibt es dort selbst- 
verständlich keine; er persönlich wäre auch sehr dafür, daß sie aus 
China gleichfalls wichen; nur sei dies leider kaum zu erwarten, 
da der Glaube an sie zu allgemein ist, um baldigst auszusterben. 
Er meinte, in China seien sie objektiv wirklich, weil die Menschen 
stark an sie glaubten. Und in der Tat scheint es also zu sein: was 
immer als Einwirkung von Geistern gedeutet werden kann, als Be- 
sessenheit, Verzaubertsein usw., kommt in China häufiger vor als 
irgendwo sonst. — Wie feinsinnig war jener Mandarin! Er war 
es nicht minder als jener Brahmane, der auf die Frage, wozu das 
Gebet zu den Göttern nütze, da diese doch auch Naturerscheinungen 
seien, unwesenhaft und vergänglich, die Antwort erteilte: Gebete 
sind nützlich, auf daß die Götter gekräftigt würden. Gleichviel, 
wollte er sagen, ob sie objektive oder bloß subjektive Wirklich- 
keiten darstellen, jedenfalls wird durch gläubiges Gebet ein Lei- 
tungsdraht geschaffen, durch welchen die Vorstellung auf den 
Gebet kräftigt die Götter; chinesische Gleichmütigkeit. 337 
Betenden zurückwirken kann. — Nein, ich kann in dem, was fast 
alle europäischen Residenten und Reisenden am Chinesen tadeln, 
kein Zeichen der Oberflächlichkeit sehen; im Gegenteil. Die Chi- 
nesen sehen jedenfalls tiefer in den Sinn der Dinge hinein, als die 
französischen Fortschrittler, deren Christenverfolgung nur als 
Insipidität bezeichnet werden kann; der chinesische Aberglaube ist 
tiefsinniger als der moderne Unglaube. Aber freilich ließen sich 
aus dieser Tiefe der Einsicht bessere und förderlichere Konse- 
quenzen ziehen, als die Chinesen bisher verstanden haben. 
Goethe schreibt einmal von der bedeutenden Förderung, die 
er durch ein einziges geistreiches Wort erfahren hätte. Mir 
ist heute ähnliches begegnet: das zufällige Bekanntwerden 
mit einer scheinbar gleichgültigen Tatsache hat mich im Verständ- 
nis des Chinesentums ein gutes Stück Weges vorwärts gebracht. 
Was mich mehr und mehr beunruhigte, war die Impassibilität 
dieses Volks, seine unheimliche Gleichmütigkeit. Die Ruhe der 
Inder wundert mich nicht, auch nicht die der vornehmen Türken: 
jenen fehlt es an Vitalität und Energie, und diese sind phlegma- 
tischen Temperamentes. Aber die Chinesen sind gar nicht pleg- 
matisch, so ruhig sie sich gebärden, und sie sind bis an die Finger- 
spitzen vital. Wie kann da ihre Masse einen so serenen Eindruck 
geben? — Nun höre ich von unbändigen Wutausbrüchen, die ge- 
waltsamer sein sollen, als alles was von skandinavischen Berserkern 
berichtet wird. Von Zeit zu Zeit komme es vor, daß einer in Wut 
gerät, und dies dann so nachhaltig, daß es Tage währe, bis er 
seinen Gleichmut wiedergewinnt; unterdessen sei er wütend, wie 
Stiere wütend sind, ganz unabhängig vom Gegenstand. Die Chinesen 
erklärten dies Phänomen durch Stauung des Wutstoffes, Ch'l; 
viele Krankheiten würden auf sie zurückgeführt, und die europäischen 
Ärzte bestätigten, daß die Theorie in ihren allgemeinen Umrissen 
richtig ist: wirklich beruhten viele Störungen im Chinesenorganis- 
mus, darunter solche, welche tödlich verlaufen, auf verhaltener Wut. 
Jetzt ist mir die Seelenruhe der Masse kein unerklärliches 
Rätsel mehr. Allen ist bekannt, daß die Giganten der Tat, 
wie Cäsar, Napoleon, Mohammed, Alexander, Peter der Große, 
sogar Bismarck mehr oder weniger periodisch auftretenden Nerven- 
krisen unterworfen waren, die den Charakter bald von Epilepsie, 
Keyserling, Reisetagebuch. 22 
338 Der Wutstoff; Wechselwirkung von Körper und Geist. 
bald von Wutausbrüchen, bald von Kollapsen oder Weinkrämpfen 
trugen, doch von jeher als „Abreaktionen" richtig beurteilt worden 
sind. Naturen von vulkanischer Energie, die sich dauernd zusammen- 
nehmen müssen, bedürfen in bestimmten Intervallen des Öffnens 
eines Sicherheitsventils, wenn sie nicht platzen sollen; aus diesen 
strömt dann der Dampf desto gewaltsamer aus, je kondensierter er 
war. Was von den Helden der Tat gilt, besteht innerhalb gewisser 
Grenzen bei den Chinesen als Volk zurecht. Sie sind einerseits 
außerordentlich lebendig, andrerseits von allen Völkern das, welches 
die größte Selbstbeherrschung übt. Daher war a priori zu erwarten, 
wenn anders die Natur noch Natur sein soll, daß gelegentliche 
Wutausbrüche zum Nationalcharakter der Chinesen gehören müssen 
und zwar Wutausbrüche viel gewaltsamerer Art, als solche den 
Völkern Südeuropas eignen, die sich gewohnheitsmäßig gehen 
lassen. Nun verhält es sich tatsächlich so, wie der Verstand postu- 
liert; so fühle ich mich geistig beruhigt. Der Ch'i sollte nur 
eingehender von Psychologen studiert werden. Heute steht die 
Wechselwirkung zwischen Körper und Geist im Mittelpunkt des 
Interesses: nirgends wäre diese besser zu studieren, als im Fernen 
Osten, der es in der Selbstzucht bisher am weitesten gebracht hat, 
und wo deren notwendige Grenzen — die Grenzen, welche die 
Natur der Bildung setzt — daher am deutlichsten zutage treten. 
Vor allem möchte ich, daß die folgende Hypothese an den Tat- 
sachen geprüft würde: die Chinesen besitzen, wenn ich nicht sehr 
irre, von allen Menschen die größte physische Vitalität. Weder als 
Individuen noch als Nation scheinen sie zu erschöpfen; sie über- 
stehen Krankheiten, an denen jeder andere stürbe, vertragen ein 
Übermaß von Arbeit (auch geistiger Arbeit) ohne an den Nerven 
Schaden zu nehmen, und die schlimmsten Ausschweifungen schaden 
ihnen unverhältnismäßig wenig. Die Nation wiederum scheint weder 
durch Überkultur, noch durch Inzucht, noch durch das Opium oder 
die Syphilis — kurz durch alles, was andere Völker zugrunde richtet 
— in erheblichem Grade deterioriert. Die einzige allgemeine Ent- 
artungserscheinung, die sich bei den gebildeten Klassen feststellen 
läßt, ist wachsende Philostrosität — und die wird in Europa, aus 
guten Gründen, überhaupt nicht als Pathologisches beurteilt. Sollte 
nun diese wunderbare physische Vitalität nicht die Folge psychischer 
Kultur sein? Es steht fest, daß der Gebildete im Kriege Strapazen 
besser aushält, als der Ungebildete, daß der Mutige schwerer 
Physische Vitalität psychisch bedingt. 339 
erkrankt und Schaden nimmt, als der Furchtsame, daß die Nerven 
des Mannes von Selbstzucht besser standhalten als die dessen, 
der sich gehen läßt, kurz daß man sich durch psychisches Verhalten 
gegen physische Gefahren feien kann; und die Tendenz ganzer 
Schulen unserer Zeit geht ja dahin, durch Kultur der Seele den 
Körper zu kräftigen. Sollte die ererbte Lebenskraft der Chinesen 
nicht hierher stammen? Sie haben, durch äußere Verhältnisse dazu 
gezwungen, durch ein weises Moralsystem hierin bestärkt, Jahr- 
tausende entlang Selbstbeherrschung geübt: sollte damit das nicht 
zum Erbgut geworden sein, was unter uns nur Bevorzugte sich 
persönlich erringen? — Freilich darf nicht vergessen werden, daß 
in China die natürliche Auslese wie nirgend anderswo bei der 
Rassenbildung mitgewirkt hat und allein schon vieles erklärt; 
schwache Naturen sind in China kaum lebensfähig. 
MACAU. 
Aus dem geschäftigen Lärm Cantons bin ich nach der idylli- 
schesten, friedlichsten Stätte geflüchtet, die es in Ost- 
Asien gibt: nach dem entzückend gelegenen Macau, wo- 
selbst Camoens die Luisiaden vollendet hat. Wie sehr mich die 
Atmosphäre Chinas schon besitzt! Wie selbstverständlich drückt 
sich die Reaktion gegen die City in meiner Seele dahin aus, daß 
mir quietistische Gedanken ä la Lautse und Dschuang Tse kommen; 
denn sicher bedeutet die extreme Form, in welcher der Quietismus 
sich bei diesen äußert, eine Reaktion gegen die extreme Gesellig- 
und Geschäftigkeit, welche China schon zu ihrer Zeit ausgezeichnet 
hat. Wenn ich hier in ihren Schriften lese, dann ist mir, als lauschte 
ich dem Echo meiner selbst; die gleichen Stimmungen in indischer 
oder europäischer Färbung würden mich als fremd, ja als taktlos 
berühren. 
Was ist es, daß der chinesischen Mystik ihren besonderen 
Charakter gibt? — Gewiß nicht ihr Sinn, ihr Gehalt; in dieser 
Hinsicht stimmt sie mit der Weisheit aller Völker und Zeiten 
überein. Es ist einerseits die Ausdrucksweise. Über diese brauche 
ich mich nicht weiter auszulassen, da sie eine unmittelbare Funktion 
22* 
340 Eigenart der chinesischen Mystik. 
des chinesischen Schriftsystems ist. Wie dieses überhaupt, so drückt 
auch die taoistische Philosophie weniger bestimmte Gedanken als 
deren äußersten Sinn aus. Da nun dieser Sinn allein der Unsterb- 
lichkeit teilhaftig ist, während die begrifflichen Verkörperungen 
sämtlich, früh oder spät, dahinwelken müssen, so bedingt dieser 
Umstand allerdings eine absolute Überlegenheit der chinesischen 
Fassungen letzter Erkenntnisse: sie allein, wie sie dastehen, werden 
fortleben; was in allen übrigen Literaturen nur von einigen wenigen 
Urworten gilt, gilt prinzipiell von allen Ausdrücken chinesischer 
Weisheit. Aber um diese objektiven Dinge ist es mir heute nicht zu 
tun: ich bin zu müde nach Canton, zu erholungsbedürftig; und 
dann ist Macau auch viel zu schön, als daß ich mich mit ab- 
strakten Fragen gern befaßte. Wenn ich heute an Laotse denke, 
so sehe ich nicht den Verkünder ewiger Wahrheiten vor mir, 
sondern den gemütlichen alten Herrn mit dem twinkle in his eye, 
mit dem unversiegbaren Humor, der gewinnenden bonhomie; 
und wenn ich über die Eigenart seiner Weisheit nachsinne, so 
meine ich die konkrete Eigenart, das spezifisch Chinesische an ihr. 
Diese äußert sich nun hauptsächlich im Grundton der Vor- und 
Umsicht, der in allen, auch den sublimsten Sätzen chinesischer 
Weisheit mitklingt. Nur keine Unannehmlichkeiten haben ; alles 
fein vorausberechnen, vorausorganisieren ; lieber sein Licht unter 
den Scheffel stellen als durch sein Leuchten unliebsame Aufmerk- 
samkeit auf sich ziehen ; lieber schwach erscheinen als stark ; unter 
allen Umständen nachgeben. — Das ist ebenso typisch chinesisch, 
wie die Sehnsucht nach Frieden um jeden Preis es für den Inder ist, 
und tätiger Optimismus für den Abendländer. Eigentlich kann mir 
diese Farbe nicht sympathisch sein. Aber seit ich in Canton ge- 
wesen, verstehe ich sie so gut, daß ich beinahe bereit wäre, sie für 
den Augenblick selber zu bekennen. Wie soll einer stolz und frei 
nach Art der griechischen Weisen, oder seren-detachiert im 
Sinn eines Rishi werden, wenn es buchstäblich unmöglich ist, 
die Masse von sich fernzuhalten? Innerhalb dieser bleibt dem 
Weisen nichts übrig, als schlau zu sein, wenn er ein halbwegs er- 
trägliches Leben führen will. Der Okzidentale trägt in solchen 
Fällen am häufigsten die Maske des Charlatans, weil unser Pöbel 
in seiner Vorliebe für das Neue und Ungewöhnliche dem Exzentrik 
gern gestattet, was er dem Weisen nie verzeihen würde, so daß 
es sich für diesen als beste Politik erweist, seine Weisheit als 
Moralisierende Wirkung der Übervölkerung, 341 
Narrheit passieren zu lassen. In China, wo das Außerordentliche 
unter allen Umständen verurteilt wird, bleibt dem Bedeutenden 
nichts anderes übrig, als jeden Anstoß überhaupt zu vermeiden, was 
freilich nur auf Kosten des Stolzes gelingt. Daher das Extreme der 
Kultur- und Gemeinschaftsfeindschaft der wenigen, denen es den- 
noch glückte, sich aus der Masse zurückzuziehen: es wäre un- 
menschlich, wenn sie auch diese letzte Spur von ressentiment über- 
wunden hätten. Wie vieles in China erklärt sich durch die Über- 
völkerung! Und wie lehrreich sind für uns Weiße, die wir ja 
gleichfalls, früh oder spät, zu einer kompakten Masse heranwachsen 
werden, die Wirkungen, die sie auf das Chinesentemperament ge- 
habt! Ihr verdankt es ohne Zweifel seine ungeheuere moralische 
Kultur, in der es noch heute die ganze übrige Menschheit übertrifft. 
Es ist nicht möglich, bei so dichtem Beieinanderleben, wie dies in 
China die Regel ist, als Ungebildeter zu gedeihen; da bedeutet 
ein Rüpel kaum weniger Schlimmes, als ein gemeingefährlicher 
Verbrecher unter uns. Aber andrerseits die Nachteile ! Wie soll ein 
Original sich entwickeln inmitten so ungeheuerer Massensuggestion ? 
Wie soll es sich vor allem zur Geltung bringen? Schon bei uns 
ist es keineswegs notwendig, daß das Genie seine Bestimmung er- 
füllt; in China kann solches nur dank einem unerhört günstigen Zu- 
fall geschehen. Mag einer noch so viel Talent haben in einem 
kleinen entlegenen Dorf — wie soll er sich emporarbeiten, wenn 
soviel Millionen im Wege stehen? Da bedeutet Resignation a priori 
allerdings das einzig Ersprießliche. . . . 
Unverhältnismäßig besser gefallen die Chinesen mir hier als 
Canton. Selbstverständlich übervorteilen mich die Händler 
gleich erfolgreich hier wie dort, aber darauf kommt es 
nicht an: in der Chinesenstadt Macaus herrscht die Atmosphäre, 
die einen im Stil Kung Fu-Tse's so heimlich anmutet: die eines 
heiter-bürgerlichen Daseins von außerordentlichem Formensinn. 
Wie wenig verschlägt es doch, was die Leute nachweislich tun! 
Christus verkehrte am liebsten mit Zöllnern und Sündern. Wahr- 
scheinlich ist es ganz bedeutungslos, was tatsächlich in der Welt 
geschieht. Das unausgesetzte Gonggerassel in chinesischen Theatern 
wirkt auf die Dauer wie lautlose Stille: also ist es an sich wohl 
einerlei, ob man in der Wüste oder in der Großstadt lebt. Die 
342 Zusammenhang von Tun und Sein. 
Pariser Luft bleibt anregend, wie töricht das Gebaren seiner Ein- 
wohner auch sei, diejenige St. Petersburg^ verdürftigt, man ver- 
kehre mit wem immer man wolle. Die psychische Atmosphäre 
einer Stadt ist die Resultante so vieler Komponenten, daß es auf 
den einzelnen nicht ankommt; gerade weil dieser so viele sind, 
gibt jene unweigerlich das richtige Durchschnittsbild. Hier nun 
fällt mir heute vor allem eines auf, was ich mit gleicher Deutlich- 
keit noch nirgends gespürt habe, so vertraut mir die Theorie der 
Sache sei : wie wenig notwendig das Tun mit dem Sein ursprünglich 
zusammenhängt. 
Das ist eine der Grundanschauungen der Inder. Aber wie in 
so vielen Fällen erscheint auch hier ein in Indien tiefer Erkanntes 
und Verstandenes in China besser in Leben umgesetzt; und dann 
ist es in China auch leichter aufzufassen, weil uns die Chinesen, 
was immer man sage, der Kultur naclf sehr viel näher stehen, wes- 
wegen das Unterschiedliche leichter richtig zu beurteilen ist. Bei 
uns Europäern, die wir ganz nach außenzu leben, wird das Sein 
vom Handeln notwendig beeinflußt, weshalb unter uns in der 
Regel nur die menschlich angenehm sind, die einen edlen Beruf 
ausüben. In Europa steht der Regierende menschlich am höchsten, 
da er zur Aufgabe hat, im Großen selbstlos zu wirken; der 
Künstler, der gewöhnlich an schiefe Ideale glaubt, ist unerfreulich 
im Verkehr und der Geschäftsmann widerwärtig überall, wo große 
Gesichtspunkte ihn nicht malgre lai aus seinem beruflichen Ban- 
ditentum hinausdrängen. Im Osten besteht allgemein kein not- 
wendiger Zusammenhang zwischen beruflichem Handeln und 
Sein und das spüre ich hier deutlicher denn je. Ich habe die 
Händler aufmerksam beobachtet, die mir mit so viel Qeschick 
mein Geld aus der Tasche lockten: man mag noch so viel von der 
Liebenswürdigkeit als zur kaufmännischen Technik gehörig ab- 
schreiben — ich bin überzeugt, daß viele dieser Krämer ihr Ge- 
schäft nur ausübten aber nicht waren; es könnten hochstehende 
Menschen gewesen sein. 
Der Deutsche versteht diesen Zusammenhang nur schwer. Hier 
muß er vom Russen lernen, dem einzigen Europäer, der ein ur- 
sprüngliches und unmittelbares Verhältnis zur Seele seines Nächsten 
hat. Warum sollte ein Mensch denn schlecht sein, der einen noch 
so sehr belügt und betrügt? Freilich hat man Schutzmaßnahmen 
zu -ergreifen; man lasse sich nicht betrügen, und wo der andere 
Der Russe als bester Psycholog. 343 
einem allzu überlegen ist, dort belange man ihn gerichtlich, 
auf daß die Obrigkeit ihn unschädlich mache. Aber Roheit ist es, 
eines Menschen Wesen nach seinem Tun zu beurteilen. Wer 
ist denn so weit, daß sein Tun seine Seele vollkommen spiegelte? 
Noch habe ich keinen gesehen. Und wo Sein und Handeln sich 
nicht decken, ist der, welcher lügt und betrügt, weil die Sitte dies 
gestattet, dem anderen, der sich aus konventionellen Gründen 
rechtschaffen benimmt, genau und in allen Stücken gleichwertig. 
Für den Wissenden besteht kein Unterschied zwischen einer „Stütze 
der Gesellschaft" und einem unredlichen Makler, sofern beide nicht 
sind was sie tun — allenfalls steht der letztere von beiden höher, 
insofern er keine Ideale hat und diesen daher nicht untreu sein 
kann. — Ich weiß, es ist nicht ungefährlich, solches auszusprechen; 
um so mehr als tugendhaftes Handeln auf die Dauer die Seele 
doch beeinflußt und umgekehrt; die Inder wären weiter als sie 
sind, wenn sie zwischen Sein und Handeln nicht so scharfsichtig 
und reinlich unterschieden. Doch das sind praktisch-politische 
Erwägungen, die mich im Augenblick nichts angehen. 
Lautse sagt: 
Wer sein Licht erkennt 
Und dennoch im Dunkel weilt, 
Der ist das Vorbild der Welt. 
Das Vorbild.... Ich weiß nicht, ob Richard Wilhelms 
Übersetzung hier genau ist, aber es sollte mich nicht wundernehmen. 
Hier, an djeser Stelle, ist die Kluft, die unsere Weltanschauung 
(der es als Sünde gilt sein Licht unter den Scheffel zu stellen), 
von der taoistischen scheidet, besonders deutlich zu übersehen. 
Hieße es nicht „Vorbild" sondern „Spiegel", dann wäre der 
Ausspruch einwandfrei. Unbewußtes Schaffen ohne Absicht, Vor- 
wärtsschreiten ohne Weiterwollen, Sich-Bescheiden im Rahmen des 
Gegebenen — das ist in der Tat der Weg der Natur; und der 
Mann, der bewußt in ihre Spuren tritt, darf wohl als ihr Spiegel 
bezeichnet werden. Aber als ihr Vorbild? Lediglich dann, wenn 
nichts Höheres denkbar erscheint, als der Weg der Natur. Dieses 
ist in der Tat die Voraussetzung der gesamten chinesischen 
Weisheit. Während wir oberhalb der Natur ein Reich der Freiheit 
anerkennen, während wir es als unsere Aufgabe betrachten, den 
344 Der Chinese kennt nichts oberhalb der Natur. 
Geist der Freiheit der Naturbestimmtheit einzubilden, wodurch 
sich das natürliche statische Gleichgewicht nicht als Ideal sondern 
als Zu-Überwindendes darstellt und das Schaffen gegenüber 
dem Befolgen, das Überwinden gegenüber dem Sich-Fügen, all- 
gemein das Wollen gegenüber dem Nichtwollen als der höhere 
Wert erscheint, haben die Chinesen gerade umgekehrt geurteilt 
So kommt es im äußersten zur Paradoxie, daß der Erleuchtete es 
als seine Aufgabe betrachtet, sein Licht unter den "Scheffel zu 
stellen. 
Der taoistischen Weisheit wird daraufhin wieder und wieder 
der Vorwurf eines unfruchtbaren Quietismus gemacht, nicht zum 
mindesten von Seiten der Konfuzianer, die doch im Letzten eines 
Geistes sind mit ihr. Ohne Zweifel versagt sie bei der bewußten 
Gestaltung dieses Lebens, wie denn auch schöpferische Arbeit 
ihren Grundsätzen zuwider ist. Nun ist aber doch nicht zu leugnen, 
daß in den Werken der taostischen Klassiker die vielleicht tiefsten 
Aussprüche zur Lebensweisheit enthalten sind, die wir überhaupt 
besitzen, und dies zwar gerade vom Standpunkte unseres Ideals, des 
Ideals der schöpferischen Autonomie. Wie ist das möglich? Es ist 
möglich deshalb, weil das Tao, der Sinn (wie Wilhelm unüber- 
trefflich übersetzt) im Naturschaffen bisher vollkommener zum 
Ausdruck kommt, als im freiesten Walten der Freiheit; so daß ein 
Leben, welches durchaus das Walten der Naturgewalten spiegelte, 
nicht umhin kann zur Vollendung zu führen. 
Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd. 
Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel und Erde ist, 
Daß sie nicht sich selber leben. 
Darum können sie dauernd Leben geben. 
Also auch der Berufene: 
Er setzt sein Selbst hintan, 
Und sein Selbst kommt voran. 
Er entäußert sich seines Selbst, 
Und sein Selbst bleibt erhalten. 
Ist es nicht also: 
Weil er nichts Eigenes will, 
Darum wird sein Eigenes vollendet? 
Dieser herrliche Ausspruch Laotses ist wahr trotz der mythischen 
Verknüpfung, die der Weise zwischen Himmel und Mensch statuiert, 
weil er hier das Naturschaffen dem tiefsten Sinne nach versteht, 
Rousseau und Lautse. 345 
und dem Sinne nach zwischen vegetativem und göttlichen Leben 
kein Unterschied besteht. So verstanden, hat der Ruf: zurück zur 
Natur ! den Menschen immer vorwärts gebracht. Sogar wo er falsch 
verstanden wird, wie dies von Seiten Rousseaus und auch einiger 
späterer Taoisten geschah, richtet er selten nur Unheil an, weil 
eben die Natur in ihrer Sphäre vollkommen ist und daher sogar 
ein oberflächliches Kopieren ihrer, ein Zurückgehen auf ihre Zu- 
stände als solche, den begriffsgefangenen Menschen seinem leben- 
digen Mittelpunkte näher bringt. So viel vom Sinn der taoistischen 
Weisheit. Über die einzigartige Bedeutung ihres Ausdrucks habe 
ich mich schon ausgesprochen : von allen Formeln des Metaphysisch- 
Wirklichen, die bisher gefunden wurden, dürften die chinesischen 
allein unsterblich sein. Was nun den Menschentypus betrifft, den 
sie gestaltet, so kommt ihm jene Zwitterstellung zu, die auch für 
den Künstler charakteristisch ist: im Höchstfall gehört er zum 
Höchsten, was Menschenart darstellen kann; in allen anderen Ver- 
körperungen, außer der höchsten, erscheint er anderen Typen unter- 
legen. So groß ein Laotse gewesen sein mag — der durchschnitt- 
' liehe Taoist war wohl immer ein minderwertiger Geselle. 
Wenigstens müssen wir ihn also beurteilen, die wir die Be- 
stimmung des Menschen darin sehen, über das bloß Natürliche 
hinauszugehen. Wenn auch wir einen Laotse als einen Größten 
verehren, so liegt dies daran, daß dieser große Mann die Er- 
scheinung überhaupt durchdrungen hatte und also sowohl über die 
Bestimmtheit der Natur als die Bestimmung des Menschen hinaus- 
gegangen war. Ich deutete vorhin an, daß auch die Konfuzianer den 
Taoisten als niederen Typus beurteilen, während uns der Gegen- 
satz zwischen konfuzianischer und taoistischer Weisheit gar nicht 
so groß erscheinen will: das ist das Chinesische an beiden Schulen. 
Hiermit wäre ich denn bei dem Punkte wieder angelangt, bei dem 
ich gestern abgebrochen hatte. Diese Weisheit ist eben doch chine- 
sische Weisheit, und insofern nicht übernational und schwer von 
unsereinem ganz zu würdigen. Wenn ich daher sage, der durch- 
schnittliche Taoist sei ein minderwertiger Geselle, so verleihe ich 
mit diesem peremptorischen Urteil möglicherweise nur meiner 
Europäerbeschränktheit Ausdruck. 
346 Chinesischer Humor; einschließende und ausschließende Form. 
Zur Zeit der Siesta unterhalte ich mich damit, im Liao-tschai- 
tschi-i, den „seltsamen Geschichten aus dem Studierzimmer 
Zuflucht" des Pu Sung-ling, des „letzten der Unsterblichen" 
Chinas, zu lesen. Die Qualität des Humors, die in diesem Werk zu- 
tage tritt, ist exquisit; wirkliche oder mögliche Vorgänge erscheinen 
vollkommen kühl und sachlich, ja mit einer gewissen Trockenheit 
dargestellt, ohne jede bemerkbare Absicht, aber die Erzählungen 
sind so geführt, daß sie nicht umhin können, komisch zu wirken. 
An innerem Wert ist wohl Gogols Humor dem chinesischen gleich, 
aber wozu in der europäischen Literatur, seit den Griechen wenig- 
stens, kein Äquivalent zu finden sein dürfte, ist die literarische 
Meisterschaft, dank welcher es gelingt, aus der reinen Form heraus, 
fast ohne sachliche Effekte zu Hilfe zu rufen, humoristische Wir- 
kungen zu erzielen. Auf den ersten Blick scheint ja das Komische 
in allzu strenger Form nicht darstellbar. China beweist die Irrtüm- 
lichkeit dieser Meinung. 
Meinen Eindruck gewinne ich aus einer vermutlich schlechten 
Übersetzung: wie hoch muß das Original doch stehen, wenn die 
Übertragung ihm sein Wesen nicht hat nehmen können! Ich vermag 
jetzt schon ganz gut zu verstehen, weswegen gebildete Chinesen, 
welche der europäischen Sprachen mächtig sind, nur die altgriechische 
Literatur als echte Kunst und der chinesischen beinahe gleichwertig 
gelten lassen wollen: die Hellenen allein sind streng und reich zu- 
gleich in ihrer Ausdrucksweise gewesen. Die Strenge der lateinisch- 
romanischen Form — der einzigen, welcher man im Westen seit 
Griechenland das Prädikat der Strenge zuerkennen kann — schließt 
aus: die Form muß einschließen, einschmelzen, verdichten, den 
möglichen Gehalt nicht verstümmeln, sondern steigern, wenn ihre 
Strenge einen höchsten Wert bedeuten soll. Freilich haben die 
chinesischen Meister in gewisser Hinsicht unter günstigeren Be- 
dingungen gearbeitet als alle anderen: sie konnten streng in der 
Form sein, ohne endliche Grenzen zu statuieren. Das verdanken 
sie ihrem wunderbaren Schriftsystem. In China kann, wie schon 
bemerkt, mit drei Hieroglyphen buchstäblich ebensoviel und mehr 
gesagt werden, als in unseren Sprachen auf vielen langen Seiten — 
unsere Meister der Präzision haben alle viel verschweigen müssen; 
die chinesischen Künstler hatten sämtliche Vorteile auf ihrer 
Seite, die in der Wissenschaft der reine Mathematiker vor dem Phy- 
siker voraus hat. Und der Nachteil, der diesem System für unsere 
Zar Psychologie des Spielers. , 347 
Begriffe innewohnt, nämlich daß die Gedichte hauptsächlich für das 
Auge existieren, und nicht gut gehört, nicht gut vorgelesen werden 
können, kommt für den Chinesen ersichtlich nicht in Frage, dem 
diese Konvention Gewohnheitssache ist. Aber was nützt es, von 
leichteren oder schwereren Bedingungen zu reden? Der Mensch 
schafft sich die Bedingungen, die er verdient. Chinas Suprematie 
in der Form steht unter allen Umständen außer Frage. 
Zu Nachtzeit kehre ich gelegentlich in einer der berühmten 
„Spielhöllen" ein und ergötze mich am Fan-Tan. Etwas Stilleres, 
Friedlicheres als solche Hölle gibt es kaum. Ernst und sachlich 
schauen Spieler meistens drein, aber solch' heiteren Gleichmut 
wie in Macau habe ich noch nirgends beobachtet. Das Spiel an 
sich ist unendlich geistlos ; der Spieler kann im günstigsten Falle 
nur ganz wenig, die Bank muß unter allen Umständen viel ge- 
winnen. Der Chinese aber geht, nachdem er seinen Tagesverdienst 
verspielt hat, gelassen und friedlich dreinschauend heim. Allenfalls, 
wenn er gar zu viel verloren, wiegt er sich zum Trost in süße 
Opiumträume ein. 
Während ich dem Treiben zuschaute, kam mir die Stelle der 
Bhagavat-Gtta in den Sinn, woselbst Krishna von sich (als Gott, 
als Icvara) sagt: Ich bin das Spielen des Spielers. In der Tat 
bedeutet Sinn für Hasard, was immer sonst gegen ihn einzuwenden 
sei, das Vorhandensein von Vitalität. Das selbsttätige Setzen des 
reinen Zufalls als einziger Bedingung des Erlebens bedeutet, vom 
Atman her gesehen, prinzipiell das gleiche, wie das Gewachsensein 
den Wechselfällen des Lebens gegenüber. Denn Leben ist ja nichts 
anderes als die Fähigkeit, einen inneren Gleichgewichts-Zustand im 
Wandel der äußeren Umstände zu behaupten. Daß die meisten 
Spieler nun, in intimem Widerspruch zu sich selbst, nach Systemen 
ausblicken, gehört zum Kontrapunkt des lebendigen Geschehens : 
wir tun immer zugleich das, was den Sinn unseres eigentlichen 
Wollens aufhebt. — Woher kommt es nun aber, daß der Typus 
des Spielers — gleichviel was sein Einsatz sei — als hoher doch 
nicht bewertet werden kann? Es kommt daher, daß wer im Kor- 
relationsverhältnis von Leben und Außenwelt die Zufallsseite be- 
tont, damit das Sinnlose über den Sinn stellt; der dankt als freies, 
verantwortliches Wesen recht eigentlich ab. Der Spieler ist der 
Antipode des Helden: während dieser sein Leben tief bedeutsam 
weiß und es opfert, weil er noch Höheres anerkennt, setzt jener 
es aufs Spiel, weil es ihn gleichgültig dünkt. 
348 Chinesische Große; ihre einzigartige Überlegenheit. 
TSINGTAU. 
Ich beginne der Revolution Dank zu wissen: dank ihr sind eine 
große Anzahl bedeutender Chinesen, darunter mehrere Ex- 
Generalgouverneure und Ex-Vizekönige, im kleinen Tsingtau 
beisammen, wohin sie vor den Westlingen geflüchtet sind. Richard 
Wilhelm vermittelt zwischen ihnen und mir; so beginne ich Ein- 
blick zu gewinnen in die höchsten Möglichkeiten chinesischen 
Menschentums. 
Meine Erwartungen werden weit übertroffen; diese Herren 
stehen, was immer sie als Menschen sein mögen, als Typen außer- 
ordentlich hoch; zumal ihre Überlegenheit beeindruckt mich. 
Nicht allein, daß sie ihr äußeres Schicksal dominieren, das im 
Augenblick so traurig ist: sie stehen über ihren Gedanken, ihren 
Handlungen, ihrer Person überhaupt; und zwar nicht im Sinne 
des Yogi, der sich über die Erscheinung hinausgeschwungen hat, 
sondern in dem schwierigeren des Weltweisen, der inmitten des 
Getriebes, an dem er teilnimmt, seine innere Freiheit bewahrt. 
In Indien hatten mich die Menschen enttäuscht; sie sind weniger 
als ihre Literatur. Ihr Höchstes und Tiefstes hat in abstrakter 
Erkenntnis Ausdruck gefunden, und die lebendigen Inder sind 
in der Mehrzahl nicht Verkörperer, sondern Schauspieler ihres 
Strebens nach dem Ideal; so lernt man wenig zu durch den Ver- 
kehr mit ihnen. Die lebendigen Chinesen nun sind unzweifelhaft 
mehr als ihre Weisheit, ja fast möchte ich behaupten : sie sind 
mehr als ihre klassische Literatur. Mir beginnt der Sinn des Kon- 
fuzianismus aufzugehen. Kung Fu-Tse erschien mir bisher als 
rationalistischer Moralist, und die hohe Wertschätzung zumal, deren 
sich Mencius erfreut, befremdete mich einigermaßen, da ich dessen 
Weltanschauung wohl als überaus vernünftig, nicht aber als tief 
beurteilen konnte. Nun erkenne ich, daß die konfuzianische Philo- 
sophie ganz anders verstanden werden muß als die indische und 
auch die deutsche: sie ist als Philosophie gar kein eigentlicher, 
selbständiger Ausdruck, sondern das abstrahierte Schema einer 
gelebten oder zu lebenden Wirklichkeit; man muß Kung Fu-Tse's 
Wort als Fleisch verstehen, oder als Hinweis auf vorhandenes 
Fleisch. Dann freilich nimmt diese Lehre sich ganz anders aus, 
Der Konfuzianismus als Lebensform. 349 
erscheint sie durch Abgründe geschieden von der Moralphilosophie 
unseres 18. Jahrhunderts, welcher sie äußerlich so ähnlich sieht; 
dann freilich hat es wenig zu bedeuten, daß die Gedanken als 
solche nicht tief sein mögen: ich glaube nicht, daß Gott tiefe Ge- 
danken denkt, denn er ist die Tiefe selbst; wo das Tiefe im 
konkreten Dasein vollkommen zum Ausdruck kommt, dort ist Tief- 
sinn wohl überflüssig. Das nun ist es, was mir bei den großen 
Herren auffällt, mit denen ich zu Tsingtau verkehre: sie leben 
den Konfuzianismus; was ich bisher als theoretisches Postulat auf- 
faßte, ist ihnen die Form ihrer Existenz. Allen diesen Staats- 
männern erscheint es selbstverständlich, daß der Staatsorganismus 
auf moralischer Basis ruht, daß das Politische der äußere Ausdruck 
des Ethischen ist und die Gerechtigkeit der normale Ausfluß des 
Wohlwollens; und es erscheint ihnen selbstverständlich in einem 
ganz anderen Sinn, als dem Christen der Wahrheitsgehalt der 
Seligpreisungen: nicht als ein Sein-Sollendes, das jedoch selten 
geschieht, sondern als ein Notwendig-Geschehendes. Dies bedingt 
einen grundsätzlichen Unterschied. Woran man nicht zweifelt, das 
vollbringt man auch. Ich weiß nicht, wie gute Regenten die 
Gouverneure, mit denen ich umgehe, tatsächlich gewesen sind: 
sicher regierten sie in konfuzianischem Geist, das heißt von mora- 
lischer Grundlage aus. Was dehn notwendig auch ihre Unzuläng- 
lichkeit verklärt hat. 
Zum ersten Male sehe ich mich einem Menschentypus gegen- 
über, dessen Tiefstes Moralität ist. Den gibt es im Okzident nicht. 
Vielleicht bewähren sich unsere Beamten seit 100 Jahren besser, 
als die chinesischen (denn älter ist die Integrität des Funktionärs 
als typische Erscheinung sogar in Deutschland nicht), sicher ist der 
Geist, aus dem sie es tun, dem der Chinesen nicht gleichwertig, 
die in Praxi noch so sehr versagen. Unsere politische Kultur ist 
äußerlich bedingt; sie ist das Ergebnis eines Systems, das den 
Einzelnen zum Gut-Handeln zwingt, ist unabhängig von 'der 
Seele entstanden, besteht unabhängig von der Seele weiter fort. 
Die des Chinesen beruht auf Ausbildung des Innerlichen. Und 
wenn man nun bedenkt, daß das große chinesische Reich schon 
Jahrtausende entlang kaum schlechter regiert worden ist als das 
moderne Europa, und dieses ohne die Vermittelung eines Mecha- 
nismus, der die Menschen automatisch in Ordnung hielte, einzig 
dank der moralischen Qualifiziertheit seiner Bürger, so muß man 
350 Moralität das Tiefste der Chinesen. 
zugeben, daß das durchschnittliche Niveau moralischer Bildung beim 
chinesischen Literaten außerordentlich hoch sein muB. Außerordent- 
lich hoch ist es jedenfalls bei denen, mit welchen ich in Berührung 
gekommen bin. Und aus ihren noch so höflichen Äußerungen über 
den Westen klingt denn auch allemal Befremden darüber heraus, 
daß ein Gleiches dort so wenig der Fall sei. Sie halten uns für 
moralische Barbaren. Unsere Systeme seien freilich bewunderungs- 
wert, allein die Menschen, deren Grundgesinnung Ich fürchte, 
die Herren haben recht. Wir Westländer sind mit dem Verstand 
dem Leben vorausgeeilt. Unser moralisches Höherstehen, auf das 
wir uns so viel zu gute tun, bedeutet bisher wenig mehr als das 
Funktionieren im Rahmen eines klüger erdachten Systems; weil 
dem so ist, rebellieren wir neuerdings sogar gegen das Mora- 
lische überhaupt. Welche extreme Erscheinungen des westlichen 
Gesellschaftslebens haben ihren tiefsten Grund nicht darin, daß das 
Äußere nicht im Inneren wurzelt? Der Tolstoismus, der Anarchis- 
mus einerseits, und andrerseits der Nationalismus und der Rassen- 
fanatismus — es sind alles Bewegungen, die dem Künstlichen ein 
Natürliches substituieren wollen. Wir sind unseren Systemen unter- 
legen. Die Chinesen stehen über den ihren. Das ist der Erfolg der 
Erziehung im Geist des Konfuzius. 
Es gibt mir viel zu denken, daß das Leben so einfacher 
Grundsätze, wie die konfuzianischen, den Menschen so überlegen 
machen kann. Unter europäischen Fanatikern des Moralischen ist 
mir noch nie ein Vollmensch begegnet. Aber die Ursache dieses 
Unterschiedes liegt nicht fern: uns haben die Grundsätze der 
Moral immer ein von außen her Gebotenes bedeutet, sei es, 
daß Gott sie uns aufoktroyiert hätte, oder die Obrigkeit, oder 
eine der Natur entgegenstehende, absolute praktische Vernunft; 
dem Konfuzianismus gelten sie als die Richtlinien, nach denen ein 
gebildeter Mensch naturnotwendig handelt. Es läge in der Natur 
der Dinge, daß Vater und Sohn, Mann und Weib, Freund und 
Freund, Fürst und Untertan sich gegenseitig Treue und Wohl- 
wollen erweisen ; bilde der Mensch das Natürliche aus, so ergäbe 
Moralität sich von selbst. Auf vollendete Ausbildung der Menschen- 
natur ist also der Akzent verlegt. Nun : gegen solchen kategorischen 
Imperativ empfindet keiner ein inneres Widerstreben ; gebildet will 
jedermann sein. So nimmt er sich bereitwilligst die Mühe, die der 
europäische Jüngling sich, seit der Geist der Antike erstarb, kaum 
Der Konfuzianismus macht reaktionär. 351 
je mehr nimmt: er versenkt sich in den Sinn des Moralischen. Tut 
er dies nun ernstlich und ausdauernd, so offenbart sich ihm irgend- 
einmal auch die Richtigkeit der konfuzianischen Theorie : es ist eine 
Frage des Unterscheidungsvermögens, das durch Schulung geschärft 
werden kann, ob einer dem Guten oder dem Schlechten zuneigt. 
Fortan ist kein Schwanken mehr möglich ; die moralische Natur ist 
geweckt. — Wie sehr kommt es bei der Erziehung auf den An- 
satz und die Technik an! Die Chinesen haben nicht annähernd 
so viel über das Moralische nachgedacht als wir ; sie haben auch 
nie in der Moral ein so Hoch-Ideales gesehen, wie unsere (zumal 
protestantischen) Ethiker. Aber praktisch haben sie viel mehr 
erreicht. 
Freilich sind die Herren konservativ: welcher politisch Ge- 
bildete wäre es nicht? Wer historischen Sinn hat, wer da 
weiß, daß nur organisches Wachstum aufwärts führt, ist nie 
5m radikalen Sinne „fortschrittlich". Im eigentlichen Verstände des 
Worts ist nur er es freilich, denn nur er empfindet Ehrfurcht vor 
der Erscheinung, die der Radikale unbedenklich überall einem ab- 
strakten Prinzipe aufopfert. Ist es nicht höchst bezeichnend, daß 
die Arbeiter Belgiens und Frankreichs die Idee der „Menschen- 
rechte" bereits verworfen haben, und nur mehr ihren organisierten 
(technisch „bewußten") Klassengenossen Berechtigung zum Dasein 
zuerkennen? 
Die Würdenträger, die ich meine, sind nun freilich nicht nur 
konservativ, sondern ausgesprochen reaktionär. Aber wie sollte ein 
Konfuzianer alten Schlages einer Neuerung gewogen sein? — 
Wenn wirklich die von Kung kodifizierte traditionell-chinesische 
Staatsform allein mit der Weltordnung in vollem Einklang steht, 
dann bedeutet Neuerungsstreben Wahnwitz; dann kann das Volk 
nichts weiseres unternehmen, als die alten Normen strengstens zu 
befolgen; dann hat das, was wir „Stillstand" nennen, den gleichen 
Sinn wie das ewige Sich-Verjüngen der Natur, das ja auch in 
unwandelbarem Rahmen geschieht; dann bedeutet Ausmerzen des 
Häretischen recht eigentlich dasselbe wie das des Untauglichen im 
Kampfe ums Dasein. . . 
Nun läßt sich gegen die Staatsform, die das Tao verlangen 
soll, verschiedenerlei erinnern; noch Gewichtigeres gegen die 
352 Alle Ideale sterblich; Chinas Lösung der sozialen Frage. 
Grundvoraussetzung des statischen (unwandelbaren) Charakters der 
Weltordnung, die alle Neuerung als widersinnig erscheinen läßt. 
Die Welt ist tatsächlich im Werden; keine fertigen Ideale liegen 
ihr zugrunde, sondern die Ideale entstehen neu auf jedem neuen 
Stadium. Deshalb schließt die Idee einer absolut besten Staats- 
form schon als solche ein Mißverständnis ein: solange die Welt 
im Werden verharrt, d. h. solange sie existiert, ist „bestmögliche 
Staatsform" ein Unbegriff ; jedes konkrete Ideal kann nur gelten 
für einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit. Aber gerade 
der, welcher diesen Zusammenhang versteht, wird der chinesischen 
Weltanschauung die größte Bewunderung zollen. Nicht allein, daß 
der universalistische Grundgedanke, nach welchem Naturgeschehen 
und Menschenleben ein lückenlos verknüpftes System bilden, als 
Theorie grandios ist; nicht allein, daß die Konsequenz, mit der 
jede einzelne Erscheinung auf ihn zurückgeführt wird, ein vielleicht 
einzigartiges Beispiel des Ernstmeinens und Ernstnehmens darstellt 
— so wie die Chinesen die letzten Jahrtausende über waren, 
hätten sie eine bessere Weltanschauung nicht bekennen können ; 
die chinesische hat, wie keine andere vielleicht auf dieser Welt, 
den pragmatic test bestanden. China ist das einzige Reich, welches 
je für eine längere Periode die „soziale Frage" gelöst hätte; das 
einzige, in dem die Masse der Bewohner je glücklich war; mithin 
das einzige, welches das absolute sozial-politische Ideal der Er- 
scheinungswelt je eingebildet hätte. Sintemalen nun die Chinesen 
von heute ihren fernen Vorfahren zum Verwechseln ähnlich sehen 
— wie sollte da ein Gebildeter nicht Reaktionär sein? 
Auch ich empfinde hier als Reaktionär. Um so mehr, als ich 
vielen Grund zur Befürchtung sehe, daß das, was China bis heute 
bewunderns- und ehrwürdig machte, mit der alten Ordnung ver- 
loren gehen wird. Freilich sind die Chinesen kein Volk von 
Denkern; ihr bewußtes Denken scheint sich andauernder an der 
Oberfläche zu bewegen, als das irgendeines Kulturvolks von ver- 
gleichbarer Begabung. Allein mehr als tiefe Gedanken denken ist 
wohl der Tiefe entsprechend leben, und das haben die Chinesen bis 
heute in unvergleichlichem Grade getan; ihr traditionelles Gemein- 
schaftsdasein hat den gleichen Sinn, wie bei den Indern ihre 
sublime Philosophie; ihr Leben war ein unmittelbarer Ausdruck 
des Tao. Wie vollkommen htben sie von je das Problem des 
Glückes gelöst! Jeder Kuli lebt die ewige Wahrheit, die unsere 
Das Glücks problem; chinesische Courtoisie. 353 
Größten tauben Ohren gepredigt haben, daß Glück Sache des 
inneren Verhaltens ist und von den äußeren Umständen als solchen 
nicht abhängt. Die Theorie des unbeeinflußbaren Weltverlaufs 
ist freilich falsch; daß wir nicht dem Grundsatze Mong Tses 
entsprechend handeln: „besser als gute Ackergeräte anschaffen 
ist abwarten, bis daß die Witterung günstig wird", hat uns zu 
Beherrschern der Natur gemacht. Aber wie teuer haben wir diesen 
Erfolg bezahlt! Seitdem wir wissen, daß die Außenwelt verwandel- 
bar ist, haben wir samt allen anderen auch das Problem des Glücks 
in sie hineinverlegt, was uns, bis daß wir einmal umkehren, zu 
aussichtslosem Elend verdammt. Und so weiter. Jeder Chinese, 
so oberflächlich er denken, so unzweckmäßig er handeln mochte, 
lebte bisher eine tiefe Philosophie; er rechnete mit der Außenwelt 
als einem wirklich Äußerlichen, suchte das Eigentliche in einer 
anderen Dimension. In Europa tun dies meist nur Frauen, die 
dort weitaus die tieferen Lebensphilosophen sind. Die Frau ist 
denn auch typischerweise konservativ. In der Tat: wenn das Eigent- 
liche von äußeren Verhältnissen keinesfalls in Mitleidenschaft 
gezogen wird, dann erscheint es leicht zweckmäßiger, in einer 
unveränderlichen Umwelt zu leben, der man ein für alle Male 
angepaßt ist, als sich immer wieder neu anpassen zu müssen, ohne 
dadurch ein besseres Gesamtergebnis zu erzielen. 
Ist nicht alles Dauerhafte reaktionär? Die Natur als solche 
ist es; nicht allein, daß sie von zielstrebigem Fortschreiten nichts 
weiß — überall schlägt sie, wo sie von außen her verwandelt ward, 
kaum sich selbst überlassen, zum Ursprünglichen zurück und dieses, 
dieses allein erscheint unsterblich. Vielleicht liegt hier die Lösung 
des Problems, weswegen die asiatischen Völker im allgemeinen 
langlebiger sind als die europäischen: entweder es herrscht in 
ihnen das Physiologische, oder aber das Geistige hat sich, dank 
konservativer Gesinnung, so innig jenem vermählt, daß es zur 
zweiten Natur geworden ist. 
Wie vollendet ist die Courtoisie des gebildeten Chinesen! 
Es ist ein ästhetischer Genuß, mit ihm umzugehen, 
trotz der ungewöhnlichen technischen Schwierigkeiten, 
die der chinesische Höflichkeitskodex dem Ausländer bereitet. Die 
Etikette bedingt eben per se eine Erleichterung des Verkehrs: 
Keyserling, Reisetagebuch. 23 
354 Typische Form der individuellen Ausprägung am günstigsten. 
zwischen inkongruenten Elementen stellt sie eine Gleichung her, 
welche jedesmal aufgeht; sie setzt den Sünder der Gottheit, den 
Bettler dem König gleich, führt Fremde auf ebener Bahn gegen- 
seitiger Verständigung zu. Ich hatte mich, bevor ich unter Chinesen 
kam, mit den Grundvorschriften ihres Comments vertraut gemacht; 
nun befolge ich ihn, so gut ich kann, und finde zu meiner Freude, 
daß es geht. 
Im vornehmen Chinesen erscheint jene verfeinertste Form der 
Vollendung erreicht, woselbst Liebenswürdigkeit im Rahmen der 
strengbefolgten Sitte die Persönlichkeit zum entsprechenden Aus- 
druck bringt. Wie selten begegnet sie einem im modernen Europa! 
Nur bei wenigen französischen Grand-Seigneurs habe ich gleich- 
wertiges beobachtet, und das waren nachgeborene Söhne des 
18. Jahrhunderts; wer heute gute Manieren hat, ist meist kon- 
ventionell, und entsprechend oberflächlich. Um in der objektiven 
Form den persönlichsten Inhalt zu realisieren, muß man gebildeter 
sein, als die Erziehung im heutigen Europa ermöglicht. In China 
ermöglicht sie es noch, weswegen die Großen dieses Landes auf 
einer höheren Kulturstufe stehen, als die unserigen. Denn die 
typische Form ist vollkommener individueller Ausprägung nicht 
hinderlich, im Gegenteil: die individuelle schließt solche meist 
aus. Je mehr eine Kunst sich vollendet, desto klassischer wird sie, 
welches heißt: desto mehr wird das Zufällig-Individuelle zum 
Allgemeingültigen sublimiert. Das gleiche gilt -vom Menschen. 
Je mehr er sich verinnerlicht, vertieft, potenziert, desto mehr tritt 
das Persönliche in den Hintergrund, desto mehr allgemeinmensch- 
lich erscheint sein Wesen. So sind alle wahrhaft großen Menschen 
mehr Typen als Individuen gewesen. Tolstoi ist mehr Russe als 
Person, Voltaire mehr Franzose als er selbst; und jene ganz 
gewaltigen, die alle ständischen und nationalen Schranken sprengen, 
sind deshalb nicht weniger, sondern in noch weiterem Sinne typisch : 
es sind Menschen schlechthin, nach einem der ganz allgemeinen 
Schemen stilisiert: des Heiligen, des Täters, des Denkers. So hat 
sich Christus den „Menschensohn" genannt, und Buddha den 
„Vollendeten". — In eben dem Sinn hat sich die Courtoisie, die 
Befolgung der allgemeinsten Norm, die den ersprießlichen Verkehr 
der Menschen untereinander regelt, überall und zu allen Zeiten 
als bestmögliches Ausdrucksmittel einer höchstgebildeten Persön- 
lichkeit bewährt. 
Ehrfurcht als Grundlage aller Tugend ; das Buch der Riten. 355 
Woher kommt es, daß dieses Höchste bei gebildeten Chinesen 
in der Regel, nicht nur ausnahmsweise, erreicht erscheint, während 
bei uns die vollendeten Grand-Seigneurs sogar im 17. Jahrhundert 
selten waren? Das ist das Werk zweier Schriften, die seit über 
zweitausend Jahren alle Erziehung im Reich der Mitte inspiriert 
haben : des Buches von der Ehrfurcht, des Hiau ging, und des eigent- 
lichen Katechismus der chinesischen Zivilisation, des Buchs der 
Riten. Ersteres baut die gesamte Moral (die nach hiesigen Begriffen 
alles Leben überhaupt in sich beschließt), auf dem Prinzip der 
Ehrfurcht auf. Gleich Goethe, sieht auch die chinesische Weisheit 
in dieser, „die niemand mit auf die Welt bringt, das, worauf alles 
ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei"; 
gleich ihm stellt auch sie sie dreifach vor: als Ehrfurcht vor dem, 
was über uns, was unter uns und was uns gleich ist; ihr gilt 
Ehrfurcht vor allem was da ist geradezu als Grundlage aller 
Tugend und aller Weisheit. Und das ist sie wirklich: nur dem, 
was man vollkommen ernst nimmt, wird man gerecht. Deshalb ist 
Höflichkeit kein wesentlich Äußerliches, sondern der elementarste 
Ausdruck von Sittlichkeit: während Tugend und Güte nicht von 
jedem billig verlangt werden können, kann es doch das formelle 
Geltenlassen fremder Persönlichkeit. 1 ) Dies gibt denn der Cour- 
toisie ihren tiefen Sinn. Diesen Sinn nun hat das zweitgenannte 
Werk, das Buch der Riten, das ihn seinerseits voraussetzt, zu einer 
wunderbaren theoretischen Lehre ausgestaltet. Es behauptet: der 
Mensch kann nur innerlich vollendet werden, wenn er sich nach 
außen zu vollkommen gibt, kann nur dann sein Persönlichstes ent- 
sprechend ausprägen, wenn er die Normen befolgt, die sich im 
Lauf der Geschichte als die für den Chinesen typischen bewährt 
haben. Wie grenzenlos fördernd muß es sein, von Kind auf solches 
gelehrt zu werden! Durch den Umstand, daß als selbstverständlich 
gilt, daß die Form den Gehalt symbolisiert, das Äußerliche das 
Innere zum Ausdruck bringt, wird diese Gleichung tatsächlich 
hergestellt; beim Begabten durch schöpferisches Verständnis, beim 
Durchschnitt im Sinn des preußischen Soldatendrills. Diesem Er- 
gebnis kommen weitere Umstände zugute: der Chinese hat einen 
ursprünglichen Sinn für Etikette, weshalb das Befolgen der Sitte 
nur selten dem Widerstreben begegnet, das dem europäischen 
x ) Dieses Verhältnis hat von allen Denkern Europas Wladimir Ssolowioff 
am tiefsten erfaßt. 
23* 
356 Courtoisie als Blüte des Konfuzianismus. 
Jüngling von heute eignet; ferner ist Rücksichtnahme eine Lebens- 
frage dort, wo die Gemeinschaft den Einzelnen so allseitig bindet, 
daß er in keiner Hinsicht als sein eigener Herr gelten kann und 
mithin dort sogar „objektiv" handeln muß, wo nach unseren Be- 
griffen nur Subjektivität in Frage käme. Aber gleichviel, welche 
empirischen Verhältnisse mitwirken mögen: durch noch so äußer- 
liche Umstände wird jedenfalls zuwege gebracht, daß der gebildete 
Einzelne in China verinnerlichter erscheint, als irgendwo sonst. 
Die wunderbare Courtoisie, an der ich mich dieser Tage er- 
freue, ist die Blüte des Konfuzianismus, wie die Durchbildung des 
moralischen Menschen seine Wurzel bezeichnet. Ist sie nicht groß- 
artig, diese Weltanschauung, die alle Tiefe an die Oberfläche zu 
bringen weiß? die eine notwendige Gleichung zwischen moralischer 
und formaler Bildung herstellt, zwischen Anmut und Würde nicht 
allein, sondern zwischen Anmut und Ernst, Anmut und Weisheit? 
— Freilich tritt diese vorausgesetzte Gleichung nur beim Hoch- 
gebildeten wirklich in die Erscheinung; in der Masse dominiert 
hier, wie überall, wo die Kultur ähnliche Höhe erreicht, Äußer- 
lichkeit. Von allen europäischen Völkern ist das französische das 
gesellschaftlich gebildetste, und auch bei dem führt die Form 
mehr und mehr ein vom Gehalte unabhängiges Dasein; wie in 
China Manieren herrschen, die in keinem Verhältnis stehen zur 
ethischen Qualität, so kann ein dummer Franzose geistreich er- 
scheinen, bloß weil die Sprache gar so geistreich ist. Was ist nun 
vorzuziehen, eine vollkommene äußere Zivilisation, die an sich be- 
steht und das Individuum nicht notwendig beeinflußt, oder voll- 
endete Aufrichtigkeit der Subjekte, welche so, wie die Menschen heute 
sind, einen barbarischen allgemeinen Zustand zur Folge hat? Diese 
Frage wird man verschieden beantworten, je nachdem, ob man 
katholischen oder protestantischen Geistes ist. Der katholisch Ge- 
sinnte wird darauf den Nachdruck legen, daß die Befolgung der 
objektiv-besten Norm, und geschähe sie noch so äußerlich, auf die 
Dauer den inneren Menschen beeinflußt, so daß es nicht als Un- 
glück gelten kann, wenn er zeitweilig unaufrichtig erscheint, da er 
auf diesem Wege zu einem höheren Zustand hinauf erzogen werde; 
und wird dem Protestanten entgegenhalten, daß allzu großer Nach- 
druck auf augenblickliche Aufrichtigkeit den Menschen für den 
Augenblick wohl frei macht, ihm aber recht eigentlich seine Zu- 
kunft nimmt; wer sich nicht durch das, was über ihm steht, und 
Kultur der Aufrichtigkeit ; Anmut als W eisheitsxausdruck. 357 
was ihm eben deshalb nicht entsprechen kann, bestimmen lasse, 
gelangen nimmer über sich selbst hinaus. — Der protestantisch 
Gesinnte hingegen wird urteilen, daß Aufrichtigkeit das absolut 
Bessere ist, gleichviel wie teuer man sie bezahlt, weil der Mensch 
nur durch eigene Erfahrung wesentlich gefördert wird und selbst- 
gewonnene Einsicht, so unvollkommen sie sei, unter allen Um- 
ständen mehr Wert habe, als noch so gutes Handeln unter 
Autorität; von einem Verzicht auf die Zukunft um der Gegen- 
wart willen könne aber deshalb keine Rede sein, weil, wie der 
Erfolg beweist, die protestantischen Völker gerade die fortschritt- 
lichen sind. Die Katholiken stehen noch heute eben da, wie vor 
Jahrhunderten, während die Puritaner, vor 200 Jahren Barbaren, 
heute, wie jedermann weiß, an der Spitze der Zivilisation mar- 
schieren. — Das ist richtig. Ohne Zweifel bedeutet Kultur der 
Aufrichtigkeit die weiter ausschauende Politik, als Kultur der voll- 
kommenen Form. Aber vom Standpunkt jeder gegebenen Gegenwart 
gesehen, erscheint diese als die ersprießlichere. Denn sie allein 
gibt ein Bild der erreichten Vollendung, während jene sie nur für 
die Zukunft in Aussicht stellt. 
Darf man die chinesische formale Kultur als vorbildlich 
bezeichnen? — Wird sie dem Geiste nach verstanden, un- 
bedingt; von allen Menschen haben die Chinesen die Ober- 
fläche am vollkommensten durchgeistigt, die vollständigste Ver- 
schmelzung von Sinn und Form zustande gebracht. Immer wieder 
komme ich auf Konfuzius' Bild des Edlen zurück, dessen Tiefsinn 
in seiner Anmut zutage trete: vollendeter könnte kein Halbgott 
sein. Meist schließen Tiefe und Gefälligkeit sich aus, Urkraft und 
Grazie, Facilität und Gründlichkeit; fast scheint es undenkbar, daß 
ein Mensch die Vorzüge des Deutschen und des Franzosen in sich 
vereinen sollte. Der Chinese vereint sie im Höchstfall wirklich in 
sich. Und wenn er jenen der Tiefe nach vielleicht nicht ganz er- 
reicht, wenn er weniger beweglich ist als dieser, weniger glitzernd, 
weniger fein ; wenn seine Naturanlage auch keine so reiche ist, als 
wir sie häufig besitzen, so stellt sein gebildetes Dasein nichts- 
destoweniger eine Synthese des Menschentums dar, wie sie gleich 
umfassend noch nirgends verwirklicht ward. 
Dem Geiste nach ist sie sicherlich vorbildlich ; ich wenigstens 
wüßte keine vorzustellen, die des Nacheiferns würdiger wäre. Nun 
358 Vorbildlichkeit der chinesischen Kultur ; Dichter als Sprachrohre. 
aber frage ich mich: ist ihre Verwirklichung am Ende an die chine- 
sische Sonderart gebunden? Es könnte sein. Die Welt ist darin 
wunderlich beschaffen, daß es ofL schlechterdings zufälliger Kon- 
stellationen bedarf, um einen ewigen allgemeingültigen Sinn der 
Erscheinung einzuverleiben. Wie der Dichter durchaus nicht der 
„einzig wahre Mensch" ist, wie Schiller wähnte, der Mensch mit 
dem stärksten Erleben, der größten Leidenschaft, sondern der, den 
eine zufällige Konjunktur von Talenten zum Sprachrohre dessen 
macht, was andere oft viel tiefer besitzen; wie das „Genie" 
kein selbstbegründetes Sonderwesen ist, sondern durch' das Zu- 
sammentreffen bestimmter Anlagen mit bestimmten historischen Ge- 
gebenheiten entsteht, von denen keine für sich allein zur genialen 
Schöpfung geführt hätte — so mag es wohl sein, daß die chinesische 
Vollendung, die dem Sinne nach ein Absolut-Höchstes bezeichnet, 
auch nur chinesisch darzustellen ist. Diese Darstellung aber kann 
uns kein Vorbild sein. Es bedarf doch einer sehr speziellen Ver- 
anlagung, um im Befolgen strengvorgeschriebener Riten vollkommen 
ursprünglich zu sein, um im bewußten Verbleiben innerhalb eines 
Lebensrahmens starrster Art Ursprünglichkeit zu betätigen. Gar 
so fremd, wie es scheint, ist diese Art uns wohl nicht : die Engländer 
sind nicht viel anders. Auch sie tun meistens das gleiche, denken 
das gleiche, wollen das gleiche, und sind dabei doch originell ; der 
Brite äußert Gemeinplätze mit der gleichen Überzeugungskraft, wie 
Galilei einst sein eppur st muove ; dementsprechend ist er auch von 
allen Europäern bei weitem der vollendeteste Mensch. Aber ge- 
rade wenn man die prinzipielle Ähnlichkeit zwischen Chinesen- und 
Britentum erkennt, wird man starke Zweifel hegen, ob das absolute 
Vollendungsideal einer allgemeinen Verwirklichung fähig sei. Man 
kann alles werden, nur kein Engländer, wenn man als solcher nicht 
geboren ward ; dieses Sosein ist strengstens bedingt, von tausend 
Kleinigkeiten, Zufällen, Beschränkungen und Vorurteilen abhängig, 
mehr so als irgendein anderer Ausdruck europäischen Menschen- 
tums; und nur wo diese Vorbedingungen erfüllt sind, treten die 
Vorzüge des Engländers zutage. Desgleichen stand und fiel die 
individualistische Renaissancekultur mit dem Vorherrschen außer- 
ordentlicher Individualitäten. — Also mag es wohl sein, daß auch 
das Beispiel Chinas unnachahmlich ist. 
Ich für meinen Teil bedauere das nicht, denn ich glaube nur 
schwach an das allgemeine und allseitige Fortschreiten des 
Extremer Charakter der chinesischen Äußerlichkeit. 359 
Menschengeschlechts ; glaube auch nicht, daß es wünschenswert 
wäre. Denn wohin führte es? zu fortschreitender Einförmigkeit. 
Es ist uns besser, daß unsere Ideale blitzartig hie und da, bald 
im Altertum, bald jetzt und bald irgendeinmal, bald in China, bald 
in Hellas und bald in Deutschland, eine kurzlebige Verwirklichung 
erfahren, so daß wir geistig immerdar auf der Ausschau bleiben, 
besser, sage ich, als daß wir in billigem Optimismus dahin- 
schwelgend uns dem Zuge der Zeit überlassen, der uns mecha- 
nisch dem Idealzustande zuführen soll. 
Ich muß mich doch auch der Kehrseite der chinesischen Form- 
kultur zuwenden : der ungeheuerlichen Äußerlichkeit, die sie als 
ganzes heute kennzeichnet. 
Daß sie überhaupt äußerlich ist, versteht sich von selbst: 
unmöglich kann vollendete Form wahrhaftiger Ausdruck selbst 
einer höchstgebildeten Masse sein. Eine Masse mag liebens- 
würdig, rücksichtsvoll, zuvorkommend und dennoch aufrichtig sein, 
aber nicht aufrichtig und zugleich höfisch-höflich; soviel Form zu 
füllen geht über ihre Kraft. Woher aber der extreme Charakter 
der chinesischen Äußerlichkeit? — Denn extrem ist er in der Tat. 
Der Durchschnittschinese ist dessen, was sich schickt, dermaßen ein- 
gedenk, daß er sich nur ausnahmsweise ohne Hintergedanken gibt; 
nur wo er sich vollkommen sicher fühlt, ganz unbefangen zeigt; 
er ist recht eigentlich, sein ganzes Leben entlang, sein eigener 
Zeremonienmeister. Dementsprechend fühlt er sich nur verantwort- 
lich für das, was nach außenzu geschieht, für das „Klappen" des 
Zeremonials; die Gesinnung ist nicht von seinem Ressort, dünkt 
ihn belanglos. — Ein Lebendig-Gewordenes ist als solches nie ab- 
zuleiten ; das Eigentliche entrinnt der Begründung. Immerhin kann 
es nicht schaden, wenn ich die allgemeinen Ursachen, welche in 
Frage kommen, in abstracto kurz zusammenfasse: der extreme 
Charakter der chinesischen Äußerlichkeit rührt daher, daß ein Volk 
von geringem Individualitätsbewußtsein, von außerordentlichem 
Formensinn und von ausgesprochen sozialer Veranlagung seit 
Jahrtausenden in zu vielen Exemplaren vorhanden war. 
Man stelle sich vor, abertausende von friedfertigen praktischen 
Menschen befänden sich in kleinstem Raum zusammengepfercht, 
könnten nimmer aus ihm hinaus. Die einzige Möglichkeit eines 
360 Rücksichtnahme bedingt Unaufrichtigkeit. 
guten Auskommens läge da in striktem Befolgen dessen, was allen 
richtig dünkt. Im Verkehr kommt es nie auf die Gesinnung an sich, 
sondern auf deren Ausdruck an, nicht auf das Sein, sondern den 
Schein; in einem Gemeinwesen, wie dem vorausgesetzten, wäre 
dies in äußerstem Maße der Fall. Es gäbe überhaupt keinen Spiel- 
raum für persönliche Velleitäten, nur ein Leben, das streng der 
Norm entspräche, könnte gedeihen. Bestände überdies ursprüng- 
liche Neigung, das Unumgängliche zu tun, so käme dies dem Pre- 
stige der Sitte weiter zugute, das auch der Formensinn nur steigern 
kann. Auf diese Weise erschiene das Gemeinschaftsleben bald 
ganz nach objektiven Normen reguliert und eben damit veräußer- 
licht. — Der tatsächliche Zustand der chinesischen Gesellschaft läßt 
sich, wie man sieht, a priori konstruieren. Was beweist das? Wie 
naturgemäß er ist. Tatsächlich stehen denn auch wir den Chinesen 
näher als wir glauben. Wir machen uns gern lustig über das 
chinesische „Gesicht", die Sucht vor allem den Schein zu wahren ; 
das Paradox, daß einer ohne Murren die Folgen seines Unrecht- 
tuns trägt, sofern er nur fingieren kann, als leide er unschuldig 
oder als sei sein Leiden gar kein Leiden: von uns gilt genau 
das gleiche. Auch bei uns kommt im Gemeinschaftsleben alles 
auf den Ruf, die öffentliche Meinung, den Nimbus, den Mythos 
an; auch bei uns bedingt das Gemeinschaftsleben allenthalben 
Veräußerlichung. Sobald Rücksicht auf andere überhaupt das 
Verhalten beeinflußt, muß die Aufrichtigkeit, die Treue gegen 
sich selbst in den Hintergrund treten; sobald jene entscheidet, 
kommt diese überhaupt nicht mehr in Frage. Mit dem Setzen des 
Rücksichtnehmens als Wert wird die bloße Möglichkeit einer Kon- 
gruenz von Sein und Tun, oder von Sein und Schein, im Prinzipe 
aufgehoben. Man führe hiergegen nur nicht die christliche Liebe 
an : gerade sie ist wesentlich rücksichtslos ; sie schert sich den 
Teufel um die Gefühle des Nächsten ; sie will ihm gut um des 
Guten willen. Nur insofern wir schlechte Christen sind, nehmen 
wir Rücksicht auf unsere Mitmenschen. — Die chinesische Gesell- 
schaft bringt also nur Typisches extrem, meinetwegen karrikiert 
zum Ausdruck ; die Chinesen sind kein exzentrisches Volk, sie sind 
nur die ausgeprägtesten und konsequentesten Menschen. Und 
in gewissem Sinn sind sie die aufrichtigsten. Wir alle schau- 
spielern ständig vor uns selbst; wir alle halten uns, in bewußter 
Selbsttäuschung, für anders als wir wissen, daß wir sind ; wir alle 
Ritualistische Weltanschauung der mechanistischen äquivalent. 361 
sind es innerlich zufrieden, wenn, dank noch so bedenklichen Trans- 
aktionen, die Apparancen vor uns selber gewahrt bleiben. Nur vor 
anderen scheuen wir den Schein. Die Selbstentwickelung der Idee, 
wie Hegel sagen würde, hat das kurzweilige Ergebnis gezeitigt, 
daß wir uns anderen gegenüber gerader erweisen als vor uns 
selbst; daß wir aus Unwahrhaftigkeit wahrhaftig sind. Demgegen- 
über wirkt die chinesische Art, vor anderen ebenso zu spielen 
wie vor sich selbst, ohne Zweifel als die aufrichtigere. Man wähne 
nicht, ich scherze hier bloß ; ich meine es ganz ernst. Wer an die 
größere Aufrichtigkeit der Chinesen nicht glauben sollte, der nehme 
einmal die Zeitungen zur Hand, in der sie ihre inneren Angelegen- 
heiten besprechen: nie ist mir. so uneitle Betrachtungsart be- 
gegnet, nie so rückhaltlose Sachlichkeit. Wo sie es aufrichtig 
meinen, dort sind sie's auch, sonst nicht; wir tun so, als wären 
wir es immer. 
Auch das ist typisch, kein Beweis der Exzentrizität, daß von 
den Chinesen dem Zeremonial eine Bedeutung zuerkannt wird, die 
dem modernen Menschen ungeheuerlich vorkommt. Allerdings 
kommt es in China mehr auf die Form als auf die Sache an: 
aber diesem Verhältnis begegnen wir überall auf einem bestimmten 
Entwickelungsstadium. Je mehr ein Volk noch „Naturvolk" ist, also 
je einfacher, urwüchsiger es sich nach der Theorie des 18. Jahr- 
hunderts darstellen sollte, desto mehr bedeutet ihm das Ritual. 
Im Lauf der Entwickelung subtilisiert sich dies Verhältnis zu- 
nächst; die Riten werden verstrickter, verfeinerter; bis dann ein- 
mal der Punkt erreicht erscheint, wo der Einzelne sich gegen die 
von der Gesamtheit geschaffenen Normen aufbäumt und die histo- 
rische Form zuletzt zerbricht. Wir Europäer befinden uns im letzten 
der skizzierten Stadien, die gebildeten Chinesen hingegen auf dem 
vorletzten; dem, wo die objektive Norm ihre äußerste Gestaltet- 
heit erreicht hat. Dieses stellen die Chinesen in klassischer Typik 
dar, klassischer noch als in Europa die Franzosen des 17. Jahr- 
hunderts, deren Zustand der chinesische von gestern so auffallend 
gleicht; ihnen gilt die Form des Geschehens recht eigentlich 
als dessen Substanz. Psychologisch beruht diese Auffassung darauf, 
daß der Mensch den Gestaltungen, die er erfand, zunächst nicht 
gewachsen ist und sie dementsprechend überschätzt — im Fall der 
Riten genau wie in dem der Maschinen (die mechanistische Welt- 
anschauung von heute ist der ritualistischen psychologisch äqui- 
362 Kein metaphysischer Unterschied zwischen Naturformen u. Zeremonien. 
valent); er sieht in ihnen selbständige Wesenheiten, nicht bloß 
Organe oder Ausdrucksmittel seiner selbst. Biologisch aber hängt 
sie unmittelbar mit der Unindividualisiertheit des Menschen dieser 
Stufe zusammen. Wo die Klasse im Bewußtsein des Einzelnen 
mehr bedeutet als dieser selbst, dort gehen die Normen, die für die 
Gemeinschaft gelten, der persönlichen Gleichung notwendig voran ; 
dort hat striktes Befolgen der Sitte die gleiche metaphysische Be- 
deutung wie bei unsereinem die Aufrichtigkeit. Je nach der geistigen 
Befähigung und Kultur wird dies verschieden gedeutet: mystisch 
veranlagte Völker, gleich den Indern, sprechen den Riten magische 
Tugenden zu, phantasieärmere, wie die Franzosen, beruhigen sich 
bei der Sitte als letzter Instanz. Die Chinesen nun haben die tief- 
sinnigste Theorie ersonnen, die sich für dieses Verhältnis über- 
haupt erdenken ließe, und zwar tiefsinnig weniger im Sinn des 
Verständnisses als im bedeutsameren der Wirkung auf das Leben: 
sie haben gelehrt und den Glauben bekannt, daß das Befolgen der 
objektiven Norm den Einzelnen notwendig seiner persönlichen Voll- 
endung zuführt. Die Masse ist trotzdem äußerlich geblieben, aber 
dem höheren Durchschnitt war damit ein Weg gewiesen, der 
sicherer, wenn nicht schneller, zum Ziel führt, als alle, welche wir 
gewandelt sind. 
Die Bedeutung der Zeremonie in China ist eine typische, keine 
außerordentliche Erscheinung; sie ist typisch für eine Gesellschaft 
von geringer Individualisiertheit und gleichzeitig hoher Kultur. Der 
moderne Europäer findet es schwer, die Lebensformen einer 
solchen ernst zu nehmen. Aber wenn Gestaltungen überhaupt 
ernst zu nehmen sind, dann sind es diese auch. Für den Meta- 
physiker besteht kein Unterschied zwischen den Formen, welche 
die Natur in die Welt setzt und denen der erfinderischen Phantasie. 
Als Erscheinungen sind beide gleich wirklich, dem Sinne nach sind 
beide eins. Und wenn auch er zuweilen nicht umhin kann, die 
chinoiserie ein wenig grotesk zu finden, als Karrikatur allgemeiner 
Menschenart, so erscheint sie ihm gleichzeitig gesteigert zur Karri- 
katur der Schöpfung überhaupt. Alle bestimmte Gestaltung kann 
als Vorurteil gelten; jegliche wirkt, von irgendeinem Standpunkte 
aus besehen, grotesk. Es ist eine Frage der Stimmung, der je- 
weiligen Laune, ob man über den Menschen als solchen, dieses 
seltsame Zwitterprodukt, oder die speziellen Zeremonien, die er 
bei der Begrüßung beobachtet, zu lächeln Lust verspürt. 
China und Rußland; die chinesische Substanzialität. 363 
DURCH SHANTUNG. 
Immer mehr packt mich, beeindruckt mich die Größe Chinas. Es 
ist ein Universum für sich, so wesentlich groß, wie kein anderes 
Reich, das ich betreten habe, und schon verstehe ich gut, daß 
seine Bewohner die übrige Welt wenig ernst zu nehmen geneigt sind. 
Bisweilen fühle ich mich an Rußland gemahnt, jenes andere Riesen- 
reich, das immerdar groß erscheinen wird, was immer ihm wider- 
fahren mag: was ist dieses Gemeinsame, das mir durch alle Unter- 
schiede hindurch so stark ins Bewußtsein tritt? Ich weiß es 
nicht recht ; aber ich glaube, daß es die Großzügigkeit ist, welche 
China im selben Sinne von allen Ländern des Ostens, wie Rußland 
von denen des Westens unterscheidet. Es gibt nichts Weiteres, 
Umfassenderes, als die „braune Ebene", und im engsten spiegelt 
sie sich wieder; jeder wurzelechte Russe ist wesentlich (wenn 
auch nicht immer tatsächlich) eine weite, großzügige Natur. 
So ist auch die klare, scharf um rissene chinesische Landschaft ein- 
förmig, rhythmisch und groß und die Bewohner tragen ihren 
Stempel. Auch der Chinese wirkt wesentlich weit, so trocken 
und philiströs er häufig sei, denn der dhinoiserle liegt eine gewal- 
tige Einheit zugrunde. Der überaus vielsagende Ausdruck chinoiserie 
ruft zunächst ja die Vorstellung von Kleinlichem wach, wie denn 
das Entsprechende in Birma, Siam und Japan tatsächlich klein- 
lichen Charakter trägt. In China spürt man durch jede Arabeske 
hindurch die Substanz einer mächtigen Volksseele. Und deren 
Macht ist unheimlich werbend. Ich weiß es gewiß : auf die Dauer 
würde sie von mir vollkommen Besitz ergreifen, wie sie von so 
vielen schon Besitz ergriffen hat. 
Die Substanzialität der Chinesen fällt desto stärker in die 
Augen, weil das Äußerliche vielfach einen Charakter trägt, den wir 
Europäer nur schwer in der Vorstellung mit Tiefe zu verneinen 
wissen ; das Zierliche, Graziöse, Verschnörkelte kommt uns als 
solches oberflächlich vor. Der Chinese aber ist tief; vielleicht der 
tiefste aller Menschen. Keiner wurzelt so tief in der Naturordnung, 
ist so wesentlich-moralisch; keinem bedeutet das Äußere so viel. 
Nur tiefe Menschen sind fähig, die Form so ernstzunehmen. 
Aber was der chinesischen Tiefe ihr einzigartiges Gewicht ver- 
leiht, ist daß sie fleischgewordene Tiefe ist ; sie ist gleichsam spiri- 
364 Spiritualisierte Schwerkraft; der Hintergrund des Asiaten. 
tualisierte Schwerkraft. In den Meisterwerken der altchinesischen 
Kunst trägt der Geist einen so kräftigen Körper, wie nirgends 
sonst. Wie gewaltig wirken altchinesische Buddha-Statuen! Sie 
atmen das Kraftmaß, das ein Gott besitzen müßte, um auf Erden 
als Gott zu erscheinen. Etwas von dieser Kraft wohnt jedem 
Chinesen inne, China als ganzes aber ist durch und durch von ihr 
beseelt. 
Wer China würdigen will, muß unentwegt die Chinoiserie, die 
Größe des Reichs und die wurzelhafte Kraft seiner Bewohner auf 
einmal im Auge behalten. Die Courtoisie muß er mit der Substan- 
zialität, die Zierlichkeit der Kunst mit der Größe der Natur zu- 
sammenschauen. Wie wenig hängt doch wesentliche Größe vom 
Zufall der Ausdrucksgelegenheiten ab! Diese Größe wird einzig 
vom Sein bestimmt. China ist groß geblieben, obschon es im 
Kriege meist geschlagen ward, obgleich es selten eine starke 
politische Einheit war und wird groß bleiben, auch wenn es ein- 
mal aufgeteilt werden sollte. 
Jetzt bin ich in Asien. Ich bin nicht mehr in dem Orient, der 
von Griechenland über Ägypten, Kleinasien und Persien bis 
nach Indien und Süd-China reicht; ich bin in dem Asien, das 
in Rußland beginnt und alle Völker des weiten Binnenlandes zu 
einer großartigen Einheit verknüpft. Psychologisch ist der Russe 
dem Inder näher verwandt als dem Chinesen; in vielen Hinsichten 
schwingt die russische Seele unisono mit der alt-indischen, beide 
Völker stehen im gleichen Grundverhältnis zu Gott und Natur. 
Aber den Hintergrund hat der Russe mit dem Chinesen ge- 
mein. Der Hintergrund aller Asiaten ist die konkrete Unendlich- 
keit, die Unendlichkeit im Raum und in der Zeit. Den hat kein 
Europäer, kein Inder. Vergleicht man einen bedeutenden Deut- 
schen mit einem ihm gleichwertigen Russen, so frappiert der 
weitere Hintergrund, von welchem dieser sich abhebt: das ist 
das Asiatische an ihm» Hinter dem Europäer steht nie mehr als 
seine Geschichte, die ihm freilich, wo sie groß und reich und be- 
deutsam ist, ein Relief verleiht, wie kein anderer Mensch es besitzt. 
Aber dieser Hintergrund ist immerhin ein endlicher und die 
klarsten Umrisse ersetzen die Weite nicht. Hinter dem Orientalen 
steht die Legende oder das Märchen: das ist insofern mehr, als 
Europäer und Asiaten; Asiens nicht-anthropozentrische Weltanschauung. 365 
das Mögliche immer mehr als das Wirkliche ist, aber andrerseits 
doch weniger, da sich dran zweifeln läßt. Deshalb hat der Orien- 
tale etwas Irreelles: er wirkt wie ein quasimodogenitus, der zu- 
gleich unendlich alt wäre. De*r Hintergrund des Asiaten ist die 
unermeßliche Natur, das endlose Weltgeschehen. So hat der Inder 
den Menschen wohl erschaut, aber seine Erkenntnis hat sich in 
Leben nicht umgesetzt; die Natur, die er so tief verstand, hat 
in concreto für ihn kaum existiert. Wie sehr existiert sie für 
den Russen ! Keiner fühlt sich so eins mit ihr, wie der einfache 
Mushik, kein Künstler hat den Menschen so plastisch im Zusammen- 
hang des Lebens dargestellt wie Leo Tolstoy. Die weiche, zarte 
Seele des Slaven steht in unmittelbarer Sympathie mit dem All, 
das ihm zum Hintergrunde dient. — Sympathievermögen in diesem 
Sinn besitzt der Chinese wohl nicht, der nüchtern-trockene; den- 
noch hat er den gleichen lebendigen Hintergrund. Bei ihm, dem 
sozialen Genie, tritt der Welt-Sinn in der Ordnung des Lebens zu- 
tage. Wer sonst ist darauf gekommen, die Zeremonien, die der 
Himmelssohn vollführt, den Ablauf der Jahreszeiten und das Ge- 
meinschaftsleben in einem Zusammenhang zu sehen? Wer hat dieses 
auch nur annähernd so tief erfaßt? Auch dem Chinesen erscheint 
es auf seine Art selbstverständlich, daß alles zusammenhängt. Der 
Asiate hat den Menschen der Natur nie fremd gegenübergestellt, 
sondern als Teil ihrer betrachtet. Wie ergreifend wirkt es in der 
Anna Karenina, daß der Tod der Heldin in ihr nicht anders be- 
urteilt und dargestellt wird, als der des edlen Rennpferdes vorher! 
Wie großen Stil verleiht ihr nicht-anthropomorpher Charakter der 
chinesischen Kunst! Wohl ergibt es ein wunderschönes Bild, wenn 
die Natur so auf die Fläche gebannt wird, wie ein Homer und ein 
Goethe dies vermocht haben. Aber tiefsinniger ist wohl, zwischen 
Mensch und Natur nicht zu scheiden und beide von innen her als 
unauflösliche Einheit zu verstehen. 
366 Chinesisches Bauerntum. 
TSI NAN FU. 
So eindrucksvolle Bilder der Ländlichkeit, wie auf der Fahrt 
durch das Innere Chinas, haben sich noch nie vor mir ent- 
rollt. Aller Boden ist in Kultur, sorgfältig gedüngt, sauber 
und sachgemäß beackert, bis zu den höchsten Kuppen der Hügel 
hinan, die den Pyramiden Ägyptens gleich in künstlichen Ter- 
rassen abfallen. Die Dörfer, aus Lehm erbaut, von Lehmmauern 
umgürtet, wirken als Naturformen in dieser Landschaft: so wenig 
heben sie sich ab vom bräunlichen Hintergrund. Überall sieht man 
die Bauern bei der Arbeit, methodisch, bedächtig und heiter, überall 
wird die weite Fläche von ihnen belebt; das Blau ihrer Kittel ge- 
hört so notwendig zum Bild, wie das Grün der bestellten 
Felder und das grelle Gelb der ausgetrockneten Strombetten. Der 
gelbe lebendige Mensch ist aus dieser Ebene nicht hinauszudenken. 
Zugleich aber stellt diese einen einzigen unermeßlich großen Fried- 
hof dar. Kaum eine Ackerparzelle, die nicht zahlreiche Grabhügel 
trüge ; wieder und wieder muß sich der Pflug pietätvoll durch die 
Gedenksteine hindurchwinden. Einen solchen Eindruck der Wurzel- 
echtheit, der Bodenständigkeit gibt keine andere Bauernschaft. 
Hier geht das ganze Leben und das ganze Sterben im angestammten 
Acker auf. Der Mensch gehört ihm, nicht er dem Menschen; un- 
veräußerbar, läßt er seine Kinder nimmer los. Mag deren Zahl 
noch so sehr anwachsen, sie verbleiben auf ihm, durch immer 
emsigere Arbeit der Natur ihre kargen Gaben abtrotzend; und 
sind sie tot, dann kehren sie vertrauend in den Mutterschoß 
zurück. Dort aber leben sie für immer fort. Dem chinesischen 
Bauern, gleich dem vorhistorischen Griechen, gilt das scheinbar 
Tote für belebt. Die Scholle strahlt ihm den Geist seiner Vor- 
fahren aus, sie sind es, die seine Mühe lohnen, die ihn für seine 
Versäumnis züchtigen. So ist ihm der angestammte Grund und 
Boden zugleich seine Geschichte, sein Gedächtnis, seine Er- 
innerung; er kann ihn ebensowenig verleugnen wie sich selbst; er 
ist selbst ja nur ein Teil seiner. — Was sind alle ländlichen 
Idyllen, von den Georgicae bis zu Hermann und Dorothea, neben 
dieser Epopöe? 
Moralität und Naturverlauf zusammenhängend ; die Würde des Bauern. 367 
Ich muß an die Verse Lautses denken: 
Der Mensch hat die Erde zum Vorbild, 
Die Erde hat den Himmel zum Vorbild, 
Der Himmel hat den Sinn zum Vorbild, 
Und der Sinn hat sich selber zum Vorbild. 
Der chinesischen Weltanschauung nach bilden Himmel und 
Erde, Weltgeschehen und Menschenleben, Moralität und normaler 
Naturverlauf einen einzigen festen Zusammenhang. Der Himmel 
steht über der Erde und die Erde über dem Menschen. Der Bauer 
ist der Mensch, der ihr am strengsten unterworfen ist. Insofern 
aber bildet er das Fundament des ganzen Zusammenhangs. 
Tut er nicht genau seine Pflicht, dann geraten Staat sowohl als 
Himmel ins Wanken. Damit erhält er eine Würde, wie kein 
anderes Wesen der Welt. Würde erkennt ihm im Prinzip wohl 
jede politische Weltanschauung zu; überall wird das Höchste 
vom Untersten getragen, das Höchstdifferenzierte von der 
amorphen Masse; das liegt in der Natur der Dinge. Für Chinesen 
aber hat diese Würde einen besonderen, gar wundersamen Sinn: 
ihr Geist setzt einen lebendigen, nicht bloß einen mechanischen 
Zusammenhang zwischen sämtlichen Teilen der Welt, wodurch das 
Höchste im Untersten nicht allein begründet, sondern gespiegelt 
erscheint; der chinesische Bauer könnte sich, wofern er dächte, als 
Träger des Himmels fühlen. Wo sonst ist das dumpfe Dasein der 
Masse zum Spiegel bewußter Weisheit geweiht worden? wo sonst 
die triebhaft befolgte Lebensroutine zum Sinnbild gedanken- 
vollster Harmonie? Das ist eine Organisierung des Lebens, die 
dem Sinne nach nie übertroffen ward. Und dieser große Sinn hat 
dann, wie immer, wo er wahrhaft groß ist, auch dort die Er- 
scheinung durchdrungen, wo er kaum verstanden worden ist. Der 
Zusammenhang, den die Mythe postuliert, steht im Chinesenleben 
tatsächlich verwirklicht da. Die differenzierten Organe, zumal die 
Kaiser, haben wohl häufig versagt: der chinesische Bauer war 
von je und ist noch heute ganz wie er sein soll. Da sieht man, 
wie sehr es der Geist vermag, die Welt über sich hinauszuheben, 
wie blind jene Naturalisten sind, welche die Ideale verleugnen 
und abweisen, die sich nicht als der Natur ursprünglich gemäß 
erweisen lassen: ob sie ihr ursprünglich gemäß sind oder nicht — 
sie können es werden. Der Geist säet in die Materie seine Ideale 
ein, und wenn die Saat aufgekommen und reif geworden ist, er- 
scheint das Weltall verwandelt. 
368 Das Drachensymbol ; Bedeutung des Himmelssohns. 
In der Beherrschung der Natur sind wir Europäer China weit 
voraus; das Leben als ihr bewußter Teil hat dort seinen bisher 
höchsten Ausdruck gefunden. Und schließlich sind wir Teile der 
Natur ; ob als Herrscher oder als Beherrschte — die Grundsynthese 
bleibt die gleiche. Dieser Grundsynthese ist der Chinese sich voll- 
bewußt; wir sind es nicht; insofern steht er über uns. 
PEKING. 
Diese ersten Spätnachmittagsstunden in Peking habe ich am 
Tempel des Himmels zugebracht. Einsam ragt der gewal- 
tige Marmoraltar, von wenigen düsteren Kiefern umstanden, 
von der öden, weiten Sandfläche auf. Hie und da krächzt eine 
Krähe; die Gegend ist wie menschenfremd. Man spürt: hier greift 
die Geschichte nur an Wendepunkten des Geschehens ein. Es ist 
ein überaus schlichter Bau, doch von wunderbar edlen Propor- 
tionen; seine reine, durchgeistigte Schönheit wirkt ergreifend in- 
mitten der rauhen Umgebung; vom physisch Gewaltigen, vom 
Lastenden zieht sie den Geist unaufhaltsam himmelwärts. Allent- 
halben ist dem schneeigen Gestein das Emblem des Drachen ein- 
gemeißelt. Der Drache ist das Urbild der beginnenden Schöpfung, 
die erste, ätherischeste Gestalt, zu welcher der Sinn sich verdichtet 
hat. Der Drache ist das Symbol des Flüssigen, Durchdringenden, 
Allgegenwärtigen ; des Ewig-Sich-Erneuenden, Immerdar-Sich-Wan- 
delnden ; das Symbol für das Grundprinzip der Seele und mithin 
der Unendlichkeit. Der Geist des Drachen hat den Himmelstempel 
errichtet. Als ein Sprungbrett, zum Himmel hinanzusteigen, nicht 
als Wahrzeichen irdischer Schwerkraft. 
Ich war in der richtigen Stimmung hingelangt. Die Bilder des 
Bauernlebens unterwegs hatten mich vorbereitet zum Verständnis 
dessen, der das äußerste menschliche Glied darstellt im kos- 
mischen Zusammenhang. Der Kaiser auf dem Drachenthron ist 
als Kaiser mehr als ein Mensch: er ist das Band, welches Himmel 
und Erde vereinigt, wie der Bauer das Glied ist, das die Erde mit 
dem Menschen verknüpft. So trägt er die Verantwortung für die 
Natur. Ein wohlbefolgtes Ritual steht gut für die normale Folge 
der Jahreszeiten ; bleibt der Regen, dessen der Landmann bedarf, 
Der Kaiser absolut verantwortlich. 369 
zu lange aus, so muß der Kaiser reumütig Buße tun. Seine Macht 
und Stellung steht gut für den harmonischen Einklang der Schöpfung, 
sein Charakter für den seiner Minister, sein Betragen für das seiner 
Untertanen. So ist sein Selbstherrscherrecht zugleich allumfassende 
Verantwortung, die ihn strengstens einschränkt und bedingt. Er 
haftet nicht vor Gott allein, wie die europäischen Autokraten von 
einst, die den Menschen gegenüber willkürlich schalten durften, 
auch nicht vor den Menschen allein im modernen Sinn: er haftet 
im Sinn des Hauptmechanismus einer Uhr. Geht diese schlecht, so 
tritt die Schuld allemal an jenem in die Erscheinung; jedoch nicht 
so, daß die Uhr schlecht gehen und das Hauptrad versagen, aber 
sich sonst ganz wohl befinden mag: ist jene in Unordnung, dann 
leidet dieses an erster Stelle; es bleibt selbsttätig stehen oder zer- 
bricht. So muß die Dynastie, die nicht zu regieren weiß, früher 
oder später weichen — sei es, daß sie selbsttätig ausstirbt oder 
vertrieben wird. 
Welch' wunderbare Konzeption ! Wieviel höher steht sie als 
die des Gottesgnadentums, der Stellvertretung Gottes oder der Divi- 
nität schlechthin, wie die römischen Cäsaren sie sich zusprachen ! 
Es ist die einzige, die das Problem des Zusammenbestehens ab- 
soluter Souveränität mit absoluter praktischer Verantwortlichkeit 
befriedigend gelöst hätte. Der Himmelssohn ist mächtiger als 
irgendein Fürst, denn er steht sogar über der Natur. Aber andrer- 
seits erscheint er so bedingt, wie nur irgendein verantwortlicher 
Minister in einer modernen Demokratie, denn er bezeichnet nur ein 
bestimmtes Organ eines allseitig zusammenhängenden Körpers und 
ist, um zu bestehen und zu wirken, auf alle anderen Organe ange- 
wiesen. So muß sich der Selbstherrscher beraten lassen von den 
Weisesten der Nation, muß er den Volkswillen berücksichtigen, un- 
entwegt nach dem Guten streben. Regiert er im Sinne der Selbstsucht, 
so schneidet er sich eben damit seine eigene Daseinsmöglichkeit ab. 
Diese wunderbare Auffassung des Berufs und der Stellung eines 
Menschenbeherrschers ist die logische Konsequenz jener Weltan- 
schauung, die wie nichts anderes das Chinesentum charakterisiert. 
Nach dieser Anschauung gehören die Gesetze der Moral und der 
Natur zu einem einzigen einheitlichen System. Es sind identische 
Normen, die das moralische Verhalten regieren, die Folge der 
Jahreszeiten und den Wechsel von Tag und Nacht; es ist ein 
einziger allumfassender Zusammenhang, der das Nicht-Menschliche 
Keyserling, Reisetagebudi. 24 
370 Primat des Moralischen ; die chinesische Weltanschauung und Kant. 
und das Menschliche, das Organische und das Anorganische, das 
Natürliche und das Sittliche zur harmonischen Einheit in sich be- 
schließt. Das Moralische aber ist das Primäre. Das Tao ist mo- 
ralisch qualifiziert. Moralität bedeutet recht eigentlich Selbstver- 
wirklichung. Drum läuft die Natur Gefahr, aus dem Kosmos ins 
Chaos zurückzusinken, wenn die Menschen ihre natürlichen Pflich- 
ten versäumen, — der Väter kein guter Vater, der Gatte kein guter 
Gatte, der Fürst kein guter Fürst, der Untertan kein guter Untertan 
ist — und die fünf himmlischen Tugenden (Gerechtigkeit, Großmut, 
Höflichkeit, Einsicht und treue Pflichterfüllung) nicht fleißig üben. 
So hat auch kein Kaiser das Recht, irgendetwas an der be- 
stehenden Ordnung zu ändern, wenn sein moralischer Charakter 
ihn nicht hierzu qualifiziert. Andrerseits: ist sein Charakter, 
wie er sein soll, dann kommt alles von selbst ins Geleise. Im 
Tschong-Yong steht zu lesen: „Sobald der Kaiser seine Person in 
Ordnung gebracht hat, werden alle Pflichten gegen ihn erfüllt ; so- 
bald er den Weisen die schuldige Verehrung zollt, wird er unfehlbar 
richtig unterscheiden zwischen Irrtum und Wahrheit, Gut und Böse ; 
sobald er seinen Eltern die ihnen schuldige Liebe erweist, werden 
alle Zwistigkeiten aufhören zwischen seinen onkeln, seinen älteren 
und seinen jüngeren Brüdern ; sobald er seine Minister nach ihrem 
Verdienste ehrt, werden die Staatsgeschäfte prosperieren ; sobald 
er seine Unterbeamten richtig behandelt, werden die Literaten mit 
gebührendem Eifer ihre Funktionen bei den Zeremonien ausfüllen ; 
sobald er sein Volk wie einen Sohn lieben wird, wird dieses Volk 
ihm nachzueifern streben ; sobald er Gelehrte und Künstler an 
seinem Hofe versammelt hat, werden seine Reichtümer die richtige 
Verwendung finden ; sobald er fremde Besucher freundlich empfängt, 
werden die Menschen von den vier Ecken der Welt in seinem Reiche 
zusammenströmen, um teil an dessen Segnungen zu haben". Das 
Moralische ist die Grundkraft der Welt; sobald es zur Geltung 
kommt, reguliert sich das übrige von selbst. Kant sprach von zwei 
Dingen, die sein Herz mit immer neuer Ehrfurcht erfüllten: dem 
bestirnten Himmel über ihm und dem moralischen Gesetze in ihm. 
Dem Chinesen ist der himmlische Kosmos selbst ein Ausdruck des 
moralischen Gesetzes. 
Uns kommt es absurd vor, die Gesetze der Natur, welche not- 
wendig erfüllt werden, wo etwas geschieht, und die moralischen 
Gebote, die erfüllt werden sollen, aber meistens übertreten werden, 
Ideal des Nicht-Regierens; Regiment auf Grund der Ehrfurcht 371 
auf einen Nenner zu bringen. Dem gegenüber ist zu erinnern, daß 
der Chinese, der diese Weltanschauung glaubt, keine Naturgesetze 
in unserem Sinne kennt; er urteilt vom Standpunkte des Land- 
wirtes, nach dessen typischer Ansicht die Natur ja auch das Rechte 
seltener tut als verfehlt; ihm ist das unbelebte Geschehen nicht 
eindeutiger determiniert als das belebte, das nachweislich so oder 
auch anders verläuft, je nach dem Charakter der Menschen. So ist 
es durchaus nicht irrationell, daß er die Ordnung der Welt und 
die Ordnung unter den Menschen auf eine gemeinsame Ursache 
zurückführt. 
Das Moralische als Urkraft der Welt übt seinen Einfluß un- 
mittelbar aus, besonderen Handelns bedarf es nicht. Deshalb 
wird von den größten Kaisern Chinas berichtet, daß sie — 
nicht regiert hätten. Kongfutse sagte: „Erhaben war die Art, wie 
Schun und Yü den Erdkreis beherrschten, ohne daß sie etwas dazu 
thaten". Lautse : 
Herrscht ein ganz Großer, so weiß das Volk nur eben, 
Mindere werden geliebt und gelobt, [daß er da ist. 
Noch mindere werden gefürchtet, 
Noch mindere werden mißachtet 
Vertraut man nicht genug, 
So findet man kein Vertrauen. 
Wie überlegt waren jene im Wählen ihrer Worte! 
Die Werke wurden vollbracht, die Arbeit wurde getan, 
Und die Leute im Volk dachten alle : 
„Wir sind selbständig". 
Moralischer Wert ist alles, wessen der wahre Herrscher zum 
Herrschen bedarf. Wirklich wird selbst das heutige, so zerrüttete 
China von moralischem Prestige allein regiert, und der allgemeinen 
Ehrfucht des Volks vor dem, was über ihm steht. Wie gering ist 
die Maschinerie ! Die Mandarine verfügen weder über Militär, noch 
über Polizei, um ihre Befehle durchzusetzen, und doch wird ihnen 
bereitwilligst gehorcht. Es genügt das Prestige ihrer Würde, von 
welcher vorausgesetzt wird, daß sie dem Wert entspricht, daß sie 
das Dasein der Ehrfurcht vor dem, Was unter ihnen steht, garantiert. 
Wie wunderbar ist die Idee solcher Regierung! Sie ist die höchste, 
die sich überhaupt denken läßt. Wäre ein Volk vollendet ge- 
bildet, so bedürfte es überhaupt keiner Institutionen, denn alles 
richtete sich von selbst. Je gebildeter es isft, desto mehr kann 
24* 
372 Chinesische Regierungsidee die höchste; Freiheit einst und jetzt. 
es sich auf den Wert des Einzelnen verlassen, desto weniger 
bedarf es der Maschinerie. In England sind die Richter echte 
Selbstherrscher; sie schaffen recht eigentlich das Gesetz; und 
dieses System bewährt sich, weil eben die Menschen auf der 
Höhe sind. In Deutschland kann man den Richtern noch keine 
solche Machtbefugnis einräumen, dort bedarf es fest vorgeschrie- 
bener Normen; in Rußland überdies der Kontrolle jeder Anwendung 
und Ausdeutung. In China hat der Sinn für das Moralische seine 
bisher größte Ausbildung gewonnen; er ist wirklich der Grund- 
zug dieser Nation. So sind dort, in der Idee wenigstens, Verhält- 
nisse möglich, die dem Abendländer übermenschlich vorkommen. 
Gibt es gar keine Maschinerie, deren der Herrscher zum Herr- 
schen unbedingt bedarf? Doch; solche Formen sind die Riten. 
Und hier mündet das wunderbar Tiefe, das Ewig-Menschliche 
wieder einmal in der CHinoiserie. Es bedarf keiner Behörden, 
kaum der Gesetze; alles Leben organisiert sich von selbst. Aber 
wenn der Kaiser während des großen Jahresopfers am Himmels- 
altar einen Etikettefehler beginge, dann würde die noch so gut 
geregelte Welt auf einmal in Unordnung geraten. 
Die Straßen von Peking sind nicht so schön und malerisch, 
wie diejenigen der Metropolen Süd- und Mittel-Chinas. Sie 
- sind dafür großzügiger (was nicht allein im Sinne physischer 
Breite gilt) und es weht in ihnen Steppenluft. Der Geist Dschengis- 
Khans, der großen Mandschu- und Tataren-Eroberer, nicht derjenige 
der chinesischen Literaten, hat dieser Stadt ihren Charakter ver- 
liehen, so wirkt sie gewaltig und herb. Peking ist vor allem eine 
Kaiserstadt: das läßt es Delhi und St. Petersburg ähnlicher er- 
scheinen, als dem nahen Tientsin und Tsi Nan Fu. 
Diese riesenhaften Tore, diese wuchtigen Mauern, diese hoch- 
ragenden Paläste und Pagoden: ebensoviele Wahrzeichen eines 
Herrschersitzes, Indem ich die weiten Strecken durchwandere, die 
hier Denkmal von Denkmal scheiden, und die Größe des Geists 
chinesischer Kaisermacht auf mich einwirken lasse, überkommt mich 
eine wachsend feindselige Stimmung dem neuen republikanischen 
Staatswesen gegenüber. Wie wenig ist es hier am Platz! Wozu 
haben die Chinesen es eingeführt? Freier werden sie durch das- 
selbe nicht werden; so frei, wie sie waren, ist Amerika nicht. 
Chinesischer Demokratismus ; Sinn der Revolution. 373 
Die Gemeinde, das soziale Atom von China, war in ihrer Ver- 
waltung völlig unabhängig. Sie wählte sich selbst ihre Häupter, 
besorgte ihre Geschäfte selbst und zahlte regelmäßige Abgaben 
so gut wie gar nicht; die Summen jedoch, welche die Man- 
darine von Zeit zu Zeit erpressen kamen, waren verschwindend 
gering im Vergleich zu, dem, was sie in Zukunft wird regel- 
mäßig aufbringen müssen. In das tägliche Leben der Bürger 
griff die alte Regierung überhaupt nicht ein; sie verharrte in 
Nichtstun, bis daß Handeln unbedingt geboten schien. Dann er- 
wies sie sich freilich oft ungerecht, erpresserisch und grausam, aber 
das lag am jeweiligen Beamten, nicht am Prinzip, das als solches 
ausgezeichnet war. Ferner gab es im monarchischen China keine 
privilegierten Kasten, keine Aristokratie; seit Jahrtausenden 
stand jedem einzelnen der Weg zu den höchsten Ämtern offen. 
Nirgends auf der Welt ist die Regierung weniger drückend, ja 
merklich gewesen, nirgends haben der privaten Initiative weniger 
obrigkeitliche Schwierigkeiten im Wege gestanden. Daß der Ein- 
zelne in China trotzdem weniger frei war als in unserer 
Welt, lag an der angestammten Gesellschaftsordnung, nicht am 
Regierungssystem, und sollte jene umgewandelt werden, so hätte 
dies genau so gut oder so schlecht unter dem alten Regime 
geschehen können. Wozu also die Revolution? — Nun, sie be- 
deutete gewiß eine Notwendigkeit, denn die Mandschus hatten ab- 
gewirtschaftet ; sie waren bei dem Punkte angelangt, wo der Geist 
der chinesischen Verfassung einen Wechsel der Dynastie direkt ver- 
langt. Bei einem System, dessen Effikazität ausschließlich von der 
Qualität seiner Vertreter garantiert wird, kann es nicht fehlen, daß 
es bald zu äußerst unliebsamen Zuständen kommt, wenn jene 
Qualität verdirbt. Denn ob es richtig sei oder nicht, daß ein guter 
Herrscher notwendig von guten Beamten bedient wird — sicher ist, 
daß bei der chinesischen Regierungsform ein schlechter Kaiser den 
Staatskarren unweigerlich verfährt, denn hier gibt es keine feste 
Maschinerie, welche persönlichen Umständen das Gegengewicht 
hielte. So mußte es zu einer Umwälzung kommen. Aber daß 
diese mehr bedeutet hat, als die üblichen Krisen im Organismus 
Chinas, daß sie den Sturz des ganzen Systems herbeigeführt, — 
das hat an äußeren Umständen gelegen, zumal dem ansteckenden 
Beispiele des Westens. Und es wird dem Chinesenvolk zweifels- 
ohne zum Unheil gereichen, wenn nicht sein eommonsense und 
374 Die drei Grundnachteile republikanischer Staats form. 
seine tiefe sozial-politische Kultur es davor bewahrt, dem Westen 
in dessen Fehlern nachzueifern. 
Ich bin kein Feind der Idee einer Republik. Unbedingt 
gebe ich zu, daß, wo die Menschen vollkommen gebildet 
wären, sie die beste aller Staatsformen verkörperte. Auf dem Sta- 
dium jedoch, in welchem sich selbst die vorgeschrittensten Völker 
unserer Tage befinden, führt sie das Gegenteil von dem herbei, 
was sie bewirken soll: anstatt einer Herrschaft der Besten die 
der Inkompetenz; an Stelle der Befreiung Knechtung; und an 
Stelle der Hebung des Gesamtniveaus dessen Herabminderung. 
Eine Herrschaft der Besten führt sie nicht herbei, weil der 
Ungebildete niemals geneigt ist, jemand als ijber sich stehend anzu- 
erkennen. Er wählt am liebsten den zum Regenten, dem er sich 
gleich dünkt; wie denn die Amerikaner, mit erfrischender Auf- 
richtigkeit, offen zugeben, daß sie keine hervorragenden Ver- 
treter in ihrem Kongresse wünschen, weil solche das Volk nicht 
repräsentieren würden. Nur der Hervorragende, der nicht be- 
deutender sondern schlauer als seine Wähler ist, der Demagog, der 
Intrigant, der Arrivist, hat Aussicht, beim republikanischen Regime 
ans Ruder zu kommen. So fehlt den Häuptern solcher Staatswesen 
gerade das, was die Kardinaltugend des Regierenden bedeutet: die 
Überlegenheit. Sie sind innerlich nie frei, haben nie den ge- 
lassenen Überblick, der den geborenen Herrscher kennzeichnet. 
Sie sind eben nicht unabhängig, müssen liebedienern vor ihren 
Wählern und vor der Presse. Und was schon von den Häuptern 
gilt, gilt natürlich in weit höherem Grade von den Gliedern. 
Robert de Jouvenel hat unlängst gezeigt, 1 ) wie das Parlament im 
Frankreich von heute in keiner Weise das Volk vertritt, sondern 
vielmehr einen völlig selbständigen, parasitär in ihm lebenden 
Organismus darstellt, dessen Teile absolut auf einander angewiesen 
sind, daher in erster Linie auf einander Rücksicht nehmen müssen 
und nur ausnahmsweise dazu kommen, überhaupt des Staatswohls 
zu gedenken; prinzipiell gleiches gilt von allen Republiken, 
und es ist nur eine Frage der Zeit, inwieweit das Prinzip sich 
aktualisiert. Überlegenheit und Unabhängigkeit sind, solange die 
Menschen bleiben was sie heute sind, in Republiken nicht dauernd 
lebensfähig. 
l ) In seinem ebenso scharfsinnigen wie witzigen Buch La re'publique 
des camarades (Paris, Grasset). 
V 
Tyrannis der Maschinerie in Demokratien ; Sinken des Niveaus. 375 
Ich sagte ferner: die republikanische Staatsform bedingt nicht 
Befreiung sondern Knechtung. Wohl hat ihre Einführung ihrer- 
zeit überall die Befreiung von irgendeiner Knechtschaft bedeutet, 
aber nur um eine neue, schlimmere herbeizuführen. Alle modernen 
Republikaner gehen von der falschen Voraussetzung aus, daß die 
Menschen ursprünglich gleich seien ; so wird in den Bürgern solcher 
Gemeinwesen der Sinn für Überlegenheit künstlich ausgerottet. 
Der Weise hat nicht mehr Prestige als der Durchschnittsmensch, 
der Vornehme nicht mehr als der Plebejer. Ein verantwortlicher 
Posten wird nicht dem verliehen, der von Natur aus zu ihm be- 
rufen ist, sondern einem Beliebigen oder einem Schlauen. So 
bieten die Persönlichkeiten für das Funktionieren des Staatskörpers 
keine Gewähr. Was also tun? Die tote Maschinerie muß verstärkt 
werden; sie muß gut stehen für alles, was sonst dem Menschen- 
wert zu danken wäre. Deshalb finden wir extreme Demokratien 
ausnahmslos durch das Maschinenmäßige ihres Betriebes gekenn- 
zeichnet. Gestern schrieb ich, die Bedeutung eines politischen 
Systems stehe in direktem Verhältnis zur Unbildung der Regierten ; 
während der englische Richter Gesetze schafft, darf der deutsche 
sie nur anwenden. Dementsprechend erscheint in extremen Demo- 
kratien, wo die Besten kaum zum Worte kommen, die Maschinerie 
schier allmächtig. Das ist sie zumal in der nordamerikanischen 
Republik. Dort besitzt der „Caucus" mehr Macht, als irgendein 
asiatischer Despot. Und da die Maschine keine Seele hat, ist ihre 
Tyrannis schlimmer als die des härtesten Autokraten. 
Der dritte Punkt ist das Sinken des Niveaus, welches die Re- 
publik mit Unvermeidlichkeit herbeiführt; er ergibt sich fast voll- 
ständig aus den bisher betrachteten. Indem die Inkompetenz der 
Kompetenz als gleich geachtet wird, der Sinn für Überlegenheit ab- 
stumpft und jeder nur dem ihm gleichen die Führerrolle zuer- 
kennen mag, tritt die Überlegenheit tatsächlich zurück und das 
Niveau gleicht sich nach unten zu aus; desto mehr, als die Bei- 
spiele eines höheren Daseins fortschreitend seltener werden 
und der Nachwuchs an ideal gesinnten Bürgern spärlicher wird. 
Das Aufkommen so großer Überlegenheit, wie zu aristokra- 
tischen Epochen, ist in demokratischen Gemeinwesen — und 
das sind heute alle Staaten, die monarchisch regierten inbegriffen — 
wohl überhaupt nicht möglich, denn wo auf die Masse über- 
haupt Rücksicht genommen wird, sind allzu große Einzelne nicht 
376 Interesse für Politik zieht herab; trüber Ausblick. 
lebensfähig ; aber in Monarchien sinkt das Niveau doch nie so tief 
herab, wie in Republiken, wo jeder mitreden darf. Hier schafft 
die Masse allmächtig den Zeitgeist, und da er es ist, der sich 
jeder neuen Generation als erstes mitteilt, so kann es nicht fehlen, 
daß jede folgende trivialer als die vorhergehende wird. Noch ein 
schwerwiegendes Bedenken spricht gegen die Republik; es knüpft 
an an das Recht jedes Einzelnen, in politicis mitzuentscheiden. 
Das Interesse für Politik hebt nur den, der sie als große ideale 
Aufgabe auffaßt, also den geborenen Herrscher und den berufenen 
Staatsmann; jeden anderen zieht es herab. Weshalb? Im Kleinen 
ist jeder gemeint; er wahrt seine persönlichen Interessen. Als Mit- 
beherrscher einer Republik wird er es auch im Großen. Nun sieht 
er persönliche Interessen überall und handelt entsprechend. Unter 
einem absoluten Regime lohnt es sich für den Privatmann nicht, 
sich mit großer Politik zu befassen, deswegen wuchert dort sein 
Eigennutz am wenigsten; in einer noch so konstitutionellen Mon- 
archie gibt es immerhin einige Fragen, die ihn nicht angehen. In 
der Republik entscheidet jeder bei allem mit. 
China war frei und wird geknechtet werden, das Niveau 
des Volkes wird sinken und an Stelle der Intelligenz wird 
die Kanaille treten — es sei denn, daß China, glücklicher als 
Europa und Amerika, die Gefahr im letzten Augenblick pariert. 
Wie töricht ist es, von der Einführung der Republik eine 
Hebung des Niveaus zu erhoffen ! Gewiß : der Unterschied im 
Niveau eines Kuli und eines Mandarins ist unerhört, und ersteres 
muß gehoben werden. Aber das wird gewiß nicht dadurch ge- 
lingen, daß man ihn unverzüglich emanzipiert und den ihm Über- 
legenen überstimmen läßt. Und selbst wenn die intellektuelle Bil- 
dung gewinnen sollte, die moralische wird sicher verlieren. Nun 
ist aber moralische Bildung die Hauptsache für jedes Volk und 
von allen besaß das chinesische davon am meisten. Wie über- 
legen erscheint der Kuli hierin dem hochmütigen Fremden, 
welchen er trägt und fährt! der hungernde Landmann dem Missionar, 
der ihm zu predigen 'sich anmaßt! Wie überlegen vor allen der Man- 
darin des alten Regime gegenüber den frechen jungen Leuten, die 
neuerdings an der Spitze des Reiches stehen! Ich denke an die Tage 
zurück, die ich mit den vertriebenen Großen in Tsingtau verlebte: 
da war kaum einer, der bei all' seinen möglichen Fehlern nicht als 
moralisch durchgebildet gelten konnte; der insofern nicht dazu 
Die große Kaiserin; psychologische Intuition der Chinesen. 377 
berufen schien, an führender Stelle zu stehen. Einst reich und 
mächtig, waren sie nun heimatlos und arm; und trugen ihr Schick- 
sal doch mit lächelndem Gleichmut. Wohl habe ich sie verzweifelt, 
ja in Tränen gesehen: aber das war vor Trauer über das Ende 
der großen chinesischen Kultur, das sie herannahen sahen. . . . 
Ein wahnsinniger Sandsturm wütet; in den Straßen stümt es. 
Die Mongolen peitschen ihre Maultierzüge vorwärts, um 
schneller das Obdach zu erreichen ; die Chinesen in den 
Rickshaws tragen Tücher vor den Augen, die sich unter dem Druck 
des sandbeschwerten Windes wie schmutzige Schminke den Ge- 
sichtern anschmiegen. Keine Möglichkeit irgendetwas zu besich- 
tigen. Ich verbringe meine Zeit damit, die Geschichte Tsu-Hsi's, 
der großen Kaiserin-Witwe, zu lesen. 
Diese Herrscherin, die nach unseren Maßstäben bemessen, auf 
grauenerregende Weise gewütet hat, welcher Menschen nicht heiliger 
waren als Fliegen, die eine Hofdame einst ohne Umstände 
ertränken ließ, weil ihr Eintreten sie beim Malen gestört hatte 
— diese Herrscherin gilt ihrem Volke als gutherziges, ja allzu- 
gutes Frauenzimmer; dieses Urteil vernahm ich erst heute von 
einem Mandarin, welcher unter ihr gedient hatte. Ohne Zweifel, 
sie war eine große Natur, und solche sind niemals schlecht; 
sie hat das Beste gewollt, ihre Herrscherpflichten nach bestem 
Gewissen erfüllt; die großen Traditionen Alt-Chinas waren in ihr 
in außerordentlichem Grade lebendig. Sie war eine hervor- 
ragende Regentin, eine wunderbare Menschenkennerin, zugleich 
eine echte Künstlerin und vollendet gebildet in der klassischen 
Literatur. Aber dennoch: gut war sie nicht; sie war ein Drache, 
kein Lamm. Daß sie unter dem Heiligenschein der Herzensgüte 
fortlebt, ist sehr bedeutsam, denn sicher hat dies tiefere Gründe 
als jene typische Metamorphose in der Erinnerung, dank welcher 
sogar Napoleon zeitweilig als prud'homme und Gemütsmensch 
gepriesen ward. 
Die Hauptursache dieses Verhältnisses ist wohl die psycholo- 
gische Intuition, der Sinn für das Wesen eines Menschen, der alle 
Asiaten und vor allem die Chinesen auszeichnet. Von Indien ab 
habe ich es bewundern können, wie sicher der östliche Mensch 
jedermann instinktiv nach dem ihm entsprechenden Maßstabe mißt. 
378 Warum die Chinesen Mißwirtschaft dulden. 
Dies Können rührt seinerseits im allgemeinen (wenn ich von be- 
sonderen empirischen Bedingungen absehe) von seinem Glauben 
an den Typus her; denn auch wir waren bessere Psychologen, so- 
lange wir in erster Linie nicht nach den besonderen Bestandteilen 
sondern dem Typus einer Seele ausschauten. Wer dies nämlich 
tut, muß synthetisch vorgehen, muß das Einzelne im Zusammen- 
hange sehen, dem muß dieser den Elementen gegenüber das 
Primäre sein. So dünkt es den begabten Asiaten selbstverständ- 
lich, eines anderen Handlungen nicht an und für sich zu werten, 
sondern nach dem, was sie in bezug auf ihn bedeuten. Tsu Hsi's 
Gesinnung nun war zweifellos edel. Sie mordete, entweder weil es ihr 
politisch notwendig schien, oder weil sie nichts Schlimmes darin sah 
(keinen Chinesen dünkt das vom Leben zum Tode Befördern als ein 
Außerordentliches) oder endlich weil sie es nicht gelernt hatte, ihre 
Impulse niederzukämpfen. Für alle diese Umstände hatten ihre 
Untertanen volles Verständnis. Sie begriffen, daß Gewalttätigkeit 
bei Menschen in hoher und höchster Stellung nicht mehr zu be- 
deuten braucht, als ein ärgerliches Achselzucken beim kleinen Mann. 
Sie wußten ferner, wie schwer es ist, bei großer Machtfülle be- 
herrscht zu bleiben, und stellten daher an ihre Kaiser geringere 
Anforderungen, als an ihresgleichen. Die Chinesen sind aus 
Erkenntnis tolerant, tolerant bis zur Charakterlosigkeit. Dies er- 
klärt, wie gerade dieses Volk, dessen Weltanschauung wie keine 
andere moralisch orientiert erscheint, das keinen Menschen zum 
Herrschen für juristisch berechtigt anerkennt, der nicht auch mora- 
lisch dazu qualifiziert wäre, doch in praxi mehr Mißwirtschaft 
duldet, als irgendein anderes von ähnlichem Kulturniveau. Die 
Chinesen glauben nicht, daß Menschen vollkommen sein können ; 
sie zweifeln an der Möglichkeit fehlerfreien Funktionierens 
irgendeiner Institution, stehen tief skeptisch zu aller Ver- 
besserung. Sie setzen voraus, daß hohe Beamte zur Gewalttätig- 
keit, niedere zur Schikane neigen, und sind es zufrieden, wenn 
die Mißbräuche und Übelstände ein gewisses — schweigend als 
unvermeidlich anerkanntes — Maß nicht überschreiten. Es war sehr 
charakteristisch, was ein hoher Beamter neulich den berüchtigten 
Squeeze betreffend zu mir bemerkte: man müsse zwischen pure 
Sqaeeze und dirty Sqeeze unterscheiden; dem, der nur soviel 
erpreßt, als er zu anständigem Unterhalte braucht (denn die offi- 
ziellen Gehälter reichen hierzu nicht aus) sei überhaupt kein Vor- 
Respekt vor Ordnung, Mangel an Heroismus, Unadeligkeit. 379 
wurf zu machen; nur der das Maß überschreitende handele 
übel. Die Chinesen finden ihr noch so korruptes Regime er- 
träglich, eben weil sie so viel verstehen und vom Menschen nur 
wenig erwarten. Sie setzen den Sinn überall über den Tatbestand. 
Deswegen finden sie auch ihr System, so schlecht es sich bewährt, 
doch besser als das unserige, dessen praktische Vorzüge sie nicht 
leugnen, weil es dem Sinne nach höher steht. Ihres ruht auf 
moralischer Grundlage, unseres nicht; diese Erwägung entscheidet. 
Ob die Beamten tatsächlich moralisch sind, tut wenig zur Sache, 
so erwünscht es wäre. Und schließlich verlangen sie von der 
Regierung in letzter Instanz nur eins: Autorität. Autorität schlecht- 
hin. Das ist die logische Folge ihres Ideals des Nicht-Regierens. 
Jede Autorität ist besser als keine, und eine schlecht sich be- 
währende besser als eine gute, sofern sie dem Sinne nach besser 
begründet ist. 
Der grenzenlose Respekt des Chinesen vor Ordnung und Ge- 
setz bedingt zugleich sein Sich-Schicken in gelegentliche Unregel- 
mäßigkeit. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Erfahrung für, 
nicht gegen die Zweckmäßigkeit seiner Auffassung spricht. In 
diesem Riesenreich, in welchem noch nie radikale Maßnahmen 
gegen bestehende Mißbräuche ergriffen worden sind, hat im 
Großen mehr und dauerndere Ordnung geherrscht, als in allen 
energischer betriebenen Staatswesen; in diesem Land ohne Polizei, 
mit Behörden von zweifelhafter Integrität wird im ganzen weniger 
gestohlen, gemordet, veruntreut, gestritten, gehadert, als im so 
wohlorganisierten Deutschen Reich. Nichtsdestoweniger muß ich 
denen beistimmen, die gerade die Eigenschaften der Chinesen, 
die das Funktionieren dieses Staatskörpers gewährleisten, am un- 
sympathischesten finden. Dem chinesischen Mittelstande fehlt 
moralischer Mut, des Heroismus scheint er völlig unfähig; seine 
Haut trägt er niemals zu Markt, er lügt lieber, als daß er eine 
Wahrheit sagt, die ihm Unbequemlichkeiten verursachen könnte. 
Er ist das Prototyp des Utilitariers. Ja er ist es mit Bewußtsein 
und Stolz. Und das gilt nicht allein vom bourgeois: Lautse sagt 
von den Meistern des Altertums: 
Zögernd, wie wer im Winter einen Fluß durchschreitet, 
Vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet, 
Zurückhaltend, wie Gäste, 
Einfach, wie unbearbeiteter Stoff, 
380 Erneuerung nur aus konfuzianischem Geist heraus denkbar. 
Weit waren sie, wie die Tiefe, 
Undurchsichtig waren sie, wie das Trübe. 
Und weiter: 
Ihre Art ist es, den Rückzug zu lieben. 
Die sogenannten adligen Tugenden können dort nicht auf- 
kommen, wo die Welt als unwandelbar gilt und Harmonie ä tout 
prix als Ideal. Wer einer statischen Weltanschauung huldigt, geht 
für kein Ideal in den Tod, strebt die Welt nicht umzuwandeln, 
trägt überall nur dem gegebenen Rechnung. Wer dergestalt denkt 
und handelt, ist gewiß nicht adelig zu nennen. — Liegt nicht eine 
tiefe Ironie darin, daß der Chinese gerade dank seinen unsym- 
pathischen Eigenschaften das höchste Beispiel sozialer Ordnung 
gegeben, die größte soziale Bildung erreicht, die soziale Frage 
buchstäblich auf lange Zeit hinaus gelöst hat? Wird nicht der 
„Fortschritt" auch uns fortschreitend unedler machen, da doch mit 
wachsender Ordnung und Lebenssicherheit auch das Sicherheits- 
ideal im Werte steigen muß? 
"^yTein, das neue System als solches wird China nicht regene- 
^U rieren. Es ist gezeigt worden, wie sich der Zustand Frankreichs 
- trotz aller Revolutionen und Regimeänderungen seit den Tagen 
Ludwig XIV. kaum gewandelt hat und die geschichtspsychologische 
Hauptthese Gustave Le Bons: „les peuples sont göuvernes non 
par leurs institutions mais par leur caractere", spricht eine allge- 
meingültig-grundlegende Wahrheit aus. Die Mißstände in China 
sind nur aus dem Geist seiner Vollkommenheit heraus zu be- 
seitigen; seiner eigenen spezifischen Vollkommenheit, nicht der 
einer fremden Kultur. Wohl mag es unsere Maschinerie herüber- 
nehmen, unsere Institutionen, unsere Werkzeuge, unsere Methoden; 
auch China werden sie gute Dienste leisten. Aber sicher nur 
dann, wenn es gelingt, sie zum Geist der altchinesischen Kultur 
in innere Beziehung zu setzen. g 
Immer deutlicher erkenne ichs: daß es in China der Re- 
formen bedarf, liegt nicht am alten System als solchen, sondern 
an dem, daß der alte Geist ihm entwichen ist. Gleichviel, ob ideale 
Zustände wie die, welche von den Zeiten Yaos, Shuns und Yüs 
überliefert werden, je geherrscht haben — schon Konfuzius und 
Mencius klagten über Dekadenz! — China ist Jahrhunderte ent- 
Der Geist des Konfuzianismus. 38 1 
lang seinem Ideale näher gewesen als irgendein historisches Volk, 
und noch heute lebt in ihm der Geist, der dies einstmals ermög- 
lichte. Nur ist er gar schwächlich geworden. Die am vornehmsten 
gesinnten Chinesen sind überzüchtet; ihnen fehlt es an frischer, 
tatenfroher Kraft; sie jammern und klagen, wo sie handeln 
sollten. Immerhin: welch' ein Unterschied zwischen ihnen und den 
Leuten, welche die Revolution ans Ruder gebracht hat ! Denen fehlt 
jede moralische Basis, die sind im tiefsten Sinne wurzellos. Gleich 
den russischen Anarchisten und Nihilisten haben sie keinen Sinn 
für das Historisch-Gewordene, und werden daher wohl zerstören, 
aber nimmermehr aufbauen können. Eine Wiedergeburt Chinas ist 
meiner Überzeugung nach nur aus dem Geist des Konfuzianismus 
heraus denkbar. Gott gäbe, daß diesem die hierzu erforderliche 
Potenz noch innewohnt. 
Leider ist der Geist des Konfuzianismus, der wie kein anderer 
ein Bestehendes auf der Höhe erhält, zur Erneuerung wenig ge- 
schickt. Gestern frühstückte ich mit einem alten Priester, der 
durchglüht war von Begeisterung für seine Religion, der in 
ihr das Heil für die gesamte Menschheit sah und Chinas 
Niedergang ausschließlich auf den des Konfuzianismus zurück- 
führte. Ich legte ihm nahe, er möge doch auftreten und mit be- 
geisterndem Wort das Volk aufrütteln aus seinem komatischen 
Schlaf. Er erwiderte, hierzu sei er nicht berufen; das sei Sache 
des Kaisers und der höchsten Obrigkeit; bei der Stellung, in die 
er hineingeboren sei, komme nur treue Erfüllung der Pflichten 
gegen Eltern und Familie für ihn in Frage. Und wenn alle Söhne, 
fügte er hinzu, ihren Vätern Pietät erwiesen, dann würde das 
Übrige schon von selbst in Ordnung kommen. Wieder jene trost- 
los-statische Auffassung, nach der sich in der Welt wohl alles 
im schönsten Gleichgewicht befindet, das beschleunigende Moment 
jedoch unfaßbar scheint, das einen niederen Gleichgewichtszustand 
in einen höheren umwandeln könnte ! Wie soll man unter solchen 
Voraussetzungen die Welt erneuern? Sie kann sich nur selbst rege- 
nerieren. Indem jeder seine nächstliegenden Pflichten erfüllt, ent- 
steht eine molekulare Umlagerung im Weltsystem, welche langsam 
zum höchsten Gleichgewichtszustande hinleitet. Dieser Weg hat 
alle Vorzüge eines Wachstumsvorgangs ; hat er zum Optimum ge- 
führt, dann ist dieses wohl sicherer gegründet, als auf irgendeine 
andere Art gelänge; daher die unerhört lange Dauer der großen 
382 Erneuerung auf dem Wege der Geschichtsfälschung. 
Zeiten in China, daher das heute noch wunderbar feste Gefüge 
des chinesischen Staats. Aber ein solcher Prozeß braucht unge- 
heuer viel Zeit; soviel Zeit, daß unter den heutigen Umständen, 
wo alle Entwickelung dank dem Rekord, den Europa aufgestellt, 
und den neuen Verhältnissen, die sein Einfluß geschaffen hat, 
sehr schnell verlaufen muß, wenn sie überhaupt zum Ziel führen 
soll, die bloße Möglichkeit seiner Vollendung fraglich ist. Was 
soll also geschehen? — Daß die Erneuerung trotz allem Ange- 
führten aus dem Geist des Konfuzianismus heraus erfolgen soll, 
scheint mir gewiß; dieser Geist ist dem Volk so tief und inner- 
lich eingewurzelt, daß es einfach nicht glücken würde, ihn durch 
einen anderen zu ersetzen. Überdies wäre es ein Verbrechen, ihn 
ausrotten zu wollen, denn der Idee nach ist er der höchste, der 
irgendeiner Gesellschaft je zugrunde gelegen hat. Es läßt sich nichts 
Idealeres denken, als eine Gemeinschaft, deren äußere Ordnung 
durchaus durch die moralische Bildung ihrer Glieder gewährleistet 
würde, wo es mechanischer Mittel nicht bedürfte; das ist nicht 
allein das alt-chinesische, es ist das Menschheitsideal. Auch wir 
werden dereinst, so Gott will, in diesem Sinn als Konfuzianer 
gelten dürfen. Aber freilich müssen dem traditionellen Konfuzianis- 
mus neue, beschleunigende Motive einverleibt werden. 
Dieses dürfte, bei einiger Einsicht seitens der Führer, nicht 
undurchführbar sein. In den Augen des Volks steht Konfuzius so 
unermeßlich hoch, daß es sich jede fernere Idealisierung seiner 
gefallen lassen wird. Es wird sogar höchlich befriedigt sein, wenn 
ihm gezeigt wird, daß die neuen Ideen, deren Wirkungskraft im 
Guten es auf die Dauer nicht wird ableugnen können, in den 
heiligen Büchern vorgebildet liegen, und das Neue bereitwillig 
aufnehmen, das auf das Alte zurückgeführt werden kann. Es dürfte 
sonach die Aufgabe der Führer Jung-Chinas sein, für alle Reformen, 
die sie in Angriff nehmen, die Autorität Kongfutses anzurufen. 
Dank dem aphoristischen Charakter seiner Aussprüche wird dieses 
technisch leicht gelingen, sachliche Bedenken aber kommen des- 
halb kaum in Frage, weil einerseits Konfuzius vertieft werden 
wird dank der neuen Ausdeutung, die ihm so viel indisch-christ- 
liche Weisheit zuführen wird, und andrerseits das westlich-Prak- 
tische, auf konfuzianische Grundsätze bezogen, eine moralische 
Grundlegung erfahren wird, die es bisher nicht hatte. Natürlich 
würden sie sich mit solcher Umdeutung eine Geschichtsfälschung 
Konfuzianer und Alt-Lutheraner. 383 
zuschulden kommen lassen: was tufs? welche fortschrittliche Zeit 
hätte keine begangen, wo sie an alten Idealen festgehalten hat? 
Was ist nicht aus dem Christentum alles geworden im Lauf der 
Geschichte! Aus der Religion des Duldens eine solche des 
rücksichtslosen Tuns; aus dem süßen Heiland und Erbarmer das 
Urbild der modernen selbstgegründeten Persönlichkeit! Jede Zeit 
hat ihr wirkliches Ideal mit dem überkommenen in Einklang zu 
setzen versucht, und das ist immer nur durch Geschichtsfälschung 
gelungen. Alle Erneuerer, die den „wirklichen" Christus wieder- 
erwecken wollen, von St. Johannes bis zu den Propheten des 
'New Tfiought, sind recht eigentlich Geschichtsfälscher, da sie im 
Gegensatz zu ihrer Absicht ihre eigenen Überzeugungen in das 
wehrlose Gewesene hineindeuten. Und das ist kein Vorwurf, den 
ich ihnen mache, im Gegenteil: man kann dem Menschen seine 
historischen Wurzeln nicht nehmen ; wer in christlicher Atmosphäre 
geboren und erzogen ward, ist wesentlich Christ, gleichviel woran 
er glaubt; von den Vorstellungen, die seine Seele formten, kommt 
er nie los. Aber er deutet sie, wenn er seine Persönlichkeit 
wahren will, selbständig aus, bringt sie in Einklang mit seiner 
sonstigen Weltanschauung. 
In diesem Sinne dürfte es wohl möglich sein, aus dem Geist 
des Konfuzianismus heraus das chinesische Reich zu reformieren. 
Nur muß diesem dazu, wie schon gesagt, ein beschleunigendes Motiv 
eingebildet werden. Wird dies gelingen, wo doch nichts das Chi- 
nesentum wesentlicher kennzeichnet, als seine ausgesprochen sta- 
tische Gesinnung? Die europäische Geschichte beweist, daß solche 
Metamorphose vorkommt. Mir war von Anfang an die ausge- 
sprochene Ähnlichkeit des altkonfuzianischen mit dem altlutheri- 
schen Menschentypus aufgefallen; sie erschienen mir recht eigent- 
lich als eines Geistes Kinder. Wie ich über diesen Eindruck nun 
nachdachte, da erwies er sich als wohlbegründet: die beiden 
Weltanschauungen sind wirklich nahe verwandt. Auch die lutherische 
ist wesentlich statisch, auch sie hypostasiert die gegebenen Klassen 
als metaphysisch begründet oder „gottgewollt" ; auch ihr gilt Leiden 
höher denn Tun, Geduld mehr als Initiative, und das Hinaus- 
streben über die angeborene Stellung als frevlerisch; auch sie ist 
eine Weltanschauung des Ausharrens. So hat sie auch ähn- 
liche Vorzüge und ähnliche Gebrechen ins Leben gerufen. Ihre 
Vorzüge waren die Kultur des Familienlebens, des patriarchalischen 
384 • Konfuzianismus und Protestantismus. 
Daseins überhaupt ; ihre Nachteile der Hang zur Reaktion, die Un- 
fähigkeit, das Leben neuzugestalten, sich neuen Umständen anzu- 
passen, die natürliche Erstarrung durch freie Initiative in Spann- 
kraft umzuwandeln. Aber von Luther ist doch eine Richtung aus- 
gegangen, welcher nichts von den Gebrechen des Luthertums an- 
haftet: der calvinistische Protestantismus. Das ist die Religion 
der Tat par excellence, die größte Anspornerin der Initiative, des 
Fortschritts, der selbstherrlichen Lebensgestaltung, welche es je 
gegeben. Kein Menschentypus der Welt ist an Effikazität dem 
reformiert-protestantischen vergleichbar. Heute steht dieser dem 
lutherischen wohl fremd gegenüber; gleichwohl ist er aus ihm 
hervorgegangen; und im Letzten, im Allerletzten sind beide heute 
noch eins. Es gibt doch einen allgemeinen Geist des Protestantis- 
mus, an welchem beide Konfessionen teilhaben. In Analogie mit 
dieser Entwickelung halte ich nicht für ausgeschlossen, daß der 
Geist des Konfuzianismus noch einmal eine Gestaltung aus sich 
hervorbringen wird, dank welcher der Chinese, ohne seine Ge- 
schichte verleugnet zu haben, nicht minder tatkräftig dastehen 
wird, wie der Amerikaner und der Schotte. 
Die Ähnlichkeit zwischen dem konfuzianischen und dem prote- 
stantischen Menschen ist wirklich frappant. Die Nüchtern- 
heit, die Verständigkeit des Chinesen, seine Unplastizität, 
seine seelische Trockenheit finden sich in nur wenig verän- 
derter Gestalt im protestantischen Europa und Amerika wieder. In 
beiden Fällen fußt die Weltanschauung auf einem seltsamen Ge- 
misch von Autoritätenglauben und Selbstbestimmung ; beide Typen 
sind ausgezeichnet durch auffallende seelische Undifferenziertheit 
und eine gleich auffallende Gestaltungskraft nach außen zu. 
Die Psyche des gebildeten Katholiken ist ja, so parodox dies dem 
„Aufgeklärten" klingen mag, viel reicher als die des Protestanten; 
die Erziehung durch ein System, wie das katholische, das den viel- 
fältigsten Regungen der Seele Rechnung trägt und allen Verständnis 
entgegenbringt, dessen Formen gehaltschaffend sind und umgekehrt 
Formensinn erzeugen, kann nicht umhin, die Seele zu entfalten ; 
während der unkomplizierte und grobe dogmatische Unterbau des 
Protestantismus dem Menschen wohl einen starken moralischen 
Halt und einen einzigartigen Ansporn zur Betätigung gibt, aber 
Konfuzianismus und Protestantismus. 385 
sehr wenig Selbsterkenntnis und fast gar keine psychische Bildung. 
Der Chinese ist in eben dem Sinne dem Inder unterlegen, wie es 
der Protestant dem Katholiken ist. Es ist außerordentlich lang- 
weilig, mit Chinesen über psychologische und metaphysische Pro- 
bleme zu verhandeln. Immer wieder kommen sie einem mit den 
konfuzianischen Grundprinzipien, wie Pastoren mit der augsburg- 
ischen Konfession ; sie scheinen unfähig, sowohl psychische Tat- 
sachen als solche ins Auge zu fassen, als den metaphysischen Sinn 
der Gestaltung als mögliches Problem zu erkennen; ihr Verständnis 
für das Religiöse gar ist minimal. Gleich der durchschnittlich- 
lutherischen bedeutet auch die durchschnittlich-chinesische Religio- 
sität nicht mehr als das feste Glauben an bestimmte Offenbarungs- 
tatsachen und das feste Befolgen einer bestimmten Lebensroutine; 
ein echtes religiöses Erleben kennen sie nicht. Auch die konfuzia- 
nische Kirche (sofern solche Bezeichnung statthaft ist) ist, gleich 
der lutherischen, eines Sinnes mit der „Obrigkeit". Aber freilich: 
im gleichen Sinne, wie die Protestanten den Katholiken, sind die 
Chinesen den Indern auch überlegen. Ich kenne wenig Roheres, 
geistig Unbefriedigenderes, als die Glaubensvorstellungen des Cal- 
vinismus ; der Glaube des katholischen Köhlers steht geistig höher 
als der des gebildeten Puritaners : dennoch hat dieser einen 
Menschentypus erschaffen, der an moralischem Wert alle übrigen 
christlichen schlägt. Zum tätigen Leben kommt es eben nicht auf 
umfassende Einsicht, sondern einen möglichst eindeutigen Charakter 
an, und einen solchen schafft eine simplistische Lehre am ehesten. 
So sind die Chinesen eben deshalb moralisch so fabelhaft gebildet, 
weil sie sich über das Moralische nur wenig den Kopf zerbrechen 
und statt dessen die konfuzianischen Grundsätze, die freilich ewige 
Wahrheiten zum Ausdruck bringen, von sich ganz haben Besitz er- 
greifen lassen. Solche Methode macht uninteressant, allerdings ; 
aber sie macht tüchtig. 
So viel zum Problem des Glaubens. Was nun das Postulat der 
Selbstbestimmung angeht, so gilt auch das in China nicht minder 
als bei uns. Nur scheint es mir in der konfuzianischen Welt auf 
einer höheren Stufe ins Leben einzugreifen. Bei uns äußert sich 
das Bekenntnis zum Ideal der Autonomie gar leicht dahin, daß 
der Mensch nichts anerkennen will, was er nicht versteht, wem- 
zufolge er die Abstufungen in der Gesellschaft abweist und die 
Autorität auch dessen nicht gelten läßt, welcher nachweislich kom- 
Keyserling. Reisetagebuch. 25 
386 Konfuzlanismus und Protestantismus. 
petenter ist als er. So günstig diese psychische Einstellung 
der Ausbildung der Initiative sei, so nachteilig ist sie der Kultur; 
wer keinem glaubt außer sich selbst, entäußert sich aller der 
Bildungsmöglichkeiten, welche die Erfahrung anderer enthält; er 
verschließt sich ferner dadurch, daß er die Schranken durchbricht, 
die seinem Streben von der Natur her gesetzt sind (denn es kommt 
doch sehr selten vor, daß einer zu größeren Dingen berufen ist, 
als ihm der angeborene Lebensrahmen zu vollbringen gestattete), 
recht eigentlich das Tor zur Vollendung, denn Vollendung ist nur 
innerhalb gegebener Grenzen möglich. Deshalb steht der noch so 
abergläubische Katholik kulturell so häufig höher als der Aufge- 
klärte. In China nun bedeutet Selbstbestimmung immer nur Selbst- 
bestimmung innerhalb eines gegebenen Rahmens. Der Chinese 
denkt für sich selbst, urteilt für sich selbst, tut was ihm recht er- 
scheint — aber nur innerhalb einer bestimmten Sphäre. Wer darauf- 
hin an der Autonomie als Postulats des chinesischen Bewußt- 
seins zweifeln sollte, der versuche es, chinesische Dienstboten 
so herumzukommandieren, wie dies mit europäischen üblich 
ist: er wird wenig Erfolg damit haben. Er wird entdecken, 
daß der chinesische Diener, bei allem Respekt, bei aller Dienst- 
beflissenheit und Treue, nur das tut, was er für richtig hält; er 
gehorcht nicht eigentlich in unserem Sinne: seine Stellung ist die 
eines Gehorchenden, aber innerhalb dieser ist er autonom ; im ein- 
zelnen will er entscheiden können, was er zu tun und was zu 
lassen hat. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von allen Berufen. — 
Meiner Ansicht nach ist hiermit im Prinzip des bestdenkbare Gleich- 
gewichtsverhältnis zwischen Auto- und Heteronomie erreicht. Gott 
allein frommt absolute Autonomie. Der Mensch darf sich nur 
innerhalb von Grenzen selbst bestimmen, wenn er an seiner Seele 
nicht Schaden nehmen will, welche Grenzen enger und immer 
enger werden von oben nach unten zu. 
Man darf die Parallele zwischen Konfuzianismus und Prote- 
stantismus nur nicht zu weit durchführen wollen; vielleicht bin ich 
schon zu weit gegangen darin; Ku Hung-Ming, mit dem ich letzthin 
häufig zusammenbin, und der in Vergleichen dieser Art wie wenige 
ausschweift, mag mich angesteckt haben. Zum Schluß denn noch 
einige Punkte, in bezug auf welche Konfuzianismus und Protestan- 
tismus ganz unvergleichbar erscheinen. Jenem fehlt das Pathos, 
das der Glaube an einen allmächtigen persönlichen Gott dem Pro- 
Diät und Mentalität; der Koch als Schöpfer. 387 
testantenleben verleiht. So heroisch Konfuzianer sein mögen — ihr 
Heroismus hat nie den grandiosen Zug, der den strenggläu- 
bigen Protestanten und Muslim auszeichnet ; es handelt sich beim 
Konfuzianer auch im Höchstfall mehr um die Hartnäckigkeit des 
Prinzipienreiters als die Opferfreude eines großen Glaubens. 
Dieser Unterschied ist so groß, daß er das ganze Bild verändern 
würde, wenn nicht jenes Pathos den Protestanten unserer Tage 
ebenso fehlen würde, wie den Chinesen. . . . Der zweite radikale 
Unterschied zwischen Konfuzianismus und Protestantismus geht auf 
den unkünstlerischen Charakter dieses zurück; der Protestantismus 
erkennt keinen Zusammenhang an zwischen religiösem und künst- 
lerischem Erleben, schafft keine notwendige Beziehung zwischen 
Ausdrucksform und Gehalt. So hat der echte Protestant in der 
Regel wenig Formensinn. Der Konfuzianer besitzt solchen von 
allen Menschen vielleicht am meisten. So fand ich mich mit dem 
Mandarin, der mich jüngst zu den buddhistischen Klöstern be- 
gleitete und mich schier zur Verzweiflung brachte durch sein Un- 
verständnis für Probleme der Religion, augenblicklich wieder, 
als ich mit ihm in seinem Haus, bei nicht endenwollenden Tassen 
Tees, über das Problem des Stils unterhandelte. 
Nun lebe ich beinahe ganz als Chinese; die meisten 
Mahlzeiten nehme ich außerhalb des Gesandtschaftsviertels 
ein. Schon die Abwechselung als solche tut gut; eine 
immerdar identische Lebensweise macht den physischen Organismus 
philiströs, nimmt dem Geiste die Beweglichkeit. Ich bin überzeugt : 
wenn die Hindus nicht dreimal täglich ein gleiches Reisgericht ver- 
zehrten, sie wären weniger stereotyp, wenn die Abwechselung 
als solche kein Heilmittel wäre, so viel verschiedenartige Kuren 
nützten nicht; und sicher hängt es mit unserem Erfindungs- 
triebe eng zusammen, daß wir Europäer gleich keiner anderen 
Rasse der Erde nach Mannigfaltigkeit in der Nahrung Bedürfnis 
tragen. Was nun die spezifische Diät einer Nation betrifft, so kann 
aus ihr deren Eigenart allerdings nicht abgeleitet werden, wohl 
aber steht sie in engem Zusammenhang mit ihr. Wer der Sinnlich- 
keit entrinnen will, liebt Pflanzenkost, wer sie verfeinern will, zieht 
animalische gewürzte vor. Und so weiter. Was nun im allgemeinen 
gilt, ist nicht minder im besonderen wahr; immer habe ich ge- 
25* 
388 Alle Sinne ursprünglich gleichwertig ; Weltanschauung des Gaumens. 
funden, daß es während des Studiums eines Volkes ratsam ist, 
dessen Lebensweise nach Möglichkeit zu teilen. In China aber ist 
dies eine Lust. 
Meine Freunde bringen mich in jene abgelegenen Feinschmecker- 
Restaurants, die für Peking ebenso charakteristisch sind wie für 
Paris. Nur haben die Räume der hiesigen mehr Stil. Es sind ganz 
kleine cabinets particuliers, meist mit Aussicht auf die Berge der 
Umgegend, mit Bildern und Sprüchen behangen ; in dem Zimmer, 
wo wir gestern schmausten, waren es Verse Li Tai-Pe's. Dieses 
Gasthaus soll existieren seit den Tagen der Ming- Dynastie. Wie 
dem auch sei : es herrscht eine Atmosphäre der Kultur darin, die 
auch mich zum Teinschmectfer verwandelte. Ernst lauschte ich den 
Vorschlägen des maitre d'hotel, der uns die Speisen zusammen- 
stellte, wie ein Dichter seine Worte, und unaufhaltsam steckte 
mich sein reiner Koch-Idealismus an. Weshalb soll der Gaumen 
geringer gelten, als Auge und Ohr? Ein großer Koch ist im 
höchsten Sinne schöpferisch. Woher weiß er, indem er ein neues 
Gericht erfindet, und an sich wenig schmackhafte Ingredienzien 
in nieversuchten Verhältnissen zusammentut, daß sein Produkt 
fremde Menschen erfreuen wird? Woher weiß er, was jede Speise 
will? Woher kommt ihm die Erkenntnis, daß dieses zu jenem 
nicht paßt, wo er als Esser doch nur wenig Erfahrung hat? 
Wenn das nicht Genialität ist, dann ist es nichts. Ein großer 
Koch bekennt sich meist auch entschieden zur Theorie des l'art 
pour l'art. Das tat der alte Frederic in der nun kläglich ge- 
sunkenen Tour d'Argent. Er bediente keinen persönlich, der ihm 
nicht angelegentlichst empfohlen war, blickte im Ganzen auf seine 
Kunden herab, wie der Maler auf sein Publikum, und empfing 
mich, als ich das erstemal bei ihm einkehrte, mit der Bemerkung, 
er habe tagszuvor einem Besucher die Tür gewiesen, der zu einem 
gewissen Gericht Burgunder zu bestellen gewagt hatte. . . . 
Und der Feinschmecker — ist nicht auch er im idealsten Sinne 
kunstverständig? Zweifelsohne überschätzt die Menschheit die 
Bedeutung von Gesicht und Gehör. Ein Sinn ist so gut wie ein 
anderer ; es kommt darauf an, was man durch ihn erreicht. Ich 
kann mir denken, daß sich durch Nase und Mund eine vollkommene 
Weltanschauung gewinnen ließe, die in ihrer Sprache dasselbesagte, 
wie die Mystik Meister Eckeharts. Uns Menschen ist dies versagt, 
weil auch beim größten der Köche der Geschmackssinn nie den 
Chinesische Tafelfreuden. 389 
Hauptsinn bedeutet. Doch die Tiere, bei welchen dies der Fall ist, 
denen die Nase den Fernsinn bedeutet, wie den Hunden und 
Hirschen, dürften dessen im Prinzip wohl fähig sein. Man miß- 
verstehe die Lage der Dinge nicht: wenn bei uns der Gourmet 
als Typus unter dem Denker steht, so liegt das nicht an dem, 
daß er seinem Gaumen lebt, sondern daran, daß dieser allzu be- 
schränkte Erkenntnis vermittelt. Auch das Denken führt nur aus- 
nahmsweise zum Höchsten; ja die meisten macht es oberfläch- 
licher, materieller, als sie es ohnedem geworden wären. 
Überaus genußreiche Stunden habe ich in diesen Gasthäusern 
verbracht. Die chinesische Küche ist exquisit, vom künstlerischen 
Standpunkte betrachtender französischen gleichwertig. Einmal 
wurde uns sechs Male hintereinander Ente vorgesetzt, und die 
Zubereitung war so fein kontrapunktiert, daß es nicht als Wieder- 
holung wirkte ; während ich als technisch höchste Leistung eine 
Speise bewundern muß, die vorzüglich aus marinierten Quallen 
bestand. Wie diese unsubstanziellen Geschöpfe fixiert werden 
konnten, begreife ich nicht. . . . Freilich verwenden die Chinesen 
Materialien, welcher unsereiner nicht gewohnt ist. Aber das 
spricht nicht gegen sie; jede Gewohnheit ist Sache der Konvention 
und jedes Haften an Gewohntem Beschränktheit. So schäme ich 
mich des, daß ich anfangs vor einem Gerichte Maden Grauen 
verspürte, das sich nachher als überaus wohlschmeckend erwies. 
Wenn ich nur nicht gar so viel zu trinken hätte! aber nie 
errate ich die Charaden, die mir beim Mahle aufgegeben 
werden, und die Landessitte verlangt, daß der also Ver- 
sagende mal für mal den Becher Reisweins bis zur Neige leert. 
Und das währt Stunden hindurch. Gang folgt auf Gang, Cha- 
rade auf Charade, und nie werden die Herren es müde, im Scharf- 
sinn miteinander zu wetteifern. Da schneidet unsereiner kläg- 
lich ab. Das Erraten chinesischer Rätsel setzt einen Feinsinn 
voraus und eine Fähigkeit, aus Andeutungen unmittelbar das ganze 
herauszuhören, die wohl keiner besitzt, dessen Kombinationsver- 
mögen durch andauernde Beschäftigung mit der chinesischen Schrift 
nicht bis zur Unwahrscheinlichkeit durchgebildet ward. Denn un- 
wahrscheinlich ist es, was meine Gastfreunde wie spielend leisten. 
Oft liegt die Lösung eines Rätsels im Bezug eines hingeworfenen 
390 Chinesisches Gefühls- und Liebesleben. 
Worts auf eine unwichtige Stelle in den Klassikern: ohne weiteres 
wird sie gefunden, und meist von mehreren zugleich. Wer mit 
dem Stoff so zu spielen weiß, mag noch sehr ein Schrift- 
gelehrter sein — er ist gleichzeitig ein lebendiger Geist. Ja, lebendig 
sind diese Herren, und seien sie noch so würdige Glieder der Han- 
lin-Akademie. Lustig blinken ihre ausdrucksvollen Augen, uner- 
müdlich scheinen sie beim Zechen, und ihr Lachen ist so an- 
steckend, so werbend, daß ich mitlache auch wo ich nicht weiß 
warum. 
Ein berühmter Doktor erzählt, wie er sich einstmals in ein 
Singsangmädchen verliebt habe; zuletzt sei ihm das Leben ohne 
sie unmöglich geworden; und wie seine würdige Gattin bald 
darauf starb, habe er das Mädchen heimgeführt. Nun sei sein 
Haus ein Paradies. Während er seinen ernsten Studien obliege, 
werde er doch stets von zwitscherndem Frohsinn umgeben, und 
der erst mache seinen Ernst ganz produktiv. — Es leuchtet 
feucht in den Augen des alten Herrn. Nein, gefühllos sind die 
Chinesen nicht. 
Wie mag die Legende der chinesischen Gefühllosigkeit nur auf- 
gekommen sein? Nie habe ich lebhafter sprechen und herzlicher 
lachen gehört. Der ungebildete Europäer beurteilt den, welcher 
Herr seiner selbst ist, gleich als dürr und kalt; was ja auch dem 
Engländer widerfährt. Die Wahrheit ist, daß der Beherrschte 
seine Fähigkeiten potenziert, wie denn das englische Gemütsleben 
nicht schwächer, sondern intensiver (wenngleich ärmer) ist, als das 
des Deutschen. Wozu das weitere tritt, daß nur der, wer sich 
wirklich besitzt, sich auch wirklich hingeben kann. Die Chinesen, 
welche nichts außer Gleichgewicht bringt, wissen eben deshalb 
auszuspannen. Dann aber strömt ihre Laune über und tausend 
Quellen sprudeln auf einmal hervor. 
Die Chinesen empfinden nicht weniger tief und reich, nur 
anders als wir. Wenn christliche Nächstenliebe ihnen fehlt, so 
besitzen sie dafür ein Zusammenhangsgefühl, wie wir es nicht 
kennen; unsere Sympathie ersetzt Hochkultur der Ehrfurcht; 
wenn sie sich gelegentlich hart, verschlagen und grausam er- 
weisen, so sind sie im Ganzen doch viel zahmer als wir 
Abendländer, zu denen sie sich — der Vergleich stammt von 
Ku-Hung-Ming — nicht viel anders wie Haus- zu Raubtieren 
verhalten. Wir kommen ihnen typischerweise herzlos, roh und 
Individualistische Auffassung des Eheproblems ein Mißverständnis. 391 
grausam vor; von ihren Voraussetzungen aus haben sie wohl 
recht. Aber im gleichen Sinne Recht haben wir, wenn uns ihr 
Gemütsleben in mehreren Hinsichten dürftig scheint. Liebe in 
unserem Sinn z. B. kennen sie sicher nicht. Ich gedenke des 
berühmten Romans P'ing - Chan -Ling- Yen, in welchem kalli- 
graphisches Können recht eigentlich die Rolle eines Liebestrankes 
spielt, jener „weidenbestandenen Straßen" (der Freudenviertel), 
in deren Grenzen sich weitaus der größte Teil chinesischen Liebes- 
lebens abspielt: den meisten Chinesen bedeutet Liebe ungefähr 
das, wie dem Menschen des europäischen Altertums. Noch dem 
heiligen Augustin waren die Stimmungen unbekannt, die wir 
heute als für das Lieben wesentlich ansehen. Er wußte wohl vom 
Begehren, vom Genuß, von der animalischen Freude an der Nähe; 
auch wohl vom spezifischen geistigen Charme, von der an- 
regenden Kraft, die Frauen ausstrahlen. Aber von der Liebe 
eines bestimmten Weibes um seiner selbst willen hatte er keinen 
Begriff. Immerhin: wieviele unter uns sind des Liebens in diesem 
höchsten Sinne fähig? Das meiste von dem, wovon wir glauben, 
daß es uns hinaushebt über die übrige Menschheit, besitzen wir 
nur in der Idee. . . . 
Meine chinesischen Freunde sind skandalisiert darüber, daß 
ich keine Absicht zum Heiraten bekunde: „Sie sind doch 
kein Wolf, kein reißendes Tier, daß Sie sich über die uni- 
versale Ordnung hinwegzusetzen wagen !" Ich erwidere ihnen, daß 
ich längst geheiratet hätte, wenn ich als Chinese auf die Welt 
gekommen wäre, oder auch, als Europäer, in dem Fall, wenn 
das Problem sich bei uns vergleichbar stellte. Aber heute tut es 
das nicht. Was selbstverständliche Gattungsfunktion sein sollte, be- 
deutet uns ein individuelles Problem, und der, dem die Ehe kein 
solches sein kann, weil sein Bewußtsein in den Gattungsinstinkten 
nicht dauernd zentrierungsfähig ist, der heiratet dann nicht. 
Allen Ernstes: die neue individualistische Auffassung des Ehe- 
problems bedeutet ein Mißverständnis, steht dem Prinzip nach unter 
der asiatischen. Die Fortpflanzung ist Gattungsangelegenheit, sollte 
dergestalt geregelt werden, daß individuelle Velleitäten nicht ent- 
schieden. Das Problem stellte sich anders, wenn zwischen diesen 
und dem Besten der Gattung ein notwendiger Zusammenhang be- 
392 Nachteilige Wirkung des Ideals der vollkommenen Ehe. 
stände ; aber ein solcher liegt nur ausnahmsweise vor. Es ist leider 
nicht wahr, daß die Kinder der Liebe notwendig wertvolle Kinder 
wären — jedem Bastard, der Genie besessen hat, stehen tausend 
Minderwertige gegenüber; es ist leider nicht wahr, daß die Natur 
sich, wie Schopenhauer behauptet, der Neigung als Mittels be- 
dient, um ihre höheren Zwecke zu erreichen — denn höhere 
Zwecke kennt sie nicht; ihr liegt gar nichts an der Ver- 
edelung des Menschengeschlechts. Wohl scheint Inkompatibilität 
der Gatten — und auch dieses ist nicht einwandfrei erwiesen — 
auf die Nachkommenschaft einen ungünstigen Einfluß auszuüben ; 
sicher bürgt leidenschaftlichste Zuneigung nicht dafür, daß die 
Kinder gut geraten werden. Individuum und Gattung decken sich 
nicht in concreto, sie stehen zueinander vielmehr in Polaritäts- 
verhältnis: jenes steigert sich auf Kosten dieser, welche ihrer- 
seits auf Kosten jenes gedeiht; dies ist der Sinn der wohl- 
bekannten Tatsachen, daß große Männer selten Nachkommen 
hinterlassen und die Geschlechter am spätesten entarten, in denen 
der Typus den Einzelnen beherrscht. Von dieser Erkenntnis aus 
sollte das Eheproblem in Angriff genommen und gelöst werden. 
In Asien geschieht dies noch. Nichts könnte weiser sein, als das 
Heiraten als selbstverständliche Pflicht hinzustellen, der sich keiner 
entziehen darf, bei deren Erfüllung der Wunsch des Einzelnen nicht 
in Frage kommt, sondern ausschließlich das Wohl des Geschlechtes ; 
denn auf diese Weise wird zweierlei auf einmal erreicht: erstens 
die sichere Fortdauer der Rasse unter günstigsten Verhältnissen; 
hier sieht die Familie immer klarer als der persönlich interessierte 
Einzelne. [ Daß die Heiratsvermittler ein gutes Auge haben, 
geht unzweideutig aus der unerhörten Langlebigkeit der Familien 
im Osten hervor, und aus der Seltenheit des Phänomens der De- 
kadenz. ] Zweitens aber wird durch diese grundsätzliche Ent- 
scheidung des Eheproblems der Nichtberücksichtigung individueller 
Gefühle alles Odium von vornherein benommen. Wenn das Heiraten 
als selbstverständliches Stadium auf dem Lebenswege gilt, dann 
spielt es im Bewußtsein des Einzelnen kaum eine Rolle; er stellt 
sich gar nicht die Frage, ob er „wirklich" ganz glücklich sei, kann 
daher auch nicht ganz unglücklich werden und die typischen Vor- 
teile des Ehelebens werden ihm auch so zuteil: er hat ein Heim, 
entbehrt der Ruhelosigkeit dessen, dessen Gattungstriebe un- 
befriedigt blieben, sein Bewußtsein wird weit an der Sorge um 
Oberflächlichkeit der europäischen Liebesauffassung. 393 
die Nachkommenschaft. Diese typischen Vorteile sind für den 
Einzelnen immer die Ausschlaggebenden, auch wenn er die Ehe 
unter rein individuellen Gesichtspunkten schloß. Wo sind also die 
Nachteile des asiatischen Systems? — Diese liegen freilich auf 
der Hand: eine vollkommene Ehe im europäischen Sinn kommt im 
Fernen Osten kaum vor, jenes fortdauernde Wachsen aneinander. 
Aber hier gilt es großzügig denken: sind solche Ehen etwa zahl- 
reich unter uns? Ich habe nur ganz wenige gesehen, desto häufiger 
aber bemerkt, daß das Ideal der vollkommenen Ehe die Beteiligten 
herabgemindert hat. Wenn Gatten sich einbilden, für einander 
geschaffen zu sein, ohne daß sie es sind, dann wachsen sie nicht, 
sondern verkümmern aneinander; ihr Bewußtsein idealisiert, was 
nicht idealisiert werden dürfte, hausbackene Ideale bestimmen die 
ganze Lebensführung und aus dem Aar wird ein Täuberich. Des- 
wegen steht der verheiratete Mann unter uns so häufig niedriger 
als der ledige, ist sogar die Frau oft weniger als das Mädchen, 
was doch widernatürlich scheint. Der Chinese, dem der Ehestand 
kein Ideal, sondern das schlechterdings Selbstverständliche be- 
deutet, und der sich dabei, mit dem ihm eigenen Sinn für die 
Naturordnung, meist als vorzüglicher Vater und Gatte bewährt, 
wird durch das Verheiratetsein niemals herabgemindert. Ich schrieb 
einmal: „wer sich fortsetzt, verzichtet auf seine Person"; das gilt 
auch vom Chinesen; aber dieser gibt so wenig Preis, als sich preis- 
geben läßt. Da sein Eheleben ihm ein Selbstverständliches dünkt, 
so schlägt es sein Bewußtsein nicht in Bande. Wiewohl er der 
Gattung mehr Rechte zugesteht als wir, ist sein individuelles Be- 
wußtsein von Gattungsmotiven freier. 
Dieses wäre denn wohl der entscheidende Punkt, der gegen 
unsere Auffassung des Eheproblems anzuführen ist: indem wir 
einerseits eine Gattungsangelegenheit zur persönlichen hinauf- 
heben, ziehen wir andererseits das emanzipierte persönliche Be- 
wußtsein in das der Gattung wieder hinüber. Der Erfolg ist 
absolut negativ. Die Gattung erhält sich schlecht bei uns, 
degeneriert oder stirbt aus, und der Einzelne ist dabei weniger 
frei, als im Osten. Es ist doch ein arges Mißverständnis, in 
der so außerordentlich individualisierten modernen Erotik z. B. 
einen Beweis potenzierten Selbstbewußtseins zu sehen: hier er- 
scheinen vielmehr generelle Triebe wie krampfhaft in die Sphäre 
des Selbstbewußtseins hinaufgehoben, welch' letzteres seinen 
394 Liebe gilt immer Typischem; der höchstdenkbare Zustand. 
eigenen Charakter entsprechend verliert. Individualisiertheit in 
diesem Sinn ist kein Zeichen der Emanzipiertheit. Neulich kam 
mir ein französischer Roman in die Hände: ich kann kaum 
sagen, wie flach, gegen den Hintergrund des Orients betrachtet, 
die typisch-westliche Liebesanschauung wirkt; die Liebe zu einem 
bestimmten Sinnenwesen der Sinn des Lebens Das ist ein arges 
Mißverständnis, selbst im Fall der geläutertesten, beweist Ober- 
flächlichkeit sogar im Fall der tiefsten Neigung. „Nicht um des 
Gatten willen ist der Gatte lieb, sondern um des Selbstes willen", 
lehrt die Upanishad und sie, nicht die westliche Romantik ist im 
Recht. Freilich kann ein bestimmter Mensch einem anderen der 
Exponent des Höchsten sein — hierauf beruht die mögliche Gött- 
lichkeit der Gattenliebe — aber diese an sich bleibt reine Gattungs- 
sache, die zur persönlichen zu machen nur auf Kosten der Persön- 
lichkeit gelingt. Übrigens wird, wer das Generelle individuell auf- 
faßt, durch alle Erfahrung eines besseren belehrt. Die meisten 
geistig bedeutenden Männer klagen, daß sie von den Frauen als 
solche nicht gewürdigt werden, sondern nur als „Berühmte" 
schlechthin, oder als Produktive, als Potente, und ebenso klagen 
hochbegabte Mädchen, daß die Männer an ihnen nur das Typische 
schätzen. In der Geschlechtsliebe äußert sich eben die Gattung; 
eine persönliche Zuspitzung dieses Triebs bedeutet, metaphysisch 
betrachtet, ein Mißverständnis. Solche Zuspitzung kommt im Osten 
nur selten vor. Deshalb hat die Liebe dort selten so schöne Blüten 
getrieben, wie bei uns; nur wo ihr Sinn überschätzt wird, sprießen 
sie, und persönlich würde ich sie ungern missen. Aber ich bin zu 
ehrlich, um meine Vorliebe objektiv zu rechtfertigen: ich weiß 
vielmehr, daß die Stellung des östlichen Weisen, welcher der 
Gattung gewährt, was ihr gebührt, sein Selbstbewußtsein jedoch 
in anderen Sphären gründet, die höhere und förderlichere ist. 
.... Ich überlese, einen Tag später, das Geschriebene wieder: 
es ist freilich mehr in der Idee als praktisch richtig, denn darüber 
besteht kein Zweifel, daß unser Familienleben über dem chinesischen 
steht, wegen unseres tieferen Begriffs von Menschenrechten über- 
haupt und im besonderen der Würde der Frau. Aber ideell trifft 
es zu. Unsere nächste Aufgabe wäre, auf unserer höheren Indivi- 
dualisiertheitsstufe die Grundbeziehung zwischen Generellem und 
Individuellem wieder herzustellen, welche im Orient besteht. Der 
Die Ehe der Zukunft; der chinesische Klassizismus. 395 
Fortbestand der Art darf dem Caprice der Neigung nicht dauernd 
anheimgestellt werden, denn dies führte mit Unvermeidlichkeit 
zum Rassentod. Wohl sind die Zeiten dahin, wo Mann und Weib 
gleich Tieren durch fremden Willen einander zugeführt werden 
konnten, aber sie müssen nun lernen, aus freier Wahl zu tun, was 
vormals für sie getan wurde. Sie müssen lernen, aus persönlichen 
Voraussetzungen heraus Gattungsangelegenheiten als solche zu be- 
treiben, sie müssen verlernen, aus individuellen Neigungen, die sie 
sonst freilich ausleben mögen, Konsequenzen zu ziehen, die das 
Überindividuelle schädigen könnten. Es ist ein allgemeiner Zustand 
denkbar, wo Mann und Weib so weit entwickelt wären, daß sie 
unwillkürlich zwischen ihrem persönlichen und ihrem Gattungs-Iche 
schieden und ebendeshalb zwischen beiden vollkommenen Einklang 
herzustellen wüßten. 
Heute endlich ist der Geist des chinesischen Klassizismus 
über mich gekommen. — Zum Geist einer lebendig- 
gewordenen Kultur gibt es keinen Zugang von außen 
her, er ist eine Monade ohne Fenster; wen er nicht besessen 
hat, der ergreift ihn nicht. Und er erscheint desto ausschließlicher, 
je mehr das Wort in ihm zu Fleisch geworden ist. Den Prote- 
stantismus zu verstehen, gelingt zur Not noch ohne Bekehrung; 
den Katholizismus versteht nur der, welcher in gewissen Stim- 
mungen zum mindesten katholisch empfunden hat; im gleichen 
Sinn ist die französische Kultur ein Abgeschlosseneres als die 
deutsche. Und nun gar die chinesische ! Wenn irgendeine schein- 
bar abstrakte Wesenheit den Anspruch auf konkrete Wirklichkeit 
erheben darf, dann ist es der „Geist" dieser Kultur. Er ist etwas 
dermaßen selbständiges, daß die Individuen, die er beseelt, kaum 
mehr Individuen sind: sie wirken als bloße Repräsentanten. — 
Was ich als äußere Anschauung schon oft erfahren hatte, das 
widerfuhr mir heute früh nun selbst, als ich in Begleitung eines 
Schriftgelehrten im Tempel Kung Fu Tses weilte. 
Im Vorhofe dieses Tempels, den die Seelentafeln aller Weisen 
des Landes zieren, sind seit der Yüan-Dynastie die großen Staats- 
prüfungen abgehalten worden, und der Name jedes, der sie mit 
Ehren überstand, steht auf steinerner Tafel verewigt. Nebenan, in 
lauschiger Halle, sind die Werke der neun Klassiker dem dauer- 
396 Der chinesische Klassizismus. 
haften Marmor eingeprägt. Eben dort pflegte der Kaiser alljähr- 
lich seine eigenen Gedichte vorzulesen. Es weht eine Atmosphäre 
der Kultur an dieser Stätte, wie ich sie gleich intensiv meines 
Wissens nie eingeatmet habe. Unaufhaltsam drang sie durch 
meine Poren ein. Und indem ich mich in die Seele des Literaten 
hineinversetzte, der mir mit ehrfurchtbebender Stimme die Denk- 
mäler und Inschriften erläuterte und hie und da, mit begeistert 
leuchtenden Augen, berühmte Stellen aus den Klassikern vorlas, 
beschwor ich den Geist, nach dem ich fahndete. 
Welch' einzigartiger Geist! Es ist, so unerwartet dies klinge, 
der leibhaftige Geist der klassischen Philologie, und doch kein 
blasses Schemen, sondern ein ganz substantielles Gebilde, mit das 
dichteste, das mir in dieser Sphäre seit lange begegnet ist; seine 
Densität scheint mir erheblich größer, als die des Literaten, der 
mir zum Mittler dient. Hier ist also der Geist einer bestimmten 
literarischen Tradition tatsächlich zur Seele einer lebendigen 
Menschenklasse geworden. Ich mag mich wenden wohin ich will, 
welche Saite ich immer will meines Wesens zum Anklingen bringen : 
er läßt mich nicht los. Alles erfahre ich als Ausdruck, Erläuterung, 
Ergänzung oder Illustration der klassischen Weisheit, und zwar in 
der Form, welche diese stilistisch auszeichnet. Und seltsam: ich 
sollte mich beengt fühlen, tue es jedoch nicht; mir ist, als seien 
meine Erfahrungsmöglichkeiten durchaus nicht eingeschränkt; sie 
erscheinen nur wie anders gefärbt. — Aber nein: natürlich bin 
ich eingeschränkt, nur kann ich es nicht mehr spüren; ich habe 
mein normales Bewußtsein gegen ein anderes eingetauscht; und 
sollte als Philosoph doch wissen, daß die Rose von ihrem Stand- 
punkte zu übersehen außerstande ist, inwiefern sie unter dem 
Veilchen steht. Nur soviel kann ich unmittelbar erkennen, was 
der objektiven Kritik standhalten dürfte: ich bin ungeheuer viel 
eindeutiger als sonst; auf alle Eindrücke reagiere ich einem ein- 
heitlichen Plane gemäß, alle Einfälle entspringen einem identischen 
Quell und beim Ausdruck zumal empfinde ich gar kein Zögern: 
wo ich sonst nach entsprechenden Formen mühsam suche, bilde 
ich mich jetzt instinktiv den überkommenen ein, und habe dabei 
das Bewußtsein, mich durchaus eigentlich, originell und persönlich 
auszudrücken. 
Das ist ein sehr bedeutendes Erlebnis. Generell ist es mir 
nicht neu: der Geist des Katholizismus besitzt einen in eben dem 
Der chinesische Klassizismus. 397 
Sinne; auch er gibt dem Bewußtsein weniger neue Inhalte, als daß 
er eine neue Bewußtseinsform erschafft, auch er ist so alldurch- 
dringend, daß er jede einzelne Seelenregung ergreift; auch er ver- 
mag es, alles Persönliche in objektive Formen hineinzuleiten, so 
daß ein noch so freier Geist sich durch die Dogmen nicht not- 
wendig beengt fühlt und der Spontanste, Lebendigste nicht 
selten an der Observanz überkommener Riten sein persönlich-ent- 
sprechendstes Ausdrucksmittel findet; auch er schafft recht eigent- 
lich eine besondere Menschenart. Aber beim Katholizismus er- 
scheint dies verständlicher, denn dessen Geist stellt einen hoch- 
entwickelten und so allseitig und fein differenzierten Organismus 
dar, daß er die Möglichkeiten des reichsten Individuums in sich be- 
greift. Der des chinesischen Klassizismus hingegen ist arm zu nennen ; 
der zugrunde liegenden Wurzelideen sind wenige und der Stamm 
ist wenig verzweigt und undicht ausgeschlagen. Wie kommt es, 
daß ich mich trotzdem nicht arm fühle, daß der chinesische Literat, 
potentiell wenigstens, ein Vollmensch ist? denn das ist der Puritaner 
nicht, das Kind eines gleich armen Geistes, das ist auch nicht der 
Buddhist, vom europäischen klassischen Philologen ganz zu 
schweigen, der im übrigen zum gleichen Genus gehört, wie der 
chinesische Literat. — Es liegt wiederum an dem, was ich wieder 
und wieder als das Hauptmerkmal östlicher Weisheit erkenne: 
an der Konzentration, der sie ihren Ursprung verdankt, und an der 
Konzentration, mit der sie studiert wird. Die Lehre der chinesischen 
Weisen ist karg und einsilbig nicht, weil sie ausschließt, sondern 
weil sie verdichtet; ihre Sätze stellen, so aufgefaßt, wie ein ge- 
bildeter Chinese sie versteht, die Essenz aller nur möglichen Er- 
scheinung erschöpfend dar. Und das gilt vom Ausdruck wie vom 
Sinne. Je tiefer ein Verhältnis erfaßt wird, desto näher gelangt 
man dem Schnittpunkt der Koordinaten, die zu seiner Bestimmung 
dienen, desto weniger Begriffe kommen in Frage. Bei unserer 
arithmetischen Ausdrucksweise (in der wir notgedrungen auch die 
chinesische Weisheit darstellen), tritt das nicht immer deutlich 
an den Tag; bei der algebraischen der Chinesen liegt es auf der 
Hand, so daß der klassische Ausdruck als einzig-möglicher erscheint 
vom Standpunkte jedes, welcher den Sinn erfaßt hat. Dieses aber 
ist ja das Ziel und der Erfolg der spezifisch-chinesischen Schul- 
bildung. Uns klingt es grotesk, daß einer zehn bis zwanzig Jahre 
beim Studium des Konfuzius allein verbringen soll: er studiert 
398 Bedeutung der klassischen Philologie. 
eben nicht auf unsere Weise; er meditiert jeden einzelnen Satz, bis 
daß der Sinn sein Innerstes durchdrungen hat, und ist er dann am 
Ziel, so heißt das nicht, daß er den Konfuzius in unserem Sinne 
begriffen, sondern daß der Geist des großen Lehrers von ihm 
vollkommen Besitz ergriffen hat, gleich wie eine große Leiden- 
schaft vom Menschen Besitz ergreift. Damit erhält denn das Philo- 
logische einen neuen Sinn. Wenn der Geist einer Kultur als 
besessen vorausgesetzt werden darf, dann kommt wirklich nichts 
anderes in Frage, als alle Aufmerksamkeit dem Ausdruck zuzu- 
wenden, und wo dieser in der klassischen Literatur vollendet vor- 
liegt, ist philologisches Studium tatsächlich das Tor zur Humanität. 
Unsere Philologen erkennen europäisch-klassischen Studien die 
gleiche Bedeutung zu; auch sie behaupten, der klassisch Gebildete, 
der des Lateinischen und des Griechischen Mächtige, der Kenner 
des Cicero, sei allen Aufgaben des Lebens gewachsen. Aber für 
Europa ist das nicht mehr wahr. Der Geist Griechenlands und 
Roms ist gar nicht unser Geist, sondern sein Vorfahr; und so 
vollendet er war, anderen hilft er nicht zur Vollendung, wie der 
chinesische dies tut, weil er nicht gleich tief wurzelt. Dieser 
verkörpert den Sinn gleichsam an sich, jenseits aller Erscheinungs- 
form, jener in Gestalt eines bestimmten Phänomens, welches quali- 
tativ verschieden ist von dem, das unser Dasein abgrenzt. Deshalb 
kann der klassische Philolog im heutigen Europa kein Vollmensch 
sein, ist dort klassische Bildung nicht unumgänglich zur vollendeten 
Ausbildung der Persönlichkeit und wenig nütze zur Meisterung 
des Lebens, so wertvoll ihr Besitz sonst sei. In China macht sie 
den Menschen vollendet und überdies zum praktischen Leben ge- 
schickt. Mit Recht wurden bis zur großen Revolution alle Staats- 
posten von Doktoren der Philologie besetzt, galt Bestehen der 
literarischen Staatsprüfungen als absoluter Befähigungsnachweis. 
Der Chinese, der den Geist seiner Klassiker innerlich aufgenommen 
hatte, war dem alt-chinesischen Leben in allen seinen Äußerungen 
im selben Sinn gewachsen, wie in Amerika der, welcher bei sonst 
noch so mittelmäßigen Kenntnissen vom Geist der Initiative 
durchaus besessen ist. 
Aber freilich : dieser Geist ist ein erwachsener, fertiger Orga- 
nismus; er kann sich fortpflanzen, betätigen — erneuern 
kann er sich nicht mehr; dem China, das nicht die Welt 
in sich beschließt, wird er nicht mehr zum Heile gereichen. 
Der Chinese ein Philister ; Ku> Hung-Ming. 399 
Und dann ist er, bei allen seinen Vorzügen, allzusehr ein Geist 
der Philistrosität. Wenn der Philolog, der Schriftgelehrte, der 
Literat von einer Nation als Idealtypus verehrt werden kann, dann 
müssen die Eigenheiten dieser Menschenart irgendwie auch vom 
Wesen gelten. So ist es. Ich versenke mich in den Geist, der 
mich besitzt: ja, er ist unbeugsam, pendantisch, starr, altklug und 
schrullenhaft. Mein Bewußtsein ist das eines Schulmeisters, oder 
genauer, eines streberischen Musterschülers, welcher stolz auf sein 
Angeeignetes ist. Heute könnte ich nichts Leichtsinniges vornehmen, 
unmöglich mich verlieben, es sei denn in eine Musterschülerin ; 
nimmer wagte ich's, einen Gedanken zu verfolgen, dessen Richtung 
nicht durch Autorität gewiesen wäre, der Sinn unabhängig vom 
Wort interessiert mich nicht. Und das schlimmste dabei ist, daß 
ich mir in dieser Gestalt sehr wohl gefalle, daß es mich gar nicht 
hinausdrängt aus den Schranken meines Philistertums. — Ja, ja, 
die Tiefe, die sich einmal ausgeprägt hat, ist eben damit zur Ober- 
fläche geworden. Eine kurze Zeit über erscheint diese dadurch 
vertieft, bald aber findet eine intime Umwandlung statt, dank 
welcher sie wiederum verflacht; der Geist, der sich dem Buch- 
staben erst einbildete, löst sich nun auf in ihm. So ist die Be- 
deutung jedes Kulturwerts letzthin eine Frage der Zeit. Dem 
Chinesen, dem es ums Ewige zu tun ist, muß es drum näher als 
allen anderen Menschen liegen, alle Gestaltung überhaupt zu ver- 
leugnen. 
Y'iele Stunden jedes Tages verbringe ich mit Ku Hung-Ming 
und dessen Freunden und Anhängern. Der Mann ist über- 
aus geistreich und so feurigen Temperamentes, daß ich 
manchesmal an einen Romanen gemahnt werde. Heute setzte er des 
Langen und Breiten auseinander, wie unrecht die Europäer, und 
besonders die Sinologen täten, die chinesische Kulturentwickelung 
ganz für sich, ohne Vergleich mit der okzidentalischen, zu be- 
trachten: denn tatsächlich seien beide nach einem identischen 
Schema abgelaufen. In beiden habe es ein gleichsinniges Alter- 
tum und Mittelalter gegeben, Renaissance und Aufklärung, 
Reformation und Gegenreformation, in beiden hätten Hebrais- 
mus und Hellenismus (um mit Matthew Arnold zu reden), 
Rationalismus und Mystizismus abwechy ilnd vorgeherrscht; ja, die 
400 Chinesen und Europäer verglichen ; warum alle Geschichte kurz ist. 
Parallele ließe sich bis ins Einzelne verfolgen: so hätte es z. B. 
auch in China einen Bayard gegeben. Ich kenne die chinesische 
Geschichte nicht genügend, um die Stichhaltigkeit der Ver- 
gleiche nachzuprüfen und habe Ku Hung-Ming, gleich den 
meisten seiner Landsleute, im Verdacht, einem etwas zu billigen, 
an den süditalienischen gemahnenden Intellektualismus zu hul- 
digen. Aber soviel ist allerdings wahr: alle historischen Zustände 
sind durch besondere Umstände bedingte Sondererscheinungen der 
einheitlichen Naturformen des Menschenlebens, und da die mög- 
lichen Konstellationen von Umständen um einige wenige Typen 
herumschwanken, deren Folge einer Regel unterworfen scheint, so 
kann es nicht fehlen, daß alle Völker von vergleichbarer Anlage 
auch durch vergleichbare Stadien hindurchgehen. Nun sind West- 
Europäer und Chinesen durchaus vergleichbar; sie gehören in 
einer wesentlichen Hinsicht einem identischen Grundtypus an, dem 
des Ausdrucksmenschen, zu dem die Inder z. B. und die Russen nicht 
gehören. Also kann es nicht fehlen, daß sich in der Geschichte 
Parallelen nachweisen lassen. Immerhin stehe ich dem Wert sol- 
cher Vergleiche recht skeptisch gegenüber. Die Zeit mag einsinnig 
sein an sich selbst — sicher ist sie es nicht in bezug auf den 
Menschen; die Chinesen sind langatmig, wir kurzatmig, uns ist die 
Bewegtheit, jenen die Ruhe der Normalzustand: wie soll man 
da gegenständlich vergleichen? Wir brüsten uns unseren schnellen 
Fortschreitens: eben dank dem werden wir vielleicht auf immer 
Barbaren bleiben, da Vollendung nur innerhalb eines gegebenen 
Rahmens möglich ist und wir den unserigen fortwährend 
wechseln. Auch halte ich es noch nicht für ausgemacht, daß wir 
lange im gleichen Tempo fortschreiten werden: jede Lebens- 
richtung ist innerlich begrenzt, auch wir werden irgendeinmal 
am Ende sein, und wahrscheinlich früher als wir denken. Oft 
habe ich, zumal in, Indien, das Urteil vernommen: da alle Kulturen, 
die wir nachweisen können, in relativer Höhe anheben — und das ist 
richtig — so müßte als Grundlage derselben eine außerordentlich 
lange Zeitspanne langsamen Aufsteigens vorausgesetzt werden. 
Mitnichten. Jedem geistigen Einfall sind seine sämtlichen Konse- 
quenzen nicht nur in der Theorie, sondern de facto eingebildet ; sie 
drängen ins Aktuelle hinaus, verkörpern sich, wo der Stoff es nur 
irgend erlaubt, so daß, sobald der Geist überhaupt in Bewegung 
gerät, der Prozeß mit großer Geschwindigkeit abläuft. Daher 
Kungfutse und Lautse als Antipoden. 401 
kommt es, daß, wo das Bewußtsein schlummert, Äonen vergehen 
mögen, bis irgendetwas Neues geschieht, sei es im Urzustand oder, 
wie in China, auf einer bestimmten einmal erreichten Kultur- 
höhe; wo es aber einmal erwacht ist, die Entwickelung ungeheuer 
schnell verläuft. Wie lange hat es gewährt vom Erwachen des 
Griechengeistes bis zu seiner Vollendung? hundert Jahre. Wie 
lange von der Entdeckung des Gleitflugprinzips bis zu seiner voll- 
endeten praktischen Anwendung? keine zehn. Im gleichen Sinn 
mag es wohl sein, daß auch wir demnächst am Ende sein werden, 
Halt machend auf einer Entwickelungsstufe, die derjenigen Chinas 
nicht entfernt so weit voran sein wird, als wir erwarten. Denn 
im modernen Sinne fortschrittliche Menschen sind ja auch wir erst 
seit einem Jahrhundert. 
Ku Hung-Ming läßt übrigens keine Gelegenheit verstreichen, 
wo er Lautse eins am Zeuge flicken kann. Seine Grundthese 
ist die, daß Konfuzius deshalb der sehr viel Größere sei, 
weil er den Sinn ebenso tief verstanden habe wie jener, sich 
aber nicht zurückgezogen habe aus der Welt, sondern in ihrer 
Meisterung seine Tiefe zum Ausdruck gebracht hätte. Wenn Kon- 
fuzius das wirklich gewesen wäre und geleistet hätte, was Ku 
von ihm behauptet, dann wäre er freilich der ungleich Größere. 
Allein das war er nicht. Es scheint den Naturnormen zu wider- 
sprechen, daß ein gleicher Mensch ganz in der Tiefe lebte 
und sich als mächtiger Gestalter der Oberfläche erwiese ; zu jeder 
dieser Aufgaben bedarf es einer besonderen physiologischen Or- 
ganisation und ich wüßte von keinem beglaubigten Fall, wo 
ein Mensch beide in gleichem Maße besessen hätte. Kung 
Fu Tse und Lau Tse stellen die entgegengesetzten Pole möglicher 
Vollendung dar; jener die Vollendung in der Erscheinung, dieser 
die Vollendung im Sinn; jener diejenige im Gestalteten, dieser 
die im Ungestalteten ; daher sind sie mit einem Maße nicht zu 
messen. Aber freilich muß Konfuzius den Chinesen größer er- 
scheinen, weil sie als Nation extreme Praktiker sind und insofern 
zum Tiefen als solchen kein unmittelbares Verhältnis haben. Je 
mehr ich von den Chinesen sehe, desto mehr fällt mir auf, wie 
uninteressant ihre Gedanken sind. Das Denken ist eben nicht ihr 
Eigentliches: ihr Dasein ist der Ausdruck ihrer Tiefe. So ist 
auch Ku Hung-Ming als Mensch viel bedeutender denn als Schrift- 
steller und Denker. 
Keyserling, Reisetagebuch. 26 
402 Alle Chinesen physiologisch Konfuzianer ; der Taoismus. 
Es ist doch wahr: der durchschnittliche Taoist steht tief unter 
dem durchschnittlichen Konfuzianer. Der Chinese, wie er 
sich heute darstellt, ist eben wesentlich (fast möchte ich 
sagen: physiologisch) Konfuzianer; verleugnet er den Geist, des 
Kind er ist, so übt er damit Untreue gegen sich selbst. Das zeigt 
sich schon rein äußerlich an der Brüchigkeit der volkstümlichen 
taoistischen Theorie, selbst wo sie von allen magischen und 
fetischistischen Beimengungen frei erscheint. Heute setzte mir ein 
angesehener Priester auseinander: das Tao sei zwar das Un- 
gestaltete, aber immerhin sei der Sinn der Welt ihre prästabilierte 
Harmonie; so daß Versenkung nicht eigentlich zur Vereinigung mit 
dem schöpferischen Urgrund führt, sondern zum Unisono mit der 
objektiven Weltordnung. Auch dieser taoistische Priester war ohne 
es zu wissen Konfuzianer. Hat man sich einmal mit seinem tief- 
sten Selbst identifiziert, dann weiß man von keiner gegebenen 
Ordnung mehr; vom Atman her stellt sich das vermeintlich-ab- 
geschlossene Dasein als schöpferische Entwickelung dar, und das 
Schöpferische liegt jenseits aller Normen; für jeden Brahmanen 
verstünde sich dies von selbst. Dem Taoisten aber bleibt, trotz 
des Tiefsinns der taoistischen Lehre, die konfuzianische „Harmonie" 
seine Grundidee. Er weiß nur Objektiviertes zu fassen; als reines 
Subjekt erleben kann er nicht. 
Nun scheint mir die spezifische Form des Taoismus überhaupt 
wenig geschickt, einen höheren Menschentypus zu gestalten; sie 
ist zu weit, zu vieldeutig dazu; insofern hat es nicht viel zu 
sagen, daß der taoistische Mönch unter dem buddhistischen sowohl 
als dem christlichen steht. Aber daß alle Chinesen, mit denen ich 
zu verkehren Gelegenheit habe, die Taoisten mit inbegriffen, der 
wundersamen Lehre Lautses so gar kein tieferes Verständnis ent- 
gegenbringen, läßt immerhin auf eine typische Schwäche des Sub- 
jektiven bei ihnen schließen; ihnen fehlt es an metaphysischem 
Bewußtsein. Das befremdet mich nicht. Bei allen Völkern, deren 
typisches Streben auf Konkretion ging, war, in geringerem oder 
höherem Grade, Gleiches der Fall; bei den Hellenen z. B. und 
den Franzosen. Wessen Grundinstinkt die Tendenz zum Ausdruck 
ist, der wird sein Sein wie kein anderer objektivieren, wird je nach 
seinen besonderen Anlagen der größte Künstler, der edelste Mensch, 
das vollkommenste politische Wesen sein, aber verstehen wird er 
Chinesen extreme Ausdrucksmenschen ; Lautse als Narr. 403 
sich nich^ tief; sobald er nachdenkt, gerät er außer sich, und nimmt 
nur das Äußere wahr. So kommt es, daß die Denker der Völker, 
welche die größten Künstler hervorbringen, in der Regel Ratio- 
nalisten sind. Bei den Griechen trat dieses Verhältnis nicht ein- 
deutig zutage, wegen des Dionysischen in ihnen, das gerade im 
Fall ihrer Philosophen dem Apollinischen vielfach die Wage hielt; 
bei den Chinesen äußert es sich in extremer Form, weil eben die 
Chinesen extreme Ausdrucksmenschen sind. Es gibt wohl keine 
innerlichere, tiefsinnigere Kunst, als die von China, aber nirgends 
wirkt das Denken trockener. Wie unerträglich langweilig und dürr 
sind die Reden des Mencius! Unwillkürlich zaubern sie einem das 
Bild des pedantischesten aller Schulmeister vor Augen. In Wahr- 
heit aber war Mencius gewiß ein gar feingebildeter Herr, von 
vollendeter moralischer Kultur, von nuanciertestem Formensinn, 
bei dem alles Äußerliche von innen her beseelt erschien. Nur 
war ihm das Denken kein entsprechendes Ausdrucksmittel; denkend 
konnte er sein Selbst nicht zur Darstellung bringen. 
Das Philosophieren ist den Chinesen gewissermaßen un- 
natürlich, obschon sie von allen Menschen der Welt das philoso- 
phischeste Leben führen; ihre Weisheit äußert sich" in dem, was 
sie lebend darstellen, nicht in den Gedanken, die sie sich über 
das Dargestellte machen. Trotzdem haben sie einige der tiefsten 
Denker hervorgebracht, von denen wir wissen. .Was mögen das 
für Menschen gewesen sein? Ich denke mir, sie hatten viel 
vom Narren und Charlatan; es müssen typische, ja extreme Bei- 
spiele des Zusammenbestehens von großer Weisheit und großer 
Unzulänglichkeit gewesen sein. Wenn der Weise im Tao-Teh-King 
ausruft {Vom Sinn 20, „Abseits von der Menge", nach Wilhelms 
Obersetzung): „ich bin unschlüssig, ohne Zeichen für mein Han- 
deln, wie ein Kindlein, das noch nicht lachen kann ; ich habe das 
Herz eines Toren. Ich bin unruhig, wie das Meer, bin müßig wie 
ein Taugenichts" — so ist das, glaube ich, nicht nur ironisch zu 
verstehen; er wird, mit jenem seltsamen Mangel an Eitelkeit, der 
Chinesen so häufig auszeichnet, ein getreues Bild seiner selbst 
entworfen haben. Jedenfalls gibt es zu denken, daß das chinesische 
Volk, dessen Sinn für menschliche Größe an Sicherheit unerreicht 
dasteht, die taoistischen Weisen mehr als Zauberer denn als 
„Edele" und „Vollendete" fortverehrt. 
26* 
404 Taoistische Heilige ; ein chinesischer Religionsstifter. 
Dennoch könnte es taoistische Heilige gegeben haben, die als 
die größten aller gelten dürften. Im Taoismus liegt eine Über- 
legenheit vorgebildet, wie weder im Buddhismus, noch im Christen- 
tum, noch auch im Brahmanismus : er bezeichnet nämlich das einzige 
Yoga-System, das Vollendung und Seligkeit nicht in Gleichung 
gesetzt hätte. Wie sehr hat es den indischen und christlichen Yogis 
zum Verhängnis gereicht, daß sie ein Zusammenfallen des höchsten 
Zustandes mit dem glückseligsten fordern! diese Erwartung ver- 
eitelte ihr Bestreben, von sich selbst wirklich frei zu werden. 
Glückseligkeit kann nur in Funktion des Egoismus definiert werden ; 
sie ist kein möglicher Zustand dessen, der sein Ich überwunden 
hat. Das haben die Taoisten allein erkannt. Hat es je einen ge- 
geben, der diese Erkenntnis in Leben umzusetzen wußte, so dürfte 
dies wohl der Überlegenste aller Heiligen gewesen sein. 
Wie die Natur aller Schemen spottet! Ich bildete 
mir ein, die Möglichkeiten des Literaten im Geist er- 
schöpft zu haben, und nun begegnet mir ein Mann, 
dessen bloßes Dasein meine Verallgemeinerungen Lügen straft : 
ein Literat mit glühender Seele, von sublimiertester Spiritualität! 
In China wie überall sind viele Schwarmgeister heute damit be- 
schäftigt, eine neue Weltreligion ins Leben zu rufen, und hier, 
wie überall, sind diese Propheten meist uninteressant. Es sind 
Gelehrtennaturen, welche die (vermeintliche) Erkenntnis des ein- 
heitlichen Sinnes, der allen höheren Religionen zugrunde liegt, 
berauscht hat, und die daraufhin, anstatt harmlose Lehrbücher 
der vergleichenden Religionskunde zu schreiben, als Weltver- 
besserer auftreten. Der Mann nun, mit dem ich diesen Nach- 
mittag verbrachte, ist von echter Religiosität beseelt; er er- 
innert in vielem an Calvin, nur — was in China allein wohl mög- 
lich scheint — durch manchen franziskanischen Zug besänftigt. Er 
sieht das Grundgebrechen Chinas in eben dem, was jedem nach- 
denklichen Besucher als erstes auffällt: daß der Sinn in der Form 
erstorben ist, und lebt nur für das eine, neuen Geist dem Buch- 
staben einzuflößen. Der Geist, den er meint, ist dem johanneisch- 
christlichen nahe verwandt. Aber selbstverständlich sieht er im 
Konfuzianismus die Form, in der sich der Sinn am besten ver- 
wirklichen läßt. Er ist eben Chinese und ein gebildeter dazu, und 
Konfuzianismus und Christentum. 405 
er wäre es nicht, wofern er anders dächte. Ihm ist das Lose 
des Taoismus, das allzu weiche des Buddhismus nicht kongenial. 
Was aber das Christentum betrifft, so seien, meinte er, dessen 
freilich unantastbare Wahrheiten in einer dem Chinesen fremden 
Sprache ausgedrückt. Übersetze er sie nun in die seinige,, so er- 
gäbe sich nichts anderes als — der Konfuzianismus, vielleicht 
nicht der traditionelle, aber der, welchen er meint; weswegen von 
einer Einführung des Christentums füglich abgesehen werden 
könne. 
Während ich ihm zuhörte und das Mienenspiel seines wunder- 
bar durchgeistigten Antlitzes verfolgte, dessen Sprache ich un- 
mittelbar verstehen konnte, mußte ich voll Beschämung der Missio- 
nare gedenken, welche solche „Heiden" zu „bekehren" wagen. 
Wenn sie doch erst lernen wollten, bevor sie lehren! Gewiß: 
ganz recht hatte mein Unterredner nicht; das Äußerste des 
Christentums geht im Konfuzianismus nicht auf. Aber dieses 
Äußerste werden die Chinesen wohl nie begreifen, ebensowenig 
wie die Europäer jemals in das Innerste der Inderreligion ein- 
dringen werden; hier liegen biologisch-historische Schranken vor. 
Allein, diese Schranken beengen ja nicht das religiöse Erleben, sie 
schränken nur das geistige Gesichtsfeld ein. So kann ein orthodoxer 
Konfuzianer Gott gerade so nahe sein und dem Göttlichen in ihm 
genau so wahrhaftigen Ausdruck verleihen, wie der erleuchteteste 
unter den Indern; er kann es gerade, sofern er im Rahmen seiner 
Natur verbleibt. 
Wie schön ist ein guter Chinesenkopf! Hier sieht man 
Äußerstes an Ausdruckswert erreicht — und mit wieviel ein- 
facheren Mitteln als bei unsereinem ! Der Europäer muß schon 
bedeutend aussehen (z. B. kantige Züge, wirre Haare, einen ver- 
beulten Schädel besitzen), wenn er bildnerisch wirksam sein 
soll; die Chinesen sind über das Bedeutend-Aussehen hinaus. 
Hier ist in einfachen Kurven, in gelassenen, ungespannten 
Zügen eine höchste Bewegtheit verdichtet. Ein guter Chinesen- 
kopf wirkt, so seltsam dies klinge, neben einem gleich guten 
europäischen als der klassischere. 
406 Chinesen unkirchlich aber nicht irreligiös. 
Überhaupt fehlt es hier, was immer von der Irreligiosität der 
Chinesen behauptet wird, nicht an Männern und an Ver- 
einen, die ihre Kraft in den Dienst einer religiösen Erneu- 
erung Chinas gestellt haben. Dennoch kann ich jetzt vollkommen 
verstehen, daß die Missionare die Chinesen als irreligiös be- 
urteilen: denn kirchlich -religiös ist keiner, selbst unter den 
eifrigsten Reformern nicht; keiner scheint einer neuen Kon- 
fession zum Siege verhelfen zu wollen. Wahrscheinlich ist solches 
Militieren dem Chinesentemperamente zuwider: so intransigent- 
konservativ der Konfuzianismus gesinnt sei — praktisch hat er den 
Buddhismus so bekämpft und schließlich überwunden, daß er die 
fremde Lehre in sich hiaeinbezog, daß er behauptete, sie sei ein 
Ausdruck eben seiner, der konfuzianischen Weltauffassung. Wohl 
sind von Zeit zu Zeit Verfolger und Eiferer aufgetreten, und man 
hat sie gewähren lassen, wie alles in diesem Reich, bis daß 
sie von selber aufhörten ; aber der durchschnittliche gebildete 
Chinese ist nicht weniger tolerant als der Inder. Immer muß ich 
an ein Gespräch zurückdenken, das ich mit einem ungewöhnlich 
eifrigen, polternden alten Konfuziuspriester hatte: freilich, sagte 
er, sei der Konfuzianismus der absolut vollkommene Ausdruck 
für die Wahrheit; aber die Wahrheit an sich, dem inneren Sinn 
nach, besäßen wir Christen selbstverständlich auch ; darüber sei 
kein Wort zu verlieren. Man halte solche Gesinnung der eines 
lutherischen Pastors gegenüber, der mit einem Katholiken zu ver- 
handeln hätte! 
Die neuen religiösen Stimmungen in China scheinen mir nun 
ganz wesentlich durch ihr Akonfessionelles, durch ihre Unkirch- 
lichkeit ausgezeichnet. Das ist die natürliche Folge jener typisch- 
chinesischen Auffassung, auf die ich schon in Kanton hinwies, daß 
die Kirche als „Anstalt" betrachtet wird, als eine praktische, äußer- 
liche Institution, die mit der religiösen Gesinnung nichts innerlich 
zu schaffen hat. Wie protestantisch ist auch dieser Zug! Dem 
Protestantismus war die Kirche immer eine „Anstalt", von Gott 
eingesetzt, um die Welt in Ordnung zu erhalten; so konnte es 
nicht fehlen, daß jede Neubildung im Zeichen der Innerlichkeit 
die Tendenz zur Loslösung von der Kirche in sich trug, was inner- 
halb des Katholizismus, dem der Kult ein Innerliches bedeutet, 
nie der Fall war. Was im Schoß des christlichen Protestantismus 
Warum die Kirche im Protestantismus an Bedeutung verliert 407 
wohl mehr und mehr geschieht, aber nur selten offen eingestanden 
wird, ist der selbstverständliche Weg des chinesischen. Hier sieht 
man, wie nüchterne Überlegung unter Umständen zum gleichen Ziel 
führen kann wie schöpferische Intuition. Unzweifelhaft ist das 
religiöse Gefühl beim Chinesen schwach entwickelt; dennoch hat 
er von allen Völkern vielleicht am klarsten erfaßt, was für die 
Religion nicht wesentlich ist. Im Prinzip hat die Kirche mit der 
Religion tatsächlich gar nichts zu schaffen; die Verknüpfung dieser 
zwei Dinge ist (im begrifflichen Verstände) ein Sekundäres; Gottes- 
dienst ist unter allen Umständen Magie. Nun ist Magie eine über- 
aus wichtige Naturwissenschaft und in der Ausübung ein edles 
Kunstgewerbe, aber sie hat keine religiöse Bedeutung. Religiös 
sein heißt nach höchster Selbstverwirklichung streben; mit dem 
göttlichen Licht alle Erscheinung durchleuchten wollen. Solches 
Streben kann durch Magie gefördert werden, aber diese an sich 
bleibt ein rein Technisches. Wo nun die Grundanlage eine nüchterne 
ist, wie beim Chinesen und beim Nordeuropäer, wo überdies das 
Selbständigkeitsgefühl so hoch entwickelt ist, daß der Mensch nicht 
mehr Hilfe annehmen will, als er schlechterdings nicht entraten 
kann, dort führt die Entwickelung mit Unvermeidlichkeit immer 
weiter fort von der Magie; mithin von Kirche, Kult und Konfession. 
Weshalb erreicht der konfuzianische Mensch so oft einen 
so hohen Grad der Vollendung? diese Frage drängt 
sich mir mehr und mehr auf, mit je mehr gebildeten 
Chinesen ich zusammenkomme. Einen wahrhaft großen Mann, 
einen „Edelen" nach dem Sinn des Konfuzius, habe ich bisher 
wohl nicht kennen gelernt ; von keinem meiner Bekannten kann 
ich behaupten, er hätte mir als Natur imponiert. Aber befremd- 
lich viele unter den Herren stehen doch auf einer menschlichen 
Höhe, wie ich solcher in anderen Breiten nur ausnahmsweise 
begegnet bin. — Das muß wohl am Konfuzianismus liegen. 
Ich will diese düstere Dämmerstunde eines Tages, an welchem 
plündernde Soldaten ein Ausfahren nicht ratsam erscheinen lassen, 
mit der Durchdringung dieses Problems verbringen. 
Der chinesische Idealmensch wird definiert durch das Kultur- 
ideal seiner Nation: das Ideal der Konkretisierung; der innerste 
Sinn soll in der Erscheinung erschöpfend zutage treten. Nun hat 
408 Weshalb der konfuzianische Mensch so oft vollendet erscheint 
jeder Einzelne am Tao teil, und bezeichnet als besonderes Phä- 
nomen ein Glied der universalen Harmonie: also kann er sich 
selbst nur dann verwirklichen, wenn er im Einklang mit der Welt- 
ordnung handelt, und das will weiter sagen: indem er sein Leben 
strikt nach objektiven Normen regelt. Darf ich nun weiter voraus- 
setzen, daß das Befolgen der Normen, die ich anerkenne, tat- 
sächlich das höchste Maß von Selbstverwirklichung bedingt, dann 
kann nicht ausbleiben, daß ich, indem ich ihnen gemäß handele, 
vollendet werde, wer immer ich als Individuum sei. 
Hiermit wäre mein Problem wohl gelöst: der konfuzianische 
Mensch steht so häufig auf einer ungewöhnlich hohen Kulturstufe, 
weil sein höchstes Ideal ein Ideal der Norm ist, so daß jeder 
Normalmensch prinzipiell als berufen gilt, es zu verwirklichen; 
und weil ferner die gegebene Fassung des Ideals dem Chinesen 
unmittelbar den Weg zu seiner Verwirklichung weist. 
Alle Völker und Religionen haben Ideale aufgestellt, welche 
allen vorbildlich sein sollen. Jeder von uns sollte Christus 
gleichkommen, jeder Inder wie Krishna oder Buddha sein. Aber 
jeder kann nicht zum Heiligen werden, er strebe noch so in- 
brünstig darnach, weil es hierzu einer besonderen Begabung be- 
darf, die er nicht hat, wemzufolge speziell die Christen es für 
ausgeschlossen halten, daß sie ihr höchstes Vorbild je erreichen 
könnten. So bleibt es praktisch in der Regel unwirksam. Wirkt 
es aber, so tut das den meisten nicht gut: keinem tut es gut, sein 
zu wollen, was zu seiner Natur nicht gemäß ist. Der katholische 
Priester ist in der Idee dem protestantischen unstreitig überlegen; 
der Geistliche sollte so weit sein, daß er versuchungslos im Zölibat 
leben kann, sein Geschlechtstrieb sollte restlos umgesetzt sein, 
aller natürlichen Bindungen sollte er entraten, rein für andere 
leben können. Aber in der Mehrzahl der Fälle kann er es nicht, 
um so seltener, als die religiöse Anlage ausnahmslos mit einer 
starken Sinnlichkeit zu paar geht, weswegen es gut war, daß mit 
der Reformation ein anderer, billigerer Priestertypus die offizielle 
Sanktion erhielt. Der konkrete Wert eines Ideals hängt schlechter- 
dings davon ab, wie es sich zu den gegebenen Möglichkeiten ver- 
hält; nur solche, die zur Natur in günstigem Verhältnis stehen, 
die erreichbar sind im Prinzip — nur solche fördern. Letzteres 
nun trifft für die Chinesen in wundersamem Maße zu. Ihr Ideal 
setzt keine außerordentliche, sondern eine durchschnittliche 
Das Ideal der Norm ; Kangfutses Ablehnen des Außerordentlichen. 409 
Natur voraus, wie sie jeder sich zutrauen darf, realisiert sich in 
der vollendeten Ausbildung einer durchschnittlichen Anlage. So 
schreckt es a priori keinen ab, ist keinem von Natur aus uner- 
reichbar, verhilft vielmehr jedem, der ihm ernstlich nachstrebt, zur 
Verwirklichung dessen, was er ist. Es ist höchst merkwürdig, wie 
Konfuzius alles Abnorme einfach von sich weist. Er sagt: „Das 
Unerkennbare erkennen, Außerordentliches leisten ; überhaupt 
Taten vollbringen, die den kommenden Jahrhunderten Bewun- 
derung einflößten: das ist etwas, was ich nie versuchen würde". 
Und anderweitig: „der Weg des Tao liegt nicht außerhalb oder 
abseits vom normalen Menschenleben". Ausdrücklich rät er ab 
von einer Oberschätzung des Ideals. Im Tschong Young sagt er: 
„jetzt weiß ich, weshalb wahrhaft moralisches Leben ein so sel- 
tenes ist; die Weisen halten das moralische Ideal für etwas 
Höheres als es tatsächlich ist, und die Toren wissen es nicht zu 
würdigen; die Edelen streben zu Hohes an, wollen hoch über 
ihr normales Selbst hinausleben, und die Unedlen sind nicht streb- 
sam genug". Konfuzius scheint ängstlich darum besorgt, daß das 
Ideal überschätzt werden könnte. Nicht der Himmelsstürmer sei 
der Idealmensch, sondern der, welcher das nächstliegende tut, der 
Bescheidene, der nur vorstellen will, wozu er berufen ist; nicht 
das Genie sei der höchste Mensch, sondern wer in seiner beliebig 
beanlagten, aber bis zum äußersten durchgebildeten Person die 
Norm vollkommen zum Ausdruck bringt, denn das Einzeldasein 
sei Spiegel der universalen Harmonie. Desto größeren Nach- 
druck legte er auf den Ausdruck. Ein Weiser, der innerlich 
hoch stehe, dürfe doch nicht als vollendet gelten: er müsse 
sich mit Würde geben; der Weise, welcher sich mit Würde 
gäbe, dürfe auch noch nicht als vollendet gelten: die Würde 
müsse zur Anmut sublimiert sein. Die Tiefe könne erst als 
Tiefe gelten, wenn sie die ganze Oberfläche durchleuchte. — Wie 
soll einer, dem die Lehre Kong Fu-Tses Gottes Wort ist, dessen 
Erziehung so angelegt ward, daß dieses Wort ihm sein eigenstes 
Lebensprinzip bedeutet, nicht den Weg zur Vollendung betreten? 
wie soll er, sintemalen dieses Wort tatsächlich die Essenz aller 
praktischen Lebensweisheit einschließt, der Vollendung nicht häufig 
nahe kommen? Jeder Normalmensch muß als Konfuzianer weiter 
gelangen, denn als Brahmane oder als Christ; nur die Unnormalen 
bleiben ungefördert. Der Unternormale bleibt tiefer unter der 
410 Das chinesische Vollendungsideal der Norm am förderlichsten. 
Norm zurück, als er unter christlichen Voraussetzungen bliebe, 
weil diese ihm mehr Hoffnung geben ; die Entwickelung des Über- 
normalen wird gehemmt ; und der Abnorme findet gar kein Ver- 
ständnis. So sind unter Chinesen die Originale seltener als anders- 
wo, die ungebildete Masse ist stumpfer, die gescheiterten Exi- 
stenzen sind preisgegeben. Aber die Norm erreicht häufiger einen 
höheren Grad der Vollendung, als irgendwo in der ganzen Welt. 
Ist die konfuzianische Alternative in einer Welt, die nun ein- 
mal nicht rund ist, nicht die bestmögliche, einmal gesetzt, daß es 
ein allgemeingültiges Ideal geben kann? — Vollendung ist das 
Äußerste, was Sterblichem anzustreben gewährt ist, also muß auf 
sie aller Nachdruck gelegt werden. Das ist auch das Humanste, 
was sich tun läßt, denn Vollendung ist jedem prinzipiell erreich- 
bar, ferner das Weiseste insofern, als unter Voraussetzungen, die 
solche Entwickelung begünstigen, Menschen groß werden können, 
die es unter keinen anderen würden; man gedenke der Größe und 
Tiefe, welche unbedeutende Frauen manchmal auszeichnet, jener 
naiven unschuldigen Größe, vor der sich der weiseste Mann so 
gerne beugt. Und hier nun komme ich auf das letzte Moment, 
das entscheidend für den Konfuzianismus spricht: dieser schafft 
die potenziertesten Menschen. Fast immer ist das Wachstum der 
weiblichen Seele den äußeren Hemmungen des Familienlebens zu 
danken gewesen: im gleichen Sinn verdanken die Konfuzianer ihr 
hohes Menschheitsniveau ihrem ungeheurlich starren System. Nie 
wären die Herren, die ich meine, in westlichen Breiten geboren 
und auferzogen, zu einer annähernd gleichen Durchbildung ge- 
langt; diese danken sie ihrer statischen Weltanschauung. Nach 
chinesischen Begriffen steht das Weltall still; es ist vollkommen 
an sich, nicht zu vervollkommnen; so scheint im letzten nichts 
zu wollen möglich. Nun drängt aber das Leben unaufhaltsam 
aufwärts, bleibt ein progressiv-dynamisches Prinzip, auch wo es 
statisch gedeutet wird; so findet trotz allem ein Fortschreiten 
statt. Nur verläuft es nicht nach außen, sondern nach innen zu. 
Es kumuliert sich die psychische Energie, die in der Initiative 
keine Auslösung findet, weshalb durchschnittliche gebildete Chi- 
nesen durch eine innere Gespanntheit ausgezeichnet sind, wie im 
Westen nur hie und da ein Ausnahmemensch. 
Die Chinesen danken ihre Überlegenheit ohne Zweifel dem 
konfuzianischen „Ideal der Norm". Ein ersprießlicheres allgemeines 
Wird der Konfuzianismus den Westen erobern ? 411 
Ideal läßt sich nicht denken. Auch dem Westen beginnt dies neuer- 
dings deutlich zu werden: mehr und mehr wird von der öffent- 
lichen Meinung das Normale dem Abnormen vorgezogen, das 
asketische oder Heroen-Ideal durch das der Naturgemäßheit er- 
setzt, die Vollendung über den Zustand gestellt. Die Kanoni- 
sierung, die Goethe fortschreitend in deutschen Landen erfährt, 
beruht zum großen Teil auf eben dem Umstände: von allen 
großen Männern, die wir haben, ist er am meisten Normalmensch 
gewesen, schließt er am wenigsten Existenzen aus. Wird der 
Konfuzianismus einmal zu uns gelangen? Unmöglich ist es 
nicht. Er ist die Weltanschauung der Norm und tief und 
wesentlich verstanden, dem Geiste und nicht dem Buchstaben 
nach aufgefaßt, zweifelsohne die beste Weltanschauung für alle 
Massen. Über eines darf man sich aber keinen Illusionen hin- 
geben: die Weltanschauung der Norm zieht nicht hinan, be- 
günstigt keinen hohen Idealismus, steigert nicht. Alles, was den 
höchsten Stolz des Westens ausmacht, verdankt er dem, daß er 
Unmögliches begehrt hat; der Konfuzianer will immer nur das 
Mögliche. Hier muß man sich eben für eine von zwei Alternativen 
entscheiden: entweder man will den Übermenschen — dann 
nimmt man keine Rücksicht auf die Masse ; so war es bis vor 
kurzem im Okzident; alle äußersten Ideale, die christlichen inbe- 
griffen, waren auf eine auserwäblte Minderheit zugeschnitten. 
Oder man will die Masse, wie sie ist, der Vollendung zuführen — 
dann sieht man von den höheren Typen ab. Es ist kaum zu be- 
zweifeln, daß unsere demokratische Welt früh oder spät die 
letztere Alternative, deren Ideal der vollendete Normalmensch ist, 
ergreifen wird, falls sie sich überhaupt ein Vorbild konstruiert. 
Und das wird sie tun. Weniger als je ist sich die Menschheit 
heute dessen bewußt, daß die Ideale gar nicht Vorbilder sein 
sollen, die jeder Einzelne nachzuahmen hätte, sondern Verkörpe- 
rungen der Grundtöne des Lebens, auf die hin jeder seine persön- 
liche Note abstimmen soll; weniger denn je scheint sie heute 
reif dazu, das Postulat der üniformität zu verleugnen und sich 
jenem höchsten Zustande zu nähern, wo jeder Ton nur als er 
selbst erklingen will, im harmonischen Verhältnis zu den Grund- 
tönen, die ihrerseits mächtig und rein ertönten; ferner denn je 
ist das moderne Leben dem Ideal einer Symphonie .... — 
Immerhin wäre es selbst dann, wenn das Ideal der Norm zum 
4 1 2 Nachteile des Ideals der Norm ; Goethe und Dr. Johnson. 
# 
absoluten proklamiert würde, ein Fehler, den Konfuzianismus, 
so wie er ist, nach Europa einzuführen: um in Konfuzius die 
Norm idealisiert zu sehen, muß man Chinese sein. Nur Individuen 
von geringer Individualisiertheit können so viele Bestimmungen 
als allgemeingültig anerkennen, nur Geister von geringem Schwung 
der Phantasie durch ein so nüchternes Vorbild begeistert werden, 
nur Wesen von großer Ausdrucks- aber geringer Begriffsanlage 
an einem so dürftigen System Befriedigung finden. So seltsam 
dies lauten mag: je mehr Menschen, abstrakt verstanden, ein Ideal 
der Vollendung zuzuführen geschickt ist, desto weniger allgemein- 
vorbildlich erscheint der jeweilige konkrete Ausdruck. Christus 
und Buddha verkörpern wahre Menschheitsideale, so wenig ihnen 
die allermeisten unmittelbar nacheifern dürfen; Konfuzius kann nur 
Chinesen ein Vorbild sein; unsere Begeisterung weckt er nicht. 
Das spricht nicht gegen ihn, sondern beweist nur einmal mehr die 
Ausschließlichkeit alles Konkreten. Engländer verstehen unseren 
Goethe-Kultus schwer; es befremdet sie, daß ein ausgesprochener 
Pedant, ein umständlicher, schwerfälliger Kleinstädter einem Volk 
das menschlich Höchste bedeuten kann; und wirklich war Goethe 
unter anderem auch das, was jene an ihm auszusetzen finden. Aber 
in eben dem Sinn erscheint uns ungeheuerlich, daß England 
seinen Abgott an — Dr. Johnson fand; einem originellen, dick- 
köpfigen Durchschnittsbriten, der mehr Vorurteile hatte, als irgend- 
ein Angelsachse nach ihm, dem Begründer jenes Voreingenommen- 
heitskultus, der seither wie nichts anderes zur Charakteristik des 
englischen Mittelstandes gehört, dem roi des culstres, wie Sainte- 
Beuve ihn treffend benannte, dem Manne, der wohl von allen, deren 
Erinnerung die Menschheit aufbewahrt, mit der größten, tiefsten 
Überzeugung am meisten Gemeinplätze ausgesprochen hat. — Das 
ist das Schicksal jedes konkretisierten Ideals der Norm. 
Die letzten Tage, die ich für Peking übrig habe, verbringe 
ich auf Ausflügen in die Umgebung. Wie großzügig ist 
diese Natur! wie mächtig erweitert sie das Selbstbewußt- 
sein ! Die rhythmische Einförmigkeit der Landschaft gibt ihr den 
Anschein unbegrenzter Ausdehnung, die klare, trockene Luft macht 
alle Entfernung illusorisch; mir ist, als reichte mein Blick bis an 
die Grenzen der Welt. Wäre ich zu Peking als Erbe des Drachen- 
Chinesisches Kaisertum. 4 1 3 
throns geboren — mir erschiene es wohl selbstverständlich, daß 
ich der Gebieter des Erdballs bin; zumal es der Beweise nicht be- 
dürfte. Aus der Geschichte des Altertums erhellt, daß das bloße 
Dasein des Kaisers genügt, um die Welt in Ordnung zu erhalten. 
Von der Wiege auf würde mir Schun als Vorbild vor Augen ge- 
halten werden. Dieser heilige Mann hat nur dagesessen, sein Ant- 
litz gen Süden gewandt ; und es herrschte vollkommene Harmonie. 
Die Jahreszeiten hielten ihre Fristen ein, alle Söhne dienten ihren 
Vätern, alle Gatten liebten einander, alle Beamten waren redlich 
und treu. Mir würde immer wieder versichert: wenn ich nur 
meine Person zur Vollendung brächte, dann würde der Kosmos 
sich von selber richten. Und wenn ich mir klar machte, was das 
sagen will, welch' ungeheure Bedeutung mir innewohnt, und dann 
hinausblickte in die weite Natur ringsum, dann dächte ich frei- 
lich: ich bin groß! 
Allein ich dächte es ohne Hybris, in aller Bescheidenheit; ich 
dächte es vielleicht in aller Demut. Ich hätte das gleiche Gefühl, 
das den Bergbesteiger überkommt, wenn er endlich vom Gipfel 
seiner Sehnsucht um sich blickt: des Großseins, ja, aber in- 
mitten eines so ungeheuer viel Größeren, daß er tatsächlich viel- 
mehr im Bewußtsein seines Kleinseins schwelgt. Ich, der Kaiser, 
bin ja nur ein Rad im unendlichen Weltmechanismus; das Größte, 
das Schwungrad vielleicht, aber doch nur ein Glied im Betriebe. 
Und in Demut gedächte ich daraufhin der Unbeschränktheit meiner 
Gewalt. Weswegen heißt man mich unbeschränkt, wo ich doch für 
die ganze Schöpfung verantworte, wo eine geringfügige Nach- 
lässigkeit meinerseits unsägliches Unheil zur Folge hätte? Man 
heißt mich unbeschränkt, weil Keiner über mir steht. Irgend- 
wo muß die letzte Instanz doch erreicht sein. Alle moralische 
Wirksamkeit fußt auf Autorität, wo diese nicht unbedingt ist, 
dort fehlt sie ganz. Die Barbaren, die Christen, so vernehme ich, 
schieben jene unbedingte Autorität auf einen Gott ab, den niemand 
jemals gesehen hat. Das muß die Erfindung eines schlauen, aber 
ungerechten Kaisers gewesen sein, der es sich leicht machen 
wollte ; oder bei dem der moralische Sinn nicht genügend ausge- 
bildet war. Ich würde mich schämen, die äußerste Verantwortung 
nicht zu tragen. 
— Ich fahre hinaus aus der Psyche des Himmelssohns und 
hinein in einen der Vielen, die als Neugierige, vom Fernen Westen 
414 Chinesische und amerikanische Autokratie. 
daherkommend, die Kaiserstadt des Fernen Ostens heimsuchen. 
Welch' überraschende Entdeckung! Von einem ganz Großen 
bin ich in einen ganz Kleinen hineingewandert, und finde, daß 
dessen Selbsteinschätzung tausendmal größer ist. Er erkennt nichts 
über sich an; er hält sich für den höchstdenkbaren Menschen, den 
berufenen Weltbeherrscher. Überdies aber für unverantwortlich; 
er steht außerhalb des Naturzusammenhangs. — Welcher Autokrat 
ist der ehrwürdigere, der Kaiser, der bewußt die Verantwortung 
für den Weltprozeß trägt, oder der freie Amerikaner, der sich deß 
rühmt, die Welt zerschmeißen zu können? 
HANKOW. 
Auf dem Wege von Peking hierher ward der Zug unver- 
sehens von Soldaten angehalten. Es war eine selbständige 
Division, die sich weder zur Republik noch zum Mand- 
schuhause bekannte, die sich offenbar langweilte und die wenigen 
Abwechslungsmöglichkeiten, welche sich darboten, gierig ergriff. 
Erst sah es nicht unbedenklich aus, wie wenig die Zugführer selbst 
Bedenken zeigten: die Soldaten stürmten mit gefälltem Bajonett 
in die Waggons hinein, und machten Miene das Gepäck zu per- 
quisitionnieren. Allein sie taten nichts; mitten im Sturm schienen 
sie auf irgendetwas zu warten; und wie dann die „Friedens- 
stifter" kamen und mit sanfter Miene in sie hineinzureden be- 
gannen, da schienen sie zu haben, was sie wollten. Es dauerte 
Stunden, bis die Verhandlungen abgeschlossen waren; doch dann 
ließ man uns ungeschädigt ziehen. 
Welch' seltsame Soldateska! Während meines Aufenthaltes in 
Kanton tobte dort der Kampf zwischen Regierungstruppen und 
Piraten ; aber gelegentlich wurde Pause gemacht, und dann ver- 
kehrten die Feinde so friedlich miteinander, als ob sie gar nicht 
im Streite lägen. In Hankow wird erzählt, daß die Fuß- 
ball spielenden Residenten letzthin durch die Kugehl, die vom 
nahen Schlachtfelde herüberschwirrten, belästigt wurden; sie 
schickten dem ihnen am nächsten postierten General eine Bot- 
Chinesische Verachtung des Kriegshandwerks. 4 1 5 
schaft zu mit der Bitte, ob er das Schießen nicht lassen könne, 
bis daß sie ihren Match beendet hätten ; und wirklich soll dieser 
ihrem Wunsche Folge geleistet haben. — Die Chinesen scheinen 
•Krieger zu sein, wie man Schuster oder Strumpfwarenhändler 
ist, d. h. ohne irgendwelche Idealität mit dem Waffenhandwerk 
zu verknüpfen; und während sie es ausüben, scheinen sie mit 
dem Herzen kaum dabei. Was Wunder in einem Reich, dessen 
Volk seit Menschengedenken den Frieden \ tout prix als höch- 
stes Ideal bekennt? In der chinesischen Literatur stellt sich 
der Feldherr selten als Held, desto häufiger als Raufbold und 
Bramarbas dar, und gewöhnlich als roher Patron schlechthin. Nie 
ist es in China als Schmach empfunden worden, wenn ein Feldzug 
verloren ward ; immer wurde den Waffen des Geistes über der 
Faust der Vorrang zuerkannt. Eine hübsche Legende berichtet, 
wie Gesandte eines Barbarenkönigs einst zum Kaiser kamen 
um ihm mit Krieg und Eroberung zu drohen. Dieser wußte 
anfangs nicht recht, was er erwidern sollte, denn von dem Unwert 
seines Heers war er überzeugt und über das fremde nicht genügend 
unterrichtet. Da fiel ihm der Dichter ein, der gerade an seinem 
Hofe weilte: der verstünde gewiß eine solche Antwort aufzusetzen, 
daß die Gesandten erschreckt von dannen ziehen würden. Der 
Dichter war, wie gewöhnlich, des Weines voll; nur mit Mühe 
gelang es zuletzt der Kaiserin, unter Mithilfe ihrer allerschönsten 
Frauen, ihn aus dem Rausche aufzurütteln. Doch wie er dann 
endlich begriff, um was es sich handelte, da erfand er aus dem 
Stegreif solch' feine Rede, zugleich vom Geist so überlegener 
Kraft beseelt, daß die Gesandten wahrhaftig entsetzt von dannen 
zogen und ihrem Herren berichteten: solcher Macht sei sein Heer 
nicht gewachsen. — Mehrfach hatte ich im Gespräche mit Man- 
darinen bemerkt, daß sie physischen Mut nicht bewunderten, 
sondern verachteten. Zwar gaben sie zu, daß er zeitweilig von 
Nutzen sei, und daß man Leute unterhalten müsse, die ihn besitzen; 
nur seien dies keine höheren Menschen; Freude am Streit beweise 
Vulgarität. Der Soldat galt ihnen als tief unter dem Gelehrten 
stehend, mehr dem Bulldoggen als dem Menschen vergleichbar. 
Sicher gravitieren auch wir einem Zustand entgegen, woselbst 
die Tugenden des Kriegers an Bedeutung verlieren werden, indem 
die Gebrechen dieses Typus größer erscheinen werden, als seine 
Vorzüge; und in vielen Hinsichten ist er erstrebenswert. Aber 
4 1 6 Der Traum vom ewigen Frieden ; Vorzüge des Duells. 
wir werden seine Vorteile teuer bezahlen: philiströs, opferunfreudig 
werden, an Adel der Gesinnung verlieren. Leider bedeutet, so wie 
die Dinge einmal liegen, das Ideal des ewigen Friedens ein 
absolutes nur für das Himmelreich. Wir Erdbewohner bedürfen 
des Ansporns materieller Gefahr, wenn wir des Idealismus fähig 
bleiben sollen. Wie wenig rund ist, trotz Galilei, die Welt! Das 
Duell ist eine arg barbarische Einrichtung, welche verschwinden 
muß; schon heute widerspricht sie unserer ganzen sonstigen Lebens- 
anschauung. Dennoch stehen die Menschentypen, die sich schlagen, 
in vielen Hinsichten über denen, die darüber hinaus sind. Ihr 
Vorurteil verbietet ihnen auf alle Fälle, natürlicher Furchtsamkeit 
nachzugeben, lehrt sie handeln der Erkenntnis gemäß, daß es 
höhere Werte als das Leben gibt und erzieht sie vor allem, indem 
es sie zwingt, dem Gegner gleiche Siegeschancen zu gewähren, 
zur Achtung fremder Persönlichkeit im höchsten Sinn. 
Vor mir wälzt der Yangtse seine schmutzigen Fluten. Tau- 
sende von schwitzenden Kulis rackern sich ab auf den Dampfern 
und Dschunken, verladend, schleppend, tragend, schiebend, stoßend, 
ziehend, zerrend. Solches Leben frommt dem Chinesen besser als 
der Kampf für das Vaterland. Sein Idealismus tritt zutage in der 
Art, wie er die Mühe des Alltags trägt. 
AUF DEM YANG TSE. 
Nun schwimme ich auf dem gütigen Strom, ohne den die 
unermeßlichen Landstrecken, die er durchfließt, ebensoviele 
Wüsteneien wären. Sein Gefälle ist bedeutend ; allein es 
ist, als bewegten sich die Wasser kaum, so groß und schwer ist 
ihre Masse, gleichwie der Flug der Wildgans neben dem des 
Zaunkönigs langsam wirkt. Auf den Ufern des Yang Tse grünt es, 
wächst es, gedeiht es überall. Wohin ich blicke, ist das ver- 
ständige Schaffen des Bauern zu spüren ; wohin ich mich wende, 
erscheint er als die Hand der Natur. 
Das ist das eigentliche China, das unsterbliche. Seit ich seine 
Blüte kennen gelernt, erkenne ichs mit doppelter Deutlichkeit: die 
Wurzel der gesamten chinesischen Kultur ist ihr Bauerntum. 
Der Konfuzianismus als sublimierte Bauernweisheit. 4 1 7 
Stellte das konfuzianische System nicht deji vergeistigten Ausdruck 
eines wurzelechten Naturzustandes dar, nie hätte es zum Skelett 
ganz Chinas werden können. 
Die Geschlechter, die zu den Zeiten Shuns und Yaus den 
Acker bestellten, sitzen heute noch auf der ererbten Scholle, ihres 
Stammbaums tief bewußt. Nur selten wandert einer aus. Wo der 
Bauer sich zeitlebens abgemüht, dort wird er auch der Erde zurück- 
gegeben. Der Acker ist die Wiege ganz Chinas. Einen erblichen 
Adel gibt es nicht. Dann oder wann glückt es diesem oder 
jenem, die großen Prüfungen zu bestehen, und der rückt dann zu 
höheren Stellungen auf. Die Masse bleibt ewig wie sie war. 
Ich kenne keinen, der länger unter chinesischen Bauern ge- 
weilt und sie nicht von Herzen zu lieben, ja zu verehren gelernt 
hätte. In ihnen sind die Tugenden der Patriarchenzeiten wirklich 
lebendig. Was Konfuzius und Menzius gelehrt, stellt ihr Leben 
wie selbstverständlich dar. Hier ist alle äußere Ordnung wirklich 
ganz aus der Gesinnung heraus geboren, ja hier erscheint kein 
System auch nur denkbar, daß nicht in natürlichen Trieben be- 
gründet wäre. Wann wären unter urwüchsigen Verhältnissen staat- 
liche Gesetze notwendig gewesen, um die Beziehungen zwischen 
Familiengliedern zu regeln? Es ist den Eltern natürlich, ihre 
Kinder zu lieben und umgekehrt; es ist einer Sippe natürlich, zu- 
sammenzuhalten. Je dichter nun eine Bevölkerung ist und je fried- 
licher und vernünftiger veranlagt, desto mehr wird das Natürliche 
zum Sittengebot. Es liegt dermaßen auf der Hand, daß ein Dasein 
wie das ihre nur bei harmonischem Zusammenarbeiten gedeihen 
kann, daß es als frevlerisch, weil naturwidrig wirkt, die Harmonie 
zu stören; es liegt ferner dermaßen auf der Hand, daß die 
unvermeidliche Ordnung niemanden bedrückt, der sie als Verwirk- 
lichung seiner Wünsche bewillkommnet, daß es unumgänglich er- 
scheint, die natürlichen sozialen Impulse nach Möglichkeit aus- 
zubilden. So ist denn die Liebe zwischen Familiengliedern, die 
Ehrfurcht vor Alter und Autorität, von den chinesischen Bauern 
so intensiv gepflegt worden, daß sie längst zu den formgebenden 
Momenten ihrer Seelen geworden sind. Nun liegt dem naiven 
Menschen nichts näher, als ins Unbegrenzte hinaus zu verall- 
gemeinern ; so ist das ganze große Reich nicht allein, nein das 
Weltall als ein Zusammenhang begriffen worden, der auf den 
natürlichen Beziehungen zwischen Familiengliedern beruht. Wenn 
Keyserling, Reisetagebuch. 27 
418 Der Konfazianismus als Bewußtseinsform Chinas. 
die Söhne den Vätern die schuldige Ehrfurcht erweisen, dann wird 
es auch rechtzeitig regnen. Diese uraltchinesische Bauernweisheit, 
deren sich das einfache Volk wohl kaum bewußt war, so sehr es 
sie lebte und handelte, ist dann in den Meistern des Altertums 
explizit geworden. Und da diese eben das lehrten, was dem 
Handeln der Menschen ohnehin zugrunde lag, so geschah zweierlei: 
ihre Satzungen wurden ohne weiteres als richtig anerkannt, und 
sie wurden, nun sie auch dem Bewußtsein gegenwärtig waren, 
mit doppelter Aufmerksamkeit befolgt. Auf diese Weise geschah 
es, daß der Konfuzianismus mehr und mehr zur Bewußtseinsform 
Chinas heranwuchs, nachdem er längst schon seine Daseinsform 
dargestellt hatte, und mit dem Fortschritt der Nation sich wohl 
differenzierte, klärte, verkünstelte, aber nie seinen ursprünglichen 
Sinn verlor. 
Das war möglich nur dank dem besonderen historischen Um- 
stände, daß die Chinesen von Alters her bis heute eine Bauern- 
nation geblieben sind, daß sich dort keine mächtigen Kasten ge- 
bildet haben, deren Lebensnormen den bäuerlichen entgegen- 
standen ; daß die noch so komplizierte Verfassung der späteren 
Zeiten dem Sinne nach bis heute patriarchalisch geblieben ist. So 
gerieten die Satzungen Kung Fu-Tse's und Mong Tse's nie in 
Widerspruch mit der praktischen Nützlichkeit; so blieben sie 
„zeitgemäß". Je tiefer einer zu denken fähig war, desto mehr 
mußte er über ihre Weisheit staunen; so hat sich ihr Prestige 
im Lauf der Jahrhunderte ständig vermehrt. Und das war not- 
wendig, wenn sie die alte Wirkungskraft behalten sollten. Die 
Ideen der alten Meister waren, so tief sie im Menschlichen 
wurzelten, doch allzu einfach ; nur unkomplizierte, ursprüngliche 
Seelen gehen in der Naturordnung restlos auf. Aber freilich 
bleibt sie das Fundament auch der entwickeltesten. Dank nun 
dem Prestige, das die konfuzianischen Sätze genossen, sahen 
sich die subtilsten Geister veranlaßt, sich tief in ihren Sinn 
hineinzuversenken, wodurch das in ihnen lebendig blieb oder 
aufs Neue lebendig wurde, was dem Bewußtsein nichtchinesischer 
Kulturmenschen nur. ganz ausnahmsweise gegenwärtig ist; daher 
die naturhafte Tiefe, welche noch so verfeinerte Chinesen meistens 
auszeichnet. Bei ihnen ist der Sinn für das Ursprüngliche stets 
lebendig, das Verhältnis der Kinder zu den Eltern und umgekehrt 
wird so tief erfaßt, wie in Europa nirgends mehr; die Naturtriebe 
Moralität als gebildete Natur ; die soziale Frage. 419 
werden entsprechend kultiviert. Daher bei den Verfeinertesten 
immer noch ein lebendiger Sinn für das Einfache und Ursprüng- 
liche, bei Dekadenten noch ein lebendiger Begriff für den Sinn 
der Moralität. Ich habe nie einen Chinesen gesehen, dem Moralität 
etwas anderes bedeutet hätte als gebildete Natur. Trotzdem ist 
freilich kein Mandarin ein so guter Konfuzianer wie jeder Bauer 
des Yang Tse-Tals, eben weil der Konfuzianismus ursprünglich 
nur dem Bauernhorizonte gemäß ist. Aber solange es keine Kasten 
in China gibt, solange der Bauer der Chinese bleibt und als solcher 
seinen Charakter nicht ändert, werden die Eigentümlichkeiten nicht 
aussterben, dank welchen der Chinese noch heute als der moralisch 
gebildetste Mensch erscheint. 
Solange .... Wird der Bauer auch nach der neuesten Um- 
wälzung der Alte bleiben? Und wenn nicht, was dann? Mit tiefer 
Wehmut blicke ich auf die Felder und Dörfer ringsum, auf die un- 
ermüdlichen Landleute, die längs dem Yang-Tse-Gestade ihren 
altgewohnten Beschäftigungen nachgehen. Eine Armut, wie sie 
für den Chinesenbauern typisch erscheint, ist freilich ein absolutes 
Übel — aber wie soll sie überwunden werden ohne Anspornung 
des individuellen Egoismus, wodurch die moralische Grundlage der 
wunderbaren chinesischen Zivilisation, der allmächtige Familien- 
sinn, zerstört würde? Für den Schmutz ist wenig anzuführen: 
aber wie soll Reinlichkeit einziehen, bevor der Wohlstand ge- 
wachsen ist? Entsetzlich ist es fürwahr, daß soviele Menschen 
Jahr für Jahr an Hunger und Seuchen zugrunde gehen; aber wo 
soll der Bevölkerungsüberschuß hin, wenn die Selbstregulierung der 
Natur zerbrochen wird? Allerdings ist ein höherer Gleichgewichts- 
zustand denkbar, als der bisherige ihn darstellt, aber es wird 
Jahrhunderte währen, bis daß er herbeigeführt ist, und bis dahin 
wird das Elend größer werden, als es früher war. Was ist der Kern 
des sozialen Elends bei uns? Daß die Menschen zu viel wissen, 
um innerhalb der engen Verhältnisse, in denen sie leben, glücklich 
zu sein, und nicht genug wiederum, um einzusehen, daß der Zu- 
stand nur im Laufe langer Zeiträume verändert werden kann, wes- 
halb es keinen Sinn für sie hat, gewaltsam aus ihm hinauszu- 
streben. In Amerika ist es sicherlich angezeigt, jeden einzelnen 
lernen zu lassen, so viel er nur will, denn dort sind die Verhält- 
nisse noch so weit, daß jedes Talent sich durchzukämpfen Aus- 
sicht hat; im engeren Europa sind sie's nur ausnahmsweise, wes- 
27* 
420 Die Tragödie des Fortschritts. 
wegen es besser wäre, wenn die Versuchung nicht über die Maßen 
gesteigert würde. Im übervölkerten und entsprechend armen China 
nun, mit seiner starren Gesellschaftsordnung, wird das, was für 
Europa ein Verhängnis ist, ganz sicher den Charakter einer 
Kalamität annehmen. Also wird es mit dem traditionellen Glück 
der Chinesen unter allen, auch den günstigsten Umständen, zu 
Ende sein. 
Der Weg des Fortschritts stellt sich als eine endlose Serie 
intimer Tragödien dar. Das Glück hängt ausschließlich von inneren 
Umständen ab, ist von außen nicht herbeizuführen: insofern er- 
scheint Fortschreiten als zwecklos, ja schädlich. Ein gegebener 
unabänderlicher Zustand löst auf die Dauer von selbst die innere 
Einstellung aus, dank welcher er erträglich wird; unter wechselnden 
Verhältnissen ist der innere Mensch außer Gleichgewicht. Nun 
besteht die Aufgabe darin, einen inneren Zustand zu erringen, der 
allen äußeren gerecht würde, d. h. praktisch von ihnen unabhängig 
wäre, und das heißt: einen Zustand höchster Kultur. Während also 
unter stationären Verhältnissen jeder Einzelne potenziell des 
Glückes teilhaftig war, ist es unter wechselnden nur der höhere 
Mensch. Hier befindet sich die Masse zu dauerndem Unglücklich- 
sein verdammt. Vielleicht ist das die Absicht der Vorsehung, 
sofern es eine gibt, denn sicher entwickelt sich der Mensch im 
Unglück schneller als im Glück; vielleicht ist es gut, daß nunmehr 
eine Periode wachsenmüssenden Elends über die Menschheit herein- 
gebrochen ist. Aber tragisch ist es, daß sie diese Periode als 
eine solche größeren Glückes willkommen heißt, denn die unver- 
meidliche Enttäuschung wird die Unbefriedigtheit ins Ungeheure 
steigern. 
Die reflektorische Stellung des wohlwollenden Kulturmenschen 
diesem Schicksal gegenüber ist die eines Aufhaltenwollens. Des- 
halb sind alle wirklich gebildeten Chinesen reaktionär. Aber sie 
wären weiser, wenn sie ihr Mitleid niederkämpften. Sie sollten 
nach Möglichkeit den künftigen Gleichgewichtszustand antizipieren 
und der Masse als Beispiel vorhalten, denn nur so werden sie 
ihr wirklich helfen. Die Ideale von einst haben abgedankt; die 
vergangenen Typen der Vollendung können nicht mehr als vor- 
bildlich gelten. Den Gebildeten, den Aristokraten liegt es in China 
wie überall ob, nicht eine vergangene Vollkommenheit zu perpe- 
tuieren, sondern aus ihrer besseren Einsicht heraus sobald als 
Moralität und Zweckmäßigkeit. 42 1 
möglich den Typus herauszugestalten, welcher der Menschheit von 
morgen die Wege weisen kann. 
Der Kapitän erzählt mir von der Zeit, wo er als junger 
Offizier den Yang-Tse auf- und abfuhr: damals sei alles 
anders gewesen. Wie anders war es dazumal, mit den 
chinesischen Kaufherrn zu verhandeln! Unverbrüchlich hielten 
sie ihre Kontrakte ein, ja meist genügte eine mündliche Ab- 
machung; und ehrlich und zuverlässig waren sie, wie nur irgend- 
eine englische Firma. Heute müsse man ihnen genau auf die Finger 
passen ; sie betrögen, wo immer sie könnten. Das sei der Erfolg 
des Kontakts mit dem amerikanischen Geschäftsbetrieb. — Nun, 
die Amerikaner sind es nicht allein, die schlechte Sitten nach dem 
Osten verpflanzt haben; die allermeisten Europäer benehmen sich 
dort auf eine Art, die sie zu Hause unmöglich machen würde. Je 
mehr ich sehe und erfahre, desto gewisser wird mir: wo die 
innere Bildung keine außerordentliche ist, erhält sich das Gute 
genau nur insoweit, als es nachweislich zweckmäßig ist. In allen 
geschlossenen Gemeinschaften ist es das Zweckmäßigste, wes- 
wegen Völker sowohl als Standesgenossen, Zünfte sowohl als 
Verbrecher, wo immer sie weitblickend genug sind, ein gewisses 
Minimum an moralischen Grundsätzen untereinander einhalten. 
Und das Gute erweist sich als desto zweckmäßiger, je reger 
der Verkehr und je größer der Umsatz wird, so daß innerhalb ganz 
großer Geschäftsbetriebe die Solidität nicht selten absolut ist. 
So sind wir modernen Europäer, so lange wir untereinander 
verhandeln, vermutlich die ehrlichsten Makler, die es je gab. Aber 
daß unsere Moralität nichts Primäres, sondern lediglich das Produkt 
der Verhältnisse ist, erweist sich mit abschreckender Deutlichkeit, 
sobald wir uns außerhalb unseres eigenen Kreises betätigen: dort 
gebärden wir uns als richtige Raubtiere. „Piraten" heißen uns 
die gebildeten Chinesen unter sich, und die Bezeichnung ist sicher 
nicht zu scharf. Seit ich im Osten geweilt habe, kann ich leider 
nicht mehr daran zweifeln, daß unsere moralische Bildung 
schlechterdings äußerlich ist. 
Glücklicherweise erweist sich das Gute auf die Dauer überall 
als das Zweckmäßigste, so daß der Weiße auch im Orient irgend- 
einmal nicht umhin können wird, sich anständig und ehrenhaft zu 
422 Moralische Bildung der Chinesen. 
benehmen. Aber es ist doch beschämend zu denken, daß die Mehr- 
zahl unter uns moralisch ganz roh geblieben ist trotz Christentum, 
Humanitätsideal und noch so zweckmäßigen Systemen. Zerschlüge 
ein Gott auf einmal unseren äußerlichen Apparat, wir stünden als 
reine Barbaren da. Den Chinesen brauchte solch' drohender 
Gott keinen Schrecken einzuflößen : was ihnen an Moralität inne- 
wohnt (und das ist mehr, als die meisten von uns besitzen), 
ist innerlich, nicht äußerlich bedingt. Gewiß ist es vom Äußer- 
lichen nicht unabhängig — wäre es das, die Chinesen müßten 
Halbgötter sein; ohne den Zwang eines engsten Zusammenlebens 
unter schwierigen Verhältnissen wäre die Bildung des Individuums 
nie so weit gediehen; sind die Kaufleute heute weniger ehr- 
lich als ehedem, so tragen sie damit gleichfalls den äußeren 
Umständen Rechnung. Aber der Sinn für das Moralische stellt 
einen primären Faktor ihrer Seele dar, nicht einen sekundären, 
wie bei uns. So erscheinen sie, vom Standpunkte Gottes aus 
betrachtet, uns moralisch überlegen auch dort, wo sie unmoralischer 
handeln. Während meines Aufenthaltes in China kam mir wieder- 
um öfters die These Paul Dubois' in den Sinn, daß ein un- 
sicheres Gefühl für den Unterschied zwischen Gut und Böse ein 
Zeichen von Dummheit sei; es handele sich um ganz objektive 
Verhältnisse, die man entweder erkenne oder nicht, über die es 
jedoch ebensowenig zwei gleichwertige Ansichten geben könne, 
wie darüber, ob 2x2 4 oder 5 ausmachen. So „dumm" (oder 
richtiger „ungebildet") in dieser Hinsicht, wie die allermeisten 
europäischen Männer (die Frauen sind viel gebildeter), scheint 
kein Chinese; mag er noch so bedenkenerregend handeln — das 
Handeln hängt vom Charakter ab — er weiß wohl immer, was 
recht wäre. Er weiß es aber, weil diese Seite seiner Seele dank 
dem Konfuzianismus auf hoher Bildungsstufe steht. Wäre es nicht 
an der Zeit, daß auch wir unsere Kinder konfuzianisch erzögen? 
Früh oder spät kommt es sicher dahin; hoffentlich geschieht es 
nicht zu spät. Unsere hochfahrenden Ethiker und Moralisten sollten 
alle ein Jahr lang gezwungen werden, mit gebildeten Chinesen 
umzugehen (gleichwie ich allen religiös Interessierten nahegelegt 
habe, ein Jahr in Benares zuzubringen): die, deren Seelen nicht 
völlig blind sind, werden mit Erstaunen gewahren, daß diese 
Herren, so „unmoralisch" sie nach europäischen Begriffen sind, so 
viel sie schauspielern, verheimlichen, lügen, so ungeniert sie in 
Züchtung auf Charakter schafft nur Rohmaterial. 423 
Bordellen verkehren, ja so wenig imponierend in der Regel ihr 
Charakter ist, an moralischer Bildung doch unvergleichlich viel 
höher stehen, als die meisten unserer Landsleute. Der bloße Begriff 
einer moralischen Bildung ist dem Durchschnittseuropäer fremd. 
Er wähnt, mit dem „Charakter" sei alles gesagt und getan. Was 
bedeutet aber Charakter? Die Festigkeit eines gegebenen psychischen 
Gefüges. Nun ist diese Festigkeit eine reine Frage der Physiologie 
und hat mit Moralität nichts zu schaffen. So schön es ist, wenn ein 
moralisch Gebildeter Festigkeit beweist, so entsetzlich ist es, wenn 
ein Roher gleiches tut. Wir haben durch Züchtung auf Charakter ein 
besseres Seelen-Rohmaterial in die Welt gesetzt, als der ganze 
Osten es aufweisen kann. Aber mehr ist bis heute nicht geschehen. 
Es wäre Zeit, mit der Ausbildung anzuheben. 
Ich wünschte, den Missionen würde seitens der Regierungen 
ein Riegel vorgeschoben. Ihre einzelnen Glieder sind oft ganz 
ehrenwert, allein sie stehen an moralischer Bildung fast ausnahms- 
los zu tief unter denen, die sie „bekehren" kommen, um nicht viel 
mehr zu schaden, als zu nützen. Zu gebildeten Leuten soll man 
keine Rüpel als Lehrer aussenden; selbst wenn diese die besseren 
Menschen sind. 
Auf dem Yang-Tse wütet der Sturm. Wenn ich mit ge- 
schlossenen Augen daliege und den Stimmen der Luft und 
des Wassers lausche, überkommt mich die Einbildung, daß 
ich auf dem Ozean sei. Und wenn ich dann aufblicke, so enttäuscht 
mich das Schauspiel eines zerschrammten, kaum zersplitterten 
schmutzigen Wasserspiegels. Es ist besser, die Augen geschlosen 
zu behalten. — Wie ich sie nun nach einer Weile wieder auftue, 
das Bewußtsein ganz von den Tönen eingenommen, da ist mir, als 
hätte alles sich verwandelt: ich sehe gewaltige Wogen unter mir, 
ein tobendes Meer; nur schwebe ich so hoch über ihm, daß jene 
ganz klein erscheinen. 
Es ist ein altbeliebtes Spiel von mir, Kleines groß und Großes 
klein vorzustellen ; ein Spiel, das viel Kurzweil bereitet. In Sand- 
gerinseln Canons, in Lachen Meere zu sehen — dazu bedarf es 
keiner Anspannung der Einbildungskraft und die innere Berei- 
cherung, die man dabei erfährt, ist groß. So kann man gewaltigen 
Naturereignissen beiwohnen, ohne je seine Scholle verlassen zu 
424 Pfütze und Ozean; Shen Chi-P'ei. 
haben Und doch hilft alle Phantasie über unsere wesentliche 
Begrenztheit nicht hinaus. Welcher Unterschied besteht denn „an 
sich" zwischen einer Pfütze und dem Ozean? Nur einer der abso- 
luten Größe. Tatsachen sind beide im gleichen Sinn, an Pro- 
blemen ist der Ozean nicht reicher; jedes Atom ist ein Sonnen- 
system, kann ohne weiteres so vorgestellt werden. Gleichwohl ruft 
nur das, was groß ist in bezug auf uns, von selbst große Ge- 
fühle wach. Das zeigt, wie kläglich abhängig wir von äußerer 
Anregung sind. Eine gewaltige Erschütterung hebt leicht den Phi- 
lister hoch über ihn selbst hinaus; andrerseits kann das Genie 
nur inmitten einer günstigen Umwelt seine Bestimmung voll- 
kommen erfüllen. — Man sollte so weit gelangen, daß man von 
den Zufälligkeiten des äußeren Milieus ganz unabhängig ist; das 
heißt, man sollte sein inneres Milieu — seinen gegebenen psycho- 
physischen Organismus — so vollkommen beherrschen, daß man 
durch willkürliche Umstimmung desselben, wie der Achtfuß seine 
Hautfärbung bestimmt, eben das mit Sicherheit erreichte, was 
sonst nur durch kluge Abwägung äußerer Einflüsse einigermaßen 
zu bewerkstelligen ist. 
SHANGHAI. 
Ich habe also Shen Chi-P'ei gesehen, den Literaten, von dem ich 
so viel gehört hatte. Die Erwartungen, die ich an seine Be- 
kanntschaft knüpfte, waren groß. Fast jedesmal, wo das Ge- 
spräch zu Peking auf europäische Verhältnisse kam, und ich die 
Ansichten chinesischer Freunde zu berichtigen Veranlassung fand, 
sahen diese sich bedeutungsvoll (an und riefen aus: das hat uns 
Shen Chi-P'ei auch gesagt; nur wollten wir ihm nicht glauben, 
da er, so gelehrt er immer sei, sich mit der westlichen Kultur 
nur oberflächlich befaßt hat. — Was mußte das doch für ein 
Mann sein, der ohne zu wissen das Meiste verstand! — Der 
Augenschein, die persönliche Fühlung hat mir keine Enttäuschung 
gebracht. Shen Chi-P'ei ist die größte Erfüllung chinesischer 
Möglichkeit, die ich gesehen; er ist tatsächlich ein „Edler", 
wie Kong Fu-Tse ihn gezeichnet hat. Ein Greis mit dem Feuer 
Allgemeine Bestimmung des Chinesentums. 425 
eines Jünglings ; ehrwürdig und ernst, wie es dem Weisen ziemt, 
und dabei anmutig in seinem Gebaren, wie ein Mädchen; voll- 
endet in der Form und zugleich ganz Tiefe und Sinn. In einem 
wunderbar hohen Grad bringt Shen jenes Ideal der ' Kon- 
kretisierung zur Darstellung, das für die chinesische Kultur vor 
allem charakteristisch ist. In ihm ist alle persönliche Tiefe zur 
typischen Form und Oberfläche geworden; keine Gebärde, die 
dem Buch der Riten nicht gemäß wäre, und doch auch keine, 
die nicht eben ihn, nur ihn zum entsprechenden Ausdruck brächte. 
Seine Unterhaltung ist wunderbar belehrend. Nie bin ich unter Chi- 
nesen so tiefem Verständnis des Nicht-Chinesischen begegnet, vom 
Chinesischen zu schweigen. Und dabei ist Shen einer der extremst- 
orthodoxen Konfuzianer, die ich gekannt; neuerungsfeindlich, re- 
aktionär, ein Literat alten Schlages, der das Fremde kaum für 
kennenswert hält. Er ist eben so tief in sich selbst hineingelangt, 
daß alles Menschliche sich für ihn von selbst versteht, daß ganz 
wenige äußere Anhaltspunkte ihm genügen, um jeden menschlichen 
Sinn a priori vorwegzunehmen. Wieder einmal sehe ich's: jede 
Gestalt, auch die begrenzteste, ist eine mögliche Fassung des Un- 
begrenzten. 
Ich bin glücklich, dieses Bild menschlicher Vollendung mit 
meinen leiblichen Augen gesehen zu haben. Schon lange trug ich 
mich damit, eine allgemeine Bestimmung des Chinesentums zu 
geben, aber ich wartete immer noch ab, ob mir nicht eine Tat- 
sache begegnete, die eine Erweiterung des Kreises erforderte. 
Einer reicheren Natur und einer vollendeteren Kultur, als Shen sie 
verkörpert, werde ich in China nicht mehr treffen. So darf ich 
heute, die konkrete Anschauung vor Augen, mit gutem Gewissen 
an die Ausführung meines Vorhabens gehen. Es gilt zusammen- 
zufassen und von einer einzigen Lichtquelle her zu beleuchten, was 
ich während meines Aufenthaltes in China unzusammenhängend be- 
merkt und aufgezeichnet habe. 
Wohlbemerkt: um eine Bestimmung des Chinesentums, nicht 
des Chinesen ist mir heute zu tun; um das, was sich einerseits 
in abstracto fassen läßt, andrerseits für die ganze Menschheit sym- 
bolische Bedeutung hat. Die konkrete chinesische Substanz ist ein 
Absolutum, das weder abgeleitet, noch als Vorbild vorgezeichnet 
werden kann ; sie, das Eigentliche, bleibt außerhalb meiner Be- 
trachtung. Nur soviel darüber, unter dem frischen Eindruck Shen 
426 Der Chinese wenig individualisiert, Intellektualist. 
Chi-P'ei's: die chinesische Substanz ist ein Großes; eine Entelechie, 
die an Potenz, wenn nicht an Reichtum, kaum übertroffen dasteht. 
Der Chinese ist ohne Zweifel weniger individualisiert als 
der Europäer; ein Shen steht einem Kuli viel näher, als bei 
uns ein Intellektueller einem Landarbeiter; dieses springt um so 
mehr in die Augen, als die Unterschiede zwischen den Klassen- 
typen in China ungeheuer viel größer sind als bei uns, was dem 
vorherbezeichneten Verhältnis entgegenwirkt. Der größte, über- 
legenste Chinese ist nicht Persönlichkeit im Goetheschen Sinn. 
Damit sind ihm bestimmte unüberschreitbare Grenzen gesetzt: 
alles das liegt jenseits seines Vermögens, was differenziertes Ein- 
zigkeitsbewußtsein voraussetzt: also individuelle Charakteristik, 
individualisierte Liebe, zumal jene unendliche und doch rein per- 
sönliche Liebe, welche Christus jeder einzelnen Seele entgegen- 
bringen soll; seine Carität stellt, wo vorhanden, kein persönliches 
Verhältnis zum Einzelnen dar, sondern, gleich der stoischen 
Humanität, ein abstraktes zur Allgemeinheit. Aus eben dem Grunde 
fehlt ihm das Persönlich-Schöpferische, als welches unbedingt 
Einzigkeitsbewußtsein voraussetzt; aus eben dem Grunde ist er 
Intellektualist. Intellektualismus entsteht überall als subjektives 
Spiegelbild objektiv bestehender Gleichförmigkeit; wo eine un- 
individualisierte Menschheit (welche, wohlbemerkt, nie die früheste 
ist! Naturvölker sind viel individualisierter als Chinesen) hohe 
Verstandesanlagen besitzt, bekennt sie sich ausnahmslos zum 
Ideal, der Uniformierung, der Systematisierung, zum Postulat un- 
begrenzter Verallgemeinerungsmöglichkeit, denn nichts liegt dem 
Intellekt ursprünglich so nah, wie das Generalisieren. Wo nun 
die Tatsachen dies Verfahren durchaus rechtfertigen — je un- 
individualisierter ein Volk, desto mehr werden allgemein-abstrakte 
Bestimmungen dem Einzelnen gerecht — dort verstärkt sich die 
ursprüngliche Neigung in der Zeit. Damit ist dem möglichen 
Geistesleben eine weitere Schranke gesetzt: der Chinese als 
Intellektualist hat kein bewußtes Verhältnis zum Metaphysisch- 
Wirklichen; er bleibt, sofern er reflektiert, an der Oberfläche der 
Dinge haften. 
Sehr bedeutsam ist nun, daß der Chinese uns trotz dieser 
Schranken in allen wesentlichen geistigen Hinsichten ebenbürtig 
ist: Wesenserfassung und Wesensausdruck setzen keine Individu- 
Der Chinese trotz nied. Naturstufe d. Kulturideal a. nächsten gekommen. 427 
alisiertheit voraus. Als Mystiker kommt er den größten Europäern 
und Indern gleich, denn mystische Erkenntnis bedeutet Erfassen 
des tiefsten Lebensgrunds, welcher überall ein gleicher ist. Zum 
absolut Guten und Schönen steht der. Chinese in unmittelbarstem 
Verhältnis, weil die Verwirklichung des absoluten Ideals ausschließ- 
lich Funktion der Vollendung und unabhängig vom Charakter der 
Elemente ist. "Überall, wo Wesentliches in Frage kommt, ist von 
Beschränktheit bei ihm nichts zu spüren. Das Wesen liegt eben 
tiefer als die Individualität. Diese Wahrheit hat China für immer 
bewiesen. 
Insofern er wenig individualisiert ist, kann man wohl sagen, 
daß der Chinese auf einer niedrigeren Naturstufe steht als wir. So 
wenig ich dem Evolutionsdogma sonst hold bin: sicher entwickelt 
sich der Mensch als geistiges Wesen im Sinne fortschreitender 
Differenziation, und auf diesem Wege sind wir weiter gelangt als 
der Chinese. Ebenso sicher sind wir weniger weit als er in der 
Kultur, denn diese hängt ab vom Grade, bis zu welchem ein ge- 
gebener Naturzustand durchgebildet ward. An Durchgebildetheit 
ist der Chinese der erste, vorgeschrittenste Mensch; seine sämt- 
lichen Anlagen sind durchgeistigt, überall erscheint der Ausdruck 
vollendet. So beweist Chinas Beispiel ein weiteres: daß Kultur 
in einer anderen Dimension als der Fortschritt liegt. Es beweist 
noch ein Drittes: daß es letzthin allein auf Durchbildung ankommt, 
denn auf und trotz seiner niederen Naturstufe ist der Chinese 
der Verwirklichung des Menschheitsideals näher gekommen, als 
wir bisher. 
Demnach bedeutet das Chinesentum einerseits ein Überbleibsel 
aus vergangenen Entwicklungsstadien, andrerseits eine Vorweg- 
nahme des Zukunftsideals. Für mich besteht kein Zweifel darüber, 
daß der Höchstgebildete künftiger Zeiten dem traditionellen Kon- 
fuzianer näher stehen wird als dem modernen Menschen, daß die 
soziale Ordnung der Zukunft der chinesischen ähnlicher sehen wird 
als dem, was unsere Utopisten erhoffen. Wohl wird der Mensch 
der Zukunft autonom sein; äußere Schranken wird es wenige mehr 
geben, und die bestehenden werden als pis-aller verurteilt werden, 
wie dies in China seit Jahrtausenden geschieht. Aber der Mensch 
wird sich dann selbst, aus eigener höherer Einsicht heraus, be- 
schränken; er wird überindividuell, nicht individualistisch denken. 
Dieses Stadium vollendet-überindividuellen Denkens wird aber dem- 
428 Chinas Kultur und das Zukunftsideal. 
jenigen unterindividuellen, auf welchem China steht, verwandter 
sein als unserem heutigen. 
Das traditionale Chinesentum verhält sich sonach zum höchst- 
denkbaren Menschheitszustande nicht viel anders, wie die mythisch 
gefaßte Weisheit antiker Weisen zur wissenschaftlichen Bestä- 
tigung ihrer in exakterer Form. Dem Sinne nach über die 
Rishis hinauszugehen ist schwer möglich; aber die gleichen 
Erkenntnisse lassen sich besser fassen. So wird auch die chine- 
sische Kultur dem Sinne nach nie übertroffen werden. Was nun 
den Ausdruck betrifft, so hängt dessen Unzulängliches in allen 
prinzipiellen Hinsichten mit ihrem Intellektualismus zusammen. 
Das Ideal der Konkretisierung, an sich ein absolutes für diese 
Welt, verwirklicht sich in China nicht in der Vollendung unver- 
gleichlicher, einzigartiger Seelen, sondern in der vollendet dar- 
gestellten Norm; dies bedingt, daß das Tiefste im Menschen un- 
ergriffen bleibt. Das Höchste wäre, das Konkretisierungsideal ver- 
mittelst des reinen Subjekts zu realisieren. Des Menschen Tiefstes 
ist reine Subjektivität, unobjektivierbar, unerfaßbar von außen her; 
in und aus ihr gilt es unmittelbar zu leben. Der Chinese tut es nur 
mittelbar, durch Selbsthingabe an eine objektivierte Weisheit. Eine 
solche nun, so tief und umfassend sie sei, wird Besonderem nicht 
gerecht, sie weiß nur von Typen; sie muß veräußerlichen, da sie 
nicht von der einzelnen Seele ausgeht, sondern den abstrakten Be- 
ziehungen, die zwischen vielen bestehen, sie muß nivellieren, da 
sie nur auf das Allgemeine Rücksicht nimmt; und die Harmonie, 
die sie schafft, entsteht auf Kosten des Reichtums. Gelingt es uns 
dereinst, vermittelst freier Initiative vollentwickelter Individuali- 
täten, die unbefangen ihre persönliche Vollendung arlstreben, eine 
gleich vollkommene Harmonie zu begründen, wie sie in China 
besteht, so wird das soziale Ideal verwirklicht sein. 
Noch ein Wort zur Frage unserer größeren Originalität den 
Völkern des Ostens gegenüber. Sie bedeutet keinen unbedingten 
Vorzug, denn sie wird durch ein entsprechend schlechteres Er- 
innerungsvermögen kompensiert. Ost und West verkörpern zurzeit 
die entgegengesetzten Pole des lebendigen Geschehens, den der 
Neuerung und den des Gedächtnisses. Die Stereotypie der Natur 
ist nichts anderes als Erinnerung, ihr Neuschaffen recht eigentlich 
Erfinden, und beide zusammen scheinen notwendig zum Fort- 
bestand der Welt. Aktuell aber schließen sich Neugestalten und 
Gedächtnis und Erfindungsgabe als Pole des Geschehens. 429 
Festhalten fertiger Gestalten aus. Fast jeder schöpferische Geist 
hat über ein schlechtes Gedächtnis geklagt, den meisten Gedächtnis- 
kräftigen fällt wenig ein. Das Erinnerungsvermögen der Völker 
des Ostens ist ungeheuer; fast ließe es sich als Unfähigkeit zu ver- 
gessen definieren. Gleichermaßen ungeheuer ist dort die Dauer- 
haftigkeit einmal geprägter Lebensform und deren physische Vitalität. 
Die Kulturgestaltungen degenerieren im Osten ebenso langsam, 
wie die der Natur auf der ganzen Welt. Wir nun entarten, sobald 
es mit uns nicht vorwärts geht. Das macht, daß wir ein schlechtes 
Gedächtnis haben. Nur insofern wir forterfinden, erscheint unser 
Fortbestand gesichert. — Werden wir ad indefinitum forterfinden 
können? Oder dereinst hinüberschwenken zum entgegengesetzten 
Pol des Geschehens? Oder gar ganz verschwinden von diesem 
Planeten nach kurzer, übereilter Laufbahn? — Niemand vermag's 
zu sagen. 
Morgen verlasse ich das Reich der Mitte ; was nehme ich 
mit von dannen? Belehrung mehr, als ich im Lauf von 
Jahren werde verarbeiten können. Dennoch fühle ich 
mich unbefriedigt: so viel China mir gegeben, verwandelt hat es 
mich nicht; ich scheide beinahe als der gleiche, als der ich kam. 
Entgegen meiner eigensten Veranlagung bin ich hier vom Anfang 
bis zum Ende Betrachter geblieben ; so viel ich mich in die Chi- 
nesen hineinversetzt habe — die Periode des Andersseins scheint 
merkwürdig wenig für mich bedeutet zu haben. Wie seltsam: 
China hat mich doch mehr beeindruckt, als irgendein Land; es 
hat mich unermeßlich viel gelehrt; ich habe es überdies von Herzen 
liebgewonnen. Und doch scheide ich mit einem leichten Gefühl 
des Ressentiments. 
Wenn ich nun nachdenke über dieses Gefühl, so komme ich 
bald genug auf seinen Grund. Ich habe von China im selben Sinne 
weniger gehabt als von anderen, objektiv uninteressanteren Län- 
dern, wie Agra für mich bedeutungsarm gewesen ist im Vergleich 
zur Wildnis der Himalayas und alle Kunst überhaupt und von 
je im Vergleich zur Natur. Indem ich Menschenkunst, die höchste 
ausgenommen, betrachte, gelange ich nie aus meinen ursprünglichen 
Möglichkeiten hinaus; ich lerne wohl neue Sprachen reden, mich in 
bekannten besser ausdrücken, ich werde mir Seiten meiner selbst 
430 Die Chinesen als menschlichste Menschen. 
bewußt, über die ich sonst vielleicht hinwegfühlte — in meinem 
Menschentum mit seinen engen Grenzen bleibe ich befangen. Dieses 
typische Mißgeschick nun hat mich in China in ungewöhnlichem 
Maße ereilt, weil die Chinesen von allen Menschen die — mensch- 
lichsten sind; sie haben es von allen am weitesten gebracht in der 
Ausprägung ihrer Eigenart. Und wenn sie andrerseits auch das 
Allgemein-Menschliche dem Eigentümlichen, und jenem das mehr- 
als-Menschliche in vielleicht unerreichtem Grade eingebildet haben, 
so bringt es doch gerade das Erschöpfende des Ausdrucks mit 
sich, daß das resultierende Bild ein solches der Allzumenschlichkeit 
ist. Die moralische Bildung so weit durchzuführen, daß die äußere 
Ordnung als notwendiges Ergebnis interferierenden freien Wollens 
erscheint, ist freilich ein Äußerstes — aber zugleich ein Allzu- 
menschliches, denn nur Menschen vollenden sich in der sozialen 
Gemeinschaft. Das Gefühlsleben so weit zu stilisieren, daß 
ein objektives Ritual als entsprechender Ausdruck der subjektiven 
Impulse erscheint — das ist gleichfalls ein Äußerstes, aber auch 
gleichfalls ein Allzumenschliches: denn Urbanität kommt nur für 
Menschen in Frage. Wohl hat der Chinese, als der wurzelhafteste 
Mensch, von allen den universalsten Hintergrund, aber das Uni- 
versale ist bei ihm ins Rein-Menschliche hineingepreßt, wodurch 
dieses in unerhörtem Grade potenziert erscheint. Nun bin auch 
ich, bis auf weiteres, ein Mensch; und weile ich in einer Atmo- 
sphäre potenzierter Menschlichkeit, so wird auch meine Be- 
schränktheit potenziert. Ich laufe Gefahr, in meiner Eigenart aus- 
zukristallisieren und davor fürchte ich mich. 
Wäre die chinesische Zivilisation wenigstens schwer verständ- 
lich als Phänomen, wie es die indische in hohem Grade ist, 
dann besäße sie trotzdem anregende Kraft. Ameisen müssen an- 
deren Ameisen wohl uninteressant vorkommen, weil jede einzelne 
das Ameisentum so vollkommen erschöpft, wie eine Statue des 
Phidias die Möglichkeiten hellenischer Körperbildung, so daß 
keine der anderen etwas Neues bietet, — aber mich fördert 
ihre Anschauung doch, weil eine Einfühlung in das noch so „Allzu- 
ameisenhafte" mich immerhin aus dem „Allzumenschlichen" hinaus- 
zieht. Zu den Chinesen nun stehe ich wie eine Ameise zur an- 
deren; von allen Nationen sind sie die unmittelbar verständlichste. 
Die Nüchternheit ihrer Grundveranlagung, das Vorherrschen des 
gesunden Menschenverstandes über der Phantasie, ihre Freude 
Kultur und Ursprünglichkeit. 431 
am Selbstverständlichen, ihr Kult für das klassische Ideal bedingen 
es, daß keine ihrer Gestaltungen, so verschnörkelt sie aus der 
Ferne besehen scheint, dem, der sie eindringlich betrachtet, die 
mindesten Verständnisschwierigkeiten bereitet. Es gibt kein chine- 
sisches Ideal, das nicht jedem Menschen ein Vorbild sein könnte, 
es gibt sogar keine chinoiserie , der nicht jeder gerecht werden 
könnte. So gibt es auch nichts in der Atmosphäre der chinesischen 
Kultur, das den Geist als solchen anregte: sie bestärkt einen, im 
Gegenteil, in der Routine des Menschentums. 
Freilich ist die chinesische Natur überaus großartig ; die 
wenigen Male, da mich ihr Geist erfaßte, bin ich innerlich ge- 
waltig gefördert worden. Aber in China hat der Mensch, wie 
nirgends anderswo, die Natur in den Hintergrund gedrängt ; hier 
herrscht die Kultur souverän. In Europa ist dies nicht halb so 
sehr der Fall, trotz der größeren Effikazität unserer Kulturme- 
thoden, weil dort der Mensch, um die Natur zu beherrschen, sich 
in ihren Sinn hineinversetzt und dessen Äußerungen dadurch ge- 
steigert Hat; in China sieht man intensivste Menschenkultur 
einem gleichsam inerten Boden aufgeprägt. Deshalb hilft die 
Anschauung der Natur nur ausnahmsweise "über das Menschliche 
hinaus. Wie tragisch, daß das Höchste an sich selbst den Geist 
nicht mehr anregt, sondern abstumpft! Die vollkommen aus- 
gedrückte Urkraft spürt man nicht mehr, wo alle Möglichkeiten 
erschöpft sind, bleibt dem Geiste nichts zu wollen übrig. Der 
„russische Mensch" gilt dem heutigen Westeuropäer von allen 
als der ursprünglichste; das ist, weil er von allen begabten der 
unfertigste, dem Chinesen am meisten entgegengesetzt ist. Wesent- 
lich ursprünglicher als dieser ist er nicht. Wenn ich in China etwas 
gelernt, so ist es dies, daß Vollendung die Spontaneität nicht zu 
beeinträchtigen braucht (so häufig sie es tut); der Zivilisierte 
braucht nicht unlebendiger zu sein als der Barbar. Der Anschein 
der wesentlichen Leblosigkeit geprägter Form rührt lediglich daher, 
daß sie den Beschauer nicht anregt. Pflanzen und Tieren spricht 
keiner Ursprünglichkeit ab, die doch in ihrer Sphäre vollendeter 
sind, als irgendein Mensch jemals war, eben weil sie ihn anregen; 
um sie zu verstehen, muß er von der Erscheinung den Weg zum 
Sinn selber schaffen, weshalb hier eben das ihn bewegt dünkt, 
was ihm bei seinesgleichen starr und leblos vorkommt. Aber diese 
Einsicht ändert nichts an der Tatsache, daß das Vollendete den 
432 Natur und Geist. 
Geist nicht zum Fortschaffen reizt. Deswegen ist das Gebildete 
weniger bedeutsam für uns als das Naturwüchsige, deshalb scheide 
ich mit geringerer Förderung von der zivilisiertesten Menschheit, 
die es gibt, als ich aus Ceylons Urwäldern schied. 
Die Anschauung der chinesischen Zivilisation wirft viel Licht 
auf das Verhältnis von Natur und Geist. Wie ichs schon in den 
Himalayas niederschrieb: die Schöpfung bringt ihr Prinzip wohl 
zum Ausdruck, aber ist es nicht. Die Erscheinungen der Kultur sind 
nun als solche ihrem geistigen Urgründe nicht näher als die der 
Natur; auch sie sind „Natur", nicht „Geist"; auch hier ist es, 
sobald die Gestaltung vollendet, vorbei mit der Spontaneität. 
Zwischen toten Institutionen und dem Sternenheer besteht, vom 
metaphysischen Grunde her betrachtet, kein Unterschied; in der 
Routine des Rechtsverfahrens äußert sich nicht mehr lebendiger 
Geist als im Kreisen der Himmelskörper. So ist auch die chine- 
sische Zivilisation in ihrer heutigen typischen Gestalt „Natur", nicht 
„Geist"; sie ist keine Form von Freiheit. 
Alle Freiheit erfüllt sich in der Gebundenheit. Ich aber habe 
genug zurzeit von aller Erfüllung; ich sehne mich nach der Wol- 
lust der Erneuerung; ich sehne mich fort vor allem vom Allzu- 
menschlichen. Fast wollte ich, ich hätte Japan schon hinter mir, 
und schiffte mich nach der Südsee ein, in der es so wundersame 
Pische geben soll. 
VI. 
JAPAN. 
Keyserling, Reisetagebuch. 28 
Einfluß der Natur auf die Kunstentwickelung. 435 
DURCH YAMATO 
Ich beginne meinen Aufenthalt in Japan mit einer Fußwanderung 
durch Yamato, die Provinz des Landes, mit der seine ältesten 
und heiligsten Erinnerungen verknüpft sind. Es ist die Zeit 
der Pilgerfahrten zu den buddhistischen Heiligtümern ; alle 
Straßen und Waldungen sind belebt, halb Japan scheint auf 
Ferienausflügen begriffen. Ich teile, so weit es irgend geht, das 
Leben meiner Reisegefährten, suche mit ihnen zu denken und zu 
fühlen, mit ihren Sinnen wahrzunehmen. 
An geschmeidigem Reichtum dürfte Japans Natur wohl un- 
übertroffen sein. Überraschend viel Coniferenarten gibt es hier, 
wunderbar mannigfaltig gestaltet ist das Laubholz ; und die Nuan- 
cierung, welche die Verteilung der Farben und Formen auf ver- 
schiedene Höhen- und Tiefenlagen selbsttätig erzielt, könnte keine 
Absicht künstlerischer komponieren. Was Wunder, daß der Japaner 
viel Sinn für die Naturform besitzt! Gleichwie der, den ein 
günstiges Geschick inmitten von Kunstschätzen aufwachsen ließ, 
die er nicht als eine fremde Herrlichkeit, sondern als seine natür- 
liche Umgebung betrachten durfte, bei nur mittelmäßigen Anlagen 
von Hause aus einen Geschmack und ein Auge besitzt, das sich 
künstlerisch weit höher begabte Sprossen barbarischer Länder 
nur ausnahmsweise aneignen, — in eben dem Sinne fördert eine 
reichgegliederte Natur. In Breiten, wo Licht- und Farbenkontraste 
so groß sind, daß die feineren Abstufungen unbemerkt bleiben, 
bringt es das visuell begabteste Volk nicht so weit in der Land- 
schaftsmalerei, wie in Gegenden mit günstigeren Lichtbrechungs- 
verhältnissen ; nicht umsonst ist die des Westens in Holland, 
28* 
436 Der Mensch ist zugleich Pflanze, Felsen und Meer. 
nicht in Italien aufgekommen und am weitesten gelangt. Japan 
nun zwingt das Auge zur Perzeption eben der Farben- und Form- 
verhältnisse, die für die japanische Kunst charakteristisch sind ; 
diese spezifische Nuance ist dort gegeben. Und ist sie einmal 
aufgefaßt, verstanden, dann schafft ein künstlerischer Geist unwill- 
kürlich in ihrem Sinne fort. Dieses nun, dieses Fortkomponieren 
im Geist und Sinn der Natur ist von den Künstlern des Fernen 
Ostens seit Alters mit einem Verständnis betrieben worden, wie nie 
bei uns. Es ist, als wäre das eigene Schönheitsstreben der Natur 
sich in ihnen bewußt geworden, als sei der Mensch hier das be- 
sondere Organ, vermittelst dessen sie ihre letzte Vollendung erzielt; 
hier verantwortet er gleichsam für den äußersten Zusammenklang. 
— Woher dieses wunderbare Können? Es geht auf die Methode 
des Sehenlernens zurück. Chinesische und japanische Maler sind 
Yogis ; sie betrachten die Natur nicht von außen her, sondern 
versenken sich in sie, wie sich der Mystiker in Gott versenkt. 
Dadurch geraten sie aus dem Menschlichen hinaus und werden 
eins mit dem Geiste der Dinge. Der Mensch ist ja nicht allein 
Mensch — er ist zugleich, mit verschiedenen Teilen seines Wesens, 
Tier, Pflanze, Felsen und Meer; nur wird er sich dessen selten 
bewußt und weiß nur als Mensch zu empfinden. Lernt er es indes, 
mit dem eins zu werden, was als ein scheinbar Fremdes außer 
ihm lebt, dann kann er es auch aus sich heraus hervorbringen. So 
wohnt ostasiatischen Landschaftsbildern recht eigentlich Land- 
schaftsleben inne, so gelingt es dem Japaner wie spielend, die 
Natur als Natur doch künstlerisch zu verwenden. Die unerreichte 
Vollendung japanischer Blumenarrangements rührt daher, daß der 
eigene Geist der Blumen den Strauß zum Strauße windet; forst- 
männisch bewirtschaftete Waldungen sind in Japan nicht häßlich, 
wie in Deutschland, weil hier der Mensch, anstatt den Bäumen 
seine Meinung aufzudrängen, sie in dem unterstützt, was sie selber 
am liebsten täten. Die natürliche Rotation der Gewächse wird be- 
rücksichtigt, von den besonderen Bedingungen des Terrains nie 
abgesehen. Und bildet ein überständiger Baum an einem Abhang 
eine schöne Silhuette, nun, so wird er dort stehen gelassen, auch 
wenn er, forstmännisch beurteilt, fallen sollte. 
Freilich, um es im Naturverständnis soweit zu bringen, muß 
man eben Japaner sein. Ich glaube nicht, daß ein Gärtner irgend- 
eines anderen Volks im japanischen Sinne Bäume zu zwergen 
Das Zwergen der Bäume ; Poesie des Hinterwäldler tums. 437 
wüßte, ohne jede Vergewaltigung der Natur; so weit ich sehe, 
gibt es keine lehrbare Methode dafür, beruht es ganz auf innerem 
Verständnis. Jeden Morgen sieht sich der Baumzüchter seine 
Pflänzlein sorgfältig an, und beraubt sie dann — eines Blattes 
oder Triebes! Weshalb gerade dieses? er vermag es selbst nicht 
zu sagen ; jedoch er weiß, daß eben dieses Organ extirpiert 
werden muß, auf daß der innere Wachstumsimpuls über die vor- 
gesetzten Dimensionen nicht hinausführte, und der Erfolg gibt ihm 
fast jedesmal Recht. Solches Intuitionsvermögen läßt sich wohl 
nicht erklären; man muß es als Wunder gelten lassen. Aber 
sicher erscheint mir immerhin, daß die wunderbare Nuanciertheit 
der japanischen Natur, die Veränderung in der lebendigen Ge- 
staltung, welche in Japan die geringste Terrainverschiebung 
mit sich bringt, ein wichtiges Moment bedeutet hat bei der 
Entwickelung der vorhandenen Anlagen. Schon beginne auch ich 
zu beobachten, wie ich früher nie beobachtet habe; mir ist, als 
wäre ich bis vor wenigen Tagen blind gewesen. Und genieße die 
Wundergabe des Schauens so intensiv, daß ich die sonst so will- 
kommenen Dämmerstunden nicht ohne Mißmut hereinbrechen sehe. 
Jetzt durchwandere ich entlegene Täler, die der Fuß des weißen 
Mannes kaum jemals betritt. Den Dorfbewohnern bin ich ein 
Gegenstand nicht endenwollender Kurzweil. Freundlich sind 
sie und gefällig so sehr sie's nur sein könnten, allein sie 
lachen, wohin ich mich nur wende, wegen meiner für ihre 'Be- 
griffe übermenschlichen Körpergröße. Heute früh, als ich einen 
steilen Bergpfad hinanstieg, fühlte ich mich plötzlich von rück- 
wärts geschoben ; wie ich mich umwandte, stürzten zwei bild- 
hübsche Mädel lachend davon: sie hatten feststellen wollen, wie 
schwer ich sei. — Es ist doch etwas Wundersames um das Hinter- 
wäldlertum. Ich kenne es gut von meiner Heimat her. Jedesmal, 
wenn ich auf mein abgelegenes Waldgut fahre, finde ich Gelegen- 
heit zu ehrfürchtigem Staunen darob, wie bedeutsam im kleinsten 
Kreise das noch so Alltägliche wirkt, wie ungeheuer die enge 
Perspektive den Sinn des Nichtalltäglichen steigert. Mein Auf- 
seher sieht die herumziehenden Arbeiter von den Inseln, die einen 
anderen Dialekt des Estnischen sprechen als er, kaum als Men- 
schen an; Kraniche sind sie ihm. Er berichtet mir: neuerdings 
438 Der Konzentrische wesenhafter als der Exzentrische ; Lafcadio Hearn. 
lebt hier ein gewisser Michel — man weiß nicht genau woher er 
kommt — seine Art ist auffällig — ganz richtig scheint es nicht 
mit ihm zu sein. Dieser Michel erweist sich dann als der trivialste 
aller Durchschnittsmenschen, aber vom Hintergrunde des Könno- 
schen Hinterwäldlertums hebt er sich ab, so typisch-großzügig, 
so plastisch, wie ein homerischer Held. — Und wie voll- 
kommen sind die Hinterwäldler! Bei ihnen allein vielleicht unter 
den kleinen Leuten unserer Zeit bilden Form und Gehalt noch 
eine Einheit. Um in weiten Verhältnissen vollkommen zu sein, 
muß man viele Generationen hinter sich haben, die langsam ihren 
Gesichts- und Wirkungskreis erweitert haben; mit einem Mal, 
von heute auf morgen, gelingt es nicht. So wirkt in der 
modernen schnellebigen Welt, in welcher der Bauernsohn so oft 
als reicher Bürger endet, allenfalls das Exzentrische interessant; 
nicht umsonst stellen die Dichter unserer Zeit mit Vorliebe Ver- 
brecher, Psychopathen und Hochstapler dar. Das bedeutet natür- 
lich ein faute de mieux: Vollendung im Konzentrischen ist das 
Höhere. Das Exzentrische schließt wesentlich aus, das Konzen- 
trische wesentlich ein, weshalb der konzentrische Mensch unter 
allen Umständen der Reichere, Tiefere, . Wesenhaftere ist; er 
allein vermag in seiner Erscheinung das Tiefste unverkümmert 
zum Ausdruck zu bringen. Unter Hinterwäldlern wahrt jeder seine 
Eigenart, wird diese jedem bereitwilligst zugestanden; in der 
weiten amorphen Masse wollen alle wie alle sein. Die wesent- 
liche Gestaltlosigkeit bedingt desto sklavischeres Hängen an der 
Konvention. In der Quersumme gleichsam wird die Form ge- 
sucht, die keine einzelne Ziffer für sich besitzt. 
Das japanische Hinterwäldlertum ist mir sympathischer, als 
irgendeines, das ich jemals sah. Ihm eignet alP das Süße, Zarte, 
Sinnige, Gemüt- und Reizvolle, das mir den kleinen Mann dieser 
Breiten, seit ich Lafcadio Hearn gelesen, so liebenswert er- 
scheinen ließ. Die kleinen Leute hier sind liebenswert. Ihre 
Höflichkeit ist ohne Zweifel eine des Herzens, von Gewinnsucht 
und Übervorteilungsstreben habe ich nichts gespürt. Vielleicht 
zeigen sie mir auch ihre besten Seiten, weil ich, einem Winke 
meines Begleiters folgend, eines jungen Dichters aus Kyoto, mich 
so zu ihnen verhalte, wie daheim als Feudalherr zur patriarchalisch 
denkenden Bauernschaft. In den entlegenen Tälern von Yamato 
ist das Mittelalter noch nicht vorüber; dort ist die Ära von 
Kinder er Ziehung ; Konfuzianismus und japanische Rücksichtskultar. 439 
Meiji kaum noch angebrochen; dort erwarten die Bauern vom 
Herrn noch Überlegenheit, Großzügigkeit, Distanz, jenes Bewußt- 
sein so absoluten Darüberstehens, daß es eben deshalb im Ver- 
kehr die äußerste Familiarität gewähren läßt; dort wollen sie noch 
aufschauen können. Wie gern habe ich mich in eine Rolle zurück- 
versetzt, die zu spielen unsere Welt immer weniger Gelegenheit 
gibt! Und der praktische Erfolg war der, daß sich überall Leute 
fanden, die mir Dienste leisteten und Gefälligkeiten erwiesen, ohne 
Bezahlung dafür annehmen zu wollen. 
Ich raste in einem wohlhabenden Dorf, an schäumendem, 
forellenreichen Bache. Wo in der Welt ist der kleine Mann auch 
nur annähernd so gebildet wie in Japan? Was immer er tut, zeugt 
von Kultur; nichts Unsauberes, Häßliches duldet er; exquisiteste 
Rücksicht bestimmt das Verhalten aller zu allen. Und was zumal 
die Kinder betrifft, so habe ich gleich reizende nirgends gesehen. 
Kaum je erweisen sie sich ungebärdig, was offenbar darauf beruht, 
daß sie mit vollkommenem Verständnis behandelt und doch nie- 
mals verwöhnt werden: schon den kleinsten wird Rücksichtnahme 
auferlegt. Unglaublich wenig Selbstsucht waltet hier; jeder scheint 
freudig für andere zu leben, seinen Teil dazu beizutragen, daß das 
Ganze möglichst harmonisch würde. 
Nicht anders in der Idee ist es in China. Wie der Konfuzianis- 
mus nach Japan kam, da haben ihn seine Bewohner sofort über- 
nommen als verklärten und vertieften Ausdruck dessen, was seit 
je bei ihnen gang und gäbe war, und der vollkommene Ausdruck 
hat dann seinerseits eine Vertiefung und Konsolidierung der Sitte 
bewirkt. Immerhin: iwelcher Unterschied gegenüber dem Reich der 
Mitte! Der Konfuzianismus ist bedächtige Bauernweisheit, die japa- 
nische Rücksichtskultur scheint mir ein Instinktives, fast möchte ich 
sagen, ein Tierisch-Triebhaftes zu sein. Die Japaner sind reinlich, 
wie Katzen reinlich sind, sie sind höflich im Sinn der Pinguine, 
nehmen Rücksicht aufeinander mit der gleichen Selbstverständ- 
lichkeit, mit welcher Mütter ihre Kinder lieben; so eignet diesen 
Äußerungen die Vollkommenheit des Tiers. Die Japaner haben 
nichts von der chinesischen Tiefe und Gravität. Sie scheinen mir 
oberflächlich, phantasiearm, in beinahe unmenschlichen Grade 
matter-of-fact; gleichzeitig aber von ungeheurer Sensitivität, von 
440 Ein bäuerlicher Weiser; christlicher Charakter seiner Sympathie. 
einer Empfindlichkeit im weitesten Sinne, wie kein Chinese sie 
besitzt. Ihr ganzes Empfindungsleben scheint im selben Sinne 
„durchlässig", wie es bei uns nur im einen Fall des Mitleids ist. 
Bei ihnen beruht auf physiologischer Sensitivität, was beim Chi- 
nesen auf metaphysischer Besonnenheit. 
Ich gedenke Sontoku Ninomiyas, jenes bäuerlichen Weisen, 
der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so unvergleichlich 
viel für seine Landsleute getan und bedeutet hat, dessen Lebens- 
beschreibung und Lehren die Regierung seither als Evangelium 
im Volk verbreitet; 1 ) jenes schlichten Landmanns, welcher, kaum 
daß er sich hinaufgearbeitet hatte aus bitterster Not, ein Leben 
vollkommener Selbstlosigkeit begann, und bis zur Stunde seines 
Todes rastlos und ausschließlich darum bemüht war, die Verhält- 
nisse anderer zu sanieren : dem Buchstaben nach war er ein echter 
Konfuzianer, wie er sich denn selbst für nichts anderes hielt. In 
Wahrheit war er ein völlig Einziges, ein Mann, wie er in ganz Asien 
nur auf Japans Boden möglich war. Ihm fehlte der weite Horizont 
des chinesischen Weisen, dessen Allverständnis und Weltgefühl; 
philosophisch betrachtet war er oberflächlich. Aber dank seinem 
Sympathievermögen und der Energie, welche diesem zur Ver- 
fügung stand, hat er praktisch, wenn auch im noch so Kleinen, 
mehr vollbracht. Sontoku war im Tiefsten recht eigentlich Christ; 
seine Probleme waren die der christlichen Nächstenliebe. — Sollte 
hier die Hauptursache dessen liegen, weshalb Japan sich so 
schnell und erfolgreich hat verwestlichen können? Auch wir 
sind ja weniger besonnen und tief als Chinesen und Inder; wir 
sind nur energischer und sensitiver. Wahrscheinlich ist das, was 
man christliche Liebe heißt, weit mehr physiologisch als theolo- 
gisch bedingt. 
Wirklich: in vielen Beziehungen ist der Japaner uns 
nahe verwandt; jetzt, wo ich darauf aufmerksam ge- 
worden bin, fällt es mir mehr und mehr auf. Auch seine 
Energie ist kinetisch, auch sein Bewußtsein nach außen zugekehrt, 
vor allem aber ist er ebenso neugierig und neuerungssüchtig wie 
') Dieses Werk heißt Hotokuki; eine englische Übersetzung hat Todasu 
Yoshimoto unter dem Titel A Peasant Sage of Japan bei Longmans, Green 
& Co. in London veröffentlicht. 
Was aus uns unter chinesischem Einfluß geworden wäre. 44t 
wir. Ob es nicht, metaphysisch betrachtet, Zufall bedeutet, daß 
seine Kultur trotzdem ein Ausdruck chinesischen Geistes ist? — 
Ich habe mich während dieser Tage, die ich ununterbrochen in Ge- 
sellschaft der Pilger zubrachte, bemüht, in die Seele des Japaners 
einzudringen, und das Wenige, was ich bisher erkannt, erlaubt mir 
schon kaum mehr Zweifel daran, daß dieses Volk unter anderen 
Einflüssen ganz anders geworden wäre. Desto dankbarer bin ich 
dafür, daß seine Geschichte eben so und nicht anders verlaufen 
ist: seinen einzigartigen Reiz verdankt es unstreitig der chinesischen 
Schule; alle Gestaltungen, die mich erfreuen, sind mir der Idee 
nach von China her bekannt. Und so frage ich mich, wie wir nor- 
dische Barbaren uns wohl entwickelt hätten, wenn wir anstatt 
unter griechisch-römischen unter chinesischen Einfluß geraten 
wären: wären wir am Ende weiter als wir sind? — „Christen" 
wären wir vermutlich auch dann, unter irgendeinem Namen; auch 
energisch, aktiv und erfinderisch; ästhetisch und moralisch sicher 
gebildeter. Wir wären weniger vorgeschritten in der Technik und 
Fabrikstädte gäbe es -auf Erden noch morgen keine. Aber Wäre 
irgendein wesentlicher Nachteil daraus entstanden, daß die Ger- 
manen nicht von Rom sondern von Loyang ihre Kulturgüter be- 
zogen hätten? — Ich weiß nicht recht. Ich kann hier schwer 
objektiv urteilen, weil mir am Europäer hauptsächlich auffällt, 
was ihm fehlt, und am Asiaten, was ihn vorteilhaft auszeichnet. 
IM KLOSTER VON KOYA SAN. 
Ich beschließe meine Wanderung durch Yamato mit einer Pilger- 
fahrt nach dem Berge Koya-San, dessen Gipfel das berühm- 
teste Kloster Japans ziert. Es liegt im tiefen Schatten viel- 
hundertjähriger Coniferen. Nie sah ich heiligeren Hain. Von allen 
Bäumen, die ich kenne, ruft die Cryptomeria am zwingendsten und 
stärksten religiöse Assoziationen wach. Sie hat das Düstere der 
Zypresse, das Hoffnungsfreudige des Lebensbaums; zugleich das 
Hehre, Kosmisch-Gewaltige, Naturhaft-Unsterbliche der Tanne. 
Das Kloster ist eine typisch japanische Anlage; es sind nied- 
rige Holzhäuser mit schöngeschwungenen Dächern, von zierlichen 
442 Koya-San; Geschichte des 'japanischen Buddhismus. 
Gärten umringt; ich erwartete eine gleiche Atmosphäre des Fein- 
sinns und der Lieblichkeit einzuatmen, wie sonst bisher, wenn ich 
ähnliches vor Augen hatte. Statt dessen umweht mich eine Luft, die 
mir von Europa her wohlbekannt ist, aber die ich trotz allem, was ich 
zugelernt, in Japan einzuatmen doch nicht erwartet hätte: die Luft 
christlich-mittelalterlichen Klostertums. Es liegt etwas Herrisches, 
ja Kriegerisches, Machtvolles, Weltgewaltiges in dieser Luft trotz 
der sanften Anmut aller Einzelgestaltung. Die Mönche hier kann 
ich mir ebensogut kämpfend als betend vorstellen, die Äbte am 
besten als Kirchen fürsten im mittelalterlichen Sinn. Und das ist 
ein buddhistischer Wallfahrtsort! — Wie fern bin ich jenen heißen 
Gegenden gerückt, wo sanfte braune Menschen vor friedlich- 
thronenden Buddhas Blumen opfern! Der Geist, der zu Koya 
herrscht, ist kein Geist des Duldens und Nichtwollens, kein Geist 
der Sehnsucht aus dem Drang der Welt hinaus; er ist dem Geiste 
Indiens ganz fremd. Er ist wesentlich eins mit dem, der unsere 
Vorfahren von den Karolingern an bis zum Ausgang des Mittelalters 
beseelt hat. 
Ich vergegenwärtige mir, was ich von der Geschichte des 
japanischen Buddhismus weiß. In dem Grenzgebiet zwischen 
Indien und Zentral-Asien, dem Lande Gandhära, entwickelte sich 
im Lauf der ersten Jahrhunderte nach Christo eine wundersame 
Religion. Der Filiation des Buchstabens nach war sie Buddhismus, 
dem Geiste nach eine Abart der Bhakti, der emotionalistischen 
Ausdrucksform des Brahmanismus, welcher die Gottheit persön- 
lichen Charakter trägt und Glauben und Liebe als Kardinal- 
tugenden gelten; aber den dogmatischen Vorstellungen nach war 
sie ein für Indien völlig Neues: eine Erlöserreligion im Sinn 
des Christentums. Damals erfüllte Erlösungssehnsucht die ganze 
Welt. Allenthalben kamen Gemeinschaften auf, deren Mittel- 
punkt ein gewesener, gegenwärtiger oder künftiger Messias 
war, Offenbarungserwartung schwängerte die Luft und der Zeit- 
geist erschien von einer Einheitlichkeit von Alexandrien bis zum 
Fernen Osten, wie dies seither wohl nie mehr der Fall gewesen 
ist. 1 ) Indische Lehren waren bis nach Ägypten gelangt und um- 
') Man lese nebeneinander: E. A. Gordon „World Healers or the Lotus 
Gospel and its Bodhisattvas, compared with early christianity" (in Japan 
erschienen, aber erhältlich in London bei Eugene L. Morice, Cecil court, 
Charing Cross Road) und Max von Wulf: Ober Heilige und Heiligenverehrung 
Parallele Entwickelung von Buddhismus und Christentum. 443 
gekehrt, syrisch-kleinasiatische, unter diesen das Christentum in 
seinen vielfachen Abarten, drangen mit den Händlern bis gen China 
vor, der hellenistische Ideenkreis faßte mit griechisch-parthischen 
Fürsten im Kabul-Tale festen Fuß, was zur Folge hatte, daß alle 
lokalen Religionen vom universellen Geist jener Epoche wenn 
nicht umgestaltet, so doch befruchtet wurden. Auf diese Weise 
entwickelte sich im Westen das Christentum — ursprünglich der 
beschränkte Glaube einer obskuren Sekte — zu einer grandiosen 
allumspannenden Weltreligion; gleiches geschah mit dem Buddhis- 
mus in Gandhära. Der Mensch Gautama verwandelte sich zum 
Gott, welcher zum Heil aller Kreatur Menschengestalt angenommen 
hatte, die spezifisch indische Lehre von der Erlösung durch Er- 
kenntnis machte mehr und mehr der damals katholischen einer 
Erlösung durch den Glauben Platz, und der Buddhismus wurde 
zuletzt aus einer philosophischen Weltanschauung, die weder Gott 
noch Seele kannte, zu einer Kirche, die sich von der christlichen 
in nichts Grundsätzlichem unterschied. 
Es wird wohl nie entschieden werden können, welchen Ein- 
flüssen bei dieser Wandlung die Hauptrolle zugekommen ist; aber 
bei der großen Plastizität des Mahäyäna, bei der allgemein- 
orientalischen Neigung, Gestaltungen metaphysisch nicht ernst zu 
nehmen und der spezifisch-indischen, innerhalb des Verschiedenen 
das Gemeinsame zu betonen, darf wohl vorausgesetzt werden, daß 
alle Einflüsse mitgewirkt haben, die überhaupt in Frage kamen; 
unter anderen der des Christentums, das in seinen gnostischen, 
ophitischen und nestorianischen Abarten in Mittel-Asien eben da- 
mals zu einer geistlichen Großmacht heranzuwachsen begann. 
Dennoch blieb das Mahäyäna auf lange hinaus rein indisch dem 
Wesen nach; Indiens überlegener Geist beseelte den Vorstellungs- 
körper, welcher Abstammung dieser immer sein mochte. Auch in 
China blieb der neue Buddhismus wesentlich indisch. Aber wie er 
nach Japan gelangte, da verwandelte er sich bald von Grund aus: 
er wurde (was in China kaum geschehen war) nachhaltig beein- 
flußt vom praktischen Geist des Konfuzianismus, welcher kurz 
vorher nach Japan gedrungen war, und bald vermählt und teil- 
weise verschmolzen mit dem einheimischen Götter- und Ahnen- 
in den ersten christlichen Jahrhunderten (Leipzig 1910, Fritz Eckardt Verlag). 
Man wird staunen über die Gleichartigkeit der Gestaltungen jener Zeit vom 
Nil bis zum Ochotskischen Meer. 
444 Wandlungen des Christentums ; sein beharrendes Wesen. 
dienst. Dieser war eine Soldatenreligion. Dem Rittersinne paßte 
sich der Buddhismus in Japan mehr und mehr an. Daher kommt 
es, daß sein Geist hier so sehr an den unseres Mittelalters er- 
innert. 
Der japanische Buddhismus ist allerdings grundverschieden 
von dem, welchen der Asket Gautama einstmals begründet hatte. 
Aber wer daraufhin sagt, er sei gar nicht Buddhismus, sondern 
Christentum, dem könnte ein Japaner mit Recht entgegenhalten, 
daß dann auch unser Christentum nicht als Christentum gelten 
dürfe. Der Erlöserbegriff, den beide Religionen heute gemeinsam 
haben, eignet dieser ursprünglich nicht mehr als jener: erst Paulus 
hat den jüdischen Messias zum hellenistischen aiüiqQ trans figuriert. 
Die Seele jenes ägyptischen Mönchtums, dessen Beispiel mehr zur 
Bekehrung des Westens beigetragen hat, als alle Evangelien und 
Apostelbriefe, war nicht Jesu, sondern ägyptisch-neuplatonische 
Weisheit; die Lehre des Origenes (von der Gnosis zu schweigen) 
war dem Geiste Irans und Hindustans gemäßer als dem 
Palästinas und was schließlich unter die Barbaren des Nordens 
drang und zum Glauben der Kreuzfahrer ward, ist ein vom 
Urchristentum völlig verschiedenes. Dennoch geht jener auf 
dieses zurück — wesentlicher auf dieses als auf scheinbar 
Verwandteres, so daß wir ein volles Recht haben, uns Christen 
zu heißen. Die spirituellen Kräfte, welche tätig in das geschicht- 
liche Leben eingreifen, nehmen verschiedene Gestalt an je nach 
den Naturen, in welchen und durch welche sie wirken; sie können 
das, weil keine bestimmte Gestalt ihnen notwendig und wesent- 
lich eignet. Das Erlebnis der Liebe im christlichen Verstand 
kann dem Weib wie dem Mann, dem Täter wie dem Dulder, 
dem Priester wie dem Kriegsmann zuteil werden und bei jedem 
prägt es sich anders aus, so sehr, daß die Äußerungen sich oft 
stracks widersprechen. Dennoch fühlen sie sich als eines Geistes 
Kinder und dies mit Recht: die Modalität des Erlebens als solche 
macht den Christen, nicht dieses oder jenes Bekenntnis, diese 
oder jene Verhaltungsart; die aber hatten weder Hindus noch 
Neuplatoniker gekannt, die geht einzig auf Jesus zurück. Eine be- 
stimmte Qualität der Liebe ist das eigentliche des Christentums, 
die aber ist sich gleich geblieben durch alle Wandlungen in der 
Erscheinung hindurch, von Jesu Tagen bis zu unserer Zeit. So 
ist auch der japanische Buddhismus, trotz aller fremden Einflüsse, 
Wesen des Buddhismus; inwiefern es eine Vorsehung gibt. 445 
die seinen empirischen Charakter geformt haben, wesentlich Bud- 
dhismus. Er ist es vielleicht nicht ganz im gleichen Sinn, wie 
das Christentum Christentum ist: die spezifische Carität, die ihn 
beseelt, ist mehr allgemein-indisch als spezifisch-buddhistisch, 
mehr Krishna vielleicht als Gautama gemäß; aber diese indische 
Liebe durchdringt ihn durchaus. Und wenn sie sich in Japan sehr 
anders darstellt als in Indien, so ist das eine Parallelerscheinung 
dessen, was innerhalb der Christenheit geschah: auch die buddhi- 
stische, gleich der christlichen Liebe, ist vielfacher Gestaltung 
fähig, beide bleiben wesentlich, was sie sind, wie immer sie sich 
darstellen mögen. Wohl erscheinen die Gestaltungen weder hier 
noch dort als gleichwertig vom absoluten Ideale her gesehen, aber 
sie erweisen sich doch praktisch als gleich heilsam, zumal vom 
Standpunkt der buddhistischen Carität, die da verlangt, daß 
jegliches Phänomen nur am Maßstab seiner eignen möglichen 
Vollendung gemessen werde. Jungen, energischen, tätigen Männern 
ist nicht zuzumuten, daß sie Liebe und Mitleid empfinden sollen 
wie eine Maid; sie sollen vor allem im Sinn des Guten handeln. 
Wenn sie kämpfen, so sei es um ein Ideal, wenn sie aufbrausen, 
so geschehe es aus Zorn ob der Bedrückung von Schwachen; so 
wird das Ideal auch von ihnen der Verwirklichung näher gebracht. 
Und dieses schneller als man denkt. Stetiges Handeln im Sinn 
einer Idee, und werde diese noch so wenig verstanden, bereitet 
deren Bewußtwerden vor; noch so haßbeseeltes Kämpfen für das 
Ideal der Liebe bildet die Liebesfähigkeit aus. Es steckt tiefe 
Wahrheit in dem Mythos von einer „Vorsehung", die in stiller, 
langsamer Arbeit, oft allem Anschein entgegen, doch alles zum 
Guten lenkt: die spirituellen Kräfte, die mit Christus und Buddha 
in die Erscheinung traten, wirken wirklich ununterbrochen fort, 
und statt schwächer zu werden im Lauf der Zeit, werden sie 
mächtiger von Jahrtausend zu Jahrtausend. 
Wunderbar, wunderbar, wie ein gleicher Sinn überall eine 
ähnliche Gestaltbildung bedingt. Leider steht unsere Zeit solchen 
Prozessen noch recht verständnislos gegenüber. Die Geschichte 
des Christentums wird häufig als fortschreitende Entartung 
beurteilt, weil die Entwickelung vom Urchristentum abgeführt 
hat, und nicht anders diejenige des Buddhismus. Ich lasse für 
den Augenblick die Auffassung gelten, daß Urchristentum und 
Urbuddhismus die höchsten Stadien verkörpern: selbst unter 
446 Katholizismus tiefer als Urchristentum. 
dieser Voraussetzung bedeutet es ein Mißverständnis, die späteren 
Bildungen niedrig einzuschätzen, weil ein höchster Zustand 
nur wenigen Auserwählten erreichbar ist und eine Welt- 
religion, welche alle erlösen will, auch auf alle Rücksicht nehmen 
muß. Sie muß vorläufige Zustände gelten lassen, muß den Menschen 
liebevoll durch dieselben aufwärts führen, muß ihm Mut zu- 
sprechen, wo er verzagen will. Das hat die christliche Kirche, ge- 
rade in ihrer mittelalterlichen Gestalt, auf meisterhafte Weise ver- 
standen und geleistet und nichts anderes bezweckten die späteren 
Formen der buddhistischen. Aber Urchristentum und Urbuddhismus 
verkörpern gar nicht die höchsten Menschheitszustände, womit 
das ganze Argument zusammenfällt. Christus und Buddha waren 
möglicherweise die größten aller Menschen und haben beide 
wahrscheinlich ihre äußerste Vollendung erreicht, aber sie waren 
eben doch bestimmte Menschen, ihre Vollendung war die eines 
bestimmten Typus, des asketischen, schloß alle übrigen Voll- 
endungen aus. Dementsprechend waren Urchristentum sowohl als 
Urbuddhismus nicht berufen dazu, der Mensch h e i t die Wege zu 
weisen. Sie mußten entweder beschränkte Sekten bleiben oder 
aber, wenn sie weitere Wirkungen anstrebten, ihren Horizont er- 
weitern. Diese Erweiterung hat in beiden Fällen stattgefunden und 
in beiden Fällen hat das die Religion vertieft. Die katholische 
Kirche ist gegenüber der urchristlichen das tiefere System. Es 
klingt ja wohl wie ein bedenklicher Kompromiß, dieses Be- 
gründen des Krieges auf die Liebe, der Intoleranz auf die Weit- 
herzigkeit, der Unzulänglichkeit auf die Vollkommenheit im Jen- 
seits: in Wirklichkeit führt sie damit nicht Niederes auf Höheres 
zurück, sie führt das Niedere dem Höheren zu und weiht das 
Unzulängliche zur Etappe auf dem Wege zum Ziel. Fern davon, 
daß die „wahre Lehre" im Urzustände begraben liege, winkt jene 
vielmehr als Zukunftsideal. Unstreitig werden die Aussprüche Jesu 
heute tiefer verstanden, als dies je früher geschah. Aber das 
bedeutet nicht, daß wir besser erkennen, wie Jesus es meinte, 
sondern daß wir den wahren, d. h. objektiv richtigen Sinn seiner 
Weisheit tiefer erfassen, gleichviel ob Jesus selber sich seiner 
bewußt war oder nicht. Wahrscheinlich war er es nicht; seine 
unmittelbaren Jünger waren es sicher nicht und Mißverstehen hat 
lange die meiste christliche Gestaltung regiert. Aber dieses Miß- 
verstehen hat der Erkenntnis den Weg bereitet; ohne Katholizismus, 
Die „wahre Lehre" als Zukunftsideal; japanische Sekten. 447 
Reformation und Gegenreformation, ohne Dogmenstreit und Text- 
kritik wären wir nie dahin gelangt, den reinen Sinn des Christen- 
tums zu schauen. — Im gleichen Verstände bedeutet der nördliche 
Buddhismus, ganz wie seine Bekenner es haben wollen, keine Ent- 
artung, sondern die Krönung des Hinäyäna. Schwerlich gehen die 
meisten seiner Lehren auf Gautama zurück. Aber sie sind der 
Wahrheit sehr viel näher. 
Ich kenne wenig Tieferes, als die Lehren des Acvagosha, 1 ) 
nichts Hellsichtig-Umfassenderes, als das Mahäyäna-System, und 
dieses liegt der japanischen Kirche zugrunde. Aber freilich ist 
diese nicht das, was sie unter Indern vielleicht geworden wäre; 
wie bei uns, hat auch hier Mißverstehen die äußere Gestaltung 
regiert. Alle die Auswüchse, Miß- und Rückbildungen, die bei uns 
für den Katholizismus einerseits, den Protestantismus andrerseits 
tharakteristisch sind, können auch innerhalb des japanischen Bud- 
dhismus von heute nachgewiesen werden. Es gibt Sekten, die sich 
vorzüglich mit Thaumaturgie befassen, andere, wo ein hieratisches 
System alles individuelle Leben erstickt, wieder andere, die alle 
überkommene Weisheit verwerfen und den einzelnen ganz seiner 
persönlichen Meinung überantworten. Selbst das Äußerste, was 
sich erwarten ließ, ist nicht ausgeblieben: aus einer Religion, die 
auf Einsicht den Hauptnachdruck legt, ist eine des blinden Glaubens 
geworden. Zu einer solchen bekennt jeder sich am liebsten, dem 
das Denken Schwierigkeit verursacht. Was ursprünglich nach Japan 
kam, war eine Weltanschauung, die nur Indern, dieser philo- 
sophischen Nation par excellence, als solche gemäß erscheinen 
konnte; sie mußte sich wandeln, um unter Japanern zu bestehen. 
So geschah es auch. Früh traten Reformer auf, die das vieldeutige 
Mahäyäna zu bestimmten Lehren formten, die dem Japanertempera- 
mente besser entsprachen; immer mehr wurde Erlösung durch den 
Glauben zum Grunddogma des nördlichen Buddhismus. Und heute 
droht die Shinshu-Sekte, die oberflächlichste von allen, nach der 
bloßes Anrufen des Namens Amidas und Vertrauen auf die Wirk- 
*) Sein Hauptwerk liegt bisher unter dem Titel The awakening of Faith 
in zwei englischen Übersetzungen vor: einer von Teitaro Suzuki (Chicago 
1900, The open court Publishing Company) und einer von Timothy Richard 
(im Band The new testament of Higher Buddhism, Edinburg 1910, T. u.T. 
Clark). Die beiden Übersetzungen ergänzen sich insofern, als Suzuki den viel- 
deutigen chinesischen Text als Philosoph, Richard als Theologe interpretiert hat. 
448 Verwandtschaft der ja panisch-buddhistischen mit der katholischen Kirche. 
samkeit dieser Übung genügen soll, um dem Gläubigen die ewige 
Seligkeit zu gewährleisten, alle anderen in Japan zu verdrängen. 
Es ist mir viel wert, daß ich mit dem japanischen Buddhismus 
am ersten auf seiner Hochburg persönlich bekanntgeworden 
bin: hier dominiert seine Eigenart absolut über dem, was 
er mit anderen Buddhismen gemein hat. Nie hätte ich für 
möglich gehalten, daß aus Indischem dermaßen — Westliches 
werden könnte: denn westländisch weit mehr als asiatisch wirkt 
auf mich die Religion der Mönche von Koya-San. Diese sind 
mittelalterlich-christlichen dem Typus nach erstaunlich ähnlich; 
gerade ihr bestes scheint weit eher eines christlichen als des 
buddhistischen Geistes Kind, wofern ich diesen aus dem abstra- 
hiere, was ich auf Ceylon und in Birma geschaut. Es gibt so 
etwas wie einen spezifischen Ekklesiastikerkopf, der sich bei 
allen Völkern wiederfindet. Immerhin: niemand möchte einen 
Brahmanen mit einem katholischen Prälaten verwechseln. Ein 
japanischer Abt nun könnte ohne weiteres als letzterer passieren; 
seine Züge sind von naheverwandtem Geist geformt. Das kommt 
augenscheinlich daher, daß beide Religionen in verwandtem Sinn 
Objektivationen bedeuten. Selbst die Tantrikäs, die Ritualisten 
unter den Hindus, welchen strikte Observanz als einziges Heils- 
mittel gilt, sehen die Erscheinung immerhin als Mäyä an, nicht 
als notwendig mit dem Wesen verknüpft. Dem Katholiken ist die 
Kirche der wahrhaftige Leib des Christentums, von dessen Seele 
nur durch den Tod zu trennen, und ähnliches scheint beim japa- 
nischen Buddhismus der Fall. Zwar bekennt dieser kein ent- 
sprechendes Dogma, im Gegenteil: soweit er Weltanschauung ist, 
nimmt er die Erscheinung nicht ernster als der Brahmanismus; 
auch in Japan gelten sich ausschließende Konfessionen als gleich 
orthodox. Aber der hieratische Sinn der Chinesen, deren Ur- 
neigung, allen Gehalt in der Erscheinung unmittelbar und restlos 
auszuprägen, hatte dem Buddhismus schon früh einen hochorgani- 
sierten Körper erschaffen, der dann in Japan, unter beweglicheren 
Menschen, aus einem Kunstwerk mehr und mehr zu' einem leben- 
digen Wesen erwuchs. 
Aber die beiden Kirchen — die katholische und die buddhi- 
stische — unterscheiden sich doch sehr wesentlich von einander. 
Katholische Gestaltung Vernunft-, buddhistische gefühlsgeboren. 449 
Bei jener ist die Objektivation verstandgeboren. So irrational 
ihre Dogmen sein mochten — deren Verknüpfung und Ausge- 
staltung hat reine Vernunft besorgt. Es ist ein einiger Geist 
strengster Vernunftgemäßheit, der alle christliche Gestaltung des 
Mittelalters beseelt, von der Theodicee bis zur geistlichen Hier- 
archie, von den Kathedralen bis zur Summa des Thomas von 
Aquin; nie, weder vor- noch nachher, hat die Menschheit so viel 
auf Symmetrie gegeben, auf Klarheit und rationalen Zusammen- 
hang. Die japanische Objektivierung des Geistes in der Kirche 
ist ganz unintellektual, weshalb alle die Vorzüge dieser abgehen, 
welche Rationalität allein gewährt. Dafür ist sie in höchstem 
Grade unmittelbar-künstlerisch; ihre Formen sind nie Allegorien, 
immer Symbole und haben alle Vorzüge eines Ausdrucks, dessen Ele- 
mente gefühlsgeboren sind. Ungeheuer überzeugend wirken sie; wie 
selbstverständlich erkenne ich sie an; unwillkürlich tritt meine 
Seele in Koya-San auf buddhistisch zu Gott in Beziehung. Und ich 
beginne zu ahnen, daß, soweit Konfuzius recht hat, die japanische 
Kirche als Krönung der indischen Weisheit gelten darf. Kungfutse 
lehrte, daß nur die Weisheit als vollendet zu betrachten sei, 
welche als Anmut in die Erscheinung trete: das ist hier geschehen. 
Es ist der echte Geist des Mahäyäna, allumfassend, ernst 
und tief, welcher diesen Buddhismus beseelt, — aber seine Er- 
scheinung ist eitel Schönheit und Anmut. Und das befremdet mich 
nicht: nie vielmehr habe ich mich dem Tiefsten der indischen 
Weisheit näher gefühlt, als während der Anschauung japanischer 
Buddhabilder. 
Nur seltsam: was mich so stark berührt, scheint den Japanern 
gar nichts zu sagen; nirgends spüre ich ein unmittelbares Erleben 
der Harmonie von Erscheinung und Sinn; es ist, als hätten sie 
nicht gewußt, was sie taten, indem sie den Geist des Mahäyäna 
objektivierten. Und indem ich nun nochmals meine Blicke über 
das Kloster schweifen lasse mit seinen goldstrotzenden Tempeln, 
seiner so dekorativen Klerisei, im großartigen Rahmen des Crypto- 
merienhains, da verwandelt sich mir die Wirklichkeit auf einmal 
zum Bühnenbild. Nein, diese Kirche in all ihrer Größe und Schön- 
heit ist ganz unsubstanziell. Sie bedeutet doch nichts, außer als 
Kunst. Das ganze Pathos der katholischen geht ihr ab. Wo der 
Christ lebt, stellt der japanische Buddhist nur dar. Wobei dieses 
Darstellen freilich möglicherweise sein äußerst-mögliches Erleben 
bedeutet. . . . 
Keyserling, Reisetagebuch 29 
450 Nicht-Ernst japanischer Pilger, Formensinn. 
Zusammen mit den Pilgern, die gemeinsam mit mir nach Koya 
aufstiegen, besichtige ich die heiligen Stätten. Wie sehr 
unterscheiden sich diese Wallfahrer von indischen! Nur 
den bejahrteren unter den Frauen scheint es in religiösem Sinne 
ernst zu sein; die jüngeren betrachten ihre Reise nicht viel anders 
als die Männer: als vergnüglichen Ferienausflug, auf dem es viel 
des Neuen zu sehen gibt, und tragen das Pilgerkleid hauptsächlich 
aus Stilgefühl oder aus Freude an der Mummenschanz. Den Sagen 
und Wundergeschichten, die mit den einzelnen Tempeln verknüpft 
sind, lauschen sie mit jener halbskeptischen Gläubigkeit, mit der 
halbwüchsige Kinder Märchen zuhören, und die Andacht, die sie 
vor der Stätte überkommt, wo Köbö Daishi, der Gründer des 
Klosters, ein großer Zauberer und Wundertäter, noch heute leben 
soll, des Tages seiner Auferstehung harrend, enthält mehr Neu- 
gierde als Weihe. Es ist auch etwas viel, was dem Koya-Pilger 
zu glauben zugemutet wird. Die Shingon-Sekte, der dieses Kloster 
gehört, betreibt von allen am meisten Magie und der stehen die 
Japaner von heute ganz skeptisch gegenüber. Sogar die geist- 
lichen Herren scheinen vom Kultus nicht allzuviel zu halten. Sie 
reden am liebsten über Fichte und Kant, und gleiten über meine 
dogmatisch-kultischen Fragen mit einem leisen Lächeln hinweg. 
Aber alle, Priester wie Gemeinde, machen doch bei den religiösen 
Veranstaltungen mit; nicht einer will Spielverderber sein. Sie haben 
zu viel Sinn für die Form, um nicht alles Ritual mit künstlerischem 
Ernste zu befolgen. Ihr Ernst ist recht eigentlich der des Komö- 
dianten, der sich mit Leib und Seele in seine Rolle hineinversetzt 
hat. Heute früh hatte ich im Tempel, wo ich hause, die Frühmesse 
versäumt. Als ich dem Abte mein Bedauern darüber aussprach, 
erklärte dieser sich sofort bereit, sie noch einmal für mich zu 
zelebrieren, da mich das uralte, über Indien wahrscheinlich aus 
Ägypten stammende Ritual gewiß interessieren würde. Natür- 
lich geschah dies aus Courtoisie, und ich weiß ihm von Herzen 
für sie Dank, um so mehr, als dieser Gottesdienst tatsächlich zu 
den merkwürdigsten gehört, denen ich beigewohnt habe. Immer- 
hin zweifele ich, ob ein Priester, dem es innerlich ganz ernst ist, 
in der Höflichkeit so weit gegangen wäre. 
Japanische Religiosität. 45 1 
Es ist schon richtig: religiöse Tiefe im indischen Sinn fehlt 
dem Japanergemüte. Nirgends spüre ich etwas von dem inneren 
Erleben, das die Gesichter der Pilger von Benares oder Räme- 
shvaram verklärt; und die Gespräche gar, die ich mit geistlichen 
Herren über die Mahäyäna-Lehre gepflogen, verliefen ganz ohne 
Belehrung für mich. Aber doch scheint mir der Buddhismus in 
Japan weit mehr lebendige Bedeutung zu haben, als man nach 
den ersten flüchtigen Eindrücken glauben sollte. Wohl ist der 
Japaner nicht im indischen Sinne religiös, auch nicht im christ- 
lichen, dazu gebricht es ihm an Erkenntnistiefe und Einbildungs- 
kraft; wo er nicht nachdenkt, dort glaubt er, wie das einfache 
Volk überall, an gewisse wunderbare Tatsachen und Begeben- 
heiten, und wo er zu denken gelernt hat, zweifelt er. Allein 
das Denken ist ihm nichts Wesentliches: sein Eigentliches, Tiefstes 
tritt im Empfinden zutage. Ich sage: in seinem Empfinden, nicht 
in seinen Gefühlen, seiner Seele, seinem Gemüt; in der Art wie die 
Oberfläche, nicht die Tiefe seiner Psyche auf die Eindrücke der 
Innen- und Außenwelt antwortet. Das Innenleben des Japaners 
spielt sich der Hauptsache nach im Reich der Empfindungen ab, 
wie beim Kind und der jugendlichen Frau. Hier äußert sich auch 
seine Religiosität. Das Glauben des Kindes ist kein tiefes Glauben, 
und doch führt es geradeswegs zu Gott. Seine Art aber ist die 
lieblichste von allen. So hat die japanische Religiosität, die vom 
Geiste her gesehen, flach erscheint, im Reich des Empfindens und 
der Stimmung Wirklichkeiten geschaffen, die zum köstlichsten 
Besitz des Menschengeschlechts gehören. Es gibt nichts Duftigeres, 
als die religiöse Lyrik des Landes der Aufgehenden Sonne, nichts 
Süßeres, als die Konzeption der Liebe, welche Amida und Kwannon 
versinnbildlichen, nichts Sinnig-Zarteres, als die Vorstellungen, die 
der japanische Buddhist mit dem Leben nach dem Tode verknüpft. 
Die Missionare, die das Christentum am tiefsten verstehen und zu- 
gleich am tiefsten in den höheren Buddhismus eingedrungen sind, 
sind daher einig in der Überzeugung, daß, wenn unsere Ideen 
von der Gnade und Liebe auch die tiefsinnigeren an sich sein 
mögen, die japanischen Vor- und Darstellungen derselben die 
schöneren sind. Das Konkretisieren spielt sich eben im Reich 
der Empfindungen ab; in dieser Sphäre steht der Japaner von 
allen Menschen vielleicht am höchsten. Kein Wunder daher, daß 
er im Einzelfall, trotz wesentlicher Oberflächlichkeit, an reli- 
29* 
452 Japanisches Bewußtseinszentrum ruht im Empfinden. 
giösem Empfindungsvermögen alle anderen übertrifft. Vor allem 
gilt dies von der Japanerin: ich kann mich nicht satt sehen 
an den lieblichen Kindern, die sich ehrfurchtstoll vor den gol- 
denen Tafeln neigen. Von Glauben in indischem Sinne wissen 
sie nichts; sie wissen wohl nicht einmal, ob sie glauben; sie 
lachen, wo sie ernst sein sollten. Und doch beseelt sie unver- 
kennbar die Liebe, deren Ideal Avalokitecvara verkörpert. Fast 
möchte ich behaupten, sie alle empfinden, wie in Indien vielleicht 
nur ein Krishna, bei uns nur ein Franz von Assisi empfunden hat; 
und in ihrem opferfreudigen Dasein, im Verhalten zu ihren Näch- 
sten üben sie aus, was geistig zu erfassen über ihre Kräfte geht. 
Dieselben Pilger, die beim Besuch der buddhistischen Heilig- 
tümer so wenig Weihegefühl bekundeten, erscheinen be- 
wegt und ergriffen jetzt, wo ein sachkundiger Führer sie 
durch den Friedhof geleitet. Es ist der beeindruckendste, den 
ich gesehen; kein Land Europas besitzt ein gleichartiges Denk- 
mal patriotischer Pietät. Wir folgen einer Allee gigantischer 
Cryptomerien, die eine gute Meile entlang über den Gipfel des 
Koya hinführt; bei jedem Steinmonument eines Einzelnen oder 
eines Geschlechtes macht unser Führer Halt und nennt die 
Namen. Und da ist keiner, der nicht mit Japans Geschichte auf 
ewig verknüpft wäre, und keiner der großen Söhne Japans fehlt. 
Die berühmten Daimyo-Clans haben hier ihre steinernen Wahr- 
zeichen; hier ruhen die großen Heerführer und Staatsmänner. 
Wohl sind nicht alle tatsächlich auf dem Koya beigesetzt, aber 
alle haben auf ihm ihre Gedenksteine und so ist es, als schlum- 
merte ganz Japan hier. . . . Ich blicke auf die Pilger, die kürzlich 
noch so leichtsinnig lachten und schwätzten. Jetzt erscheinen sie 
wie umgewandelt. Ihr Tiefstes, Innerstes ist aufgerührt. Die zier- 
liche Oberfläche durchleuchtet tiefster Ernst. 
Heute zum ersten Male habe ich mit Japans Seele Fühlung 
gewonnen. Sie tritt nicht im Verhältnis des Einzelnen zu Gott 
zutage, nicht im Glauben an ein Transzendentes, nicht in dessen 
geistiger oder lebendiger Verwirklichung: sie äußert sich in dem, 
wie der Japaner zu Japan steht. Patriotismus ist das Tiefste des 
Japaners. Sein Verhältnis zu seiner Heimat, deren Größe, deren 
ruhmreichem Fortbestand bedeutet das gleiche, wie dem Inder sein 
Japanischer Patriotismus; was Tiefe ist. 453 
Verhältnis zu Brahman, dem Chinesen seine Gliedschaft im All. 
Unsereinem fällt es nicht leicht, sich in diese Tiefe hineinzuver- 
setzen: uns ist sie keine mehr. Aber jeder hat doch Augenblicke 
gekannt, wo aus dunklem Grund uralte Gefühle in sein Bewußtsein 
übermächtig einströmten, wo ihm Bluts- und Volksgemeinschaft als 
tiefere Bindungen erschienen, denn das Verhältnis zu Gott oder 
zum All. In diesen Momenten war er dem Japaner verwandt. 
We; aus der Erfahrung solcher Zustände heraus die Japaner- 
seele zu erfassen sucht, dem stellt diese sich nicht mehr als ober- 
flächlich dar; der erkennt, daß auch aus ihr das Tiefste, Äußerste 
spricht- Nur redet sie in einer uns fremden Sprache. Wir können 
kein Konkretum als tiefsten Sinn verehren, uns kann Loyalität kein 
Äußerstes sein, wir verstehen die metaphysische Einheit von Land, 
Volk, Staat, Nation, Familie und Herrscherhaus, die dem nicht 
allzu verwestlichten Japaner noch heute die lebendige Grundvor- 
aussetzung ist, nur mit dem Verstände, und das Gefühl der abso- 
luten moralischen Verpflichtung dem Heimatland als solchem 
gegenüber dürfte kein noch so patriotischer moderner Europäer in 
Friedenszeiten kennen. Das Gefühl, das aus den Versen Take 
Hirose's, des Helden von Port Arthur spricht: 
Unendlich, wie der Dom des Himmels über uns 
Ist, was wir unserem Kaiser schulden; 
Unermeßlich, wie die Tiefsee unter uns 
Ist, was wir unserer Heimat schulden. 
Die Zeit ist nun da, unsere Schuld zu bezahlen, 
wird er nur nachempfinden, wenn die Kriegsgefahr zeitweilig sein 
Bewußtsein umgewandelt, die Monade zur Zelle im Volkskörper 
umgeschaffen, wenn er zeitweilig aufgehört hat, als autonome In- 
dividualität zu existieren. Ihm ist die individuelle Seele das letzte 
irdische Gewand des Metaphysisch-Wirklichen. Auf sie beziehen 
sich für ihn alle idealen Forderungen, ihr gegenüber aber erscheint 
das Vaterland als Oberflächliches. Es ist ein Oberflächliches, 
vom erkennenden Geiste her gesehen, aber dies bedingt doch nicht, 
daß die Menschen, die wie die Japaner empfinden, flach wären: 
ihre Vaterlandsliebe bedeutet ein Allertiefstes. Tief ist jede 
Lebensäußerung, die im Grunde des Lebens wurzelt. Deswegen 
sind wohl nur solche Gedanken tief, welche objektiv auf den Grund 
der Dinge zurückgehen — also wirklich tiefe Gedanken in des 
Wortes gewöhnlicher Bedeutung — aber in den Sphären des 
454 Individualismus erzeugt Weltbürgertum. 
Wollens und des Fühlens ist Tiefe unabhängig von der objektiven 
Profundität; dort hängt sie ab von dem Grad, in dem die subjektive 
Erscheinung das subjektive Wesen spiegelt. Nun wird des Japaners 
Subjektivität durch die vorhin bezeichneten Vorstellungen definiert; 
für ihn gibt es kein über-sie-hinaus. Folglich sind sie tief in bezug 
auf ihn. Ein wesentlich oberflächliches Volk hätte weder das 
Riesenreußenreich geschlagen, noch vor allem den zähen Opfer- 
mut gehabt, des es bedurfte, um sich in dreißig Jahren von Grund 
aus zu reorganisieren. 
Im Patriotismus kommt des Japaners Tiefstes zum Ausdruck. 
Dieses Tiefste ist, vom Geiste her gesehen, allerdings ein Ober- 
flächliches, und insofern bleibt das allgemeine Urteil über ihn, 
daß er der Tiefe entbehrt, zu Recht bestehen. Überall, wo die 
Erscheinung auf seinen lebendigen Grund, auf Japan, nicht zurück- 
geführt werden kann, versagt sein Verständnis, seine Leistungsfähig- 
keit. Religiös im Sinne des Inders, philosophisch im Sinne des 
Deutschen, überhaupt tief im Sinn der Spekulation ist er nicht und 
kann er nicht sein. Aber hier, wenn irgendwo, tritt die Wahrheit 
zutage, daß jede Erscheinung innerhalb ihrer Grenzen den Atman 
zum Ausdruck bringen kann. Die Vollendung der Rose bedeutet 
vor Gott gleiches, wie diejenige Buddhas; jene steht Gott näher 
als dieser ihm stand, ehe denn er vollendet ward. So ist der voll- 
endete japanische Patriotismus metaphysisch mehr wert als die 
höhere Einsicht des Westländers, die auf halbem Wege stehen blieb. 
Und weiter: die Vollendung der Rose ist ein Absolutum; kein 
Mensch wird diese je erreichen ; im Sinn der Rose steht er unter ihr. 
So sind die individualisierteren und tieferdenkenden Völker, wo sie 
der Ausnahmezustand des Volkskriegs nicht zurückentwickelt, als 
Patrioten den Japanern unterlegen. Die Inder sind ganz unpatriotisch, 
da ihr Bewußtsein die Gestaltung tief unter sich sieht, die Chinesen 
gleichfalls, weil ihr Ideal von China zu hoch ist, um von den Zu- 
fällen der Geschichte tangiert zu werden; wir Weißen aber, einst 
den Japanern nahe verwandt, werden in deren Sinne fortschreitend 
unpatriotischer, (trotz des Anscheins vom genauen Gegenteil, her- 
vorgerufen durch die Selbstätigkeit des bewußten Geists, der durch 
nationalistische Theorie ihr entsprechende Gefühlsregungen weckt, 
und die Interessensolidarität aller im modernen Staat), weil die 
Heimat auch dem vollendet individualisierten, gleichwie dem voll- 
kommen vertieften Menschen, kein Äußerstes bedeuten kann, weil 
Buddhistische und mittelalterlich-christliche Kunst. 455 
Individualismus notwendig Weltbürgertum erzeugt. — Das ist ein 
Fortschritt vom Standpunkte der Erkenntnis. Aber er schwächt 
den physiologischen Zusammenhang. Dem völkischen Idealzustande 
steht das Japan von gestern näher als unsere Zukunft. 
Ich studiere die Gesichter einiger Offiziere, die mit mir 
durch den Friedhof schreiten; unverkennbar sind sie Samurais. 
Aus ihren Augen blickt eine Lebensanschauung, die in Europa nur 
mehr posthume Söhne vergangener Jahrhunderte bekennen. — Ich 
frage nach einem überaus prächtigen Denkmal, das kürzlich erst 
errichtet worden ist. Es gilt dem Andenken der im mandschurischen 
Kriege Gefallenen, sowohl der Russen als der Japaner. — 
Den Feind zu ehren, ist edelste Ritterart. 
NARA. 
Nun schwelge ich in religiöser Kunst. Meinem Gefühl nach 
hat der Buddhismus das Höchste dieser Art auf Erden 
hervorgebracht, und viele von dessen herrlichsten Denk- 
mälern sind in Japan, in und um Nara und Kyoto, zu finden. Wie 
unspirituell wirken neben jenen Gemälden, wo Amida als die 
Idee des Lichtes selbst das irdische Dunkel verklärt, der Sonne 
gleich über den Bergen aufgehend, neben jenen sinnenden und 
segnenden Buddhas, in denen der Frieden der Seele seine vielleicht 
endgültige Verkörperung erfahren hat, die höchsten Gebilde der 
christlichen Phantasie! An Empfindungstiefe standen die schlichten 
Künstler unseres frühen Mittelalters den buddhistischen wahrschein- 
lich nicht nach, aber ihr Gefühl brach sich an ihrem Verstand. 
Sie waren dazu erzogen, die Gestaltungen ihres Glaubens entweder 
wörtlich aufzufassen — als historische, ja naturwissenschaftliche 
Tatbestände, die als solche ein Letztes bezeichneten, — oder aber 
sie allegorisch zu interpretieren, und beide Auffassungen machten 
Unmittelbarkeit unmöglich. In seltenen Fällen hat sich ihr religiöses 
Gefühl in der Ausführung biblischer Vorwürfe trotzdem unmittel- 
bar geäußert, und die wirken dann desto ergreifender; ihre meisten 
Werke sind nur mittelbare Ausdrücke. Den Buddhisten, gleich 
allen Abkömmlingen des Indergeistes, waren Dogmen und Mythen 
456 Keine Kunst absolut bodenständig. 
nie mehr als Ausdrucksmittel; nie galten sie ihnen als Substanzen; 
weswegen buddhistischen Künstlern gelingen konnte, was christ- 
lichen niemals gelang. 
Wohl alle Grundkonzeptionen der ostasiatischen religiösen 
Kunst sind indischen oder gräko-indischen Ursprungs, und das, 
was zu Borobodur und Angkor Vat von indischer Arbeit erhalten 
ist, rechtfertigt die Annahme, daß die Hindus auch als Bildner 
einstmals groß waren. Immerhin: erhalten ist von ihren Werken 
fast nichts. Das Bedeutendste, was es an geistlicher Kunst im 
Osten gibt, ist von chinesischen Meistern geschaffen worden, und 
ihren fruchtbarsten Boden haben deren Ideen nicht in China son- 
dern in Japan gefunden. Es bedeutet kein Zeichen tiefen Ver- 
ständnisses, immer wieder auf die Nicht-Bodenständigkeit der 
japanischen Kunst hinzuweisen: keine Kunst war je absolut auto- 
chthon; sowohl die griechische als die indische als die chinesische 
Plastik war insofern vom Auslande abhängig, als ihre Höchstent- 
wickelung erst einsetzte, nachdem Anregungen von außen den 
heimischen Genius befruchtet hatten. Allerdings ist die japanische 
religiöse Kunst bis zum Schluß von ihren Vorbildern abhängig 
geblieben, hat diese niemals erreicht und nichts Neues aus dem 
Alten herausgebildet; insofern kann man sie mit der chinesischen 
wohl nicht vergleichen. Aber echt ist sie trotzdem durchaus, als 
ein wahrhaftiger Ausdruck des Innerlichen, ja sie ist letzteres in 
einem weiteren Sinn, als gleiches in China der Fall war. Die Aus- 
drucksform, die einem am besten entspricht, braucht man nicht 
notwendig erfunden zu haben; man braucht auch Überkommenes 
nicht zu ändern, auf daß es der eigenen Persönlichkeit gemäß sei. 
Fast der ganze Orient zitiert, wenn er einem unmittelbaren 
persönlichen Erlebnis Ausdruck verleihen will und dies bedeutet 
bei ihm nicht, wie unter uns, entweder Impotenz oder Geschmack- 
losigkeit, sondern das Sich-Wieder-Erkennen der Seele in gewissen 
einfürallemaligen Gestaltungen, gleichwie die Natur sich in gleich- 
bleibenden Formen immerfort in unverminderter Ursprünglichkeit 
erneut. Die Formenwelt nun der buddhistischen Kunst entspricht 
der japanisch-buddhistischen Religiosität so vollkommen, wie sie 
im schon damals durch und durch konfuzianischen China wahr- 
scheinlich nur im Falle weniger Ausnahmeseelen entsprochen hat, 
— gleichviel ob diese Korrespondenz präxistierte oder umgekehrt 
a posteriori durch den Einfluß des Buddhismus auf die Japaner- 
Buddhistische Kunst als Normalausdruck japanischer Religiosität. 457 
psyche geschaffen ward — so daß sie in Japan überall ein getreues 
Sinnbild des geistlichen Lebens darstellt. Es ist japanische, nicht 
chinesische Seelenstimmung, die aus den süßen Kwannonbildnissen 
spricht, die diskrete und doch reiche Chromatik der Mandaras 
ist der Abglanz japanischer, nicht chinesischer Innerlichkeit. Man 
könnte sagen: wenn alle Formen und Farben bis auf die letzte 
auf dem Kontinent erfunden worden wären, und es hätte keine 
Japaner gegeben, die sie zu sich hinübernahmen, so wäre der 
letztmögliche Zusammenhang zwischen Kunst und Leben unge- 
knüpft geblieben. In Japan ward die buddhistische Kunst zum 
normalen Ausdruck des religiösen Empfindens; für einen Fra 
Angelico in Toscana hat es dort hunderte gegeben. Viele Heilige 
und Kirchenväter waren gleichzeitig Maler und Bildhauer; die 
Mehrzahl der Statuen und Gemälde, die in den alten Tempeln 
vorgewiesen werden, sind von Priestern und Mönchen geschaffen 
worden. 
Man wird einwenden: aber die Japaner sind nicht spirituell; 
wie soll ihnen die spirituellste aller Künste gemäß sein? Hierauf 
ist zunächst vorbeugend zu erwidern, daß wenn die heutigen 
Japaner selten spirituell sind, hieraus nicht folgt, daß die Dinge 
immer so lagen. Der Begriff eines Volkes, einer Rasse entspricht 
immer nur innerhalb bestimmter Zeitgrenzen einer gegebenen 
Definition Die Juden von heute würden keine Bibel erdichten, 
den amerikanischen Geschäftsleuten des 20. Jahrhunderts ist nicht 
anzumerken, daß ihre Urahnen aus religiösen Motiven über den 
Ozean entwichen waren, um ein Reich der Heiligen auf Erden zu 
begründen. Wohl darf das unvermischte Blut als Konstante in der 
Gleichung berücksichtigt werden, aber die Veränderlichen sprechen 
deutlich mit und geben nicht selten den Ausschlag. Die Variable 
der Christianisierung hat im Lauf der Jahrhunderte, trotz aller 
vorhandenen Konstanten, die noch so verschiedenen Rassen des 
Westens psychisch dermaßen vereinheitlicht, daß der Nicht-Europäer 
sie kaum von einander unterscheiden kann. Ähnliches hat der 
Buddhismus bewirkt. Zwar hat er, seinem weicheren Charakter 
gemäß, das äußere Leben auch nicht annähernd so stark beeinflußt. 
Dafür hat seine größere Spiritualität zu Wirkungen geführt, die 
das Christentum im gleichen Maße nie erzielt hat: er hat von Hause 
aus unspirituelle Völker, in einigen ihrer Äußerungen zum mindesten, 
spirituell gemacht. Die antimetaphysischen Chinesen haben als 
458 Äußerster Ausdruck eines Spirituellen stets von Materialisten gefunden. 
buddhistische Künstler Höhen metaphysischen Wissens erklommen, 
wie kaum ein anderes Volk; und die Japaner, deren geistige Rassen- 
konstante wohl von jeher matter-of-factness war, sind durch das 
Licht des Mahäyäna auf Jahrhunderte hinaus so sehr erleuchtet 
worden, daß gerade ihre matteroffactness zu spirituellen Leistungen 
führte. Schließlich ist das religiöse Erleben ebenso reine Empirie, 
wie das des Weltkindes; nur vollzieht es sich in einer anderen 
Sphäre, zu der aber jedem der Eingang offensteht. Ein Lichtstrahl 
vom Kleinod auf der Stirn des Buddha hat ihn den Japanern ge- 
wiesen. Solang sie sich von ihm erleuchten ließen, haben sie Gött- 
liches schauen und vollbringen können. 
Heute, angesichts der Herrlichkeiten Naras, habe ich endlich 
Klarheit gewonnen über das Problem, das mich seit Koya be- 
schäftigt: wie es nur möglich ist, daß die Japaner, die doch „nicht 
wissen, was sie tun", in vielen Hinsichten als Vollender der 
indischen Weisen gelten dürfen: es hängt unmittelbar zusammen 
mit dem anderen, daß die allwissenden Inder sich kaum je voll- 
wertig ausgedrückt haben und Ähnliches von den Deutschen gilt; 
daß die bisher dauerhaftesten Gestaltungen des europäischen Geists 
nicht von den tieferen Germanen, sondern Romanen herrühren; und 
sein Sinn ist der, daß der äußerste Ausdruck eines Spirituellen nie 
von spiritualistisch, sondern von materialistisch gesinnten Völkern 
gefunden wird. [ Ich verwende hier den Begriff „materialistisch" 
natürlich in einem viel weiteren Sinne, als dies üblich ist; als Ge- 
samtbezeichnung für alle der Erscheinung als solcher zugewandte 
Geistesrichtung. ] Zur Herrschaft über die Materie bedarf es 
der Organe, die ihr vollkommen gewachsen sind, zumal ent- 
wickelter Sinne; der Geist als solcher tut es nicht. Da nun ein 
gleicher Mensch nie gleich vollkommen als Geist und als Sinnen- 
wesen ausgestattet ist, da zwischen beiden Anlagen vielmehr ein 
antinomisches Verhältnis besteht, so hat der materialistisch Ge- 
sinnte in der Erscheinungswelt am meisten Erfolg. Nun ist aber 
auch der Ausdruck eines Spirituellen unter allen Umständen 
in der Sphäre der Phänomene belegen; den besten findet nicht 
der Durchgeistigteste sondern der, welcher den Geist am besten 
zu materialisieren weiß: und der ist wieder der Materialist. 
Zwar erkennt er das Spirituelle als solches nie von selbst, aber 
ward es ihm gezeigt, dann erfaßt er es am besten: weswegen die 
vollendetesten Fassungen geistlicher Wahrheiten von Dichtern, 
Warum die Meisterwerke buddhistischer Kunst aus Ost-Asien stammen. 459 
nicht von Heiligen und Philosophen stammen. Nun ist aber der 
Geist in jedem Einzelnen gegenwärtig, jeder kennt ihn, ob er's 
weiß oder nicht. So erklärt es sich, daß materialistische Völker, 
denen von selbst nie spirituelle Einsichten aufgegangen wären, 
deren Ausdruck, kaum daß sie mit ihm bekannt wurden, verstanden 
und gewürdigt haben. Der höhere Buddhismus fand in China und 
Japan sofort Verständnis, und nicht lange nachher seine sublimsten 
Ausdrucksformen, weil eben die Völker des Fernen Ostens über 
ein unvergleichliches Ausdrucksvermögen verfügen und die Grund- 
ideen, die sie nie gefunden hätten, vorlagen. Die materialistische 
Grundanlage der Chinesen und Japaner gibt somit kein Rätsel 
auf in bezug auf ihre religiöse Kunst, sondern macht diese im 
Gegenteil begreiflich. — Was nun Japan im besonderen angeht, 
so steht es zu China im typischen Verhältnis des Schülers, der 
das Werk seines Meisters vollendet. Der Pionier bricht sich durch 
die Materie mühsam Bahn; selten lebt er lange genug, um sich 
ganz auszusprechen, selten liegt ihm auch daran, das Letzte zu 
sagen. Sein Schüler, dort anhebend, wo jener aufhören mußte, 
führt aus, was er vorgezeichnet hatte. Und ist er subtilen Geistes, 
mit Verständnis für das eigene Leben der Form, dazu von Ge- 
schmack und Sinn für die Nuance, so wird ihm zuteil, die Kon- 
zeption seines Meisters, die als solche seine Kräfte weit überstieg, 
zur äußersten Vollendung zu bringen. Das ist es, was die besten 
der religiösen Künstler Japans auf dem Gebiet der buddhistischen 
Formenwelt geleistet haben; ihnen verdankt diese ihren Schmelz, 
ihre Süße, ihre franziskanische Innigkeit. Tief religiös, wie die 
Inder, sind die Japaner niemals gewesen; aber innig religiös, 
gerade im franziskanischen Sinne, waren sie wohl. Der Heilige 
Geist hat sich ihnen als solcher nie geoffenbart, aber er hat ihr 
Empfinden verklärt. Und vermittelst dieses verklärten Empfindens 
Bildnisse geschaffen, die ihm gleichsehen, wie sonst nichts auf 
dieser Welt. 
Wieder einmal, angesichts der Kunstschätze Naras, über- 
mannt mich der Eindruck der Katholizität des Geistes 
der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Was war das 
für eine grandiose Synthese, welche indische Weisheit, griechische 
Formen, alexandrinische Lehren, christoide Dogmen in sich be- 
460 Höherer Buddhismus und Christentum. 
schloß! Im Tempel von Horiüji thront ein Buddha aus Korea: 
die spezifisch ost-asiatische Erscheinung verdichtet in sich gleich- 
wohl allen Sinn, der zwischen Nil und Indus je erfaßt ward. . . . 
Und dabei handelt es sich nirgends um Eklektizismus. Jener 
wundersame Impuls zur Liebe, der im Westen den Stoiker zum 
Christen, den Stolzen zum Demütigen umschuf, der im Herzen 
des Judentums, das nur von Gerechtigkeit wußte, die sublimste 
Gnadenreligion entstehen ließ, der den selbstgenügsamen Asketen 
des frühen Buddhismus zum Bodhisattva verwandelte, welcher 
den Eid schwur, nicht ins Nirwana einzugehen, solang noch eine 
Menschenseele unerlöst in irdischen Banden schmachtete, hat 
wirklich verschmolzen, was in der Theorie allenfalls vereinbar 
schien. Aber wenn ich nun die beiderseitigen Endprodukte dieses 
Prozesses im Geist vergleiche — das Christentum im Westen 
und im Fernen Osten den japanischen Buddhismus — dann muß 
ich mich wieder einmal neigen vor der größeren Erkenntnistiefe 
und der höheren künstlerischen Ausdrucksfähigkeit des Morgen- 
landes. Um wie viel wahrer ist die Lehre des Mahäyäna als die so 
gleichsinnige des Christentums! Wo bei uns bornierte Afrikaner 
und unphilosophische Römer, günstigstenfalls wortklauberische 
Griechen die Lehre fortbildeten, haben dies im Osten weise Inder 
getan; und wo bei uns wörtliche Auffassung und allegorische 
Ausdeutung des christlichen Mythos dessen Formen zu einer Art 
Hieroglyphenschrift verballhornte, die außerstande war, ein Ge- 
meintes unmittelbar auszudrücken, hat der künstlerische Feinsinn 
des Orients aus nahezu identischen Gestaltungen eine Sprache ge- 
schaffen, die mit wohl unerreichter Unmittelbarkeit das Ewige 
als Erscheinung offenbart. Amida ist nichts anderes als unser Er- 
löser, Kwannon nicht verschieden in 3er Idee von jener Maria, 
die den weiblichen Aspekt göttlicher Liebe inkarniert; Sukhavati 
ist identisch mit unserem Himmel. Aber während diese Mythen 
der Christenheit bis zum heutigen Tag naturwissenschaftliche Tat- 
sachen geblieben sind, oder schlimmer noch, als Allegorien von 
ihr verstanden werden, hat sie der Osten nie anders als symbolisch 
aufgefaßt. In Indien philosophisch-bewußt, in China halb bewußt, 
halb instinktiv; in Japan wahrscheinlich ganz unbewußt, mit der 
kindlichen Naivetät des echten Künstlers. Immer wieder komme 
ich auf das Wort des Gekreuzigten zurück: sie wissen nicht, was 
sie tun. Die Japaner sind sicher ganz unschuldig am Wunder ihrer 
Mahäyäna und Theosophie; Unüberwindlichkeit der Rassenanlage. 461 
geistlichen Kunst; desto unschuldiger, als sie ja wirklich haupt- 
sächlich anderen nachgeahmt haben. Aber ihre „Kopien" sind 
spiritueller als unsere Originale. 
Im Sinne der Spiritualität ist und bleibt das Maximum die 
indische Weisheit und deren vollkommenstes Ausdrucksmittel der 
chinesisch-japanische Künstlersinn. Wie wenig nützt hier Ver- 
standesbegabung! Ich denke zurück an meine Erlebnisse in Adyar 
und an die Lehren der modernen Theosophie. Die sind beinahe 
identisch mit denen des Mahäyäna, und dessen intellektuellem Ge- 
halt sind die Theosophen wohl besser gewachsen als die Japaner. 
Gleichwohl steht der japanische Buddhismus turmhoch über der 
modernen Theosophie. Die gellt mit den indischen Lehren nicht 
weiser um als unser Mittelalter mit den griechisch-christlichen: 
auch sie faßt wörtlich auf oder allegorisiert; auch ihre Synthese 
ist ein äußerliches Aggregat. Die Rassenanlage scheint doch un- 
überwindlich; Angelsachsen bleiben Angelsachsen, ein praktisches 
aber unspirituelles Geschlecht, selbst wo sie sich zum Mahäyäna 
bekehren. Möchten nun auch die Japaner Ost-Asiaten bleiben, 
trotz ihres Triebes zur Verwestlichung. 
Ja, die Rassenanlage ist ein Äußerstes überall, wo Glaubens- 
und Einbildungskraft nicht außerordentlich groß sind. Bei 
den Japanern sind beide ausnehmend gering, weshalb das Blut 
bei ihnen ungewöhnlich viel bedeutet. Es ist nicht wahr, wie oft 
es behauptet wird, daß sie, als Nachahmer, in hohem Grade ver- 
wandelbar wären; zur Verwandlung bedarf es der Phantasie. 
Sie sind sich vielmehr gleicher geblieben durch allen Wechsel 
hindurch, als irgendein Volk. Welchem Einfluß sie sich auch hin- 
gaben — dem koreanischen, chinesischen oder europäischen — 
wesentlich verändert hat sie das nicht. Wie dies mit besonderer 
Anschaulichkeit die Geschichte des japanischen Buddhismus 
illustriert. 
Die Mönche von Nara waren berüchtigt wegen ihres Raub- 
rittertums. Nicht im mindesten hatte die sanfte Weisheit der 
Inder auf die kriegslustigen Reisigen erschlaffend eingewirkt — 
jene hatte sich vielmehr deren Gesinnung anbequemt. Beinahe so- 
gleich verschmolz der Buddhismus mit dem eingeborenen Ahnen- 
und Götterkult, legte sich bald darauf einen richtigen Kriegsgott 
462 Katholische und buddhistische Heilige; Franziskaner tum. 
an, und nicht lange währte es, bis daß die buddhistischen Klöster 
den Regenten mehr zu schaffen machten als die unruhigsten 
Vasallen. Nur auf den Teil und die Seiten der Japaner hat die 
indische Weisheit als solche unmittelbar eingewirkt, denen sie 
von vornherein entsprach: auf die Frauen und auf den Künstler- 
sinn. Die Japanerin ist geborene Buddhistin, in ihrem sanften 
Dulden, ihrer selbstlosen Innigkeit; und als Künstler ist der Japaner 
dem Inder nahe verwandt. Immer deutlicher erkenne ichs: in bezug 
auf das japanische Volksleben bedeutet die buddhistische Kirche, 
soweit sie wirklich buddhistisch ist, nur einen künstlerischen 
Rahmen, nicht mehr. Aber gerade darum wohl hat sie dem 
Einzelnen, zumal der Frau, hie und da so sehr Persönliches 
bedeutet. Die katholische Kirche war vor allem ein Staat; sie hat 
mehr Völker als Einzelne erzogen, mehr der Menschheit als dem 
Menschen ein Hort sein wollen. Deshalb fehlen katholischen Hei- 
ligen die intimen Züge, welche buddhistische so lieblich erscheinen 
lassen. Ein einziger unter jenen scheint diesen vergleichbar: der 
Heilige Franz. 
Es ist die Zeit der Wistaria-Blüte. Bis zu den Spitzen der 
trotzigen Tannen im Park ranken sich die lieblichen Schling- 
gewächse auf. So haben sich das Rauhe und das Süße in Japan 
stets wunderbar ergänzt. Dem Weib die Liebe, dem Mann 
der Kampf; für sie der Buddhismus, für ihn das Shintö. Aber 
für beide Bushido, der Geist stolzer, aufwärtsstrebender Reinheit: 
von den möglichen Formeln, die das Widerspruchsvolle zur Ein- 
heit versöhnt, scheint mir diese nicht die schlechteste zu sein. 
Schon mehrfach berührte ich den franziskanischen Charakter 
des Tiefsten und Besten an der japanisch-buddhistischen 
Religiosität; bei diesem Konvergenzpunkt östlich-westlichen 
Wesens muß ich doch etwas länger verweilen. Ohne Zweifel hat 
das Süße, das Liebliche, das Zarte hier wie dort den gleichen 
Grundgeschmack; freilich hat es im Fernen Osten den höheren 
Grad der Durchbildung erreicht. Aber das Franziskanertum er- 
schöpft sich nicht im Süßen. Ich muß an eine Bemerkung 
Alfred Webers denken: der entsprechende Ausdruck eben des 
Geistes, der einst im Franziskanerorden seinen Körper fand, sei 
heute — die Heilsarmee. Wahrscheinlich ist dem so. Nicht der 
Asiaten psychisch magerer als wir. 463 
ganze Geist des heiligen Franziskus geht im Innig-Süßen auf. 
Und für das andere, das Leidenschaftlich-Tatkräftige, fehlt im 
Osten das Äquivalent. 
Missionare würden natürlich sagen, dieser Unterschied gehe 
auf die Überlegenheit der christlichen Lehre zurück, und so viel ist 
gewiß: sehr ähnliche Grundideen haben in christlicher Verkör- 
perung ungleich größere Kraft bewiesen. Aber woher komm1> 
letzten Endes diese größere Kraft? worauf beruht es, daß franzis- 
kanischer Geist in Japan nur Süßes, in Europa sowohl Süßes als 
Gewaltiges hervorgebracht hat? Wohl schwerlich auf der Lehre 
Christi an und für sich, sondern auf der Naturanlage derer, von 
denen sie Besitz ergriff; die Mahäyäna-Lehre hätte unter uns 
wahrscheinlich gleiches gewirkt. Ich vergegenwärtige mir die 
Seele des heiligen Franz: mit solchem Feuer hat die Liebe in 
keinem Japanerherzen je gebrannt; solche Leidenschaft hat kein 
Heiliger des ganzen Orients, wenn ich den Islam ausschließe, 
je gefühlt. Was den christlichen Bhakta vom asiatischen letzt- 
lich unterscheidet, ist das sehr viel größere Energiequantum, über 
das er verfügt. Somit beruhen die Vorzüge des Christentums vor 
dem Buddhismus, soweit solche in Frage kommen, wohl vielfach 
auf physiologischen Umständen; auf dem dichteren, dankbareren 
Stoff, mittels dessen sein Geist sich hat auswirken können. Nie 
bin ich unter Asiaten einem Menschen begegnet, dessen psychischer 
Körper so voll und reich wäre, wie bei uns schon im Fall des 
höheren Durchschnitts; alle, soweit ich sie kenne, sind psychisch 
mager im Vergleich mit uns. 
Von diesem Gesichtspunkte aus entfalten sich, wie mich be- 
dünkt, recht interessante Ausblicke auf unseren vermeintlichen 
Materialismus und des Ostens vermeintliche Spiritualität. An den 
Tatsachen ist natürlich nicht zu rütteln, aber ihre Bedeutung ist 
doch nicht ganz die, welche ihnen gemeiniglich zuerkannt wird. 
Wohl stellt sich Spiritualität im Orient meist spiritueller dar als 
im Abendland, aber daraus folgt nicht notwendig, daß jener wirk- 
lich dem Geiste näher sei: es braucht nur das daraus zu folgen, 
daß er einen mageren Körper trägt. Sicher ist diese Deutung in 
vielen Fällen richtig, und was Japan betrifft, vermutlich durchaus. 
Auch vieles von dem, was an Indien bewundernswert scheint, mag 
hier seine wahre Ursache haben: es ist nicht eben schwer, zu ver- 
zichten, wenn man dürftige Leidenschaften hat. So viel steht außer 
464 China* s Größe; ein japanisches Trauerspiel. 
Frage: je reicher der Körper, desto bessere Ausdrucksmöglichkeiten 
hat der Geist. Das beweisen unser Beethoven, unser Bach; denen 
kommt nichts Östliches gleich. Das beweist am eindrucksvollsten 
wohl China. Wo immer es möglich erscheint, Chinesisches mit 
Japanischem einerseits, mit Indischem andrerseits zu vergleichen, 
überall also, wo entweder ein identischer Geist den jeweiligen 
Kulturgebilden zugrunde liegt oder wo identische Ausdrucks- 
mittel benutzt wurden, beeindruckt die größere Substantialität der 
chinesischen Gestaltung. Sie wirkt nicht nur robuster, stofflich- 
bedeutsamer, ist nicht allein schärfer umrissen, kraftvoller aus- 
geführt — sie wirkt wie aus größerer Tiefe beseelt. Um 
die Tiefe an die Oberfläche zu bringen, bedarf es eben der 
physischen Kraft; und je mehr Oberfläche auf den Grund zurück- 
geführt oder vom Grunde her durchleuchtet wird, desto deutlicher 
tritt dies hervor. Die Chinesen sind die substantiellsten der 
Asiaten; sie sind die einzigen Menschen, die ich wüßte, deren 
psychischer Körper den Vergleich mit dem unserigen aushält. 
Deshalb hat die orientalische Spiritualität ihren irdisch stärksten 
Ausdruck in China gefunden. 
KYOTO. 
Noch bin ich tief ergriffen von der Tragödie, die sich auf 
den Brettern vor mir abgespielt hat. Es war ein berühm- 
tes historisches Drama, meisterhaft geführt, meisterhaft 
dargestellt, schon insofern ergreifend; aber was mich überwältigte, 
war das Rathos der Stimmung, die das Psalmodieren alter Volks- 
weisen zur stummen Pantomine, welche die eigentliche Handlung 
in rhythmischen Abständen ablöste, über dem ganzen verbreitete: 
ich erlebte eine vollendete Evokation des Mittelalters. 
Dieses liegt in Japan ja nicht weit zurück; noch sind die 
ihm entsprechenden Bewußtseinszustände und Ausdrucksformen den 
Alten aus persönlicher Erfahrung vertraut, so daß es in Japan 
leichter gelingt, als in Europa, seinen Geist zu beschwören. Und 
dann trug dieser hier überhaupt viel krasseren Charakter, wement- 
sprechend seine Gestaltungen stärker wirken. Ich glaube nicht, 
Das japanische Mittelalter; Konvention als Natur. 465 
daß die Tugenden des Samurai aus so tiefen Wurzeln sprossen, 
wie die des fränkischen Rittersmanns; Vasallentreue, Ehrgefühl und 
Todesverachtung bedeuteten bei diesem wahrscheinlich mehr. Aber 
dank der eigentümlichen japanischen Anlage, welcher Darstellung 
und Sein nahezu gleiches bedeuten, der stilisierende Übertreibung 
natürlich ist, traten sie bei jenem pittoresker in die Erscheinung, 
weshalb das japanische Mittelalter an szenischem, überhaupt an 
künstlerischem Wert das unsere übertrifft. Der Inhalt des Schau- 
spiels, dem ich beiwohnte, ist ungefähr wie folgt: Der Lehnsherr 
hat einem Vasallen-Clan eine wertvolle Schriftrolle anvertraut. Das- 
jenige Glied desselben, das sie bewahrt, beweist einer Dame 
seines Hofs mehr Zuneigung, als seiner stolzen Gattin gefällt. 
Diese beschließt, die Rivalin zu verderben. Zu diesem Zweck ent- 
wendet sie die Rolle, so daß der Vertreter des Lehnsherrn, der 
sie gleich darauf zurückfordern kommt, die Kiste leer findet. 
Irgend jemand muß den Schatz gestohlen haben. Die Schloß- 
herrin bezichtigt das verhaßte Fräulein dieser Tat und züchtigt 
sie drauf — die größte Schmach, die eine Edelgeborene befallen 
kann — vor versammeltem Hof mit ihrem Schuh. Auf diese Er- 
niedrigung hin verübt die Verleumdete Selbstmord. Deren treue 
Dienerin jedoch rächt ihren Tod, indem sie die moralische Mör- 
derin mit der gleichen Sandale wieder schlägt und dann in 
ritterlichem Zweikampf fällt. — Die Fabel ist einfach genug, 
und für unsere Begriffe wenig bedeutsam; uns scheinen ferner 
die tragischen Motive nicht in der Tiefe der Menschennatur, 
sondern in oberflächlicher Konvention begründet. Aber diesen 
Menschen war die Konvention Natur. Und wer unter dem Ein- 
fluß vollendeter Bühnendarstellung von der Atmosphäre des 
japanischen Mittelalters innerlichst ergriffen ward, dem tritt 
aus dem scheinbar Gekünstelten das Reinmenschliche ebenso er- 
greifend-nackt entgegen, wie aus der griechischen Schicksals- 
tragö^ie. Auch das „Schicksal" war schließlich Konvention — 
wir glauben nicht mehr an seine Macht; auch die Leidenschaften, 
wie sie seither als Motive verwandt werden, sind keine not- 
wendig bedingenden Ursachen — denn der Mensch kann über 
ihnen stehen; bloß darauf kommt es an, wo er tatsächlich steht. 
Identifiziert er sich wirklich und vollkommen mit einem törichten 
Vorurteil, dann gewinnt dieses die Tiefe der Natur. Die Intensität 
des Erlebens nun war beim mittelalterlichen Menschen so groß, 
Keyserling, Reisetagebuch. 30 
466 Das Ende des Edelmanns; Tierarten als Vorurteil. 
daß seine Vorurteile mehr Pathos bedingen, als unter Modernen 
metaphysische Tragödien. 
Ich empfinde so etwas wie Wehmut. Erklärlich genug: so 
sehr ich auch Geistesmensch bin — die Grundinstinkte des Ritters 
spüre ich dennoch sehr lebendig in mir, und diese passen nicht 
mehr in diese Zeit; des Edelmannes Tage sind gezählt. Welche 
Verblendung, darin das Zeichen eines unbedingten Fortschritts zu 
sehen! Allerdings beschließen die typischen Züge des Edelmanns 
keine absoluten Werte, aber solche wohnen keiner Gestaltung inne; 
alle sind nur bestimmte Lebensformen, als solche nicht wesentlich 
notwendig, bedingt, beschränkt, dem Wandel unterworfen und in 
der Betrachtung zumal beim Menschen leicht als zufällig zu er- 
kennen, weil die Grenzen, die hier einen Typus vom anderen 
scheiden, geistige sind: Einseitigkeiten, Eigentümlichkeiten, Vor- 
urteile. Allerdings erscheint der ritterliche Ehrbegriff der Theorie 
als Vorurteil, aber Gleiches gilt von der Standesehre des Kauf- 
mannes, und erst recht von der „Voraussetzungslosigkeit" des 
Freidenkers. Die Frage ist, welche Vorurteile die besseren sind? 
Im Prinzip ist es vielleicht sinnlos, so zu fragen: ein Hirsch zu 
sein, ist vom Standpunkte des Pferdes ein Vorurteil und um- 
gekehrt; alle Gestaltungen sind ein Ausdruck des Innerlich-Not- 
wendigen im Rahmen des Äußerlich-Möglichen, ergänzen sich 
wechselseitig, verwandeln sich mehr oder weniger korrelativ. Aber 
es gibt dennoch bessere und schlechtere Vorurteile in dem Ver- 
stand, daß nicht jede Konstellation die Realisierung gleicher 
Werte zuläßt und manche überhaupt verloren gehen, wenn eine 
bestimmte Lebensform ausstirbt. In diesem Sinne steht der Ritter 
turmhoch über den Typen, welche heute unaufhaltsam an seine 
Stelle treten; an moralischem Mut, Idealismus, Selbstverleugnung, 
an Treue, Gesinnungsadel und Nichtachtung materieller Vorteile 
kommt keiner ihm gleich. So daß die Menschheit durch das Aus- 
sterben des Ritters einen unersetzlichen Verlust erleidet. 
Wohl beginnt heute ein Typus auszukristallisieren, welcher, 
ähnlichen Geistes wie der Ritter, diesem insofern überlegen ist, 
als er durch weniger spezielle Vorurteile zusammengehalten wird 
und der individuellen Anlage mehr freien Spielraum gewährt: das 
ist der intellektualisierte und universalisierte englische Gentleman. 
Aber der ist noch viel schwieriger darzustellen als jener, wes- 
wegen fraglich bleibt, ob er je dominieren wird. Es bedarf 
Warum die Aristokraten heute entarten. 467 
einer ungeheueren angeborenen Kultur, die in unseren Tagen aus- 
schweifender Blutmischung selbst die Träger größter Namen nicht 
besitzen, und einer Fähigkeit der bewußten Selbstbeschränkung, 
welche den Idealen des emanzipierten Durchschnitts stracks zu- 
widerläuft, um in diesem höchsten Sinne Edelmann zu sein. Noch 
sind die wenigsten zur Freiheit reif, noch sind weitaus die meisten 
Herdenmenschen und unfähig, sich außerhalb gemeinschaftlicher 
Bindungen zu vollenden. So treten sie, wo sie die alten zer- 
rissen haben, in neue Zusammenhänge ein, die viel oberflächlicher 
begründet sind als die historisch gewordenen. Heute schließen sich 
die Reichen zusammen: es war besser, als dies die Edlen taten. — 
Ich werde bitter. Wie sollte ich es nicht werden, da ich mitansehen 
muß, wie der Zug der Zeit die Typen, welche die edelsten sein 
sollten, unaufhaltsam niederzieht? Unter den Trägern großer 
historischer Namen gibt es schon erschrecklich wenig echte 
Aristokraten mehr. Es liegt in der Natur der Dinge begründet, 
daß ein Organ, das sich nicht entsprechend betätigen kann, ent- 
artet. Dieses geschieht auf zwei Wegen, je nachdem ob der 
Nachdruck auf dem „entsprechend" oder dem „betätigen" ruht: 
die starren Reaktionäre degenerieren, weil sie gar nichts tun; die 
fortschrittlichen hingegen, weil sie, wo sie ihrer Eigenart ent- 
sprechend nicht mehr leben können, sich auf anderen Bahnen ver- 
suchen, und auf diesen, wo die ererbten Instinkte versagen, direk- 
tionslos sind. Heute müssen sich die meisten Landedelleute als 
Kaufleute betätigen. Da sie nun von Natur keine sind, und nur 
durch Verstandesüberlegungen dabei geleitet werden, so lügen sie 
in metaphysischem Sinn, wo sie Geschäfte machen, was sich in 
der Erscheinung darin äußert, daß sie oft unvornehmere Geschäfts- 
männer sind als die Händler von Beruf. Im Blut liegt ihnen allein 
die ritterliche Standesehre, die spezifische Moralität des Händlers 
ist ihnen ein Fremdes, weshalb sie auf ihrer neuen Bahn nur 
allzu oft einer niedrigeren Klasse angehören, als die Vertreter alter 
Kaufmannsgeschlechter. Die Typen der Menschheit sind nicht ver- 
tauschbar und leider nur in geringem Maß verwandelbar. Hier 
bietet Japan das belehrendste aller Beispiele. In diesem Land ist 
die Moderne unmittelbar auf das Mittelalter gefolgt, die Ära der 
ökonomischen Gesichtspunkte unmittelbar auf die des Kreuzritter- 
tums. Was war die Folge? — Unter Rittern ist der Krämer stets 
verachtet, und Verachtung erstickt den Edelsinn im Keim. Also 
30* 
468 Warum Edelleute oft unvornehme Geschäftsmänner. 
waren die japanischen Kaufleute im Gegensatz zu den chinesischen 
typischerweise niedrig gesinnt. Die Ritter nun haben im Kriege 
ihren Ritterwert schlagend bewiesen; und daß die typisch-ritter- 
liche Gesinnung auch heute noch lebendig ist, habe ich selbst 
zu erfahren vielfach Gelegenheit gehabt; oft hat mich die Ähnlich- 
keit des japanischen mit dem baltischen Edelmann frappiert: dort 
wie hier eine fast donquichotteske Verachtung des Geldes, hier 
wie dort eine sonst kaum mehr anzutreffende Großzügigkeit und 
Großmut. Aber heute sind die meisten Samurais materiell nicht 
in der Lage, auf die alte Art fortzuexistieren, heute müssen sie 
sich, um nicht zu verhungern, am ökonomischen Wettbewerb be- 
teiligen, und hier werden sie durch keine sicheren Instinkte orien- 
tiert. So verlassen sie sich ausschließlich auf ihren Geschäftsver- 
stand und da dieser nur weitsichtig ist, wo er von fester Charakter- 
basis aus arbeitet, so ist der Erfolg eben der, welcher allen vor 
Augen liegt: noch bin ich im Osten keinem weißen Geschäftsmann 
begegnet, der den Japaner nicht für einen niedrigen, gemeinen, 
ganz unzuverlässigen Gesellen hielte. — Während nun die mittel- 
alterliche Tragödie sich auf den Brettern abspielte, erschienen die 
Gesichter aller, auch der europäisch gekleideten Japaner verklärt; 
es vibrierten Saiten in ihnen, die das moderne Leben nicht mehr 
zum Anklingen bringt. Und diese Saiten sind die tieferen, volleren, 
reineren — in Japan wie auf der ganzen Welt. 
Der Charakter Kyotos ist verschieden von dem aller Städte, 
die ich in Japan bisher besucht: es ist der einer Metropole, 
die alle Formen des Lebens im weiten Reich zu großartiger 
Einheit zusammenfaßt. Ich besichtige die Sehenswürdigkeiten: die 
Denkmäler der Hofkultur, prunkhafter Vasallenmacht, eines groß- 
artig-verschwenderischen Prälatentums und jenes herben, männlichen 
Kriegersinnes, der die endgültige Erhebung Japans herbeigeführt 
hat; und staune über die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, in 
denen das Leben sich hier einst geäußert hat. Welche Ähnlichkeit 
bestand zwischen den exquisit gebildeten Höflingen, mit ihrer 
femininen Empfindsamkeit, ihrem zartsinnigen Künstlertum und 
den rauhen, männlichen Samurais? Zwischen den amazonenhaften 
Kaiserinnen der alten Zeiten, den großen Künstlerdamen des 
Mittelalters, welchen Japan das beste seiner Literatur verdankt, und 
den spartanisch gesinnten Rittersfrauen? Jeder dieser Typen kann 
Kyoto und Versailles ; Hof sc kränzen und Pinguine. 469 
als besondere Menschengattung gelten, ist auch immer so beurteilt 
worden. Und vergleiche ich mit dem gegliederten Japan von einst 
das einförmige von heute und gedenke zugleich der nahen Zu- 
kunft, wo die Nivellierung vollendet sein wird, so überkommt 
mich wieder eine Stimmung der Bitterkeit. Gar zu töricht ist das 
Mißverständnis, daß die Aufhebung der sozialen Abgrenzungen 
die Differenzierung des Menschen begünstigen soll! Freilich 
begünstigt sie die individuelle Differenzierung — aber was 
bedeutet diese im Verhältnis zur typischen, die sie im Keim 
erstickt? Unter höchstindividualisierten Völkern geschieht es 
nur ausnahmsweise, daß eine Individualität als solche wertvoll 
sei; umgekehrt sind die Typen, die aus noch so unpersönlichen 
auskristallisieren, ohne Ausnahme Träger von Menschheitswerten, 
welche verloren gehen, wenn die Grenzen zwischen den Typen 
verschwommen sind. Der Mensch ist nun einmal ein Unterschieds- 
wesen, wird sich seiner Eigenart nur in bezug auf Andersartiges 
bewußt; aus diesem Grunde blüht höhere Kultur nur tn aristo- 
kratischen Gemeinwesen. Die Unterschiede zwischen Individuen, 
die in demokratischen die zwischen den Typen ersetzen, sind zu 
gering und vor allem zu oberflächlich, um im gleichen Maße 
anspornend zu wirken. Diese Wahrheiten illustrieren die Japaner 
wie kein zweites Volk. Sie sind, wie alle Kenner übereinstimmend 
behaupten, ausgesprochen unpersönlich, haben auffallend wenig 
Sinn für das Individuelle. Um so mehr verlieren sie, indem sie 
sich der Möglichkeit typischer Gestaltung begeben. Der Hofmann 
von einst war raffiniert im Gegensatz zum rauhen Samurai, und 
dieser männlich und stark im Gegensatz zum verfeinerten Daimyo; 
die Edelfrau war streng und selbstbeherrscht im Bewußtsein ihrer 
Überlegenheit über ihre naturwüchsigen Dienerinnen. Heute fühlen 
alle Japaner sich mehr und mehr als gleich, streben vor allem dar- 
nach, „moderne Menschen" zu sein. Und das macht sie zusehends 
banaler. ... 
Aber noch herrscht in Kyoto die psychische Atmosphäre der 
alten Zeit, noch dominiert in ihr der Geist der Residenz. Mir 
wird zu Mut, wie manchmal in Versailles, wenn ich im Lichte 
der Oktobersonne durch die halbverwilderten Alleen schritt. Ich 
fühle mich als Hofmann; die Etikette schematisiert meine Im- 
pulse; Schein ist mir höchste Wirklichkeit, Formel Wesen. Und 
diese Verfassung beengt mich nicht: hier bedingt gerade sie größt- 
470 Japanische Zimmereinrichtung; Wesen des Geschmacks. 
mögliche innere Freiheit. Im Versailles Ludwig XIV. konnte 
allein der vollendete Höfling unbefangen sein. Ähnlich war es 
in Kyoto. In dessen verkünstelter Gesellschaft, von Puppenkaisern 
vorgeblich beherrscht, von Favoritinnen regiert, Intrigen durch- 
setzt, war nur die Schranze ganz in ihrem Elemente. Aber diese 
erschien erstaunlich substantiell. Dank der japanischen Anlage, die 
in so seltsamer Weise Sensitivität, Phantasielosigkeit und Matter- 
of-factness in sich vereint, konnten die Höflinge hier vollkommen 
echt sein. Sie waren so echt wie die Pinguine, die auf den Eis- 
feldern der Süd-Polarregion ihre Tage in Höflichkeitsbezeugungen 
zubringen. 
In den höchstgestellten Kreisen des alten Japan pflegten Zimmer- 
einrichtungen und die Trachten der Frauen im Zusammenhang 
- mit dem Kreislauf der Jahreszeiten eine zyklische Verwand- 
lung zu erfahren. Nie war ein Interieur dort sommerlich gestimmt, 
während es draußen schneite und stümte, nie hätte eine japanische 
Orande-Dame zur Zeit der Wistaria-Blüte ein Gewand getragen, 
das der Stimmung des Chrysanthemums entsprach. Die Idee 
ist die gleiche wie die der chinesischen „Harmonie", nur hier nicht 
in der Tiefe oder von der Tiefe her, sondern an der Oberfläche 
zum Ausdruck gebracht, wie der Maler den Sinn der Dinge in 
ihrem „farbigen Abglanz" auffängt und wiedergibt. Um den 
Himmel hat sich der Japaner wenig gekümmert; dafür hat er, dank 
seinem wundersamen Naturgefühl, seine Erde zum Paradiese 
umgewandelt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein gezwergter 
Baum sich mißhandelt fühlen könnte, wie ein auf französisch 
zurechtgestutzter dies sicher tut: er dürfte seinem Gärtner viel- 
mehr danken, da dieser seine Natur, ohne Gewaltsamkeit, so um- 
wandelt, daß sie ihrer Umgebung vollkommen angepaßt erscheint. 
Jeder Mensch von Geschmack jedenfalls, welchem Gleiches wider- 
führe, wäre dankbar. 
Der „Sinn" dieses Natursinns, um mit Laotse zu reden, ist 
der Grundton aller asiatischen Welt- und Lebensanschauung. Die 
Inder haben ihn in ihrer Philosophie, Religion und Musik zum 
Ausdruck gebracht, die Chinesen in ihrer ganzen Kultur, die 
Japaner vor allem in der Gestaltung des Sichtbaren; in dieser 
Beziehung sind sie durchaus Asiaten. Der ganze Osten betrachtet 
den Menschen als Bestandteil der Natur und verhält sich dem- 
Japanische Bau und Gartenkunst. 471 
entsprechend, während es für uns zunächst bezeichnend ist, daß 
wir die Gliedschaft verleugnen. Ohne Zweifel ist seine Grund- 
anschauung die tiefere. Nur aus asiatischem Weltgefühl kann eine 
allumfassende, nichts verleugnende Religion und Philosophie her- 
vorgehen, es allein ermöglicht im Prinzip eine vollkommene soziale 
Organisation; nur wer asiatisches Weltgefühl besitzt, wird im 
höchsten Sinn geschmackvoll sein. Was ist Geschmack denn anderes, 
als ein sicheres Bewußtsein der Proportion? Wessen Auge in 
Japan gebildet ward, wird in Europa selten aufblicken mögen. 
Wie barbarisch sind unsere Überladungen! wie selten steht ein 
Gegenstand dort, wo der Zusammenhang ihm den Platz anweist! 
wie drängen sich die Gemälde einem auf! Und wie selten ist sich 
ein Europäer dessen bewußt, daß das Zimmer für den Menschen 
da ist und nicht umgekehrt, daß er und nicht der Vorhang oder 
das Bild an sich darin zur Geltung kommen soll! Sogar die japa- 
nische Baukunst leistet im selben Verstände Wertvolleres als unsere 
moderne, wie geringfügig ihre Schöpfungen sonst seien. Ein 
japanischer Tempel ist in seine Umgebung hineinkomponiert, von 
dieser überhaupt nicht loszulösen; und da dieses mit Meisterschaft 
geschah und jedes Gebäude mit seinem Hintergrund zusammen als 
Einheit wirkt, ist das Gesamtbild ästhetisch befriedigender als 
es unsere an sich meist besseren Bauten bieten. Charakterischer- 
weise verläßt den Japaner sein Geschmack, sobald er europäische 
Sitten und Kleidung annimmt: die sind ihm eben innerlich fremd, 
kann er nicht vom Zusammenhang her verstehen. Und im gleichen 
Sinn bezeichnend ist es wohl, daß die Tempel meist stark über- 
laden sind: die sind nicht für den Menschen da, sondern für super- 
lativische Wesen, von denen jener sich keine deutliche Vorstellung 
bilden kann. Der Mensch besucht sie auch nur bei festlichen 
Gelegenheiten, wo die gehobene Stimmung einen prächtigeren 
Rahmen ohnehin erheischt. Heute wohnte ich dem Jahresfest des 
Nishi-Hongwanji-Tempels bei. Dort ward ganz außerordentlicher 
Pomp entfaltet. Aber so gerade müssen religiöse Feiern nach 
japanischer Auffassung sein — wesentlich außerordentliche Ver- 
anstaltungen — und zu solchen geben die prunkhaft reichge- 
schmückten, goldschimmernden, buntlackierten Tempel einen stil- 
gerechten Rahmen ab. 
Japanische Gärten aber sind absolut schön, es sind die voll- 
kommen schönen Gärten, ein Ausdruck nicht minder klassischen 
472 Qenji Monogatari ; der Naturprozeß nicht abzukürzen. 
Geists, als griechische Götterbilder. Weshalb zwergt der Japaner 
Bäume? Nicht aus Vorliebe für das kleine an sich, sondern auf 
daß sein noch so winziges Stück Land, gleich einer Landschaft 
Millets, unendliche Perspektiven eröffne. Wo daher, wie in den 
kaiserlichen Anlagen Kyotos, Raum die Fülle vorhanden ist, hat 
man die Bäume im Hintergrund am Himmel anstoßen lassen 
und nur dem Vordergrunde zu fortschreitend ihre Wachstums- 
impulse proportional der Entfernung eingeschränkt, so im Großen 
das gleiche Bild unendlicher Weite erzielend, das der Arme im 
Kleinen realisiert. — Und wieviel mehr kann erreicht werden 
durch Eingehen auf die Eigenheiten der Natur als durch ihre Ver- 
gewaltigung! Vermittelst einiger Steine, weniger Pflanzen, eines 
kleinen Gerinseis zaubert der Künstler hier Schönheiten in einen 
gleichgültigen Raum hinein, die so mancher berühmten Sehens- 
würdigkeit fehlen. . . . Während ich, die heißen Tagesstunden hin- 
durch, in diesen Zaubergärten raste, lese ich im Genji Monogatari, 
dem mittelalterlichen Roman, der ein so vollkommenes Bild vom 
Fürstenleben Japans gibt: dieses Raffinement hat kein I^Iof des 
Westens gekannt; auch wohl kein chinesischer. Was jene Kultur 
charakterisierte, war eine Verknüpfung, die eben nur in Japan 
möglich war: zwischen tierartig-sicherer Auffassung des Sinnlichen 
und deren äußerster künstlerischer Verarbeitung. Wenn Prinz Genji 
eine Mondscheinstimmung genoß, so träumte er nicht gleich einem 
persischen Dichter: er merkte auf wie ein Raubtier, das auf der 
Lauer liegt, aber empfand das Bemerkte zugleich als feinsinniger 
Ästhet. 
Immer mehr fängt mich der Charme dieses ästhetisch-reiz- 
vollsten aller Länder. Wie sonst im Reiche der Gedanken die 
Ideen, so ergreifen hier die Gegenstände der Außenwelt von 
mir Besitz und modulieren die Stimmung meiner Seele, bis daß 
sie aus eigenem Drang in deren Tonart fortkomponiert. * 
Ist es, weil ich in Japan ganz den Sinnen lebe, daß ich mich 
täglich jünger werden fühle? So wird es sein. Wir sind nun ein- 
mal für die Welt in diese Welt hineingeboren, zur Benutzung, 
nicht zur Verleugnung irdischen Könnens, und müssen es büßen, 
wenn wir zu früh jenseits der Sinne existieren wollen. Nachdem 
das Leben seinen irdischen Zenith überschritten hat, erfüllt es 
Bedeutung der harmonischen Proportion. 473 
sich wohl mehr und mehr in einem Dasein rein geistiger Art 
Solange die Kurve jedoch auf Erden noch ansteigt, heischt die 
Sinnlichkeit gebieterisch ihr Recht. Der Naturprozeß will sich 
nicht abkürzen lassen. 
Aber das ist es nicht allein und nicht vor allem, was den 
Tonus meines Lebens in Japan so sehr hebt: es ist die einzig- 
artige Befriedigung, daß ein Leben in und mit den Sinnen im 
Reich der Aufgehenden Sonne gewährt. Hier, wie nirgends sonst 
auf der Welt, ist das Äußere auf das Innere, die Natur auf den 
Menschen abgestimmt, so daß die möglichen Eindrücke von vorn- 
herein in harmonischem Verhältnis zu den möglichen Empfin- 
dungen stehen; und hier, wie nirgends sonst, ist dieses harmo- 
nische Verhältnis in den objektiv besten Rhythmen realisiert. Die 
Zahl solcher Rhythmen ist nicht unendlich: wie nur Kombinati- 
onen der Elemente in bestimmten Zahlenverhältnissen zu dauer- 
haften chemischen Verbindungen führen, wie nur Himmelskörper 
von bestimmtem Gewichtsverhältnis und in bestimmtem Abstand 
von einander des Vereinigens zu einem Systeme fähig sind, so 
ist auch das Größtmögliche an Schönheit, Befriedigung und Glück 
an bestimmte rhythmische Verhältnisse geknüpft. In der objek- 
tivierten Kunst, zumal der Musik, kann diese Darstellung leicht 
durchgeführt werden; je klassischer eine Komposition, desto mehr 
erscheint sie durch eben die Rhythmen bestimmt, welche draußen 
im Himmelsraum die Harmonie der Sphären regieren. Im Fall 
der subjektiven Empfindungen jedoch, wo ein objektiver Nachweis 
nicht zu erbringen ist, wird jeder, dessen Organisation genügend 
fein ist, eine gleiche persönliche Erfahrung machen. Keinen wüßte 
ich, der in Jaques-Dalcrozes rhythmische Gymnastik tiefer einge- 
drungen wäre und nicht von einer unerhörten Lebenssteigerung 
berichtet hätte, die er durch sie und in ihr erfahren: sie realisiert 
eben das objektive Optimum in der Rhythmik des menschlichen 
Gebärdenspiels; kein Künstlergemüt wüßte ich, dem sich die 
Schönheit eines Meisterwerkes nicht als ein objektives Absolutum 
darstellte, und last bat not least — das Glück, das zwei Menschen 
einander gewähren können, hängt überall vom Grade ihrer physio- 
logischen und psychischen Sympathie ab, das heißt dem Verhält- 
nisse, in dem die Saiten ihrer Naturen zusammenklingen. Genau 
in diesem Verstände ist das Verhältnis, in dem in Japan die objek- 
tivierte Kultur zur menschlichen Subjektivität steht, ein bestmög- 
474 „Harmonie" in China und Japan. 
liches. Freilich muß man Japaner geworden sein, um dieses 
Optimum ungeschmälert zu empfinden; aber man wird eben in 
Japan zum Japaner; kein aufnahmefähiges Gemüt entgeht dieser 
Verwandlung. Und merkt .er alsdann, daß die fremdartige ost- 
asiatische Gestaltung auch ihm als objektives Optimum zu er- 
scheinen beginnt, dann wird ihm auch klar, wie wenig dieser Stil 
als solcher bedeutet. Es sind die Verhältnisse innerhalb der 
Konvention, die ihn beglücken; die gleichen wären auch auf 
griechisch darstellbar; und daß er in Japan das Japanische am 
meisten genießt, beweist nur, wie sehr dieser spezifische Stil dem 
ambiente gemäß ist. 
Ich denke an China zurück. Nein, die Vollendung, die ich 
heute im Auge habe, ist spezifisch japanisch, nicht chinesisch, 
und ob auch jede einzelne schöne Gestalt im Reich der Mitte 
erfunden ward; die Lebenssteigerung, welche die Anschauung 
Japans bewirkt, wird China in seinen größten Zeiten nie haben 
auslösen können. Wie belehrend ist dieser Vergleich! Wahrhaftig: 
das allermeiste von dem, was an der japanischen Kultur objektiv 
wertvoll erscheint, ist in China erfunden nicht nur, sondern auch 
ungleich tiefer verstanden worden. Nie haben die Japaner die 
Bewußtseinslage erreicht, welche die Gestaltungen der buddhi- 
stischen Kunst aus sich heraus gotthaft hervorbringen konnte, nie 
den Sinn des Rituals verstanden, welcher der Chinoiserie einen 
so tiefen Hintergrund verleiht. Aber in Japan, nicht in China, 
hat der Sinn die Erscheinung bis zum äußersten durchdrungen. 
Eine Süßigkeit ist der Grundton der Atmosphäre japanischer 
Buddhatempel, die kein chinesisches Heiligtum kennt, und dem 
Chinesengeist, der die einzelnen Formen erfand, vielleicht unfaß- 
lich ist; die Idee der Rücksicht, die in China aufkam und dort 
die tiefstbegründete systematische Ausgestaltung fand, trägt in 
Japan den vollkommensten Körper. Dem Chinesen fehlt die 
natürliche Sensibilität, das feinvibrierende Nervensystem; trotz 
seines hochentwickelten ästhetischen Sinns hat er nie tinter 
dem Schmutz gelitten, trotz wunderbar tiefen Verständnisses der 
Harmonie diese Idee nie seinen Empfindungen eingebildet. Er ist 
höflich wie keiner, seine ganze Lebensroutine ist auf Rücksicht 
aufgebaut; aber diese äußert sich im Befolgen objektiver Höf- 
lichkeitsnormen, ohne Beachtung dessen, was im Bewußtsein der 
anderen vorgehen mag. Eine Chinesin, wird mir erzählt, die einer 
Abstrakte und lebendige Rücksichtnahme ; das Menschheitsorchester. 475 
Europäerin ihren Besuch machte, befremdete diese dadurch, daß 
sie, anstatt sich vor ihr zu verneigen, ihre Bücklinge nach der 
entgegengesetzten Seite ausführte, womit sie ihrer Gastgeberin 
den Rücken kehrte: diese hätte eben, der Etikette gemäß, auf der 
entgegengesetzten (südlichen) Seite des Zimmers stehen sollen; 
daß sie nicht tatsächlich dort stand, war jener gleich. — In Japan 
ist gerade die lebendige Rücksicht bis zum äußersten durch- 
gebildet; nirgends auf der Welt erscheint das Empfinden so fein 
nuanciert. So trägt die chinesische Erfindung erst hier ihre 
schönsten Früchte. In Japan ist die Idee der Harmonie der lebendig- 
beweglichen Erscheinung eingebildet; nichts geschieht, außer in 
harmonischen Proportionen, nichts steht da, außer am rhythmisch 
besten Ort. So fühlt man sich wohl und beglückt, wohin man sich 
wendet. Schließlich kommt es überall in der Welt doch am meisten 
auf Kleinigkeiten an. Eine Nuance scheidet Taktlosigkeit von Takt, 
eine Nuance Zuvorkommenheit von Frechheit. Der Japaner hat den 
ausgebildetesten Sinn für das Kleine. So konnte er, nachdem das 
Große ihm gegeben war, Ergebnisse erzielen, die einem Größeren 
unerreichbar blieben. 
Die Kehrseite freilich .... doch ich will mir meine Stimmung 
des Beglücktseins nicht verderben. Wozu soll denn ein Mensch 
oder ein Volk alle Vorzüge besitzen? Die Völker dieser Erde 
ergänzen sich. Die einen spielen den Baß, die andern den Diskant; 
einige wenige schlagen die Grundtöne an, viele andere singen die 
Melodie. Die Menschheit ist ein vielstimmiges Orchester; der 
Philosoph lauscht ihrem Zusammenspiel. Und wenn er reisen muß 
im Raum, um den Eindruck der Einheit zu gewinnen, so liegt 
darin kein ernsterer Einwand gegen die Weltordnung als in dem, 
daß sich die Einheit einer einzelnen Melodie nur im Verstreichen 
in der Zeit realisiert. 
Ich erkenne mich nicht mehr: nicht allein, daß ich stundenlang 
bei Antiquaren und Kuriositätenhändlern herumstöbere — ich 
kaufe ein und denke über Zimmereinrichtungen nach. Das ist 
ein ganz ungewohnter Zustand. Noch nie, daß ich wüßte, ist mir 
an Besitz gelegen, am wenigsten dessen, was meinen Augen wohl- 
gefällt. Meinem persönlichen Bedürfnis entspricht es besser, wenn 
das Schöne sich dort befindet, wo ich es sehen kann, aber nicht 
476 In Japan alles Sichtbare auf den Menschen zugeschnitten. 
muß, bei Freunden oder in öffentlichen Sammlungen; steht es immer 
vor mir, so stört es mich, und desto mehr, je größer sein Eigen- 
wert. Dann muß ich Rücksichten nehmen, meinen Lebensstil dem 
Kunstwerke anpassen; vor allem fühlt sich meine Phantasie in 
solcher Gegenwart nicht frei. Wie soll ich aus unbewußter Tiefe 
unbefangen Gedanken zutage fördern, wenn der Raum vor mir 
nicht leer ist, wenn meine Sinne wieder und wieder von Voll- 
endetem außer mir gefangen werden? Allerdings: das bloß 
Gefällige wirkt nicht so bannend; dafür bedarf ich seiner 
nicht. Meinen Freundinnen bin ich wohl gram, wenn sie ihren 
Lebensrahmen nicht möglichst schön gestalten, denn während 
ich bei ihnen weile, ist mein Bewußtsein der Außenwelt zugekehrt 
und leidet unter deren Mängeln; vom meinen verlange ich bloß, 
daß er mir nie zum Bewußtsein komme: das soll seine Voll- 
kommenheit sein. — Hier nun, unter dem Einflüsse Japans, werde 
ich zum Genießer, zum Kunstliebhaber. Hier ist eben alles Sicht- 
bare auf den Menschen zugeschnitten; alle Natur wirkt als Rahmen 
des Menschenlebens, jeder Gegenstand ist zum Gebrauche da, 
jedes Kunstwerk setzt den Beschauer voraus. So kommt es, daß 
der von der Außenwelt sonst noch so Unabhängige, im Falle er 
eindrucksfähig ist, sich bedrückt und ungemütlich fühlt, sobald 
etwas in diesem Sinne nicht stimmt, daß ich zu Kyoto meine 
Gedanken unwillkürlich darauf richte, wie ich mich mit meiner 
Umgebung in den ästhetisch besten Einklang versetzen könnte, ja 
während dessen im Glauben lebe, diese Bedürfnisse hätte ich auch 
daheim. — Ich muß lachen über mich selbst. Ein klein wenig 
weniger Selbstkritik, und ich könnte mir wahrhaftig einbilden, 
ich sei ein Kunstverständiger. Heute früh, auf der Eröffnung einer 
Auktion, schaute ich zu, wie japanische Kenner Porzellan besich- 
tigten. Was diese bemerkten, dafür bin ich wahrscheinlich blind, 
allein mir schien im Augenblick ganz ernstlich, als dürfte ich mit- 
reden über Porzellan und wirklich scheine ich etliche Male nicht 
falsch geurteilt zu haben. Das verdanke ich ausschließlich der 
Suggestion des Milieus; von Natur fehlt mir jeder Sinn für Kunst- 
gewerbe. Aber ich bin es wohl zufrieden, wenigstens auf Augen- 
blicke in der Haut eines Mannes von Geschmack gesteckt zu haben, 
weil mir dadurch eine neue Seite der japanischen Veranlagung 
deutlich geworden ist. Goethe bemerkt irgendwo, das Theater habe 
die zweischneidige Eigenschaft, im Beschauer die Einbildung wach- 
Der Schlüssel zum Geheimnis japanischen Kunstschaffens. 477 
zurufen, auch er könne dramatisch produzieren. Woran liegt das? 
Offenbar daran, daß der Mensch wenigen Geschehnissen gleich 
intensive Aufmerksamkeit schenkt," wie dem Ablauf eines Bühnen- 
spiels; und wirklich Gesehenes liegt, vom Geiste her betrachtet, 
auf einer Ebene mit dem Eingefallenen. Also scheint es dem Zu- 
schauer unwillkürlich, er hätte das Drama eines anderen selbst 
verfaßt, oder — da dies nachweislich nicht der Fall ist — er sei 
doch einer gleichen Leistung fähig. Ganz so gelangt in kunst- 
sinniger Umgebung auch der Barbar irgendeinmal zur Überzeugung, 
daß er „eigentlich" ein Kunstkenner sei, denn hier beachtet er das, 
was ihm sonst entgeht. Hiermit ist aber dieser Gedankengang 
nicht abgeschlossen: durch Erziehung der Aufmerksamkeit zum 
Beobachten bestimmter Dinge entwickelt sich das Vermögen, sie 
wirklich zu sehen; ja er führt noch weiter: man wird durch 
andauerndes Aufmerken schöpferisch. Dieses nun scheint mir 
der Schlüssel zum Verständnis des japanischen Kunstschaffens 
zu sein. Die Japaner sind von Hause aus nicht produktiv in dem 
Sinne, wie es die Chinesen einstmals waren; aber sie sind auf die 
Dauer schöpferisch geworden, weil Phantasie und Technik, Pro- 
duzieren und Rezipieren einem ideellen Zusammenhange ange- 
hören. Eine starke Phantasie schafft sich die Ausdrucksmittel, wo 
die Technik vollkommen ist, dort strömt der Geist, der Sinn von 
selber ein; wer vollkommen beobachtet, wird am Ende durch 
Einfälle überrascht. Die Japaner sind von Hause aus nun zweierlei: 
unvergleichlich scharfe Beobachter und Virtuosen alles technischen 
Könnens. Dank welchem sie sich nicht allein die Errungenschaften 
aller der Völker, denen sie es gleichtun wollten, haben aneignen 
können — es ist ihnen gelungen, ohne daß sie eigentlich Ideen 
hätten, doch Ideen darzustellen, sogar solche, die keiner vor ihnen 
gehabt hat. 
Wie sehr ich bereits Japaner bin! Ihre Sinne sind die 
meinigen geworden; wie selbstverständlich wende ich 
die Kategorien ihrer Ästhetik an, bemerke und beachte 
ich tausenderlei, was mir sonst niemals auffällt; vom Denker 
scheine ich mich ganz und gar zum Augenmenschen verwandelt zu 
haben. Und ich staune über den Reichtum der sichtbaren Welt. 
Bisher hatte ich häufig gefunden, daß diese mehr verschleiert als 
478 Die Welt des Sichtbaren eine Welt für sich. 
enthüllt; daß die Wirklichkeit, welche das Auge berührt, arm 
ist neben der von Geist und Seele. Nun aber erkenne ich, daß 
sie ganz wunderbar reich ist, daß es nur von der Anlage des 
Beschauers abhängt, wieviel sie ihm bietet und bedeutet; im 
Spiel der Farben und Linien kann genau so viel Sinn zutage 
treten, wie in der geistreichsten Gedankenverknüpfung. Aber aller- 
dings ist es ein Sinn anderer Art. Es heißt, die Götter redeten in 
Farben miteinander; das mag wohl sein; dann aber reden sie 
von anderem, als wir. Ich weiß nicht ob Menschen, welche 
dauernd mit den Augen leben, sich dessen so bewußt werden, 
wie ich: die Welt des Sichtbaren ist eine Welt für sich; die Er- 
lebnisse des bildenden Künstlers sind mit denen des Denkers auf 
keinen konkreten Generalnenner zu bringen. Daher bedeutet es 
eine absolute Bereicherung meines Daseins, daß ich für den 
Augenblick als japanischer Maler auffassen kann. 
Für den Augenblick: denn lange wird diese Einstellung 
nicht anhalten. Gewiß lebt in mir die Möglichkeit zum Japaner- 
tum, wie denn alles Natürliche dem Menschen eingeboren ist; 
jeder kann, willkürlich oder unwillkürlich, zeitweilig Tiger oder 
Reh, Wasserfall, Erdbeben oder Pflanze sein; es kpmmt bloß 
darauf an, auf welche Elemente seines Wesens er den Nachdruck 
legt. Aber auf die Dauer ist jegliches Individuum nur in der Ein- 
stellung, die es als solches definiert, existenzfähig; sie allein ist 
dem Tiefsten in ihm ein zuverlässiges Ausdrucksmittel, weshalb 
sich Einfühlung in gar zu Fremdartiges leider selten als so pro- 
duktiv erweist, wie es der Theorie nach sein sollte — sie führt 
nicht dahin, wohin man wollte. Heute Nachmittag, wo ich durch 
Stunden auf waldigem Hügel saß, unter blühenden Azaleen, 
vor mir die weite Fläche des Biwa-Sees, habe ich das wieder 
einmal am eigenen Leib erfahren. Ich stellte mich zum Augen- 
menschen ein; ich versenkte mich in die reine Form der Pflanzen;, 
bald vermochte ich sie so zu sehen, wie ein japanischer Maler sie 
sieht, und der Sinn jeder Linie ward mir offenbar. Aber wie ich 
tiefer und tiefer konzentriert ward, da verschwand das Sichtbare; 
nicht absolut, aber seinem selbständigen Eigen-Sinne nach, mit 
dem allein Kunst es zu tun hat. Immer deutlicher begann ich zu 
erfassen, was mir überhaupt, mehr und mehr, zur eigentlichen 
Wirklichkeit wird: der Erscheinung Möglichkeit; wieder einmal 
kam ich mit der Potenz in unmittelbaren Kontakt, die von Innen 
Meta physiker und Gott; der japanische Tanz. 479 
her das Da- und Sosein bedingt, das Werden und Vergehen regiert; 
und wenn dann Blitze der Reflexion vorüberschössen, dann wun- 
derte ich mich, wie so oft, warum es mir denn versagt ist, in der 
reinen Möglichkeit mein persönliches Zentrum zu haben, und indem 
ich mich aktualisiere, bald das Ganze, bald nichts, und bald ein 
beliebigei Teil zu sein. Und auf die Verwunderung folgte, wie 
immer, die Betrübnis. Es ist tragisch, in seinem Verstehen dem 
Können voraus zu sein. Weshalb bin ich kein Gott? — Nur, weit 
es mir an physischer Kraft gebricht; das verfügbare Energie- 
quantum ist es, sonst nichts, das den Metaphysiker vom Gotte 
unterscheidet. Besäße ich genügende Mittel, so würden meine 
Ideen von selbst zu physischen Gestalten werden, und während 
meine Gedanken wanderten, löste Welt auf Welt sich ab. — So 
aber kann ich nicht einmal, so lange es mir beliebt, Japaner sein; 
die Grenzen, die ich in der Idee nicht anerkenne, beherrschen mich 
doch. Aus jeder neuen Gestalt entpuppt sich zuletzt doch wieder 
der alte Keyserling, und dieses meist lange bevor ich deren Mög- 
lichkeiten erschöpft hätte. Was also tun? — Wäre ich eine rein 
betrachtende Natur, so könnte ich mich wenigstens hinwegtäuschen 
über den Tatbestand, wie dies die meisten Mystiker getan haben: 
ich könnte so konsequent nicht handeln, so andauernd in Gedanken 
im Reiche des Möglichen wohnen, daß ich des Bewußtseins meiner 
Schranken verlustig ginge, bis daß der Prozeß des Geschehens 
sie einmal wirklich sprengt. Aber ich bin leider viel zu aktiv, 
als daß solches für mich in Frage kommen könnte. Mir bleibt 
nichts Besseres übrig, als den unüberwindlichen Keyserling zu 
einem soweit biegsamen Werkzeuge zu erziehen, daß ich auf sein 
Dasein während der Arbeit wenigstens keine Aufmerksamkeit zu 
verschwenden brauchte. 
Daß ein gleichvollendeter Rhythmus, wie auf byzantinischen 
Mosaiken, von lebendigen Menschen dargestellt werden 
könnte, hätte ich mir nimmer träumen lassen, bevor ich 
einem japanischen Tanzfeste beigewohnt. Die Lautenschlägerinnen 
rechts, die Trommlerinnen links vom Amphitheater aufgereiht, in 
identischer Stellung dasitzend, identische Bewegungen im Takt 
vollführend, bildeten zusammen einen lebendigen Fries von voll- 
kommener rhythmischer Einheit. Und die Geishas, die bald auf * 
480 Die Geisha als Prie Sterin ; was sie allein vermag. 
der Bühne, bald längs dem Zuschauerraum ihre stilvollen Tänze 
aufführten, wirkten, so viele ihrer waren, wie die Engel auf 
mittelalterlichen Paradiesesdarstellungen, nur als Wiederholungen 
eines ewig gleichen Symbols. Mehr als je habe ich's bei dieser 
Gelegenheit gespürt: erst in rhythmischer Stilisierung wird die 
Natur vollkommen sie selbst; erst in der vereinfachenden Kurve 
erfüllt sich der Reichtum des Lebens. Ich empfand wie ein Weit- 
werden meiner selbst, wie ein Schwinden aller Hemmungen und 
Schranken; mir war, als löste sich aller Drang in beseligender 
Harmonie. 
Die begleitende Musik klang Europäerohren nicht schön, 
aber das Schauspiel selbst war Musik. Hier habe ich's zum ersten 
Mal erfahren, daß bewegte Farben und Linien das gleiche zu 
wirken vermögen, wie die Schwingungen der Töne. Das europäische 
Ballet ist ein zu Äußerliches, um solche Wirkung hervorzurufen; 
das Gebärdenspiel unserer Musiktänzerinnen ist Kopie oder Inter- 
pretation, kein unmittelbarer Ausdruck. Im Prinzip sollte das, was 
Jaques-Dalcroze erstrebt, das Ideal verwirklichen können, allein 
ich fürchte, es wird es nur zur Hälfte tun, weil unsere Tänzerinnen, 
wie immer sie geschult werden, bewußte Individualitäten bleiben; 
der Europäer kann nicht vergessen, daß er eine „Persönlichkeit" 
ist In Japan nun wird das Ideal tatsächlich verwirklicht, weil die 
Darstellerinnen — Geishas sind; Geschöpfe, dazu geboren und 
erzogen, ohne Selbstbewußtsein Stimmung zu erzeugen; eine Ara- 
beske, eine Begleitung selbstlos darzustellen; nie an sich und für 
sich zu sein. Es kommt dem, der ihnen zuschaut, nicht in den 
Sinn, daß sie Einzelseelen besitzen; sie sind, was sie darstellen 
sollen — angeschlagene Töne auf einer Saite, Farbenflecke, Metopen, 
Mosaiken; Elemente ohne Eigen-Bedeutung. — Wohl dem Volk, 
das die Geisha also hinaufhebt! das sie, anstatt sie verachtend 
auszustoßen oder nur als Genußmittel zu nutzen, zur Priesterin 
weiht: so schafft das an sich vielleicht Niederste am Höchsten 
mit. Die Geishas haben das Privileg und die Pflicht, die alther- 
gebrachten Formen zu pflegen; damit sind sie die Hüterinnen 
des Allerheiligsten. Indem sie wieder und immer wieder die 
Zeremonien und Tänze aufführen, die der vollendete Ausdruck 
der Seele Alt-Japans sind, erhalten sie diese lebendig durch alle 
Zeit. Und das vermöchten nur sie, die leichtsinnigen, losen. Nur 
dieser Menschentypus vermag Element zu sein, wie dies bei Riten 
Die Teezeremonie; England und Japan; Form schafft Inhalt. 481 
und Zeremonien erforderlich ist, denn nur er ist metaphysisch 
genommen selbstlos ; nur Geishas existieren buchstäblich beziehungs- 
weise, sind buchstäblich ohne Persönlichkeit. Daher können sie, 
was autonomere Typen nicht können: das Überpersönliche im 
Gleichnis vollendet darstellen. 
Vor der Tanzaufführung fand die Teezeremonie statt. Es war 
ein wunderbares Erlebnis für mich, zu beobachten, welch tiefes 
Verständnis das einfache Volk dem komplexen Ritual entgegen- 
brachte. Solange dieser Formensinn lebendig bleibt, wird Japan 
seine Seele nicht verlieren. Was aber soll werden, wenn es auch 
hierin dem Beispiel des Westens folgt? In Europa versteht 
sogar der Papst den tiefen Sinn der Form nicht mehr, von den 
Königen und Fürsten zu schweigen; einzig die britische Nation 
stellt bis heute eine rühmliche Ausnahme dar. Bei ihr hat voll- 
endete Klugheit gleiches gezeitigt, wie bei anderen der künst- 
lerische Instinkt: sie weiß, daß die Form Inhalt nicht nur dar- 
stellt, sondern schafft, und setzt diese ihre Erkenntnis desto ener- 
gischer in Praxis um, je mehr die Inhalte an und für sich an 
Macht verlieren. Heute, wo keiner mehr recht an das Gottes- 
gnadentum der Obrigkeit glaubt, wird deren ursprüngliches Prestige 
desto stärker im Äußerlichen zum Ausdruck gebracht, denn der 
Augenschein wirkt zurück auf das Herz. Je loser tatsächlich die 
Bande zwischen den Teilen des Reiches werden, je mehr die Ein- 
zelnen sich individualisieren, desto mehr stellt die Regierung das 
Symbol in den Vordergrund. So wird der König, tatsächlich nur 
ein Beamter unter anderen, mit weit geringerer Machtbefugnis 
ausgestattet, als seine Minister, wo es darauf ankommt, mit 
einem Schein der Majestät umringt, um den in Schah Dschehan 
beneiden könnte. 
Freilich ist solches Mittel nicht überall mehr wirksam. Die 
Engländer sind willig, die Form in sich schaffen zu lassen, was 
die Deutschen z. B. nicht sind. Das beweist nicht, daß der 
Deutsche freier, sondern daß der Engländer gebildeter ist. Bei 
allem Innerlichen schafft die Bedeutung allererst den Tatbestand; in 
der Bedeutung, die einer Form frei zuerkannt wird, offenbart sich 
eine neue, höhere Sphäre der Wirklichkeit, und die Form ruft 
deren Bewußtsein auch in den Seelen wach, die sie von sich aus 
nimmer erschaut hätten. Noch ist diese Wahrheit den Japanern 
selbstverständlich: wird sie es bleiben? — Ich befürchte das 
Keyserling, Reisetagebuch. 31 
48? Fü r die meisten kommt nur typische Vollendung in Frage. 
Schlimmste, weil sie sie nicht verstehen; sie handeln ihr gemäß, 
ohne zu wissen, was sie tun. Stellen sie einmal die Frage nach 
dem Sinn, wie dies früher oder später sicher geschieht, so scheint 
gewiß, daß sie sie falsch beantworten werden; als Positivisten 
werden sie schwerlich gelten lassen, was dem Verstände nicht 
unmittelbar begreiflich ist, und viel schwerer als wir, die soviel 
mystischer veranlagten (der Japaner beurteilt den Europäer all- 
gemein als auffallend abergläubisch) den Sinn symbolischer 
Wahrheiten einsehen. 
Um nun noch einmal auf die Institution der Geishas zurück- 
zukommen (sie sind wirklich eine Institution: ihre Meisterschaft in 
der Etikette wird patentiert, und das System hat die Allerhöchste 
Sanktion) : unsere Sozialreformer entsetzen sich darüber, daß es 
derartiges heute noch gibt; wenn die Geishas tatsächlich keine 
Persönlichkeiten sein sollten, so müßten sie zu solchen erzogen 
werden; es sei eines Menschen unwürdig, nur Element zu sein. 
Du lieber Gott! Die meisten sind Elemente, können nur als 
solche ihre Vollendung finden, zumal die Geisha-Naturen. Ich will 
die altjapanische Gesellschaft nicht als Ideal hinstellen, aber wahr 
ist gleichwohl, daß deren Prinzip unter den gegebenen empirischen 
Umständen den Elementen einen weit höheren Grad der Selbst- 
verwirklichung ermöglicht, als das unserige. Hierbei gedenke ich 
nicht allein der Courtisanen, die in Europa, dank unserem abscheu- 
lichen System, soviel tiefer herabgedrückt erscheinen als in Japan: 
ich gedenke aller Gesellschaftsklassen. Unser Ideal ist die Voll- 
endung des Individuums; vielleicht ist es das höchste. Aber eine 
andere Frage ist, auf welchem Wege diese Vollendung am besten 
zu erreichen sei? Die allermeisten, auch im Westen, sind zu wenig 
individualisiert, als daß sie den eigenen Trieben folgend voll- 
kommen werden könnten; (dies galt sogar vom Italien der Re- 
naissance). Und da der moderne Zeitgeist das Streben nach 
typischer Vollendung nicht mehr begünstigt, so werden die Indi- 
viduen zwar selbständiger, aber im gleichen Verhältnis unaus- 
geprägter als sie ehedem waren. Am deutlichsten äußert sich 
dies bei der Frau. Ihr fällt es, entsprechend ihrer Natur, noch 
schwerer als dem Mann, ihre Vollendung in und durch sich zu 
finden; die größten Frauengestalten, die es gegeben, sind durch 
Hingabe erwachsen — an einen Mann, an Gott, ein Ideal. Nun 
wollen sogar die niedersten „ganz sie selbst" sein. Die Betörten 
Japan bei Nacht; die japanische Hetäre. 483 
begreifen nicht, daß sie in viel höherem Grade sie selbst würden, 
wenn sie sich stolz zum Typus bekennten, dem sie angehören, 
und in diesem ihre Vollendung suchten; denn diese Form, durch 
die Weisheit von Geschichte und Natur zugleich geprägt, würde 
gerade ihrem Individuum zu stärkerer Verwirklichung verhelfen, 
als das meist nur undeutlich erschaute und selten mit genügender 
Konsequenz verfolgte persönliche Ideal. Wie viel niedriger stehen 
die meisten modernen Frauen als die einer noch nicht fernen Ver- 
gangenheit! Den höchsten Typus des heutigen Europa verkörpert 
die hochgeborene Französin. Sie allein eben wird noch so erzogen, 
daß sie darstellen soll, bis daß sie ist. 
Nun habe ich so manche Nacht in japanischen Gast- und Tee- 
häusern zugebracht, bin ich so manchen frischen Morgen 
in niedrigem, mattenbedecktem Raum erwacht. Japan bei 
Nacht ist voll des intimsten Reizes. Das äußere Bild der Straßen 
hält den Vergleich mit chinesischen wohl nicht aus; sie sind 
einförmig, dunkel und still und selten wird das Auge, wie dort, 
durch malerische Volksbilder angezogen. Japans Nachtleben spielt 
sich jenseits der Straße ab. Hier, hinter papierenen Wänden, 
von außen noch als Schattenspiel erkennbar, hört heiteres Treiben 
von der Dämmerstunde bis zum späten Morgen nicht auf; Nacht 
ein, Nacht aus klingt Lautenspiel und helles Mädchenlachen ge- 
dämpft auf die Gasse hinaus. 
Wie stimmungsvoll waren jene Nächte in den ländlichen Her- 
bergen, wo es selten gelang, eine Stunde des ungestörten Schlafes 
zu erhaschen, weil die Pilgerscharen unter und neben mir des 
Lachens und Plauderns nimmer müde wurden! wie stimmungs- 
voll jene späten Stunden in der Stadt, wo ich in abgelegenem 
Viertel von den Anstrengungen des Tages Erholung suchte, in- 
dem ich dem zirpenden Gesang der Geishas lauschte oder der 
kunstvollen Pantomime geschminkter, bunter Kinder zuschaute l 
Wie stimmungsvoll ist hier gerade das, was in Europa des 
Stimmungswerts so sehr entbehrt! Flaubert behauptet zwar: il 
manque quelque chose ä celui qui ne s'est jamais reveille dans un 
lit sans nom, qui n'a pas vu dormir sur son or eiller une tele qu'il 
ne verra plus; aber damit kann er nur das Schreckhafte gemeint 
haben, dessen Höhepunkt die danse macabre ist, denn dem Leben 
31* 
484 Reinheit der Atmosphäre japanischer Freudenhäuser. 
der Hetären Europas fehlt der Lieblichkeits-Reiz, welchen echter 
Frohsinn besitzt. Geächtet, erscheinen sie verbittert, sofern sie 
nicht von Hause aus stumpfe Tiere sind; sie sind zu bewußt, zu 
besorgt, um wirklich heiter zu sein, daher wirkt ihre Fröhlichkeit 
agressiv, und ihre Liebe steht, wie groß ihre Kunst auch sei, doch 
immer im Zeichen des Gemeinen. In Japan scheint sogar den 
niedrigsten Dirnen Gemeinheit fremd. Hier geht alle Weib- 
lichkeit auf Anmut aus, wird zur Anmut als Selbstzweck erzogen; 
und da das Weib nichts Entehrendes darin sieht, sich für Geld 
dem fremden Manne hinzugeben, und der Mann nichts Beschä- 
mendes darin, daß er Freudenhäuser besucht, so herrscht in diesen 
eine Atmosphäre harmloser Heiterkeit, wie bei uns etwa bei Kindern 
unter dem Weihnachtsbaum. Es ist belehrend, die Europäer zu 
beobachten, die zum erstenmal ein japanisches Lupanar besuchen: 
anfangs tragen ihre Züge auch hier jenen häßlichen Ausdruck, der 
sich auf dem Gesicht jedes Mannes zeigt, der den Pfad des Lasters 
betritt; aber lange hält er bei den Stumpf esten nicht an; bald 
werden sie harmlos-heiter, wie die Mädchen, und ihnen schwindet 
jedes Bewußtsein dessen, daß sie nach den Begriffen ihrer Heimat 
auf schlechten Wegen wandeln. Hier ermißt man die Wahrheit 
des Worts, daß den Reinen nichts unrein mache. Für die Japaner 
versteht es sich von selbst, daß die geschlechtlichen Bedürfnisse 
befriedigt werden, im Akte selbst sehen sie nichts Häßliches; die 
Mädchen kommen sich nicht ehrlos vor, die den Beruf wahlloser 
Nächstenliebe ausüben. Und da sie also denken und empfinden, 
so haftet nicht allein ihnen selbst nichts Unreines, Häßliches an 
— der Gast nimmt einen Abglanz ihrer Reinheit aus dem Bordelle 
mit nach Haus. Wie tief steht unser typisches Empfinden in diesen 
Dingen unter dem japanischen! Allerdings ist es ein objektiver 
Übelstand, daß es Prostituierte gibt und Nachfrage nach ihnen, 
allein ganz abzustellen wird er niemals sein; so wie die Menschen- 
natur einmal beschaffen ist, kann kein Versuch, den außerehelichen 
Geschlechtsverkehr zu unterdrücken, glücken, wird jeder aufgehobene 
Übelstand durch einen neuen, häufig schlimmeren ersetzt. Ist es 
da nicht. besser, dem Übel dadurch zu begegnen, daß man ihm, wie 
in Japan, den Charakter eines solchen nimmt? Ich weiß wohl, 
auch dieses hat Übles zur Folge, wie denn alles in diesem Leben 
einiges Übel nach sich zieht. Aber da die Männer vor der Ehe 
niemals enthaltsam leben werden und ihr polygamer Instinkt nie 
Japans Lösung des Prostitutionsproblems. 485 
absterben wird; da immerdar Weiber zur Welt kommen werden, 
die einzig im Rahmen des Hetärendaseins existieren und glücklich 
werden können: ist es da nicht ersprießlicher, dem Tatbestand eine 
Stellung entgegenzubringen, die ihn nicht noch schlimmer macht 
als er schon ist? In Japan steht nichts dem entgegen, daß eine 
Dirne rein an Seele bleibe; so braucht sie den, der sie besitzt, 
nicht zu vergiften. In Japan gibt es einen Weg aus dem Freuden- 
haus ins bürgerliche Dasein zurück. In Japan ist deren Ende 
nicht notwendig trostlos, deren Daseinsmöglichkeit an Jugend- 
frische gebunden schien. Der Courtisanenstand ist öffentlich an- 
erkannt; er wird geachtet in seiner Art, wie jeder andere; gleich 
jedem anderen, ist auch er ein geschlossenes Ganzes einerseits 
und andrerseits auf Stoffwechsel angewiesen. Ja, er hat eine 
öffentliche Aufgabe, was ihm jenes spezifische Selbstgefühl gibt, 
dessen kein Stand entraten kann. Ich schrieb schon von dem Pri- 
vileg, das die Geishas besitzen, durch Bewahrung der Tradition 
in Tanz, Gebärde und Spiel die Seele Alt-Japans wachzuerhalten. 
Eine ähnliche ideale Aufgabe, die auch entsprechend gewürdigt 
wird, scheint sich so manches Bordell gestellt zu haben; in manchen 
von ihnen wird das Höchste gepflegt, was an Stil und Bildung 
überliefert ist. Ein Mädchenhaus zu Kyoto gehört zu den histo- 
rischen Denkmälern; seit Jahrhunderten steht es da, von der ur- 
sprünglichen Dynastie verwaltet. Hier pflegten die Großen des 
Landes einzukehren, um in heiterem Kreis der Sorgen zu vergessen, 
oder auch um im Geheimen vertraut schwerwiegende Beratungen 
abzuhalten; kostbare Wandmalereien berühmter Meister schmücken 
die Gemächer, von denen jedes, wie in Englands Königschlössern, 
einen Namen hat. Unter den Bewohnerinnen aber herrscht die 
exquisiteste Etikette. Nirgends sind die Damen feiner erzogen, 
tragen sie geschmackvollere Gewänder, reden sie gewähltere 
Sprache; sie bewahren die Tradition des höfischen Stils. Und dieses 
Verdienst wird vom Staat insofern sanktioniert, als sie das Recht 
haben, bei der Kaiserlichen Jahresfeier als erste im Zuge zu 
schreiten. 
Japans Stellungnahme geschlechtlichen Fragen gegenüber 
steht innerhalb der Grenzen, in welcher sich meine heutige Be- 
trachtung bewegt, nicht niedriger, sondern höher als die unsrige. 
Wohl bezeichnet die bestehende Wirklichkeit nicht die höchst- 
mögliche Verkörperung des Ideals — fern davon — , aber das 
486 Das Keuschheitsideal als Exponent sinnlicher Brutalität. 
Ideal als solches ist das höhere; dem Sinne nach wüßte ich keine 
bessere Stellungnahme als die japanische. Tatsächlich gravitieren 
denn auch unsere Reformbestrebungen, so wenig dies deren Vor- 
kämpfer wahrhaben möchten, automatisch dem japanischen Ideale 
zu. Es soll die „Unmoral" ausgerottet werden, was schlecht gelingt, 
unterwegs aber wird Besseres erreicht: die gefallenen Frauen 
werden mit freundlicheren Augen angesehen; es wird das Mög- 
lichste getan, um das Selbstbewußtsein eter Hetären zu heben; 
der unverheirateten Mütter harrt weniger und weniger das trost- 
lose Los, das ihnen ehemals gewiß war. Was bedeutet dieses 
anderes, als daß auch die christliche Menschheit einzusehen 
anfängt, daß einem naturgemäßen Übel nur dadurch abzuhelfen 
ist, daß man ihm den Charakter des Übels, soweit als nur irgend 
möglich, nimmt? — Das gefallene Mädchen, das sich seines- Falls 
nicht schämt, braucht in der Stufenleiter der Wesen nicht nieder- 
zusteigen. Besser als zu moralisieren, ist eine Welt zu erschaffen, 
in der alles Negative zum Positiven umgewandelt wird. Jede Ge- 
staltung kann ein Positives bedeuten; an uns ist es, diese Sinn- 
gebung zu vollziehen. Der neue Sinn erzeugt dann aus sich selbst 
einen neuen, besseren Tatbestand. , 
Ich spinne die Betrachtungen von gestern weiter fort: jener 
Chinese hatte doch nicht so unrecht, der da behauptete, der 
eigentliche Grund dessen, weshalb die Europäer sich zum 
Keuschheitsideale bekennten, sei ihre den Asiaten gegenüber un- 
geheuere Brutalität; ihnen müsse ein Ideal vorgehalten werden, 
das ihrer eigentlichen Natur stracks zuwiderläuft, während sich 
die sanfteren, meist vegetarisch lebenden und daher weniger ani- 
malischen Bewohner des Ostens ohne Gefahr zu einer natür- 
licheren Auffassung bekennen dürften. Es ist wirklich wahr: so 
brutalsinnlich, wie der durchschnittliche Europäer, ist im Orient 
kaum der abnorme Einzelne, und wo der „Zeitgeist" keine künst- 
lichen Schranken schafft, dort ist die Atmosphäre Europas in 
einem Grade sinnenerregend, welcher jeden, der eine Weile fern 
von ihr gelebt, pathologisch beeinflußt; es ist nicht zu viel zu be- 
haupten, daß die Luft auf einem bal blatte in Frankreich schwüler 
ist, als die in einem japanischen Freudenhaus. Nichts gibt es an 
der europäischen Frau, vom durchbrochenen Strumpf bis zur Rein- 
heit und Unschuld, die sie zur Schau trägt, das nicht aufs Raffi- 
Prüderie des Puritaners dem Zynismus des Libertins äquivalent. 487 
nierteste darauf berechnet wäre, das Begehren des Mannes zu 
reizen; jedes Kleidungsstück mehr, das sie anlegt, wirkt als eine 
Aufforderung mehr, es ihr abzuzwingen. Und da unsere soziale 
Kultur, was immer man sage, ihren eigentümlichen Charakter der 
Rolle verdankt, die das Weib in ihr spielt, so ergibt das eine Zu- 
spitzung des ganzen Daseins auf das Erotische hin. Man denke 
ja nicht, letztere sei die Folge der freieren Auffassung in Sachen 
der Liebe, die in der Neuzeit mehr und mehr zur Vorherrschaft 
gelangt: Negation und Position weisen psychologisch immer auf 
Gleiches hin; die Prüderie des Puritaners bedeutet genau das- 
selbe wie der Zynismus des Libertins. So sehr, daß, wie mein 
chinesischer Freund ganz richtig bemerkte, unser Bekenntnis zum 
Ideal der Keuschheit recht eigentlich der Exponent unserer maß- 
losen Sinnlichkeit ist. 
Seine weitere Behauptung, daß wir des Keuschheitsideals be- 
dürften, um uns halbwegs im Zaume zu halten, trifft freilich nur 
bedingterweise zu, schon deshalb, weil nichts den Reizwert der 
Liebe so sehr steigert, als ihre vorausgesetzte Sündhaftigkeit; 
gleichwohl enthält die These mehr Wahrheit als man denken 
sollte. Unter Franzosen, bei welchen die erotische Betätigung 
den geringsten psychischen Widerstand findet, herrscht einerseits 
wohl mehr Aufrichtigkeit und insofern Reinheit, als unter Eng- 
ländern und Deutschen, und eine Kultur der Sinne, die dort nicht 
entstehen kann, wo ihr Dasein aus Vorsatz ignoriert wird; aber 
andrerseits spielt das Erotische bei ihnen eine solche Rolle, daß 
man sich wohl die Frage stellen mag, ob ein wenig mehr Hypo- 
krisie und Barbarei im ganzen nicht unschädlicher wären, als eine 
Lebensanschauung, die gerade weil sie der gegebenen Natur ge- 
nau entspricht, deren Veredelung große Hindernisse in den Weg 
stellt. Ein gleiches gilt, abgeschwächt, vom katholischen Deutsch- 
land und Österreich. Die Nord-Germanen nun sind gewiß nicht 
unsinnlicher als die vorhergenannten; wo es so scheint, beruht es 
auf geringerer Differenziertheit, nicht auf Schwäche der Triebe; 
aber da bei ihnen, dank ihrer protestantischen Erbanlage, beim 
Lieben zumeist das Gefühl des Sündigens mitschwingt, so daß die 
Vorurteilsfreiesten es doch nur in Ausnahmefällen wagen, sich die 
Zügel ganz schießen zu lassen, so benehmen sie sich im ganzen 
erstens besser, als ihrer Natur entspricht, und werden auf die 
Dauer auch wirklich besser, weil Erziehung die Anlagen um- 
488 Der Orient unsinnlicher als der Okzident. 
wandelt. Die Brutalität setzt sich in Spannkraft um. Insoweit ist 
es wohl wahr, daß es uns gut tut, an die Sündhaftigkeit des Bei- 
schlafs zu glauben. 
Es gibt keine bessere Illustration der körperlichen und 
seelischen Blindheit, welche die meisten Reisenden auszeichnet, 
als die von ihnen zu uns verpflanzte Anschauung der „Sinnlich- 
keit" und „Laszivität" der Asiaten gegenüber der Christenheit: 
das genaue Gegenteil hiervon ist wahr. Niemand wird die Tiere, 
die keinerlei psychische Hemmungen kennen, der Sinnlichkeit im 
üblen Sinne zeihen; im gleichen Verstände sind die Völker des 
Ostens unsinnlich im Vergleich zu uns Abendländern; sie sind es 
noch im weiteren, daß ihre Triebe viel weniger brutal sind, wie 
die unserigen. Wahrscheinlich wird im Osten verhältnismäßig mehr 
kopuliert: unter den gegebenen klimatischen Verhältnissen ist das 
natürlich; wohl scheint bei einigen Nationen — den Chinesen vor- 
nehmlich und den Indern — die ars amandi in hohem Grade ent- 
wickelt: aber nicht die Tatsache als solche entscheidet, sondern 
die Bedeutung, welche ihr beigelegt wird. Und das Erotische 
bedeutet dem Orientalen viel weniger als uns. Es versteht sich 
für ihn von selbst, daß er geschlechtliche Bedürfnisse hat, von 
selber, daß er sie befriedigt; und da dem so ist, beschäftigt es sein 
Bewußtsein kaum. Noch einmal: um wie viel unsinnlicher ist die 
Atmosphäre eines östlichen Freudenhauses als die eines europäischen 
Balls! Zeigt eine Frau bei uns nur ihren Schuh, so bedeutet das 
mehr, als wenn eine Japanerin sich auszieht; die f einstgebildeten 
Damen unserer Großstädte sind agressiver im Verkehr mit Männern, 
als eine Dirne des Ostens es jemals wagen würde. Und denke ich 
gar an Indien zurück! Wie wunderbar weise hat dieses Volk die 
sexuelle Frage gelöst, wie weise gerade vom Standpunkt spirituellen 
Fortschreitens, um das es ihm so viel ernster zu tun ist, als der 
scheinheiligen Christenheit! Nie wird dort versucht, der Natur 
Gewalt anzutun, weil man dort seit Jahrhunderten weiß, was Freud 
erst seit kurzem entdeckt hat, daß verdrängte Vorstellungen ver- 
derblicher wirken als noch so schlimme, die man sich unbefangen 
eingesteht; dort werden mönchische Anwandlungen bei jedem, der 
nicht zum Yogi berufen scheint, übel angesehen, bevor er Groß- 
vater ist, das normale Sich-Auswirken des Naturtriebs wird nicht 
gehemmt, sondern begünstigt; alle Schranken fehlen, welche die 
Voraussetzung der Sündhaftigkeit oder Häßlichkeit der Liebe 
Ideale Lösung der sexuellen Frage in Indien. 489 
schafft. Dafür werden andere aufgerichtet durch die Voraussetzung 
ihrer Heiligkeit. Als ein Göttliches gilt sie an und für sich, 
so daß erotische Bilder in Indien nie zur Porno-, sondern zur 
Ikonographie gehören; in jedem Einzelfall aber wird sie noch 
besonders geweiht. Der eheliche Verkehr ist mit so viel religiösen 
Vorstellungen verwoben, daß das Sinnliche durch und durch 
spiritualisiert, und eben das, was das Christentum als Konzession 
an das sündhafte Fleisch betrachtet, zum Mittel geistlichen Fort- 
schritts wird. Sogar der Umgang mit Dirnen wird geheiligt dort, 
wo er unvermeidlich scheint (was er in Indien, wo jeder früh 
heiratet, in viel geringerem Grade ist als bei uns). Die Büßer, die 
das Gelübde der Keuschheit geleistet haben, sind nicht immer 
von den Fesseln der Sinnlichkeit ganz frei; unterdrücken sie diese 
künstlich, so besteht die Gefahr, daß ihre Phantasie, anstatt 
reiner und reiner zu werden, je schmutziger und schmutziger wird, 
wie beim Heiligen Antonius. So befriedigen sie ihre Triebe als 
Opfer, indem sie Hetären benutzen, die sich ihrerseits um Gottes- 
willen hingeben. Nun bestimmt die Sinngebung überall den 
Charakter des Tatbestandes: so wird, dank dieser noch so 
sophistischen Auslegung, sofern sie nur in gutem Glauben ge- 
schieht, das Zurückfallen in die Bande der Natur nicht zur Fesse- 
lung des freiheitsdurstigen Geistes. — Die Folge von dem allen 
ist die, daß in Indien, von den Fürstenhöfen einzig abgesehen, eine 
Atmosphäre der Nicht-Sinnlichkeit herrscht, die allein schon ver- 
ständlich macht, weshalb dort Philosophieren und religiöses Medi- 
tieren so wunderbar gut gelingen. Der Sinn aller Einschränkung 
des Geschlechtslebens ist lediglich der, daß es keine größere Rolle 
spielen soll in der Gesamtökonomie, als ihm von Hause aus ge- 
bührt; und besser als durch alle Repression wird einer Hyper- 
trophie des sexuellen Momentes, die freilich zu einer richtigen 
Vergiftung führen kann, dadurch gesteuert, daß die normale Aus- 
lösung des Triebes gesichert und gerechtfertigt wird. Bei uns 
geschieht dies in der Ehe allein. Daß der Osten es verstanden hat, 
die gleiche Regelung auch außerhalb der Ehe durchzuführen, so 
daß in Freudenhäusern eine ebenso reine Atmosphäre herrscht 
wie in einer guten westlichen Familie, wird ihm ewig zum Ruhme 
gereichen. Denn so ist es. Man führe so viel Tatsachen als man 
will zum Beweis orientalischer Unmoral an — sie beweisen nichts 
und können nichts beweisen, weil die Bedeutung es ist, auf die 
490 Die künftige Freiheit der Frau. 
allein alles ankommt, und die japanische Laxheit ungefähr gleiches 
bedeutet, wie die Keuschheit frigider Engländerinnen. 
Dieses schöne System ist nicht anwendbar bei uns; nicht weil 
wir besser, sondern weil wir einerseits zu brutal, andrerseits von 
asketisch-christlichen Vorstellungen zu sehr befangen und vor allem, 
weil wir zu matter-of-fact sind; uns scheinen Tatsachen an sich 
bedeutsamer als ihr Sinn. Aber wir bewegen uns doch größerer 
Unbefangenheit entgegen. Wenn zunächst einigermaßen übertrieben 
für die Schönheit des Liebens als solchen, das Sich-Ausleben, das 
Recht jeder Frau auf Mutterfreuden gestritten wird, wobei die 
althergebrachten Schranken in Bausch und Bogen als Vorurteile 
verworfen werden, so bedeutet dies das normale stürmische Vor- 
stadium zur sachlich-freien Auffassung der Zukunft. Ohne Zweifel 
wird der Ehestand weniger und weniger als conditio sine qua non 
zum Kinderhaben gelten; weniger und weniger wird die Tatsache 
der Virginität über Unehr und Ehr des Mädchens entscheiden; 
immer freier wird das Weib, gleich dem Mann, seinem persönlichen 
Gesetze folgen können. Die alten sozialen Gestaltungen werden 
deshalb nicht aussterben, sie werden fortleben wie nur je zuvor, 
sogar quantitativ kaum eine Einbuße erleiden. Nur werden neben 
ihnen auch andere als normal gelten, wie denn der wesent- 
lichste Kulturfortschritt darin besteht, daß der Mensch immer 
weniger Lebensformen abzulehnen braucht, um sein Sonderdasein 
als berechtigt zu empfinden. 
Über die Japanerin kann seitens jedes, der nur ein bischen 
Stilgefühl besitzt, der also vom Schmetterling nicht die 
Leistungen des Nilpferdes verlangt, nur eine Meinung sein : 
daß sie eines der vollendetesten, eines der wenigen ganz voll- 
kommenen Produkte dieser Schöpfung ist. Ich will es nicht unter- 
nehmen, ihre Vorzüge im einzelnen zu schildern: das ist schon 
oft von Meisterhand geschehen. Hier könnte ich auch schwer 
objektiv sein; die Atmosphäre japanischer Weiblichkeit ist mir 
dermaßen sympathisch, daß ich ihrer Nachteile kaum gewahr ge- 
worden bin. Es tut gar zu wohl, Frauen zu schauen, die nichts 
als Grazie sind; die nichts scheinen als was sie sind, nichts vor- 
stellen wollen, als was sie wirklich können, deren Gemüt bis zum 
Äußersten gebildet ist. - Im Grunde ihrer Seele wollen nicht all- 
Die Japanerin als erster Frauentypus dieser Zeit. 49 1 
zuviele Mädchen Europas mehr und anderes als ihre Schwestern 
im Fernen Osten — sie wollen gefallen, weiblich-anziehend wirken, 
und alles übrige, die geistigen Bestrebungen inbegriffen, ist ihnen 
Mittel zum Zweck. Wie viele derer, die scheinbar nur geistig 
interessiert sind, atmeten nicht auf, wenn sie dieses umständliche 
Reizmittel, dessen sie in ihrer Welt schwer entraten können, lassen 
und sich wie Japanerinnen geben dürften! Aber gerade dieses ge- 
länge ihnen schwer, gelingt denen nicht, die es versuchen. Die 
modernen Mädchen sind schon zu bewußt, um vollkommen zu sein 
in Form der Naivetät, zu wissend zu einem Dasein reiner Grazie, 
vor allem als Naturen auch zu reich, um sich überhaupt leicht zu 
vollenden. An Lieblichkeit kann sich keine modern-westliche Schön- 
heit mit einer wohlerzogenen Japanerin messen. 
Nun ist freilich der ästhetische Wert nicht der einzige, 
welcher in Frage kommt, und kann als höchster nur dort gelten, 
wo die Form die Erfüllung des ganzen Gehalts bedeutet, wie im 
Falle der besten Typen Alt-Chinas. Bei der Japanerin tut sie das 
nicht; diese kann als Persönlichkeit nicht ernst genommen wer- 
den, und insofern haben die recht, die sie unter die Europäerin 
stellen. Dagegen aber ist zu erinnern, daß jede Vollendung besser 
ist als keine; so vollkommen manche Europäerinnen sind, deren 
Typus vergangenen Zeiten angehört — unter modernen wüßte ich 
noch keine, die mehr als eine flüchtige Skizze ihres spezifischen 
Ideals bezeichnete. So muß ich für diese Zeit der Japanerin die 
Palme zuerkennen. 
Bald wird auch die Japanerin, die ich meine, der Vergangen- 
heit angehören, wie es die europäische Grande-Dame schon heute 
tut. Kein ästhetisch empfindender Mensch wird diesem Schicksal 
ohne Wehmut entgegensehen, mit ihr schwindet einer der süßesten 
Reize der Erde dahin, und nichts Gleichwertiges wird sie so bald 
ersetzen, wie sehr man sich darum bemühen mag. Gewiß nimmt 
die Europäerin im Leben eine höhere Stellung ein, als sie; mehr 
Möglichkeiten stehen ihr offen, mehr Züge ihres Wesens sind aus- 
gebildet und unser Familienleben zumal steht der Idee nach viel 
höher als das asiatische. Aber was zumal Japaner meist vergessen, 
ist, daß die Vorzüge unseres Zustandes zunächst hauptsächlich 
in abstracto vorhanden sind, und daß der Wert abstrakter Wesen- 
heiten ganz davon abhängt, inwieweit sie dem Konkreten an- 
gemessen sind; das bessere System schafft nicht notwendig eine 
492 Vorzüge ein Positiveres als Gebrechen. 
bessere Wirklichkeit. Dafür vernichtet es Wirklichkeit nur allzu- 
leicht. So wie sie ist oder war, erscheint die Japanerin vollkommen; 
wo ihre Bewußtseinslage ihrem Zustande entspricht, ist sie genau 
so glücklich wie die Amerikanerin; sie ist ferner ihren Vorzügen 
nach das unmittelbare Produkt der herrschenden Verhältnisse. 
Wenn diese sich wandeln, werden jene mit verschwinden. Ob sie 
dafür an die Stelle gewinnen« wird, was ihr bisher fehlte, scheint 
desto fraglicher, als unsere Frauen noch nicht entfernt so weit 
sind, daß man sagen könnte: sie verdienen durchaus ihren n^uen 
weiten Rahmen. 
Jeder bestimmte Zustand wirkt positiv auf das Leben ein: 
dieser Satz hat axiomatische Gültigkeit; positiv in dem Sinne, daß 
er bestimmte Gestaltungen bedingt, die kein anderer ermöglicht 
hätte. Manche dieser Gestaltungen sind erfreulich, andere un- 
erfreulich, im absoluten Sinne vollkommen ist keine, weil alle Be- 
stimmungen zugleich Begrenzungen sind. Was aber nie übersehen 
werden sollte, ist, daß die Vorzüge etwas viel Positiveres bedeuten 
als die Gebrechen. Nach der negativen Seite hin scheinen der 
Natur nicht viele Möglichkeiten offen zu liegen; einerseits erhält 
sich das Absteigende schwer und kann sich durch Vererbung 
nicht potenzieren, andererseits verdient das Negative auch insofern 
seinen Namen, als es Verkümmerung bedingt, weswegen alle 
Typen nach unten zu konvergieren; die gebrochenen oder ver- 
unglückten Existenzen sehen sich allerorts und zu allen Zeiten 
ähnlich. Nach oben zu hingegen scheint es gar keine Grenzen 
möglicher Mannigfaltigkeit zu geben. Man vergegenwärtige sich 
einmal den Reichtum an verschiedenartigen Qualitäten, den der 
Wechsel innerhalb schwieriger Verhältnisse im Menschen hat ent- 
stehen lassen: das aufsteigende Leben schafft sich überall Bahn; 
in Korrelation zu den sich wandelnden Verhältnissen blüht Mal 
auf Mal eine neue Schönheit auf, deren jede nur einmal, unter be- 
stimmten, nie wiederkehrenden Verhältnissen möglich war. So ist 
die Vollkommenheit der Japanerin das unmittelbare Produkt der 
Stellung im Leben, die sie durch Jahrhunderte einnahm; was 
immer gegen diese einzuwenden sei — ihr, nur ihr verdanken 
wir die Japanerin, wie sie ist. Wie kläglich ist das Argument: 
sie verdiene, da sie so reizend ist, ein besseres Schicksal! Man 
verdient nie, was einem die Schönheit nimmt. Mögen die neuen 
Verhältnisse in abstracto unermeßliche Vorzüge haben — der 
Japanische Laxheit. 493 
Frauentypus von einst wird unter ihnen nicht fortbestehen, und 
Japan wird schwerlich einen neuen, dem einstigen gleichwertigen 
hervorbringen, jedenfalls nicht entsprechend dem jüngst-europä- 
ischen Ideal, da das gegebene psychophysische Maß zu diesem 
Schnitt nicht ausreicht. Die Idee des Fortschritts mag in Form 
einer geraden Linie darzustellen sein: der wirkliche, soweit er 
sich nachweisen läßt, verläuft in Form einer bewegten und viel- 
fach gebrochenen Kurve; sie bricht wieder und wieder ab, weil 
jeder Menschentypus in der Regel nur einer Art Vollendung 
fähig ist. 
Noch ein Wort zur vielverschrieenen Laxheit der Japanerin in 
erotischer Beziehung. Dem Europäer kommt es ungeheuerlich vor, 
daß ein Mädchen seine Reinheit verkauft, um anderen Pflichten 
nachzukommen. Sicher darf dies nicht so verstanden werden, daß 
die Japanerin das ideale Wesen sei, das sein Höchstes um eines 
objektiv noch Höheren willen preisgibt (obgleich ihr anerzogener 
Mangel an Egoismus so groß ist, daß ihr Verhalten oft den Ein- 
druck tiefsten metaphysischen Wissens macht; die Geisha erinnert 
oft täuschend an eine Heilige). Nein, ihr gilt Reinheit wirklich 
weniger als der Europäerin. Allen Völkern des Ostens gilt das 
Nachgeben dem Naturtriebe als ein Selbstverständliches ; wird 
dieser eingeschränkt, so geschieht es aus äußeren Gründen, unsere 
inneren Hemmungen fehlen ihnen. Aber hier frage ich: ist das 
europäisch Ideal der Reinheit wirklich so hoch? Seinen historischen 
Grund hat es an der frühchristlich-asketischen Anschauung, nach 
welcher Geschlechtsverkehr Sünde sei, und diese ist falsch; seinen 
dauernden Halt findet es, soweit ich sehe, an rein utilitarischen 
Erwägungen: die Unberührtheit des Mädchens ist einerseits eine 
Konzession an, andrerseits ein Spekulieren auf den Egoismus der 
Männerwelt. An und für sich liegt wohl nichts dem Weib normaler- 
weise ferner, als die Unberührtheit zu idealisieren: ihm ist viel- 
mehr Hingabe das Ideal, muß es ihm sein, da die Gattungstriebe 
in seinem Bewußtsein vorherrschen. Soll nun wirklich Unberührt- 
heit als solche ein Höchstes sein, dann läuft dies schnurstracks 
auf eine Apotheose der Selbstsucht hinaus. Man idealisiere wie 
man will: der Kampf des Weibes um seine Reinheit ä tout prlx 
ist nichts als Selbstbehauptung — und in diesem Zusammenhang 
besteht wohl kein Zweifel, daß die Japanerin, die sich einem 
Freudenhaus verkauft, um dem Bruder durch ihren Erwerb das 
494 Japanische Auffassung weiblicher Reinheit. 
Kämpfen für das Vaterland möglich zu machen, das höhere Wesen 
ist. Die Europäer würden anders urteilen, wenn sie feiner emp- 
fänden: selten wissen sie zwischen Reinheit im Sinn von Treue 
und Reinheit im Sinne von Unberührtheit (als physisches Faktum) 
zu unterscheiden. Im ersteren Sinne steht die Japanerin keiner 
Europäerin nach : es gibt nicht keuschere Frauen als sie. Und daß 
sie im letzteren laxer denkt — sollte das nicht, anstatt auf Fri- 
volität, auf sicherere Instinkte und unbefangeneres Denken schließen 
lassen? Beginnen nicht auch unsere besten Männer und Frauen 
mehr und mehr in dieser Hinsicht japanisch zu empfinden? — 
Man vergleiche unsere Vorstellung von Dezenz mit der japanischen. 
Unsere Frauen ziehen sich zum Ball beinahe nackend aus, mit der 
offenkundigen Absicht zu reizen, würden aber vergehen vor Scham, 
wenn ein Fremder sie im Bade überraschte. Die Japanerin zeigt 
sich ohne Scham aller Welt entkleidet im Bad, gewänne es aber 
niemals über sich, sich zum Feste provozierend anzuziehen: auf 
die Absicht komme doch alles an. . . . Welche Auffassung ist 
die tiefere, die reinere? . . . 
ISE. 
Ich weile an der heiligsten Stätte des Shintö-Kultes, am Tempel 
Amaterasu O-Mikami's, der göttlichen Ahnfrau des Kaiser- 
hauses. Wie viel mehr Atmosphäre hat dieser einfache, block- 
hausartige, strohgedeckte Bau, der alle zwanzig Jahre neu er- 
richtet wird, als die goldstrotzenden Buddhatempel! Hier hat 
Japans bester Geist sein Heiligtum. Der Geist der Schlichtheit, 
der Reinheit, der Loyalität, der Aufopferung für Kaiser und Vater- 
land, zugleich der Kühnheit, des Wagemuts, des ritterlichen Aben- 
teuerfilms; der Geist des Japaners, wie er sich selbst im Spiegel 
seines Idealismus sieht. Jeden Pilger, der dem Heiligtume naht, 
überkommt er; er ergreift ihn, erhebt ihn, weitet ihn aus, entrückt 
ihn seinem kleinlichen Ich; nun fühlt er sich eins mit der un- 
endlichen Reihe derer, welche vor ihm waren, eins in Japan, dem 
unsterblichen Reich. Auch mich ergreift dieser Geist; aus der Tiefe 
meines Bewußtseins steigen kaum gekannte und doch vertraute 
Japans bester Geist; die Ahnenverehrung. 495 
Gefühle auf, schließen sich zusammen zu einer neuen Seele, 
der Seele etwa eines Griechen des Uraltertums. Ja freilich bin 
ich nur ein Glied der unendlichen Lebenskette, freilich eins 
mit allen, welche vor mir waren; ja freilich wurzelt mein Sinn 
nicht in mir, sondern im Überindividuellen, im Geschlecht, dem 
ich entstamme, das ich verkörpere, und das ich fortzusetzen ver- 
pflichtet bin; und suche ich nach einem Symbol dieses Über- 
individuellen, das ich so deutlich spüre und doch so schwer be- 
stimmen kann, dann komme ich von selbst auf den Begründer 
meines Stamms, den fernen Ahn, dem alles spätere Leben seine 
Entstehung dankt. Er ist es, der alle Nachfahren beseelt, der in 
mir fortwirkt; ihm schulde ich vor allem Ehrfurcht, Liebe und 
Dank. Und indem ich seiner betend gedenke, werden die edelsten 
Regungen meiner Seele wach. Ich will es ihm gleichtun, dem 
hochherzigen Heros, will seiner würdig sein. Er war aller Voll- 
kommenheit teilhaftig, weit größer als ich mir ihn ausmalen kann. 
Besser kann ich ihm nicht dienen, als indem ich dem Höchsten 
zustrebe, und aller Idealismus wird mir so Anlaß zum Kult. — 
Wie töricht, die Ahnenverehrung als Aberglauben zu belächeln! 
Wohl kennzeichnet sie ein früheres Stadium, allein sie bringt, wo 
sie echt und lebendig ist, ein Wirklichkeitsbewußtsein zum Aus- 
druck, wie auf höheren Naturstufen nur höchste Religiosität. Es 
ist wirklich so, daß der Mensch mit allem, was vor ihm war und 
nach ihm sein wird, innerlichst zusammenhängt; das ist dem natur- 
nahen Urmenschen bewußter als dem Spätling. Auf höheren Stufen 
ist es nur die Frau, in deren Bewußtsein die Urbezüge des Lebens 
lebendig fortleben; sie allein noch fühlt sich unmittelbar eins 
mit ihrem Geschlecht; ihr Verstand ist selten eigenwüchsig genug, 
um die naturhaften Gefühle zu ersticken. Und dann sind es 
die Erben einer alten Tradition, die bodenständigen Adels- 
geschlechter, deren Sinn bewußt im Überindividuellen wurzelt: 
hier sorgen Verantwortungsgefühl und Stolz dafür, daß der Ur- 
geist erhalten bleibt. Das Bewußtsein nun des Weibes und des 
Edelmanns ist nicht oberflächlicher, es reicht tiefer hinab als 
das des entwurzelten Intellektuellen. Wohl ist ihre Tiefe nur 
eine Tiefe — die der Natur; das Einheitsbewußtsein des Ahnen- 
verehrers reicht nicht hinaus über sie: aber wo die Seele noch 
physiologisch gebunden ist, kann es kein unmittelbares Bewußt- 
sein des Atman geben. Wohl sind die Vorstellungen, in denen 
496 Tiefer Sinn des Vorfahrenkults. 
sein Wirklichkeitsbewußtsein sich verkörpert, selten tiefsinnig: 
aber von primitiven Menschen ist nicht zu verlangen, daß 
ihre Gedanken ihren Ahnungen adäquat wären. Deshalb findet 
der verstandbefangene Betrachter an den Formen des Vorfahren- 
kultes selten Gefallen, zumal am japanischen, dessen Ideengehalt 
kaum zu fassen ist, Dem Japaner liegt das Denken so wenig, er 
hat so wenig Sinn für das Abstrakte, empfindet so wenig Ver- 
druß über intellektuelle Unzulänglichkeit, daß es ein hoffnungs- 
loses Beginnen erscheint, seinen Nationalkult eigentlich zu be- 
greifen. Dieser ist, dem Äußeren nach beurteilt, ein seltsames Ge- 
misch von Ahnen- und Natur-Verehrung, von Magie und von point 
d'honneur, von Sitte und Sehnsucht nach dem Höchsten, von 
rohem Aberglauben und urwüchsigem Wirklichkeitssinn; wenn 
einem von Japanern erklärt wird, die Mikadoverehrung basiere 
darauf, daß dessen Vorfahren über ihrer aller Vorfahren ge- 
herrscht hätten, so ist das keine Erklärung, kaum eine Erläuterung: 
es ist eine bloße Darstellung des Tatbestandes, den der, welcher 
nichts Ähnliches aus eigenem Erleben kennt, niemals begreifen 
wird. Nichtsdestoweniger ist die Mikadoverehrung ein Tiefstes, 
bedeutet sie wirklich ein metaphysisch Äußerstes. Die spezifische 
Erscheinung ist eben nur ein Ausdruck und ein nur Japanern 
gemäßer, ihnen aber entspricht er wie kein anderer es täte. Dieser 
Tage wurde im bakteriologischen Institut von Tokyo ein Shintö- 
Schrein für Robert Koch enthüllt. Keiner der Professoren und 
Studenten, die alle vermutlich Agnostiker sind, dürfte annehmen, 
daß Koch ein Gott geworden sei; nicht viele vielleicht glauben 
an sein Fortleben nach dem Tode. Ihnen allen aber erschien die 
Errichtung eines Tempels und ein Kult nach dem Shintö-Ritual 
als entsprechendster Ausdruck ihrer Verehrung für den großen 
Gelehrten. 
Freilich tut die Regierung gut, nach Kräften auf ein Wieder- 
aufleben des Shintö-Kultes hinzuwirken: wie kein anderer ruft er 
die tiefsten Schwingungen der Japanerseele wach oder bringt sie, 
wo vorhanden, zum Ausdruck. Es ist neuerdings von Chamberlain 
darauf hingewiesen worden, daß der Shintöismus, wie er heute als 
Staatsreligion herrscht, eine neue Erfindung sei; über 1000 Jahre 
entlang sei der Buddhismus die japanische Religion gewesen, und 
was heute als Urglauben gelehrt werde, sei ein künstliches Fabri- 
kat. Die Tatsachen werden damit wohl richtig bestimmt sein — 
Wesen, Wert und Geschichte des Shinto. 497 
aber wie wenig ihr Sinn! Nur deshalb war es möglich, in weniger 
als 50 Jahren ein Artefakt als ererbten Glauben einzuführen, weil 
dessen Form dem innersten Leben der Japanerseele gemäß war; 
man hätte versucht, das Christentum also einzubürgern — nie 
wäre es gelungen. Auch ich bin der Meinung, daß die besonderen 
Kult- und Glaubensgestaltungen Erfindungen der Priester sind; 
irgendeiner muß sie doch erfunden haben. Aber dort, wo es jenen 
gelang, ihre Erfindungen einzuführen, brachten diese allemal eine 
allgemeine Tendenz zum bestmöglichen Ausdruck. Ja, die Regie- 
rung handelt weise daran, daß sie die Shintö-Religion mit allen 
Mitteln kräftigt und unterstützt; und sie weiß gewiß, weshalb 
sie dieses tut. Japan befindet sich in der nicht ungefährlichen 
Lage, daß ein ausgesprochen unindividualisiertes, unpersönliches 
Volk sich dem Einflüsse einer Zivilisation, welche äußerste Indi- 
vidualisiertheit zur inneren Voraussetzung hat, unbedingt hinge- 
geben hat. Deren Außenseite kann ihm nur Gutes bringen; das 
hat Japan bereits glänzend bewiesen. Aber wenn ihr Geist von 
den Japanern zu früh Besitz ergreift, dann steht Schlimmes bevor. 
Sie sind nicht so weit, daß jeder von sich aus im Sinn des Ganzen 
handeln könnte; ihr metaphysisches Wissen hat noch keine andere 
Äußerungsmöglichkeit, als die durch physiologisches Zusammen- 
hangsgefühl hindurch. Verliert dieses Volk sein primitives Grup- 
penbewußtsein, sein Selbstgefühl im Sinn der cite antique, dann 
zerfällt sein Zusammenhang. Alle Japaner, in denen der Geist 
Alt-Japans {Yamato damashii) nicht mehr lebt, sind abstoßend 
oberflächlich. 
MYANOSHITA. 
Zum erstenmal, seit ich in Japan bin, steigen Erinnerungs- 
bilder aus den Himalayas auf in mir. Wie ich, in hoch- 
gelegenem Talkessel, vor einem Sturzbach träume, der sich 
von steilem Fels durch üppigstes Pflanzengeranke in die Tiefe 
ergießt, da muß ich an die Bergwälder zurückdenken, die ich 
seinerzeit mit solchem Entzücken durchstreift. Auch hier ist der 
Rahmen des Ganzen großartig an und für sich: die Höhen ringsum 
Keyserling, Reisetagebuch. 32 
498 Warum Japan nicht großartig ist. 
sind kahl und wild, von dampfenden Schwefelquellen durchsetzt; 
über die Vorberge winkt der Schneegipfel des Fuji herüber; 
dunkele Fichtenwälder bedecken die tiefergelegenen Abhänge. 
Und auch dort fehlt das Liebliche nicht: die überreiche Vege- 
tation schafft wieder und wieder verschwiegene Lauben, wo nichts 
den farnumwucherten Quellen den idyllischen Charakter stört. 
Woher kommt es, daß ich hier dennoch gar nicht die Empfindung 
des Großartigen habe? — Daran tragen die listigen Menschlein 
die Schuld, die diesem Lande ihre Eigenart aufgeprägt haben: 
ihr Naturverständnis ist so ungeheuerlich groß, daß sie ihre Um- 
welt ästhetisch unterjocht haben. Wie ein einziger Farbenfleck 
den Sinn eines Gemäldes bestimmen und umwandeln kann, so hat 
der Japaner durch zielbewußtes Einfügen seines Daseins in das 
der ihn umgebenden Natur deren Grundton so völlig auf sich selbst 
hinüberverlegt, daß das Große nur mehr als Füllung des Kleinen 
wirkt. Damit aber ist das Großartige aus der Welt hinausverwiesen. 
Gewiß stellt die Fähigkeit des Japaners, das Große im Kleinen 
zu erkennen, zu erfassen, aufzusaugen und wiederzugebären, vom 
Standpunkte des Absoluten her gesehen, etwas ganz Großes dar. 
Sein exquisites Naturgefühl bedeutet das gleiche, wie das Welt- 
gefühl beim Inder oder bei uns, also kann nur der Tor in seinem 
Fall im Nichtvorhandensein des letzteren ein Gebrechen sehen. 
Ja man kann weiter gehen: was will der Mystiker sagen, wenn er 
behauptet, seine Seele gehe ins Unendliche ein? nicht daß der 
Tropfen im Ozean verschwindet, sondern umgekehrt, daß das 
Weltmeer von einem Tropfen aufgesogen wird — und eben das 
leistet in ihrer Sphäre, mit ihren Mitteln, die japanische Kunst. 
Doch ändert diese Überlegung nichts daran, daß innerhalb der 
Möglichkeiten des Japanertums das Großartige nirgends Platz 
findet; angestrebt mag es werden, erreicht wird es nie, weil eben 
Kleines nie großartig wirken kann. Wenn das Ameisenvolk seinen 
Haufen mit einer Todesverachtung verteidigt, die unter Menschen 
vielleicht niemals zu finden ist, so bewundern wir das — aber 
groß erscheint es uns nicht; alles kommt auf die Proportionen 
des Urzusammenhangs an. Beim Chinesen weist jedes einzelne 
auf das Tao zurück; dementsprechend hat auch die chinoiserie 
den Himmel zum Hintergrund. In Japan bleibt alles im Rahmen 
des Menschenlebens beschlossen, und die oberste Synthese ist 
Japan, nicht das All. Daher wirkt das Mädchen wunderbar leben- 
Kleines wirkt nie groß ; Bedeutung des Quantitativen. 499 
dig, das schluchzend für den Liebsten in den Tod geht, und ebenso 
der strenge Samurai, der aus gekränktem Ehrgefühl Selbstmord 
übt; alle intimen Tragödien sind im Bilde. Heroismus im Großen 
weist über den Rahmen hinaus. 
Man soll die Bedeutung des Quantitativen nicht unterschätzen. 
Steigen wir einmal vom Standpunkte des Absoluten herab — und 
das müssen wir tun, so oft wir der einzelnen Erscheinung gerecht 
werden wollen — dann müssen wir zugeben, daß ein Unterschied 
besteht zwischen Totalität und Einzelheit, zwischen dem Chrysan- 
themum und dem weltenschaffenden Gott. Wohl ist alles Leben- 
dige gottartig; auf seine Weise tut jeder bei der Weltenschöpfung 
mit, und da er im Zusammenhange schafft, offenbart jeder voll- 
endete Ausdruck unmittelbar des Ganzen Sinn. Allein wer im 
Großen wirkt, ist von anderem Kaliber als der Kleinkünstler. Mit 
einem einzigen Gedanken ruft der Gott Milliarden von Schwin- 
gungen hervor, und was die Biene dann leistet, muß jener erst 
ermöglicht haben. Wahrscheinlich ist Gott im einzelnen unver- 
mögend; schwerlich wäre er ein guter Miniaturist. Sicher ist er 
auf seine Art beschränkt, eben weil er nur alles vermag und das 
Besondere daher kleineren Leuten überlassen muß — wie er es 
denn, wohl schwerlich ohne zwingenden Grund, von jeher getan 
hat. Gewiß, das Große ist eben deshalb beschränkt, und zwar im 
selben Sinn, wie dies vom Kleinen gilt; aber trotzdem ist es 
mehr als das Kleine. Solange wir in der Erscheinungswelt ge- 
fangen sind — und wer weiß, ob wir je aus ihr hinausgelangen? 
— so lange müssen wir das gelten lassen; so lange der bloße 
Begriff einer Steigerung Sinn besitzen soll, so lange bleibt dem 
Quantitativen sein objektiver Wert. Drum ist das Großartige mehr 
als das Liebliche, und sei dieses noch so vollendet. In den Hima- 
layas trägt die Natur Züge, die nur aus kosmischen Vorausset- 
zungen zu begreifen sind; die ganze Landschaft spottet mensch- 
licher Maßstäbe; mag die Flora noch so üppig wuchern, sie wirkt 
nur wie ein Anflug von Patina auf gewaltigem ehernen Gefäß. 
In Japan wüßte ich nichts, was nicht vom Menschen her ver- 
standen werden könnte. Wohl trägt auch hier die Natur gelegent- 
lich große Züge, aber groß ist nur der äußere Rahmen und der 
Nachdruck ruht auf dem Bild. Der einzelne Blütenzweig, gegen 
den Hintergrund des leeren Raums gehalten — das Lieblings- 
motiv so vieler japanischer Künstler — ruft wohl das Gefühl der 
32* 
500 Inwiefern Gott mehr ist als der Blütenzweig. 
Unendlichkeit wach in uns. Aber es ist doch der blühende Zweig, 
der dieses bewirkt, und er gibt dem Gefühle seine Färbung. 
Die Begriffe unserer Zeit scheinen mir, was diese Fragen 
betrifft, einigermaßen verwirrt zu sein. Im Bewußtsein der Wahr- 
heit, das alles Vollendete das Unendliche zum Ausdruck bringt, 
ist man dahin gekommen, die Unterschiede in anderen Dimen- 
sionen zu übersehen; der Blütenzweig wird dem Gotte gleich- 
gesetzt. Das wäre an sich noch kein Unglück: was verschlägt es, 
was die Kritiker behaupten? aber es wird schließlich doch zum 
Verhängnis, insofern es die Schaffenden verdirbt. Rainer Maria 
Rilke, eine feinfühlige, zarte Natur, hat gelegentlich, wo er von 
fallendem Herbstlaub sang, die Gottheit geoffenbart. Doch wo 
er direkt von dieser spricht, dort redet er an ihr vorbei. Rilke 
gehört zu denen, welchen die Blume der greifbarste Ausdruck 
des Ewigen ist. Vom Göttlichen unmittelbar zu künden, sollte er 
großzügigeren Geistern überlassen. 
N1KKO. 
Es gibt doch Großartiges in Japan. Die Landschaft Nikkös, 
mit ihren schroffen Felsen, ihren tosenden Wasserfällen, 
ihren gigantischen Tannen und Cryptomerien ist grandios; 
und sie wirkt so vor allem, weil sie gewaltiges Menschentum ein- 
rahmt. Im Jyeyasu-Tempel weht ein Geist der Großheit, wie ich 
solchen seit Peking nicht mehr wehen gespürt. 
Jyeyasu, der Begründer der Tokugawa-Dynastie, die über 
zweieinhalb Jahrhunderte unter der Schein-Oberhoheit der Mi- 
kados die Geschicke des Landes gelenkt hat, war ein gewaltiger 
Mann; den gewaltigsten aller Weltteile vergleichbar. Und wie 
quantitative Verschiebung in der ganzen Natur qualitative Ver- 
änderung mit sich bringt, so hat in ihm der japanische Herrscher- 
typ eine grundsätzliche Metamorphose erfahren: nun war es weder 
mythischer Nimbus noch höfisches Prestige, weder der Vorteil der 
Geburt noch die Klugheit oder der starke Arm, welcher der Macht 
ihren Hintergrund gab — es war jene echt herrschaftliche Über- 
legenheit, die alles einzelne in sich beschließend, doch über ihm 
thront; jene intrinseke Majestät, die alle ganz großen Könige aus- 
Die Größe der Tokugawas; Bild und Rahmen. 501 
zeichnet. Diesen Geist hat Jyeyasu seinen Nachkommen vermacht; 
noch heute waltet er über Nikko, über den Grabdenkmälern der 
Tokugawas und ihrer Vasallen, eine psychische Atmosphäre be- 
dingend, wie sie an keiner anderen Stätte Japans herrscht. 
Wunderbar, daß dieser eine Mann einen Typus hat schaffen 
können, der gegenüber allem sonstigen Japanertum in einer an- 
deren Dimension belegen scheint! Und wunderbar vor allem, daß 
dieser Typus fortgedauert hat! Ich kenne kein eindrucksvolleres 
Beispiel dessen, wie ausschlaggebend der Rahmen für den Cha- 
rakter des Bildes sein kann. Je nach der äußeren Lage, in der 
ein Mensch sich befindet, werden andere Kräfte in ihm frei; 
das Lebensprinzip modifiziert seine Erscheinung entsprechend 
seiner Ausdrucksmöglichkeit. Prestige, Macht, Reichtum, das gläu- 
bige Aufschauen von Untergebenen sind ebensoviel gestaltende 
Kräfte, welche die Seele bilden und erziehen und oft von heute 
auf morgen eine radikale Metamorphose herbeiführen. Diesen 
Tatbestand erkennt der Volksmund an, indem er sagt: wem Gott 
ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand; nur vergißt er 
dabei eines wesentlichen: daß nicht jeder, mit noch so viel Ver- 
stand, jedes Amt gut verwalten wird. Das Entscheidende ist der 
lebendige Geist, welcher sich des Verstandes bedient, und dieser 
ist bei jedem ein Konstantes, nur in seltenen Ausnahmefällen der 
Steigerung fähig; der Geist, in dem einer erzogen ward, dominiert 
meist bis zuletzt. Das ist der wahre Sinn des* Legitimitätsge- 
dankens, zugleich des Mißtrauens gegen den homo novus: auf 
einen Jyeyasu, einen Acoka, einen Napoleon kommen Tausende 
von begabten Emporkömmlingen, die ihrer neuen Stellung nicht 
gewachsen waren. Um die Kräfte, welche die Herrscherstellung 
vielleicht in jedem freiwerden läßt, voll auszunutzen, muß 
diese einem selbstverständlich sein, muß das Herrscherbewußt- 
sein mit dem normalen zusammenfallen; und so an sich zu 
glauben, wie dies erforderlich ist, auf daß einem ein jüngst erst 
Undenkbares selbstverständlich würde, vermag nur der seltene 
Genius. Dies gibt dem in einer Stellung geborenen einen abso- 
luten Vorzug vor dem Emporkömmling, gibt dem unbedeutenden 
Erbherrn eines Staates noch ein pres vordem bedeutenden Parvenü. 
Ich habe im Laufe meines Lebens die Mentalitäten der verschiedenen 
Menschentypen, mit denen mich das Schicksal zusammenbrachte, 
recht aufmerksam studiert: regierende Fürsten, Staatsmänner, 
502 Bild und Rahmen; Sinn des Legitimitätsgedankens. 
Geldkönige, aufsteigende Talente: bei allen zum Herrschen Gebo- 
renen, die nicht entartet waren, habe ich eine normale Bewußt- 
seinslage angetroffen, die einem gewöhnlichen Sterblichen wohl 
erreichbar, aber nie normal ist, und absolute Überlegenheit bedingt. 
Natürlich hat auch sie ihre spezifischen Grenzen; wo der Rahmen 
dem Bilde nicht entspricht, wie dies ja heute mehr und mehr der 
Fall wird, tritt die Überlegenheit als Unterlegenheit in die Er- 
scheinung. Aber die Berufenheit geborener Herrscher zum Herr- 
schen springt dennoch so sehr in die Augen, daß ich mich oft 
kopfschüttelnd gefragt habe, wie die Menschheit wohl so blind 
sein kann, wo sie Rennpferde und Milchkühe züchtet, die Regenten- 
zucht aufgeben zu wollen. Die Gegenprobe führt zum gleichen 
Ergebnis. Wo ich Gelegenheit hatte, den Aufstieg eines bedeuten- 
den Mannes zu verfolgen, dort konnte ich zunächst jedesmal ein 
Wachsen des Menschen konstatieren: sein eigentliches Wesen fand 
mehr und mehr Ausdrucksmittel; aber sobald die Erweiterung des 
Rahmens über einen gewissen kritischen Punkt hinausgeführt hatte, 
welcher je nach seinem Kaliber näher oder ferner lag, dort wurde 
er auf einmal wieder kleiner; seine Mittel waren größer geworden 
als er selbst. Die Grenze dieser Verkümmerung bezeichnet das 
Zerrbild des Parvenüs. — Jyeyasu hatte sein Geschlecht in eine 
Stellung emporgehoben, die der Bedeutung nach einzig dastand 
in ganz Japan. Er selbst war einer der wenigen Emporkömmlinge, 
der nicht nur zum Aufstieg, sondern dem Leben auf der Höhe 
prädestiniert waren. Seinen Lebensrahmen hinterließ er seinem 
Geschlecht. Und dieser Rahmen hat soviel formende Kraft be- 
wiesen, daß die Shoguns über zweihundert Jahre lang einen großen 
Stil besessen haben, wie kein Japaner weder vor noch nach ihnen; 
und daß heute noch über ihren Gräbern der Geist der Großheit weht. 
Das Mikadotum ; Vorzüge der Autokratie. 503 
TOKYO. 
Die Kaiserstadt. ... Sie ist ganz seelen- und stillos, trotz 
der großartigen Anlagen, die aus der Shogunzeit stammen, 
trotz all' des Schönen, das sie sonst enthält; Tokyo ist 
eine moderne Stadt in des Wortes trivialster Bedeutung. 
Und dabei ist sie, gerade sie, die Residenz eines mythischen 
Herrschers, eines Monarchen, dem sein Volk eine höhere Stellung 
zuerkennt, als die Chinesen dem Himmelssohne; eines Kaisers, 
dessen Gottesgnadentum recht eigentlich den Sinn der Göttlich- 
keit hat! Höchst seltsam, dieses Zusammenbestehen des Primor- 
dialen mit dem Modernen. Daß die Mikados ihr Prestige durch 
die Jahrhunderte hindurch bewahrt haben, wo sie fast gar keine 
Machtbefugnis hatten, wo sie Puppen in den Händen der Haus- 
meier waren und wie Unterbeamte ein- und abgesetzt wurden, er- 
scheint nicht verwunderlich, wenn man die Bedeutung des Mikado- 
tums in den Augen des Volkes richtig auffaßt: sie gehörten einer 
anderen Daseinsebene an, als ihre Untertanen, so verschlug es 
nicht viel, was im menschlichen Sinne mit ihnen geschah; sie 
galten jenen Göttern gleich, die man zerschlägt, wenn sie Miß- 
fallen erregen, die aber gleichzeitig höhere Wesen bleiben. Aber 
daß ihr Prestige noch heute im alten Sinne fortbesteht, wo sie, 
wie andere Regenten auch, im Staatskörper eine bestimmte Rolle 
spielen, das ist ein wohl Niedagewesenes. 
Japan ist fortgeschritten, weil ein mythischer Herrscher es 
ihm gebot; bis vor kurzem diktierte der Hof die öffentliche Mei- 
nung; die kaiserlichen Edikte noch so trivialen Inhalts wurden mit 
der Andacht gelesen, die Offenbarungen des Himmels gegenüber 
anständig ist; die bedeutendsten Staatsmänner alten Schlages emp- 
fanden hierin nicht viel anders als das gemeine Volk. Es kann 
nicht geleugnet werden, daß dieser Zustand Japan zum Heil ge- 
reicht hat. Überall, wo die Individuen sich nicht emanzipiert 
fühlen, wo sie geneigt sind, höhere Mächte in persönlicher Sym- 
bolik vorzustellen, wo überdies die Glaubenskraft genügt, bedeutet 
Selbstherrschertum die beste Regierungsform. Dort verkörpert der 
Herrsche^ buchstäblich den Eigenwillen der Nation, dort wird 
sie sich buchstäblich in ihr ihrer selbst bewußt; dort sind sie und 
504 Kaiser mehr als normale Menschen; Nachteile der Republik. 
er tatsächlich innerlich eins. Denn dort wächst die Person des 
Autokraten, dank dem schöpferischen Glauben seiner Untertanen, 
von selbst über normales Menschenmaß hinaus. Die Weisen Indiens 
lehren: genau soweit, wie eine Seele zu Gott hinanstrebt, komme 
dieser ihr entgegen. Eben dieses ist wahr in bezug auf das Ver- 
hältnis von Herrscher und Volk: je mehr dieses dem Herrscher 
zugesteht, desto mehr entwickelt er sich dem Ideale seiner 
Untertanen entgegen. Die russischen Zaren stellten bis vor nicht 
gar lange einen höheren Menschentypus dar, als die konstitutio- 
nellen Monarchen West-Europas, denn sie wurden von einem ge- 
waltigen Glauben getragen. So hat sich Mutsuhito, von Hause aus 
eine Durchschnittsnatur, als großer Mann bewährt, weil Göttliches 
von ihm erwartet wurde. 
Wieder einmal gedenke ich dessen, was mehr wert ist, die 
Monarchie oder die Republik, und wieder einmal sehe ich mich 
veranlaßt, mich zum monarchischen Prinzipe zu bekennen. Wie 
gut bewährt es sich doch, wenn der Mensch seinen Vorgesetzten 
überschätzt! Gleichviel ob dieser die ihm gezollte Verehrung ur- 
sprünglich verdient oder nicht: wenn er nicht gar schlecht ist, so 
verdient er sie auf die Dauer; jeder wohlgesinnte Monarch ist 
im Laufe der Zeit zu einem bedeutenderen Menschen herange- 
wachsen, als es neun Zehntel seiner Untertanen sind. Indem diese 
jedoch ihren Herrscher als Wesen höherer Art verehren, han- 
deln sie besser und werden sie mehr, als sie unter anderen Be- 
dingungen würden: aus Rücksicht auf andere setzt auch der 
Mittelmäßige sein Äußerstes dran, aus Rücksicht auf sich selbst 
nur der Höchstgebildete. In der Republik ist ferner jeder im 
Prinzip souverän, kann jeder zum Ersten im Lande aufrücken: 
so sieht sich keiner zur Selbstbeschränkung angeleitet; Ehrgeiz, 
Herrschsucht, Wille zur Macht wuchern über alle Grenzen hinaus, 
und diese Wucherungen gefährden die Seele. Wie eindeutig 
alle Tatsachen die Vorurteile unserer Epoche Lügen strafen! Die 
Japaner vom alten Schlage fühlen sich nicht als Individuen im 
modernen Sinn, und sind menschlich doch viel wertvoller als die 
meisten Modernen. Ich gedenke der Verse Lautses: 
Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd, 
Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel und Erde ist, 
Daß sie nicht sich selber leben. 
Darum können sie dauernd Leben geben. 
Japanische Große. 505 
Also auch der Berufene: 
Er setzt sein Selbst hintan, 
Und sein Selbst kommt voran. 
Er entäußert sich seines Selbst, 
Und sein Selbst bleibt erhalten. 
Ist es nicht also: 
Weil er nichts Eigenes will, 
Darum wird sein Eigenes vollendet? 
Nun habe ich auch Große des Landes kennen gelernt: die 
sind mit den kleinen Leuten kaum auf einen Nenner zu 
bringen. Die Besten unter ihnen haben etwas Alt-Römisches, 
Scharfes, Klares, Selbstverständlich-Überlegenes; alle aber ab- 
solut nichts Künstlerhaftes, nichts Süßes, Feinsinniges, Zierliches: 
sie sind vielmehr hart und könnten grausam sein. Die allgemein- 
japanischen Eigenschaften der Merkschheit, des sicheren Blicks, 
des schnellen Verstehens alles Handgreiflichen scheinen bei ihnen 
einem anderen Zusammenhang einverleibt: was sonst den Künst- 
ler macht, kommt hier dem Spion zugute, die Fähigkeit Rück- 
sicht zu nehmen, dem Diplomaten, die Geschmeidigkeit dem 
Reorganisator; hier tritt die Zähigkeit der Rasse als stählerner 
Wille zutage, während ihre matteroffactness Realpolitiker so ex- 
tremen Charakters schafft, wie solche bei uns kein Macchiavellis- 
mus jemals erzeugt hat. Somit stellt sich das Problem, wie das 
Japan Lafcadio Hearns so großer politischer Leistungen fähig 
war, überhaupt nicht; dieses Japan hat die Umwandlung nur 
mitgemacht; eingeleitet und durchgeführt ist sie durch andere 
worden, denen weitsichtiges Schaffen ebenso natürlich ist, wie 
dem kleinen Mann das Zwergen seiner Bäume. 
Immerhin sind die Führer in Japan nicht ganz Führer in 
unserem Sinn, und das ist das Japanische an ihnen: sie sind 
weniger Faktoren als Exponenten; wie groß ihre individuelle 
Bedeutung zuweilen sei, ihre Wirkungskraft beruht auf ihrem 
Vertietertum. Im Fall des Kaisers liegt dieses Verhältnis 
auf der Hand: nicht nur in Japan, überall auf der Welt, 
wo diese Stellung noch mit einem mythischen Nimbus umwoben 
ist, kommt es mehr darauf an, daß einer, als wer der Herrscher 
ist; als Brennpunkt des Volksglaubens wirkt er auf alle Fälle 
506 Japanische Große; das demokratische Ideal. 
schöpferisch. Das gleiche gilt von den Staatsmännern, die Japan 
groß gemacht haben. Höchstwahrscheinlich standen und stehen 
sie alle als Persönlichkeiten unter dem, was die Qualität ihres 
Werks voraussetzen läßt; sie konnten -es schaffen, weil sie vom 
Volk getragen wurden. Wo das Bewußtsein des Einzelnen weniger 
Selbst- als Gruppenzugehörigkeitsbewußtsein ist, dort sieht er in 
seinen Führern keine Außer-ihm-stehenden, sondern recht eigentlich 
Organe seiner selbst, und gehorcht ihnen, als ob er sich selbst 
befehlen würde. So liegt die Gewähr für den Führerberuf in Japan 
zum allergrößten Teil in der Vollendung der Volksorganisation. 
Das will sagen: solange diese im Stande ist, werden geborene 
Führer nicht aussterben. Diese tragen hier denn auch eine Über- 
legenheit zur Schau, wie sie anderswo heute kaum vorkommt; Graf 
Okuma ist sich seines Einflusses im selben Sinne bewußt, wie ein 
Kaiser seines Gottesgnadentums und dieses Bewußtsein als solches 
wirkt als Kraft. 
Was ich hier über das tatsächliche Verhältnis zwischen Führern 
und Geführten in Japan anführe, klingt wie eine Darstellung des 
demokratischen Ideals. Ist es nicht bezeichnend, daß dieses noch 
von keiner Demokratie, wohl aber schon oft von aristokratischen 
Gemeinwesen verwirklicht worden ist? Solange das Individuum 
individualistisch denkt — und das ist wohl das Hauptkennzeichen 
der Demokratie — solange ist eine vollkommene Organisierung 
der Gesamtheit unmöglich. Freilich ist das Ideal im Prinzip auch 
dort verwirklichbar, wo die Persönlichkeiten autonom geworden 
sind; aber dazu müssen diese einen Grad innerer Bildung erreicht 
haben, von dem bei den heutigen Demokratien noch das leiseste 
Voranzeichen fehlt. 
Meine Eindrücke schließen sich mehr und mehr zu einem 
Gesamtbild zusammen. So viel ist mir ganz klar: die 
Japaner, oder vielmehr die sozialen Schichten derselben, 
die politisch in Frage kommen, sind keine Orientalen, wenn deren 
Begriff so verstanden wird, daß er das Wesentliche des Chinesen 
und des Inders auf einmal einschließt; sie stehen uns näher, 
als den Chinesen und haben insofern ein Götterrecht, uns nach- 
zueifern. Ihre Ähnlichkeit mit China beruht zum größten Teil auf 
der Importierten chinesischen Kultur; der Naturanlage nach sind 
Japaner uns ähnlicher als den Chinesen. 507 
sie, gleich uns, ein fortschrittliches Volk, wie dies ja auch ihre 
Geschichte vom Anfang an bis auf heute unzweideutig zum Aus- 
druck bringt; genau in dem Sinn, wie sie uns heute nacheifern, 
sind sie vormals bei Korea und China in die Schule gegangen. 
Daher darf die Verwestlichung Japans nicht im gleichen Lichte 
betrachtet werden, wie diejenige Indiens oder Chinas. Als ich 
durch das Binnenmeer einfuhr, war ich nicht wenig überrascht 
durch den Eindruck, in eine mir ganz neue, von der chinesischen 
durch eine tiefe Kluft geschiedene Welt hineinzukommen; mir 
schien, als umwehte mich eine Luft wie die im griechischen Ar- 
chipel, eine Luft unternehmenden Seef ahrertums ; ich spürte nicht 
allein nichts von der kosmischen Ruhe, dem majestätischen Frieden 
des Chinesentums, sondern auch nichts von dem Japan, das Lafcadio 
Hearn geschildert hat. Dieses Japan existiert allerdings. Aber 
doch darf ich heute sagen, daß mein erster Gesamteindruck richtig 
war: das Wesentliche am Japanervolk ist das Unternehmende, 
Ausnutzende, Praktisch-Geschmeidige, nicht die Japonerie. 
Der Japaner ist typischerweise kein Schöpfer, aber er ist auch 
kein Nachahmer, wie gemeiniglich behauptet wird — er ist wesent- 
lich ein Ausnutzer und zwar im Sinn des Jiujitsukämpfers : der 
Jiujitsu ist das Symbol des Japanertums. Wessen bedarf es, um 
Meister dieser Kunst zu sein? Keiner schöpferischen Initiative, 
dafür einer außerordentlichen Beobachtungsgabe, des augenblick- 
lichen Verständnisses für die empirische Bedeutung jedes Eindrucks 
und der Fähigkeit, aus diesem sofort den größtmöglichen prak- 
tischen Nutzen zu ziehen; es bedarf im äußersten Maß jenes 
besonderen Zusammenarbeitens von Kopf und Hand, wo alle Er- 
kenntnis momentan zur zweckmäßigsten Reaktionsbewegung führt, 
wo alle Erinnerung sich motorisch äußert. Auf gleichem Können 
beruht alle spezifisch-japanische Kultur, gleiches bedeutet das 
japanische „Nachahmen". Der Japaner ahmt eigentlich gar nicht 
nach — er profitiert, wie der Ringkämpfer aus einer Gebärde 
seines Gegners Vorteil zieht; er kopiert nicht, sondern er wechselt 
seine Einstellung; ihm ist es gegeben, sich mit unvergleichlicher 
Leichtigkeit aller Erscheinung dergestalt einzubilden, daß er ihre 
Sonderart (nicht ihr Wesen!) innerlich versteht, zu sich selbst in 
organische Beziehung bringt und sie dann nutzt, soweit sie zu 
nutzen ist. So hat er einst die chinesischen Kulturgestaltungen 
ausgenutzt. Vielleicht hat er sie nie wesentlich verstanden, aber auch 
508 Definition des Japanertums; japanische Unbeeinflußbarkeit. 
bloß äußerlich nachgeäfft hat er sie nie — er hat sich in ihre Er- 
scheinung vollkommen hineinversetzt und dann in chinesischer Ein- 
stellung gelebt. Allen Formen sind spezifische Möglichkeiten imma- 
nent, die sich verwirklichen in relativer Unabhängigkeit davon, ob 
ihre jeweiligen Träger sie verstehen, ob sie ihnen etwas bedeuten 
oder nicht: so haben die Japaner vieles Chinesische dessen eigenstem 
Geist entsprechend fortgebildet. Sie waren nie vom chinesischen 
Geiste beseelt; sie trugen bloß chinesische Leiber. So sind sie 
innerlich fast unberührt geblieben. Schon früher wies ich darauf 
hin, wie wenig sie sich innerlich verwandelt haben trotz aller 
Einflüsse, denen sie sich hingaben: das liegt an ihrer vorher 
gekennzeichneten Anlage. Der Japaner darf von allen Menschen 
der Erde am meisten Fremdes sich aneignen, ohne Schaden be- 
fürchten zu müssen, weil er im Tiefsten unbeeinflußbar ist. 
Die chinesische ist Ausdrucks-, die japanische Einstellungs- 
kultur: ein schrofferer Gegensatz läßt sich kaum denken; wo jene 
in der Tiefe wurzelt, erschöpft sich diese an der Oberfläche. Der 
Japaner ist unsubstantiell, kein Zweifel: wo die Attitüde die letzte 
Instanz ist, dort fehlt es an innerem Gehalt. Eben hierin aber liegt 
Japans Bedeutsamkeit begründet:, es zeigt, wie weit man kommen 
kann ohne wesenhaft zu sein. Man kann unglaublich weit kommen. 
Die Japaner haben Werte in die Welt gesetzt, die ohne sie unver- 
körpert geblieben wären, eine Kultur der Oberfläche geschaffen, 
wie es keine reizvollere je gab. Darum ist es ungerecht, bei ihren 
Unzulänglichkeiten zu verweilen. Substantialität ist überall nicht 
häufig; auch unter Indern kommen Japaner vor, soweit diese 
durch ihr Negatives definiert werden; aber die unsubstantiellen 
Nicht-Japaner haben die Vorzüge des Japaners nicht. Kein Wesen 
kann etwas für seine Anlage; es gibt Geschöpfe, die das letzte 
Wesen zum geistigen Ausdruck bringen, es gibt andere, deren 
Äußerstes die Einstellung ist. Gott gelten sie allesamt gleich, 
sofern sie vollendet sind in ihrer Art. Wir Menschen aber sollten 
endlich lernen, jedes Geschöpf dessen Eigenart gemäß zu bewerten, 
nur das von ihm zu verlangen, wessen es fähig ist. 
Die Japaner dürfen sich getrost verwestlichen, welches Inder 
und Chinesen nicht dürfen, weil es sich bei ihnen um keine wirk- 
liche Verwandlung, sondern nur um eine fechterische Neuein- 
stellung handelt. Immerhin ist mit dieser Erkenntnis ihr Problem 
nicht erschöpft: bei aller Versalität hat der Japaner eine Seele, und 
Japans Hauptgefahren. 509 
scheint diese auch geringeren Gefahren ausgesetzt, als von den 
meisten gilt, die sich fremden Einflüssen hingeben, so ist sie 
doch nicht gefeit; wird sie aber überhaupt getroffen, dann steht 
es schlimmer mit ihm als mit jedem anderen. Zwei Grundgefühle 
dürfen nie zersetzt werden, wenn Japan nicht zugrunde gehen 
soll: das eine ist sein Naturgefühl, das andere sein spezifischer 
Patriotismus. 
Über beide Punkte habe ich mich schon ausgesprochen; hier 
brauche ich nur Gesagtes zusammenzufassen und meinem heutigen 
Zweck entsprechend zuzuspitzen. Das Naturgefühl des Japaners 
entspricht dem Weltgefühl des Inders und dem Harmoniebewußt- 
sein des Chinesen; es ist die gleiche Synthese en miniature, hat 
den gleichen tiefen Grund, und entschwände sie seinem Bewußt- 
sein, so verlöre er eben damit den Zusammenhang mit seinem 
tiefsten Selbst. Alles, wodurch er das Ursprüngliche zu ersetzen 
versuchen wollte, wird eine Oberflächenerrungenschaft bleiben, 
ohne unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Seele. Ein Inder 
versuche sich zum Griechen umzuwandeln: er würde dadurch 
sicherlich flach; nicht deshalb, weil seine ursprüngliche Art, den 
Menschen als Teil der Natur zu sehen, gegenüber der hellenischen, 
welcher diese ein Äußerlich-Bildhaftes bleibt, die objektiv tiefere 
ist, sondern weil er die griechische Weltanschauung auf sein 
Tiefstes zu beziehen außerstande wäre. Beim Japaner ist die gleiche 
typische Gefahr bedeutend größer, weil sein Gesichtskreis viel 
beschränkter ist, weil ungleich weniger Phänomene einer Ver- 
knüpfung mit seiner Seele fähig sind. So würde Naturalismus die 
japanische Kunst nicht allein herunterbringen, wie bei uns, rondern 
buchstäblich töten, so macht Unhöflichkeit den Japaner nicht bloß 
unangenehm, wie jeden anderen, sondern flach. Pflegt also Japan 
sein Naturgefühl nicht desto mehr, je intensiver es uns in anderen 
Hinsichten nacheifert, so kann es geschehen, daß sich sein Organis- 
mus eines Tages entseelt befindet. — Das andere Gefühl, das Japan 
um keinen Preis verlieren darf, ist seine Vaterlandsliebe; die eigen- 
tümliche, in Europa ausgestorbene, nur in Kriegszeiten kurzfristig 
wiederauflebende Gefühlssynthese zwischen Individuum, Gruppe, 
Heimat und Herrscherhaus. Die Japaner sind noch nicht Indivi- 
duen 2xi unserem Sinne; ihr Zentrum ruht in der Gruppe; daher 
wird ihnen Verwestlichung zunächst nur so lange frommen, als die 
neue Organisation auf die alte Basis bezogen werden kann. 
5 1 Gefahren und Nachteile der Verwestlichung. 
Während das Fortschreiten bei uns eine Folge der Individualisie- 
rung war, ist es in Japan bis heute ein Ausdruck unter anderem 
des unindividualisierten Gruppenbewußtseins gewesen, und könnte 
zum Stillstand kommen oder zur Zersetzung führen, wenn der 
Einzelne sich seiner selbst im westlichen Sinne bewußt würde. 
Letzteres beginnt schon; und es beginnt zu früh. Die junge Ge- 
neration gibt den Führern viel zu denken, denn bedenklich neigt 
sie dazu, ihre alte Basis zu- verleugnen. Sollte dieser Prozeß sich 
nicht aufhalten lassen, so kann es geschehen, daß der bewunderns- 
werte Bau Mutsuhitos. und seiner Minister zusammenstürzt. Also 
muß er aufgehalten werden, um jeden Preis. Das bezweckte Nogi, 
indem er sich entleibte — er hoffte, seine Tat möchte die an- 
gestammten Samuraigefühle bei den Jungen aufs neue zum Auf- 
flammen bringen; das betreibt die Regierung, indem sie sich nach 
Kräften bemüht, eine Renaissance des Shintö herbeizuführen. 
Möchte es ihr gelingen; Japans Zukunft macht mir Sorge. Je un- 
vermeidlicher es scheint, daß die alte Basis zerfällt, desto mehr 
rniuß das mögliche dafür getan werden, daß neue Verknüpfungen 
zwischen Körper und Seele entstehen, damit ein haltbarer Neubau 
wenigstens begonnen worden ist, wenn das alte Haus zu Staub 
zerfällt. ... 
Ja, Japan darf sich verwestlichen; 
aber nachdem ich solange streng objektiv gewesen bin, drängt 
es mich, auch meinem persönlichen Empfinden Luft zu machen, 
und da spreche ich's denn aus: persönlich bedauere ich es tief, 
daß dieses Land sich verwestlicht; das modernisierte Japan ist 
ganz reizlos; die Atmosphäre Tokyos zumal ist niederdrückend 
trivial. Die normale Entwickelung führt leider nicht notwendig 
aufwärts. Gleichwie einzelne Individuen als Kinder im besten 
Sinne sie selbst sind, weitere als Erwachsene, wieder andere als 
Greise, so gibt es für jedes Volk einen Entwickelungszustand, der 
ihm am besten liegt; entwächst es diesem, in noch so günstiger 
Richtung, so verliert es an Reiz, Bedeutung und Wert. In diesem 
Sinne ist es mit den Franzosen seit dem 18. Jahrhundert abwärts 
gegangen, obgleich von Dekadenz noch heute nicht die Rede sein 
kann; im gleichen Sinne wird England, dessen Höhepunkt das 19. 
war, fortan an Kulturbedeutung abnehmen. Jeder bestimmte Zu- 
stand gibt der Seele bestimmte Ausdrucksmittel, von denen nur 
einige ihr in dem Verstand gemäß sind, wie ein bestimmtes Können 
Nationale Höhepunkte ; Japanern steht der Ernst nicht an. 511 
einem spezifischen Geist. Der Augenblick oder die Epoche, wo 
innere Anlagen und Gelegenheiten sich entsprechen, bezeichnet den 
Höhepunkt einer Nation; da äußert sich das Nationalgenie. Später 
gleicht sie, mehr oder weniger, einem Raphael ohne Hände. 
Die Japaner leisten auf ihrer neuen Bahn Erstaunliches; was 
die Leistung als solche betrifft, so ist nicht einzusehen, warum sie 
es uns dereinst nicht gleichtun sollten. Aber dieses Leisten be- 
deutet nichts. Hier arbeiten sie mit dem Verstand allein, oder 
allgemeiner, mit den Werkzeugen ihrer Seele, ihr inneres Wesen 
spricht nicht mit; und ich kann mir nicht vorstellen, daß die 
Zeit eine wesentliche Besserung bringen wird. Aller Wahr- 
scheinlichkeit nach wird sich die japanische Seele in der Sprache 
okzidentalischen Könnens nie unmittelbar und vollwertig aus- 
drücken lernen; sie wird günstigsten Falls stammeln in ihr, und es 
ist nicht ausgeschlossen, daß sie verstummt; aus dem feinsinnigsten, 
künstlerischesten Menschen mag noch der dürrste werden. Vom 
Standpunkte seiner Substanz her beurteilt, tut der Japaner unrecht, 
gar zu ernsthafte Dinge zu treiben: er realisiert sich am besten, 
indem er spielt; alles wirklich Originale liegt auf der Linie des 
äywv, des Sports, der heiteren Künstlerschaft. Hier offenbaren sich 
die Tiefen seiner Seele. Wo er Wichtiges anstrebt im Sinne der 
Welt, dort wirkt er abstrakt. 
Einige der führenden Geister des japanischen Buddhismus 
weilen in Tokyo. Ich habe die Gelegenheit benutzt, meine 
aus Gesprächen und Lektüre der heiligen Schriften ge- 
wonnenen Anschauungen zu berichtigen und zu erweitern, und 
will nun versuchen, ein zusammenfassendes Urteil über ihn ab- 
zugeben. 
Je eingehender ich mich mit der Mahäyäna-Lehre befasse, 
desto mehr beeindruckt mich ihr philosophischer Wert. Gegen 
den Sinn ihrer Grundlagen wüßte ich gar nichts zu erinnern, wie 
vieles an der Einzelgestaltung verfehlt und veraltet sei, und in 
ihrer Entwickelung konvergiert sie so sehr mit dem, was mehr 
und mehr aus der christlichen Weltanschauung wird, daß man bei- 
nahe sagen kann, sie bezeichne den Indifferenzpunkt zwischen öst- 
lichem und westlichem Geist. Die Pffilosophie Acvagoshas verhält sich 
zur altindischen ungefähr wie diejenige Hegels zu Parmenides oder 
512 Die Mahäyäna-Lehre ; Afvagosha und Bergson. 
diejenige Bergsons zu Spinozas; das heißt, in ihr erscheint ab- 
strakter Statismus durch lebendigen Dynamismus ersetzt, und das 
bedingt einen absoluten Erkenntnisfortschritt. Die alten Inder 
meinten ja wohl Gleiches wie die Begründer der Mahäyäna-Lehre, 
allein sie wußten sich nicht entsprechend auszudrücken; dem 
letzten Sinn des Geschehens zugewandt, sahen sie von diesem 
ab und gelangten so zu einer Theorie des ewigen Seins, das im 
Gegensatz zum Fluß des Erscheinenden bestände. Acvagosha hat 
dann die gleiche methodologische Tat vollbracht, die später Hegel 
und Bergson, einen jeden auf seiner historischen Stufe, zu Bahn- 
brechern gestempelt hat: er hat den Zusammenhang von Sein und 
Werden wieder hergestellt, den ein vorläufigeres Denken gewalt- 
sam zerrissen hatte. Acvagosha erkannte, daß Sein und Werden 
nur verschiedene Aspekte einer identischen absoluten Wirklichkeit 
bedeuten; daß also das metaphysische Sein und das „Werden und 
Vergehen" zusammenfallen und die Dauer in der Zeit insofern 
ein Absolut-Wirkliches ist. So ist er auch zu eben dem kritischen 
Ergebnisse gelangt, zu dem eine gleiche prinzipielle Erkenntnis 
in unseren Tagen Bergson geführt hat: daß der metaphysische 
„Sinn" nicht außerhalb des konkreten Werdens zu suchen sei. 
Bergson ist bisher nicht weiter gegangen; das Reich des Sollens 
hat er noch nicht berührt. Aber tut er es einmal, dann wird er 
wohl Gleiches behaupten, wie Agvagosha vor 1700 Jahren ver- 
kündet hat: daß, sintemalen der metaphysische Sinn nicht außer- 
halb des konkreten Werdens zu suchen ist, auch alle idealen 
Forderungen innerhalb desselben zu verwirklichen seien. Damit 
wird Bergson freilich nichts Neues lehren, da eben diese An- 
schauung das Leitmotiv aller christlichen Weltanschauung ist. Als 
jener aber ein Gleiches tat, beschrieb er gegenüber der alt-in- 
dischen Weltanschauung, so logisch die Entwickelung war, die 
ihn dahin geführt hatte, eine regelrechte volte-face: die Stimmung 
der Weltverneinung schlug in eine der Weltbejahung um. Wenn 
das Höchste innerhalb des Werdens — gleichviel auf wieviel 
höheren Stufen, der des Arhat, des Bodhisattva, des Buddha — ver- 
wirklicht werden soll, dann ist den Idealen des Yogis, die alle 
auf den Wunsch, aus der Erscheinung hinauszugelangen, zurück- 
gehen, ihr eigentlicher Seinsgrund genommen; dann erscheint die 
Färbung des Samsära als keine düstere mehr, ja dann ist der Ge- 
schichte ihr Sinn zurückgegeben oder vielmehr ein neuer, höherer 
Die Mahäyäna-Lehre ; Rehabilitierung der Geschichte. 513 
Sinn verliehen. Nach der altindischen Weltanschauung fehlte dem 
Historischen als solchen jeder Sinn, da sie ein Fortschreiten nur 
im Verstände des Sich-Befreiens aus der Erscheinung würdigte 
und keinen empirischen Zustand als solchen über einen anderen 
stellte; dem Gläubigen der Mahäyäna-Lehre stellten sich ge- 
schichtliche Aufgaben. So setzte eine Entwickelung ein, die der- 
jenigen des Christentums bis ins Einzelne parallel geht. Der nörd- 
liche Buddhismus eroberte unaufhaltsam die Welt; er empfand es 
als seine Mission, die Menschheit zu bekehren, während der süd- 
liche, gleich dem Hinduismus, sich nie solche Aufgabe zuge- 
sprochen hat. Dementsprechend paßte er seine Lehren und 
Methoden den gegebenen Verhältnissen an, und der Geist der 
Menschenkenntnis und der Politik vermählte sich mit dem der 
Religiosität; dieses führte mit Notwendigkeit zur konfessionellen 
Organisation und weiter zur Sektenbildung; und je mehr der 
pragmatische Gesichtspunkt das Erkenntnisstreben überwog, desto 
ähnlicher wurde die jeweilige Dogmatik der christlichen. Die 
Lehren des Christentums und der meisten Sekten des höheren 
Buddhismus sind dermaßen ähnlich, daß die führenden Missionare 
zur Ansicht neigen, dieser sei tatsächlich Christentum; eine Fort- 
bildung der Lehre Jesu Christi, nicht Gautama Buddhas. 1 ) Bis zu 
einem gewissen Grade mag sie zutreffen. Aber die erstaunliche 
Konvergenz innerhalb der Dogmenentwicklung kann sehr wohl 
auch ohne direkte historische Abhängigkeit zustandegekommen sein : 
die Geister des Mahäyäna und des Christentums waren nahe 
verwandt; so kam es unter ähnlichen Verhältnissen notwendig auch 
zu ähnlichen Bildungen. Immerhin: von Gleichheit beider Reli- 
gionen kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil die kon- 
fessionelle Gestaltung im Falle des Buddhismus keine letzte In- 
stanz bedeutet; sie ist ihm, der hierin bis zuletzt echt indisch 
geblieben, ein Vorläufiges, ein Übersteigbares. Will man durchaus 
*) Man lese: Timothy Richard, The new testament of Higher Buddhism 
(Edinburgh 1910, T. & T. Clark), Arthur Lloyd, The Creed of Half Japan 
(London 1911, Smith, Eider & Co.) und das schon empfohlene Werk E. A. 
Gordons „World Healers a or the Lotus Gospel und its Bodhisatvas compared 
with early christianity. Von diesen Werken ist das erstgenannte das geistig 
bedeutendste, während das letzte den Vorzug hat, von einer Frau zu 
stammen, die sich mit tiefster Sympathie in die japanischen Glaubensvor- 
stellungen hineingelebt hat. Die spezifische „Farbe" des japanischen Bud- 
dhismus wird derjenige, der selbst nie in Japan war, aus ihrem Werke am 
ehesten herausfühlen. 
33 
Keyserling, Reisetagebuch. 
5 1 4 Mahäyäna-Lehre und Zukunftsreligion. 
seinen christlichen Charakter betonen, so muß man sagen: die 
Mahäyäna-Lehre ist das Christentum, wie es sich unter indischen 
Weisen entwickelt hätte. Philosophisch steht sie turmhoch über 
dem Westländerglauben; aber an Effikazität hält sie den Vergleich 
mit ihm nicht aus. Sie ist zu allumfassend, um eindeutig zu wirken. 
Die Kirche zumal, die auf ihrer Grundlage in Japan besteht, ist 
gar unsubstantiell, mehr Kunst als Leben, mehr schöne Form als 
Sinn. Aber an der ist die indische Lehre unschuldig: diese Kirche 
ist einzig Japans Werk. 
Von allen überlieferten Religionen steht der Mahäyäna-Bud- 
dhismus in der Idee der Lehre am nächsten, welche die Gott- 
sucher unserer Tage als Religion der Zukunft herbeibeschwören: 
er ist wesentlich undogmatisch, hat tiefes Verständnis für den 
Wert des Kults, schließt keinerlei Erkenntnis aus, hat allen Tem- 
peramenten etwas zu bieten; er ist weit und tief, wie der Brahma- 
nismus, und zugleich weltkundig und tatkräftig, wie das Christen- 
tum. Aber efben weil er vielleicht ein Zukunftsideal verkörpert, ist 
er dem gegenwärtigen Zustande nur bedingt gemäß; das er- 
kenne ich desto deutlicher, je mehr ich mit Vertretern dieses 
Glaubens zusammenkomme. Seine Form ist zu weit, zu wenig 
anliegend, um Durchschnittsmenschen zu formen; er ist kein ent- 
sprechendes Gefäß für eine beschränkte Spiritualität, zumal eine 
so wenig intellektuell geartete, wie die japanische. Ich glaube 
nicht, daß irgendeiner unter Japanern, weder unter den heutigen 
noch unter denen von einst, dem philosophischen Gehalt der 
Mahäyäna-Lehre je gerecht geworden ist. Sie haben diese einst 
zu sich importiert, wie sie heute unsere Technik bei sich einführen; 
von je her haben sie das beste auf jedem Gebiete schnell und sicher 
erkannt und sich nach Möglichkeit zunutze gemacht. Aber assimi- 
lieren kann sich der Mensch doch nur das, was seinem eigenen 
Naturelle gemäß ist, und das tat im Falle des Japaners die in- 
dische Mystik nie; nur das Emotionelle und das Praktische der 
Mahäyäna-Religion sind in Japan zu Lebenskräften geworden. 
Alle spezifisch japanischen Sekten des Buddhismus sind wesent- 
lich unphilosophisch, und die unter den geistlichen Herren von 
heute, die sich mit dem spekulativen Elemente in ihm befassen, 
tun es als reine Gelehrte; das Lebendige in ihm verstehen sie 
nicht. 
Japanische und europäische Religiosität ; die Zen-Sekte. 515 
Im übrigen aber sind die Japaner nicht wesentlich irreligiöser 
als wir, denen sie überhaupt viel ähnlicher sehen, als Chinesen 
und Indern. Die Gebildeten unter ihnen glauben in der Regel an 
keine bestimmte Religion, wie die meisten Europäer von heute 
auch, und hier wie dort sind die einfachen Leute köhlergläubig; 
beide werden, im Gegensatz zu den Indern, meist zu Agnostikern, 
sobald ihr Denken sich emanzipiert, weil ihnen der Weg zu Gott 
durch die Erkenntnis hindurch noch nicht gangbar ist und das 
Denken die Unmittelbarkeit des Erlebens zunächst beeinträchtigt; 
ganz gleich den japanischen, haben auch unsere religiösen Führer 
fast ausnahmslos zu den Typen des Emotiven und des Praktikers 
gehört, und waren mittelmäßige Denker und Erkenner. Nur tritt 
das für beide Welten Typische in Japan extremer in die Er- 
scheinung. Vielleicht nur einmal, in der Gestalt des Heiligen 
Franz, hat der Bhakta bei uns eine vollendete Verkörperung er- 
fahren; unter Japanern unzählige Male; ihr zartsinniges, weib- 
lich nuanciertes Empfindungsleben bot der Liebe eine einzig- 
artige Verkörperungsmöglichkeit. Und selten waren unsere reli- 
giösen Führer so extreme Praktiker, wie nicht wenige unter den- 
jenigen Japans. Mir ist heute das Glück zuteil geworden, mit dem 
bedeutendsten Vertreter dieser letzten Gattung bekannt zu werden, 
dem Abte Soyen Shaku von Kamakura, dem Haupte eines Zweiges der 
Zen-Sekte. 1 ) Die Zen-Sekte ist die philosophischeste des höheren 
Buddhismus; sie lehrt unmittelbares Versenken in Gott, unab- 
hängig von Bücherweisheit und Kult; ihre Theorie ist fast iden- 
tisch mit der Shankaras, ihre Praxis richtige Yoga-Praxis. Diese 
Lehre, von Bodhidharma in China eingeführt, war ursprünglich 
die reinst-indische von allen. Aber gerade weil sieVerinnerlichung 
und nichts anderes lehrt, hat sie bei verschieden beanlagten 
Nationen grundverschiedene Ergebnisse gezeitigt, wie denn Yoga 
immer die vorhandenen Anlagen potenziert. Ihre indischen Bekenner 
machte sie als Erkenner tief. In China bewirkte sie ein einzig- 
artiges Aufleben des Naturgefühls; die größten Meister der Land- 
schaftsmalerei waren Adepten der Zen-Methodik. In Japan ward 
sie zur Hauptschule des Heroismus. Die Japaner, denen Philo- 
sophie wenig sagt, haben früh erkannt, daß nichts die Seelenkräfte 
*) Seine von Suzuki unter dem Titel Sermons of a buddhist abbot in» 
Englische übertragenen und 1906 in Chicago bei der Open Court Publishing! 
Company erschienenen Predigten sind überaus lesenswert 
33* 
5 1 6 Meditation als Vorschule des Herrschens. 
mehr steigert und stählt, als solches Training; so gingen gerade 
die Krieger, die Samurais, besonders gern zu Zen-Mönchen in die 
Schule. Höjö Tokimune, der Held, der die Mongolen-Horden 
Kublai-Khans zurückschlug, pflegte Stunden in Meditation zu ver- 
bringen. Noch heute gilt gleiches: mehrere der ersten Männer des 
heutigen Japan sind Schüler Soyen Shakus gewesen. Ich besuchte 
ihn in seinem Tempel zu Kamakura. Nie habe ich den Eindruck 
solcher Innerlichkeit gehabt, gepaart mit gleich martialischer Tat- 
kraft; dieser zartgebaute Mönch ist eine durch und durch mili- 
tärische Erscheinung. Wie muß er die Truppen begeistert haben, 
die er durch die Mandschurei hindurch begleitete! — Die Art, wie 
er das Meditieren lehrt, ist hart. Die Schüler sitzen in einem 
großen leeren Raum in Buddhastellung beisammen; dazwischen 
promeniert der Abt, einen Stock in der Hand, und schläft einer 
ein, so setzt es Schläge; ermüdet einer, so darf er nicht etwa vor 
Ablauf der Stunde rasten, sondern nur ein paar Male mit erhobenen 
und gefalteten Händen ernst und schweigend in die Runde gehen. 
Nachher aber stellt der Lehrer in erbarmungslosem Kreuzverhör 
fest, ob der Schüler sein Thema wirklich gemeistert hat. — Ich 
sprach mit dem ehrwürdigen Abt über den Sinn dieses Übens. 
Er ist ein philosophischer Kopf, der die geistige Bedeutung der 
Zen-Lehre voll versteht. Aber seine Gesinnung ist die eines 
Praktikers. Nicht das sei das Ziel, im Lichte zu verharren, sondern 
im Streben nach ihm seine Kräfte so zu stählen, daß sie allen 
idealen Aufgaben dieses Lebens gewachsen würden. — Wie 
„westlich' ist der Geist, der aus ihm sprach! Ich denke an den 
amerikanischen New thought: nicht viel anders faßt dieser das 
Christentum auf, wie Soyen Shaku die Lehre Sakyamunis. Und 
dann gedenke ich lächelnd-resigniert der Relativität des Wertes 
aller Begriffsbildung .... 
Gestern, meinem vorletzten Tage auf japanischem Boden, 
hielt ich den Professoren und Studenten der philoso- 
phischen Fakultät einen Vortrag über meine Erfahrungen 
in der indischen Yoga und über die lebendige Bedeutung dieser 
Kunst. Die Fragestellung kam meinen Zuhörern befremdlich vor; 
anscheinend war es ihnen bisher nicht eingefallen, die Weisheit 
der Alten nicht bloß textkritisch, von außen her, sondern von 
Nur Ungewohntes regt an; der Segen der Nicht-Uniformität. 517 
innen her zu studieren. Aber was einer der Herren mir erwiderte, 
war sehr beachtenswert: sie (die Japaner) wären an die buddhisti- 
schen Grundvorstellungen dermaßen gewöhnt, daß sie unwillkürlich 
über dieselben hinwegläsen. Genau so, in der Tat, geht es vielen 
unter uns mit den christlichen, und das ist gewiß ein wichtiges 
Motiv des Interesses, das Europa jüngst den Religionen des Ostens 
entgegenbringt. Es ist das Christentum überdrüssig geworden, 
wie solches irgendeinmal allem Vertrauten gegenüber geschieht, 
vermag seine Tiefen nicht mehr zu würdigen. Nur das Nicht- 
Gewohnte wirkt anregend; es löst lebendigere Schwingungen aus 
selbst dann, wenn die Gleichsinnigkeit des Neuen mit Gewohntem 
zutage liegt, welche Wirkung sogar bestehen bleibt, wenn unver- 
züglich (wie überaus häufig geschieht) daran gegangen wird, ge- 
wohnte Vorstellungen in das Ungewohnte hineinzudeuten. So finden 
die japanischen Gelehrten mehr Anregung am Christentum als am 
Buddhismus und überschätzen jenes dementsprechend, während wir 
heute zum entgegengesetzten Fehler hinneigen. Aber bedeutet dies 
einen Einwand gegen das Interesse am Fremden? Freilich nicht; 
am wenigsten im Fall der Religion. Hier kommt es auf Reali- 
sieren an, auf das allein, und wenn eine fremde Form hierzu 
bessere Dienste leistet als die ererbte, so ist sie selbstverständlich 
zu übernehmen. Meist bedeutet dies Übernehmen ja doch nur 
einen Umweg zum Alten zurück, wie denn im Westen schon heute 
ersichtlich ist, daß die Begeisterung für Indien letzthin dem 
Christentum zugute kommt. (Keine seiner jüngsten und tief- 
sinnigsten Auffassungen wäre möglich gewesen ohne noch so un- 
bewußte Beeinflussung durch den Geist der indischen Philo- 
sophie.) Im übrigen aber beweist dies Phänomen einmal mehr 
denn Segen der Nicht-Einförmigkeit. Der Mensch bedarf eines 
Fremden, das er überschätzen mag, um seiner Eigenart nicht satt 
zu werden, sie lebendig zu erhalten und am Erstarren zu ver- 
hindern, und dieses Wechselspiel bedingt im Großen die Harmonie. 
Könnten Dichter gedeihen, wenn sie zu Helden nicht aufschauten? 
und Staatsmänner, wenn sie jene nicht überschätzten? wären die 
Deutschen, was sie sind, die universellst gebildete Nation, ohne 
ihren (heute freilich überwundenen!) Fehler, das Fremde dem 
Eigenen vorzuziehen? Gerade der, dem es um Zusammenarbeiten 
zu tun ist, hat am wenigsten Ursache, dem Wahnideal der Unifor- 
mierung anzuhangen, denn eine lebendige Harmonie ist nur mög- 
5 1 8 Indische und christliche Yoga; das Prinzip der Einmaligkeit. 
lieh in der Bewegtheit von Satz und Gegensatz. — Mir wurde, um 
auf meinen Vortrag zurückzukommen, nach dessen Abschluß ein- 
gewandt, daß ich die Belehrung, die mir die Brahmanen gaben, 
auch von den christlichen Mystikern hätte erfahren können. Darin 
irrten sich nun freilich die Herren. Wie wahr es im allgemeinen 
auch sei, daß das Fremdartige als solches stimulierend wirkt, wie 
häufig es vorkommen mag, daß der Vorliebe für das Indische kein 
tieferes Motiv zugrunde liegt — die christliche Yoga hat nicht 
die gleiche Bedeutung für uns Moderne wie die indische; und 
zwar weil jene ausschließlich mit der subjektiv-emotionalen Sphäre 
operiert, und durch das Gefühl keine Erkenntnis zu gewinnen ist. 
Wer sich in Inbrunst nach der Mutter Gottes sehnt, wird sie ein- 
mal vielleicht zu sehen bekommen — aber nie wird sich fest- 
stellen lassen, ob das Gesicht einer objektiven Wirklichkeit ent- 
spricht. Das Wunderbare an der indischen Yoga nun ist die voll- 
endete Rationalität ihrer Methodik. Wohl wissen wir noch nicht, 
ob sie mit Sicherheit dahinführt, wohin sie führen soll, und ob 
die Erscheinungen, die mit ihr zusammenhängen, richtig erkannt und 
gedeutet sind; aber in allen Fällen besteht die prinzipielle Mög- 
lichkeit, die Exaktheit der Behauptungen an der Hand der Lehre 
selbst zu prüfen. Dies sichert den indischen Lehren zur Selbstver- 
vollkommnung gegenüber den gleichsinnigen christlichen den 
größeren Wert. Die heutige Menschheit ist schon so sehr intellek- 
tualisiert, daß nur mehr Verstandenes Aussicht hat, ihr Innerstes 
zu ergreifen; und die Inder allein haben verstanden, was aller 
tiefen Menschen einige Erfahrung war. 
Wir Europäer sehen dies mehr und mehr ein. Werden die Völker 
des Ostens, sofern sie ihrem Erbe untreu wurden, Gleiches tun? — 
Vielleicht nicht; denn das scheinbar bloße Abwechselungsbedürfnis, 
welches unserer Indomanie und der japanischen Christomanie zu- 
grunde liegt, beruht seinerseits auf einem Tieferen: dem Gesetz, 
nach dem eine bestimmte Gestaltung einem gleichen Volk nie zwei- 
mal zum Gefäß des Höchsten wird. Die griechische Kunst ist 
noch heute der Welt ein geistiger Sauerteig, aber nicht Griechen 
sind es, die sie fortpflegen; das gleiche gilt von der Formenwelt 
der Renaissance, der byzantinischen und buddhistischen Kunst; 
eben das von Denk- und Glaubensformen. Auch hier gilt jenes 
Prinzip der Einmaligkeit, welches alles Leben regiert: jedes be- 
stimmte Wesen als solches muß sterben, und sein Unsterbliches 
Verjüngungsstreben dieser Zeit. 519 
beharrt allein in fortwährender Neuverkörperung. So viel ist jeden- 
falls gewiß, daß unsere Orientalisierung, und die Okzidentali- 
rung des Orients, welche heute im weitesten Sinne vor sich gehen, 
ein viel Tieferes bedeuten, als bisher erkannt worden ist; sie be- 
deuten jene Erneuerung der Ausdrucksmittel, die allein Verjüngung 
möglich macht. Daß aber ein allgemeines Verjüngungsbedürfnis 
vorliegt, beweist, daß die Welt tatsächlich wieder neu wird; eine 
Zeit, die bloß fortsetzt oder abschließt, kennt kein Erneuerungs- 
streben. Weder Buddhisten noch Christen in ihren historischen 
Formen stellen Schlußstadien dar, Niedagewesenes will entstehen 
und sucht krampfhaft, gleich der zum Erdenleben wiederkehrenden 
Seele, nach passenden Eltern. Offenbar stehen wir am Eingang 
einer ähnlichen Epoche, wie sie die ersten Jahrhunderte nach 
Christo bezeichneten. Auch damals fand allseitige Wechselwirkung 
statt, auch damals vermählten sich Ost und West und wie damals 
so wird auch diesmal der Erfolg eine Erweiterung der Lebensbasis 
sein. Denn wenn die Gestaltungen, die aus der Verschmelzung her- 
vorgingen, an sich noch so ausschließlich waren — Christentum 
sowohl als Buddhismus sind, was sie sind, nur als Erben alles 
des, was ihnen vorausging. 
Allein die verschiedenen Entelechien an sich werden ewig 
verschieden bleiben; die jeweiligen Gründe von Ost und West 
sind unvertauschbar, unübernehmbar; 1 ) assimilieren wir uns das 
Wissen jener, so bedeutet das nicht, daß wir uns seine Seele an- 
eignen, sondern daß wir unserer eigenen neue Organe schaffen, 
und gleiches gilt mutatis mutandis für den Orient. Betrachten wir 
das Problem der Beeinflussung, wie solche zu kritischen Zeiten 
stattfindet, hinsichtlich dessen, was sie für eine gegebene Seele 
bedeutet, so gilt der Satz: fern davon, Wesensveränderung zu 
bedeuten, stellt Übernahme des Fremden vielmehr den zu gewissen 
Perioden kürzesten Weg zur Selbstverwirklichung dar. Wir wären 
nie zu „Westländern" geworden, wenn die Germanen nicht einst 
einen syrischen Glauben übernommen hätten; wir werden uns auf 
unserer Bahn vollenden erst nach Befruchtung und Verjüngung 
durch den indisch-chinesischen Geist. Hoffentlich liegen die Dinge 
in Japan ebenso. Die Regeneration, die der fremde Einfluß auf die 
Dauer bewirkt, wird unabwendbar durch eine Periode scheinbaren 
*) Man vergleiche hiezu meine Rede Ober die innere Beziehung zwischen 
den Kultur problemen des Orients und Okzidents, Jena 1913, Eugen Diederichs. 
520 Symbolische Bedeutung der japanischen Unzulänglichkeit. 
Niedergangs eingeleitet; so wird es wohl noch ein Weilchen dauern, 
bis daß die Japaner mit unseren Mitteln selbständig schaffen wer- 
den: heute wirken sie noch unlebendiger als wir. Auch wir sind 
ja noch Sklaven unserer Erkenntniswerkzeuge. Die spezifisch- 
europäische Yoga (die Beobachtung der Außenwelt) hat zur Er- 
schaffung eines ungeheueren Apparats geführt, den zu beherrschen 
es einer gleichwertigen Innerlichkeit bedürfte; und diese fehlt auch 
uns noch eben deshalb, weil unser Streben bisher nach auswärts 
gerichtet war; auch wir werden, Goethes Zauberlehrling gleich, 
von den Geistern geknechtet, die wir erschufen. Daß nun unsere 
Gebrechen bei den Japanern noch deutlicher zutage treten, ist nur 
natürlich. Früh oder spät, und wahrscheinlich schneller als man 
denkt, werden auch sie sich, auf ihre Weise, von Knechten zu 
Herren hinaufarbeiten. 
Für uns nun aber ist gerade die Unzulänglichkeit der Japaner 
auf unserem Wege interessant; sie ist vielleicht bedeutsamer für 
die Menschheit überhaupt, als ihre größten Triumphe wären: 
sie illustriert mit unvergleichlicher Deutlichkeit das Haupt- und 
Grundgebrechen der Zivilisation, welche heute die Welt erobert. 
In der Tat, die Enthusiasten des Fortschritts zielen auf eben das, 
was den modernen Japaner entwertet, als auf einen Idealzustand 
hin. Was sie überwinden wollen, ist nicht ihre Roheit sondern 
ihre Menschheit, den ererbten Glauben, daß kein irdischer Gewinn 
der Seele Schaden aufhebt, wonach sie streben, ist jenes Dasein 
rein-instrumentalen Charakters, das der verwestlichte Ostasiate ver- 
körpert. Dieser steht heute ohne jeden kulturellen Ballast da; er 
sieht in seinem Menschen nur ein Mittel, um reich und mächtig 
zu werden, glaubt schlechterdings nur an den Erfolg. Und hat 
vollkommen recht damit, sofern seiner „Weltanschauung" überhaupt 
Berechtigung zugestanden wird, denn von allen Menschen, die es 
je gegeben, hat er bei weitem die schnellste Karriere gemacht. 
Dank absoluter Hingabe an das rein-Äußerliche hat er in einigen 
dreißig Jahren vollendet, wozu das idealbeschwertere Europa Jahr- 
hunderte benötigt hat: also liegt es in der Natur dieser Zivilisation, 
dem Seelenlosen am holdesten zu sein. 
VII. 
NACH DER NEUEN WELT. 
Selbstüberschätzung des Menschen. 523 
AUF DEM STILLEN OZEAN. 
Langsam gleitet das Schiff in jenes Weltmeer hinaus, über 
welches der Mensch nicht größere Macht besitzt als der 
Delphin. Wie wonnevoll, seine Sonderstellung vergessen zu 
dürfen! wie sehr erweitert es die Basis des Erlebens! Nie habe 
ich länger in Kulturzentren geweilt, ohne daß zuletzt ein Gefühl 
des Widerwillens von mir Besitz ergriff: nicht gegen die Kultur 
als im Gegensatz zur Natur, sondern gegen das Menschliche. 
Allerdings hat der Mensch allerlei für sich anzuführen, aber wozu 
dabei verweilen? was bedeuten die Vorzüge einer Tierart im 
Zusammenhang der Welt? Man lacht gern über den Gelehrten, 
dessen Lebensinteresse sich in der Ameise erschöpft; ich finde 
den einseitigen Kulturforscher genau so lächerlich. Sintemalen man 
Mensch ist, muß man wohl oder übel, seine Menschenbestimmung 
erfüllen: Kinder zeugen, Vieh züchten, Staaten lenken, Bücher 
schreiben, je nach dem; genau im selben Sinne, wie man Tannen- 
nadeln zusammenzutragen hätte, wenn man als Ameise zur Welt 
gekommen wäre. Aber überdies sein freies Interesse im Menschen- 
tum aufgehen lassen — das ist zu viel. 
Die andauernde Selbstüberhebung zumal des weißen Men- 
schen ruft in mir, als Reaktion, die Neigung wach, ihn über Ge- 
bühr gering zu schätzen. Der Asiate nun überschätzt sich nicht an- 
nähernd so sehr, wie jener; in Indien habe ich auch gar keinen 
Widerwillen gegen den Menschen gespürt. Aber in Indien hat 
er seine Spezifität der Erscheinung kaum aufgeprägt; dort heben 
sich die Menschen von der übrigen Schöpfung nicht anders ab, 
wie eine Tierart sich von der anderen abhebt. In Japan dominiert 
ihre Eigenart; zwar nicht entfernt so unangenehm-aufdringlich, 
t24 Glück der Einsamkeit ; das Ich als Meer. 
wie bei uns, aber doch. Drum freue ich mich, so lieb ich Japan 
gewann, daß die Stunde der Abfahrt gekommen ist. 
Schon sinken die Höhenzüge unter den Horizont hinab. Die 
Möven, die uns begleiteten, kehren um. Noch eine kurze Stunde, 
und die letzte Erinnerung an das Festland wird verschwommen sein. 
Das ist das Weltmeer. Seit Tagen kein Dampfer, kein Segler; 
vor Tagen werden wir keinem begegnen. Ich verbringe 
die längste Zeit am Bug, um mich von meiner mensch- 
lichen Umgebung möglichst loszulösen. Immer wieder stelle ich 
mir vor, wo ich bin, was der Ozean bedeutet; wie hier, nur hier, 
das Leben vom Silur ab ununterbrochen fortgedauert hat. Und 
immer mehr fängt mich der Zauber des Unermeßlichen. 
Ich fühle mich sehr, sehr glücklich. Das ist, weil ich voll- 
kommen einsam bin und nichts mich hindert, alle Grenzen 
und Schranken zu verleugnen. Wie kann man sich nur vereinzelt 
fühlen, solange man einsam ist? Vereinzelungsbewußtsein ist ja 
gerade das Ergebnis von Zusammensein. Nur wo man sich zu 
mehreren befindet, wird man an seinen Grenzen festgehalten, 
erbarmungslos auf diese zurückverwiesen. Ist man allein, so 
schwindet alle Einzelheit. Dann entschwingt sich das Bewußtsein 
der Person. Dann kehrt keine Richtung in sich selbst zurück. 
Dann wird man weit wie die Welt. 
Und wenn ich nun, anstatt auf zielbewußtem Dampfer, auf 
steuerloser Planke triebe — würde mir da nicht anders zumute 
sein? Wohl kaum, so lange der Körper nicht gar zu vernehmlich 
spräche und seine Not der Seele aufdrängte. Denn was für ein 
Unterschied besteht, vom Geiste her betrachtet, zwischen dem 
Ozean und jenem Ich, auf dem ich zeitlebens getrieben bin? Die 
Menschen vergleichen ihr Leben gern mit einem Schiff, das vom 
Ich gesteuert, im Strom des Geschehens dahin schwimmt: ich 
kann dieses Bild nicht gegenständlich finden. Mein Ich ist schon 
Meer genug; mein Ich ist das Meer im Sinn des üblichen Gleich- 
nisses; je nachdem, welchen Kurs ich darauf einhalte, gestaltet 
sich mein sichtbares Leben. Über meine Vorstellungen und Gefühle 
bin ich ursprünglich nicht Herr — die kommen und gehen, nach un- 
übersichtlichem Naturgesetz; mein Wille ist eine unpersönliche 
Macht, mein Intellekt desgleichen; und mein Bewußtsein ist ein 
Jedem ein bestimmtes Quantum Schuld zugemessen. 525 
weites Reich, dessen Grenzen ich nicht kenne, kaum ahne. Mir 
ist wirklich innerhalb meiner selbst wie auf dem Meer zumut. 
Unentwegt muß ich zwischen meinen Trieben hindurchsteuern, das 
Ziel fest im Auge, sonst könnte ich Schiffbruch leiden. Meine 
Person ist Außenwelt in bezug auf mein Subjekt; ich bin sie nicht, 
ich bewege mich bloß in ihr. Und habe ich einen inneren Fort- 
schritt gemacht, so bedeutet dies, daß ich auf dem Meere weiter- 
gekommen bin; der frühere Ort steht da in der Erinnerung. Der 
Mensch durchreiset seinen Körper; die Materie wechselt, nur die 
Richtung beharrt. Er durchpilgert gleichermaßen seine Seele. Je 
mehr er aufnimmt, erlebt, erfährt, desto besser kennt er sich. Am 
Ziel ist, wer das Reich seiner Seele so kennt und beherrscht, wie 
der Wiking das Meer. 
Gestern habe ich gar seltsamen fliegenden Fischen zugeschaut, 
die erschreckt aus dem Kielwasser aufstoben. Ähnliche Erschei- 
nungen produziert meine Psyche auch. Auch in meinem Bewußt- 
sein schnellen gelegentlich Einfälle empor, die im Unterbewußten 
wahrscheinlich zu Hause sind, mir selbst aber überraschend 
kommen; und auch in mir leben Wesenheiten, die Rochen und 
Haifischen ahnein. Ich weiß es wohl: die gefährlichen Elemente, 
die früher so oft von mir Besitz ergriffen, jetzt aber kaum je mehr 
in die Erscheinung treten, es sei denn, ich lasse mich im Traume 
gehen, sind nicht gestorben; ich begegne ihnen bloß nicht mehr. 
Jeder totgeglaubte Dämon würde im selben Augenblick mit un- 
verminderter Kraft auf mich losstürzen, wo ich ahnungslos seinen 
Wechsel beträte. Weiß ich freilich, wohin ich mich wage, dann 
brauche ich die Dämonen nicht zu scheuen. An sich sind sie über- 
aus sehenswert. Man muß sie nur kennen, dann kann man mit 
ihnen sogar spielen. 
Nicht ohne Befriedigung denke ich an die Fehltritte zurück, 
die ich mir in meinem Leben habe zuschulden kommen lassen: 
hätte ich sie damals nicht begangen, ich stünde heute als ein 
Schlechterer da. Auch das kann ich nicht im Tiefsten bedauern, 
daß anderen durch sie Schmerz widerfuhr. Ein bestimmtes Quan- 
tum Schuld ist jedem von vornherein zugemessen, der ernsthaft 
nach Vollendung strebt; das soll er auch von vornherein auf sich 
nehmen. Damit tut er, metaphysisch verstanden, eben das, was 
Jesus im Sinne der Geschichte leisten wollte, als er die Sünde der 
ganzen Menschheit auf seine Schultern nahm. — 
526 Wer bin ich? das Unsterblichkeitsproblem. 
In der Tat, wer bin ich? — Wieder klingen die alten Probleme 
an; nur dieses Mal undeutlicher, unbestimmter als sonst, als 
würden die geistigen Schwingungen von den Schwellungen des 
Weltmeers gedämpft. — Vom Phänomen her gesehen, bin ich die 
Vorstellung, die mich jeweilig beherrscht. In metaphysischem 
Sinne existiere ich, Hermann Keyserling, wohl überhaupt nicht. 
Es gibt nichts Konkretes in mir, daß nicht in mir entstanden 
wäre und vergänge, nichts, dem sich nicht entwachsen, das sich 
nicht ändern ließe, mit dem ich mein Ewiges identifizieren könnte. 
Alle und jede Erscheinung ist „Natur", vom Charakter bis zur 
Stimmung des Augenblicks; was ich als „mich" betrachte, ist 
der Fluß meiner Vorstellungen, wie er sich darstellt in einem 
gegebenen Augenblick. Diese Vorstellungen nun sind bald 
inneren, bald äußeren Ursprungs, und welche von ihnen zum 
Träger meines beharrlichen Ichbewußtseins wird, hängt nicht 
von ihrer Herkunft ab,- sondern davon, mit welcher Intensität 
ich sie verkörpere; die Verkörperung ist das ausschlaggebende 
Moment. Darnach bestände, vom Atman her gesehen, zwischen der 
Originalität des Genies und dem Gehorsam des Kindes kein 
Unterschied. Nun ist aber keine Verkörperung dauerhaft; das 
einzig Beständige ist die Richtung, welche die Serie der Inkar- 
nationen einhält. Diese allein also wäre schlechthin inneren Ur- 
sprungs, könnte allenfalls als das „Selbst" gelten; oder dieses 
Selbst wäre das, was eine Wandlung in bestimmter Richtung 
bedingt. Allein mit dieser Auffassung sind die Verständnis- 
schwierigkeiten nicht gehoben. Gesetzt, ich wäre die Richtung 
oder das richtunggebende Moment: dieses Selbst ist dann jeden- 
falls nichts Persönliches; gleichviel, ob es im letzten Grunde 
eine Ansicht des Alleins oder eine selbständige Monade sei — 
hierüber sind alle Auseinandersetzungen müßig — es ist nicht 
das, was irgendein Mensch als „Ich" empfinden könnte. Hier 
setzen denn die Schwierigkeiten des Unsterblichkeitsgedankens 
ein. Das Problem der Fortdauer ist natürlich ein phänomenolo- 
gisches, kein metaphysisches Problem, aber gerade als solches 
spottet es jeder begreifbaren Lösung, weil das, was als persön- 
liches Ich empfunden wird, der Knotenpunkt unendlich vieler 
Tendenzen ist, von denen das Selbst nur eine bezeichnet, und ge- 
rade die unter ihnen, die am meisten persönlich betont erscheinen, 
Mögliche Wiederverkörperung ; Fortdauer nicht unvermeidlich. 527 
so die Meinungen, Gefühle, Gedanken und Willensentschlüsse, 
nachweislich nicht ins Unendliche auslaufen. Am einfachsten läge 
die Frage, wenn ich mich als meine Aufgabe oder mein Ideal 
oder meinen Weg zu ihm betrachten dürfte: in dem Falle lebte 
ich buchstäblich fort in der fortschreitenden Wirkung meiner 
Ideen; in dem Falle fiele die Unsterblichkeit Jesu z. B. mit der 
Entwicklung des Christentums zusammen. Heute liegt mir diese 
Auffassung näher als jede andere. ^Seit meiner frühesten Kindheit 
diene ich einem Ideal, das ich zwar anfangs nicht bewußt 
erkannt hatte, das aber doch damals schon meinem Lehen 
die Richtung gab; von Anbeginn an habe ich das intime Bewußt- 
sein des Sollens gehabt (das sich im Einzelfalle als ein solches 
des „Dürfens" oder „Nichtdürfens" äußerte), und dieses Bewußt- 
sein dominiert so sehr, daß ich noch heute, obgleich sonst durch- 
setzerisch genug und ohne jede Neigung zur Aufopferung, meine 
Person unbedenklich hingeben würde, wenn ich einem begegnete, 
als dessen Diener oder Werkzeug ich die Aufgabe glaubte besser 
fördern zu können. Meine Aufgabe also wäre mein eigentliches 
Ich; als die Wirkung, welche die gelöste Aufgabe ihrerseits aus- 
löst, würde ich nach meinem Tode fortdauern. Im Falle ich nun 
meine Aufgabe nicht ganz erfüllen und mich folglich in meiner 
Wirkung nicht erschöpfen könnte, wäre das Eintreten einer 
weiteren Fortlebensmöglichkeit denkbar: mein persönliches Be- 
wußtsein fiele mit der gleichen Aufgabe ein zweites Mal zu- 
sammen. Daß es keine solche Wiederverkörperung gibt, kann nie- 
mals bewiesen werden, da der Nächste, der die gleiche Aufgabe 
antritt, wiederum als „Ich" empfände, und also die Form sowohl 
als der wesentliche Inhalt des Bewußtseins in beiden Fällen 
identisch wären — wenn es auch ebenso wenig zu beweisen ist r 
daß sie tatsächlich stattfindet. Mir persönlich liegt, wie gesagt, 
keine Auffassung heute näher als die, daß eine objektiv wirkliche 
Idee durch verschiedene Verkörperungen hindurchschreitet; daß 
der Mensch genau so unsterblich ist wie sein Ideal und genau so 
wirklich wie die Kraft, mit der er ihm dient; ich kann nicht 
glauben, daß Fortdauer unvermeidlich sei. Die Meisten sind 
nach dem Tode wirklich tot, d. h. sie sind keine Bewußtseins- 
träger mehr, gleichviel ob sie objektiv fortexistieren; nur wenige 
überdauern eine begrenzte Geschichtsperiode. Ersteht aber einer» 
der eine grundlegende Weltidee in seiner Person zu verkörpern 
528 Das Weltmeer regt buddhistische Gedanken an; der Albatros. 
weiß, wie dies Buddha und Christus vermocht haben, dann lebt 
er persönlich fort in alle Ewigkeit. 
Das sind „indoide" Gedanken. Nichts ist charakteristischer 
für eine Weltanschauung, als welchen physischen Hintergrund sie 
fordert, hervorruft oder verträgt. Ich wollte hier auf dem Ozean 
mit der Lektüre der Bibel beginnen, um auf diese Weise auch 
geistig nach dem Okzident zurückzuschwenken ; allein aus diesem 
Plan ist nichts geworden und wird nichts werden, solange mir das 
Weltmeer gegenwärtig ist. Gegen diese Weite gehalten, wirkt die 
Zuspitzung, die das Bewußtsein im Christentum erfahren hat, als 
Beschränkung, die das ganze Ambiente Lügen straft. Ich habe es 
schon ausgesprochen und wiederhole es hier, daß vom Standpunkte 
des Handelnden, Schaffenden das Christentum tiefer als der Bud- 
dhismus ist, weil jene Lehre den Handelnden tiefer macht; die 
Gottheit ist auch so zu finden, daß man die Erscheinung zur 
äußersten Vollendung zu bringen trachtet, ja für jeden Nicht- 
Kontemplativen ist dies der kürzeste Weg zu Gott. Wer nun auf 
Leistung bedacht ist, der muß auch auf sich halten, der muß sich 
sogar überschätzen, da sonst die Tatkraft erlahmt; daher ist es 
kaum zu vermeiden, daß sich der Karma-Yogi als Individuum über- 
schätzt und mißversteht. . . . Aber auf dem Ozean ist die Stim- 
mung des Handelnden nicht lebensfähig; dort zentriert sich das 
Bewußtsein unwillkürlich im All, wie der Tropfen im Meer, allen 
Eigenwillen verleugnend. Nicht so zwar, daß es sich über alle Er- 
scheinung hinausschwingt, sondern so, daß es nur bei den ganz 
großen phänomenalen Zusammenhängen verweilen mag. So ent- 
stehen auf dem Weltmeer unwillkürlich buddhistische Gedanken- 
gänge: denn keiner hat den Zusammenhang der Erscheinungen 
tiefer erfaßt und eindrucksvoller dargestellt, als der Tathägata. 
"K "T icht satt sehen kann ich mich am Flug der Albatrosse, 
|\| deren uns nun schon sieben das Geleit geben. Manchmal 
-*■ ^ bleiben sie auf Stunden zurück, wohl um abseits belegene 
Jagdgründe abzusuchen oder ein wenig auf den Wellen einzunicken; 
dann sind sie auf einmal wieder da, als wäre der Dampfer indes 
überhaupt nicht weiter gekommen. Und wie sie segeln! Dieser 
Gleitflug scheint mir die Vollkommenheit selbst zu sein. Sind sie 
einmal im Schwung, wird nie mehr eine Ruderbewegung vollführt: 
Fähigkeiten der Tiere; der Albatros als Ideal. 529 
durch bloßes Ändern des Winkels, den ihre Schwingen mit dem 
Meeresspiegel bilden, durch rythmisches Sichheben und Sich- 
senken, durch kluges Benutzen der Luftströmungen erzielen sie, 
mit geringstem Kräfteverbrauch, eine Geschwindigkeit, der die 
Zeit nichts anzuhaben scheint. Wunderbar sieht es aus, wie diese 
lebendigen Segelschiffe kreuzen; am schönsten vielleicht, wenn 
eine scharfe Kurve beschrieben werden soll und der Vogel zu dem 
Zweck, sich überwerfend, einen Flügel tief ins Wasser taucht, um 
stärkeren Widerstand zu finden. 
Diese Hochseevögel gehören zu den bewundernswertesten 
Naturschöpfungen. Wesen, die, ohne Wassertiere zu sein, des 
Festlands nicht bedürfen; die auf den Wellen rasten, vom Wind 
getragen werden; denen die einförmige Weite des Weltmeers ein 
ebenso übersichtliches Gebiet ist, wie dem Städter der Bezirk, den 
er bewohnt. Ohne Zweifel sind sie mit Sinnen ausgerüstet, von 
denen wir keine Vorstellung besitzen. Die Grundtatsachen der 
Geographie sind ihnen irgendwie a priori bekannt; sie sind Meister 
der Meteorologie; unmittelbar empfinden sie die Entfernung, die 
sie jeweilig von fester Erde scheidet. Dabei sind sie für unsere 
Begriffe dumm. Ohne Sextant, ohne Verstand, ohne irgendeins 
der Werkzeuge, die dem Kulturmenschen zur Verfügung stehen, 
und vermutlich ohne deutliches Bewußtsein, weiß der Mbatros 
doch besser auf dem Meer Bescheid, als der erfahrenste Kapitän. 
Es wäre gut, wenn die Menschheit etwas zurückhaltender 
würde mit dem Herabsehen auf die Fähigkeiten des Tiers. Es 
gibt viele Arten, zur Welt in Beziehung zu stehen, und die 
unsere ist nicht in allen Hinsichten die beste. Jedes Wesen ist 
eingespannt in den Totalzusammenhang und besitzt in allge- 
meinen Umrissen die Eigenschaften, deren er zur Selbstbehauptung 
bedarf. Wo die Stellung nun eine sehr ungünstige ist, dort bedarf 
es der bedeutendsten Fähigkeiten. Die Amöbe ist in vielen Hin- 
sichten begabter als wir; der Wurm, welchem ständig Zerstücke- 
lung droht, regeneriert sich wie ein indischer Gott; wahrscheinlich 
kann der Mensch mancherlei, um das ihn die Götter beneiden. 
Absolute, unkompensierte Vorzüge sind in diesem Universum nicht 
nachzuweisen. So mag man im Albatros ein Ideal verehren, das 
•dem Menschen unerreichbarer ist, als der Zustand des Gottes. 
Keyserling, Reisetagebuch. 34 
530 Exzentrische Fische; Zweckmäßigkeit erklärt nicht alles. 
HONOLULU. 
Das Aquarium zu Honolulu gilt mit Recht als eins der 
Wunder dieser Welt. Dort gibt es Fische, so glänzend 
wie Juwelen, so seltsam umrissen, wie die Gebilde japa- 
nischer Groteskenzeichner, bunt und farbenfroh wie Schmetter- 
linge und Kolibris. Dort lebt im Wasser all' die gleißende Pracht, 
welche sonst nur das Luftreich bevölkert. 
Ich bemühe mich, den Sinn dieser Gestaltung zu durchdringen. 
Biologisch handelt es sich insofern um kein Sonderproblem, als 
die Farben nicht wirklich extravagant sind; vielfach tragen sie zur 
Deckung bei. Die tiefblauen, sammtglänzenden Fische mit den 
Vogelschnäbeln müssen in der Tiefe unsichtbar sein, gleicher- 
maßen wohl die gelben; die bunten jedoch, die sich im kahlen 
Glasbehälter dem Auge fast schmerzhaft aufdrängen, verlieren 
gewiß, gegen den Hintergrund der Korallen betrachtet, ihren 
auffälligen Charakter. Sodann bewegen sie sich mit äußerstem 
Geschick. Als Hauptmerkwürdigkeit der Sammlung gilt ein 
mondförmiger, zweidimensionaler, schwarzgelb gebänderter Fisch, 
dessen Rückenflosse sich zur Flagge verlängert. Diese ist so un- 
verhältnismäßig lang, daß sich ihr Träger nur schwerfällig be- 
wegen kann, denn der Wimpel wird zum Spiel jeder Strömung. 
Nun hält sich aber das schlaue Geschöpf grundsätzlich nur in 
Felstorwegen auf, und bewegt sich darin auf solche Weise, daß 
das Farbenspiel seiner Schuppen dem Glitzern des Glimmers 
gleicht, und die Flagge als Cölenteratenf angarm wirkt, dem jeder 
Räuber behutsam ausweicht. — Soviel liegt auf der Hand. Allein 
das Problem der lebendigen Gestaltung ist mit dem Hinweis auf 
ihre Zweckmäßigkeit nicht gelöst. Die Farben der hawaianischen 
Fische sind nicht von allen denkbaren die zweckmäßigsten — das 
aber müßten sie sein, wenn die Zweckmäßigkeit alles erklären 
sollte; sie bezeichnen durchaus keine Notwendigkeit, denn auch 
mit weniger Aufwand hätten Schutzfärbungen erzielt werden 
können; ja sicher wäre ein geringerer vorteilhafter gewesen, denn 
alle die aufgeputzten Wesen, die sich an keinen festen Stand- 
ort halten, die ihren Hintergrund häufig wechseln, sind in den 
Wassern des Pacific kaum weniger sichtbar und gefährdet, als es 
Phantastik in Natur und Kunst. 531 
der Hakengimpel in nordischer Schneelandschaft ist. Der Zweck- 
mäßigkeitscharakter definiert nur die Grenze nach unten zu; das 
heißt, kein Organismus ist so ausgestattet, daß er nicht fortkommen 
und sich fortpflanzen könnte. Aber wenn das Leben mancher unter 
ihnen nicht leichter ist, als das des Proletariers unter Menschen, 
sind andere wiederum unverhältnismäßig günstig gestellt. Ich 
kann mir die Farbenpracht der pacifischen Meeresfauna nur dahin 
deuten, daß die Natur nicht minder als der Mensch ihre Freude 
am Phantastischen hat. Indem ich diese Tiere auf mich einwirken 
lasse, ist mir, als spürte ich den gleichen Geist, der einen Gauguin 
und einen Robert Louis Stevenson beseelt hat. „Geist" ist ja in 
allem Lebendigen wirksam; bei den Pflanzen und Tieren besitzt 
er in der physischen Sphäre noch die Freiheit und Erfindungsgabe, 
die beim Menschen beinahe ganz auf die psychische beschränkt er- 
scheint. So entstehen jene Wunderwerke der Organisation, gegenüber 
welchen der Menschenleib so unbefriedigend wirkt, so erklärt 
sich die vollkommene Angepaßtheit der Tiere an ihre Umgebung, 
ihre Wandlungsfähigkeit, ihr Regenerationsvermögen; diese Er- 
scheinungen bedeuten in der physischen Sphäre eben das, wie Er- 
findungen und Kunstschöpfungen in der psychischen. Und wie der 
Mensch bald rein Praktisches schafft, bald wieder Praktisches, 
das gleichzeitig gefällt und auch Gefälliges als Selbstzweck, 
oszilliert auch die Natur zwischen den Polen des Nützlichen und 
des Erfreulichen und versagt es sich nicht, wo die allgemeinen 
Verhältnisse dies gestatten, der Phantasie ein wenig die Zügel 
schießen zu lassen. Aber um wie viel sicherer sind ihre In- 
stinkte! So phantastisch ihre Einfälle seien — nie setzt sie In- 
Sich-Unwahres, Lebensunfähiges, Sinnloses in die Welt, sie hat 
nichts Futuristisches; sie leidet auch nie an der Unart so vieler 
Künstler, es bei der Skizze bewenden zu lassen. Manche Fische 
erwecken wohl die Vorstellung, als verdankten sie mehr einer 
Laune des Augenblicks als einer wurzelhaften Idee ihren Ursprung, 
als seien es gleichsam Gelegenheitsgedichte; und das sind sie 
insofern wohl auch, als ihre sinnvolle Daseinsmöglichkeit an eine 
bestimmte Situation gebunden erscheint, wie der schwarzgelbe 
Flaggen fisch an enge Felsspalten. Aber als Ausdruck sind sie 
gleichwohl vollendet; nirgends hat die Ausführung versagt. 
Wieder einmal führen meine Betrachtungen zu einem ab- 
fälligen Urteil über das Menschentum. Natürlich verkörpern wir 
34* 
532 Der Mensch als Barbar gegenüber den Fischen der Sudsee. 
reichere Möglichkeiten als die Tiere, aber wie wenige haben 
wir bis heute in Wirklichkeitswerte umgesetzt! wir wirken als 
reine Barbaren den Fischen der Südsee gegenüber. Uns eignet 
die Gabe der Selbstbestimmung: wer nützt sie aus? Bei Benares 
sah ich einmal dem Heimtreiben einer Perlhuhnherde zu: der Hirt, 
einen Wedel in der Hand, fegte sie buchstäblich vor sich her, 
und genauer paßt sich kein Segel der wechselnden Windrichtung 
an, als seinen Capricen diese hundertköpfige Vogelschar. Sind wir 
Menschen irgendwie anders? Insofern vielleicht, daß uns nicht 
jeder führen kann; steht kein Berufener an unserer Spitze, dann 
tun wir selbständig genug. Aber auch die Perlhühner hätten nicht 
so gute Ordnung gehalten, wenn kein Mensch, sondern ein Hund 
hinter ihnen her gewesen wäre. Sobald der richtige Mann die 
Führerschaft übernimmt, verzichten neunundneunzig unter Hundert 
begeistert auf ihre Autonomie. . . . Wie kläglich überschätzt sich 
der Mensch! Die Dichter glauben ein Monopol darauf zu besitzen, 
dem Sint der Dinge Ausdruck zu verleihen: tatsächlich hat es vom 
Alterturr an bis zum heutigen Tag noch keine zehn gegeben, die 
einer beliebigen Rose hierin gleichgekommen wären. Wohl ließe 
sich in der Sphäre des Psychischen mehr erreichen, als in der 
schwerfälligeren, unbiegsameren Körperwelt, aber wird es erreicht? 
Nur zu selten. 
Doch ich kehre noch einmal zur Frage der Zweckmäßigkeit 
zurück. Es ist lehrreich, unter den seltsamen Wesen, die dieses 
Aquarium bevölkern, einer Gestalt zu begegnen, die nicht natur- 
gemäß wirkt. In einem der Glasbehälter sind japanische Zier- 
fische untergebracht. Die sind ebenso herangezüchtet worden, wie 
gefüllte Nelken; es sind Produkte der menschlichen Phantasie. 
Lieblich genug schauen sie aus in den schöngeschwungenen Vasen, 
in denen sie in Japan zur Schau gestellt werden, aber in eine 
weitere Umwelt passen sie nicht hinein. Ihre Schwänze taugen 
nicht mehr zum Steuern, sind zu kraftlosen Anhängseln aus- 
gewachsen; ihre Augen sind müde und übergroß, wie die von 
Schoßhündchen; die allzugerundeten Leiber können kaum mehr 
das Wasser zerteilen. Wie hilflos benehmen sich solche Wesen 
schon in einem Meer en miniature! die können nur durch Kunst 
erhalten werden; sich selbst überlassen, stürbe ihr Geschlecht in 
wenigen Wochen aus. Diese Anschauung macht einem recht deut- 
lich, was es mit dem Ideal der Naturgemäßheit für eine Bewandtnis 
Künstliche Tiere; ein Feuermeer. 533 
hat. Freilich sollen wir nicht „zurück" zur Natur, denn sie selbst 
bleibt ja nimmer stehen; aber wir sollen nur in solcher Richtung 
vorwärtsschreiten, die in keine Sackgasse ausläuft. Bei den Vor- 
fahren der japanischen Zierfische war Letzteres der Fall. 
AM KILAUEA-KRATER. 
Ein Schauspiel wie dieses mochte der Mond wohl bieten, 
bevor er erloschen war; auf Erden gibt es nichts Ähn- 
liches. Ein Vulkan, jedoch kein feuerspeiender Berg, son- 
dern ein Feuermeer; ein Meer, wie es manchmal im Norden 
tobt, wenn die Frühlingsstürme die Eisdecke zerschlagen haben. 
Ein wildes Gewoge, Geschäume, Gespritze, Gewirbel um die 
schmelzenden Schollen herum. Und die Lava rauscht und singt, 
als ob sie die See wäre. 
Bei Tage ist das Schauspiel nicht allzu eindrucksvoll; der 
Kessel ist weit, aber doch begrenzt, das Material wirkt so über- 
mächtig, daß man unwillkürlich an Hochöfen denkt und die 
aufgestörte Phantasie ihre Steigerung nicht dem Unendlichen zu, 
sondern nach der Richtung des Begrenzten hin vollendet. Aber 
seitdem die Sonne sank, wird das Bild von Stunde zu Stunde ge- 
waltiger. Der Kraterrand ist unsichtbar geworden; die Schlacken 
sind undurchsichtig; es scheint, als hebe das Feuer sich vom un- 
endlichen Welträume ab; man glaubt aus nächster Nähe dem Ge- 
siede der Sonne zuzusehen. Einen Augenblick wird mir unheimlich 
zumut: solches zu sehen, ist dem Menschen eigentlich versagt; 
ich sollte beim ersten Hinblicken verzehrt worden sein. Statt 
dessen liege ich ungefährdet am Rande des Feuerschlundes und 
sehe gemächlich, wie ein Gott, dem Beginn der Dinge zu. 
Jemand spricht von der Hölle. Dies ist ein Gleichnis, das 
mir hier nie in den Sinn käme. Der Vesuv mag es wohl herauf- 
beschwören, weil er einer reichen Welt des Lebens mit Verderben 
droht; dort symbolisiert das Feuer wirklich den Tod. Hier jedoch 
kann vom Tode nicht die Rede sein, weil Leben noch gar nicht vor- 
handen ist; hier wohnt man jenen Urereignissen bei, zu deren Zeit 
es noch keines gab. So empfindet man am Kilauea weder Entsetzen 
534 Das Feuer kein feindliches Element; die Krater göttin. 
noch Entzücken, keine menschliche Stimmung kann hier bestehen; 
mir ist zumute, wie dem Urgeist zumut gewesen sein mag, da er 
über den Wassern schwebte. Ich denke mir: wenn ich mich in dieses 
Feuer hinabstürzte, unmöglich könnte ich dadurch zu Schaden kom- 
men ; denn da ich hier zuschauen kann, so bin ich offenbar ein Geist. 
Dieses Feuer hat überhaupt nichts Feindliches; kein Urfeuer hat 
dieses an sich selbst. Wenn alle westliche Mythe das Vulkanische 
mit der Hölle assoziert und ihre häßlichsten Ausgeburten dem 
heiligsten der Elemente zugeteilt hat, so liegt das daran, daß 
deren Erfinder zum Vulkanischen nie in ein Verhältnis getreten 
waren; sie kannten es nicht. Wozu später die barbarisch-christ- 
liche Gepflogenheit trat, alle Natur nur als Mittel zum Zweck zu 
deuten, als Werkzeug zur Belohnung oder zur Bestrafung. Die 
Hawaianer haben hier besser gedichtet. Der Mythos des Kilauea 
lautet wie folgt: Pele, eine wunderschöne Maid, hat sich einst in 
das Feuermeer gestürzt, um einem häßlichen Freier zu entrinnen. 
Seitdem lebt sie darin als dessen Seele, zugleich als Schutzgöttin 
des ganzen Archipels. Nie bricht der Kilauea aus ohne triftigen 
Grund: in Weisheit lenkt Pele des Landes Geschicke. Sie hat 
Kamehameha auf den Thron gebracht, indem sie dessen Feinde 
im Schwefeldampf erstickte, und nie tut sie dem Schuldlosen ein 
Leid. Sie ist eine gütige Göttin; kommt je und je der Augenblick 
heran, wo sie aus inneren Gründen aufbrausen muß, dann warnt 
sie ihre Kinder beizeiten. Sogar den Weißen, die doch schlecht 
mit ihr umgehen und ihr mehr als einmal näher kamen, als Ehr- 
furcht erlaubt, ist noch nie durch sie ein Unglück widerfahren; 
mehr als einmal sind verwegene Steiger, die schon im Abstürzen 
begriffen waren, dem Tode doch noch entronnen, was ohne über- 
natürlichen Eingriff nie geschehen wäre. 
Der Anfang der Dinge bleibt ein Wunder. 535 
AUF DEM LAVAFELDE VOR DEM 
K1LAUEA. 
(Früh morgens). 
Jedesmal, wenn ein neuer Morgen anbricht, scheint mir, als 
hübe das Weltgeschehen von vorne an. Die Dämpfe und 
Nebel verwischen die Einzelgestaltung; die Grenzen zwischen 
den Dingen verschwimmen; und die große heilige Stille, betont, 
nicht gestört durch den Ruf eines einsamen Vogels, verbreitet über 
die Natur die Stimmung des Urbeginns. Noch nie aber habe ich 
so stark den Eindruck des Uranfangs gehabt, wie hier. Drüben in 
den Wolken spiegelt sich das Feuermeer; Feuer strahlt von der 
Sonne auf die Felsvorsprünge herüber; von der erstarrten, violett- 
farbenen Lava steigen zögernd gelbe Schwefeldämpfe auf. Und 
wie die Sonne ein wenig höher gestiegen ist, gewahre ich silberne 
Tropik-Vögel, gleich Geistern aus einer anderen, besseren Welt, 
über der weiten, dunklen Einöde kreisen. 
Primordial wirkt auch die Vegetation. Was hier fortkommt, 
sind nur Pflanzen, welche den Schwefel lieben; seltsame, flei- 
schige Gewächse von fahlen Farben, aber mit brennendroten 
Blüten geschmückt. Hie und da ein Riesenfarn, oder ein ver- 
krüppeltes Bäumchen von neuerem Muster, das offenbar zu früh 
zur Welt gekommen ist. Nicht viel anders mag es damals aus- 
gesehen haben, als die Erde zuerst zur Wohnstatt des Lebens 
ward. Wie mag dieses entstanden sein? Hierüber nachzusinnen, 
verlohnt sich nicht; es ist doch nicht auszudenken. Vielleicht ist 
die Darstellung der Genesis noch die gegenständlichste. Darüber 
kommen wir ja doch nicht hinaus, daß das Leben hier aufgetreten 
ist, sobald es möglich war, und dann gleich in mannigfaltiger 
Gestalt. Wie sehr lächerlich macht sich die Wissenschaft, in- 
dem sie das Wunder hinwegerklären will! Wäre es nicht noch 
viel wunderbarer, wenn Wagner von ungefähr einen Homunkulus 
zustandebrächte, als wenn die Weltschöpfung dem Bericht der 
Bibel gemäß verlaufen ist? wenn das wesentlich Zweckmäßige und 
Sinnvolle — das Leben — ein Ergebnis reinen Zufalls wäre? 
Wie es entstanden ist, das weiß in nicht. Auch Brahma weiß es 
nicht, wie die schöne indische Sage bezeugt. Und ich gestehe, daß 
536 Der Mythos als letztes Wort. 
es mich verdrießen würde, wenn der Hergang je plausibel ge- 
macht werden könnte. Ich liebe das Wunder, ich will es; wohl 
gerade deshalb, weil ich in so vielen Hinsichten ein Fanatiker der 
Exaktheit bin. Kant liebe ich vor allem deshalb, weil seine Grenz- 
bestimmung mittelbar das Dasein einer schlechterdings unbegreif- 
lichen Wirklichkeit erwiesen hat; denn mir ist es, wie allen 
ehrlichen Leuten, ganz unmöglich, mir eine Welt vorzustellen, 
die wesentlich anders wäre, als die menschliche, unmöglich, in 
concreto zu verstehen, was es heißt, daß Raumentfernungen z. B. 
nichts transient-Wirkliches seien. So bin ich auch, jedesmal, wo 
ich dessen gedenke, recht herzlich dankbar dafür, daß der Ur- 
beginn auf keine Weise erklärt werden kann, daß hier wenigstens 
der Mythos wohl für immer das letzte Wort behalten wird. Nun 
ist ein Mythos so wahrscheinlich wie der andere, sofern er nur 
in sich wahrscheinlich ist: warum sollte der Anfang nicht so ge- 
wesen sein, wie es das Grauen dieses Morgens war? — Lautlose 
Stille; Feuerschein; Wasser- und Schwefeldämpfe über dunkeler, 
erkaltender Flur. Und plötzlich, zum ersten Mal, und doch als 
könnte es nicht anders sein, tönte aus unbestimmter Ferne der 
Lockruf des ersten Vogels herüber. 
Ich versetze mich in jene Zeiten zurück, da ich als junger 
Geolog die Gebirge durchstreifte. Lange währten sie nicht; un- 
aufhaltsam zog es mich fort vom Gestein zum lebendigen Wort. 
Wie widerwillig leistete ich zuletzt die übernommenen Arbeiten! 
Heute hätte ich nicht übel Lust, zu meinem Ausgangspunkt 
zurückzukehren. Wie viel größer, hoheitsvoller, weiter ist selbst 
die tote Natur als alles Menschenwerk! Hier ist alles im Großen 
erschaffen worden, wird alles im Großen erhalten. Mir kommt 
das Wort Mohammeds in den Sinn: „Wahrlich, die . Erschaffung 
des Himmels und der Erde ist ein Größeres, als die Erschaffung 
des Menschen; aber die Meisten verstehen dies nicht." Ja, sicher 
bekommt es uns besser, uns in die Werke der Natur hinein- 
zuversetzen, als in die gewaltigsten des menschlichen Genies. 
Der Geolog, der die Alpen betrachtet, übersieht mit einem Blicke 
des Verständnisses Billionen ereignisvoller Jahre; er schaut förm- 
lich, im Spiegel des verdichtenden Augenblicks, wie die Berge 
geworden sind, wie eine Fauna die andere abgelöst, wie es schließ- 
lich zum Bilde von heute kam. So erlebt er im Geiste die Ur- 
aufführung der grandiosen Symphonie des Lebens: erst wurden 
Die Uraufführung der Lebenssymphonie. 537 
einige wenige Töne angeschlagen, dann fielen immer mehr, 
immer reichere, vollere Stimmen ein, es entstanden komplizierte 
Melodien, die wieder und wieder von anderen abgelöst wurden, 
nach einem zeitlichen Plan, der nur vom abgeschlossenen Ganzen 
her verständlich ist. Ihn befremdet nicht die scheinbare Antinomie 
von Simultaneität und Sukzession, von Veränderung und Beharr- 
lichkeit: in den unwandelbaren Typen ist der Kontrapunkt reali- 
siert, der alle Melodik innerlich beherrscht, ohne diese in ihrer 
Freiheit zu behindern. So bedeutet ihm das Schauspiel der Natur 
weit mehr, als dem empfänglichsten der Künstler. Wenn ich 
vor vielen Denkern einen Vorzug habe, so ist es der, daß ich 
Naturforscher im Großen gewesen bin. Philosophen studieren 
sonst wohl Griechisch, oder Sanskrit, oder vergleichende Literatur 
.... das ist gut, aber förderlicher scheint, sich in das Werden der 
Welten zu versenken. In den Gesetzen der vernunftlosen Kristall- 
bildung schlummert schon die ganze Musik; alle künstlerischen 
Ideen sind im Keimplasma symbolisch vorgebildet. Von der ersten 
Regung der Sehnsucht, dit das gestaltlose Chaos durchzitterte, 
führt eine ungebrochene Kette der Entwickelung bis zur Ilias und 
zum Parthenon. 
NACHTS AM KRATER. 
Heute Nacht halte ich Wache bei der Weltschöpfung. Über 
mir in der Unendlichkeit glitzern die Sterne; in unermeß- 
licher Ferne unter mir rauscht das Feuermeer — so fern, 
daß seine Grenzen ein Universum einschließen mögen. Ich ermüde 
nicht. Was sich da vor mir abspielt, ist mehr als das gewaltigste 
Schicksal. 
Seit Stunden schaue ich gespannt in den Krater hinab und 
suche mich in sein dynamisches Prinzip hineinzuversetzen. Im 
qualitativen Verstände ist die Aufgabe nicht schwer; die Kräfte, 
die hier ihr Spiel treiben, sind sämtlich in meinem Körper wirk- 
sam, ihre Gesetze sind auch meine Gesetze. Allein ihr Maß macht 
die Aufgabe dennoch unmöglich. Ein großes Quantum bedingt 
ein neues Quäle. Mag das Atom noch so sehr „an sich selbst" 
538 Die Weltschöpfung; Wahrscheinlichkeit der biblischen Darstellung. 
ein Sonnensystem sein — es besteht gleichwohl ein Unterschied 
zwischen ihm und dem Stern, dessen Bruchteil es bildet. Den 
Intensitätsgrad bekannter Kräfte nun, der im Wirken des Vulkans 
zum Ausdruck kommt, vermag ich nicht innerlich zu erleben; zu 
beschreiben, zu begreifen, zu erklären ist er leicht. Doch das meine 
ich nicht. 
Wieviel leichter wäre die Weltentstehung im Sinne irgend- 
einer Mythe zu erfassen! Jede, auch die kindlichste unter ihnen, 
ist menschlich wahrscheinlicher, als die Phänomenologie des 
Radiums, denn die Schöpfung aus dem Nichts durch den Willen 
eines Gottes ist das gesteigerte Spiegelbild dessen, was jeder 
Mensch in jedem Augenblick vollführt. Ich denke an irgendetwas 
— sofort steht es da in meiner Vorstellungswelt; das heißt doch, 
ich habe aus dem Nichtsein spontan ein Sein gebildet. Ich habe 
ein genau so Ungeheures vollbracht, wie Jahweh, als er die Welt 
erschuf. Und was ich so erschaffe ist auch immer von vorn- 
herein „sehr gut", jedenfalls viel besser, als ich es jemals 
ausdenken könnte. Das „Nicht-sein", aus dem ich ein „Sein" 
hervorzauberte, ist natürlich nur stofflich zu denken; also stehe 
ich auch in diesem Sinne dem Demiurgen prinzipiell nicht nach. 
Freilich ist der Gedankenstoff bedeutend bildsamer, als der, welcher 
die Berge zusammensetzt; doch wenn es überhaupt möglich ist, 
die Materie durch den Geist zu beeinflussen, dann muß es auch 
mit schwereren Massen gelingen, ganz abgesehen davon, daß diese 
letztlich wohl auch aus Gedankenstoff bestehen. Mittelbar leistet 
der Mensch in dieser Hinsicht schon viel, aber ich bin über- 
zeugt, daß er auch unmittelbar weit mehr vermöchte, als heute 
für möglich gilt — kaum weniger, als die indischen Yogis be- 
haupten. Konzentration der Aufmerksamkeit ist Verdichtung psy- 
chischer Energie; der Neurastheniker kann sich nicht konzen- 
trieren: wo klafft also der Bruch, welcher Schöpfung im Sinne 
Jehovahs prinzipiell als unmöglich dartäte? Wenn ich mit voll- 
kommener Verdichtung sämtlicher Kräfte, über die mein Bewußt- 
sein günstigsten Falls verfügt, den Befehl gäbe: es werde Licht, 
so würde es wohl Licht werden. 
Ich halte diesen Gedanken für den Augenblick fest. Es macht 
mir Vergnügen, zu versuchen, durch meinen Willen die Eruption 
im Schach zu halten. Ein klein wenig ärgert es mich, daß mir 
dies nicht gelingt, so leid es mir andrerseits täte, wenn das 
Warum ich den Vulkan nicht auslöschen kann. 539 
herrliche Schauspiel unter mir ein vorzeitiges Ende nähme. Woran 
hängt mein Unvermögen? vermutlich an einer Kleinigkeit, einem 
Kniff; wahrscheinlich ließe sich, bei genügender Kenntnis der 
Natur, ein Vulkan mit ebensowenig Kraftanstrengung zum Er- 
löschen bringen, wie eine elektrische Birne; wahrscheinlich ge- 
länge es sogar unmittelbar, ohne Hilfsapparate. So ungeheuer die 
Kräfte da unten sind — die größte von allen, die intraatomistische 
Energie, ist nicht im Spiel. Gelänge es mir, was sicher nicht 
schwierig ist, nur ein Kubikmeter Lava zu zersetzen, so könnte 
der Vulkan schön zusehen, wo er bliebe. 
— Nein, von Leben ist hier keine Spur. Was ist Leben? Ein 
immaterielles Prinzip, das die Materie gestaltet. Dann müßte es 
eigentlich gelingen, dem Vulkan eine Seele zu erschaffen. Immer 
mehr neige ich zur Auffassung, daß das Leben ein Allgegen- 
wärtiges ist, das sich äußert, sobald die nötigen materiellen Be- 
dingungen erfüllt erscheinen (welche Bedingungen es freilich, 
zum Teil wenigstens, selber schafft). So offenbart sich die geistige 
Persönlichkeit, sobald das Gehirn herangereift ist; so durchseelt 
der Ausdruck ein Gebild, sobald eine bestimmte Linie gezogen 
ward; so schleicht sich tiefer Sinn in einen nichtssagenden Satz 
hinein, wenn ein einziges Wort geändert wird. Und das Befremd- 
liche, Beängstigende ist: diese Beseelung kann durch reinen Zu- 
fall geschehen. — Übrigens wüßte ich kaum größere Wonne, als 
Seelen zu schaffen. Mit jeder Idee, die der Mensch in die Welt 
setzt, erhält die Materie einen neuen Sinn. Allen Ernstes: wie 
wäre es, wenn ich diesen Vulkan beseelte? — Aber vielleicht ist 
er es bereits, dem hawaianischen Mythos entsprechend, und mir 
fehlt bloß das Organ, dies zu erkennen. 
— — Nun ist es tiefe Nacht. Die Lava ist stetig gestiegen, 
in immer weiteren Kreisen das Festland einschmelzend. Je dunkler 
der Hintergrund wird, desto heller erglänzen die Flammen. Die 
rote Farbe — bei Tag die herrschende — ist nun verschwunden. 
Jetzt ist das Ganze eine Symphonie in Schwarz und Gold. Selt- 
sam! Hier, angesichts dieses Weltenbrandes, kommt mir japanische 
Lackarbeit in den Sinn. Offenbar ist es ein gleiches Prinzip, das 
in einem Falle das Gold, im anderen das Magma auf dunklem 
Grunde verteilt. 
Ich bin doch ein wenig eingeschlummert. War es 
das Echo eines unbewußten Traums, den die Gespräche der 
540 Gedanken der Nacht; die elyseischen Gefilde. 
Touristen angeregt: wie ich die Augen auftat, erschien das 
Flammenmeer von nackten Leibern bevölkert. Das soll wohl die 
Hölle sein. Aber nein: keiner der brennenden Sünder scheint ge- 
quält. Die Flammen tun ihnen nichts; sie haften an ihnen harm- 
los wie Schatten. 
— — — Der Morgen graut. Wieder, wie am ersten 
Schöpfungstage, werden Himmel und Erde von einander abgeteilt. 
Unsicher und bleich eilt der verspätete Mond in hohem Bogen vor 
der lachenden Sonne fort. Drunten im Kessel ist auf die Hoch- 
flut die Ebbe nachgefolgt. Das Meer ist zusammengeschrumpft, 
erscheint träge, wie abgelebt. Das Gold hat sich in trübes Rot 
verwandelt. Der schwarze Hintergrund, vor kurzem eine endlose 
Welt, entpuppt sich nun als schmutzig-graue Schlackenkruste. 
AN DER BAI VON WAIKIKI 
Die Hellenen wiesen den Seligen eine Insel zur Heimstatt 
an: was bewiese wohl besser ihr naturhaft-sicheres Ein- 
bildungsvermögen? — Im menschlichen Sinne möglich ist 
nur das Vorstellbare; vorstellbar aber erscheint ein Dasein, wie 
es die Seligen führen sollen, nur auf einsamer Insel im Meer. 
In vollendeter Abgeschiedenheit sind schweifende Wünsche nicht 
lebensfähig; dort ereignet sich nichts, was zur Geschichte werden 
könnte, dort bedeutet die Zeit nichts mehr. Der erdgebundene 
Mensch, zumal der Grieche mit seinem unbezähmbaren Schaffens- 
drang, würde seelisch verschmachten an solcher Statt; den Seligen, 
Wunschlosen, Zeitentrückten bedeutete es das Paradies. 
Das Leben auf Hawai nimmt unwillkürlich den Charakter der 
Mythe an. Der Europäer, der wesentlich geschichtliche Mensch, 
wirkt hier wie eine Fliege auf einem Aquarell. Die Hawaianer 
jedoch, die im Bilde sind, kommen mir seltsam unwirklich vor; 
oder wirklich vielmehr im Sinn des Traumerlebnisses. Es besteht 
kaum ein Unterschied zwischen dem, was ich mit Augen sehe, und 
dem, was ich in den alten Heldensagen lese. Diese Menschen 
sind so, wie sie nur im Mythos lebensfähig scheinen: warmherzig 
Die ersten Menschen nicht primitiVy sondern Götterkinder. 541 
und sorglos, leichtsinnig und gut, vbn Fest zu Fest ihr Leben 
vertändelnd; dabei aber furchtbar im Krieg, grausam, mitleidslos, 
wenn er zum Streite kommt. Sie leben einerseits von dem, was 
Baum und Strauch ihnen gutwillig darbringen, harmlos wie 
Schmetterlinge, — sind andererseits Menschenfresser, waren es 
wenigstens vor hundert Jahren noch. So waren auch die olym- 
pischen Götter. König Kamehameha, der Alexander der Südsee, 
dessen Taten tausend Lieder feiern, war ein Herrscher wie Zeus, 
groß, gewalttätig, grausam, dabei aber auch gut und harmlos, 
leichten Sinnes, im ganzen unverantwortlich wie ein Kind. Die 
Kämpfe, die unter seiner Führung stattfanden — Kärnpfe blutig- 
ster Art, bei denen ganze Stämme zugrunde gingen — waren 
doch mehr als Turniere gemeint, denn als ernste Schlachten; 
oder als Schlachten, wie die Götter sie vor Troja untereinander 
geschlagen haben. Diese Menschen von Fleisch und Blut nahmen 
den Tod nicht ernster als die Olympier. 
So sollen die ersten Menschen gewesen sein nach den gleich- 
lautenden Berichten aller Mythen. Daß sie wirklich so gewesen 
wären ist wohl auszuschließen, aber höchst bedeutsam scheint mir, 
daß dies der Charakter ist, den die Dichtung ihnen ausnahmslos bei- 
gelegt hat. Die ersten Menschen waren nicht primitiv, sondern 
Götterkinder, und das heißt: mehr und weniger zugleich als es die 
Menschen sind. Daß die Götter — oder genauer diese Götter, die 
Divinitäten vom Schlage der Olympier — sowohl mehr,, als auch 
weniger sind als wir, geht aus allen Mythen gleichsinnig hervor. Aber 
die Inder allein haben zu zeigen gewußt, worin dies plus und dies 
minus bestehen: von den drei Elementen, sattwa, rajas und tamas, 
welche die Welt zusammensetzen sollen, geht das zweite, rajas, 
die Energie, im Übermaß in den Bestand der Götter ein, während 
das dritte, die Inertie, ganz fehlt. Sintemalen nun gar keine Träg- 
heit vorhanden ist, die Kraft also gar keinen Widerstand findet, 
sind die Götter, bei allen Vorzügen, die vollkommene Ungebunden- 
heit gewährt, in zwiefachem Sinne doch beschränkt: sie sind 
oberflächlich, unverantwortlich, da kein Tun sie innerlich berührt, 
was immer es in anderen Sphären anrichten mag; und sie sind 
unfähig über das Göttertum hinauszuwachsen. Während also der 
Mensch gerade dank dem Geiste der Schwere sich bis zur Er- 
leuchtung (dem Vorherrschen der Sattwa) durchringen kann, ge- 
lingt dies dem Gotte nur dann, wenn er als Menschenkind wieder- 
542 Inwiefern Götter weniger als Menschen sind. 
geboren wird und die Gelegenheiten dieses Standes ausnutzt. Ich 
wüßte keine bessere Bestimmung dessen zu denken, was dem 
Begriff eines Naturgottes entspricht; genau im indischen Sinne 
ist ein solcher wirklich weniger als der Mensch. Und genau in dem 
Sinne ist der Urmensch, das Götterkind, sowohl mehr als auch 
weniger denn wir. Uns aber fällt vor allem das „mehr" in die 
Augen, wie solches denn immer geschieht, wo ein wirklicher Zu- 
stand mit einem bloß vorgestellten verglichen wird, deshalb be- 
deutet uns der mythische Urzustand ein Ideal. Wir sehnen uns 
nach Unbeschränktheit, nach Verantwortungslosigkeit, gleichviel 
welchen Preis wir dafür zu zahlen hätten — eben weil unser 
Leben ganz Verantwortung ist. So ertappe auch ich mich dabei, 
daß ich den Hawaianer bewundere; es dünkt mich bloß über- 
menschlich, nicht auch untermenschlich, so göttermäßig leben zu 
können. - 
Dieses schreibe ich in tiefer Nacht, von einem hawaianischen 
Festmahl eben heimgekehrt. Es war wild und stimmungsvoll zu- 
gleich. Mit seltsam ergreifender Stimme trug ein Barde uralte 
Sagen vor, während wir Gäste, um eine einzige Schüssel geschaart, 
wie Tiere mit den Händen die Fische zerrissen und federn- 
geschmückte Tänzerinnen ihre Unterleiber in wahnsinnigen Kurven 
einherschwenkten, ohne daß Oberkörper und Kopf nur die leiseste 
Bewegung dabei verraten hätten. 
Dies ist freilich die Insel der Seligen. Tag aus Tag ein 
scheint die Sonne gleich belebend auf Berg und Tal her- 
nieder. Abend für Abend spielen kühlende Winde mit den 
Wipfeln der Casuarinen. Jahr aus Jahr ein stehen Bäume und 
Sträucher in Blüte, sind die Früchteträger von Früchten bedeckt. 
Der Ozean aber gehört vollends der Welt der Unsterblichen an. 
Donnernd und drohend rollen die Brandungswellen heran — und 
doch spielt der Mensch mit ihnen, als ob sie nur aus Schaum be- 
ständen. Da draußen am Riff sind sie so hoch, daß sie einen 
Walfisch erschrecken möchten. Allein die ewig heiteren Ha- 
waianer fürchten sich nicht: sie benutzen die Wellen als Reittiere, 
sie jagen auf ihnen dem Ufer zu, auf dem Kamme balancierend, 
voltigierend, gleich Tritonen in einem Meeresidyll. 
Sind diese schönen, bräunlichen Männer, die sich im Ozean 
Wellen als Reittiere; der amphibische Mensch. 543 
wie Fische zu Hause fühlen, Menschen wie wir? — Ganz sind sie 
es wohl nicht; ein jedes Element bildet besondere Wesen heran. 
Der Mensch als Reiter oder als Taucher, als Bewohner der Wüste 
und der Berge, ist jedesmal ein anderes Geschöpf. An wasser- 
bewohnenden Menschen kannte ich bisher nur den Wasserbe- 
zwinger, d. h. das Landtier, das sich durch List auch das Wasser 
unterworfen hat; der wirklich amphibische Mensch kommt heute 
allein in der Südsee vor. Hier nun ist er so vollkommen in seiner 
Art, daß er deshalb übermenschlich wirkt. Der Hawaianer, der mir 
im Ozean die Wege weist, ist schön wie ein Gott, von riesenhafter 
Gestalt und ein berühmter Haifischkämpfer; noch soll er. jeg- 
lichem Hai, der ihm begegnet, mit seinem Speer die Augen aus- 
gestochen haben. Dabei ist er sanftmütig und mild, und Abends, 
wenn die Kokospalmen seufzen, singt er schwermütige Weisen vor 
sich hin. — Wieder einmal schweifen meine Gedanken nach 
Griechenland hinüber. Wie wunderbar sicher schuf doch die helle- 
nische Phantasie! Was die Natur in der Südsee gebildet, ist ein 
Abbild des griechischen Ideals. Wahrscheinlichere, lebensfähigere 
Götter, als diejenigen Griechenlands, sind auf Erden nie erdichtet 
worden. 
Das hätte kaum anders kommen können. Die elyseischen Ge- 
filde sind das Reich der Subjektivität; hier schafft die 
Stimmung Wirklichkeit, setzt alle Wirklichkeit sich in 
Stimmung um; hier wird die Welt augenblicklich so, wie die Will- 
kür des Augenblicks sie vorstellt. Was sonst nur meteorhaft mein 
Bewußtsein durchzieht, verweilt nun; Capricen ballen, leichte 
Wünsche vertiefen sich; aus unsicherem Nebel verdichtet sich ein 
Stern. So ist inmitten des Wellenspiels, im Paradiese der Palmen- 
haine und der purpurnen Riesenblumen eine Neigung in mir auf- 
gegangen. 
Bedeutet sie ein Ernsthaftes, ein Wirkliches? Wie soll ich 
das wissen? Die Grenze zwischen Realität und Phantasieschöpfung 
ist mit Sicherheit nirgends zu ziehen. Wie oft ist mir eine 
Wirklichkeit zum Traum zerronnen, und umgekehrt wie oft ein 
Traum zur Wirklichkeit geworden! Wie oft habe ich ins Leben 
bewußt hineingedichtet, indem ich beliebige Menschen in fiktive 
Zusammenhänge hineinbezog: solange diese standhielten, waren 
544 Ober die Liebe; Dichtung und Wirklichkeit. 
jene höchst bedeutsam für mich; und wie oft hat umgekehrt eine 
Situation genügt, um ein Gefühl zu wecken, das dahinschwand, 
sobald sein Anlaß vergangen war! Wesentlich anders ist es nie. 
Eine Liebe, deren Grundmotiv wildes Begehren ist, ist nicht tiefer 
und sicherer begründet als ein Caprice des Intellekts; auch hier 
hängt das Gefühl von äußeren Umständen ab, und verflüchtigt 
sich, wenn diese sich verändert haben. An sich sind psychische 
Wirklichkeit und Einbildung gegeneinander kaum abzugrenzen; 
die entscheidende Frage ist die, wo des Menschen Bewußtseins- 
zentrum ruht. Identifiziert er sich mit seinen Trieben, dann ist er 
natürlich seine Leidenschaft; identifiziert er sich mit einer Fik- 
tion, dann ist diese ihm höchste Wirklichkeit; fußt sein Bewußt- 
sein wesentlich in Gattungsbezügen, dann bedeutet die Familie 
sein eigentliches Ich. Auf daß nun Liebe überhaupt ein absolut 
Wirkliches bedeuten könne, muß der Mensch sich unbedingt mit 
seiner Person identisch fühlen. Das vermag ich aber nicht 
mehr. Wohl geschieht es in rhythmischen Abständen, daß be- 
bestimmte Triebe die Oberhand gewinnen, und ein sekundäres 
Zentrum sich zum Mittelpunkt meines Seins konstituiert; allein 
dieser Zustand dauert nicht; ist die Periode vollendet, dann nimmt 
mein Bewußtsein seine normale Lage wieder ein. Von dieser aus 
aber erscheint meine Person mir als Außenwelt, die ich nicht 
ernster nehme, als irgendwelche äußere Verhältnisse, mit denen 
ich zu rechnen habe. . . . 
Nun weile ich im Reich der Subjektivität. So wird die Nei- 
gung, die in ihm entstand, mehr denn je eine Dichtung sein; wahr- 
scheinlich hat sie gar keinen objektiven Hintergrund. Allein im 
Augenblicke, da sie mich beherrscht, dünkt sie mich wirklich 
genug. Wieder erlebe ich jenen wunderlichen Zustand, wo das 
Weltall durch wenige persönliche Koordinaten vollkommen be- 
stimmt erscheint, wieder überkommt mich jene Unsicherheit, die 
sich wohl jedes Mannes bemächtigt, der sich plötzlich auf dem 
Meer der Gefühle schwimmen sieht — einem Elemente, das ihm, 
im Gegensatz zum Weibe, von Hause aus so wenig vertraut ist. 
Aber doch erkenne ich, mitten im Schwimmen drinnen, daß ich 
in diesem Meere nie ertrinken könnte. In dieser mythischen Um- 
gebung nimmt alles Leben mythischen Charakter an. Nereiden 
und Tritonen sind mit der Liebe nicht unbekannt, doch was dem Men- 
schen Ernst ist, bedeutet ihnen ein Spiel; ihrem Lieben fehlt das 
Rückschwenkung nach dem Westen. 545 
Element der Trägheit, das Irdisch-Bindende, das Gemüt. Nicht 
änderst steht es mit der, die mir heute Herz, Seele und Sinne 
beherrscht. Wohl transfiguriert sie mir im Augenblick die Welt; 
allein ich zweifele, daß ich litte, wenn ihr Objekt auf einmal nicht 
mehr wäre. . . . 
NACH AMERIKA. 
Jetzt gilt es keine Zeit verlieren: bis ich in Kalifornien ange- 
langt bin, muß meine Seele sich allen Bindungen des Ostens 
entwunden haben; sonst erklingen dort unreine Töne in mir, 
wie wenn ein noch so schöner Akkord durch das Pedal in eine 
Melodie anderer Tonart hinübergedehnt wird. Es gilt mich zu- 
sammennehmen, denn leicht wird mir die Umstellung nicht werden. 
Nicht allein keine Sehnsucht zieht mich nach Amerika — ich 
fürchte mich, mir graut vor diesem Land. Aber persönliche Nei- 
gungen und Abneigungen sind niemals ernst zu nehmen, sie be- 
weisen immer nur die Beschränktheit dessen, der sie hat. Ohne 
Zweifel sind die Vereinigten Staaten sehenswert, finden sich dort 
Möglichkeiten verwirklicht, wie nirgends sonst, und nur beim 
Positiven lohnt es zu verweilen. 
Aber wenn ich nun in ablehnender, unsympathetischer Stim- 
mung in San Francisco lande, dann werde ich dieses Positiven 
nicht gewahr werden, werde ich mich in den Geist des Landes 
nicht hineinversetzen können. Es ist nicht möglich, ohne liebende 
Hingabe auch nur irgendetwas zu verstehen; solange die leiseste 
Neigung zur Kritik im Mittelpunkte des Bewußtseins lebt, ist 
es aussichtslos, einem Fremden gerecht zu werden. Wie stelle 
ich's nur an, um im Lauf einer knappen Woche meine Ver- 
fassung von Grund aus zu verändern? Ich muß eine Psychoanalyse 
vornehmen; feststellen, was der sachliche Grund meines persön- 
lichen Empfindens ist. Wenn ich diesen erkannt habe und damit 
die Unmotiviertheit meines ablehnenden Verhaltens — denn es 
gibt nichts, was eine subjektive Verstimmtheit objektiv recht- 
fertigte — dann werde ich meiner unersprießlichen Stimmung 
wohl Herr werden. 
Keyserling, Reisetagebuch. 35 
546 Die Amerikaner als typischeste Westländer. 
Wenn ich mir's nun recht überlege, so finde ich, daß ich nicht 
dem Amerikanischen als solchen Antipathie entgegenbringe, son- 
dern dem Abendländertum überhaupt; und jenem nur insofern, als 
es dessen extremster Ausdruck ist. Wir Europäer dünken uns 
von den Amerikanern durch mehr als den Ozean geschieden: 
desto lehrreicher war mir die Erfahrung, daß der Asiate nur 
insoweit einen Unterschied bemerkt, als diese ihm die typischeren 
Europäer scheinen; seiner Ansicht nach verkörpern sie keinen 
anderen Geist als wir, sondern den gleichen in eindeutigerer Gestalt. 
Ohne Zweifel ist er im Recht; das Wesentliche eines Volks im Sinn 
des Unterschiedlichen erkennt der Fremdling immer am besten. 
Also muß ich wohl voraussetzen, daß ich in der Erscheinung des 
Amerikanertums das Wesen des Westländers verabscheue. 
Was ist nun dieses Wesen im Unterschied von dem des 
Asiaten? Die üblichen Schlagwörter vom materialistischen Westen 
im Gegensatz zum spiritualistischen Osten, von unserer Würde- 
losigkeit, Hast und Gier im Gegensatz zur Weltüberlegen- 
heit, Würde und Ruhe der Orientalen, von unserem Tatendrang 
gegenüber ihrer Erkenntnistiefe, ergreifen es nicht. Allen noch so 
berechtigten Einwänden gegen unsere Art begegnet der Hinweis 
darauf, daß unsere Idealität unzweifelhaft die größere ist, wes- 
wegen alles, was bei uns nicht ist, noch werden kann; leicht kann 
es geschehen, daß der Materialismus unserer Zeit noch einmal als 
günstiges Stadium auf dem Wege zur Spiritualisierung betrachtet 
werden wird, denn das Materielle verkörpert dem Westländer ein 
Ideal und zieht ihn daher, ob er will oder nicht, hinan. — Auch 
daß er auf die Mittel zum Leben größere Aufmerksamkeit ver- 
wendet als auf das Leben selbst, unterscheidet ihn nicht wesent- 
lich vom Orientalen. Auch wir sehnen uns letztlich nach dem 
„Einen was not tut", diese Sehnsucht wird immer mehr zur 
Dominante unseres Strebens, nur wollen wir überdies die Er- 
scheinung vervollkommnen, und wenn dieser Wille zurzeit im 
Vordergrunde steht, so liegt das daran, daß der Mensch nicht 
zwei Ziele zugleich mit gleicher Energie verfolgen kann. Falsch 
ist es auf jeden Fall, uns unsere Sucht, die Erscheinungswelt zu 
vervollkommnen, zum Vorwurf zu machen: hierauf beruht viel- 
mehr unsere Überlegenheit, denn das östliche Verfahren, sich von 
ihr um des Sinnes willen abzuwenden, ist billig im Vergleich zu 
dem unserigen, das allen Sinn in der Erscheinung zum Ausdruck 
Größere Idealität des Westens; alle Formen verflüssigt. 547 
bringen will. Freilich haben wir unser Ideal noch nicht verwirk- 
licht, aber wir werden es sicher dereinst verwirklichen, denn wir 
bewegen uns geradeswegs ihm zu. — Nein, die Umstände, welche 
die üblichen Schlagwörter bezeichnen, bestimmen nicht meine 
Antipathie; das weiß ich gewiß, denn die Effikazität unserer 
Zivilisation habe ich nie als negatives Moment empfunden. Lärm 
und Hast gibt es auch im Osten übergenug; aber im Westen 
führen sie zu mehr. 
Es handelt sich offenbar um ein anderes; und dieses andere, 
das mein ablehnendes Verhalten tatsächlich bedingt, ist, wenn ich 
recht sehe, der Umstand, daß im Westländer alle Formen flüssig 
geworden sind; das muß es sein, denn ich empfinde keine Ab- 
neigung gegen die, welche, als Individuen oder als Klassentypen, 
eine vollendete Gestaltung darstellen. Der Gegensatz zwischen 
Orient und Okzident, mit dem ich mich in diesen Betrachtungen 
zu befassen habe, stammt ja erst aus der Zeit, da wir im Eilmarsch 
fortzuschreiten begannen oder genauer: hat immer nur zu den 
Perioden bestanden, da wir in schneller Umwandlung begriffen 
waren. Zwar hat er der Idee nach immer existiert: im Prinzip ist 
der Westen immer beweglich gewesen, auf Neuschöpfung und 
Neugestaltung bedacht, der Osten immer einem statischen Gleich- 
gewichtszustande zugeneigt; wie vom Standpunkt der griechisch- 
orthodoxen Kirche Katholizismus und Protestantismus als eines 
Geistes Kinder erscheinen (die Reformation mit ihren Folgen nur 
als äußerste Konsequenz jenes Triebes zur Erneuerung und Wand- 
lung in der Zeit, welcher die weströmische Kirche von jeher gekenn- 
zeichnet hat), so läßt sich wohl überall und jederzeit wenigstens 
der Keim zu dem Gegensatze nachweisen, der heute zwischen Ost 
und West besteht. Aber dieser Keim ist erst neuerdings ausgereift. 
Zwischen der Antike und den Glanzzeiten asiatischer Kultur,, 
zwischen dem Frankreich des 17. Jahrhunderts und dem China 
etwa der Sung-Dynastie bestand, soweit das Aktuell-Gegebene in 
Frage kommt, nur ein Unterschied der Erscheinung, nicht des 
Wesens; auch im Abendlande hat bis zum Anbruch der Neuzeit 
das statische Ideal dominiert, sogar im alten Hellas und dem Italien 
der Renaissance, denn das Leben daselbst, so bewegt es war, 
orientierte sich doch an zeitlos gültigen Werten. Wenn wir moderne 
Europäer Ost und West als prinzipielle Gegensätze einander gegen- 
über stellen, so halten wir tatsächlich weniger den Orient dem 
35* 
548 Vollendung oder Erfolg? Der Zug ins Quantitative. 
Okzident, als das klassisch-mittelalterliche Ideal dem der Moderne 
entgegen, das ein wesentlich protestantisches ist; und das heißt: 
das Ideal der Vollendung dem Fortschrittsideal. Hiermit habe ich 
es wohl: ich ziehe das Orientalen- dem Okzidentalentum vor, weil 
ich die Vollendung in jeder Form höher schätze als den Erfolg. 
Im modernen Menschen, und in erster Linie dem Amerikaner, 
sind alle Formen flüssig geworden. In der neuen Welt gelten die 
altbewährten Unterschiede zwischen den Klassen und Typen nicht 
mehr; was einstmals ein Definitives war, stellt sich heute, wo 
überhaupt vorhanden, als Stufe dar, auf welche jeder hinauf- oder 
hinabsteigen mag. Damit sind aus Lebensformen Bühnenrollen 
geworden. Eine Rolle nun besitzt keine Bildungskraft; man legt 
sie an und ab, wie ein Gewand; sie ganz ernst zu nehmen scheint 
unmöglich. Dieses ironische Verhältnis zur Gestaltung wäre ein 
Höchstes dann, wenn vertieftes Seinsbewußtsein mit ihm zupaar 
ginge und der Akzent des Lebens auf diesem ruhte. Beim Modernen 
aber liegt er auf einem ganz anderen: dem Rollenwechsel an sich, 
dem Vorwärtskommen. Deshalb ist er kein höherer Mensch. 
Hie und da sind mir Geister begegnet, die den Haupteinwand 
gegen die Moderne in dem erblicken, daß sie die Quantität der 
Qualität vorziehe; daß sie keinerlei Grenzen anerkenne, wo doch 
Selbstbescheidung in irgendeiner Form die Basis aller wahren 
Werte sei. Freilich trifft dieser Einwand zu; was ich selber gesagt, 
ist dem Sinne nach wesentlich das gleiche. Allein die Fassung, 
welche Quantität und Qualität in gleichsam ewigen Gegensatz 
setzt, verfälscht die Wahrheit. Daß der Moderne unersättlich 
scheint, bezeichnet kein Unglück, weil auch dieses anelqov mit Un- 
vermeidlichkeit an irgendeinem Punkt seine Grenze finden, was 
seinerseits automatisch Selbstbescheidung einleiten wird; und in- 
dessen wird die quantitative Norm gehoben. Der Zug ins Rein- 
Quantitative ist ein Vorläufiges, wird sich aus äußeren sowohl als 
inneren Gründen von selbst in andere Tendenzen umsetzen, so- 
bald die neue Menschheit ihre Flegeljahre hinter sich hat. Es be- 
weist Phantasielosigkeit, im Überschreiten der altbewährten Gren- 
zen ein Verhängnis zu sehen, denn keine verkörpert als solche ein 
Ideal; an sich bezeichnen alle einen Nachteil; je weiter sie hinaus- 
geschoben werden, desto besser. Das wirklich Bedenkliche ist, 
daß unsere Zeit Erfolg und Vollendung verwechselt; daß sie die 
alten Werte nicht verleugnet, sondern dieselben auf einer höheren 
Der Amerikaner als größter lebender Barbar. 549 
Stufe, als alle früheren Epochen, zu verwirklichen wähnt; daß sie 
ihren Zustand nicht als vorläufig, sondern ideal beurteilt. Dieser 
Umstand bedingt die Minderwertigkeit ihrer Vertreter. 
Die Natur verwirklicht und vollendet sich in der Gestaltung; 
wo sie noch ungestaltet, d. h. unfertig ist, dort tritt das Wesen 
nicht rein zutage: daher das Unreife des Okzidentalen im Ver- 
gleich zum Orientalen. Nun kann ein noch so unreifer Bengel, wo 
er nicht mehr als ein Bengel sein will, sehr liebenswert erscheinen; 
abstoßend wirkt er nur, wo er sich als Vollmensch gibt, dies aber 
kennzeichnet das Amerikanertum. In Europa erkennt man es mehr 
und mehr, daß das Flüssige, so wie die Menschen einmal sind, 
nur als Übergangszustand nicht vom Übel ist, und strebt daher 
über die Flüssigkeit hinaus, denn noch liegen uns die Beispiele 
höheren Menschentums nicht fern. Der Amerikaner ahnt nur in 
Ausnahmefällen, daß es ein Höheres als den Fortschritt gibt. Des- 
halb wirkt er wie kein anderer barbarisch. 
Hiermit hätte ich wohl festgestellt, weshalb ich dem West- 
ländertum nicht hold bin, und mein Empfinden schelten kann ich 
nicht. Hiermit hätte ich aber zugleich den Ansatz gefunden, 
von dem aus ich mein negatives Verhalten in ein positives dürfte 
umwandeln können. 
Ich war in China zum Ergebnis gelangt, daß die Chinesen 
auf einer höheren Kultur- aber auf einer niedrigeren Naturstufe 
ständen als wir; daß der höhere Grad der Vollendung bei ihnen 
mit einem geringeren Grad des Fortgeschrittenseins zupaar ginge. 
Hieraus folgt, daß wenn wir von unserer Naturstufe aus den 
gleichen Grad der Vollendung erreichten, wie die Chinesen, 
wir diesen durchaus überlegen sein würden; was seinerseits den 
Übergangszustand rechtfertigt. Von einer fertigen Gestalt zu einer 
neuen führt der Weg nur durch Gestaltloses hindurch, von einer 
Vollkommenheit zu einer anderen nur durch Unzulänglichkeit. Das 
moderne Europa hat die alten Formen zerbrochen; damit begab 
es sich auf lange Zeit der Möglichkeit vollendet zu erscheinen; 
es verfiel zurück in die Barbarei, in der es noch mitten inne steckt, 
ja vermutlich noch lange immer tiefer einsinken wird; im Sinn 
der Vollendung geht es gewiß nicht vorwärts mit uns. Aber ebenso 
gewiß geht es vorwärts im Sinn der Naturentwickelung, und damit 
treten Vollendungsmöglichkeiten in die Welt, welche den Kultur- 
völkern des Ostens nicht innewohnen. Diese Möglichkeiten sind 
550 Apologie der Unzulänglichkeit. 
der Verwirklichung noch so fern, daß nur der Embryolog sie mit 
einiger Sicherheit vorausbestimmen könnte; was sich heute dem 
Blicke zeigt, ist meistens häßlich. Aber unser Zustand ist viel- 
versprechend, kein Einsichtsfähiger kann das leugnen. Von diesem 
Gesichtspunkte aus will ich fortan dem Abendländertum entgegen- 
treten. 
In Adyar, wenn ich nicht irre, habe ich mich des längeren 
über die allgemeinen Beziehungen zwischen Vollendungs- und 
Fortschrittsstreben auseinandergesetzt. Damals legte ich den 
Hauptnachdruck darauf, daß der Ehrgeiz, biologisch weiterzu- 
kommen, direkt abführt von der möglichen Vollendung, daß indes 
Vollendungsstreben umgekehrt den Fortschritt indirekt begünstigt. 
Aber diese einfachen Bestimmungen erschöpfen die Frage nicht; 
der Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungsrichtungen ist 
vielfältig und verstrickt. Heute will ich mir über die merkwürdigste 
Beziehung, die ich zwischen ihnen erkennen kann, Klarheit ver- 
schaffen. 
Vergleiche ich die fertigen Kulturen des Orients mit unserer 
werdenden, so finde ich, daß der innere Mensch innerhalb jener 
wohl ungleich gebildeter ist, daß in dieser dafür das, was im Orient 
die höchste Subjektivität kennzeichnet, zur objektiven Macht 
exteriorisiert erscheint. Ich glaube nicht, daß irgendein nicht 
hochbegabter Christ so tief zu lieben weiß, wie ein indischer 
Bhakta, so human empfindet, wie der typische Buddhist, von mora- 
lischem Sinn so tief beseelt ist, wie ein hochstehender Konfuzianer; 
dafür sind bei uns die Liebe, die Moralität und die Humanität zu 
objektiven Mächten geworden, und das sind sie im Osten nicht. 
Während bei uns der innerlich noch so rohe bis zu einem gewissen 
Grade gezwungen ist, im Sinn des Höchsten zu handeln, zwingt 
nichts den Asiaten, gebildet zu erscheinen, wo er es nicht ist, wes- 
halb das praktische Verhalten östlicher Durchschnittsmenschen mehr 
zu wünschen übrig läßt als das der westlichen. Wir handeln im 
Ganzen besser als wir sind. 
Wir sind mit unseren Institutionen unserem Wesen voraus- 
geeilt. Unser Verstand hat als für Alle wünschenswert erkannt, 
was aus innerem, persönlichen Drang nur ein Heiliger anstreben 
würde, und eine Maschinerie erfunden, welche die Realisierung 
Seltsame Beziehung zwischen Vollendung s- und Fortschrittsstreben. 551 
des Ersprießlichen automatisch sichert. Die Nachteile dieses 
Weges liegen auf der Hand: die Möglichkeit, das Gute von außen 
her zu verwirklichen, macht oberflächlich, denn wo sie vorliegt, 
dort gewöhnt der Mensch sich daran, alles Heil von äußeren 
Umständen zu erwarten und vernachlässigt entsprechend seine 
innere Bildung. Aber unser Weg hat auch sehr große Vorzüge, und bei 
diesen allein will ich heute verweilen, da mir ja darum zu tun 
ist, eine sympathetische Stimmung dem Westen gegenüber in mir 
zu wecken. Jede Seele ist vielfacher Gestaltung fähig, entwickelt 
sich verschieden, je nachdem, welche ihrer Bestandteile zur 
Vorherrschaft gelangen, und die Form, die sie schließlich gewinnt, 
hängt in hohem Grade davon ab, in welcher Umwelt sie wächst 
— wie in wilden Zeiten die meisten verwildern, weil alle Gelegen- 
heiten der Bestie hold sind, so gewinnt in günstiger Umgebung 
bei den Meisten das Beste die Oberhand; deshalb ist es ein Glück, 
wenn die äußeren Verhältnisse möglichst gute sind. Es ist un- 
zweifelhaft möglich, von außen nach innen zu wirken, ja, im Falle 
uneinsichtiger Wesen gibt es nur diesen einen Weg, sie des 
Höchsten teilhaftig werden zu lassen. Die alten Kulturen verlangten 
in diesem Sinn, daß der Unmündige dem Wissenden blind ge- 
horche, und allerdings war es besser, die Masse also zu bevor- 
munden, als sie ihrem eigenen Gutdünken zu überlassen, um so 
mehr, als sie eine dritte Möglichkeit nicht kannten. Unsere 
Zivilisation nun hat eine solche ins Leben gerufen: innerhalb der 
modernen Organisation des äußeren Lebens erweist sich das Gute 
als immer zweckmäßiger; selbst Schurken macht heute die Klugheit 
in Geschäften solid; der stumpfste Geist wird durch die Erfahrung 
zur Erkenntnis genötigt, daß es in unserer Welt im ganzen und 
auf die Dauer vorteilhafter ist, sich dem Ideal entsprechend zu 
verhalten. Mag dieser Umstand noch so sehr einem gröbsten Utili- 
tarismus zugute kommen, — immerhin wirken die idealen Forde- 
rungen als reale Mächte und formen die Seelen, so daß ein unter 
halbwegs günstigen Verhältnissen erwachsener Durchschnitts- 
moderner unwillkürlich humaner und rechtlicher denkt als seine 
Altvorderen. Nun findet eine naturnotwendige Höherentwickelung 
der Menschheit in moralischer Beziehung nachweislich nicht statt; 
ihre moralische Erbanlage ist im Ganzen die Gleiche, wie vor 
Jahrtausenden; aller ethische Fortschritt der Massen geht auf 
geistige Einflüsse zurück, die als solche nur den Einzelnen betreffen 
552 Absoluter Vorzug unserer Zivilisation. 
können und, von seiner Physiologie her gesehen, außenher stam- 
men. Deshalb bedeutet der durch unser System bewirkte Erfolg, 
daß der seelisch Unmündige sich — gleichviel weshalb — aus 
eigenem Antrieb zum Guten bekennt, ein überaus Wichtiges. 
Denn damit erwacht in ihm eine innere Kraft, die frei dem 
gleichen zustrebt, worauf der Druck von außen hinarbeitet, und 
auf diese Weise hebt sich, langsam aber unaufhaltsam, das all- 
gemeine Niveau. Nach dem orientalischen System muß der un- 
mündig geborene unmündig bleiben, und so hoch der Mündige 
stehe — ein Erwachsen der Masse erscheint ausgeschlossen; die 
Menschheit als Ganzes verharrt auf der ursprünglichen Daseinstufe. 
Innerhalb des unserigen besteht die Möglichkeit, daß gerade die 
Masse dahin gelangte, wo bisher nur Bevorzugte standen; und die 
ist eben dadurch geschaffen worden, daß die äußeren Umstände 
es dem Unmündigen nahelegen, aus eigenem Antrieb dem Guten 
nachzueifern, so daß geistige Mächte ihn nun hinausführen können 
über die Grenzen seiner ererbten Natur. Dank diesem Umstand 
ist ein erstaunlich hoher Prozentsatz nicht hochgeborener Weißer 
innerhalb eines Jahrhunderts auf eine Stufe hinangestiegen, wie 
solche die Shastras dem indischen Qudra erst nach Jahrtausenden 
rastlosen Strebens durch unzählige Wiedergeburten hindurch in 
Aussicht stellen. 
Von hier aus wird nun sehr deutlich, inwiefern das Streben 
nach Fortschritt der Vollendung doch zugute kommt. Wohl ist 
diese auf jenem Wege nicht zu erreichen; dies bedingt das Bar- 
barentum des Modernen. Aber das Streben nach Fortschritt inner- 
halb eines Kultursystems, in dem die höchsten Ideale als ob- 
jektive Mächte wirken, bringt es andrerseits dahin, daß mehr und 
mehr Menschen auf die Naturstufe gelangen, auf der in Indien 
allein der Brahmane steht. Auch dieser wird ja nicht vollendet 
geboren — was seinen Vorzug macht, ist eine bessere Erbanlage, 
die ihm ermöglicht, unmittelbar, ohne Umwege dem irdisch- 
Höchsten nachzustreben; unser Kultursystem kann es einmal dahin 
bringen, daß alle Menschen als Brahmanen anheben werden. 
Dies muß dem Gleichheitsideal zugute gehalten werden, so 
sehr es die Menschheit sonst herabdrückt und oberflächlich macht. 
Stellte der jetzige Zustand einen Endzustand dar, dann müßte er 
bekämpft werden; das Nivellement nach unten zu, das die Demo- 
kratie zunächst mit Notwendigkeit bewirkt, zieht eine ungeheure 
Demokratie als Arbeitshypothese ; moderner u. indischer Evolutionismus. 553 
Entwertung der Menschheit mit sich, deren Andauer den Ruin 
bedeuten würde. Allein sie wird nicht andauern; die Demokratie 
bedeutet nur eine Arbeitshypothese, die sich, wenn die Zeit dazu 
gekommen, von selbst erledigen wird. Kaum daß das Gesamt- 
niveau sich genügend erhoben hat, werden neue Schichtungen 
entstehen, neue Berge sich auftürmen, neue Talkessel sich bilden; 
nur wird die neue Aristokratie auf höherem Niveau beruhen, als 
es die alte tat, deren Eigenschaften nunmehr zum Erbteil der Masse 
geworden sein werden. 
Überhaupt hat der Demokratismus viel Gutes; jede auf dem 
Entwicklungsgedanken aufgebaute Weltanschauung formt 
optimistische Menschen, und nichts beschleunigt den Er- 
folg so sehr, wie Selbstvertrauen. Was nun den modernen Evo- 
lutionismus von allen bisherigen auszeichnet, ist die Kürze des zur 
Entwicklung verlangten Zeitmaßes. Die altindische Weltanschau- 
ung, welche ganz gleich der modern-demokratischen lehrt, daß 
jeder im Prinzip des Höchsten fähig sei und daß die Kasten nur 
Etappen auf dem Wege des Fortschritts bedeuten, verklausulierte 
ihren Freibrief dahin, daß jedes gegebene Leben in seinem an- 
geborenen Rahmen verharren müsse und ein Durchbrechen der 
Kaste nur von Leben zu Leben, durch den Übergangszustand des 
Todes hindurch, denkbar sei; im gleichen Sinn räumt jeder nicht 
ganz bornierte Aristokrat wohl ein, daß ein Aufrücken der Familien 
stattfindet, so daß es ungerecht wäre, den Vorgeschrittensten die 
Aufnahme in seine Standesgemeinschaft zu versagen — hält aber 
zugleich daran fest, daß es mindestens dreier Generationen bedarf, 
um einen Gentleman hervorzubringen. Der moderne Demokratismus 
hiergegen behauptet, daß der Prozeß in einem Leben durchlaufen 
werden kann. 
Es ist nun einerseits wohl gewiß, daß derart schnelles Wachs- 
tum nicht ersprießlich ist; ganz wenige Menschen vertragen es, 
aus einem engen in einen weiten Rahmen hinüberversetzt zu 
werden; wäre es anders, die modernen Europäer und Amerikaner 
wirkten weniger roh. Aber andrerseits potenziert der demokra- 
tische Glaube den Optimismus so ungeheuer, daß dieser zu einer 
elementaren Kraft erwächst, deren Tugend das scheinbar Unmög- 
liche möglich macht. Er bewirkt, was noch immer nicht selten der 
554 Der Optimismus als Macht ; geistiges Aufkreuzen der Masse. 
„ursprünglichen Gleichheit aller Menschen" zugeschrieben wird, 
daß die alten, durch die Geburt gesetzten Schranken heute wirklich 
weniger als früher gerechtfertigt erscheinen; dank ihm ist wirklich 
wahr, daß der Entwickelungsprozeß sich abkürzen läßt. Und wenn 
zunächst mehr die Nachteile des Flüssiggewordenseins der alten 
Formen ins Auge fallen, so bedenke man, daß dieses nach kurzer 
Zeit voraussichtlich schon anders sein wird; bald wird es in den 
vorgeschrittensten Ländern ganz niedere Volksschichten überhaupt 
nicht mehr geben; alle werden geschult, bis zu einem gewissen 
Grade sogar gebildet sein. Und wenn über diesem Ereignis auch 
nur eine Generation verstrichen sein wird, dann werden Empor- 
kömmlinge im alten Sinn nicht mehr erstehen, denn ganz unvor- 
bereitet zu einer höheren Lebensstellung wird keiner mehr sein. 
Das demokratische Ideal bedingt ein geistiges Aufkreuzen der 
niederen Volksschichten; bald werden sie in weitem Maße veredelt 
sein. Ist dieses aber erreicht, so wird der Glaube an die Gleich- 
heit aller von selbst vergehen und die Basis geschaffen sein für die 
aristokratische Ordnung der Zukunft. 
Unter den Weisen Alt-Indiens galt als eine der Grundeigen- 
schaften, die ein Jüngling besitzen mußte, um der Aufnahme als 
Chelä wert zu gelten, die Genußfähigkeit. Das ist wohl nur 
ein anderer Ausdruck für optimistisches Temperament. Wer nun 
qualifiziert erschien zur Aufnahme, dem wiesen sie den Weg, im 
Laufe eines Lebens so weit zu kommen, wie er sonst nur im 
Laufe der Jahrtausende durch viele Körper hindurch gelangt wäre; 
auch die indische Weltanschauung gibt also die Möglichkeit zu, 
die Entwickelung abzukürzen. Aber sie statuiert sie nur für einen 
unter Millionen; die demokratische setzt sie für alle voraus. Das 
scheint verwegen. Doch wenn man bedenkt, wie niedrig das 
höchste Ideal, das die Demokratie bisher aus sich entwickelt hat, 
^im Vergleich zum indischen ist, dann neigt man zur Zustimmung. 
Dieses Ideal können wohl alle vielleicht erreichen. Und sind sie 
erst dort, so werden höhere von selbst an ihrem geistigen Hori- 
zonte aufgehen. 
Exzentrizität als Naturbasis der Originalität. 555 
Wo mehr als zehn Amerikaner versammelt sind, kann 
man sicher sein, daß einer unter ihnen ein crank ist; 
eine Original von der exzentrischen Sorte. Auch auf 
diesem Dampfer habe ich einen entdeckt: einen Missionar, dessen 
Spezialität der Dämonenglaube ist. In China will er gesehen 
haben, wie die Geister toter Mädchen von anderen Besitz er- 
greifen, und wie Taufe allein diesem Verhängnis vorbeugen könne; 
auf diese Idee und deren Ableitungen reist er seither. — Während 
ich heute, in sympathetischer Verfassung, dieser Erscheinung nach- 
sann, fiel mir ein, daß ich unter Asiaten auch nicht einem crank 
begegnet bin. Der Fakir könnte, äußerlich betrachtet, wohl als 
Exzentrik gelten: aber seine Art ist ganz unpersönlich; er folgt 
einem exzentrischen System, ohne selbst nur im mindesten exzen- 
trisch zu sein. Die spezifisch individuelle Note fehlt. 
Diese Note dominiert unter uns; desto mehr, je typischer- 
westlich wir sind. Und im gleichen Verhältnis blüht unter 
uns der crank. Das Streben nach Individualisiertheit kann unter 
Durchschnittsmenschen nicht zu wertvollen Ergebnissen führen; 
diese werden nur exzentrisch, wenn sie „sie selbst" sein wollen, 
und wirken unvollkommener als noch so beschränkte Klassentypen, 
weil die Tradition immer weiser ist als der mittelmäßige Einzelne. 
Ja, aber andrerseits können nur dort, wo alle „sie selbst" sein 
wollen, wo die Rechtmäßigkeit dieses Strebens vorausgesetzt wird, 
wirklich große Neuerer emporkommen; im alten China wäre ein 
Edison undenkbar gewesen. Dieselben Umstände, welche das 
Zerrbild des Exzentrik begünstigen, kommen auch dem Genius zu- 
gute. Oberflächlich betrachtet, ist eben auch dieser ein Crank. 
Das Streben nach Anders-Sein ist die notwendige Voraussetzung 
aller erfinderischen Originalität. 
Somit müssen wir uns wohl dabei bescheiden, unsere im Ein- 
zelfalle höhere Originalität durch eine größere Unvollkommenheit 
des Durchschnitts erkauft "zu sehen. Jede Neuerung qua Neuerung 
ist ein Kulturfeindliches, insofern als Kultur das Fleischgeworden- 
sein eines gegebenen Geistes bedeutet und einem Neuentstehenden 
das Fleisch noch fehlt. Neuerungsstreben macht ferner oberfläch- 
lich; wessen Aufmerksamkeit auf die Verwandlung der Erschei- 
nung geheftet ist, verliert leicht indes die Fühlung mit seinem 
Grund. Je erfinderischer wir wurden, desto mehr sind wir ver- 
556 Neuerungsstreben macht oberflächlich. 
flacht und sollten wir noch lange diese Entwicklungsrichtung ein- 
halten, so könnten wir verderben. Allein ich kann nicht glauben, 
daß es noch lange so fortgehen wird. Ich bin vielmehr überzeugt, 
daß unser Verlieren an Tiefe den gleichen Sinn hat, wie das vor- 
läufige Minusmachen dessen, der ein Landgut verbessert: es handelt 
sich in Wahrheit um Investierung. In uns werden, unter ungeheueren 
Kosten, neue Organe herangebildet; wo früher die Gruppe der 
Träger aller Kulturgedanken war, soll es fortan der Einzelne sein. 
Diese Neuorganisation bedingt ein vorläufiges Verzichten auf die 
Erträge, die durch die alte Ordnung gesichert schienen. Aber 
wenn die neuen Betriebe erst im Gange sind, dann wird das Gut 
vielleicht das Zehnfache abwerfen. Wohl schwerlich wird die weiße 
Menschheit der Zukunft aus lauter Edisons bestehen; aber aller 
Wahrscheinlichkeit nach wird die Zahl der cranks stetig abnehmen 
und einem neuen Typus Platz machen, der einerseits so wurzelecht, 
wie der alte Klassentypus, andrerseits so selbstbestimmt erscheinen 
wird, wie der extremste moderne Individualist. Nur der Ober- 
flächliche bekennt sich nämlich zum Individualismus, der Vertiefte 
fühlt unmittelbar den Zusammenhang. So wird die Zukunft schein- 
bar wohl zu einer Wiederherstellung der alten Ordnung führen. 
Die Exzentriks werden abnehmen, die Durchschnittsmenschen aus- 
geglichener erscheinen. Und doch wird es sich um ein völlig Neues 
handeln: alle werden Individualitäten sein. Dann wird die indivi- 
duelle Form der Masse die gleiche Vertiefung ermöglichen, wie 
bisher nur die typische. 
Dieser Tage schreibe ich, als wäre ich Evolutionist, als 
glaubte ich so fest an den Fortschritt, wie ein Yankee. Das tue ich 
wirklich, sofern es sich um Abendländer handelt, und soweit von 
Fortschreiten überhaupt die Rede sein kann. Daß unser Fortschritts- 
begriff dem Naturprozeß unangemessen sei, erscheint gewiß, und 
diese Erwägung erledigt Spencers Theorie. Nicht bloß Pflanzen 
und Tiere bleiben von sich aus durch Äonen die gleichen und ver- 
wandeln sich bloß in Reaktion auf eine sich wandelnde Außenwelt 
— auch von den Menschen gilt gleiches überall, wo kein „Jenseits" 
des Physiologischen ihr Leben regiert; so weist die russische 
Geschichte vom fünfzehnten Jahrhundert bis auf gestern, vom 
Menschen und seinen Motiven her besehen, nur Wiederholungen 
auf. Aber jene Theorie hätte so großen Anklang nicht gefunden, 
wenn sie dem Intellekte nicht gemäß wäre. Dieser ist wesent- 
Evolutionstheorie falsch; Realgrund des Fortschrittsgedankens. 557 
lieh zielstrebig, notwendig fortschreitend; er steht nie still, ist un- 
fähig sich zu bescheiden, jedes Erkannte weist auf neue Erkennt- 
nisse hin, die sich schnurstracks dem Ideale zubewegen. Wo In- 
tellekt daher das Leben dominiert, muß dieses fortschreiten seinen 
Normen gemäß. Wir Westländer haben uns jenem ganz ver- 
schrieben ; unsere besondere Natur ermöglicht uns, seiner Eigen- 
bewegung in hohem Grad zu folgen, seine Ideale sind unsere Ziele; 
also verändern wir uns gemäß dem Fortschrittspostulat. Wie weit 
dies gehen wird, bleibt abzuwarten; die an sich konservativ ge- 
sinnte Physis mag den Forderungen des Geistes Schranken setzen, 
die er nicht überwinden kann. Immerhin ist Fortschreiten ins Un- 
begrenzte hinaus denkbar. Und da Glaubensinhalte reale Mächte 
sind und Ideale überaus mächtige Attraktionszentren, so mag die 
Zukunft der weißen Menschheit noch Erfüllungen bringen, die 
keine Gegenwart versprach. 
Mit den Missionaren kann ich mich aber trotz besten 
Willens nicht befreunden. Freilich gibt es große und edle 
Menschen in diesem Beruf, aber sie sind gar undicht 
gesäet und erfüllen ihn dann auch entsprechend schlecht: sie 
wollen nie eigentlich „bekehren". Es ist und bleibt eine Beschrän- 
kung, seine Meinung anderen aufzudrängen, was sich praktisch 
deutlich genug darin erweist, daß alle richtigen „ Missionare be- 
schränkt sind. Hier an Bord habe ich mich mit einigen unterhalten, 
welche jahrelang in China gewohnt haben: die haben es tatsächlich 
zu Wege gebracht, von den Vorzügen des Konfuzianismus nichts 
zu merken! Solche Blindheit ist wahrlich gottbegnadet, nur auf 
übernatürliche Weise zu erklären. Die christlichen, zumal die 
protestantischen Missionare sind mit verschwindenden Ausnahmen 
verständnislos, engherzig und seelisch roh. Wie kläglich wenig 
gilt von ihnen, was von den Aposteln des Bahaitums gilt, denen 
BahaVllah, ihr Messias, die schöne Weisung gab: „O Kinder 
von Baha ! Verkehrt mit allen Völkern der Welt, mit den Bekennern 
aller Religionen im Geist vollkommener Freudigkeit. Erinnert sie 
daran, was allen frommt, aber hütet euch davor, das Wort Gottes 
zum Stein des Anstoßes oder zur Quelle gegenseitigen Hasses 
zu machen. Wenn ihr wißt, was der andere nicht weiß, so 
558 Einzigartig formende Kraft des Christentums. 
sagt es ihm mit der Zunge der Freundlichkeit und Liebe. Nimmt 
er es an und auf, so ist das Ziel erreicht; weist er es ab, so betet 
für ihn und überlaßt ihn sich selbst; nie dürft ihr ihn 
belästigen " 
Wahrscheinlich sind die Missionare des Anfangs unserer Zeit- 
rechnung nicht viel besser gewesen. Und wenn ich nun dessen 
gedenke und der Höherentwickelung, die sie trotzdem eingeleitet 
haben, dann wird meine Stimmung denen von heute gegenüber 
milder. Freilich ist es ein Unglück, daß sie Indien und China heim- 
suchen, denn die Bewohner dieser Länder stehen teilweise geistig, 
teils moralisch und teils spirituell zu hoch über denen, die sie be- 
lehren kommen, als daß sie irgendwie förderlich wirken könnten. 
Aber zu roheren Völkern mögen sie gehen; denen werden sie ebenso 
nützen können, wie ihre Vorgänger unseren barbarischen Vorfahren 
genützt haben. Ja, denen werden sie sich förderlicher erweisen, 
als die Verkünder tieferer Weisheit es vermöchten, denn unzweifel- 
haft eignet dem Christentum eine einzigartige formende Macht; 
es ist die einzige spiritualistische Religion, welche solche besitzt. 
Und sie besitzt sie anscheinend ganz unabhängig von der Qualität 
derer, welche sie verkünden, und von dem geistigen Wert ihrer 
Dogmen, denn dieser Wert ist, verglichen mit dem des Brahma- 
nismus und beider Buddhismen, gering. Er hat sich sogar stetig 
verringert im Lauf der Jahrhunderte, denn wenn die frühesten 
Kirchenväter spirituelle Einsicht besaßen, so gilt dies schon wenig 
von Luther und Calvin, und gar nicht von den Handwerkern und 
Schwarzarbeitern, die in Amerika als Religionstifter auftraten. Aber 
nahezu im gleichen Verhältnis, wie der geistige Wert des Christen- 
tums sank, ist der praktische, die Effikazität, gestiegen. Es kann 
nicht geleugnet werden, daß der Protestantismus Menschen von 
größerer Idealität formt, als der Katholizismus, und daß die noch 
so alberne Dogmatik der amerikanischen Sekten den Geist des 
Christentums in ihren Bekennern zu einer Macht herangebildet hat, 
wie er dies früher nie gewesen ist. Wie ist dies zu verstehen? — 
Eben dahin, daß der Geist des Christentums ein Geist der Praxis 
ist, weswegen es nicht allzuviel bedeutet, an welche dogmatische 
Vorstellungen er jeweilig geknüpft erscheint. 
Von hier aus allein ist es möglich, dem Christentum gerecht 
zu werden. Es ist nicht wahr, daß die Lehren Jesu Christi an 
philosophischem Tiefsinn ein Maximum bedeuteten; selbst das 
Der Geist des Christentums als Geist der Praxis. 559 
Johannes-Evangelium wirkt unzulänglich, verglichen mit der 
Bhagavat-Glta. In den Lehren Sri Krishnas und der Mahäyäna- 
Religion stehen die Grundideen des Heilandes des Westens in 
tieferer Fassung da, erscheinen' überdies in einen Zusammenhang 
hineinbezogen, der jenem wohl ganz verborgen geblieben war, 
und ihnen doch erst ihren eigentlichen Sinn gibt. Vom Standpunkt 
metaphysischer Erkenntnis her betrachtet, stellt das traditionelle 
oder buchstäbliche Christentum sich als ein ganz Vorläufiges dar. 
Aber es ist überhaupt keine Religion der Erkenntnis, sondern eine 
der praktischen Tat, und als solche überragt sie alle anderen. Wie 
ich's schon schrieb: unter den christlichen Völkern allein sind die 
Ideen der Liebe, der Humanität, der Barmherzigkeit zu objektiven 
Mächten geworden und dies bedeutet, daß das noch so unvoll- 
kommen erkannte Metaphysisch-Wirkliche durch das Christentum 
in der Erscheinung besser verwirklicht wird, als durch irgendeinen 
anderen Glauben. Dessen Stifter waren eben wohl oberflächlichere 
Erkenner, aber tiefere Täter als Krishna und Acvagosha; ja, inso- 
fern beide Teile die Erscheinung gestalten wollten, waren jene die 
tieferen schlechthin, denn in der Sphäre des aktuellen Lebens 
ist die Fassung einer Idee die absolut beste, die sich am besten 
bewährt — gleichviel, wie weit sie geistig befriedigt. Dies ist der 
Sinn jener Überlegenheit des Christentums, welche die Geschichte 
beweist, so sehr der einseitige Geistesmensch an ihr zweifeln mag. 
Und dieses rechtfertigt zugleich die Mission. Die beschränk- 
ten Menschen, welche ausziehen ihre unmaßgeblichen Meinungen 
anderen Leuten aufzudrängen, verkünden durch ihr Sein doch ein 
echtes Evangelium: das der Arbeit und der schöpferischen Tat. 
Sie geben ein Beispiel hohen Opfermuts, nie ermüdender Initiative, 
unbeirrbarer Konsequenz, des festen Willens dem Guten zum Sieg 
zu verhelfen. Das ist ja das Wesentliche der westlichen Kultur, 
daß sie nichts als unabänderlich gelten läßt. Wir halten für mög- 
lich, die Welt von Grund aus umzuwandeln, unsere höchsten Ideale 
der Wirklichkeit einzuverleiben. Dieser Geist der Kampflust, des 
Muts, des Optimismus ist dem Orient fremd; er steht Menschen- 
kraft zu skeptisch gegenüber, er weiß zu viel .... Oder hat er 
am Ende Wichtiges übersehen? Hätte ich, bei meinen bisherigen 
Betrachtungen, den Nachdruck auf den falschen Ort gelegt? — 
Die ersten amerikanischen Möven kommen geflogen. Die psychische 
Wasserscheide ist überschritten, unaufhaltsam zieht es mich zu. 
560 Christentum die höchste Verkörperung des Geists der Freiheit. 
okzidentalischer Seinsgestaltung zurück. Und nun erkenne ich, daß 
die praktische Überlegenheit des Christentums ihrerseits Ausdruck 
eines unbedingten metaphysischen Vorzugs ist: es verkörpert, wie 
keine andere Religion, den Geist der Freiheit. Auf zwei Weisen 
allein kann der naturbedingte Mensch sich frei erweisen: indem 
er innerlich ja sagt zum Geschehen, und indem er ihm initiatorisch 
die Richtung gibt. Dementsprechend resümieren die christliche 
Ethik zwei Gebote: daß jeder sein Kreuz auf sich nehmen soll 
und jeder furchtlos und opferfreudig kämpfen für den Sieg des 
Guten. Diese leiten wahrhaftig einen jeden zu einem Leben der 
Freiheit an. Wenn die Inder, die tiefsten Erkenner, praktisch ver- 
sagen, so liegt dies daran, daß sie innerhalb der Erscheinung ihr 
freies Wesen nicht auszuprägen wissen. Anstatt ihr Kreuz auf 
sich zu nehmen, gedenken sie seiner Unwesenhaftigkeit, was sie 
ebensowenig entbindet, wie das Verleugnen eines unliebsamen Ver- 
wandten die Verwandtschaft aufhebt; anstatt ihre Erkenntnis ihrer 
Wesenseinheit mit Brahman, der sich in dieser Welt immer voller 
und voller manifestieren will, zur Tat werden zu lassen, indem sie 
überall Initiative bekunden im Sinn des Gottgewollten, schauen sie 
bloß zu, wie Gott sich selber hilft. Wir nun wissen nicht entfernt 
so viel wie jene; aber Christi Lehre leitet uns an, unbewußt im 
Sinn ihres Wissens zu leben. So sind wir zur Tat berufener als sie. 
Wir sind Gottes Hände. Diese Hände als Hände sind blind und 
ihre Blindheit hat viel Unheil angerichtet. Aber werden sie einst 
geführt vom erkennenden Geist, so wird ihnen gelingen, soweit 
solches überhaupt möglich ist, das Himmelreich auf Erden zu 
begründen. 
VIII. 
AMERIKA. 
Keyserling, Reisetagebuch. 
Das „Sollen" als typisch-westlicher Begriff. 563 
SAN FRANCISCO. 
Im Westen zurück. Wie gut, daß ich als Erstes den fernen 
Westen zu Gesicht bekam! Diese Welt ist so extrem okziden- 
talisch, daß die innere Umstellung, deren es bedarf, um in 
sie einzudringen, die Bilder des Orients selbsttätig verdrängt. So 
sehe ich mich über den unglücklichen Übergangszustand, da das 
Bewußtsein von Altem und Neuem in unreinem Gemenge über- 
völkert ist, auf einmal hinausgehoben. 
Am ersten Tage nahm ich den Tee, in der Vorstellung, ich 
müßte noch am- gestern haften, in dem entzückenden japanischen 
Teehaus, das dem Spaziergänger am goldenen Tore Rast ge- 
währt. Was kam mir da als erstes in den Sinn? daß die ge- 
zwergten Bäume sich darnach sehnten, zu Riesen auszuwachsen! 
Nie kam mir solche Vorstellung in Japan; sie ist dessen Geist 
zuwider. Also hatte ich schon am ersten Tag das Verhältnis zum 
Orient verloren. Die Luft Kaliforniens muß eine ungeheure Bil- 
dungskraft besitzen. Ich beobachte, was in mir vorgeht: es ist 
eine richtige Metamorphose. Das Bewußtsein des Seins tritt 
zurück, es potenziert sich dasjenige des Werdens; und schon 
treten die Imperative in den Vordergrund, die im Subjektiven 
überall die objektiven Naturtendenzen spiegeln: man soll werden, 
soll wachsen, soll fortschreiten; offenbar lag dieses Sollens- 
gefühl meinem Eindruck zugrunde, der vom so ganz unwahr- 
scheinlichen Wachsenwollen der japanischen Zwergpflanzen 
kündete. Dabei fällt mir ein, daß ich im Osten niemals „gesollt" 
habe. Wäre ein Kant, ein Fichte, im Orient möglich gewesen? Ich 
glaube nicht. Wo das Bewußtsein des Seins überwiegt, dort ist 
die Not des Entstehenwollens unbekannt; dort können Homun- 
36* 
564 Absoluter Vorzug der westlichen Lebensform. 
kulusgefühle nicht aufkommen; dort scheint es unnötig zu gebieten: 
„Werde was du bist". Der Tatbestand ist dort wie hier prinzipiell 
der gleiche, allein der Mensch stellt sich anders zu ihm. Der Misse- 
täter im Osten kennt kein Sündigkeitsgefühl, der Streber hat dort 
dennoch Geduld; wer sich noch so brünstig nach Vollendung sehnt, 
sich der Unzulänglichkeit der Gegenwart noch so bewußt ist, ver- 
spürt doch selten den inneren Drang, die Entwickelung abzukürzen. 
Man sagt, der Orientale habe Zeit. Die Wahrheit ist, daß ihm 
das Zeitbewußtsein fehlt; deshalb stellen sich ihm die Wesens- 
probleme unabhängig von ihrer temporellen Aktualisierung. Nie 
würde ein Chelä es aushalten, ein Menschenalter bei seinem Guru 
abzuwarten, ob er nicht der Erleuchtung teilhaftig würde, wenn 
die Zeit ihm ein Wirkliches wäre; wo sein Bewußtsein überhaupt 
an der Erscheinung haftet, also z. B. im Zustand der Verliebtheit, 
ist der Hindu nicht geduldiger als wir. Das Typische für den 
Inder ist eben, daß er sich seines eigentlichen Seins als solchen 
normalerweise bewußt ist, so daß der Sünder sich wesentlich als 
Heiliger fühlen kann, der Anfänger als Vollendeter, der Narr als 
Weiser, weshalb es nicht unerläßlich erscheint, das Sein im Werden 
auszuprägen. So haben weder die indischen, noch die chinesischen 
Weisen in unserem Sinn Gebote aufgestellt; sie haben gesagt: 
wenn du das tust, so wirst du vollendet; wenn du so bist, dann 
hast du es erreicht; wenn du den Fehler begehst, dann wird deine 
Entwickelung aufgehalten. Nie sagten sie: du sollst das tun. 
Der Orient kennt kein „Sollen", weil er „ist"; wir, die unaufhaltsam 
werdenden, sehen das Sein in der Form eines „Gesollten" vor uns. 
Wie seltsam, wieder einmal zu sollen! Nun werden neue 
Werte zu bestimmenden: die Leistung wird entscheiden über den 
Wert des Seins, der Erfolg über den des Wollens. Nun erhält die 
Erscheinung einen absoluten Sinn, da das Absolute in ihr zum 
Ausdruck kommen soll. Die Zustände des Daseins stellen sich 
nicht mehr als gleichwertige Gegebenheiten dar: nun ist der 
Reiche mehr als der Arme, der Starke mehr als der Schwache, 
der Weise mehr als der Narr. Es gilt nicht mehr, eine gegebene 
Stellung auszufüllen, sondern die denkbar günstigste zu erringen. 
Welche Daseinsform ist vorzuziehen, die östliche oder die west- 
liche? Darf ich noch urteilen? schon bin ich nicht mehr unbefangen; 
schon will ich so stark wieder werden, entstehen, erschaffen, ge- 
stalten, vollenden, schon füllt das Wollen als solches so sehr mein 
Analyse des Westländerbewußtseins ; Expansionstrieb. 565 
Bewußtsein aus, daß ich mich in eine andere Existenzart nur schwer 
hineinversetzen kann. Aber soviel scheint wohl unbestreitbar: für 
diese Welt hat der Westen das bessere Teil erwählt. Um das 
Recht, das ideell ewig gilt, zur Geltung zu bringen, bedarf es der 
Gewalt, an sich selbst ist es machtlos; zur Darstellung noch so 
wahrer Ideen sind materielle Mittel nötig. So sehr die östliche 
Lebensmodalität dem Erkenner frommt, zur Umsetzung des Er- 
kannten in Taten ist die westliche besser. Vom Standpunkte dieser 
Welt ist es Chimäre, wenn der Sünder sich als Heiliger fühlt — 
es muß heilig werden, seine Erscheinung ändern, wenn es sein 
Wesen hier verwirklichen will. Das Werden aber beherrscht nur, 
wer es ernst nimmt, sich bewußt mit seinen Phasen identifiziert; 
nur der beschleunigt es, wer seinen Willen fest aufs Ziel richtet, 
und dies vermag nur, wer es in Form eines irgendwie Gesollten 
vor sich sieht. Die Inder, in der Ideenwelt zu Hause, haben sich 
nur treiben lassen vom Strom des Geschehens. Wir wissen ihn 
zu lenken. 
IM YOSEM1TE-TAL. 
Wirklich entrückt bin ich dem Orient doch noch nicht: er 
bildet den Hintergrund meines Abendländer-Erlebens, 
dank welchem dieses ein Relief erhält, das ihm sonst 
abging. So finde ich es nicht selbstverständlich, es fällt mir auf, 
daß mein Selbstgefühl sich mehr und mehr in den Grenzen meiner 
Person zusammendrängt. Großartig ist die Natur, die mich um- 
gibt; in gleicher Landschaft, in Indien oder in China, hätte ich mein 
Ich schon längst im All verloren. Mit den Felsen würde ich mich 
lasten fühlen, die in steiler Mauer das Schwemmland des Yosemite 
einfassen; ich erlebte mich als Seele der Fälle, deren Wasser- 
massen nach vielhundertfüßigem Sturz das Tal als zartes Nebel- 
bild erreichen; in jeder Tanne strebte ich himmelwärts. Hier 
bin ich nicht selbstverständlich eins mit dem, was mich umgibt; 
ich scheide zwischen mir und den Felsen, die Wasserfälle sehe 
ich außer mir, der Geist der Wälder ist mir ein Du. Und versetze 
ich mich absichtlich in das hinein, was doch wesentlich zu mir ge- 
hört, so ist mir, als eroberte ich es. Mein Weltgefühl äußert sich 
566 Sinn des westlichen Eroberertums. 
als Trieb zur empirischen Expansion. Ich kann nicht mehr hinein 
in die Natur, ohne mein Ich mit hineinzunehmen; dessen Gewebe 
scheint zu dicht geworden, als daß es sich als Geist in ihr ver- 
breiten könnte. 
Dementsprechend gesteigert erscheint mein Daseinsgefühl. 
Die Kraft, welche jüngst erst den Weltraum ausfüllte, ist nun in 
den Grenzen meines Individuums zusammengedrängt. Dadurch 
erhält dessen Energie einen Stärkegrad, wie ich ihn in Indien nie- 
mals erlebt habe. Wohl bin ich ursprünglich nicht eins mit der 
Welt rings um mich her, doch was sollte mich hindern es zu 
werden? Warum sollte ich den Himmel nicht erstürmen, den 
Erdkreis nicht einnehmen? Mir ist, als vermöchte ich alles, was 
ich nur will, und es drängt mich, es zu beweisen. — Dieses also 
wäre der Sinn des westlichen Eroberertums! Wir stellen das 
Problem im Rahmen von Raum und Zeit, das der Inder unab- 
hängig davon zu lösen trachtet, aber es ist doch ein gleiches 
Problem! Ich fühle mich auch nicht oberflächlicher geworden, 
als ich in östlicher Gestaltung war, wenngleich die bestimmten 
Aufgaben, die sich mir stellen, allesamt an der Oberfläche der 
Dinge haften. Wie seltsam, daß ein gleicher innerer Sinn so grund- 
verschiedenen Ausdruck finden kann : dort als mystische Erkenntnis, 
hier als Trieb zur Eroberung; dort als allverstehendes Genügen, 
hier als blinder Drang zum Erwerb. Aber der Sinn ist wohl 
überall Einer, und es hängt von den Umständen ab, ob er als 
Raubtier oder als Reh, als Selbstlosigkeit oder Begehren, als Ver- 
stehen oder Tun zutage tritt. 
In Californien wird mir zum erstenmal deutlich bewußt, 
welcher Art die Verhältnisse sind, die das Phänomen des West- 
länders ermöglichen, denn hier treten sie in extremer Ausprägung 
zutage. Diese Luft ist ungeheuer vitalisierend; noch nie habe ich 
über gleich viel kinetische Energie verfügt. Und fasse ich den 
Eindruck meines inneren Erlebens mit der Anschauung der 
Pflanzenwelt zusammen, dieses wahrhaftigsten Ausdrucks der 
elementaren Lebensbedingungen, so erkenne ich unmittelbar, in- 
wiefern das Vitalisierende dieser Welt anderen Sinnes ist als das 
der Tropennatur. Nirgends scheinen die äußeren Verhältnisse der 
Flora günstiger zu sein, als in der Treibhausatmosphäre Ceylons; 
dennoch bedeuten sie für das Leben, von dessen Standpunkte aus, 
kein Optimum. Dort ist es niemals stark; das Individuum ist 
Bedeutung der Individualisierung. 567 
nicht ausgeprägt; unaufhaltsam wuchern die Elemente über den 
Plan des Ganzen hinaus, das vereinigende Band erschlafft, der 
Intensitätsfaktor leidet. Bei Gewächs und Mensch tritt Gleiches 
in die Erscheinung: bei abnormem Ausbreitungsvermögen Konzen- 
trationsmangel. Die Grenze zwischen Individuum und Gattung 
verschwimmt, das Einzelne verliert sich in der Masse. Gleich den 
Lianen wuchern die Geschlechter, wie das Unkraut die Gebilde der 
Phantasie; nur ausnahmsweise kommt es zu scharfumrissenen, 
innerlich festen, starken und eindeutigen Gestalten. — In Cali- 
fornien drängt alles zur Individualitätenbildung. So günstig die 
äußeren Umstände seien, das innere Moment dominiert. Der fabel- 
haft fruchtbare Boden treibt keinen Dschungel, sondern einzelne 
Baumriesen hervor. 
Die größere Individualisiertheit, die den Westen dem Osten 
gegenüber auszeichnet, bedeutet sonach weniger Beschränkung, als 
Potenzierung der Lebensmöglichkeiten; oder genauer ausgedrückt: 
der Verlust an üppigem Reichtum kommt der inneren Spannkraft 
zugute. Gleichwohl spüre ich es hier mehr denn je, gerade hier, 
wo sich die Natur dem Westländersinn am holdesten erweist, 
inwiefern der Orient uns voraus ist. Es fällt mir über die Maßen 
schwer, ein geistiges Dasein zu führen; nur mit übergroßer An- 
strengung kann ich mich hier auf Ewigkeitsprobleme konzentrieren; 
die große Natur um mich herum findet kaum ein Echo in meiner 
Seele. Das liegt nur zum geringen Teil daran, daß ich mich in der 
Wildnis befinde, in einer Welt, in der noch nie gedacht ward; es 
liegt hauptsächlich an den intimen Vorgängen, die sich in meinem 
Organismus abspielen und dem Bewußtsein übermächtig aufdrängen. 
Ich spüre mich wiederum wachsen, als ob ich mein physisch-orga- 
nisches Leben neu begänne; ich fühle mich in den Zustand zurück- 
versetzt, da meine Lebenskraft mit der Bildung des Körpers vollauf 
beschäftigt war. Aller Geist scheint im Körperlichen gebannt. 
Dementsprechend ist alles Streben stoffgebunden; wollte ich jetzt 
himmelan, ich könnte es nur im Sinn der Tanne tun. — Unsere 
Welt ist eine Kinderstube verglichen mit der östlichen. Seltsam, 
daß derartiges einem an Bäumen so deutlich werden kann. Sie sind 
doch alt genug, diese Riesen, die doppelt und dreimal so hoch, 
wie in Europa, über den Erdboden hinausragen. Aber sie gehören 
einer jungen Rasse an. Sie sind ein Urausdruck des Lebens, gleicK 
den vorsintflutlichen Riesentieren. Ich würde mich kaum sonder- 
568 Warum und inwiefern wir Materialisten sind. 
lieh wundern, wenn hier ein Megatherium meinen Weg kreuzte, 
und kein Schauer der Ehrfurcht vor grauem Altertum überkäme 
mich dabei, sondern ein Gefühl heiterer Befriedigung darüber, 
wie jung diese Welt noch ist. 
Wir sind mehr materiell als spirituell gesinnt, weil wir aus 
der Periode physischen Wachstums noch nicht heraus sind; wir 
sind Materialisten im Sinn von Kindern. Aus eben dem Grunde 
äußert sich unsere Energie zunächst hauptsächlich in blindem 
Tätigkeitsdrang. Lebte ich länger in diesem Land, auch ich ent- 
wickelte mich wohl zum Unternehmer; mein Geist bildete sich 
mehr und mehr der Materie ein, und die Idealität des Philosophen 
verwandelte sich in die des Conquistadors. — Ich kann nicht 
behaupten, daß diese Welt mir persönlich kongenial wäre. Und 
doch bin ich mir über Eines klar: ist es das Streben des Geistes, 
die Erscheinungswelt zu durchdringen, ist es Bestimmung des 
Menschen, diese Durchgeistigung herbeizuführen, dann hat unser 
Materialismus mehr Zukunftswert als der Spiritualismus Hindu- 
stans. Dieser steht der Natur machtlos gegenüber. Er meistert sie 
nicht; darum kann er sie nicht spiritualisieren. Uns kann dies 
gelingen. Nur führt unser Weg zunächst ins Herz der Materie. 
Wir müssen hinein, hindurch durch alles das, worüber der Osten 
sich hinausschwang. Wir müssen zeitweilig Materialisten sein. 
In diesen Wäldern ist kein höherer Menschenschlag denkbar, als 
derjenige Lederstrumpfs. Prachtvoll heben sich Roughriders, 
Indianer und Cowboys vom Hintergrund der wilden Land- 
schaft ab, in der alles so groß und so weit und zugleich so ein- 
fach ist; geistigere Typen wirken als Kümmerer. Hier gilt es 
kühn und geschwind, entschlossen und skrupellos sein; die Pro- 
spektortugenden sind die Tugenden schlechthin. Wie sehr lebt 
der Conquistador im modernen Amerikaner fort! Raubwirtschaft 
treibt dieser mit Wald und Feld, Raubwirtschaft mit den Menschen. 
Er ist kaum weniger freizügig und ungebändigt, wie einst der 
Trapper. 
Ich versetze mich in jene Knabenjahre zurück, da nichts mich 
mehr vergnügte, als im Walde zu schweifen, da die Jagdpassion 
meine stärkste Leidenschaft war und der reisende Abenteurer in 
fernen Weltteilen mein verstiegenstes Ideal verkörperte. Jeder 
Knabenhaftigkeit der Amerikaner. 569 
ordentliche Junge hat diesen Zustand durchgemacht; er bezeichnet 
den normalen Bewußtseinsexponenten der Periode stärksten Wachs- 
tums. Was soll man denn anderes erstreben, wo der Arm täglich 
länger wird, als täglich weiterzugreifen? und erstrebte man es 
nicht — wie sollte er genügend erstarken? Allzu früh allzu hohe 
Ideale zu bekennen, tut nicht gut. — Ja, jugendlich wirkt er, fast 
primordial, der Mensch des Fernen Westens. Darnach sollten 
auch die wirklichen Schwächen der Amerikaner beurteilt werden. 
Allerdings sind sie Barbaren und trotz beneidenswert vorge- 
schrittener Institutionen höchst gefährlich für den Bestand unserer 
Kultur: dem Schulbuben sind gewisse Begriffe noch fremd, er kann 
nichts Schlimmes daran sehen, daß er einen kostbaren Gegenstand 
zerschlägt. Allerdings wirkt es mitunter recht komisch, wenn eine 
so unreife Nation die Allüren einer erwachsenen annimmt: aber 
noch habe ich keinen Bengel gesehen, der sich nicht weiser als 
seine Eltern gedünkt hätte. Die auswärtige Politik der Vereinigten 
Staaten ist Schülerpolitik, ihre Poesie Primanerromantik. So soll 
es im Augenblick auch sein; wer kein richtiger Junge war, reift 
nie zum Manne heran. Und dann versagen Kinder doch nur dort, 
wo sie es mit Erwachsenen zu tun haben, diesen unverständlichen 
und verständnislosen Wesen; wo sie untereinander verhandeln, 
unter ihren eigenen natürlichen Voraussetzungen, dort machen sie 
es meistens sehr gut; ihre größere Unbefangenheit läßt sie mit- 
unter sogar als die absolut Weiseren erscheinen. So hat Amerika 
eine Reihe innerpolitischer Probleme besser als wir gelöst, ist das 
öffentliche Gewissen dort unbestechlicher. Die Massen urteilen 
dort eben, wie Knaben in moralischen Fragen urteilen: primitiv, 
in Bausch und Bogen, von wenigen einfachen Voraussetzungen 
aus, insofern häufig unweise und meistens grausam, doch dem 
Sinne nach selten ganz falsch. 
Der Europäer kommt sich leicht alt vor, wenn er sich mit 
dem Amerikaner vergleicht. Er fühlt, wie viel er hinter sich hat, 
wie sehr seine mögliche Zukunft von der Geschichte voraus- 
beschränkt ist. Viele naheliegende und in der Theorie leicht durch- 
führbare Verbesserungen in unserem Zustand werden nicht mehr 
durchzuführen sein, es sei denn durch zerschlagende Gewalt. Wenn 
dieses Bewußtsein den Europäer niederdrückt, dann gedenke er 
des Orients und der Art, wie unsere Welt sich diesem darstellt. 
Er sieht keinen anderen Unterschied zwischen Europäer- und 
570 Unsere Welt erst gestern entstanden. 
Amerikanertum, als daß ihm dieses typischer erscheint; auch wir 
muten ihn als ungefüge große Kinder an, die noch viel, viel zu 
lernen, und viel, viel Zeit vor sich haben. Und er hat Recht. 
Wir modernen Westländer sind wesentlich jung. Reicht unsere 
Tradition auch fast so weit zurück, wie diejenige Indiens — heute 
vertreten wir eine Welt, die erst gestern entstand. Die Welt- 
anschauung des Fortschritts, der Demokratie ist ein vollkommen 
Neues, steht der, welche sie ablösen kam, kaum näher als der 
chinesischen; sie aber hat uns geformt. Die letzten hundert Jahre 
haben die weiße Menschheit wieder jung gemacht. Indem sie den 
Akzent sozialer Bedeutsamkeit von den Ober- auf die Unterschichten 
verlegten, die am Erbe der Jahrtausende kaum teil hatten, haben 
sie Gleichsinniges bewirkt, wie zu Beginn unserer Ära der Bar- 
barenansturm; indem sie das Ideal aus dem Reich des Seins in das 
des Werdens hiaüberzogen, haben sie auch den ältesten, sofern sie 
ergriffen sind vom modernen Geist, die Lebensmodalität der 
Jugend mitgeteilt. Der ganze Westen steht heute in den Flegel- 
jahren. Und ist das nicht erfreulich? — Aus Jugendgebrechen 
wächst man heraus; das Decendententum, die Neurasthenie unserer 
Tage sind im ganzen keine Alterserscheinungen, sondern Wachs- 
tumskrisen, gleich Bleichsucht und Weltschmerz; was als zu- 
nehmende Verrohung beklagt wird, bedeutet in Wahrheit, daß 
neue, urwüchsige Kräfte ins Dasein treten. Freilich schmerzt der 
Gedanke, daß die historische Rolle des Bildungsadels Alt-Europas 
ausgespielt ist; allein irgendwann muß jeder Jüngeren Platz 
machen. Und dieses Abtreten bedeutet ja nicht den Tod: in edler 
Muße, unbekümmert um weltliche Ziele, mag das abendländische 
Kulturmenschentum noch lange fortblühen und dabei eine Ab- 
klärung erleben, die es im tätigen Leben nie gefunden hätte. 
Ja es mag dann erst sein Bedeutsamstes leisten vom Standpunkt 
der Zukunft: gedenken wir des, wenn uns Wehmut übermannt, 
daß es Juden und Griechen waren, nicht Goten und Vandalen, 
denen die germanische Welt ihre richtunggebenden Impulse dankt. 
Unsere Abhängigkeit von physischen Verhältnissen. 571 
IM MARIPOSA-HAIN. 
Hier stehen die gewaltigsten Bäume der Welt. Gegen sechs- 
hundert Exemplare der Sequoia gigantea, zwei- bis drei- 
hundert Fuß hoch, fünf bis zehn Meter stark, bilden zu- 
sammen einen heiligen Hain, wie ihn ehrfurchtgebietender keine 
Romantik erdichten könnte. Es ist düster drinnen und kühl, trotz 
der Augustsonne, die im Mittag steht, ihre Strahlen finden den 
Weg durch die buschigen Kronen kaum hindurch; wie in ewiger 
Abendbeleuchtung glänzt das Rot der Stämme durch die Dämme- 
rung. Die Giganten stehen da, aufrecht und frisch, als wären seit 
dem Tage ihres Aufkommens nicht Jahrtausende dahingestrichen. 
Nicht einsam, denn unter ihnen drängt sich das junge Volk; nicht 
abgestorben der Gegenwart, denn Jahr für Jahr fällt ihre Saat zur 
fernen Erde hernieder; nicht alt, denn ihnen droht kein natür- 
licher Tod. 
Mich überquillt eine Welle tiefsten Glücksgefühls. Die Erde 
ist doch noch nicht altersschwach! Noch vermag sie Gewaltiges 
zu erhalten, Gewaltiges zu schaffen! Zum ersten Mal schaue ich 
ohne Wehmut zu Großem auf. Nie habe ich in paläontologischen 
Sammlungen ohne Bitternis die Reste vorsintflutlicher Herrlichkeit 
betrachtet, nie ohne Schmerz der Riesen gedacht, die unsere Zeit 
noch hie und da, aus Atavismus oder Zufall, hervorbringt: denn 
nur zu sicher dünkte es mir, daß die Schöpferkraft unseres Planeten 
abstirbt, daß bald nur mehr Zwerge und Kümmerer auf ihm werden 
dauern können. Nun sehe ich, daß der jüngste der Erdteile noch 
die Urkraft der Urzeit besitzt. Dankbar begrüße ich ihn als den 
Hort unserer Zukunft. 
Keine Menschheit war je so sehr von physischen Verhältnissen 
abhängig, wie die weiße von heute; das ist, weil diese sich ein 
Problem gestellt hat, wie keine vor ihr: sie will sich ad indefinitum 
fortverändern. Anstatt sich an vorgegebenen Zuständen Grenzen 
zu setzen, strebt sie über alle hinaus, so daß keine erfolgte An- 
passung ihr ein Endgültiges bedeutet. Nun ist al?er nur der 
jugendliche Körper veränderungs- und anpassungsfähig, und auch 
er nur bis zu einem gewissen Punkt; deshalb kristallisieren alle 
Erwachsenen irgend einmal aus, haben alle Kulturvölker ihre Ent- 
572 Wir bedürfen einer ewig jungen Welt. 
Wickelung an irgendeinem Punkte eingestellt, ferneres Neuwerden 
frischerem Blute überlassend. Für uns ist ideell keine solche 
Grenze abzusehen; der besondere, flüssige Charakter unserer Zivili- 
sation läßt jedes feste Ziel, jeden Stillstand undenkbar erscheinen, 
verlangt Neueinstellung schier jeden Augenblick, mutet jedermann 
zu, solange er mittun will, veränderlich zu bleiben — dies aber 
bedeutet: vollkommen jung zu bleiben sein Leben lang. So ist 
unser Problem in erster Linie ein physisches. Das ahnen viele: 
wie nie vorher wird heute das Körperliche idealisiert; schon werden 
Evangelien gepredigt, in welchen Gesundheit eben die zentrale 
Stellung einnimmt, wie die Liebe im christlichen. Aber was diese 
Apostel meist vergessen, ist, daß der Mensch als physisches Wesen 
tief verwoben ist in den Zusammenhang der Natur und ohne sie 
wenig vermag. Schon Verjüngung gelingt selten anders als durch 
Verpflanzung in jüngeren Boden: ewige Jugend wäre nur denkbar 
in einer Welt, welche selbst ewig jung bliebe. Um Körper zu 
gewinnen, wie wir sie heute brauchen, von grenzenloser Spann- 
kraft, von nie versagender Plastizität, bedürfte es einer unendlich 
vitalisierenden Umwelt, einer Welt so jung, wie sie am fünften 
Schöpfungstage war. — Diese scheint hier vorhanden; die ameri- 
kanische Natur besitzt noch ungeschwächt der Urzeit Schöpferkraft. 
Wie sie es schon vermocht hat, widerstehendste Rassen einzu- 
schmelzen und in kurzer Frist aus schier beliebigen Typen Ameri- 
kaner zu machen — keine Menschenvarietät, sondern eine richtige 
Menschenart — so mag ihr auch zugemutet werden, daß sie den 
Körper erschafft, welcher der stetig sich steigernden geistigen 
Spannung gewachsen und fähig wäre, sich immerdar fortzuver- 
ändern. 
In Amerika, wenn irgendwo, werden wir unsere Entwickelung 
vollenden. Bald wird Europa sein letztes historisch-bedeutsames 
Wort gesprochen haben. Tradition an sich ist eine Fessel, die von 
Geschlecht zu Geschlecht fester bindet, zuletzt erstickt, und Europas 
Geschichte ist schon so lang, daß ein radikales Frei- und Neu- 
werden auf seinem Boden kaum mehr glücken wird, mögen sich 
seine Einwohner noch so sehr verjüngen. Auch dieses Mal wird 
sich die alte Wahrheit erweisen, daß neue Kulturen nur auf neuem 
Boden wachsen; auch am jüngsten historischen Wendepunkt wird 
das Problem der neuen Form nicht vom Reifsten sondern vom 
Rohesten gelöst werden. Und daß es so kommen muß, leuchtet 
Wir beginnen eine neue Schöpfungsepoche. 573 
für diesen Fall unmittelbar ein: indem wir Abendländer es unter- 
nahmen, nicht, wie alle Kulturen bisher, unser Leben bloß am 
Ideenreich zu orientieren, sondern dieses dem Erdreich einzuver- 
leiben, beginnen wir recht eigentlich eine neue Schöpfungsepoche; 
wir heben als geistig-seelische Wesen eben dort an, wo die Physis 
in der Trias anhub. Deshalb paßt der neuweltliche Mensch in den 
Sequoia-Hain, diese Oase der Vorwelt, besser hinein, als in die 
Ruinenfelder Roms. 
Ich blicke die Baumriesen entlang: wie symbolisch ist diese 
Gestaltung! Persönlichkeiten wie sie brauchen Raum; sie können 
nicht so dicht nebeneinander wohnen, wie geringere Wesen, sind 
notwendig hochfahrend und exklusiv. Das Unterholz des Mariposa- 
Hains, verkümmert, zukunftslos, würfe gewiß, wenn es denken 
könnte, die soziale Frage auf. In den Tropen verfiele es nie darauf. 
Dort ist es nicht soweit individualisiert, um aus dem Natur- 
zusammenhang hinauszustreben, wird sich darum etwaiger Bedrückt- 
heit kaum bewußt. Weshalb hat das Ideal der Gleichheit den 
Westen entzündet, wo es unter den bedrücktesten Orientalen noch 
nie aufrichtige Anhänger fand? Weil unsere Entwickelungsrichtung 
immer wachsender Ungleichheit zuführt, im Orient hingegen die 
äußerste Gleichheit der Gelegenheiten besteht, die auf Erden über- 
haupt denkbar erscheint: der Zustand, wo jeder, wer er auch sei, 
an der Stelle verharren muß, in der er geboren ward, wo keiner 
besondere Chancen hat. Im modernen Westen darf jeder das 
Äußerste wollen; dieses erreichen immer nur wenige und die 
übrigen murren dann. Unsere Art, das Problem des Lebens zu 
stellen, ist nicht falsch, aber sie schließt eine endgültige Lösung 
aus; will man keinen statischen Gleichgewichtszustand unabänder- 
lich ungleicher Lebenslagen gelten lassen, so muß man sich immer- 
dar fortbewegen, denn Gleichheit im Sinn eines statischen Gleich- 
gewichtszustandes unabänderlich gleicher Lebenslagen kann es 
nicht geben; sie widerspricht der Natur der Dinge. Die modern - 
okzidentalische Stellung des Lebensproblems — gleiche Gelegen- 
heiten für jedermann — bedingt ewigen Kampf. 
574 Das Allvermögende der Kräfte des Alltags. 
AM GRAN CANON DES COLORADO. 
Vor dem ungeueren Bilde des Gran Canon muß ich an Kants 
Definition des Erhabenen denken: erhaben sei ein Gegen- 
stand, dessen Betrachtung das Gemüt dazu bewegt, sich 
die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu 
deuten. Hier sind die Ideen, die das anorganische Geschehen 
regieren, mit einer Klarheit, Großzügigkeit und Kraft zur Dar- 
stellung gebracht, wie nirgends sonst. Hier hat ein einziger Strom 
in rastloser, stetiger Arbeit ein weites Hochplateau so tief und 
gründlich erodiert, daß der Mensch, der vom Gesimse des Canons, 
vom ursprünglichen Flußbette her, auf das heutige blickt, nach 
unten zu ein ähnliches Bild gewahrt, wie himmelwärts in den Vor- 
bergen der Himalayas; was er sieht, ist eine Hochgebirgslandschaft 
in der Unterwelt. Dieses Werk eines ruhig dahingleitenden Flusses 
wirkt erhabener, als alles, was plutonische Gewalten je vollbracht, 
weil es ohne außerordentliche Mittel erschaffen ward; hier erkennt 
man, ehrfürchtig erschauernd, wie allvermögend die Kräfte des 
Alltags sind. Am Gran Canon des Colorado treten die Bahnen, 
die das Geschehen wandelt, mit unvergleichlicher Klarheit an den 
Tag, denn die entscheidende, bestimmende Kausalreihe wird von 
anderen kaum durchkreuzt. Hier hat keine Katastrophe vorge- 
arbeitet, kein Leben die Ecken abgerundet und übermalt. Alles 
erscheint im ganz Großen unternommen und ausgeführt. Der Colo- 
rado hat sämtliche Formationen, von der glazialen bis zur 
archaischen hinab, durchstochen. Nur seinem Momentum und der 
Schwerkraft gehorchend, ist er zielbewußt, schlicht und geradaus, 
vorgegangen, ohne andere Werkzeuge als die er von Natur besaß, 
ohne kleinliche Rücksicht und ohne Gewaltsamkeit. Wo die Bahn 
ihm gleichmäßig freilag, hat er sich ausgebreitet, ganze Provinzen 
flachen Landes dabei zu Gebirgen umwandelnd; wo nur ein Weg 
in Frage kam, dort hat er seine Kraft zusammengefaßt und die 
Ausdehnung in Spannung umgesetzt; überall aber war das Ergebnis 
sehr gut. Hier hat wohl die Idee der Wasserkraft, wie Plato 
sagen würde, ihren vollendeten Ausdruck gefunden. Die Wasser- 
kraft ist leblos: symbolisch-wirkungsvoller könnte dies kaum zum 
Ausdruck kommen, als hier geschieht, in diesem größten aller 
Natur und Vernunft. 575 
geologischen Aufschlüsse, in dem sich der Strom durch das Leben 
aller Zeiten hindurch seinen Weg gefressen hat. Die anorganischen 
Kräfte sind abwärts gerichteten Sinns, sie laufen wie ein Uhrwerk 
ab, unvermögend sich selbst aufs Neue aufzuziehen: in grandiosem 
Sinnbild stellt dies der Canon dar, wo das Hochgebirge dem Hades 
angehört und nicht aufgetürmt, sondern ausgeschnitten erscheint. 
Hier steckt hinter dem Werk kein lebendiger Geist, hier tritt kein 
Zweck in ihm zutage. Planlos ist es begonnen, planlos vollendet 
worden. Und doch ist es ein Denkmal höchster Weisheit. So 
klug als nur irgendein Techniker hat der Strom alle Hindernisse 
überwunden, tiefer als jeder Architekt den Eigen-Sinn der Materie 
verstanden, nicht schlechter als ein größter Landschaftsmaler das 
Einzelne zum Ganzen in notwendige Beziehung gesetzt. Die Ge- 
setze des berechnenden Verstandes sind eben keine anderen als 
die Normen der Weltordnung selbst; die Natur handelt immer 
vernunftgemäß; sie bedarf keiner vernünftigen Leitung. So ist 
Vollkommenheit ihr Schicksal überall, wo sie Begonnenes ganz 
durchführen darf. 
Der Gran Canon des Colorado ist nicht allein in diesem Sinne 
schön: die strengen, von kosmischer Vernunft gezogenen Linien 
erglänzen in einer Farbenpracht, wie kein Venezianer sie hätte 
reicher, kein Turner phantastischer erdichten können. Diese tote 
Welt scheint des ewigen Lebens teilhaftig. Jeden Augenblick 
drückt sie neue Stimmungen aus, jede Stunde wechselt ihr Cha- 
rakter. Was unterscheidet die Schönheit, nach der wir streben, 
von der, die in der toten Natur so herrlich verwirklicht erscheint? 
— In dieser ist sie ein mechanisches Ergebnis; der Kosmos ist der 
Endzustand des Chaos, es gibt kein „über ihn hinaus". Das Ideal 
der Schönheit ist eine treibende Kraft, es weist uns himmelwärts. 
Das letzte Wort der Natur, ihr Vermächtnis gleichsam ist die 
Zauberformel, die dem Geiste höhere Welten erschließt. 
Wie ein Lächeln spielen die zarten, schmelzenden Farben auf 
dem tiefgefurchten Antlitz des Gran Canon. Schaut nicht auch 
manches Menschengesicht im Todesschlaf verklärter aus, als je 
im Leben? Ich stelle mir vor, daß wie heute wir Menschen ehr- 
furchtsvoll vor diesem Wunder des Todes stehen, so einst höhere, 
verklärtere Geister voll Andacht über der Leiche der Erde schwe- 
ben werden. Unsere mächtigsten Denkmäler werden noch ragen, 
wenn es längst keine Menschen mehr gibt. Bisweilen werden 
576 Der heutige Mensch von der blinden Natur beherrscht. 
ihnen die Strahlen der röter gewordenen Sonne den Abglanz des 
Lebens verleihen. Vielleicht werden die Taten des Geists am er- 
habensten wirken, wenn ewiger Tod des Lebens Unrast abgelöst 
haben wird. 
Sinnend blicke ich in die Unterwelt. Kant spricht von der 
Unerreichbarkeit der Natur, die erhaben wirke . . . . 
Ist die Natur noch unerreichbar? Hat der Mensch sie nicht 
schon heute übertroffen? Gelänge ihm nicht, was der farbige 
Strom in Jahrmillionen geleistet, in einem Jahr? — Morgen glückt 
es ihm sicher. Es gibt keine materiellen Hindernisse mehr, die 
prinzipiell unüberwindlich wären. Selbst der Wunsch des Archi- 
medes, sein dö* fim nov crr«, wird dereinst wohl erfüllt; am Ende 
der Zeiten zieht dieser Planet, um der Schmach der Zerkrümelung 
zu entgehen, vielleicht vor, zu freigewählter Stunde zu zerspringen. 
Allein der heutige Mensch herrscht nicht als Gott, sondern als 
Erdgeist. Materiell dominiert er die Natur, er übersieht sie nicht; 
anstatt sie seinen Idealen gemäß zu lenken, tut er meist nur das, 
was die Elemente selber von ihm heischen. Er gleicht jenen Fluß- 
göttern, an welche die Alten glaubten, deren Herrscherwille mit 
dem natürlichen Gefälle zusammenfiel. Ja er ist unweiser als diese 
insofern, als er den Umständen weniger Rechnung trägt, weniger 
schön und weniger dauerhaft bildet; hätte er den Gran Canon 
gegraben, dieser wäre kein Wunder der Schönheit, er gliche einer 
Fabrik in Ruinen und die Ruine hielte nicht lange stand. Der 
moderne Mensch läßt sich von der blinden Natur, deren Eigen- 
willen er nur halb versteht, sein Streben diktieren. Über grenzen- 
lose Kräfte verfügend, strebt er ins Grenzenlose, des uneingedenk, 
daß sein Leben streng an Grenzen gebunden ist. Sein Ideal paßt 
er seinem Vermögen an, nicht umgekehrt; er will unendlichen 
Reichtum, unendliche Macht, und da er diese für sich nicht zu 
nutzen weiß, so verschreibt er sich ihnen. Das Geld wird dem 
Geschäftsmann zum Selbstzweck, dem er sich opfert, den Völkern 
die Macht; das Interesse des Kapitals verfügt bewußtlos Misse- 
taten, die kein Verbrecher willkürlich vollführte, das Machtstreben 
der Staaten, in Rüstungen objektiviert, führt zu Vernichtungskriegen, 
ob auch alle Individuen nur Frieden wollen. Was Jahrhunderte 
organisch aufgebaut, wird in Sekunden zersprengt; was bewußter 
Eigene Erfahrung fährt weiter als Bevormundung. 577 
Wille organisiert, dient dem Geist nicht des Lebens, sondern des 
toten Stoffs. Unser Zeitalter ist eins der Zerstörung wie keins 
zuvor, weil der Mensch Kräfte nutzt, die für ihn zu groß sind. 
Die Mahatmas, die stillen Übermenschen des Himavat, be- 
herrschen sie seit je; doch sie überantworten ihr Geheimnis nur 
dem Chelä, der sie wohltätig zu brauchen weiß. Nun ist es der 
törichten Masse verraten worden .... Dennoch ist dies, so wie 
die Dinge heute liegen, nicht zu beklagen. In einem Zeitalter, wo 
keine Kastenunterschiede gelten, wo es heißt: gleiche Gelegen- 
heiten für jedermann!, kann nicht mehr die Rede davon sein, daß 
dem Menschen nur das zuteil wird, wozu er innerlich" reif ist: 
er muß vielmehr heranreifen an der Erfahrung. Deren harte Schule 
macht schließlich sogar den Narren klug. Sicher bezeichnet sie, 
wo es nicht Einzelne sondern Alle zu belehren gilt, auch den 
kürzesten Weg. Die Erfahrungswissenschaft hat für die Aufklärung 
der Massen mehr getan, als die Weisheit der Adepten; die Frei- 
heit, welche jeden seine Dummheit ausleben läßt, hat jene schneller 
gefördert als brahmanische Bevormundung. So wird gerade der 
Mißbrauch der Naturkräfte am schnellsten zu ihrer weisen Be- 
nutzung führen. Wenn die Mittel zur Zerstörung allzu groß ge- 
worden, wird kein Volk mehr leichtsinnig den Krieg erklären; 
die Folgen grenzenloser Ausbreitung werden klar beweisen, daß 
der Mensch zur Selbstbeschränkung geboren ist. Die Natur der 
Dinge führt am Ende überall zu eben dem, was die Erkenntnis der 
Weisen antizipiert hatte. 
So darf man nicht verzagen; unsere Zukunft ist licht, wie ent- 
setzliche Prüfungen uns auch inzwischen heimsuchen mögen. Hat 
der Mensch einmal gelernt, die Kräfte außer sich so zu regieren, 
wie der Weise seine Leidenschaften beherrscht, dann wird der 
Erdgeist sich zum Halbgott verwandeln. Dann werden die blinden 
Mächte ein dankbares Mittel sein, das Ideal in der Erscheinung 
zu verwirklichen. 
Keyserling, Reisetagebuch. 37 
578 Westlicher und östlicher Natur sinn. 
DURCH CÄLIFORNIEN. 
Indem mich der Zug durch Californiens Obstfelder trägt, muß 
ich ans Gutachten Mong-Tses zurückdenken: besser, als gute 
Ackergeräte beschaffen, ist günstiges Wetter abwarten. Hätten 
die Einwanderer also gedacht, Californien, heute der Garten der 
Erde, wäre Wüste geblieben; von der Natur ist es zur Wüste be- 
stimmt Die Niederschläge sind dermaßen spärlich, daß nur Wüsten- 
gewächse, Yuccas und Zwergkiefern, von selbst gedeihen; der 
Boden ist von der Sonne ausgedörrt; die Wasser, die im Frühjahr 
und Herbst von der Sierra Nevada herabstürzen, haben sich längst 
tiefe Betten ausgegraben und berieseln die weite Fläche nicht 
mehr. Der Mensch nun hat ihnen neue Wege gewiesen; wo sie 
nicht ausreichen, pumpt er aus künstlichen Brunnen das nötige 
Naß herauf; so ist Californien heute die vielleicht fruchtbarste 
Landschaft der Welt. — Das ist unser, westlicher Natursinn im 
Gegensatz zum ostasiatischen. Wir fügen uns nicht ein in ihr 
Bestehendes, wir wandeln sie um. Um dieses jedoch zu erreichen, 
müssen wir sie tief verstanden haben; nur ihren eigenen Gesetzen 
gemäß läßt sie sich unterwerfen und regieren. So sind auch wir 
ihrem Herzen nicht fremd. Nur verhalten wir uns anders zu ihr. 
Der Ostasiate ist ihr innigster Versteher. Der Chinese behandelt 
sie wie ein liebender Sohn, der voll Pietät und Aufopferung auch 
die väterliche Härte gern erträgt, und sich nie eine Kritik gestattet; 
der Japaner wie eine Freundin die andere; er läßt sie gelten, liebt 
sie, so wie sie ist, doch er hilft ihr, sich möglichst vorteilhaft dar- 
zustellen. Unser Verständnis ist dem des — Schulmeisters ver- 
gleichbar. Wir versetzen uns in ihre Eigenart hinein, doch nur 
zu dem Zweck, sie unseren Idealen entsprechend umzuwandeln. 
Sie soll anders, besser werden als sie war. Gleich allen Schul- 
meistern leiden wir an Verständnislosigkeit für das Individuelle. 
Es gelingt uns wohl allgemeine Typen heranzuzüchten — also Äcker, 
Wiesen, Wälder als solche, Beamte zu bestimmter Funktion — 
auch eine durchschnittliche Natur zu ihrer höchsten Vollendung 
zu bringen (ein fruchtbares Wiesenland ist schöner als ein un- 
fruchtbares), aber eine bestimmte, außerordentliche Natur ihr 
selbst entsprechend zu behandeln, glückt uns, dem Schulmeister- 
schicksal entsprechend, schlecht. Überall, wo absolute Zweck- 
Wissenschaft als Vor lauf er in der Kunst. 579 
mäßigkeit erreicht erscheint, ist Schönheit der unabwendbare Er- 
folg. Die amerikanischen Kulturländereien sind meistens häßlich, 
weil hier auf das Eigenartige noch gar keine Rücksicht genommen 
wird. 
Aber das wird kommen. Die Amerikaner sind noch Kinder, 
große ungefüge Buben, tief drinnen in den Flegeljahren; von ihnen 
ist nicht zu verlangen, daß sie so rücksichtsvoll wie Ost-Asiaten 
seien. Sie werden es werden mit der Zeit. Denn das ist ein Miß- 
verständnis, daß unser Verhältnis zur Natur diese notwendig ver- 
unzieren muß: sie tut es nur deshalb, weil wir unseren Weg 
noch nicht bis zum Ende durchmessen haben. Die japanische 
Landwirtschaftskunst entzückt das Auge, weil in ihr das spezifisch- 
japanische Verhältnis zwischen Mensch und Natur seinen voll- 
endeten Ausdruck fand — nicht weil dieses Verhältnis an sich 
das günstigste wäre. Ob ich mich als ihr bestimmter oder be- 
stimmender Bestandteil verhalte, ist gleichgültig im Prinzip; nur 
darauf kommt es an, daß ich die harmonische Proportion entdecke. 
Und das wird uns einmal allgemein gelingen, wie es uns im be- 
sonderen schon vielfach gelang. Es ist falsch, die Stellung des 
wissenschaftlich verstehenden Europäers der des künstlerisch ver- 
stehenden Ostasiaten entgegenzustellen: die wissenschaftliche ist 
die vorläufigere Attitüde. Wenn der Japaner nicht als Forscher 
scharf beobachtet hätte, nie hätte er es zur Technik gebracht, die 
ihn heute als Gärtner unvergleichlich macht. Das Wissenschaft- 
liche fällt bei ihm nur weniger auf, weil er weniger weit darin 
gegangen ist als wir, und sich somit auf einem früheren Stadium 
der produktiven Synthese zugewandt hat. Wir dringen tiefer ein 
in die Natur; mit dem schöpferischen Zusammenfassen haben wir 
noch kaum begonnen. Aber sind wir einmal so weit, sind wir 
zugleich so weit herangereift, daß Freude an der Natur die Gier 
überwiegt, dann zweifle ich nicht, daß wir das spezifische Ver- 
hältnis, in dem wir zum Nicht-Menschlichen stehen, nicht minder 
vollkommen darstellen werden, wie die Japaner das ihre. 
37 J 
580 Mörderische Wirkung des Fortschritts. 
IM YELLOWSTONE PARK. 
Ich blicke von einem schimmernden Sinterhügel, den die Geysirn 
im Lauf der Jahrtausende aufgeschichtet, auf die weite Prairie 
hinaus. Es ist die Stunde, da die Bisons ihre Abendwanderung 
antreten. Sie schreiten vereinzelt, jeder für sich, in weiten Ab- 
ständen voneinander; aber alle halten den gleichen Kurs ein, un- 
beirrbar, wie wandernde Vögel. Was ist es, daß diese Tiere alle 
Länderkunde vorwegnehmen läßt? Ich weiß es nicht; keiner weiß 
es wohl. Denn auch die Menschen, die gleiches vermögen, wissen 
es nicht. 
Vor wenigen Jahrzehnten war eine einzige Herde Büffel nicht 
selten viele tausend Kopf stark; heute leben keine hundert auf 
der weiten Fläche des Yellowstone Parks und in ganz Amerika 
weniger, als vormals eine mittelgroße Herde ausgemacht hätte. 
Wir haben sie ausgerottet. Und wie ich nun den Letzten dieser 
Riesen zuschaue, die in die Prärie so wunderbar hineinpassen, da 
erbebe ich vor Empörung. Was wird die Welt um unseretwillen 
arm! Wohl umfriedigen wir zum besten der Tiere weite Land- 
striche, weisen wir den Rothäuten Reservationen an; aber das 
hält ihren Untergang nicht auf. Die Büffel verkümmern in der 
Umzäunung, die Indianer entarten, seit sie den Kriegspfad nicht 
mehr betreten dürfen ; beide sterben unaufhaltsam aus. Bald werden 
alle malerischen Typen der Vorzeit angehören, wird die ganze Erd- 
oberfläche mitteldeutschem Kulturland gleichen — gleichmäßig ab- 
geteilt, schablonenmäßig bebaut, nur von Menschen und Rassevieh 
bewohnt. Ich weiß: ohne Selbstmord zu begehen, werden wir 
diese unsere Wirkung nicht hindern. Aber welche Verblendung, 
solchen „Fortschritt" erfreulich zu finden! Es ist entsetzlich, daß 
die Erde von Tag zu Tag einförmiger wird. Denn dies bedeutet 
ja keine Umsetzung der vorhandenen Energie, sondern absoluten 
Energieverlust, weil für das, was verloren geht, kein Ersatz an 
die Stelle tritt. Das Leben ist nicht im selben Sinn verwandelbar, 
wie die Elektrizität. Jeder Typus bedeutet ein Einziges, verkörpert 
eine Möglichkeit, die es nur einmal gab, nie wieder geben wird. 
Mag daher das Geschlecht der Europäer, der Kühe, Pferde und 
Edelschweine in Zukunft noch so gesegnet werden — damit würde 
Die arische Menschheit als Zerstörerin. 581 
die Lücke nicht ausgefüllt, welche die Ausmerzung der übrigen 
Gestaltungen in die Schöpfung hineingefressen hat. Die Welt 
wird mit jedem Tag ärmer. Das dies der eigentliche Sinn des 
Fortschritts ist, illustriert mit erschreckender Deutlichkeit Amerika, 
weil hier der Weiße am stärksten im Sinn des Zweckmenschen 
typisiert erscheint. Nirgends ist die Natur so großartig wie hier; 
hier scheint alles im großen erschaffen, alles Große lebensfähig, 
nur das Große den Verhältnissen gemäß; dieses Grundverhältnis 
hätte, so sollte man glauben, alle geistigen Werte potenzieren 
müssen: statt dessen sind alle aus dem Auge verloren worden, bis 
auf den einen, einzigen der Quantität. Nur Größen und Zahlen 
beeindrucken den Yankee, nur ihnen strebt er nach. Diese Ver- 
armung seiner Psyche ist die notwendige, unabwendbare Folge des 
ausschließlichen Strebens nach Erfolg. Und was er tut, wird immer 
mehr auch zum Streben Europas. Schon hat eine vielverbreitete 
neue Philosophie das „ökonomische Prinzip" zum Ideal des Denkens 
ausgerufen — somit das Selbstverständliche zum höchsten Gut. 
Wir werden immer dürftiger und ärmer und diese Dürftigkeit rottet 
den Reichtum aus. Jede bestimmte Entwickelungslinie ist aus- 
schließlich, aber unsere wohl die erste, welche die anderen unwill- 
kürlich zerstört. Sie ist mit dem Fluche belastet, über die blinden 
Kräfte der Natur so große Gewalt zu besitzen, daß sie vernichten 
muß, sogar wo sie erhalten will. Der moderne Weiße hat mehr 
bewußte Freude an der Natur als irgendein Mensch, er interessiert 
sich tiefer als irgendeiner für fremde Eigenart. Trotzdem stirbt 
das, was er nicht ist oder braucht, wohin er sich wende, unauf- 
haltsam aus. 
Die arisch-europäische Menschheit hat nicht viel weniger Ver- 
derben und Mord auf ihrem Gewissen, als die türkisch-mongolische, 
obgleich nur diese vielleicht Zerstörung als Selbstzweck betrieben 
hat. Die Römer errichteten ihr Weltreich auf den Trümmern der 
alten, so eigenartigen Mittelmeerstaaten. Darauf schleiften die 
Germanen dessen ganzen Bau. Deren Urenkel vernichteten die 
Kulturschöpfungen der Araber, dann die der Inkas und Azteken. 
Und wenn seither die Absichten besser wurden, so haben sich die 
Zerstörungsmittel dermaßen vervollkommnet, ist ferner unsere 
Zivilisation an sich so totbringend geworden für alle, die nicht in 
und zu ihr geboren sind, daß vom Erfolg eher das Gegenteil gilt. 
Hegel lehrt nun, Fortschreiten über Leichen sei eben der Weg, 
582 Hegels Irrtum; Macht als Böses. 
den der „objektive Geist" zu wandeln habe, um sich vollkommen 
zu verwirklichen, das jeweils führende Volk, als Träger der „Idee", 
komme allein in Betracht und sei berechtigt alle übrigen zu zwingen 
oder auszurotten: er hätte Recht, wenn geschichtliche Bedeutsam- 
keit wirklich alle Werte in sich beschlösse. Allein ganz abgesehen 
davon, daß diese ohne Vorurteil überhaupt nicht bestimmt werden 
kann, überdies nur nachträglich und unter der sehr zweifelhaften 
Voraussetzung, daß, was irgendwie geschah, zum besten geschah 
und notwendig so kommen mußte, welche Voraussetzung ihrerseits 
impliziert, daß materieller Erfolg ein Gottesurteil zum Ausdruck 
bringt, darf als gewiß gelten, daß historische Führerschaft in keiner- 
lei notwendiger Beziehung zum spirituell und geistig Bedeutsamen 
steht. Indien und China, beide von ungeheurer Bedeutung, haben 
doch in der weltgeschichtlichen Bewegung, wie Hegel sie versteht, 
keine Rolle gespielt. Daß Christus und Buddha zu historischen 
Faktoren wurden, erscheint zufällig in bezug auf sie. Der geschicht- 
liche Prozeß an sich ist eines Sinnes mit dem biologischen; an 
diesem Umstand ändert nichts, daß unter Menschen nicht allein 
physische sondern auch psychische Organismen (Ideale, Glaubens- 
inhalte) sich gegenseitig ergänzen und bekämpfen. Sintemalen der 
ideelle Prozeß, an sich unabhängig vom biologischen, doch ver- 
mittelst dieses verläuft, läßt sich a posteriori überall, wo Bewegung 
statthat, zwischen diesem und jenem eine Beziehung herstellen. 
Aber wesentlich besteht sie nicht; das Biologische ist nur ein 
Mittel, und werden dessen Normen zu geistigen Zielen hypostasiert, 
so wirkt dies Unheil. Dann kommt es zu menschenunwürdigen An- 
schauungen wie die, daß es nichts Höheres als das Staatswohl 
gibt, daß Macht Selbstzweck ist, jedes Mittel erlaubt im Völker- 
verkehr, daß eine bestimmte Rasse das Recht hat, alle anderen zu 
knechten, und daß der moderne homo technicus, der zum Zweck 
seiner persönlichen Bereicherung die ganze Schöpfung ruiniert, 
damit Gottes Willen erfüllt. Fern davon, daß Macht (im Sinn 
von Zwingenkönnen und -wollen) an sich Gutes bedeute (wie alle 
Fortschrittsgläubigen stillschweigend annehmen müssen, denn nur 
dank der materiellen Macht siegt Hegels „Idee" sowohl als die 
„christliche" Zivilisation), ist sie vielmehr, wie dies Jakob Burck- 
hardt bisher am tiefsten begriffen hat, wesentlich böse und macht 
auch böse. Noch keine irdische Macht ward ohne Verbrechen 
begründet, noch keine behauptet ohne Gewaltsamkeit in irgendeiner 
Notwendigkeit des Bösen. 583 
Form; ihr Lebensgesetz ist teuflischer, nicht göttlicher Art. Des- 
halb will und wird es niemals gelingen, Weltgewaltigkeit zum 
sittlich und geistlich Guten in naturnotwendige Beziehung zu setzen. 
Unsere westliche Zivilisation, als die weltgewaltigste von allen, 
die es je gab, ist von Hause aus nicht gut sondern böse: deshalb 
bringt sie nicht nur Verderben allen denen, die sich ihr nicht an- 
zupassen wissen — sie verdirbt auch ihre Träger. Diesem typischen 
Erfolg wird dort gesteuert, wo die Macht geistige und sittliche 
Ideale zu verwirklichen dient, und hierzu dient sie glücklicher- 
weise immer mehr. Wo sich der Mensch ihrem eigensten Geist 
verschreibt, wird er zum Teufel. 
Nun ist gewiß, daß das Böse seine bestimmte und notwendige 
Funktion hat in der Weltökonomie. Vernichtung allein bahnt den 
Weg zu radikaler Erneuerung. Wenn es ernstlich vorwärts gehen 
soll, muß der Naturprozeß des Werdens und Vergehens zuweilen 
beschleunigt werden. Nur Revolutionen sprengen altersstarre For- 
men, nur das vorzeitige Ende von Generationen, wie der Krieg es 
bedingt, zerreißt den Faden bindender Tradition. Weltkulturen 
wären niemals entstanden, wenn eine Menschenart andere nicht 
bezwungen und so, aus dem Dschungel wildwachsender Formen, 
bestimmten zur Herrschaft verholfen hätte. Endlich sind — um 
das Äußerste nicht ungesagt zu lassen — Tod und Töten normale 
Naturvorgänge; Raubtiere müssen rauben, und scheinen ebenso 
daseinsberechtigt wie Pflanzenfresser; die durch Kriege, Kata- 
strophen und Seuchen bedingte Beschleunigung und Vergrößerung 
des Lebensumsatzes ändert qualitativ gar nichts am Charakter des 
Geschehens und quantitativ wenig insofern, als sich im Großen das 
meiste kompensiert; die Ablösung der Faunen und Floren durch 
die geologischen Epochen hindurch beweist schon allein, daß jede 
bestimmte Gestaltung irgend einmal notwendig zugrunde geht und 
ob solches langsam, durch die Macht der sich wandelnden Ver- 
hältnisse geschieht oder plötzlich dank dem Einbruch eines Attila, 
bleibt sich wohl gleich. Die höchsten Ewigkeitswerte sind wesent- 
lich sterblich im Sinne der Zeit. Offenbar steht der indische 
Mythos, nach welchem Schaffen und Zerstören korrelative Attri- 
bute der Gottheit darstellen, der Wahrheit sehr nahe: zu Zeiten 
ist das Böse gottgewollt. Allein der Mensch soll nie Shiwas 
Stellung usurpieren; was diesem frommt, darf er nicht wissentlich 
wollen ; die Unabwendbarkeit des Sterbens rechtfertigt den Mörder 
584 Der Mensch darf nicht Shiwas Stellung usurpieren. 
nicht. Gleichwie Geburt und natürlicher Tod jenseits der Macht- 
sphäre persönlichen Wollens liegen, so übersteigt der Plan, nach 
dem das Lebensganze fortwird, individuelle Beurteilung. Im Reich 
der vernunftlosen Geschöpfe gelangt er überall, wo kosmische Zu- 
fälle oder menschliche Willkür ihn nicht durchkreuzen, zu voll- 
kommener Verwirklichung; wunderbar weise wirkt die Selbst- 
regulierung der Natur. Unter Menschen ereignete sich Gleiches 
dann, wenn jeder Einzelne das ihm gemäße täte. Dann wirkte 
Gott sich mittels freien Menschenwollens aus, es geschähe das von 
ihm aus erforderliche, kein notwendiger Konflikt, kein Fatum bliebe 
aus, doch der Einzelne wäre ohne metaphysische Schuld und im 
Großen diente alles zum Besten. Allein der Mensch tut nur selten, 
was er sollte, desto seltener, je bewußter er handelt. Und unter- 
nimmt er es gar vom Plan des Ganzen aus, den er zu kennen 
wähnt, das Geschehen zu bestimmen, so beschwört er Unheil. Es 
kommt zu wahnwitzigen Kriegen, zu allvernichtenden Umwälzungen ; 
die Selbstregulierung der Natur wird zerstört, der Unsinn siegt. 
In vielen, nur zu vielen Beziehungen hat der weiße Mann also auf 
Erden gehaust. 
Immerhin ist sein Wirken in anderen dennoch gottgewollt. 
Offenbar hat sich das allgemeine Gleichgewicht der Kräfte soweit 
verändert, daß wir, sofern wir ja sagen zu uns selber, vorherrschen 
müssen; offenbar ist vieles Wertvolle, das wir zerstören, in unserer 
Welt ohnehin nicht lebensfähig, ist eine Zeit gekommen, wo auf 
Kosten des noch so schönen Alten Neues entsteht und kein Hadern 
mit dem Schicksal dies aufhalten kann. Dies aber bedeutet, daß 
es tatsächlich so etwas gibt, was man ein „Recht des Stärkeren" 
heißen mag. Um moralisches Recht handelt es sich hier freilich 
ebensowenig, wie bei irgendeinem materiellen Kräfteausgleich, im 
Gegenteil: Vergewaltigung, an Lebendigem ausgeübt, ist immer 
böse, jede Gewalttat schlägt als solche dem Recht ins Gesicht, 
der gerechteste Strafvollzug verletzt das sittliche Gefühl in irgend- 
einem Sinn. Aber Kräfte sind eben Wirklichkeiten, die sich aus- 
wirken ihren Eigengesetzen gemäß; auf ihrer Daseinsebene gelten 
ausschließlich diese. Und so oft Böses das Gute bezwingt, Rohes 
das Vollkommene, so oft das moralische Bewußtsein dadurch ver- 
letzt wird und das Denken versagt im Versuch, den Sinn der 'Avdyxrj 
zu begreifen — manchmal gelingt es doch, die Heilsamkeit des 
an sich Bösen nicht allein im Kleinen, wie beim Rechts- und Straf- 
Das Recht des Stärkeren. 585 
zwang, sondern im ganz Großen einzusehen. So gerade hinsichtlich 
des „Rechts des Stärkeren". Die Geschichte lehrt, daß aus den 
gewaltigsten Kriegerstämmen oft die idealgesinntesten Kultur- 
völker werden. Dies aber erklärt sich, wenn ich nicht irre, folgen- 
dermaßen: physische Überlegenheit ist nur auf moralischer Basis 
dauerhaft. Ohne Mut richtet Kraft nichts aus; ohne Opferwillen, 
Disziplin, Organisiertheit, hilft auch Mut nicht. Handele es sich 
hier um noch so einseitige Vorzüge — sie grenzen die Naturbasis 
ab, die einer Fortentwickelung zum Höchsten am fähigsten scheint. 
Die Germanen, welche die alte Welt zerstörten, waren grausam und 
roh, aber auch mutig, loyal und opferfreudig; dies befähigte sie, 
bei vorhandener Geistesbegabung, im Lauf der Jahrhunderte stetig 
besser zu werden, während Griechen und Römlinge, verfeinert, 
aber feige und falsch, an Zersetzung verdarben. Nur der Stolze, 
der sich selbst achtet, respektiert auch andere; aus den gewalttätigen 
Angelsachsen hat sich das rechtlich gesinnteste Volk Europas ent- 
wickeln können, weil alle Tugend beim Ich anhebt und von ihm 
aus ihren Kreis erweitert, weil der primitive Glaube an persönliches 
Vorrecht den Keim enthält einer Anerkennung von Recht überhaupt 
— während unter den Russen, die von jeher gutherzig waren und 
sich niemals ein Recht zur Unterdrückung anderer zuerkannten, 
denen die Weltanschauung des Urchristentums im Blute liegt, noch 
heute Willkür herrscht. Die Natur des Starken allein gewährt 
geistigen Mächten ein zukunftsreiches Verkörperungsmittel. Inso- 
fern wird es, solange irdische Entwickelung anhält, zumal so oft 
es neuanzuheben gilt, auch ein Recht des Stärkeren geben. 
.... So urteilt der Verstand. Doch als ästhetisches Wesen 
beklage ich es tief, daß der Weltprozeß so und nicht anders ver- 
läuft. Gern gäbe ich alle technischen Errungenschaften hin dafür, 
daß ich die Prairie in ihrer alten Herrlichkeit, so wie sie war bevor 
das Bleichgesicht der Rothaut den Vernichtungskrieg erklärte, auch 
nur für einen Abend schauen dürfte. 
Immer mehr, in dieser wilden, vitalisierenden Natur, werde ich 
mir meines Gewaltmenschentums bewußt. Wir Abendländer 
sind Kämpfer, wesentlich dies. Während der Chinese an eine 
prästabilierte Harmonie zwischen Mensch und Kosmos glaubt, die 
es zu wahren gilt um jeden Preis, während der Inder, was er auch 
586 Westländer wesentlich Gewaltmenschen. 
tut, sich selbst zurückbehält und so nicht teilnimmt innerlich am 
Daseinskampfe, stehen wir überzeugt mitten in ihm. Uns kümmert 
nicht der Zusammenhang, wir sind Elemente, wollen es sein und 
uns als solche durchsetzen. Dem Geist des Kampfes entsprießt 
unser Schlimmstes wie unser Bestes. Ihm entsproß unser Eroberer- 
und Räubertum, ihm die Reformbewegung, die Wissenschaft, die 
soziale Gesinnung. Weil wir wesentlich Kämpfer sind, bescheiden 
wir uns bei keiner Autorität, wollen wir frei forschen, jeder für 
sich entscheiden. Der Krieger kennt keinen Kompromiß, er will 
siegen oder unterliegen, seine Devise ist: er o<^r ich. 
Solang ich im Orient weilte, erschien unser Kämpfertum mir 
durchaus in ungünstigem Licht. Wie sollte es nicht? Der Kämpfer 
ist wesentlich Zerstörer, wesentlich blind, parteiisch, ungerecht, 
verständnislos. Der Weise — und an ihm ist alles Leben des 
Ostens orientiert — kämpft nie; er steht über den Parteien, den 
Zusammenhang aller Gestaltung übersehend, in ihm zentriert, und 
wäre unwahr gegenüber sich selbst, indem er sich mit irgendeiner 
identifizierte. Aber woher seine Überlegenheit? — Diese Frage 
hatte ich mir im Orient niemals gestellt. Beantworte ich sie nun, 
so erweist es sich, daß ich dem Westen damals Unrecht tat. Nicht 
der farblose Zweifler ist ja der Weise, nicht der Gleichgültige, 
der Kalte, der Unentschiedene, im Gegenteil: von allen Wesen 
steht der leichtfertige Skeptiker dem Weisen am fernsten. Wenn 
dieser nicht kämpft, so geschieht dies nicht, weil er Streiten von 
vornherein als zwecklos abwiese, sondern weil er schon aus- 
gekämpft hat, weil er mit sich und der Welt im Reinen ist; der 
Diskussionsprozeß, der sonst draußen verläuft und selten zu einem 
endgültigen Abschluß führt, -hat sich für ihn im Stillen seiner 
Seele vollendet. Und von dieser Erkenntnis aus erfasse ich erst 
den ganzen Tiefsinn der indischen Mythe, daß die Vorstufe des 
Brahmanen der Kschattrya, der Ritter sei: ohne Kampf gibt es 
keine Erkenntnis; erst wer als Krieger ehrlich gefochten hat, er- 
scheint reif zum Gottesfrieden der Weisheit. 
Dies erklärt sich dadurch, daß die Entscheidung eines Streits 
nicht bloß ein mechanisches Ergebnis ist, sondern zugleich orga- 
nische Veränderung bedingt. Wenn Überzeugungen im allgemeinen 
erst nach erfolgter Diskussion klar feststehen, wenn Völker, nach- 
dem die Waffen entschieden, Veränderungen in den Machtverhält- 
nissen willig anerkennen, die sie kurz vorher als unannehmbar 
Kampf allein führt zur Erkenntnis. 587 
abwiesen; wenn der von jeher Starke erst in der Widerwärtigkeit 
zum Helden erwächst, so beruht dies darauf, daß die Seelen im 
Kampfe anders werden. Und nur so werden sie es. Bloß theo- 
retische Einsicht beeinflußt das Innere nicht. Man kann noch so 
deutlich die Notwendigkeit einer Neuordnung einsehen, und doch 
unfähig erscheinen auf sie in praxi einzugehen; man mag alle 
Tugend erkennen und doch ein Schurke bleiben. Wahrscheinlich 
besaßen Christus und Buddha ihre Weisheit mit dem Verstand 
lange bevor sie erleuchtet wurden; trotzdem datiert ihre Mission 
erst von dieser Stunde. Sie aber war eine solche des bitteren 
Kampfs. Vom Bösen versucht, mußten beide ihn erst besiegen: 
dann erst waren sie frei. Das heißt, dann erst war ihre Menschen- 
seele soweit verwandelt, daß sie dem höchsten Wissen zum Werk- 
zeug dienen konnte. 
Nur einem unter Milliarden ist es beschieden, zum Buddha 
zu werden, in den wenigsten liegt es, über ihren Ausgangsort 
überhaupt erheblich hinauszukommen; deshalb gewährt eine sta- 
tische Gesellschaftsordnung, die den natürlichen Rangklassen leid- 
lich Rechnung trägt, für jede Gegenwart das erfreulichste Bild. 
Der Einzelne, an seinem Typus orientiert, findet leicht seine Voll- 
endung, und im Ganzen herrscht Harmonie. Aber solche Ordnung 
ermöglicht kein Fortschreiten : nur der geborene Weise wird weise 
in ihr, jeder verharrt auf der Stufe, auf welche die Natur ihn stellte, 
die Menschheit bewegt sich gar nicht von der Stelle. In einer 
Kampfeswelt stehen jedem alle Möglichkeiten offen. Indem jeder 
für sich, in voller Aufrichtigkeit, dafür eintritt, was er für richtig 
hält, und das anstrebt, wozu er sich berufen glaubt, erprobt er an 
der unmittelbaren Erfahrung, was in ihm liegt, jedem Keim volle 
Entwickelungsgelegenheit bietend. Und indem alle sich auf 
gleiche Art erproben, findet im Großen eine Auseinandersetzung 
statt, welche notwendig vorwärts führt. Die Natur der Dinge be- 
dingt, daß jeder Fehler sich irgendeinmal rächt, alles Falsche sich 
schließlich als falsch erweist, alles Morsche irgend einmal verdirbt, 
und umgekehrt, daß alles Wertvolle seinen Wert bewährt und jede 
Wahrheit sich selber beweist — wenn jener Natur nur Gelegenheit 
geboten wird, sich auszuwirken. Diese aber wird ihr geboten, so- 
bald die Menschen den Mut zum Wagnis haben. Da die besonderen 
Kämpfer immer blind sind, beweist der Prozeß im einzelnen 
wenig genug. Reaktionäre und Umstürzler, Sozialisten und Indi- 
588 Wert des Mutes zum Irrtum. 
vidualisten, Altgläubige und Freidenker — wie viele der Faktoren 
immer seien, deren Widerstreit die Dialektik des modernen Wer- 
dens ausmacht — haben sämtlich Recht zu irgendeinem Teil und 
im Ganzen sämtlich Unrecht. Sie sind jeder nur ein Element eines 
gewaltigen Prozesses, dessen Plan kein Sterblicher zu übersehen 
vermag, und keiner erreicht je das, wofür er kämpfte. Aber auch 
kein Kampf war jemals umsonst. Jeder Idealgesinnte tut in noch 
so bescheidenem Umfange mit bei der Verbesserung der Welt, 
jedes Widerstreben dem Übel schwächt dessen Macht, jedes Opfer 
kommt der Zukunft zugute. Und das Ganze entwickelt sich, stetig 
trotz aller Reaktionen, in der Richtung aufwärts, die von der 
Natur der Dinge gewiesen wird, in dem Sinne zwar, daß die Zu- 
Standsbesserungen, die zu gegebener Zeit und an gegebenem Orte 
möglich sind, auch wirklich eintreten. Weder die Männer von 1790, 
noch die von 1848 haben erreicht, was sie erstrebten, und das war 
gut, denn sie begehrten vielfach Unsinniges; aber dank ihnen sind 
wir erheblich weiter als sie waren. Die sozialistische Doktrin als 
solche ist verfehlt, allein ohne sie wären wir der gerechteren Neu- 
ordnung der Verhältnisse, welche möglich scheint, nicht schon so 
nahe. Fortschritt ist aber nur möglich in einer Kampfeswelt; in 
einer statisch-friedlichen gibt es keine Evolution. 
Jeder Einzelne soll nur aufrichtig sein, den Mut zum Irrtum, 
zum Wahn, zur Beschränkung, ja zum Verbrechen haben; das 
Weitere besorgt die Natur der Dinge, oder auf indisch ausgedrückt, 
das Karma-Gesetz. Der Weg des Kämpfers mutet arg mechanisch 
an, und ist es auch; der Einzelne figuriert hier nur als Element, 
ohne Verständnis für das Ziel, und das Heil kommt von außen. 
Allein der Masse ist ein höherer Weg nicht gangbar; mögen Ent- 
wickeltere den der Erkenntnis oder der Liebe wandeln — für jene 
kommt nur Karma-Yoga in Frage. Nun ist die von uns erdachte 
und betriebene von allen die tiefsinnigste. Bei ihr handelt es sich 
nicht um passive Hingabe an vorgesetzte Normen, um die erwartete 
Rückwirkung von Dogmen, Übungen, Riten, sondern um opfer- 
frohe Initiative. Und keine nur denkbare führte die Menschenmehr- 
heit schneller zum Ziel. Wie prahlerisch die Behauptung im Ganzen 
sei, daß wir es so herrlich weit gebracht — zugegeben muß werden, 
daß seitdem unsere beschleunigte Entwickelung begann, unglaub- 
lich viel geschehen ist. Man vergegenwärtige sich die Lage der 
englischen, oder gar der irischen unteren Volksklassen vor hundert 
Unsere Kultur wesentlich Kultur der Aufrichtigkeit. 589 
Jahren, die der Fabrikarbeiter überall vor noch weit kürzerer Frist, 
und gedenke dabei vor allem der Rückwirkung, die das Elend auf 
ihre Seelen ausübte: man wird nicht leugnen können, daß wir heute 
in einer neuen, besseren Welt leben, einer Welt höheren Wohl- 
stands nicht allein, sondern würdigerer Gesinnung. Diese aber ist 
erschaffen worden durch Kampf allein, durch durchsetzerischen 
Egoismus; sie wäre unerschaffen geblieben, wenn chinesische Ord- 
nungsliebe oder urchristliches „Nicht-Widerstreben dem Übel" die 
Willen gelenkt hätten. In einer Kampfeswelt führt Egoismus am 
schnellsten zum Ziel. Wie ist dies möglich, wo er im letzten doch 
ein Mißverständnis bedeutet? Eben darum: die Natur der Dinge 
erweist ihn als solchen, und bildet ihn um; aus mörderischer Kon- 
kurrenz entsteht notwendig, früh oder spät, Kollaboration. Wie 
schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die sich bekämpfenden Eisen- 
werke Belgiens und Deutschlands ein Abkommen trafen, welches 
jedem ein bestimmtes Maß, und nicht mehr, zu produzieren ge- 
stattet, so wird es einmal überall kommen in unserer Welt. Gerade 
deshalb, weil wir geborene Gewaltmenschen sind. 
Somit lassen sich Bedeutung und Eigenart der modern-okziden- 
talischen Kultur mit einem Begriff erschöpfend bestimmen: 
sie ist Kultur der Aufrichtigkeit. Mehr als alle Menschen 
gestehen wir uns ein, was wir wollen und sind. Was immer wir vor- 
läufig gelten lassen mögen — eigentlich und letztlich glauben wir an 
uns selbst allein und rasten nicht, bis unsere Stellung in und zu 
der Welt mit unserer individuellen Überzeugung harmoniert. Dem- 
gemäß sind Überzeugungstreue und empirische Wahrhaftigkeit uns 
höchste Ideale. Wir wissen nicht, wie die Inder, metaphysische 
Wahrhaftigkeit mit Lügenhaftigkeit nach außen zu vereinen, oder 
gleich den Chinesen, unverbrüchlich treu eine vorgeschriebene 
äußere Ordnung einzuhalten, ohne zu fragen, inwiefern sie uns 
selbst entspricht: unserer Gesinnung gilt als besser, an persönlichem 
Irrtum zugrunde zu gehen, als einer unverstandenen Wahrheit zu 
dienen, besser durch mutiges Auswirken dessen, was wir glauben, 
in metaphysischen Sinn zu lügen als eine empirische Unwahrheit 
zu reden. Auch hier leitet uns die Grundidee, die aller westlichen 
Kulturgestaltung zugrunde liegt: daß Menschenbestimmung sei, 
den Sinn der Erscheinung restlos einzubilden. 
590 Unsere Irrtumer müssen Segen bringen. 
In China verweilte ich bei den Nachteilen der Aufrichtigkeit. 
Diese fördert den Einzelnen weniger als blinde Hingabe an ein 
Äußeres, sofern dieses einem objektiven Optimum entspricht und 
die persönliche Meinung irrig ist; in diesem Sinn rührt unsere 
Roheit zum großen Teil von unserer Aufrichtigkeit her. Aber unsere 
Barbarei hat andrerseits mehr Zukunft, als jede auf Autorität 
begründete Kultur, weil Mut und Wahrhaftigkeit, und sie allein, 
notwendig vorwärtsführen, weil vor allem sie allein den Entwicke- 
lungsprozeß beschleunigen. Der Natur der Dinge nach müssen 
auch unsere Irrtümer Segen bringen. 
Ich überfliege im Geist die Geschichte unserer Wissenschaft 
und Philosophie. Auf wieviel Abwegen sind wir nicht schon ge- 
wandelt, wieviele Umwege haben wir nicht gemacht! Wievieles 
Vorläufige haben wir als letztes Wort gefeiert, mit wieviel ein- 
seitigen Formeln den Sinn der Welt zu erschöpfen gewähnt! Aber 
jeder Fehltritt hat doch Gutes zur Folge gehabt. Indem die einen 
nur Sein anerkannten, die anderen nur Werden, erfuhr jede Mög- 
lichkeit im Kampf der Schulen eine so scharfe Herausarbeitung, 
daß ihr Zusammenhang heute vollkommen deutlich scheint. Indem 
kühne Revolutionäre die überkommene Moral verwarfen und un- 
befangen die Selbstsucht zum Panier erhoben, zwangen sie die 
übrigen, die Gründe ihrer entgegengesetzten Überzeugung aufzu- 
suchen, wonach das Wahre sich als desto wahrer erwies und 
mancher Irrtum aufgehoben ward. Der Kirchenfeindschaft, der 
Freigeisterei, der Antireligiosität verdankt man's vor allem, daß 
heute endlich der Sinn religiösen Glaubens einzuleuchten beginnt, 
womit denn das, was vormals dunkler Glaubensinhalt war, zur 
lichten Erkenntnis wird. Jede Kritik bringt Segen auf die Dauer, 
so einseitig sie sei, soviel Schönes sie im Augenblick zerstöre. 
Denn auch hier heißt es: stirb und werde! Nur aus zersetztem 
Samen erwächst neues Leben, nur aus der Zersetzung des blind 
Übernommenen entsteht deutliches Wissen. Wenn der Mensch 
autonom werden soll, voll verantwortlich für alles, was er will, 
denkt und tut, dann muß er seiner Gründe voll bewußt werden. 
Alle Dogmen als solche muß er sprengen, alles Vorurteil, auf alle 
Rückversicherung in der Rassenerfahrung verzichten. Diesem Pro- 
zeß war die Neuzeit gewidmet; der geistige Kosmos ist damit 
wieder einmal in ein Chaos zurückverwandelt worden, es gärt und 
kocht in ihm und was schließlich kommen wird, ist im Einzelnen 
Nur unser Weg führt zur vollkommenen Autonomie. 591 
nicht abzusehen. Aber das allgemeine Ziel ist schon gewiß: unsere 
Kultur der Aufrichtigkeit muß dahin führen, daß die auf Hetero- 
nomie beruhende Harmonie sich zuletzt in eine auf Autonomie 
begründete umsetzt, daß alles Wahre, was vormals auf Autorität 
hin geglaubt ward, zur persönlichen Erkenntnis wird und das per- 
sönliche Selbstbewußtsein durchaus zum Träger des Menschheits- 
willens. Und sie allein kann dahin führen. Mögen das indische, das 
chinesische, das katholisch-christliche System noch so erfreuliche 
Bilder erreichter Vollendung darbieten — sie bergen keine Ent- 
wickelungsmöglichkeit. Ein Neues kann nur auf unserem Wege 
werden. 
Der jüngste und typischeste Abendländer, der Amerikaner, ist 
der aufrichtigste Mensch; dies erkauft seine Unkultur. Aus ihm 
kann noch alles werden. Wie wenig das Vorläufige als solches 
den Vergleich mit dem Vollendeten verträgt — in einer Welt des 
Werdens hat es Daseinsberechtigung. Und schließlich steht dieses 
Vorläufige der äußerst denkbaren Vollendung näher in der Idee, 
als die indische Vollkommenheit. Ich rufe mir meine Betrachtungen 
über deren Eigenart ins Gedächtnis zurück: der Inder, des Sinnes 
tief bewußt, hat nie für notwendig befunden, bei dessen Ausdruck 
den Eigen-Sinn des Mittels zu berücksichtigen, nie Kongruenz 
beider Bedeutsamkeiten postuliert; dementsprechend gelten ihm 
Tatsachen und Einbildungen, Wirklichkeiten und Mythen, Lügen 
und die Wahrheit reden, Aberglauben und exaktes Wissen als 
gleich, sofern nur der Sinn an sich erfaßt erscheint. Allein dieser 
realisiert sich ganz nur dort, wo er restlos die Erscheinung durch- 
dringt, wo keinerlei Widerspruch zwischen Innerem und Äußerem 
besteht. Deshalb sind Einbildungen und Tatsachen, Lügen und 
Wahrheiten nicht gleichwertig; der widerstreitende Ausdruck nimmt 
dem Sinn seine Wirkungskraft; hierher rührt das Versagen der 
Inder als Menschen und im praktischen Leben. Der Abendländer 
nun ist Fanatiker der Exaktheit; daher sein beispielloser Erfolg 
in der Erscheinungswelt. Vom Sinn weiß er noch wenig. Allein 
erfaßt er ihn je, dann wird er ihm auch zu vollkommenem Ausdruck 
verhelfen, die vollkommene Harmonie herstellen zwischen Wesen 
und Phänomenalität. 
592 Die Mormonenkirche. 
SALT LAKE CITY. 
Wie ich im Bureau des Mormonentempels, des Beginns 
des mittaglichen Orgelkonzertes harrend, in den aus- 
gestellten Büchern und Traktaten blätterte, wandte 
sich die Verkäuferin zu mir und fragte, ob mir das neue Evan- 
gelium schon gepredigt worden sei? — Ich erwiderte, daß mir 
die Schriften der Mormonen allerdings bekannt seien. — Sind Sie 
davon schon überzeugt, daß sie Gottes Wort enthalten? Und 
ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, fuhr sie fort: das eben ist 
das Wunderbare unserer Religion, daß sich über den göttlichen 
Ursprung ihrer Offenbarung ohne Umschweif Sicherheit erlangen 
läßt. Gott hat durch Joseph Smith verheißen, daß Er jedem, der 
Ihn in Wahrhaftigkeit um Auskunft angeht, unmittelbar Bescheid 
erteilen wird. Und Er hält Wort: so bin ich bekehrt worden. 
Ich bin ein Münchener Kind; zufällig gelangte ich dazu, einem 
Mormonenmissionar zu lauschen; der wies mir den Weg, wie ich 
mir über den göttlichen Ursprung des Buches Mormon Gewißheit 
verschaffen könne. So fragte ich Gott — und siehe da: Er ant- 
wortete mir sogleich mit einem vernehmlichen Ja. Seitdem bin 
ich hier und sehr glücklich. — Gerührt sah ich sie an. Sie gehörte 
dem üblichen Typus der Bekehrten an, wie er gleichsinnig und 
gleichartig alle Erweckungskirchen füllt; aber so rührend sim- 
plistische Vorstellungen hatte ich noch nie mit eigenen Ohren 
bekennen gehört. In dieser Hinsicht steht die Mormonenkirche 
ohne Zweifel an der Spitze aller geistlichen Institutionen. Wie 
pathetisch ist die Geschichte der Mormonenpolygamie! Es war 
Joseph Smith geoffenbart worden, daß die Familienbande im 
Himmel fortbeständen; damit war die Vielweiberei insofern als 
bestehend anerkannt, als der, welcher auf Erden nacheinander 
mehrere Frauen heiratet, dieselben im Himmel alle auf einmal 
besitzen werde. So bedeutete die nächstfolgende Offenbarung, daß 
der Mann auch auf Erden viele Frauen haben solle, dem Sinn nach 
nur ein Korollar zur vorhergehenden. Gleichwohl wirkte dieses 
Gebot auf die Gemüter der Frommen niederschmetternd; es wider- 
stritt allen Vorurteilen ihrer biederen Angelsachsenseelen. Allein 
die Gottesfurcht siegte, und schweren Herzens legten sich alle 
Unzulänglichkeit aller westlichen Religionsstifter. 593 
mehrere Frauen an. Bald setzten die Nachstellungen ein; es begann 
eine Zeit so erbitterter Verfolgung, daß die Kirche vernichtet zu 
werden drohte. Da erbarmte sich der Herr; Er offenbarte dem 
Präsidenten Wilford Woodruff, daß. die Vielweiberei nunmehr auf- 
hören dürfe. „So sind die Heiligen der letzten Tage", heißt es 
in einer kanonischen Schrift (Mormonism, by B. H. Roberts, 
published by the Church p. 57), was die Vielweiberei betrifft, 
weder für ihre Einführung noch auch für ihre Abstellung verant- 
wortlich. Der Herr hat sie erst geboten, allen menschlichen Vor- 
urteilen zum Trotz; dann, sich der Leiden erbarmend, die der 
Gehorsam über seine Getreuen brachte, erlaubte Er zur Monogamie 
zurückzukehren. Es ist Gottes Sache, für die von ihm ausgehenden 
Befehle einzustehen." — Ich muß über das Urteil denken, das der 
Swami Vivekänanda über alle ihm bekannten Religionsstifter des 
Westens fällte: bei ihnen allen sehe man echte Erleuchtung auf 
seltsame Weise mit possierlichem Aberglauben verquickt; sie seien 
wohl von Gott inspiriert, aber psychisch zu ungebildet gewesen, 
um das Geoffenbarte rein aufzufassen und richtig zu verstehen. 
So ist es. Im Mormonentum tritt in extremer Form zutage, was 
im Prinzip von aller religiösen Gestaltung der westlichen Mensch- 
heit gilt. Unzweifelhaft waren Joseph Smith und Brigham Young 
ebenso echte Propheten, wie Moses, Wesley, Luther und Calvin; 
sie waren nur überaus unwissend und ungebildet. Aber wesentlich 
unterscheiden sie sich darin, darüber sei man sich klar, von unseren 
Größten nicht. Was soll man z. B. zu Luther sagen, welcher das, 
was allen tief religiösen Geistern vor ihm das Wesen der Religion 
verkörperte, als vorübergehende, sekundäre, ja bedenkliche Er- 
scheinung verworfen und eben das, was vor ihm stets als abgeleitete 
Wirkung ihrer galt, als ihr Wesen beurteilt hat; welcher gelehrt 
hat, daß Religion nichts anderes sei und nichts Höheres bedeuten 
könne als blinden Glauben an Gott und Benutzen der Heilsmittel 
Wort und Sakrament? 1 ) Man kann nur verlegen schweigen ob 
des Verständnismangels dieses großen Mannes. Herrlich tief war 
seine persönliche Religiosität, doch seine Gedanken über das 
Religiöse hafteten sämtlich an der Oberfläche. Und nun Calvin: 
ist seine Dogmatik nicht ungeheuerlich? Ungeheuerlich fürwahr ist 
die Idee einer ewigen Verdammnis, die von Ewigkeit her von einem 
x ) Vgl. Adolf Harnack Reden und Aufsätze II pp. 300, 302. 
Keyserling, Reisetagebuch. 38 
594 Okzidentalen nicht Vorsteher sondern Täter. 
allbarmherzigen Gott zu seiner Ehre über die machtlose Seele ver- 
hängt sein soll. Allein Calvin war ein sonst hochgebildeter Mann, 
und Luther ein Genius: deshalb leuchtet aus ihren noch so flachen 
Vorstellungen immerhin der Geist der Tiefe hervor, so daß man 
durch alle Torheit hindurch fühlt: sie wußtens besser als sie's 
aussprechen konnten. Bei den angelsächsischen, zumal den über- 
seeischen Reformern spürt man nichts Ähnliches. Die angel- 
sächsische Rasse, in vielen Hinsichten die entwickelteste der Welt, 
steht religiös auf einer ganz primitiven Stufe. Sie ist so unphiloso- 
phisch, so unpsychologisch, überhaupt so undifferenziert und un- 
reflektiert, was das Leben der Seele betrifft, daß sonst bedeutende 
Briten sich anstandslos zu Religionsformen bekennen, die unserem 
Urteil nach kaum mehr Köhlern gemäß sein sollten. Kein angel- 
sächsischer Religionsstifter war je philosophisch urteilsfähig, und 
gehörte er gar den niederen Volksschichten an, war er überhaupt 
ungebildet und ungeschult, wie die meisten amerikanischen Refor- 
matoren, dann entstanden Systeme wie das mormonische. Noch 
einmal : wer da Indien kennt oder sonst weiß, was religiöse Bildung 
bedeutet, dem stellen sich Auswüchse wie sie in Rußland die 
Duchobortsen, in Norddeutschland die Pietisten und in Amerika 
die Mormonen verkörpern, als nichts Außerordentliches dar; viel- 
mehr als leidlich typische Ausdrucksformen der religiösen Erfahrung 
im Westen. 
Wir Okzidentalen sind nicht Versteher sondern Täter. Die- 
selben Mormonen, deren religiöse Vorstellungen so kindisch wirken, 
haben eine Kulturarbeit geleistet, wie kaum ein Volk; in knapp 
einem halben Jahrhundert haben sie die Salzwüste in einen Garten 
umgewandelt. Sie sind ferner ausgezeichnete Staatsbürger, recht- 
schaffen, ehrlich und fortschrittlich. Solch praktische Vorzüge 
eignen den Indern nicht, bei all' ihrer größeren Einsicht. Offenbar 
besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen dem philoso- 
phischen Werte einer Idee und ihrer Bedeutung für das Leben, 
läßt sich von jenem aus über diese nichts präjudizieren. Der Präde- 
stinationsgedanke ist eine Monstrosität: er hat gleichwohl die 
stärksten Männer der Geschichte gebildet; die ganze Effikazität des 
modernen Menschen geht auf die Weltanschauung Johann Calvins 
zurück. Die lutherische Auffassung der Religion ist befremdlich 
flach: aus ihr oder innerhalb ihrer ist gleichwohl die tiefste 
Gernütskultur Europas erwachsen, und ihr Geist liegt der Musik 
Bedingungen der Wirkungskraft religiöser Ideen. 595 
Johann Sebastian Bachs sowohl als der großen deutschen Speku- 
lation zugrunde. Die katholische Kirche mit ihrem Gegensatz gegen 
alle Selbständigkeit, mit ihrer primitiven Mythologie und ihrer 
Fortschrittsfeindlichkeit bedeutet noch heute die beste psycho- 
logische Bildungsanstalt, mithin die beste Schule der Selbsterkennt- 
nis, die wir haben. Und der Brahmanismus, mit seiner wunder- 
baren Erkenntnistiefe, hat sich als unfähig erwiesen nicht allein das 
praktische Leben der Masse auch nur annähernd so günstig zu be- 
einflussen, wie die roheren Religionsformen des Westens, sondern 
er hat auch die Erkenntnis im ganzen weniger gefördert als das 
Luthertum. Es geht eben nicht an, bei der Beurteilung einer 
religiösen Idee von den empirischen Verhältnissen abzusehen, 
innerhalb derer sie wirken soll. Ihre Wirkungskraft hängt ab von 
dem Grade, in welchem sie den Willen der Menschen beeinflußt; 
dieser seinerseits von der prästabilierten Sympathie zwischen den 
religiösen Vorstellungen und den Neigungen; diese ihrerseits von 
dem Milieu, in dem sie aufwuchsen, und so fort. Allgemein läßt 
sich allenfalls das folgende sagen: wo die Geistesbildung gering, 
die Intensität des Wollens aber groß ist, erweisen sich primitive 
Vorstellungen als die besten; wo das umgekehrte Verhältnis waltet, 
dort sind alle Vorstellungen wirkungslos; nur wo beide auf an- 
nähernd gleich großer Höhe stehen, entscheidet der geistige Wert 
mehr oder weniger über die Effikazität. Auf diesem letzten Stadium 
befindet sich neuerdings ein Teil der europäischen Menschheit. 
Aber dieser Teil ist geringer, als man denkt; auch unter uns from- 
men den meisten primitive Vorstellungen am besten. 
W" esentlich interessanter erscheint das amerikanische 
Sektenwesen, wenn man es nicht an sich selbst, son- 
dern als Exponenten und Repräsentanten okzidenta- 
lischer Religiosität betrachtet; denn hier wie überall treten die 
typischen Züge des Abendländers in Amerika stärker zutage als in 
Europa und haben vorgeschrittenere Entwickelungsstadien erreicht. 
Was unterscheidet unsere Religiosität grundsätzlich von der 
indischen? Daß in ihr, im Gegensatz zu dieser, das Principium 
individuationis die Gestaltung herrschend bedingt. Die Religion 
hat es im Westen mit dem Verhältnisse des Einzelnen als solchen 
zu Gott zu tun; über dem Einzelnen, zum Menschen zu, gibt es 
38* 
596 Grundcharakter der okzidentalischen Religiosität. 
keine Instanz. Damit wird das Individuelle zum Wert. Gleichviel, 
wie dies Verhältnis im besonderen verstanden werden mag — im 
Sinn eines unendlichen Werts der Menschenseele schlechthin 
(Christus), der Persönlichkeit als höchsten Glücks (Goethe), des 
Übermenschen (Nietzsche), des Gottmenschen (Johannes Müller, 
New thought), den jeder Einzelne aus sich herausbilden oder in 
sich wecken soll — es ist die Wertbetonung des Individuellen 
als solchen, die der okzidentalischen Religiosität ihren eigen- 
artigen Charakter gibt. Hierauf sind die meisten und jedenfalls 
die wichtigsten Unterschiede zwischen östlichem und westlichem 
religiösen Wesen zurückzuführen. Nirgends gibt es mehr Sekten, 
als in Indien; nirgends sind die Unterschiedsmerkmale be- 
stimmter herausgearbeitet; aber da das Unterschiedliche nicht 
wertbetont erscheint, so ergeben sich aus dem Tatbestand die 
Konsequenzen nicht, die ein gleiches im Westen immer zur Folge 
gehabt hat. Bei uns hat Unterschiedlichkeit immer Feindschaft be- 
dingt, sieht eine Sekte auf die andere herab, bekriegt sie, verfolgt 
sie, sucht sie auszurotten oder zu bekehren; wenn der Wert an 
die individuelle Form gebunden sein soll, dann entwertet natür- 
lich die jeweilig anerkannte sämtliche anderen, woraus sich die 
Berechtigung, ja die Pflicht ergibt, sie so oder anders aus der 
Welt zu schaffen. Wo hingegen das Individuelle nicht als Wert, 
sondern als Sonderausdruck eines Höheren aufgefaßt wird, dort 
ist der Intoleranz, der Ausschließlichkeit, der Bekehrungswut, ja 
dem bloßen Missionseifer der Boden unter den Füßen entzogen. 
Deshalb hat sogar die Mahäyäna-Religion, die ihren Anhängern 
Missionieren zur Pflicht macht, nie Intoleranz geübt: dem indischen 
Geist widerstrebt es absolut, eine Sondergestalt an sich als Wert 
zu beurteilen. 
Nun ist kein Zweifel, daß die indische Auffassung prinzipiell 
die richtige ist: das Individuelle ist an sich kein Wert. Aber es 
kann zum Träger von Werten gemacht werden, und geschieht 
solches, so erhält es eine spirituelle Dichtigkeit, die sein Wesen 
von Grund aus verwandelt. Daher die ungeheure, einzigartige 
Effikazität, die den westlichen Geist in alP seinen Äußerungen 
kennzeichnet. Was hat die bloße Tatsache des „Verschiedenseins" 
bei uns von je für Kräfte entfesselt! Man denke an die Kämpfe 
zwischen Christen und Ungläubigen, Katholiken und Protestanten, 
Traditionalisten und Fortschrittlern: so wenig sie innerlich be- 
Intoleranz Schöpferin der Gewissensfreiheit. 597 
rechtigl erscheinen, so ungeheure Wirkungen haben sie ausgelöst, 
und zwar segensreiche Wirkungen. Jeder Kämpfer sah eben in 
seinem Sonderbekenntnis das einzigmögliche Gefäß der absoluten 
Wahrheit, er füllte es mit dem gesamten Gehalt an Idealen, den 
er besaß, und ward sich derer so deutlicher und innerlicher be- 
wußt, als dies möglich gewesen wäre, wenn er sie an sich und 
parteilos kontempliert hätte. Hierher rührt es, daß unsere be- 
schränktere Erkenntnis für den Menschheitsfortschritt mehr bedeutet 
hat als die tiefere und weitere der Inder: was wir wußten, haben 
wir unserem persönlichen Leben eingebildet und auf diese 
Weise unseren Ideen die ganze lebendige Kraft persönlichen Wün- 
schens und Strebens mitgeteilt. Auf diese Weise löst sich das 
Rätsel, weshalb Albasche und Cromwellsche Unduldsamkeit mehr 
zum Sieg der Gewissensfreiheit beigetragen haben, als eines Eras- 
mus Allverstehen: Toleranz läuft praktisch auf Gleichgültigkeit 
hinaus, kann die Welt daher von sich aus nicht verändern, während 
jedes einseitige Wirken, dank den Gegenwirkungen, die es auslöst, 
darauf hinarbeitet, daß sich der alte Gleichgewichtszustand in einen 
neuen umsetzt. Auf diese Weise löst sich auch das Paradoxon, 
auf das ich im Laufe dieser Aufzeichnungen öfters hinzuweisen 
Gelegenheit fand — das Paradoxon, daß der Wert einer Idee als 
Idee so wenig ihren praktischen Wert garantiert, daß beschränkte, 
ja ungeheuerliche Vorstellungen sich oft segensreicher erwiesen 
haben als tiefere — : wo der Akzent des Wesens auf der Erschei- 
nung ruht, ist diese transfiguriert; sie bedeutet nun, was zu ihrem 
Eigen-Sinn in gar keinem Verhältnis, ja kaum in Beziehung steht; 
sie wird zum Ausdruck des Absoluten. So haben die Völker des 
Westens, trotz ihrer Seelenblindheit, ihrer Beschränktheit, ihrer 
Einseitigkeit und Intoleranz, ja man kann beinahe sagen, wegen 
ihrer, von allen am meisten bisher für die Menschheit als Ganzes 
geleistet; sie allein haben es unternommen und verstanden, die 
Ideale, die sie fortschreitend erkannten, in dieser Welt auch 
fortschreitend zu verwirklichen. 
Das Medium dieser Verwirklichung war nichts anderes als 
der Parteigeist, das Grundmotiv der Glaube an den absoluten 
Wert und die Substanzialität des Individuellen; aber die wirkende 
Kraft war das Ideal. So führt der normale Weg des Fortschreitens 
von selbst aus den Beschränkungen hinaus. Niemand wohl ist in 
engerem Sinne religiös gewesen, als die amerikanischen Pilger- 
598 Wesen der wesilich-christlichen Lebensanschauung. 
väter; lange hat jenseits des Ozeans die grausamste Intoleranz 
geherrscht; furchtbar zumal waren die Verfolgungen, welche die 
Mormonen ausstehen mußten. Aber weil das principium individua- 
tionis in Amerika auf die Spitze getrieben ward, brach diese dort 
am frühesten ab. Sekten über Sekten entstanden dort, jede wähnte 
sich zuerst im Alleinbesitz der Wahrheit, schloß sich streng von 
allen übrigen ab. Aber da von allen Amerikanern die schlechthin ige 
Freiheit des Individuums als Grundprinzip einer politischen Welt- 
anschauung anerkannt ward, so konnte es auf die Dauer nicht 
fehlen, daß ein Individuum das andere gelten ließ; Duldsamkeit 
löste langsam aber auch unaufhaltsam die ursprüngliche Unduld- 
samkeit ab. Damit nun war etwas angebahnt, was unzweifelhaft 
einen Höhepunkt in der bisherigen Menschheitsentwickelung be- 
zeichnet: eine Praxis, welche ideell auf der indischen Weitherzig- 
keit fußt, die alles Besondere als selbstverständlich gelten läßt, 
aber de facto von der ganzen Kraft beseelt wird, die persönliches 
Wollen beruft. Mit anderen Worten: die neueste Entwickelung der 
westlichen Menschheit führt unter Wertbetonung des Individuellen 
zum gleichen Zustand, wie unter Indern die Nichtachtung des Indi- 
duums. 
Wird die westlich-christliche Lebensstimmung jemals vom Geist 
metaphysischen Wissens beseelt, dann mag sie wohl noch dereinst 
das vollkommenste Leben aus sich hervorbringen, das hinnieden 
theoretisch denkbar erscheint. Wenn die christliche Liebe bis heute 
ebensoviel Unheil wie Heil verursacht hat, so liegt dies daran, daß 
sie noch allzu sehr mit dem naturhaften Gefühl zusammenfällt, das 
mehr ein Nehmen- als ein Gebenwollen ist und beinahe durchaus 
mit einem weiteren Egoismus zusammenfällt. Wenn die christliche 
Stellung zum Sterben im Ganzen unedler wirkt, als die buddhistische, 
so beruht dies darauf, daß sie den Nachdruck nicht auf das Opfer, 
sondern das Behalten legt, auf Vergeltung des Leids und ein 
Wiederfinden alles Verlorenen in einer besseren Welt. Allein keine 
dieser Auffassungen hängt mit unserer Lebensanschauung notwen- 
dig zusammen. Was diese wesentlich kennzeichnet, unabhängig 
von allen zeitbedingten Vorstellungen, sind die Wertbetonung des 
Individuellen und das Jasagen zum persönlichen Schicksal; diese 
jedoch, vom Geiste wahren Wissens beseelt, bedingten ein höheres 
und volleres Leben, als das indische Detachement. Auch die Inder 
reden vom Opfer, das jeder bringen soll: doch was bedeutet das 
Christliches Sterben, christliche Liebe. 599 
Aufgeben dessen, woran einem nichts liegt? Wer das Leben nicht 
ernst nimmt, hat leicht verzichten. Das Nicht-Ernstnehmen aber 
beweist, außer in seltenen Ausnahmefällen, Unaufrichtigkeit. Wir 
sind nun einmal Individuen, irdische, leidensfähige Wesen, hängen 
mit unserem ganzen empirischen Bewußtsein zusammen mit dieser 
Welt; also lügen wir, indem wir behaupten, sie wäre uns nichts; 
oder lügen wir nicht, so offenbaren wir damit in den meisten Fällen, 
nicht daß wir weltüberlegen sondern stumpf und gefühllos sind. 
Jedenfalls aber beweisen wir physiologische Opferunfähigkeit. Als 
Opfer kann nur das Hingeben gelten, welches weder auf größeren 
Gewinn hin geschieht, noch ein als wertlos erkanntes betrifft. Im 
freudigen Opfern-körmen und -wollen allein nun sind wir „ent- 
worden", wie Meister Eckhart sagt, unseres Ich entkleidet, und 
insofern praktisch eins mit Gott — keine Lebensstellung aber legt 
solch wahres Opfern näher als die westlich-christliche. Sie ermög- 
licht in der Idee die weitaus freieste zum Tod. Wer da stirbt, 
gibt wirklich sein Leben hin; denn mag seine Seele fortleben — 
der Mensch, als welcher er sich kennt und anderen lieb ist, ist 
auf immer dahin. Im vollen Bewußtsein dessen gern zu sterben 
oder ein geliebtes Wesen willig hinzugeben, bedeutet buchstäblich 
ein Überwinden des Todes, denn wer so schenken kann, rein hin- 
geben ohne wieder nehmen wollen, ist hinaus damit über alle Natur. 
— Nicht anders steht es mit der christlichen Liebe. Besser ent- 
schieden als sich und die Welt gleich gering zu schätzen, ist seinen 
Nächsten zu lieben wie sich selbst, schon deshalb, weil sich selbst 
doch jeder liebt. Nur muß die Liebe, um einen Ausdruck meta- 
physischen Wissens zu bedeuten, rein geberisch sein, ein sonnen- 
haftes Strahlen, Wärmen, Lebenspenden, ohne Vorbehalt, Absicht 
und Ausschließlichkeit. Weil sie dieses nicht ist in der christlichen 
Welt, sondern im Ganzen ein Ausdruck von Selbstsucht, bietet 
diese ein häßlicheres Schauspiel dar, als die gleichgültigere des 
Orients. Allein sie kann es, muß es werden bei fortschreitender 
Erkenntnis; der psychische Körper ist da, bedarf bloß der Durch- 
geistung, und diese geschieht schon. Ist sie aber vollendet, dann 
wird das göttliche Licht an der christlich gestimmten Seele ein 
vollkommenes Medium besitzen. Anstatt, wie in Indien, nur in 
der geistigen Sphäre zu leuchten, oder in der des Empfindens, wie 
im buddhistischen Japan, oder allein, wie im Westen bisher, dem 
Handeln die Richtung zu weisen, wird es den ganzen, vollen Men- 
schen beseelen. 
600 Vorzug d. amerikanischen vor d. europäischen kleinen Mann. 
OSTWÄRTS. 
Nun durchschneide ich den Kontinent in eilendem Zug; in 
Windeshast fliegt die neue Welt an mir vorüber. Und 
wieder einmal erfahre ich's: zur Auffassung des Wesent- 
lichen ist die Zeit uns hinderlich. Die großen Linien treten desto 
schärfer hervor, je mehr das Einzelne verflimmert und verschwimmt. 
Dem Idealzustand, dem unsere jüngste Entwickelung zustrebt, 
ist Amerika, trotz des vorläufigen Charakters des meisten in ihm, 
entschieden näher als Europa. Hierbei habe ich selbstverständlich 
nicht den alleskaufenkönnenden Kulturprotz im Auge, der sich 
selbst für die Krone der Schöpfung hält — der ist unwesentlich 
in jeder Hinsicht, kaum echter in seinem Gewand europäischer 
Bildung, als der anglisierte Hindu; sondern den hartarbeitenden, 
dem Erfolg im Großen nicht allzunahen kleinen Mann, auf den die 
demokratische Weltanschauung eigentlich zugeschnitten ist. Der 
ist seinem transozeanischen Genossen menschlich weit überlegen. 
In Amerika fehlt eben das Meiste dessen, was den in ungünstiger 
Lebensstellung geborenen Europäer verbittert und verringert. Hier 
sind die Verhältnisse so weit, daß jeder Einzelne Aussicht hat, 
seinen Weg zu machen, und so bestärkt wird in seinem Mut und 
seiner Aufrichtigkeit; hier bieten sie ihm andrerseits die harte Schule, 
deren jeder von Hause aus Unmündige bedarf, um das moralische 
Recht zur Selbstbestimmung zu erringen. Und kommt hier einer 
aus kleinen Anfängen hoch hinauf, so mag er zu seiner höheren 
Stellung ebenso reif erscheinen, wie der in ihr Geborene, weil Zu- 
rücksetzung und Furcht vor solcher vielfach die Haupthindernisse 
sind einer sonst naturgemäß der äußeren nachfolgenden Seelen- 
erhebung und, umgekehrt, freudig anerkanntes echtes Verdienst das 
Selbstbewußtsein ähnlich beeinflußt wie ererbter Adel; denn un- 
zweifelhaft bedeuten Klassenschranken und -Vorurteile ein reines 
Übel überall, wo sie nicht wirklich d. h. physiologisch bestehenden 
Unterschieden entsprechen. Hier, wenn irgendwo, wird auf demo- 
kratischer Basis echte Kultur erblühen. 
So gilt in Amerika schon in hohem Maß die Anschauung, die 
überall wird gelten müssen, wo die moderne Entwickelung ihrer 
Vollendung naht: daß alle Arbeit gleich ehrenvoll sei. Natürlich 
Alte Arbeit gleich ehrenvoll. 601 
beruht dies zunächst auf force majeure, nicht auf höherer Einsicht, 
weshalb es nicht zu verwundern ist, daß hier andrerseits krassere 
Kastenvorurteile herrschen, als bei uns; aber die Konstellation der 
Umstände, daß jeder ganz auf sich selbst gestellt, sein Brot ver- 
dienen muß, ferner jeder der höchsten Bildung teilhaftig werden 
kann und jeder sich selbst als Souverän fühlt, bringt es notwendig 
mit sich, daß in den Augen des amerikanischen Volks die Aus- 
füllung einer noch so niederen Stellung das Gentlemansein nicht 
ausschließt, was seinerseits zur Folge hat, daß alle Arbeit geadelt 
und das Selbstbewußtsein des Geringsten gehoben erscheint. Damit 
ist der Weg zu einem Idealzustande betreten: wird er erreicht, 
so würde damit die Wahrheit, daß alles Äußerliche gleichgültig 
ist, ihre höchstmögliche Verkörperung finden. Dem Inder ist das 
Äußerliche in dem Sinn gleichgültig, daß ihm alle Erscheinung als 
gleich wertlos gilt: ersprießlicher ist unzweifelhaft, alle Erscheinung 
als gleich wertvoll zu beurteilen, und das ist die Richtung, in 
welcher die amerikanische Entwickelung sich bewegt. Beide Stel- 
lungnahmen bedeuten metaphysisch gleiches, da durch beide die 
empirischen Rangordnungen aufgehoben werden, aber durch letztere 
wird die Erscheinung sinnvoll gemacht — „das Himmelreich 
wird auf Erden verwirklicht" — während erstere sie vollends 
aushöhlt. Die orientalische Auffassung der Gleichgültigkeit alles 
Äußerlichen drückt die, welche gezwungen sind, in äußerlicher Be- 
tätigung aufzugehen, also sämtliche arbeitenden Klassen, zu sinn- 
losen Existenzen herab; die amerikanische ermöglicht es dem ge- 
ringsten Kuli, sich als Vollmensch zu fühlen und zu betätigen. 
Hier, im amerikanischen Arbeitertypus, erscheint ein Fortschritt 
verwirklicht, der mehr als Fortschritt im üblichen Sinne ist: hier 
handelt es sich um ein Vorwärtsgekommensein nicht bloß im Sinn 
des Erfolges, sondern vor allem der Vollendungsmöglichkeit. Wenn 
jeder äußere Rahmen als gleich wertvoll gilt, dann ist der Beweg- 
lichkeit ihr Verhängnischarakter genommen; dann mag im Durch- 
schreiten der Lebensordnungen dieselbe innere Bildung gewonnen 
werden, wie sonst nur durch Verharren in den gegebenen. Und sie 
wird schon erzielt. So sehr der „gebildete" Amerikaner noch 
Barbar ist, so gebildet wirkt das einfache Volk. Die Schaffner, 
mit denen ich hie und da Unterhaltung pflege, imponieren mir 
mehr, als mir irgendein Westländer seit Jahren imponiert hat. 
602 Demokratie bedingt nicht Herrschaft der Inkompetenz. 
Eine weitere Hinsicht, in welcher Amerika uns auf unserer 
Bahn voraus erscheint ist die, daß hier die Demokratie nicht not- 
wendig Herrschaft der Inkompetenz bedingt. Natürlich strebt sie 
darnach als nach ihrem Ideal: schon brandmarken die Labour- 
Unions den, der mehr leistet als seine Mitarbeiter, als unfair, 
schon werden, wie in Europa, gleichmäßig hohe Löhne unabhängig 
von der Leistung gefordert, und zeitweilig wohl auch erzielt werden. 
Aber schwerlich wird es in der neuen Welt zu so trostlosen Dauer- 
zuständen kommen, wie sie uns mit Sicherheit bevorstehen. Das 
Mächtigerwerden der niederen Volksschichten in Europa ist deshalb 
so unheilschwanger, weil der noch so selbstbewußt und selbst- 
bestimmt gewordene Proletarier doch an der überkommenen Vor- 
stellung festhält, daß die höheren Schichten verpflichtet seien, für 
ihn zu sorgen. Diese Vorstellung war berechtigt, solange kein freies 
Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern bestand, 
sondern ein patriarchalisches oder sonst bevormundendes; sobald 
der Arbeiter als selbständiger Kämpfer in die Arena tritt, entbehrt 
sie der Grundlage und führt, wo sie im Gesellschaftsorganismus 
dennoch fortbesteht, zu verhängnisvollen Folgen. Bei uns streben 
die Proletarier nichts Geringeres an als den Ruin aller Wohl- 
habenden. Offiziell tun sie das in Amerika auch, aber dort werden 
sie nicht viel Unheil damit anrichten, weil gerade die Vorstellung, 
die alles Unheil bei uns von innen her bedingt, dort fehlt: es setzt 
keiner als selbstverständlich voraus, daß die Wohlhabenden für die 
Ärmeren zu sorgen verpflichtet seien; dort besteht das Vertrags- 
verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer rein; dort erwartet 
jeder alles von sich selbst allein, und der scheinbare Klassen- 
kampf ist in Wahrheit ein Kämpfen der Interessen. Amerika hat 
den ungeheuren Vorteil vor uns, daß dort die Entwickelung 
von vornherein individualistisch eingesetzt hat, während sie in der 
alten Welt nur ganz allmählich zu einer solchen wird. Jeder Aus- 
wanderer, der sich über den Ozean begab, war mit Überzeugung 
sich selbst der nächste; er wies es ab, für andere zu schaffen. 
Aber ebensosehr widerstrebte es seinem Stolz, von anderen Hilfe 
zu erwarten. In einem armen Lande hätte diese Grundverfassung 
auf die Dauer wohl zu mißtrauischer Verbissenheit geführt; im 
überreichen Amerika entwickelte sie sich zu immer freimütigerem, 
optimistischerem Selbstvertrauen, so daß das Gefühl des Neides 
und des Ressentiments daselbst noch heute zu den Seltenheiten 
Rücksichtslosigkeit als Vorstufe der Humanität. 603 
gehört. Der Amerikaner setzt nicht voraus, daß 
andere für ihn zu sorgen hätten: dieser Satz resümiert 
den Vorzug, den die neue Welt vor der alten hat. Nur unter dieser 
Voraussetzung kann freier Wettbewerb zu Gutem führen; auf 
dieser Grundlage allein kann eine dauerhafte Gesellschaftsordnung 
aufgebaut werden, in welcher alle gleiche Rechte besitzen. Denn 
nur, wenn jedem das Recht zugestanden wird, seinen eigenen Vorteil 
rücksichtslos zu wahren, kann der Herrschaft der Inkompetenz 
vorgebeugt werden, kann die Idee der Demokratie eine effektive 
Aristokratie herbeiführen. 
Freilich ist das psychologische Moment, mittelst dessen allein 
die neue Ordnung verwirklicht werden kann, nichts anderes als 
der Egoismus: das erklärt den Tiefstand alles dessen in Amerika, 
was das Bewußtsein höherer Synthesen, als es das Individuum 
ist, voraussetzt. Humanität im tieferen Sinne ist unter Ameri- 
kanern selten zu finden, so wohlwollend und gutmütig und sogar 
hilfsbereit sie meistens sind; selten fühlt sich einer innerlich ver- 
pflichtet, einem anderen beizustehen, es sei denn, er sei Humani- 
tätsspezialist; wer nicht zu arbeiten vermag, nun, der mag Hun- 
gers sterben. Aber es gilt zu begreifen, daß dieser Mangel die 
unvermeidliche vorläufige Erscheinungsform einer sich festigenden 
Selbstbestimmtheit bezeichnet und vom Standpunkt einer besseren 
Zukunft her betrachtet, menschlich wertvoller ist, als Humanitäts- 
duselei. Eine individualistische Gesellschaftsordnung ist undenk- 
bar auf Grundlage von Mitleidsmoral; nur dort kann sie Gutes 
bedeuten, wo jeder alles von sich, und nichts von anderen erwartet. 
Diese Grundverfassung setzt eine völlige Ummodelung der Euro- 
päerpsyche voraus und bis sie vollendet ist, werden die Schatten- 
seiten mehr als die Lichtseiten der neuen Lage dem Beobachter 
auffallen. Aber hie und da ist sie schon vollendet, und dort bietet 
sich einem ein durchaus erfreuliches Bild. Die Menschen, welche 
ungebrochen durch die grausame Schule des amerikanischen Da- 
seinskampfs hindurchkommen, sind hart und elastisch wie Stahl; 
sie sind innerlich gespannt, wie sonst niemand. Aber da sie alles 
von sich, und nichts von anderen erwarten, so geben sie, wo sie 
edel sind, desto lieber; so wird Humanität, bisher eine Rückver- 
sicherung, zum reinen Geschenk. Es ist nicht unmöglich, daß in 
Amerika, nachdem die Flegeljahre überstanden, der allzu wild- 
wüchsige Egoismus vom Leben zurechtgestutzt ward, eine vom 
604 Amerikanische Landwirtschaft. 
westlichen Standpunkt höchste Zivilisation erblühen wird, die eben 
nur unter diesen historischen Voraussetzungen denkbar scheint: eine 
schlechterdings individualistische Zivilisation, wo keiner etwas vom 
anderen erwartet, und dennoch alles, was er nur kann, für die 
Gesamtheit tut. 
Nun trägt mich die Bahn durch endlose Felder und Weiden- 
gelände dahin. Noch nie habe ich so extensive Wirtschaft 
gesehen, und selten rationeller betriebene. Kein Landwirt 
von Kansas scheint Sport in der Ökonomie zu treiben, wie es der 
europäische immer noch tut, der aus Freude an der Sache so häufig 
teurer wirtschaftet — zu großartig baut, Unvorteilhaftes erhält, 
fruchtbares Land aus ästhetischen oder Pietäts-Rücksichten nicht 
nutzt usw. — als ihm ersprießlich wäre; aber auch keiner scheint 
kleinlich-praktisch, pennywise, bauernschlau, reaktionär aus Mangel 
an Wagemut: nur das unbedingt Zweckmäßige geschieht, dieses 
aber aus voller Hand. Und seltsam: diese großzügigen Wirt- 
schaften, die nichts als Betriebe zum Zweck des Gelderwerbs sein 
sollen, bieten häufig schönere Landschaftsbilder dar, als die nord- 
europäischen, an denen so viel mehr Liebe beteiligt ist. Das macht, 
daß nicht nur der oberste praktische, sondern auch der oberste 
ästhetische Grundsatz der Ökonomie ihre Rentabilität ist, weshalb 
unpraktische Verschönerungen gar oft als Verhäßlichungen wirken. 
Ich denke an die Gespräche amerikanischer Landwirte zurück, 
die ich im Laufe meiner Reisen hie und da zu überhören Gelegen- 
heit fand. Ja, das sind großzügige Leute, und zwar typischer- 
weise, während einer es bei uns bisher nur ausnahmsweise ist. 
Ihnen allein unter Landwirten erscheint es selbstverständlich, daß 
Initiative das beste Betriebskapital» ist, daß Weitblick, selbst auf 
Kosten des Nächstliegenden, einträglicher ist als noch so scharfäugige 
Kurzsichtigkeit. Es sind starke, zielbewußte Männer. Aber ihnen 
fehlen alle die moralischen Eigenschaften, die den Landwirt, der 
auf ererbter Scholle sitzt, in Ländern alter Kultur so sehr adelt. 
Dem Erbherrn eines Rittergutes, dem besitzenden Sproß eines 
alteingesessenen Bauerngeschlechts ist sein Betrieb, und leite er 
ihn noch so sehr nach rein ökonomischen Gesichtspunkten, eine 
Herzensangelegenheit; er fühlt sich ihm verpflichtet. Melioriert 
er seine Äcker und Wiesen, . so geschieht es mehr um dieser-als 
um seinetwillen; oder denkt er an sich, so meint er nicht seine 
Das Ethos des Acker baue rtums. 605 
Person, sondern sein Geschlecht. So hat sein Tun den tiefen 
Hintergrund, den das Wurzeln im überindividuellen Naturzusammen- 
hang allein verleiht, so werden in seinem Wesen die Eigenschaften 
großgezogen, welche das Bewußtsein dieses Wurzeins zum Aus- 
druck bringen, und das sind die besten. Das ist es, weshalb der 
Beruf des Landwirts bei uns mit Recht als von allen praktischen der 
edelste gilt: daß er den Menschen wie keiner vertieft und wurzelecht 
macht. Aber mit gleichem Recht gilt er in den Vereinigten Staaten 
Amerikas nur als eine Industrie unter anderen: bedeutet Landwirt- 
schaft nichts außer dem, daß Geld mit ihr zu verdienen ist, dann 
hat sie auch nicht mehr Sinn. So steht der amerikanische Land- 
wirt menschlich nicht höher, als der Industrielle auf der ganzen 
Welt, und das will sagen: er ist als Typ vollkommen oberfläch- 
lich; eine Gelderwerbsmaschine; ja er stellt vielleicht den unan- 
genehmsten Ausdruck des modernen Industrierittertums dar, weil 
man bei ihm unwillkürlich nach den Zügen ausschaut, die den 
Landwirt sonst vorteilhaft vom Industriellen unterscheiden und 
durch ihr Fehlen entsetzt wird. — Und von hier aus nun denke ich 
an China zurück. Welch' überwältigender Unterschied! Wenn die 
Landwirtschaft in Amerika ein Gewerbe unter anderen, in Europa 
ein Gewerbe auf moralischer Grundlage ist, so ist sie in China ein 
Ausdruck des Moralischen schlechthin; dort fällt ihr materieller 
Vorteil kaum ins Gewicht. In China gehört der Einzelne 
der Familie, die Familie dem Geschlecht, das Geschlecht dem 
Grund und Boden, auf dem es sitzt; denn dieser ist ja seinerseits 
nichts Unlebendiges, sondern das irdische Symbol aller Vorfahren, 
um deren Grabhügel der Pflug im Zickzack fährt. Vom Stand- 
punkte des materiellen Vorteils betrachtet, erscheint die chine- 
sische Landkultur als sinnlos; sie bedeutet ein Minusmachen ohne 
Ende. Aber sie soll auch kein Erwerbsmittel sein: sie soll nur 
der moralischen Natur des Menschen ihre normale Betätigung 
sichern. Ihr verdankt der Chinese in der Tat seine einzigartigen 
moralischen Eigenschaften. Und betrachtet man von hier aus seine 
Betriebsart, dann erweist sie sich der amerikanischen als über- 
legen. Diese macht reich, aber sie macht flach und dürr; jene 
fristet nur Elend fort, aber sie züchtet überlegene Menschen. 
Und doch ruht in der amerikanischen Auffassung der Land- 
wirtschaft der Keim zu einem höheren Zustande, als er in den 
Ländern alter Kultur jemals verwirklicht ward: dem Zustand, 
606 Die fortschreitende Entmaterialisierung des Geistes. 
wo das Bewußtsein der tiefsten Zusammenhänge des Lebens an 
kein materielles Substrat mehr gebunden erscheint. Je freier und 
tiefer selbstbewußt ein Mensch, desto mehr naturhafte Schranken 
darf er verleugnen, unbeschadet seines inneren Werts. Der höchste 
Mensch, den wir vorstellen können, ist vollkommen detachiert; 
er kennt keine geographische Sentimentalität, keine Vorliebe für 
diese oder jene Sitte, kein Vorurteil gegen irgendeinen Beruf, über- 
haupt* keine Ausschließlichkeit in seinen Gefühlen; und das be- 
deutet bei ihm nicht, daß er kalt und gleichgültig wäre, sondern 
daß er das Stadium innerer Durchbildung erreicht hat, wo der 
Mensch im Sinne Gottes lieben kann, der ja auch keine Unter- 
schiede gelten läßt. Die Richtung aller Kulturentwickelung weist 
dahin. Immer mehr befreit sich der Geist von der Materie, in der 
er ursprünglich involviert war, in jedem folgenden Kulturstadium 
steht der Einzelne ungebundener da. Geschähe diese Entwickelung 
nun so, daß die alten Formen zersprengt würden, nachdem der 
neue Inhalt ausgereift ist, dann führte sie geradlinig aufwärts. 
Aber sie geschieht nicht also, und aus guten Gründen. Auf daß 
das Neue sich entwickeln könne, muß das Alte vergehen, wenn 
jenes erst als Keim existiert. Deswegen bedingt aller äußere 
Fortschritt zunächst einen inneren Rückschritt, desto mehr, je 
weiter die Entwickelung der Form derjenigen des Gehalts vor- 
ausgeeilt ist. Dies ist der Sinn der fortschreitenden Barbarisierung, 
die mit der weißen Rasse eben jetzt vor sich geht. Wir haben 
über der neuen Form das Bewußtsein des Gehaltes überhaupt ver- 
loren. Über ein Kleines aber wird es wieder wachsen, und dann 
wird es auch innerlich mit uns vorwärts gehen. Deswegen darf 
es nicht allzu tragisch genommen werden, wenn die Landwirt- 
schaft, indem sie sich modernisiert, ihrer erzieherischen Kraft 
verlustig geht, wenn die Familienverbände sich lockern, der Be- 
rufs- und Klassenidealismus abflaut, ja der Patriotismus in Friedens- 
zeiten immer weniger als Dominante der Volksseele erscheint: 
überall handelt es sich um ein Zerfallen der Form, auf daß ein 
neuer Inhalt sich heranbilden könne. Wenn einerseits die Form, 
wo sie gefestigt ist, den Inhalt meist überdauert, eilt andrerseits 
die neue dem Inhalt voraus; dies aber ergibt ein schlimmes Über- 
gangsstadium. Wir sind in einem solchen mitten drinnen. Wir 
sind oberflächlicher, als irgendeine Menschenart, materiell ge- 
sinnter, dürftiger; dieses allgemeine Charakteristikum unserer Zeit 
Ist Initiative besser als Hingabe ? 607 
tritt in Amerika karrikiert in die Erscheinung. Aber wir sind nur 
deshalb oberflächlicher, weil unser Tiefstes in die neue Gestalt 
noch nicht hineingewachsen ist, nur deshalb materieller, weil un- 
serer Spiritualität das entsprechende Ausdrucksmittel noch fehlt, 
nur deshalb dürftiger, weil wir unseren Reichtum nicht aufzu- 
schließen wissen; und die Amerikaner wirken nur deshalb schlimmer 
noch als wir, weil bei ihnen die Spannung zwischen Form und 
Gehalt noch größer ist. Aber irgendeinmal wird das unerfreuliche 
Stadium hinter uns liegen. Und am frühesten wahrscheinlich in 
der Neuen Welt, weil dort im Kampf mit dem Alten keine Kraft 
vergeudet zu werden braucht und der innere Gehalt sich ohne 
Rückblick der neuen Form wird einbilden können. 
Je weiter ostwärts ich gelange, desto intensiver erscheint die 
Kultur, desto selbstherrlicher der Mensch im Naturzusammen- 
hang; fast möchte man glauben, hier bestimme er durchaus 
ohne seinerseits bestimmt zu werden. Geringeren Witterungs- 
zufällen hat er durch regulierende Eingriffe (Wasserableitung, 
Stauung, Düngung) vorgebeugt, katastrophalen durch Versicherung; 
sein Acker trägt nicht, was er mag, sondern was er soll, seine Kühe 
sind milchergiebiger, als ihrer Natur entspricht, fehlende Hände 
ersetzen Maschinen. Und durch vorausschauende Abstimmung 
seiner Privatproduktion auf die Erfordernisse des Weltmarkts hat 
er recht eigentlich im ökonomischen Weltzentrum Fuß gefaßt, so 
daß er sich ohne weiteres dem anschmiegen und dergestalt zu 
seinem Vorteil nutzen kann, wem er sonst als einem Fatum unter- 
läge. Meine Gedanken ziehen zaumlos diesen Möglichkeiten nach, 
ich verliere sie aus den Augen. Auf einmal entdecke ich, daß sie 
zum Gegenpol des amerikanischen Lebens hinübergeschweift sind, 
dem Zustande, der nicht in schöpferischem Tun, sondern in Hin- 
nehmen und Erleiden wurzelt. Und wie es in solchen Fällen leicht 
geschieht, sehe ich diesen jetzt in einseitig günstigem Licht. Die 
spezifische Kultur, welche dort erwächst, wo der Mensch sich der 
Natur nicht überlegen dünkt, wo er sich, im Gegenteil, unterworfen 
fühlt einem übermächtigen Geschicke, wird in Amerika niemals 
entstehen, — und doch umfaßt sie einen großen Teil des Höchsten, 
was die Menschheit für sich anzuführen hat. Wie edel ist der 
Stolz des Wüstensohns, der sich vom Schicksal schlechthin ab- 
608 Jede Gestalt kann das Wesen ausdrucken. 
hängig glaubt! Wie tief ist das Naturgefühl des indischen, des 
russischen Bauern, die sich beide als geringste Elemente fühlen im 
All! Und wie Erhabenes hat das gleiche Wurzelbewußtsein in 
China hervorgebracht! Nein: Demut, Bescheidenheit, Nichtigkeits- 
gefühl bedeuten nicht, wie Amerika wähnt, ein durchaus Negatives, 
auch sie können Quellen sein der höchsten Kraft. Sie waren es 
zu allen Glanzzeiten des Christentums. Ich gedenke der Bachschen 
Musik: diese Tiefe, diese Kraft offenbart sich nur dort, wo der 
Mensch sich nicht als Herr, sondern als Knecht empfindet; nicht 
als wesentlich Handelnder, sondern als einer, mit dem wesentlich 
geschieht. Die Bewußtseinseinstellung, die der jüngsten Weisheit 
des Westens als einzig richtige gilt, ist in Wahrheit nur eine unter 
vielen, und ihre Vorzüge ändern an der Tatsache nichts, daß sie 
die Erlebnisse eines Lautse und eines Augustin, eines Bach und 
eines Luther, eines Tolstoy und eines Buddha ausschließen. 
O über die Relativität aller Gestaltung! Jede ist fähig, das 
Tiefste zum Ausdruck zu bringen, aber keine sagt alles und keine 
absolut mehr, als andere, scheinbar geringwertige. Gewaltiges wirkt 
das Bewußtsein, mit der Gottheit eins zu sein: gewaltiges nicht 
minder der Glaube an die eigene Erbärmlichkeit. Beide Auf- 
fassunger. des Verhältnisses von Mensch und Gott sind eben empi- 
risch gleich richtig, oder können es doch sein. Sündbewußtsein 
entsteht notwendig bei seelischer Vertiefung, weil bei deutlicherem 
Innewerden des Atman auch die persönliche Unzulänglichkeit fort- 
schreitend deutlicher wird; wer sich mit seiner Person, nicht seinem 
überpersönlichen Selbst identifiziert, der muß erfahren, daß nicht 
er handelt, sondern daß mit ihm geschieht, daß er allen Fortschritt 
der „Gnade' 4 ' dankt. Keine Form tangiert den Atman an sich selbst: 
nur darauf kommt es an, wie tief der Mensch sich selbst in be- 
liebiger Form realisiert. Wie die Mystiker Persiens aus den rohen 
Suren des Koran sublime Weisheit herauslasen, wie die Ilias den 
Griechen als Moraltextbuch galt und die züchtigste Christenheit 
an den verfänglichsten Stellen ihrer Bibel niemals ein Ärgernis 
fand, so kann jede Gestalt zum Ausdrucksmittel des Höchsten 
werden; aber in jeder stellt dieses sich besonders, ausschließlich 
und einzig dar. Die jüngste Auffassung des Christentums wird die 
älteren nie überflüssig machen. Unheilbar Kranken frommt Leugnen 
des Krankseins nicht; die kommen geistlich weiter durch den 
Glauben an eine Prüfung. Als Jüngerin der christlichen Wissen- 
Es gibt eine Moira. 609 
schaft wäre Adele Kamm nie zur Heiligen geworden, sie hätte 
sich im Gegenteil verhärtet in fruchtlosem Widerstand. Den Vor- 
zügen der Karma-Lehre stehen die Nachteile entgegen, daß sie 
alles Unglück als Sühne mithin als Abschluß deutet, wodurch 
dieses seines produktiven Einflusses verlustig geht, und in ihren 
Bekennern die schlimme Neigung großzieht, in jedem Mißgeschick 
eines anderen eine verdiente Strafe zu sehen. Wer mit dem New 
Thought den positiven Charakter des Übels leugnet, macht die 
günstigen Wirkungen, die es als Strafe, Prüfung oder \nsporn 
aufgefaßt ausübte, erst recht unmöglich, und wird im übrigen der 
Tatsache nicht gerecht, daß es unstreitig kein absolut-Negatives ist: 
des einen Unheil bedeutet immer zugleich eines anderen Heil, 
denn kein Einzelnes hat seinen Sinn in sich, es empfängt ihn vom 
Ganzen. Hinnehmen, Ausharren, Mit-sich-Geschehen-lassen hat sein 
absolut-Gutes. Und es erweist sich als einzig-ersprießliche innere 
Stellung zum Weltprozeß zu kritischen Zeiten, wo Naturkata- 
strophen, Revolution und Krieg alles Wollen des Einzelnen zu- 
nichtemachen, wo das Fatum alle Menschenordnung zerreißt. Denn 
es gibt wirklich ein überpersönliches Schicksal, fasse man es als 
Vorsehung auf im christlichen Sinn, als Rassen-Karma, oder un- 
befangener und gegenständlicher, als Moira, eine allgemeine kos- 
mische Notwendigkeit, die Resultante alles des, was je geschah, 
die meist unmerklich waltet und oft zusammenfällt mit den Ergeb- 
nissen menschlicher Voraussicht, sich manchmal jedoch zu souve- 
räner Persönlichkeit verdichtet und völlig eigene, unerkennbare 
Ziele verfolgt, — der Moira gegenüber aber hilft alles Pochen auf 
Selbstherrlichkeit nichts. Und selbst wenn es anders wäre, selbst 
wenn die ganze moderne weiße Menschheit sich zum amerikanischen 
Optimismus bekehren könnte, bedingte dies doch keinen absoluten 
Fortschritt: es bedeutete nur, daß zu gewisser Zeit eine bestimmte 
Gestalt dem Leben die besten Gelegenheiten bietet, daß der Hippos 
dem Hipparion gefolgt ist; und bewirkte zugleich das Aussterben 
der Form der Größe, die uns an Luther, Augustin und Bach so 
einzig verehrungswert scheint. 
Der selbstherrlich-selbstbewußte Mensch, gleich allen Voll- 
endungstypen, schließt die übrigen nicht ein sondern aus. Gleich- 
wohl ist es gut, daß er zum Ideal ward: dies bezieht aller Dasein 
auf einen tieferen Grundton. Der Atman ist schöpferische Spon- 
taneität; wer sich selbstherrlich weiß, wurzelt tiefer in ihm als 
Keyserling, Reisetagebuch. 39 
610 Gott als Ich und als Du; Überwindung des Schicksals. 
wer sich abhängig fühlt. Indem der Mensch sich aus einem wesent- 
lich bestimmten zum bestimmenden Teil der Natur verwandelt, 
durchmißt er in der Sphäre des praktischen Lebens die gleiche 
Entwickelung, die den Theisten zum Mystiker hinaufführt. Empi- 
risch hat jener so recht wie dieser; Gott wird als Du oder als 
Ich erlebt, jenachdem wo das Bewußtszentrum ruht; doch wer 
Ihn als Ich erlebt, erlebt Ihn tiefer. So wurzelt der selbstherrlich- 
Bestimmende überhaupt unmittelbarer im Sein als der hinnehmend- 
Erleidende. Und daß dem so ist, beweist hier nicht allein, wie 
beim Mystiker, das subjektive Gefühl, sondern die objektive Er- 
fahrung: diese tut dar, daß der Mensch wirklich zum Herrn der 
Schöpfung berufen ist. In unserer Welt besitzt die Moira nicht ein 
Tausendstel der Macht, über die sie unter den Griechen verfügte, 
welche hemmungslos ihre Leidenschaften auslebten und dergestalt 
selbst die Gewalten schufen, die sie verdarben; die Elementarkräfte 
haben wir uns zum großen Teil botmäßig gemacht. Gewinnen wir 
je gleiche Herrschaft über uns selbst, und üben sie mit vollem 
Verständnis aus, so mag es dahin kommen, daß einer pessimisti- 
schen Weltansicht, weil kein Erleiden mehr verhängnisvoll er- 
schiene, aller Boden entzogen sein wird; daß der Mensch, äußerlich 
Herr der Natur, über allen Zufällen innerlich erhaben, des Sinns 
des Guten wie des Bösen voll bewußt, der Vorsehung Amt über- 
nimmt. 
In Amerika schweift meine Einbildungskraft unaufhaltsam in 
eine bessere Zukunft voraus. Dies beweist, wie sehr der Fort- 
schrittsbegriff dieser Welt gemäß ist. Hier hat das reflek- 
tierende Bewußtsein das ganze Leben soweit durchdrungen und 
erfaßt, daß seine Eigenart bestimmt, seine Normen das Geschehen 
regulieren und seine Ideale als schöpferische Kräfte wirken. Wie- 
viel Macht besitzt der Geist über die Natur! An Originalität, Be- 
weglichkeit, Erfindungsgabe stehen die führenden Völker der 
Moderne den alten Griechen hundertfältig nach. Allein die Ent- 
wickelung dieser, so vieldimensional sie war und so weit sie führte, 
fand nicht unter dem Zeichen des Fortschritts statt. Sie lebten 
richtungs- und hemmungslos ihre Gaben aus, unbefangen wie die 
indische Phantasie, und nach knapp zwei Jahrhunderten der Herr- 
lichkeit waren sie am Ende; seitdem faulten und verdarben sie 
Beruf der modernen Menschheit. 6 1 1 
nur, so viel geistige Fermente sie auch weiter ausschieden. Jene 
nun pflanzen ihre Ideale unter dem Fortschrittsgesichtspunkt syste- 
matisch dem Leben ein, was den physiologischen Prozeß, der an 
sich endlich ist, dem unendlichen geistigen unterordnet. Darum ist 
keine Ursache abzusehen, weshalb sie je im Ganzen verderben 
und sich fortzuentwickeln aufhören sollten. 
Die neue fortschrittliche Menschheit hat zum Beruf, in pro- 
gressives Leben umzusetzen, was von den Ideen aller Zeiten im 
Guten irgend fortwirken kann. Zu diesem Umsetzen ist sie, ihrer 
besonderen Physiologie nach, einzig begabt, so sehr sie in anderen 
Hinsichten versage. Die hellenischen Ideale sind realere Mächte 
in unserer Welt als in der antiken; irgend einmal wird gleiches 
von den indischen Einsichten gelten. Heute freilich sind kaum die 
Vorarbeiten zum ersten Anfang dessen erledigt, was unsere Be- 
stimmung scheint, die gegenwärtigen Zustände bedeuten embryonale 
Phasen. Wer in ihnen aufgeht, leistet wenig für die Dauer. Ich 
persönlich bin von zu alter Kultur, um am Vorläufigen Befriedi- 
gung zu finden; ich könnte nicht Bastillen stürmen, auf Barrikaden 
kämpfen, weil ich weiß, daß es dabei nichts Wesentliches gilt. 
Zum Revolutionär-, zum Pioniertum bedarf es der Blindheit. Allein 
wo ständen wir, gäbe es die Blinden nicht? Die Phagozyten, die 
im Blut todbringende Mikroben bekämpfen, wähnen gewiß, dieser 
Krieg sei ein Endzweck; und dächten sie anders, kein Mensch 
würde leben. Mehr als alle haben die Sehenden Grund, die Blinden 
zu achten, denn ihnen danken sie ihre Daseinsmöglichkeit. Der 
Versteher ist möglich nur deshalb, weil Millionen von Unverstän- 
digen sich opfern. Eine Welt, in der deren Meinung dominiert, 
kann ihn freilich nicht freuen, aber worauf hat er auch Anspruch? 
Nous n'avons pas le droit d'etre fort difficiles, schrieb schon Renan. 
Dans le passe, aux meilleures heures, nous n'avons ete que toteres. 
Cette tolerance, nous V obtiendrons bien au moins de Vaveriir. Un 
regime democratique borni est, nous le savons, facilement vexatoire. 
Des gens d'esprit vivent cependant en Amerique, ä conditio n de 
n'etre pas trop exigeants. Noli me tangere est tout ce qu'il faut 
demander ä la Democratie. Et peut-etre la vulgarite ginirale sera- 
t-elle un jour la conditio n du bonheur des elus. 
39> 
612 Seelenlosigkeit ermöglicht vollstes Leben. 
CHICAGO. 
Meine freundliche Stimmung ist dahin. Chicago ist fürchter- 
lich. Alles Leben hier geht auf in maschinellem Betrieb, 
so sehr, daß selbst der Zugereiste sicji ihm unwillkürlich 
einfügt, aus Furcht, sonst zugrunde zu gehen. Und sein Instinkt 
irrt nicht: wer in Chicago nicht Apparat sein kann oder will zu 
bestimmter Funktion, mit seinem ganzen Wesen ihr verschrieben, 
der muß verderben. 
Ich bin tief deprimiert. Gegen die Mechanisierung des Lebens 
an sich habe ich nichts, im Gegenteil: ich wünschte, daß alles 
Mechanisierbare möglichst bald möglichst vollständig mechanisiert 
würde, auf daß der Geist für das Übermechanische desto mehr 
Kraft und Muße übrig behalte; wie die antike Kultur ihren hohen 
Vollendungsgrad dem dankte, daß Sklaven den Gebildeten alle 
Arbeit abnahmen, die ohne freie Initiative geleistet werden konnte, 
so wird die moderne erst dann zu vergleichbarer Reife gelangen, 
wenn Maschinenbetrieb den Menschen entlastet haben wird. Das 
Fürchterliche an dieser Welt ist der Umstand, daß sich das Leben 
im Mechanisierbaren erschöpft; hier knechtet das Werkzeug den 
Menschen, der es beherrschen soll. Wie kam es dahin? — Der 
Menschenmangel machte es zunächst zur Notwendigkeit, alles Me- 
chanisierbare zu mechanisieren; dann bannte die Rentabilität dieser 
Betriebsart alles Interesse mehr und mehr; so daß das Über- 
mechanische zum Leben immer überflüssiger erschien und mehr 
und mehr im Bewußtsein zurücktrat. Leider ist es ja nicht wahr, 
daß ein seelenloses Leben kein volles Lebensbewußtsein geben 
könne: alle verfügbare Kraft und Intensität kann im Maschinen- 
mäßigen aufgewandt werden, so sehr, daß eben der, welcher mir 
unsäglich dürftig vorkommt, sich subjektiv als Vollmensch fühlt 
und herabsieht auf die blutlosere „Seele". Der Vorwurf gegen 
die Mechanisierung ist unberechtigt, daß sie die Menschen im 
biologischen Verstände unlebendig mache: der Chicagoaner ist 
durch und durch vital, wähnt seine Lebensführung eben deshalb 
allen anderen überlegen, weil sie das Daseinsgefühl wie keine 
andere steigere. Das tut sie wirklich, weil sie alle vorhandene Kraft 
in einen engsten Kanal der Betätigung hineinzwängt, wodurch 
jene eines ungeheuren Intensitätsgrades teilhaftig wird. Die 
Der Amerikanismus erniedrigt den Menschen zum Tier. 613 
amerikanischen Geschäftsleute sind echte Yogis insofern, als sie 
alle Aufmerksamkeit auf Eines konzentrieren und alle typischen 
Früchte der Yoga werden ihnen im Prinzip auch zuteil, als da 
sind: Potenzierung der Lebenskraft und des Lebensgefühls, Steige- 
rung der Fähigkeiten, Vergrößerung des psychischen Betriebs- 
kapitals. Das Entsetzliche an diesem Amerikanertum ist, nicht daß 
es die Menschen unlebendig macht, sondern daß es den psychischen 
Organismus in unerhöhtem Grade vereinfacht. Dieses Amerikaner- 
tum beweist, daß sich ohne Seele, ohne geistige Interessen, ohne 
Gefühlskultur ein innerlich volles Leben führen läßt. Natürlich 
läßt sich das; kein Molch, kein Wurm sehnt sich über seinen Zu- 
stand hinaus. Wenn es heißt, die beschränkten Menschen seien die 
glücklichsten, so besagt das gleiches: es ist viel einfacher, sich in 
kleinem Rahmen der Ganzheit seines Lebens bewußt zu werden 
als in großem. Aber die Beschränktheit verkörpert kein Ideal; 
ideal wäre der Zustand allein zu nennen, in dem der Mensch sich 
vermittelst des Weltalls seiner Ganzheit bewußt wurde, in dem er 
nichts auszuschließen brauchte, um ganz er selbst zu sein. 
Das Furchtbare am Amerikanismus ist, daß es den Menschen 
arm macht. Wie er alle Werte auf den einen der Quantität redu- 
ziert, so reduziert er die ganze Psyche auf einen Apparat zum 
Geldverdienst. Damit drückt er den Menschen zurück auf die Stufe 
des niederen Tiers. Betrachtet man den Tatbestand in diesem 
Licht, so erscheint er dermaßen entsetzlich, daß man ihn für gefahr- 
los halten möchte. Tatsächlich besitzt er ungeheure Werbekraft, 
gewiß die größte dieser Art zu unserer Zeit. Er besitzt sie erstens, 
weil jedem am Erfolg liegt, und die amerikanische Lebensformel 
diesem am günstigsten ist; wer keine Zeit mit Idealen, Ideen und 
Gefühlen verliert, wer keine gemütlichen und moralischen Hem- 
mungen kennt, kommt am schnellsten vorwärts. Allein nicht hierin 
liegt die Hauptanziehungskraft: diese beruht darauf, daß in der 
Form des Amerikanismus jeder, auch der dürftigste Geselle sich 
der Fülle seines Daseins bewußt wird; diese Formel ist so eng, 
so beschränkt, daß sie Jedes Lebenskraft spannt. Hierin nun liegt 
eine furchtbare Gefahr: heute leuchtet der Menschheit ein niederer 
Zustand als höchster voran. Wird dieses Ideal nicht bald entthront, 
so führt es uns unfehlbar zur Barbarei, keiner vorläufigen, sondern 
einer endgültigen. 
614 Äußerste Ausnutzung von Menschen und Zeit. 
Meinen Besuch im Schlachthof habe ich gemacht; kein er- 
freuliches Unternehmen. Und doch bin ichs zufrieden: 
in größerer Vollkommenheit werde ich Maschinerie kaum 
wieder funktionieren sehen; in den Stock Yards scheint mir das 
äußerst Denkbare an Ausnutzung von Menschen und Zeit erreicht. 
So wenig Zeit wird hier verloren, daß ein Schwein in einigen 
zwanzig Minuten vom Leben zur Wurst befördert wird, ein Schaf 
in sechsundzwanzig Minuten zerlegt und ein Ochs in fünfunddreißig. 
Jeder Arbeiter tut ein Bestimmtes, in festgesetzten Abständen; jeder 
tut es auf die bestmögliche Art. Von Mensch zu Mensch vermitteln 
Maschinen. So kann ein einziger Schlächter in einer Stunde bequem 
ein halbes Tausend an ihm vorbeigehißter Schweine abstechen, und 
entsprechend geschwind geschieht alles übrige. 
Wie ich dastand und zuschaute, fiel mir die Parabel Dschuang- 
Tses vom Metzger ein. Der Fürst Wen Hui hat einen Koch, der 
für ihn einen Ochsen zerteilte. Er legte Hand an, drückte mit der 
Schulter, setzte den Fuß auf, stemmte das Knie an: ritsch! ratsch! 
trennte sich die Haut, und zischend fuhr das Messer durch die 
Fleischstücke. Alles ging wie im Takt eines Tanzliedes und er 
traf immer genau die Gelenke. 
Der Fürst Wen Hui sprach: „Ei vortrefflich! das nenn' ich 
Geschicklichkeit!" 
Der Koch legte das Messer beiseite und antwortete, zum 
Fürsten gewandt: der Sinn (das Tao) ists, was dein Diener liebt. 
Das ist mehr als Geschicklichkeit. Als ich anfing, Rinder zu zer- 
legen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte 
ichs soweit gebracht, daß ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor 
mir sah. Heute verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht 
mehr auf den Augenschein. Der Sinne Wissen hab' ich aufgegeben 
und handele nach den Regungen des Geistes. (R. Wilhelms Über- 
setzung.) — Ja, es ist wahr, solche Geschicklichkeit hat metaphy- 
sischen Sinn: sie bezeugt, daß die Bewegungen der Hände un- 
mittelbar vom Prinzip des Lebens gelenkt werden; ob die Einheit 
mit ihm sich in vollkommenem Schlachten, in vollkommener Er- 
kenntnis oder in vollkommenem Sein manifestiert, hängt von dem 
Ziele ab, das einer sich steckt. Auch die Schlächter von Chicago, 
gleich dem Koch des Fürsten Wen Hui, müssen sich dem Tao 
ergeben haben, um so Außerordentliches zu leisten. Aber ent- 
Die Wiederherstellung der Sklaverei. 615 
setzlich wäre es, wenn ihre Art der Vollkommenheit fortan als 
Ideal menschlicher Entwicklung gelten sollte. Die Stock Yards sind 
ein schreckhaft lehrreiches Sinnbild dessen, was an den Zielen der 
modernen Zivilisation verfehlt erscheint. Das ideale Verhältnis 
zwischen Körper und Geist wäre dort erreicht, wo mit jeder 
Gebärde die Seele zu vollendetem Ausdruck käme, wie beim 
Bühnenspiel der Düse. In unserer Welt stellt es sich mehr und 
mehr so dar, daß die ganze verfügbare Kraft in ein Werkzeug über- 
fließt, wodurch dieses wohl Fabelhaftes leistet, der Mensch jedoch 
zu existieren aufhört. Der moderne Zweckmensch verkörpert den 
genauen Gegenpol des indischen Weisen: zieht dieser sich aus dem 
Äußeren ganz zurück, um in sich desto wirklicher zu sein, so ver- 
zichtet jener auf die Innerlichkeit, um in der Außenwelt Äußerstes 
zu leisten. Ihm verdanken wir die Wunder der Technik, eine un- 
bedingte Bereicherung dieses Planeten; insofern muß man ihn 
gelten lassen. Man muß ihn gelten lassen, wie man den Fakir gelten 
läßt, den Clown, den Schlangenbändiger. Aber aufblicken darf man 
zu ihm nicht. Ihm fehlt das, was allererst den Menschen macht 
Die Spirale der geschichtlichen Entwickelung hat auf erhöhter Stufe 
zu einer Wiederherstellung der Sklaverei geführt. Wieder wird der 
Mensch nach seiner Leistung allein beurteilt, wieder hat er nur 
Marktwert, und zwar gilt dies heute nicht bloß von Zwangs- 
arbeitern, sondern von allen, denn im griechischen Verstände Freie 
gibt es nicht mehr; wer sich bei uns am unabhängigsten wähnt, 
sieht sich doch selbst kaum anders an, wie ein Phöniker seine 
Kriegsgefangenen. Wird auch der Kannibalismus wieder aufleben? 
In unserer aufgeklärten Welt stehen diesem gewiß weniger seelische 
Hemmungen entgegen, als unter abergläubischen Wilden. Es ist 
allzu wahr, was Tagore sagt: nirgends war Menschenfleisch und 
-seele je so billig, wie im modernen Westen. Keine Zivilisation 
hat je der ganzen Schöpfung gegenüber eine so entwertende Stel- 
lung eingenommen, wie die unsere, die ausschließlich des Nutzens 
gedenkt. Überantworten wir uns ganz der Logik dieser Entwick- 
lungsrichtung, so wird der Verstand, je mehr sie sich entfaltet, 
desto mehr das Menschengeschlecht entseelen. 
616 Der kunstliche Mensch als Ideal. 
Ist nicht das ideale Ziel der Evolution, die in den Schlächtern 
von Chicago einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, — der 
künstliche Mensch? — Helmholtz pflegte zu sagen, daß er dem 
Optiker, der ihm einen so unvollkommenen Apparat, wie die Linse 
des Menschenauges, überbrächte, die Tür weisen würde: im selben 
Sinn ist denkbar, daß alle objektive Leistung durch eine Artefakt 
besser ausgeführt werden könnte, als durch einen lebendigen Orga- 
nismus, und in der Idee kann diese Ersetzung durch ein Besseres 
bis zum ganzen Menschen gehen. Ein solches Kunstprodukt ist 
einmal konzipiert worden: es ist Halady, die Heldin von Eve 
future, der visionären Dichtung Villiers de Plsle Adam's. Villiers 
setzte willkürlich nur die Möglichkeit, einen künstlichen Menschen 
zu erschaffen, in dem Mechanismen von absoluter Präzision alle 
lebendigen Organe ersetzten; und siehe da: aus ihr ergab sich mit 
Notwendigkeit, daß sein lebloser Automat an Leistungsfähigkeit 
das höchste Leben übertreffen müßte. Während der begabteste 
Geist doch irrt, war Halady irrtumsunfähig; sie reagierte auf jede 
Situation auf die absolut beste Art, antwortete unfehlbar richtig, 
tat immer das unter den gegebenen Umständen schlechthin zweck- 
mäßigste, und so fort. Sie wäre Gott gewesen — wenn sie ein 
Ich besessen hätte. 
In der Tat strebt die fortschrittliche Entwickelung gleich not- 
wendig zwei entgegengesetzten Zielen zu, dem Automaten und dem 
Gott; und der Weg, der an den Stock Yards sein Sinnbild hat, 
führt schnurstracks zu jenem. Wenn die Leistung alles, die Seele 
nichts bedeuten soll, dann steht ein vollkommener künstlicher 
Mensch unstreitig über dem natürlichen. Diese Erwägung scheint 
mir lehrreich» Unsere fortschrittliche Entwickelung, welche wesent- 
lich unabhängig von innerem Weiterkommen verläuft, hat ihren 
psychologisch-technischen Seinsgrund an der fortschreitenden In- 
tellektualisierung des Lebensprozesses; diese nämlich bedingt eine 
unaufhaltsame Vergegenständlichung dessen, was ursprünglich ein 
rein Zuständliches war. Indem der Mensch sich begrifflich klar 
wird über das Geschehen in und außer sich, über das, was es 
bedeutet, wohin es führen könnte und sollte, erhebt er sich dar- 
über, sieht er es außer sich, gewinnt an seinen Begriffen die Mittel, 
es anzupacken, und gleichzeitig die Macht, ihm von sich aus die 
Richtung zu geben. Nun mag er seine Wünsche in Betriebe und 
seine Ideale in reale Mächte umwandeln. So sind bei uns Liebe 
Idealautomat, Mushik und Gott. 617 
und Gerechtigkeit in Institutionen, das Wissen in der Technik 
objektiviert, das Können in Organisationen und Fabriken. Dieser 
Prozeß, bis in seine äußerst denkbaren Konsequenzen durchgeführt, 
ergäbe eine vollständige Objektivation aller Lebenskräfte, so daß 
Subjektivität überhaupt nicht in Frage käme und alles freie Streben 
durch Automatismen vorweggenommen erschiene. 
Halady, der Idealautomat, wird kaum je erschaffen werden; 
aber unzweifelhaft verkörpert sie nicht allein das Arbeiter-Ideal 
jedes Betriebsbesitzers (man denke an das Taylor'sche System!), 
sondern das persönliche so manches sich freidünkenden modernen 
Menschen Solche Einseitigkeit ruft naturgemäß die komplemen- 
täre Gegenbewegung hervor: so verehren heute viele, und nicht 
die Schlechtesten, ihr Ideal im russischen Bauern, dem urwüchsigen 
Menschen, welcher jeder Organisation schlechthin unfähig erscheint, 
bei dem keinerlei Objektivation, nicht einmal die des Pflichtbegriffs, 
Verständnis findet, welcher ausschließlich seiner planlosen Subjek- 
tivität gehorcht. Allein weiser wohl wäre es, sein Ideal weder im 
Automaten, noch im Mushik, sondern-im Gott zu begründen: einem 
Wesen, dessen vergeistigte Seele allen intellektualen Objektivatio- 
nen überlegen wäre, sie frei von innen her beherrschte. An und 
für sich ist Intellektualisierung ein Gutes. Mag sie vorläufig 
manches Wertvolle zersetzen — aus dem Zersetzten geht Wert- 
volleres hervor, denn unstreitig ist es besser, klar zu wissen als 
nicht zu wissen, was man tut. Ein höheres Bewußtsein bedingt 
notwendig eine höhere Welt. Was den Fluch unserer Intellek- 
tualisierungsphase ausmacht, ist, daß wir, der Gegenstände außer 
uns Herr geworden, uns nun selbsterschaffenen Vergegenständ- 
lichungen unterworfen haben. Bald werden wir uns über sie er- 
heben, bald — hoffentlich — erkennen, daß unser Fortschritts- 
streben, vom Geist des Wissens gelenkt, anstatt dem Unbewußtsein 
des Automaten, der Allwissenheit zuführen kann. 
NEW YORK. 
Die moderne Großstadt ist immerhin ein Wunderbares. Wir 
Menschen haben heute keinen Grund mehr, zu Ameisen und 
Bienen aufzuschauen: was die an Zusammenarbeiten leisten, 
leisten wir auch. Und auch wir sind ohne Frage im Ganzen zu 
618 Freiheit durch Besiegung der Natur. 
kollektivem Dasein geschaffen. Wem frommt die Einsamkeit? Dem 
Heiligen, dem Denker; schon dem Künstler nur zeitweilig; sämt- 
liche übrigen leben zu vielen voller als allein. Viele Formen der 
Vergesellschaftung gab und gibt es; jede weist spezifische Vorzüge 
auf. Das moderne Großstadtleben nun ist wie kein anderes dem 
modernen Durchschnittsmenschen angemessen. Hier entsprechen 
sich Lebenstempo und Gelegenheiten, Bedürfnisse und Befriedi- 
gungsmöglichkeiten, Notwendig- und Wünschbarkeiten wirklich 
ganz so gut, wie dies für Ameisen in ihrem Haufen gilt. 
Noch hie habe ich es so leicht gefunden, mich in einer 
Metropole zu orientieren, wie in New York. Die äußeren Lebens- 
notwendigkeiten sind so vollkommen hergerichtet, daß es scheint, 
man habe nur irgendwohin zu wollen — und schon ist man dort. 
Alles geschieht mit ungeheurer Schnelligkeit, und doch empfindet 
man gar keine Hast — weniger Hast jedenfalls als in London oder 
Berlin; man lebt geschwinder, ohne daß dies Unrast bedingte. Es 
wird eben nicht nur keine Zeit verloren: das Leben ist so gut 
organisiert, daß man keine verlieren kann, und dies Bewußtsein 
gibt der angepaßten Seele die gleiche Ruhe, wie dem Inder das 
Gefühl, unendlich lange Zeiträume vor sich zu haben. — Das ist 
die Lösung des äußeren Lebensproblems, die einzige, die für West- 
länder in Frage kommt. Der Inder ist innerlich freier als wir, 
weil er auf die Außenwelt keine Aufmerksamkeit wendet; er ist 
frei auf Kosten seiner Macht über sie. Wir hatten, um diese Macht 
zu erlangen, unsere innere Freiheit vorläufig preisgegeben, und dies 
so sehr und in so steigendem Maße, daß sich mehr und mehr 
Stimmen erhoben, die da „zurück" riefen. Sie vergaßen, daß ein 
„Zurück" biologisch unmöglich ist und erst recht dem Verderben 
zuführen würde: haben wir uns einmal mit der Außenwelt ein- 
gelassen, dann heißt es, wir oder sie; unsere Mentalität, wie sie 
geworden, verschließt uns, außer in seltenen Ausnahmefällen, die 
Möglichkeit auf indisch zu entsagen. Unser Weg zur Freiheit führt 
über die besiegte Natur. Und in der Tat: wo diese wirklich besiegt 
ist, stellt Freiheitsmöglichkeit sich automatisch ein; dies beweist 
New York, beweist das ganze Amerikanerleben überall, wo es einen 
vollendeten Ausdruck gefunden hat. In Amerika wird, auf entgegen- 
gesetztem Weg, geradezu das Ideal des Inders erreicht. Das Leben 
hier erscheint im allgemeinen, verglichen mit dem europäischen, 
wesentlich vereinfacht, obgleich Komfort hier noch mehr gilt als 
Beste Lösung des äußeren Lebensproblems. 619 
dort und viel allgemeiner verbreitet ist: das Überflüssige wird 
nach Möglichkeit ausgeschaltet, das Notwendige auf die ökono- 
mischeste Art beschafft; in den Gasthäusern z. B. wird man kaum 
überhaupt bedient. Weshalb nur? — Ursprünglich beruht dies 
gewiß auf force majeure, der Notwendigkeit, mit wenig Menschen- 
kräften auszukommen und von diesen, bei größtmöglicher Achtung 
ihrer Wünsche, den äußerstdenkbaren Gewinn zu erzielen; aber 
jetzt besteht das Regime der Einfachheit auch dort, wo es vermieden 
werden könnte und zwar deshalb, weil die meisten sich an dasselbe 
gewöhnt und eingesehen haben, daß sich auch ohne überflüssigen 
Aufwand, und zwar im ganzen besser, leben läßt. Vollkommene 
Organisation leistet ebensoviel wie ein Sklavenstaat. Während ein 
solcher aber seinen Herrn demoralisiert, übt die moderne Lebens- 
vereinfachung, die alle vernünftigen Wünsche befriedigt, aber ein 
Sich-gehen-lassen auf Kosten anderer ausschließt, eine ähnlich 
stählende Wirkung aus wie die Askese. 
Das ist in der Tat die Lösung des äußeren Lebensproblems, 
die einzige, die für uns Abendländer in Frage kommt. Ist unsere 
Lösung nicht die beste schlechthin? .... Ich gedenke eines anderen 
Ausdrucks des gleichen Verhältnisses, unserer Vorstellung von 
Menschenwürde gegenüber der indisch-russischen der Belanglosig- 
keit des Individuums; zweifelsohne ist es ersprießlicher, vor sich 
und anderen gleiche Ehrfurcht zu empfinden, als beide gleich gering 
zu schätzen. Metaphysisch bedeuten beide Auffassungen gleiches; 
aber die unsere allein verleiht dem Sinn in der Erscheinung adä- 
quaten Ausdruck. Nicht nur im Leben der Staaten, in jedem Leben 
erscheint das Recht zum Dasein darauf begründet, daß es gewahrt 
wird; nicht weil die Macht Recht schaffe sondern weil dieses im 
Entschluß zur Wahrung seinen psychologischen Körper hat. 
Wer sich nicht achtet, gibt sich damit Preis — gleichviel ob jemand 
da ist, dies auszunutzen. Daher kommt es, daß bei Völkern ohne 
Würdebewußtsein eine fortschreitende Entwürdigung vor sich geht, 
während solche, die sich selbst respektieren, ob ursprünglich noch 
so roh, automatisch innerlich weiter kommen; daß die gewalttätige 
westliche Menschheit, nicht die sanftere Rußlands und Indiens, 
einen Zustand herbeigeführt hat, wo sich im Ernst von allgemein 
anerkannten Menschenrechten reden läßt. 
620 Warum das amerikan. Christentum den Reichtum schätzt. 
Immer mehr beeindruckt mich diese Stadt. Was die äußere 
Organisation des Lebens betrifft, steht Amerika, in seinen 
großen Metropolen, ohne Zweifel an der Menschheit Spitze. 
Ein hoher Grad von Komfort wird ohne sein Zutun jedem zuteil, 
dies aber hebt unwillkürlich das Niveau der Lebenshaltung. Hier 
kann der Arbeiter mit Selbstverständlichkeit Ansprüche an das Leben 
stellen, die ein europäischer Bürger extravagant fände. Nicht allein, 
daß er besser ißt, trinkt, wohnt, sich kleidet, als dieser, daß er 
unter besseren hygienischen Bedingungen lebt — er findet es 
selbstverständlich, seine geistigen Bedürfnisse in einem Grad be- 
friedigen zu können, die bei uns mancher Höhergestellte sich 
versagen muß. Wohlstand gilt in Amerika als das Normale. Dies 
bedeutet etwas absolut Positives. 
Woher kommt es, daß es gerade hier, nur hier bisher, zu dieser 
Lösung des Lebensproblems gekommen ist, die für uns Abend- 
länder die beste schlechthin ist? Vieles hat hierbei mitgewirkt, 
der natürliche Reichtum des Landes, der alles Streben reichlich 
lohnt, die größere Energie, über welche der Mensch in ihm verfügt, 
und anderes mehr; aber an erster Stelle doch wohl, so seltsam 
dies klinge, die Religion. Alle wichtigeren, sonst noch so ver- 
schiedenen Formen des amerikanischen Christentums stimmen näm- 
lich in dem einen überein, daß die Gnade Gottes am materiellen 
Erfolge auf Erden einen leidlich genauen Prüfstein und Gradmesser 
habe. Der Gottwohlgefällige muß reich werden; andrerseits: wer 
nicht reich werden will, der wuchere nicht mit seinem Pfund, 
arbeite nicht ernsthaft zur Ehre Gottes mit: wer sich bescheidet, 
sei lau. Was solche Anschauung religiöse Naturen, wie es die 
Amerikaner angelsächsischer Abkunft meistens sind, im Erwerben 
anspannen muß, liegt auf der Hand, um so mehr, als der ideelle 
Ansporn an den Banken, die alle ursprünglich im Konfessionellen 
rückversichert waren und den zu gewährenden Kredit an der Sekten- 
angehörigkeit und dem religiösen Eifer ihrer Kunden abschätzteil, 
einen sehr reellen Hintergrund hatte. Dem amerikanischen Christen- 
tum fehlt jede Animosität gegen den Reichtum. Wenn der Calvinis- 
mus schon von vornherein gegenüber dem Luthertum weltzugekehrt 
erschien, so ist er es in Amerika noch mehr geworden. Zuerst hieß 
es: man müsse zwar reich werden, doch nur zur Ehre Gottes; seinen 
Reichtum genießen dürfe man nicht; hieraus erwuchs, da mit dem 
Wohlstand als Normalzustand des Begnadeten. 62 1 
Besitz doch etwas geschehen mußte, die so paradoxale kapita- 
listische Lebensanschauung, nach welcher das persönliche Leben 
dem unpersönlichen Kapitale dienen soll. Allmählich verklang die 
puritanische Grundstimmung; mehr und mehr ward der Wille zur 
Macht, der Wunsch zu genießen auch hier zum eingestandenen Er- 
werbsmotiv; aber der religiöse Ursprung der amerikanischen Stellung 
zum Besitz ist noch heute deutlich zu spüren, noch heute wirkt die 
Idee, daß Gottseligkeit und Wohlstand zusammenhängen : das äußert 
sich eben darin, daß der Wohlstand als Normalzustand gilt; dieser 
wird hier, wenn auch noch so unbewußt, genau im gleichen Ver- 
stände hochgeschätzt, wie von anderen Sekten die Armut und die 
Niedrigkeit. Es ist nicht wahr, daß Reichtum dem besseren Ameri- 
kaner das höchste Gut bedeute, so sehr dies bei vielzuvielen zu- 
treffen mag: ihm bedeutet er den Exponenten des Höchsten, 
was einen gewaltigen Unterschied bedingt. Gleichviel, was er unter 
diesem Höchsten verstehen mag: die Gnade Gottes, die selbstherr- 
liche Persönlichkeit oder die Energie und den Wagemut schlecht- 
hin — ihm gilt Wohlstand als Normalzustand des Begnadeten und 
dies gibt dem Streben nach irdischen Gütern einen spirituellen 
Hintergrund und einen Sinn, der ihm alles Odium nimmt. So wird 
der Reiche vom Armen in Amerika nicht gehaßt sondern be- 
wundert; so findet es dort der Reichgewordene selbstverständ- 
lich, zum allgemeinen Besten Summen auszugeben, die jedem Euro- 
päer, der sich ein gleiches leisten könnte, Entsetzen einflößen. 
Es ist ja leicht, über eine Weltanschauung Worte des Spotts 
zu finden, welche irdisch-materiellen Erfolg als Gradmesser gött- 
licher Gnade beurteilt, schon allein deshalb, weil das Dogmen- 
gefüge, das sie hält, kaum die leiseste Kritik verträgt; Jesu leib- 
liche Auferstehung zumal ist keine einwandfreie Glaubensstütze. 
Aber weiser erscheint es, zu begreifen, daß diese Neufassung des 
Problems vom gegenseitigen Verhältnis des Materiellen und des 
Spirituellen eine kopernikanische Tat bedeutet — eine Tat von so 
ungeheurer Bedeutung, daß ihre möglichen Folgen noch gar nicht 
abzusehen sind. Die Ideale sind nichts Festes, Vorgegebenes, einfür- 
allemal Bestehendes : der Mensch setzt sie aus sich heraus in die Welt 
und je nachdem was und wie er idealisiert, erhält die Erscheinung 
einen neuen Sinn; ein gleiches Phänomen wird, je nachdem man es 
versteht, zum Ausdruck des Niedersten oder des Höchsten. Bisher 
galt Reichtum als antispirituell oder als spirituell neutral, was in 
622 Die Heiligung des Erwerbsstrebens. 
der Tat die nächstliegende Auffassung ist. Er ist antispirituell 
insofern, als Streben nach irdischen Gütern in der entgegengesetzten 
Richtung rührt als das nach Verinnerlichung, und ihr Besitz ein 
Genußleben erleichtert; spirituell neutral insofern, als er von Hause 
aus ein Leben im Geist, wo nicht hindert, doch jedenfalls nicht 
fördert. Die höheren Religionen haben sich im ganzen ablehnend 
zum Wohlstand gestellt. Dies hatte sein Gutes überall, wo ent- 
weder Armut der Normalzustand war, wie im nördlichen Europa 
bis vor Kurzem, wo also materielles Streben von vornherein zum 
Mißerfolg verurteilt war, oder aber in jenen heißen Zonen, wo 
Streben widernatürlich ist. Sobald Streben in der Regel von Er- 
folg begleitet wird, sobald Reichtum als allgemein-erreichbares 
Ziel winkt, überall ferner wo Streben als solches zum National- 
charakter gehört, wirkt eine weltabgekehrte Lebensansicht schäd- 
lich. Denn da neunundneunzig von hundert Menschen Behagen der 
Vollendung vorziehen, führt das Fortgelten asketischer Ideale not- 
wendig dahin, daß das intime Wollen zum vorausgesetzten Sollen 
in dauernden Widerstreit gerät, was seinerseits schlimme Folgen 
nach sich zieht. Wer an den überkommenen Idealen festhält, hat 
dauernd ein schlechtes Gewissen — wohl das Unerfreulichste, 
was einem Menschen widerfahren kann; wer an ihnen verzweifelt, 
verzweifelt damit am Idealen überhaupt, wird zum krassen Ma- 
terialisten; und wer an ihnen zwar zweifelt, aber nicht verzweifelt, 
dessen Wesen erhält jenen Grundzug der Gebrochenheit, der wie 
wenig anderes den modernen Kulturmenschen charakterisiert; allen 
miteinander aber fehlt es an der Idealität, die allein vor- und auf- 
wärts führt. Was nun tun, um dem Übel zu steuern? — Zwei Wege 
und nicht mehr stehen offen. Der eine besteht in der Abkehr vom 
Streben nach materiellen Gütern, der andere in der Heiligung 
dieses Strebens. Der erste, der immer wieder gepredigt und be- 
treten wird, führt nicht zum Ziel und kann nicht hinführen, weil 
Entsagen dem Europäer unnatürlich ist; nicht einer unter Millionen 
weißer Menschen wird die Armut wählen, wo ihm der Reichtum 
erreichbar scheint. Also bleibt allein der andere Weg. Auf diesem 
marschiert die westliche Menschheit unbewußt schon lang. Aus 
jeder Reform ist das Christentum weltzugekehrter hervorgegangen. 
Wenn der Katholizismus das Leben in der Welt zwar gelten ließ, 
aber das mönchische doch als das höhere hinstellte, verneinte 
Luther das Mönchsideal und sprach das Leben in Beruf und 
Verkörperung des spirituellen Ideals im temporellen Streben. 623 
Ehe heilig. Immerhin predigte er nicht Streben nach Erfolg in der 
Welt, sondern Sich-Bescheiden in den Grenzen der gegebenen 
Lebensstellung; ihm galt Leiden noch höher als Tun. Calvin ging 
weiter. Zunächst erhob er das Tun über das Leiden, ja er machte 
jenes zur Pflicht; dann aber weihte er — und das war das Ent- 
scheidende — die Effikazität zum Prüfstein der Auserwähltheit. 
Damit ward dem Erfolge ein für allemal spirituelle Bedeutung 
zuerkannt, womit der Bruch zwischen Wollen und Sollen im Prinzip 
geheilt erschien. Faktisch gelang diese Heilung zwar nicht so 
bald, weil dem der starre Bibelglaube des alten Calvinismus ent- 
gegenstand, auch war das entscheidende Moment in den Vor- 
stellungen der älteren Sekten noch schwach herausgearbeitet. Diese 
Arbeit haben die späteren geleistet, leisten gerade die jüngsten am 
erfolgreichsten. So naiv, so roh die Vorstellungen der Christian 
scientists, der verschiedenen New-thought-Szkten im einzelnen 
seien — diese religiösen Bildungen haben das ungeheure Verdienst, 
daß sie die Verkörperung des spirituellen Ideals im temporellen 
Streben definitiv vollziehen, und zwar in der simplistischen Form, 
welche allein Massen beeinflussen kann. Wenn kurz und bündig 
gelehrt wird: wer den Christus in sich entdeckt, der wird auch 
reich, wird gesund, und zum Vollmenschen im Sinn dieses Lebens, 
so mag das theoretisch nicht einwandfrei sein — sicher beeinflußt 
es die Massen im Guten; es lehrt sie die Möglichkeit, ihr Streben 
nach Gütern dieser Welt mit idealem Streben zu vereinen. Daher 
der ungeheure Erfolg dieser Lehren und ihre im ganzen so günstige 
Wirkung. Nietzsche hat prinzipiell gleiches erstrebt wie der New 
thought, und seine Lehren sind philosophisch befriedigender; 
gleiches erstreben die meisten neueren Weltanschauungen, ob 
religiös oder areligiös; aber die amerikanische hat den unermeß- 
lichen Vorzug für sich, daß sie die alten Glaubensvorstellungen 
bewahrt und ihnen nur einen neuen Sinn erteilt (dies gilt auch 
von der William James' ; diese setzt, vielleicht ohne es zu wissen, 
die neuchristlichen Grundvorstellungen voraus). Nie wird es ge- 
lingen, das Christentum in uns zu überwinden; dagegen wehrt 
sich ein übertausendjähriger Atavismus; alle neuen Ideen werden 
sich mehr oder weniger offenkundig in alten Formen verkörpern 
müssen, um weitreichende Wirkungskraft zu erlangen. Die Brücke 
zwischen dem modernen Geist und den alten Vorstellungen ge- 
funden zu haben, bezeichnet die Großtat Johann Calvins; jenen 
624 Genügsamkeit kein Vorzag. 
mehr und mehr in diesen zu verkörpern, ist das Streben aller 
späteren Bildungen. Daß diese aber wirklich auf richtiger Bahn 
sind, ist heute schon klar. Es gibt nicht nur keine freudigeren, 
unbefangeneren Menschen, als die durch diese Vorstellungen ge- 
formten — es gibt keine idealeren; sie vor allen sind berufen dazu, 
dem modernen Leben den spirituellen Gehalt zu geben, der ihm 
im ganzen so sehr fehlt. 
Schon heute ist Amerika auf diesem Wege so weit voran- 
geschritten, daß dort Wohlstand als Normalzustand gilt. Hiermit 
erscheint, praktisch wie ideell, vom Standpunkt dieser Welt ein 
unbedingter Fortschritt erzielt: stellt sich die allgemeine Alter- 
native, an der Fülle oder am Mangel Genüge zu finden, dann ist 
die erstere vorzuziehen. So viel besser in der Tat Genügsamkeit 
sei als Abhängigkeit von bestimmten günstigen Umständen, zumal 
als Leiden an der Unbefriedigtheit — im Ganzen ist wohl gewiß, 
daß Bedürfnislosigkeit dem Erdbewohner nicht frommt, daß diese 
als Anlage keine Tugend ist und erzwungen selten Gutes wirkt. 
Denn wer nichts wünscht, ist meist dürftig organisiert, jedes 
Organ strebt nach Betätigung, jeder Trieb nach Ausdrucksgelegen- 
heit; und wer sich bescheidet, gibt Wachstumsmöglichkeiten preis. 
Ja schlimmer noch: in engen Verhältnissen können sich nicht allein 
die meisten Anlagen nicht allseitig entfalten, jene hemmen gerade die 
Entwicklung der edelsten; ein freies, vollausgeschlagenes Menschen- 
tum ist immer nur auf dem Boden der Befriedigtheit gediehen. 
Weshalb? Weil die Bedürfnisse einer Natur, solange diese besteht, 
durch Grundsätze nicht eskamotiert werden können, weil sie gestillt 
werden müssen, auf daß der Geist seine Freiheit erlange. Sind sie 
es nicht, so finden Stauungen statt, Verdrängungen, Selbstver- 
giftungen der Seele; was sich in Schönheit hätte vollenden können, 
verbildet sich nun zu scheußlicher Mißgestalt. So löst verdrängte 
Sinnlichkeit unausweichlich obszöne Bilder aus, verbissene Krän- 
kung hämische Rachegedanken; so zieht Armut, schmerzlich als 
solche empfunden, unvermeidlich Neid, Mißgunst und Ressentiment 
heran. Dies denn heiligt den Materialismus unserer Ära: indem 
bewußtermaßen nur möglichst günstige Lebensverhältnisse für alle 
erstrebt werden, wird tatsächlich ein edleres Leben angebahnt. Je 
erfreulicher jene, desto weniger Nahrung findet das Häßliche, 
desto mehr das Edle; es ist ein allgemeiner äußerer Zustand denk- 
bar, in welchem Mißgunst, Mißtrauen und Ressentiment, als 
Glück kein Ziel, aber das beste Mittel. 625 
Absurda, lebensunfähig erscheinen werden. Insofern kann Armut 
allerdings als absolutes Übel gelten, und Streben nach Reichtum, 
gemäß der amerikanisch-christlichen Lehre, als gottwohlgefälliger 
denn Bescheidung beim gegebenen. Der heutige unerfreuliche Zu- 
stand der weißen Menschheit rührt nicht daher, daß sie Bedürf- 
nisse hat, noch weniger daher, daß sie dieselben nicht befriedigen 
könnte — keine hat in letzterer Hinsicht unter nur annähernd 
gleich günstigen Bedingungen gelebt — ; sie rührt daher, daß deren 
Befriedigung ihr noch nicht selbstverständlich ist. Dieser unglück- 
liche Übergangszustand wird bald überwunden sein. Dann aber 
wird sich erweisen, daß die Früchte, die nur der Weltverneiner 
bisher geerntet, auch dem Weltbejaher zuteil werden können, daß, 
so wenig Glück als Ziel menschlichen Strebens gelten kann, es 
doch das beste Mittel ist zu seiner Erreichung. 
Aber freilich ist in Amerika die Kluft zwischen äußerem 
Vorgeschrittensein und innerer Vollendung noch weiter 
als in Europa. Beim Verpflanzen wurden die alten Wurzeln 
des Europäers verschnitten und die neugebildeten sind noch nicht 
tief in die Erde eingedrungen; auch wurden der Hauptmasse nach 
unveredelte Gehölze verpflanzt, die auf dem fetteren Boden, ohne 
Schulung, an Rassigkeit noch eingebüßt haben: so darf es nicht 
weiter wundernehmen, daß der höheren Zivilisation ein niedrigeres 
Kulturniveau entspricht. Auch in der alten Welt bedeutet Voll- 
kommenheit der Einrichtungen in bezug auf den Menschen wenig 
genug. Die Objektivierung der idealen Forderungen in Institutionen 
hat bei allen Vorteilen den Nachteil mitbedingt, daß jene an 
subjektiver Wirkungskraft verloren haben. Wir sind oberflächlicher 
als die Inder, weil bei uns die geistigen Mächte an die Oberfläche 
gezogen worden sind, wo sie nun automatisch funktionieren, ohne 
die Seele notwendig in Mitleidenschaft zu ziehen, während sie bei 
jenen in deren Tiefe wirken und daher, wo überhaupt lebendig, 
innerlichst beeinflussen. Aber beim Europäer bleibt immerhin spür- 
bar, daß das Äußerliche von innen hervorgesprossen ist. Man nehme 
einen noch so ausgesprochenen Zweckmenschen: ist er aus altem 
Stamm, so hat er den Humanismus unserer Klassiker, den Idealis- 
mus des Entdeckungszeitalters, die hohe Ethik des Mittelalters, 
Keyserling, Reisetagebuch. 40 
626 Fortschritt führt nicht zur Vollendung. 
zuletzt die antike Kultur zum lebendigen Hintergrund, dies aber 
gibt ihm eine geistige Atmosphäre und seinem Tun eine Bedeut- 
samkeit, welche besteht, auch wo sie seinem Bewußtsein ganz 
entgeht. So spürt man durch alle europäische Oberflächlichkeit 
hindurch die mögliche Tiefe, in jedem maschinellen Betrieb seine 
mögliche Beseeltheit; man hat bei den äußeren Einrichtungen, die 
zunächst auf nichts Innerliches hinweisen, das Gefühl, das man 
neuen Organen gegenüber hat, mit denen man noch nicht umzu- 
gehen weiß: man fühlt, noch geht es nicht, aber es wird bald 
gehen. Denn unsere Geschichte steht dafür Gewähr. Der Louvre 
steht gut dafür, daß der Eiffelturm dereinst ein lebendiges Sym- 
bol bezeichnen wird, die Kathedralen bürgen dafür, daß Fabriken 
werden dem Geist dienen können. Dieses trostreiche Gefühl über- 
kommt einen in Amerika nicht. Die allermeiste Tatsächlichkeit ist 
Tatsächlichkeit schlechthin, ohne lebendige Bedeutung und ohne 
Hintergrund. 
Dieses Gefühl ist gewiß nur bedingt gerechtfertigt; zwischen 
amerikanischen und europäischen Zuständen besteht kein Unter- 
schied des Wesens sondern nur des Grades. Die so verschwende- 
risch ausgestatteten amerikanischen Universitäten sind ohne geistige 
Atmosphäre, die amerikanischen Prachtbauten ohne Symbolik, die 
Amerikaner selber nur zu oft bis zur Seelenlosigkeit flach, weil hier 
die auch bei uns bestehende Diskrepanz zwischen Äußerem und 
Innerem noch größer ist. Die Amerikaner sind innerlich roher und 
jünger als wir und äußerlich weiter: so treten die Nachteile dieses 
schiefen Gleichgewichtszustandes bei ihnen deutlicher an den Tag. 
Es wäre auch ganz in der Ordnung so und kein Wort darüber zu 
verlieren, wenn nicht die Neue Welt, anstatt der alten, nachzu- 
streben, dieser voraneilte und mehr und mehr zu ihrem Vorbild 
würde. Dieser Umstand weckt sorgende Gedanken. 
Ich denke zurück an alles Positive und Negative, was ich an 
den Vereinigten Staaten wahrgenommen, an die vielen Vergleiche 
zwischen Orient und Okzident, die ich angestellt, an die allge- 
meinen richtunggebenden Ideen, die sich in meinem Bewußtsein 
mehr und mehr im Laufe meiner Wanderungen präzisiert haben. 
Es ist allerdings Zeit, daß die westliche Menschheit erkenne, daß sie 
auf dem Wege des „Fortschritts" das „Eine, was not tut" nicht 
finden wird; sie gewinnt nur vollkommenere Ausdrucksmittel da- 
für. Daß solche ihr zu eigen werden, ist freilich gut; nichts wäre 
Vollendung als einziges Ziel. 627 
törichter, als sie verleugnen zu wollen. Nachdem dieses aber ge- 
schehen, ist das Lebensproblem nicht etwa gelöst, sondern es 
stellt sich in unveränderter Gestalt. Das einzige absolute Ideal des 
individualisierten Lebens wird durch den Begriff der Vollendung 
bestimmt. Der Vollendung nun ist der noch so vorgeschrittene 
Moderne ferner, als irgendein Wesen. Er steht ihr ferner nicht 
allein als der Chinese, als der Mensch der Antike und des Mittel- 
alters, er steht ihr ferner als der Australneger, und viel ferner als 
jede Pflanze und jedes Tier. Solang er dies nicht einsieht, sondern 
im Wahn befangen bleibt dank seinem „Fortschreiten" wesentlich 
weiterzukommen, wird kein äußerer Gewinn ihm zu innerem Heil 
gereichen; sein Mensch wird fortverflachen und -verkümmern pro- 
portional dem Zuwachs seiner Mittel. Erkennt er es hingegen und 
wendet es um, dem einzig wahren Menschenziele zu, dann, aber 
allerdings nur dann, wird das bisherige Verhängnis ihm zum Segen 
umschlagen. Es ist nicht notwendig, daß materielle Macht, so böse 
sie an sich sei, der Seele schade, nicht wahr, daß Verstandeskraft 
zersetzen muß; jene kann zum Organ göttlicher Güte werden, diese 
zum Mittel geistlicher Wiedergeburt. Es ist ein Irrtum, daß die 
Bewegtheit unseres Lebens Vertiefung ausschließe, denn alles Leben 
ist bewegt, nicht richtig, daß unser Streben ins Unbegrenzte, da 
Vollendung doch an Grenzen gebunden sei, solche prinzipiell un- 
möglich mache, denn Grenzen des Strebens und des Strebenden 
sind zweierlei; jeder Einzelne wird immer früh genug seine Grenze 
finden. Vom Standpunkte des Geistes ist es eins, ob einer einen 
festen oder einen flüssigen Körper trägt. Gelangen wir nur dahin, 
auf unsere Art vollkommen zu werden, unseren so wunderbar 
reichgestalteten Leib durchaus zum Ausdruckmittel des Geistes 
zu machen, so werden auch wir am Ziele sein. 
Nach Vollendung sollen wir streben, nach Vollendung allein. 
Nicht nach „Erneuerung", der Lieblingslosung moderner Welt- 
verbesserer. Nach Erneuerung streben, heißt das Heil von einer 
neuen Sondergestalt erwarten — einem neuen Mythos, einer neuen 
Lebensform, einem neuen Menschentypus, der aus dem alten 
hervorgehen soll. Wenn aber etwas gewiß ist, dann ist es dies, 
daß das Heil von dort her nicht mehr kommen wird. Das Ideal 
der Erneuerung bedeutet nichts anderes, als die äußerste Subli- 
mierung des Fortschrittsideals; es konnte fördern, solange der 
Mensch das Wesen unmittelbar zu sehen noch nicht gelernt hatte. 
40* 
628 Das Heil kommt nicht von neuer Gestaltung. 
Damals bedeutete die Geburt einer neuen Form in der Tat die 
Offenbarung eines neuen Inhalts. Vom antiken Heidentum zum 
Christenglauben fand äußerlich zwar nur ein „Fortschritt" statt, 
aber dieses Fortschreiten bedingte gleichzeitig ein „Vollenden" 
insofern, als sich die Masse in dieser neuen inneren Form viel 
tiefer ihrer selbst bewußt wurde. Immerhin: schon damals be- 
deutete Bekehrung ungefähr das, wie in der Geometrie eine Hilfs- 
konstruktion; Marc Aurel stand, so wie er war, nicht niedriger 
als der/ heilige Ambrosius, hätte durch Glaubenswechsel nicht ge- 
wonnen; schon damals gereichte solcher nur Nicht -Wissenden 
zum Heil. Heute aber wissen die meisten viel zu viel, um 
durch Formveränderung zu gewinnen, zu viel, um eine Form 
noch soweit ernstzunehmen, daß diese ihre Gestaltungskraft voll 
ausüben kann. Es erstehe morgen ein geistliches Genie, das die 
bestmögliche Religion verkündete — seine Tat wird nicht an- 
nähernd mehr das bedeuten, wie diejenige Luthers; seitdem der 
Sinn an sich den Menschen bewußt zu werden beginnt, wird es 
Zeit für sie, die Aufgabe umzustellen. Es gilt nicht mehr, neue 
Formen in die Welt zu setzen, um sich vermittelst ihrer tiefer zu 
realisieren, sondern unmittelbar nach Wesenserkenntnis zu streben, 
das aber heißt: seinen tiefsten, innersten Gehalt in beliebigem 
Rahmen zum Ausdruck zu bringen. Strebt der Mensch nur nach 
Erfüllung, nach Vollendung, dann ergibt sich das weitere von 
selbst; dann kommt es mit Unvermeidlichkeit, je nach den Um- 
ständen, zur „Erneuerung", zur „Bekehrung", zur Wiedergeburt"; 
dann ersteht ganz von selbst, wenn die Zeit es verlangt, auch die 
neue historische Gestalt. Mögen es der Zahl nach noch so wenige 
sein, welche wissend über Name und Form hinaus sind, unwissent- 
lich sind wir's alle; ein Endziel kann Gestaltung an sich uns nie 
mehr sein. 
Nach Vollendung sollen wir streben, nach Vollendung allein. 
Als Abendländer sind wir spezifische Geschöpfe von ausschließ- 
licher Anlage, die ihr Sonderschicksal erfüllen müssen. Nie werden 
wir unseren physiologischen Grenzen entrinnen, nie wird uns 
frommen uns selber untreu zu werden, jeder Versuch, aus unseren 
historisch bedingten Schranken auszubrechen, kann nur schaden. 
Wir sollen nicht zerschlagen wollen was wir erschufen, aus theo- 
retischen Erwägungen heraus keine gewaltsamen Veränderungen 
vornehmen, sondern organisch fortwachsen dem Zustand entgegen, 
Die Westländermission. 629 
der unserem Sonderstreben als dessen Krönung winkt. Aber wir 
sollen jetzt, da wir erkannt haben, daß unser empirisches Ziel kein 
Selbstzweck ist und unsere Eigenart kein absoluter Wert, unmittel- 
bar in und aus dem Wesen leben lernen. Dann erst, dann aber 
sicher, wird unser „Fortgeschrittensein" zum Ausdruck des „Einen, 
was nottut" werden, damit zur vorgeschobenen Etappe auf dem 
Wege zum Menschheitsziel. Dann wird sich erweisen, daß, so viel 
Unheil wir bisher über die Welt gebracht, dank unserem wahn- 
witzigen Streben, die ganze Schöpfung unserer Eigenart zu unter- 
werfen, es doch wahr ist, daß wir berufen sind zu einer hohen 
Mission. Dann wird sich nämlich, dank uns, die Einheit des Lebens- 
ganzen, sein unzerreißbarer wesentlicher Zusammenhang, wie nie 
zuvor im Reich des Erscheinenden ausprägen. Diese Ausprägung 
hat Indien nie überhaupt versucht. Chinas Leistung, sonst so be- 
wunderungswürdig, krankte daran, daß es als Menschen nur Chi- 
nesen gelten ließ. Was aber des Westens frühere Universalitäts- 
bestrebungen betrifft, so scheiterten sie daran, daß er trotz rich- 
tiger allgemeiner Tendenz den Ansatz verfehlte, aus dem Allgemein- 
und Sonderprobleme auf einmal zu lösen sind. Die der Spätantike 
mündeten in Elektizismus und Synkretismus ein, innerhalb des 
Christentums verdichteten sie sich zur Wahnidee, daß eine Kirche 
das ganze Menschengeschlecht umfangen könne; im 17. Jahrhundert 
gewannen sie in der ungenauen Vorstellung Form, daß alle Denk- 
und Glaubensgestaltungen Erscheinungen eines einheitlichen, jedem 
gleichmäßig eingeborenen „natürlichen Lichtes" seien, und ver- 
siegten im 18. in schaler Gleichmacherei. Wir nun besitzen den 
Ansatz, aus dem allein alles Einzelne vom Ganzen her bestimmt 
werden kann: in der Objektivierung, welche die geistigen Mächte 
durch uns erfuhren, ist die einzig haltbare Verbindung geschaffen 
worden zwischen Ideen- und Erscheinungswelt. Unsere Erkennt- 
nisse sind objektiv; die Beziehungen, die zwischen den verschie- 
denen Phänomenen entdeckt wurden, bestehen unabhängig von allem 
Meinen; die Gesetze, welche wir feststellten, gelten an sich: also 
kann es gelingen, das Leben nicht mehr einer persönlichen Formel 
gemäß, sondern seinem Eigen-Sinn nach zu verstehen und zu ge- 
stalten. In uns hat die Menschheit die Bewußtheitsstufe erstiegen, 
welche Name und Form notwendig übersieht. Damit ist geistiger 
Ausschließlichkeit für immer der Boden entzogen, ein allgemeiner 
Zustand angebahnt, wo alles Einzelne, bei überzeugter Verfolgung 
seines Sonderziels, sich doch als Glied des Ganzen wissen wird. 
630 Die künftige Solidarität der Menschheit. 
Schon heute ist es jedermann möglich, sich über Sinn und Bedeutung 
jeder Erscheinung im Zusammenhang Gewißheit zu verschaffen, 
folglich auch möglich virtuell, sich im Zusammenhang zu behaup- 
ten; schon heute braucht einer anderes nicht mehr abzulehnen, um 
unbefangen er selbst zu sein. Dies alles muß schließlich zu einer 
in der Geschichte unerhörten Verbreiterung der Lebensbasis führen, 
zugleich zu einer niedagewesenen Vertiefung jeder einzelnen Lebens- 
tendenz. Wenn es vormals hieß: Nationalgefühl oder Weltbürger- 
tum, so wird bald eines das andere bedingen; die verschiedenen 
Kultur- und Glaubenstypen werden einander mehr und mehr als 
Ergänzungen achten lernen; das „Er oder Ich" früher Stufen wird 
sich in immer vollerem Maße in bewußtes Zusammenarbeiten um- 
setzen. Und dies beinahe unabhängig von allem guten Willen, 
weil das Leben an sich ein zusammenhängendes Ganzes ist und 
das Bewußtgewordensein eines wirklichen Verhältnisses mit Not- 
wendigkeit dessen gesteigerte Darstellung nach sich zieht, dank 
immer inniger vermittelnden Objektivationen. Schon sind in Gestalt 
der Wissensinhalte, des Geldes, der wechselseitigen ökonomischen 
Abhängigkeit Grundlagen da, auf denen Verständigung im Prinzip 
unvermeidlich ist; bald wird Gleiches von den Rechtsbegriffen 
gelten. Die Objektivationen wirken ihrerseits auf das Subjektive 
zurück. Mehr und mehr führende Geister verleugnen alle national- 
kulturelle Ausschließlichkeit, täglich machtvoller wird das Zusam- 
menhangsgefühl aller arbeitenden Massen; eines gebenedeiten Tags 
wird sich die Menschheit durchaus solidarisch wissen, durch allen 
notwendiger Kampf und Gegensatz hindurch. Diese bessere Welt 
herbeizuführen — nicht die ganze Schöpfung zu verwestlichen — 
ist unsere Westländermission; unsere besondere Physiologie, unsere 
Geschichte beruft uns wie niemand sonst dazu, in Leben umzu- 
setzen, was Inder bisher am tiefsten erkannten. Aber unsere Lebens- 
formel bleibt doch eine unter anderen, und wenn wir auch glauben 
dürfen, daß sie die vom Standpunkte der Geistesverwirklichung 
glücklichste ist, weil sie einerseits vollkommene Durchdringung 
der Erscheinung durch den Sinn postuliert, anderseits in der Idee 
die umfassendste Gestaltung zuläßt, so dürfen wir doch niemals 
vergessen, daß v kein Phänomen die anderen resümiert, kein Wert 
alle erschöpft, eine Art der Vollendung die übrigen ausschließt, 
daß Totalität das Ziel aller Entwickelung ist und dem Einzelnen 
nie mehr gelingen kann, als sich innerhalb enger Grenzen zu 
vollenden. 
Sinn geistigen Strebens nicht irdische Erfßllung. 631 
Vernunftgemäßer Voraussicht nach müßte die Symphonie des 
Geistes auf Erden fortan immer schöner erklingen. Immer reiner 
müßten die Einzelstimmen tönen, immer besser untereinander har- 
monieren, auf immer vollere Grundtöne abgestimmt; die ursprüng- 
lich chaotische, zeitweilig barocke, dann wieder überdifferenzierte 
Schöpfung müßte zuletzt in vollendeter Klassik ausklingen, jener 
monumentalen Einfachheit, die allen Reichtum in sich beschließt. 
Wandel ist des Lebens Weg, immer neu ist es erschienen; wird 
seine Entwicklung fortan vom immer tiefer bewußten Geiste ge- 
lenkt, so müßten vorläufige Formen immer mehr endgültigen Plat^ 
machen, müßte die Differenziation langsam umschlagen in Inte- 
gration. Allein, Vernunfterwartungen werden nicht immer erfüllt. 
Die altgriechische Vorstellung, nach der es Hauptabsicht der Götter 
sei, alles Edele auf Erden auszurotten, wird dem Charakter der 
Wirklichkeit leider besser gerecht, als die Vorsehungsidee. Ein 
dummer Zufall mag die Entwickelung irgendwann abschneiden, 
Katastrophen, Seuchen, Barbaren mögen wieder und wieder den 
Geist seiner besten Träger berauben, bis zum Erduntergang mag 
es bei Ansätzen bleiben. Dieser Planet war von je eine Stätte der 
Anfänge, nicht der Erfüllungen. Mit der Spätantike schien ein 
Zeitalter endgültiger Universalität hereinzubrechen und es erfolgte 
Barbarisierung; individualistische Kultur blühte in Hellas, im Italien 
der Renaissance, blüht heute wieder, und wie die früheren alle 
plötzlich abstarben, so mag es auch diesmal kommen. Die Evolution 
des Geistes hat kein zuverlässiges Mittel an dieser Welt, in der 
tausend verschiedensinnige, einander feindliche Entwicklungsreihen 
sich kreuzen. Sein eigentliches Ziel liegt überhaupt nicht in ihr. 
Das Unendliche, das wir ins Endliche zu bannen trachten, entrinnt 
uns ewig; die Vollendung, der alles Lebendige als seiner höchsten 
Erfüllung nachstrebt, ist keine Erfüllung im irdischen Verstand, 
denn Verfall folgt ihr und Tod, kein Ideal ward jemals restlos 
verwirklicht — käme es aufs Erreichen an im Rahmen von Zeit 
und Raum, dann wäre aller Idealismus sinnlos. Aber er ist es nicht. 
Sein Sinn liegt in einer anderen, geistigen Welt, der wir wesent- 
licher als dieser angehören, und alles Streben hienieden dient nur 
dazu, im Geist zu wachsen: auf dem Wege zum Ziel, das ein zeit- 
lich-Imaginäres ist, wird unser Eigentliches wirklich. Wir sollen 
das Himmelreich auf Erden begründen wollen; je näher wir dem 
kommen im Überwinden materiellen Widerstands, desto mächtiger 
632 Vollkommenheit der Erde nicht Selbstzweck. 
wird der Geist; auf einer vollkommen gemachten Erde könnte er 
sich vielleicht vollkommen manifestieren. Aber die Vollkommenheit 
der Erde ist nicht Selbstzweck: dies gilt es zu begreifen, um der 
Wirklichkeit nicht Unrecht zu tun. Freilich endet alles Leben mit 
dem Tod, ist alle Vollendung hinfällig, kurzfristig und die meiste 
vom zeitlichen Standpunkt zukunftslos. Aber es kommt nicht an 
auf die Zeit. In jeder vollkommenen Lebensverwirklichung aktua- 
lisiert sich das Ewige, wird das Wesentliche erreicht, zu dem 
zeitliche Entwickelung nur das Mittel war. Insofern kann man 
sagen, daß der Fortschritt in der Idee ein Wesentlicheres ist als 
der reale Fortschritt, obgleich jener sich nur in diesem realisiert, 
und daß es nicht wesentlich darauf ankommt, ob- kosmische Zu- 
fälle dem Geist volle Verwirklichung auf Erden gestatten. Wir 
dürfen Meister Eckhart Glauben schenken, wenn er verheißt: 
„Gebricht dir's nicht am Wollen, sondern allein am Vermögen, 
wahrhaftig! vor Gott hast du alles getan." 
Das Schiff, das mich heimträgt nach Europa, fährt gerade an 
der Freiheitsstatue vorbei. Wie vielen ist ihr Anblick die 
Verheißung eines neuen, besseren Lebens gewesen! wie 
vielen Millionen symbolisiert sie ihr Ideal! Ich denke zurück an 
die Gespräche mit Ausgewanderten, die ich gehabt: da war nicht 
einer, der nicht mit Stolz erfüllt gewesen wäre darob, ein freier 
Amerikaner zu sein. ... Ich kann im Zustande der Neuen Welt 
von heute nichts Ideales sehen; sie ist nicht wirklich freier als 
die alte. Weniger Freiheit als Willkür herrscht in ihr — die Will- 
kür nicht Eines zwar, wie in asiatischen Despotien, sondern die 
jedes Einzelnen, was nicht besser ist. Das allgemeine Wahlrecht 
hat in verfeinerter Gestalt das Faustrecht wiedererweckt: durch 
Geigen auf Stimmungen und Trieben, durch suggestive Einwirkung, 
durch das mechanische Ergebnis schlauer Intrigen wird hier ent- 
schieden, wer regieren soll, welcher Entscheidungsmodus sich von 
dem der Raubritterzeit genau nur insoweit unterscheidet, wie Ver- 
führung von Vergewaltigung. Beamtenbestechung und -bestechlich- 
keit sind wenig seltenere Erscheinungen als in Rußland. Der 
„Wille des Volks" äußert sich im ganzen als Regiment der Inkom- 
petenz. Die Macht, die überlegenen Menschen nicht zuerkannt 
wird, ist toten Maschinen (trusts, caucus, Wahlbureaus) zuteil 
Wesentliche Freiheit des Menschen. 633 
geworden und die Voraussetzung der Gleichheit aller, nicht nur 
vor Gott und dem Gesetz, sondern als Menschen untereinander, hat 
das geistige Niveau herabgedrückt in unerhörtem Grad. Die meisten 
der Vorzüge Amerikas vor Europa, auf die ich in meinen Be- 
trachtungen hinwies, bestehen vorläufig nur in der Idee 
Dennoch sehe auch ich in der Freiheitsstatue ein Symbol: sie be- 
zeichnet die erste, noch so mißverständliche Verkörperung des 
politischen Ideals. 
Jeder Mensch ist wesentlich frei; das heißt, sein allerinnerstes 
Wesen unterliegt schlechterdings nur seiner Bestimmung. Von den 
zwei Schachern, die neben ihm am Kreuz dem Tod entgegen- 
schmachteten, konnte Jesus nur einem das Paradies versprechen, 
dem, dessen Wille ihm entgegenkam; für und über den anderen, 
welcher sein Herz vor ihm abschloß, vermochte er nichts. Bis zum 
tiefsten Subjekt reicht keine Macht von außen hinab. So hat man 
den erst wirklich überzeugt, der nicht bloß nachgab unter dem 
Druck der Suggestion, sondern selbständig erwählte, was man ihm 
vorhielt; so kann man ein Weib wohl vergewaltigen, aber unmög- 
lich zu willentlicher Hingabe zwingen und nur der, dem es sich 
freiwillig gab, besitzt es wirklich. Dieses innerste, schlechthin 
autonome Ich ist aber nicht von vornherein Mittelpunkt der be- 
wußten Person: ursprünglich existiert es nur als Keim, es ent- 
wickelt sich allmählich, wächst langsam hinein in diese und bis es 
mit ihrem Zentrum verschmolzen ist, kann man nicht sagen, daß 
der Mensch aus seiner Freiheit heraus lebe. Die junge Seele 
reagiert bloß triebhaft auf äußere Einwirkungen; ihr eigentliches 
Selbst schläft, und wo es erwacht, ermangelt es der Initiative. 
Mehr als ja oder nein zu sagen zu dem, was mit ihr geschieht, 
vermag es nicht, und da dieses Urteilen bei kaum vorhandener 
Intellektualität nur ausnahmsweise der Erkenntnis entspringt, so 
muß man sie leiten. Auf dieser Stufe bedeutet hellsichtig aus- 
geübte reine Gewalt, die auf das Meinen und Wollen keine Rück- 
sicht nimmt, die beste Behandlung. Auf höherer wird jene füglich 
durch die Rückwirkung psychischer Bindungen — von Glaubens- 
sätzen, Vorurteilen, Pflichtvorstellungen — ersetzt, die, von außen 
oktroyiert, passiv aber doch bewußt-zustimmend hingenommen 
werden; hier erlebt der Mensch sein Wesen mittelbar im Spiegel- 
bild auslösender Objektivationen. Auf der höchsten, die der voll- 
endeten Geburt des Selbst entspricht, kann der Mensch kein äußeres 
634 Der Weg zur Freiheit, 
Motiv mehr als Letztes anerkennen, hier weiß er, daß, wozu man 
ihn auch zwänge, was immer er triebhaft täte, nichts durch ihn 
geschieht, solang sein freier Wille, in verstehendem Bewußtsein 
dessen, was er will, nicht die Initiative hat; hier lebt er unmittel- 
bar, nicht mehr bloß mittelbar, aus seiner Freiheit heraus. Auf 
dieser Stufe erst ist er wirklich frei. Wer sie nun erstieg, der 
will auch andere nicht mehr zwingen, weder vergewaltigen noch 
auch suggestiv beeinflussen, da Gleiches wesentlich von jedem 
gilt; sein Wunsch, auf andere zu wirken, geht nur mehr darauf, 
jedes Freiheit zur Vollendung zu führen. — Dieser Entwicklungs- 
gang des Einzelnen hat im Sozialen sein Spiegelbild. Je entwickelter 
eine Nation, desto widerwilliger erträgt sie rein-äußere Bestim- 
mung. So sehen alle Regierungen sich gezwungen, immer metir 
mit der Regierten Willen zu rechnen, arbeiten die weisesten bewußt 
daraufhin, sie zu vollkommener Autonomie zu erziehen. 
Im Fall der Völker wie der Einzelnen läuft dieser Prozeß 
nicht in gerader Linie ab, sondern in Form einer bewegten, manch- 
mal rückgreifenden, oft gebrochenen Kurve, durch Stillstände hin- 
durch, und da die Menschen im Werden nie klar sind über das, 
was sie wollen, so begehen sie Irrtümer. So hat die Emanzipierung 
des Geistes zuerst zur Verwerfung aller ererbten Weisheit geführt, 
zu Immoralismus, Positivismus, Nihilismus — Weltanschauungen, 
die um vieles törichter sind als die überkommenen aus den Zeiten 
größerer Bindung; so hat die der Völker zunächst, indem sie will- 
kürlich die Ordnungen zerbrach, die organisch aus kumulierter 
Erfahrung emporgewachsen waren, mehr Unheil als Heil bewirkt. 
Hier wie dort waltete ein gleiches Mißverständnis: man wähnte, 
die alten Gebote und Ordnungen seien inhaltlich falsch, während 
sie tatsächlich wahr und berechtigt waren, und das zu Über- 
windende nur darin bestand, daß es sich um äußerlich Aufgezwun- 
genes handelte; der Entwickelte will freiwillig tun können, wozu 
der Unentwickelte gezwungen werden muß. Wenn jener keiner 
Vorurteile, keines Dogmenglaubens, keiner Grundsätze noch Pflicht- 
vorstellungen bedarf und faktisch ohne sie lebt, so liegt dies daran, 
daß Grundsätze, Dogmen und Pflichten Objektivationen dessen 
sind, was der Geist im tiefsten und letzten will, als solche natür- 
lich unzulänglich, weil nie erschöpfend, nie einwandfrei bestim- 
mend und immer schematisch und starr, — er, der Freie aber un- 
mittelbar-bewußt aus dem Selbst heraus lebt, dessen Wollen alles 
Falschverstandene Freiheit schafft Fesseln. 635 
Sollens Seinsgrund ist. Nun bezeichnet freilich der vollkommen 
Freie ein Ideal, das im Lauf der Geschichte seltene Male verwirk- 
licht ward; wie die seelische Entwicklung nicht damit beginnt, 
daß die naturhafte Unmittelbarkeit wächst — der Naturwüchsige 
weiß nichts von seinem Subjekt — sondern daß die Objektivationen, 
die der Geist aus sich herausstellt, immer genauer dem Streben 
des tiefsten Ichs entsprechen, so gelingt die Wiederauflösung dieser 
auch nur stufenweis. Allein das Ziel ist überall, aller Vermittelung 
entraten zu können, unmittelbar aus dem Grund heraus zu leben, 
sein Bewußtsein so vollkommen in ihm zu zentrieren, daß die per- 
sönlichen Wünsche dessen Wachstumsnormen widerspiegeln, daß 
man mit Paulus sagen kann: nicht ich lebe, sondern Gott lebt in 
mir. Dieses erreicht nur der Überwinder seiner Person, der so 
tief Verinnerlichte, daß er sein höchstes Glück nicht in befriedigter 
Selbstsucht, sondern im Opfer findet, im Geben ohne Wieder- 
Nehmen-Wollen, in gotthafter Spontaneität. 
Der Drang nach Freiheit erwacht meist, wie gesagt, bevor die 
Erkenntnis reift, was jene bedeutet, worin sie sich äußert, und 
dies bedingt vorläufig Verrohung und Verflachung. Dieses Verhält- 
nis illustriert die Neue Welt mit oft abschreckender Deutlichkeit. 
Die Amerikaner haben weniger als alle begriffen, daß, wenn die 
von außen aufgezwungenen Schranken fallen sollen, dies nicht zu 
dem Ende ist, daß Schranken überhaupt fehlen müssen, sondern 
daß sie freigewählten Platz machen sollen. Sie wollen noch nicht 
wahrhaben, daß die ererbten, im Besonderen noch so konventio- 
nellen Ordnungen unter den Menschen Wirklichkeiten ausdrücken, 
daß Unterschiede im Seelenalter, des Charakters, der Begabung, ja 
der angeborenen Stellung'ein ebenso Reales sind, wie die zwischen 
chemischen Elementen, und daß kein Gott, so lange er in der 
Sphäre der Natur verweilt, deren Gesetzen entgegen schaffen kann; 
sie wollen frei sein, ohne dem empirisch-Wirklichen Rechnung zu 
tragen. Die Folge dessen ist, daß das Leben, anstatt selbstherr- 
licher zu werden im loseren Rahmen, seiner Autonomie fortschrei- 
tend verlustig geht. In der modernsten Demokratie wird das Ge- 
schehen in einem Grad von mechanischen Gesetzen bestimmt, wie 
in keiner antiken Tyrannis: hier entschied immerhin ein Lebendiges, 
gut oder schlecht, dort entscheidet der Zufall, die Macht der Um- 
stände, die Konjunktur; dort ist das Leben schlechterdings ab- 
hängig von anorganischen Gewalten, wie der Chemiker, der ohne 
636 Die Erfüllung des demokratischen Ideals, 
Kenntnis arbeitet, vom „Gutdünken" seiner Ingredienzien; entsteht 
ein Sprengstoff unter seinen blinden Händen, so fliegt er auf. Aber 
diese Erfahrung mußte gemacht werden. Nur überzahlte Erkennt- 
nis wird der Menschheit zu dauerndem Besitz. 
Irgend einmal wird der Demokratismus überstanden sein. 
Dann aber wird sich zum Erstaunen Vieler zeigen, daß sich die 
Menschheit in ihrem dunklen Drang auch dieses Mal des rechten 
Wegs bewußt gewesen ist. Jene äußerliche Schrankenlosigkeit, 
die im heutigen Amerika Willkürherrschaft und Barbarisierung 
bedingt, wird einer innerlich höchstgebildeten Menschheit den ent- 
sprechendsten Lebensrahmen gewähren. Die wird so weit wissend 
geworden sein, daß sie dem Seelischen nicht anders gegenüber- 
stehen wird, als wir der Natur. Die wird psychische Tatsachen 
ebenso selbstverständlich gelten lassen, wie materielle, dem inner- 
lich Höherstehenden selbstverständlich, ohne Streit, auch die höhere 
äußere Stellung zuerkennen, des bewußt, daß es ebenso wider- 
sinnig ist, über Menschenwert durch Stimmenmehrheit zu ent- 
scheiden, wie über das Dasein des Seleniums. Die wird sich selbst- 
verständlich selbst begrenzen überall, wo es der Grenzen bedarf. 
So werden vorgegebene Schranken nicht mehr vonnöten sein. Und 
dann wird ein Erstaunliches geschehen: die Idee, die dem Demo- 
kratismus als Äußerstes zugrunde lag, wird sich als nicht allein 
wahr im Prinzip, sondern als darstellbar in der Erscheinung er- 
weisen. Was ist ihr letzter Sinn? Kein anderer, als daß der Geist 
mächtiger ist als die Natur; daß keine natürliche Grenze unüber- 
windlich ist, daß ein Göttlich-Schöpferisches der Seele des Menschen 
innewohnt. So ist es wirklich. Wenn dem aber so ist, wenn die 
Menschheit einmal so weit gelangt, ganz aus dem Geist heraus 
zu leben, dann wird sie auch keine Naturordnung mehr als unver- 
rückbar anzuerkennen brauchen; dann wird eben das sich bewahr- 
heiten, was heute durch alle Tatsachen widerlegt erscheint. Jene 
Unterschiede zwischen den Menschen, die ich dem zwischen 
chemischen Elementen verglich, bezeichnen wirklich keine letzten 
Instanzen, Tradition, Begabung und Rasse sind nicht unübersteig- 
bar: es ist möglich, sie aus dem Geist heraus zu überwinden. Im 
einzelnen geschah dies von jeher: keine Rasse war je verantwort- 
lich für das Genie — die ganz Großen waren immer Zufallsprodukte 
vom Standpunkt der Natur, reine Kinder des Geistes, wie denn 
auch keine Natur je einen Heiligen erzeugt hat, als welcher eben 
Sieg des Geistes aber die Natur. 637 
aus ihrer Besiegtheit erwächst. Heute aber geschieht gleiches schon 
im allgemeinen, im weiten und breiten, und zwar mehr und in 
höherem Grade, als man denkt, was mit beiträgt zur Wirrsal dieser 
Zeit; schon heute ist der Zusammenhang zwischen Naturbestimmt- 
heit und innerem Beruf, der einst so fest war, im Prinzip ge- 
lockert. Nur mit großer Unsicherheit ist im modernen Westen 
von der Abkunft auf die Anlage zu schließen, immer möglicher 
scheint es, von beliebiger Naturstufe her beliebig hoch hinanzu- 
steigen. Und das bedeutet nicht, daß wir entarten; es bedeutet 
vielmehr, daß das Geistige über dem Natürlichen immer mehr 
den Sieg davonträgt. Dieses Überwinden der ursprünglichen Be- 
stimmtheit vollzieht sich im ganz Großen, und dementsprechend 
roh und summarisch in Amerika, dem Schmelztiegel der Rassen 
und Traditionen. Der Erfolg ist bisher kein allgemein günstiger, 
weil die meisten, die über die Natur hinauswollen, noch so wenig 
Herrschaft erlangt haben über sie, daß sie sich in der Emanzipation 
ihrer besten Bildungsmöglichkeit entäußern. Das wird sich ändern. 
Je geistiger wir werden, desto unabhängiger werden wir dastehen 
vom Überkommenen. Die Wunderwirkungen der Yoga werden 
nicht nur Einzelnen, sondern auch Gruppen und Völkern zuteil. 
Wie die Inder, trotz geringeren Genies, in der Selbsterkenntnis 
weiter gekommen sind, als wir, indem sie sich tiefer in ihr Wesen 
versenkten; wie der Gerechte am Tor der Heiligung vor dem 
Sünder nicht den Vortritt hat; wie es jedem widerfahren kann, daß 
er im Geiste wiedergeboren wird, welches Ereignis sämtliche 
Bindungen, welche die leibliche Geburt ins Leben setzte, zerreißt: 
so mag es geschehen, daß eben dort, wo die Menschheit am tiefsten 
im Materiellen gefangen scheint, ihre Vorhut zuerst über alle Natur- 
bestimmtheit hinausgelangt. Ja sicher wird es so kommen: das 
geistige Wesen erstarkt im Kampf, entfaltet sich desto voller und 
freier, je mehr Widerstand es überwand. So ist unser gegenwärtiger 
Materialismus recht eigentlich Gewähr unserer künftigen Spiri- 
tualität. Deren Körper nun ist im heutigen Amerika schon vor- 
gebildet. Die Menschheit von morgen wird ohne Zweifel in einem 
äußeren Zustand leben, dem derjenige der Vereinigten Staaten 
am ähnlichsten sieht. Sie wird keinerlei starre Formen anerkennen, 
jedem absolute Selbstbestimmung zugestehen. Sie wird, indem sie 
sich erhebt über alle Natur und nur dem Geistentsprossenen Rech- 
nung trägt, sogar das Gleichheitsideal realisieren. In den Ver- 
638 Die Seele wächst in den Körper hinein. 
einigten Staaten ist die äußere Form — wie dies immer geschieht, 
wo sie nicht weit zurückbleibt hinter ihm — dem Gehalt weit vor- 
ausgeeilt. Sie entspricht Amerikanern schlechter, als sie Chinesen 
entspräche, dem einzigen Volk, das dem Kulturideal je nahe- 
gekommen ist. Langsam, überaus langsam wächst die Seele in 
den Körper hinein. Es geht langsamer vor sich, als das Um- 
gekehrte geschieht, weil, während der Körper muß, wenn die Seele 
will, diese seiner Bestimmung nicht unmittelbar unterliegt. Ist sie 
aber so weit, wie die äußere Gestalt antizipiert hatte, dann besitzt 
sie vollkommene Ausdrucksmittel. Dann befindet sie sich voll- 
kommen ungehemmt. Dann wird das wahr werden, was der 
Demokratismus mit Unrecht vom heutigen Menschen wahr haben 
wollte. Dann wird erwiesen sein, daß der Geist wahrhaftig Herr 
ist der Natur. . . . 
Die Freiheitsstatue versinkt in grauer Ferne. Wieder einmal 
schwimme ich auf dem unendlichen Meer. Über ein Kleines werde 
ich dort zurück sein, von wo ich ausging. In jenem Europa, das 
mir so jung schien, als ich es gegen den Hintergrund Asiens 
betrachtete, und so alt wiederum, da ich es verglich mit dem was 
wird im zukunftsschwangeren Amerika. 
IX. 
HEIMGEKEHRT. 
Heimische Außenwelt kein Reaktiv. 641 
RAYKÜLL. 
Wieder daheim. Es ergeht mir, wie nach schwerem Sturm 
auf See: solange der wütet, halte ich mich, wenn ich 
dann aber an Land steige, schwankt der Erdboden unter 
mir und ich vermag nur mit Mühe im Gleichgewicht zu bleiben. 
So verwirrt mich die Außenwelt jetzt, wo sie sich nicht mehr um 
mich her bewegt. Ich muß trachten, die Bewußtseinsart des 
Reisenden möglichst schnell gegen die des Eingesessenen einzu- 
tauschen. Während ^meiner Wanderungen habe ich die Außenwelt 
als Reaktiv behandelt; zu Hause taugt sie nicht dazu. Wo ich 
mich hingebe, erhalte ich mich unverändert wieder, wo ich hinaus- 
schaue, blickt mir mein eigenes Spiegelbild entgegen; alles in 
Rayküll trägt den Stempel meines Geistes oder den meines Ge- 
schlechts. Das beklemmt mich. Mir ist, als sei ich gefangen. 
Ich bin es auch: hier werde ich ausharren müssen in bestimmter 
Daseinsform; hier verantworte ich in bestimmter Gestalt; hier 
darf ich nicht Proteus sein. . . . 
Mein natürlicher Mensch, mein Erbadam, steht freilich ganz 
anders zur Heimkehr: er fühlt sich durch die Wiederberührung 
des Bodens, dem er entstammt, auf dem er fußt und zu wirken 
gewohnt ist, anthäoshaft gesteigert; ihm ist, als seien die Fort- 
schritte, die Rayküll gemacht hat, seine Fortschritte, als sei in den 
Bäumen er selbst gewachsen, durch die Entwässerung unfrucht- 
barer Moore seine eigene Natur verbessert worden. Dies sei ihm 
unbenommen — doch was geht sein Glück mich an? — Ich denke 
zurück an die Motive, die mich seinerzeit hinaustrieben in die weite 
Welt: damals zog ich ja aus, dem natürlichen Menschen zu ent- 
rinnen. Dieses Ziel habe ich erreicht, das fühle ich. So lebendig 
Keyserling, Reisetagebuch. 4 1 
642 Ich entsage dem Proteusideal. 
er blieb, beherrschen wird er mich nie mehr, nie mehr hinüber- 
greifen über seine Sphäre. Es besteht kaum mehr Gefahr für mich, 
als Persönlichkeit auszukristallisieren, eine Sondererscheinung, in 
mir oder außer mir, zu ernst zu nehmen. So darf ich wohl fortan 
die Natur in mir unbefangener gewähren lassen. Nur der Unfreie 
verschanzt sich gegen sie oder flüchtet vor ihr, der Freie braucht 
nichts auszuschließen, nichts zu verdammen. Mir winkt wohl 
fortan, nach Überstehung der Übergangszeit, ein volleres persön- 
liches Sonderleben, als ich es früher geführt. Nur die Übergangs- 
zeit .... Vorläufig wird es mir nicht leicht fallen, zustimmend- 
bewußt als bestimmtes Wesen zu leben; Proteus sträubt sich da- 
gegen. Aber muß er nicht auch stille halten lernen? wenn ich ihn 
in mir vor allem unterstützte, so war es aus Furcht vor Aus- 
krisallisation : nun dieser vorgebeugt ist, darf jener mir kein Ideal 
mehr verkörpern. Jetzt gilt es, in dauernder Gestaltung gleiche 
Überlegenheit über solche zu bekunden, wie vormals in wechselnder. 
Noch drücken mich äußere Schranken zu leicht. Stände ich inner- 
lich ganz frei da, dann scheute ich Bindung und Bestimmtheit 
nicht mehr, als ich ihrer bedürfte, dann empfände ich keinen so 
gebieterischen Drang nach äußerer Freiheit. Vieles von dem, was 
bei mir Freiheit scheint, ist in Wahrheit nur eine Abart der Ge- 
bundenheit. Ich bin noch allzu abhängig von meiner Unabhängig- 
keit. Ich muß nach Wunsch in meinem Sonderdasein aufgehen, 
ganz eins werden können mit einer bestimmten Gestalt, meine 
Neigungen, Gefühle und Interessen ganz beherrschen. Ich muß 
soweit kommen, nicht allein ungebunden zu sein durch Name und 
Form, sondern mich willkürlich binden lassen zu können. 
Doch nun zur Hauptsache: bin ich von meiner weiten Wande- 
rung der Selbstverwirklichung näher heimgekehrt? — Ich muß 
ihr näher sein. Jede einzelne der Lebensmöglichkeiten, die ich 
durchlebt, hat mir deutlicher zum Bewußtsein gebracht, was wesent- 
lich ist im metaphysischen Sinne und was nicht. Ich, als Wesen, 
bin der gleiche geblieben, ob ich als Inder oder Chinese, als Christ 
oder Buddhist empfand; ich weiß jetzt aus lebendiger Erfahrung, 
daß die wesentliche Wahrheit jenseits der Sphäre bestimmter 
Gestaltung lebt. Es ist eine Frage der Voraussetzungen, ob diese 
oder jene Form entsteht, es hängt von den Zwecken ab, die man 
verfolgt, ob man diese oder jene höher wertet. Zur äußeren Ge- 
staltung des Lebens, zur objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis 
Gewinnung des Mittelpunktes; Bach. 643 
erweist eine Europäerseele sich am dienlichsten; eine indische zur 
Realisierung in der psychischen Sphäre, eine chinesische zur Kon- 
kretisierung der Idee, eine japanische zum ästhetischen Natur- 
verständnis, und so fort. Keine Formel ist die höchste im meta- 
physischen Sinn, jede stellt einen möglichen Ausdruck des Abso- 
luten dar, jeder Sonderausdruck bedingt spezifische Grenzen. — 
Die verschiedenen Seelen, die ich gewann, sind mir geblieben, als 
mögliche Einstellungen meiner Selbst; meine Natur ist entsprechend 
reicher geworden. Dank der Erkenntnis der Wege der Metem- 
psychose ist mir mein Wesen, das beharrt durch alle Seelenwande- 
rung, als Negativ so deutlich geworden, daß mir täglich scheint: 
noch heute muß das Positiv sich zeigen. Noch hat es sich nicht 
gezeigt. Im Augenblick fühle ich mich sogar nicht sicherer, sondern 
unsicherer als ehedem: zu vieles in mir ist in Umwandlung und 
Umsetzung begriffen. Das wird sich geben. Der Naturprozeß 
nimmt seinen Lauf. Er braucht viel Zeit. Die sei ihm gewährt. 
Ich aber will warten in stiller Zuversicht. 
.... Dieser Tage habe ich im schönen alten Saal, mit seiner 
prachtvollen Akustik, viel Bach gespielt. Weshalb bedeutet mir 
dessen Kunst so viel? Weil ihr Geist durchaus einer der Grund- 
töne ist. Es besteht ein intimer Zusammenhang zwischen der Tiefe 
der Gedanken und der der Töne. Wie ein tiefer Gedanke tausend 
oberflächliche innerlich bedingt, so lassen sich zu einem gegebenen 
Baß in höheren Lagen schier unendlich viel Melodien ersinnen, 
während jede gegebene Diskantmelodie auf nur einen Baß zurück- 
weist. Die moderne Musik liegt ganz im Diskant, läßt nur mittel- 
bar Grundtöne ahnen; diejenige Bachs ist ganz Grundton und inso- 
fern aller anderen Fundament. So tief wie Bach ist kein Musiker 
jemals gewesen, wie kein anderer ist er dem Metaphysiker kon- 
genial. Der Metaphysiker hat den Baß zu spielen in der Symphonie 
des erkennenden Geistes, die Grundtöne zu finden und anzuschlagen 
zur Musik der Welt. Und indem ich mich in Bach versenkte, seufzte 
ich: wenn ich so denken könnte, wie dieser Mann komponiert 
hat, wenn meine Erkenntnis so tiefen Grund zu spiegeln käme, 
wie seine Musik, dann wäre ich wohl am Ziel. 
41 : 
644 Unerwartete Fortentwickelung; Freiheit In der Begrenzung. 
Ereignislos fließt nun mein Leben hin. Doch anstatt langsamer 
zu verlaufen, als damals, wo jede Stunde neue Eindrücke 
brachte, verläuft es unermeßlich viel geschwinder. In kine- 
matographenartiger Hast löst eine Jahreszeit die andere ab; schien 
meine Reise mir Jahrzehnte zu währen, so möchte ich nun nach 
einem abgelaufenen Menschenalter wähnen, erst gestern sei ich 
heimgekehrt .... Wie wunderbar paßt sich die Seele den Um- 
ständen an! Im Großstadtgetriebe, im Strudel der Ereignisse, 
im Wirrsal der Eindrücke weitet ihr Zeitbewußtsein sich aus, um 
allem Raum zu gewähren; in der Einförmigkeit schrumpft es 
zusammen. Dem Einsiedler in der Wüste droht dergestalt nicht 
mehr Langeweile, als dem Weltmann. 
Und während ich so still dahinlebe, verblassen unaufhaltsam 
die Erinnerungsbilder aus der weiten Welt. Schon kann ich mich 
nur noch mit Mühe auf Indien, China und Japan zurückbesinnen. 
Wieder kommt es ganz anders, als ich's voraussah: ich erwartete, 
die vielen Lebensformen, die meinen Geist so mächtig anregten, 
würden als solche in mir weiterwirken. Statt dessen haben sie 
sich umgesetzt und was nun in mir lebt, ist etwas anderes, Ein- 
heitliches, für mich sehr Neues, dessen Herkunft aus der Vielheit 
des Erfahrenen ich nur reflektierend ableiten kann. Es ist un- 
glaublich, wie ahnungslos der Mensch sich selbst gegenübersteht: 
das persönliche Ich schaut dem bloß zu, was auf der Bühne des 
Bewußtseins vor sich geht, hinter die Kulissen fehlt ihm der Zu- 
gang, es weiß nicht, wer auftreten wird, woher die Spieler kommen, 
was sie aufführen werden, und wenn es sich klarrnacht, daß das 
Schauspiel trotzdem seine eigene Schöpfung ist, so wird ihm manch- 
mal unheimlich zu Mut .... Das Neue, für mich Unerhörte ist, 
daß ich gar kein Bedürfnis mehr nach Metamorphosen spüre. 
Nicht daß ich die Grenzen Hermann Keyserlings anders als früher 
beurteilte, daß ich mich nun innerlich eins fühlte mit ihnen: sie 
beschränken mich kaum mehr; ich weiß mich frei trotz und in ihnen. 
Ich überlese die Zeilen wieder, die ich vor meiner Abreise nieder- 
schrieb: nein, die Motive gelten heute nicht mehr. Und ich beginne 
zu begreifen, warum dem so ist. 
Man verurteilt in anderen am schärfsten, was man in sich 
nicht liebt; der Heilige verdammt niemand, der Weise findet keinen 
ganz töricht. So rührte mein Verleugnen-wollen aller Gestaltung 
Notwendigkeit der Umwege. 645 
hauptsächlich daher, daß ich von keiner unabhängig war. Im 
höchsten Grad beeindruck- und beeinflußbar, wahrte ich meine 
Freiheit mittelbar durch stete Verwandlung. Aber besser ist wohl, 
unmittelbar aus ihr heraus zu leben. Freilich bedeutet Charakter 
(im üblichen Sinn) Beschränkung, kann kein Entwickelter „Per- 
sönlichkeit" als Ideal verehren; über Vorurteile, Grundsätze, 
Dogmen ist er hinaus. Allein er mag, charakterlos, doch positiv 
sein, nicht minder sicher und fest, als nur irgendein Starrer, bloß 
von höherer Erkenntnisbasis aus. Der Yogi sagt neu neu — das 
bin ich nicht — zu aller Natur, bis daß er eins ward mit Para- 
brahman. Nachher verleugnet er nichts mehr, bejaht er alles Po- 
sitive in und außer sich, weil ihn jetzt keine Gestaltung mehr 
beschränkt, weil ihm nun jede ein folgsames Ausdrucksmittel ist. 
In diesem Verstand hat auch in meinem bewußten Leben ein Dimen- 
sionswechsel stattgefunden, so fern ich dem Ziel immer sei. Schon 
viel weniger als vormals bedarf ich der Reaktive, um mich leben 
zu spüren, immer unabhängiger wird mein Fortkommen von aus- 
lösenden Erfahrungen; was früher nur antwortete in mir, gebietet 
jetzt. Aber wenn ich nun zurückdenke an den langen durchmessenen 
Weg und die Frage stelle, ob ich unnötige Umwege gemacht, so 
muß ich diese mehr denn je verneinen. Es bleibt ewig wahr, was 
die indische Weisheit lehrt, daß die Seele alle Erfahrungen durch- 
machen muß, bis daß sie reif wird zur Seligkeit des Wissens, 
denn einen anderen Weg als diesen gibt es nicht; wer ohne schein- 
bare Umwege zum Ziel gelangt, erreicht es nur scheinbar. Warum? 
Weil dieses nicht in äußerlicher Einsicht besteht, sondern in innerer 
Verwandlung. Jeder Daseinsstufe entspricht eine besondere Wahr- 
heit, die Lebensformel des Schmetterlings frommt nicht der Raupe; 
sei jener noch so sehr der letzteren Ziel — gerade um es zu 
erreichen, muß sie vorerst Raupe und Puppe sein. Ebenso steht 
es mit der Menschenseele. Diese entfaltet sich im Erkennen — 
jede höhere Erkenntnis aber setzt einen bestimmten neuen Zu- 
stand voraus. Bevor dieser erreicht ward, nützt kein abstraktes 
Wissen. Der ist kein Heiliger, der Furcht und Rache im Herzen, 
Jesu W r eisung gemäß die linke Backe hinhält: die Natur muß dem 
Ideal gemäß geworden sein. Solches nun führt Erfahrung allein 
herbei. Jeder Teil der Seele muß persönlich eingesehen haben, 
was er eigentlich will, was er soll, worin seine Vollendung besteht, 
unerfahrene Wahrheiten erkennt er nicht an, und um genug zu 
646 Vergöttlichung impliziert Vermenschlichung. 
erleben, muß er sich' Vielem aussetzen. Deshalb bedarf eine Natur, 
je reicher sie ist, desto reicherer Erfahrung. Deshalb bedeutet 
dem Menschen der Umweg um die Welt in jedem Sinn den kürzest 
denkbaren Weg zu seinem Wesen. 
Soviel war mir schon früher klar. Aber was mir erst jüngst 
offenbar ward und die eigentliche Ursache dessen ist, daß ich dem 
Proteustum entsagen kann und will, ist der Umstand, daß Wesens- 
erkenntnis das Menschsein nicht aufhebt sondern erfüllt'. Wohl 
wußte ich, daß jede Gestaltung fähig ist, den Atman ganz zum 
Ausdruck zu bringen, allein ich meinte, dies gelte beim bewußt 
Durchgeistigten in dem Sinn, daß die Natur zur durchsichtigen 
Schale werde ohne Eigenbetonung. Heute sehe ich, daß dem nicht 
also ist; daß jene, im Gegenteil, zum lebendigen Körper wird des 
Geists, und dieser sich eben darin ganz verwirklicht, daß er sich 
ganz hineinversetzt in ihre Normen. Ist Wandelbarkeit mehr als 
Gebundenheit, so beginnt vollkommene Freiheit doch erst jenseits 
jener: im scheinbar beengenden Rahmen drückt sich aus, was im 
beweglichen unausdrückbar war. Ja, ein Leben ist mehr als viele, 
weil im voll-willig übernommenen Einen allein vollkommenes Er- 
leben möglich ist. Die christliche Mystik hat insofern tiefer als 
die indische geblickt, als sie zwischen dem, was Gott an sich ist, 
unterschied, und dem, als was Er erscheint, wo Er sich im Menschen 
offenbart. Sei Er an sich erhaben über allem, was Kreatur affiziert 
— als Mensch erscheine Er vollkommen menschlich; nichts Mensch- 
liches gäbe es, das nicht in Ihm seine Erfüllung und Heiligung 
fände. Deshalb sei Vergottung hienieden nur denkbar in korrela- 
tiver Vermenschlichung. So ist es. Das Gottsein, von dem ich 
früher soviel geträumt, ist kein Höchstes, es bezeichnet lediglich 
ein vergeistigtes Unmenschentum. Ich beging, indem ich ihm nach- 
strebte, eben den Fehler, den meine Theorie so oft gerügt: ich zog 
eine bestimmte Gestalt als solche anderen vor. Heute weiß ich 
die Wahrheit. Und indem ich entschlossen ja sage zu dem, was 
ich nun einmal bin, fühle ich mich nicht beengter sondern freier. 
Im Fluge verstreicht die Zeit. Je unmittelbarer ich im Geiste 
lebe, desto mehr bewirkt sie, doch desto unwirklicher wird sie 
mir. Der Psalmist muß wahrgesprochen haben, als er von Jahveh 
kündete: tausend Jahre sind vor dir, wie der Tag, der gestern 
vergangen ist, oder wie eine Nachtwache. 
Wesentliche Freiheit bedingt Zusammenhangsgefähl. 647 
Draußen tobt der Weltkrieg. Immer mehr Völker fallen über- 
einander her, immer furchtbarer wird ihr Ringen. Und nicht 
genug, daß sie einander zu vernichten trachten — durch 
den Mund ihrer geistigen Führer verleumden und schmähen sie 
sich wechselseitig, unmäßig, wie die feindlichen Helden Homers. 
Aller Einklang, alles Verständnis ist aufgehoben, der Menschheit 
Einheit scheint nicht mehr zu bestehen. 
Für mich besteht sie fort. Ich sehe in dieser Katastrophe nur 
eine Krisis, wie es gleichsinnige, wenn auch nicht gleich weit- 
greifende schon viele gab, die die Entwickelung nicht abschneidet, 
sondern beschleunigt fortsetzt. Wie aller Fortschritt durch Reak- 
tionsperioden hindurchführt, während welcher sich die verdrängten 
niederen Triebe aufbäumen und zeitweilig siegen, so stand zu 
erwarten, daß die universellere Welt von morgen eingeleitet werden 
würde durch ein Vorspiel niedagewesenen Nationalitätenhasses, 
und die künftige Solidarität der Völker durch Ausrottungskämpfe; 
ganz so ward die Friedensära, die mit Augustus anhub, durch grau^ 
samste Bürgerkriege eingeführt. Während solcher Krisen bietet 
die Menschheit ein widerwärtiges Schauspiel. Vormals hätte ich 
mich voll Ekel von ihm abgekehrt. Heute kann ich's nicht mehr: 
ich' weiß mich innerlichst beteiligt. Nicht daß ich Partei wäre, — 
mir ist die ganze lebendige Schöpfung ein einiges Ganzes; keins 
der einseitigen Gefühle teile ich, das die Kämpfenden beseelt. 
Aber ich kann mich nicht mehr ablösen von der Gesamtheit, nicht 
mehr, wie ehedem, sagen: nescio vos. Denn ich weiß, daß ich 
eins bin mit meiner ganzen Zeit und insofern mitverantworte für 
ihr Schicksal. 
Je tiefer bewußt ich Wurzel faßte in meiner Freiheit, desto 
deutlicher ward mir, daß nichts dieser mehr widerstreitet als 
Vereinzelungsstreben, ja, daß die Erkenntnis wesentlicher Freiheit 
ihr Korrelat hat im Gefühl des Zusammenhangs mit der ganzen 
Erscheinungswelt. Allerdings bin ich, als metaphysisches Wesen, 
mein eigener Schöpfer. Aber empirisch betrachtet bin ich gar nichts 
durch mich selbst. Meinen Eltern verdanke ich meine Anlagen und 
meinen Ausgangsort im Leben, meinem Lande die frühesten Ein- 
flüsse; meiner Zeit die geistigen Inhalte, an denen ich teilhabe, 
die Impulse, die mich treiben; dem ganzen Erdkreis endlich die 
vielfältigen Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, was ich' 
648 Jeder Einzelne für die Welt verantwortlich. 
heute bin. Ich selbst, als bewußte Person, kann überhaupt nur 
dafür, daß ich bei vorhandener Arbeitsenergie unentwegt an mir 
gearbeitet habe — nicht einmal deren Besitz ist mein Verdienst, 
und ihr Erfolg schon gar nicht: meine Gedanken berufe nicht ich, 
sie kommen mir. So bin ich unabtrennbar vom Universum. Nehme 
ich mich selbst hin, so bejahe ich auch jenes; ist es mir Aufgabe, 
mich selbst zu vollenden, so umschließt diese die weitere, soviel 
ich nur irgend vermag mitzuschaffen an der Vervollkommnung der 
Welt. 
Was sie heute ist, kann ich ebensowenig verleugnen wie meinen 
persönlichen Zustand. Dieser ist das Produkt alles dessen, was 
je war; wäre der Weltprozeß anders verlaufen, auch ich stände 
anders da. Umgekehrt aber wäre notwendig auch die Welt voll- 
kommener, wenn ich vollkommener wäre, so daß ihr künftiger 
Charakter allseitig bedingt wird vom Wollen und Vollbringen ihrer 
heutigen Elemente. Und zwar aller ohne Ausnahme: jedes Ein- 
zelnen flüchtige Gebärde wirkt durch Äonen nach. So kann und 
darf sich keiner vom Ganzen ablösen. 
Diese Wahrheit, nur wenigen bewußt in Friedenszeiten, beseelt 
der meisten Impulse im Verteidigungskrieg. Innerhalb aller heute 
kämpfenden Nationen spürt der Einzelne den Drang, sein Leben 
für ein Größeres hinzugeben, innerhalb aller fühlt er, daß er mit- 
halten soll, sich nicht abtrennen darf, daß er das Fatum seines 
Volkes mittragen muß, sei es Verbrechen oder Glück oder Tod. 
Mein Bewußtsein lebt jenseits der Sphäre nationaler Bindungen, 
so kann ich nicht Partei sein in diesem Streit. Aber das Geschehen 
berührt mich deshalb nicht weniger tief: wie es Geschöpfe gibt, 
die ihrer Natur nach bestimmte Sonderstrebungen vertreten müssen, 
so gibt es andere, die zur Verkörperung des Allgemeinen berufen 
sind. Und dieses Allgemeine ist keine Abstraktion: es ist durchaus 
lebendig, es ist konkreter als alles Besondere insofern, als dieses 
ihm nur zum vorübergehenden Mittel dient. Alle tiefsten, wesent- 
lichen Lebensmächte sind überindividuell und übernational; sie 
geben dem Sondergeschehen Sinn und Richtung. Des Metaphysikers 
Bewußtsein wurzelt unmittelbar in ihnen. Seine Teilnahme am 
Weltprozeß besteht darin, daß er diesen Mächten Ausdruck verleiht. 
Und diese Teilnahme ist nicht minder wichtig als die des 
Kriegers. Was wäre aus Europa geworden, wenn die hadernden 
Einzelstimmen nicht wieder und wieder von Einer übertönt worden 
Der Menschheit tiefster Wille; das höchste Ziel. 649 
wären, die keinerlei Parteilichkeit gelten ließ, nur Liebe kannte? — 
Aus dieser Stimme aber sprach der Menschheit tiefster Wille. 
Je selbstbewußter sie wird, desto mehr wird dieser dominieren, 
desto mehr von innen her alles Sonderstreben beseelen. Ich ahne 
eine Zeit, wo Menschenkraft und -mut überhaupt nicht mehr vor- 
läufig-beschränkten, sondern nur noch endgültig -allgemeinen 
Zielen nachstreben werden. Denn nicht dadurch wird die ideale 
Zukunft gekennzeichnet sein, daß farblose Duldsamkeit die Stelle 
des Heldentums einnimmt, sondern daß dieses, anstatt dem Irrtum, 
der Wahrheit dient; daß die irdischen Mächte durchaus vom er- 
kennenden Geiste gelenkt werden. Nie werden sie als solche zu 
wirken aufhören, es ist ein und derselbe Mut, den der Bandit 
und der Bekenner beweist, und Schwäche bleibt schwach, worauf 
immer sie beruhe. Solange es heißen kann: Heroismus oder Weit- 
herzigkeit, wird die Menschheit nicht reif sein zur Universalität. 
Noch ist sie es nicht. Auf daß sie es baldigst werde, dürfen die 
wenigen, in denen ein tieferes Bewußtsein schon heute lebt, nie 
müde werden, ihr Wissen zu verkünden. 
Ich gedenke des Bodhisatva, der das Gelübde tat nicht ins 
Nirväna einzugehen, solang noch eine Seele unerlöst in erd- 
geborenen Banden schmachtete, und vergleiche sein Bild mit dem 
des Weisen, der, gleichgültig zur Welt, nur nach Gotteserkenntnis 
strebt: dieser ist noch nicht ganz hinaus über Name und Form, 
denn nach Abstreifung aller Bande bleibt ihm das des Erkenntnis- 
triebs — er ist es, welcher Gott schauen will. Jener, auch er 
vormals ein Weiser, hat diese letzte Fessel abgetan. Sein Erkennt- 
nisstreben, das ursprünglich die Person befriedigen sollte, hat 
deren Gefäß zuletzt zersprengt. Nun lebt er überhaupt nicht mehr 
in sich, nun bietet er dem göttlichen Licht ein vollkommen durch- 
sichtiges Mittel. Weil jenes völlig ungebrochen durch ihn leuchtet, 
will er nur noch geben, strahlt er nur noch aus, kann er nicht 
anders als spendend sich zur Schöpfung verhalten, gleichwie die 
Sonne kein Atom unerwärmt lassen kann. 
Der Bodhisatva sagt ja zur noch so argen Welt, denn er weiß 
sich zusammenhängend mit ihr. Entselbstet, fühlt er seinen Grund 
in Gott, seine Oberfläche jedoch mit allem was ist verwachsen. 
So muß er alle Wesen wie sich selbst lieben, so kann er nicht 
ruhen, bis daß sie alle in allem die Gottheit spiegeln. Der Bod- 
hisatva, nicht der Weise verkörpert des Menschenaufstiegs Ziel. 
ENDE. 
650 
Register. 
REGISTER. 
A. 
Aberglaube, Wesen 1 40, jeder Glaube 
an das Nicht-Selbst ist 140, Vorzüge 
117, indischer 225, Versöhnung von 
Weisheit und 226. 
Abnorme, Abweisung durch die chi- 
nesische Weisheit 409, Zustände 121. 
Abschließ ung, Schädlichkeit 61. 
Abschreckung, Straftheorie der 333. 
Absolute, Sinn des 1 1 3, europäische 
und indische Auffassung vom 231, ge- 
leugnet von Buddhismus und Natura- 
lismus 14, Aufhebung des Unterschieds 
zw. A. und Relativem 267, Werte 110, 
272. 
Abwechselung, Wert der 310, 388, 
517. 
Acvagosha 237, 447, 511. 
Ästhetische Urteile, objektive Gül- 
tigkeit 14, Vollendung, wann allein 
ein Höchstes 491. 
Affe, worin sein Groteskes besteht 325. 
Ah nen vere hr ung 366, 494. 
Akbar, Kaiser 176. 
Akklimatationsfähigkeit, als 
Frage der Phantasie 11, 52. 
Albatros 528. 
Allah, als Seele der Sahara 10, Cha- 
rakteristik 180, keine Beziehung zur 
Kunst 175. 
Allwissenheit, nur Gott bekömm- 
lich 263, und Skeptizismus berühren 
sich 263. 
Alter, verschiedenes der Seelen 271, 
jede Seele hat ein bestimmtes Ideal- 
514, weshalb es das Bedeutendste 
schafft 242. 
Altruismus, nicht wertvoller als 
Egoismus 220, 254. 
Amerika, urweltlicher Charakter 567, 
571, Vorzüge vor Europa 600 ff., un- 
geheure Kluft zwischen innerer Voll- 
endung und äußerer Vorgeschritten - 
heit 625, Bildungskraft 563, 572. 
Amerikaner, als typischeste West- 
länder 546, als Barbaren 549, 553, als 
Yogis 613, Arbeitsmethoden der größ- 
ten 247, Selbstüberschätzung 413, Op- 
timismus 553, 609, Arbeitertypus dem 
europäischen überlegen 602, kleiner 
besser als großer 600, Schülerhaftig- 
keit 569, seine Lebensformel verdürf- 
tigt die Psyche 612. 
Amerikanisierung führt zum Zu- 
stand des Tiers zurück 613. 
Amerikanismus, Geheimnis seiner 
Werbekraft 613. 
An gepaßtheit, jedes Wesens an seine 
Welt 529, 530, und Moralität 69, 421. 
Anlage, keine wertvoll an sich 296, 
als solche unveränderlich 295, nie von 
Hause aus eindeutig 166. 
Anmut, als Krönung der Weisheit 356, 
357, 409, 449. 
Anregung, Abhängigkeit des Men- 
schen von 424, 429, Bedeutung in 
der Religion 195, 517. 
Anschauung, intellektuelle 240, auf 
einer geistigen Ebene mit Einfällen 
belegen 60, 62, 479. 
Antisemitismus 126. 
Aquedukte, Ausdrucks wert römischer 
175. 
Araber, Weltanschauung 181. 
Arabeske, metaphysisch bedeutungs- 
los 193. 
Arbeit, alle gleich ehrenvoll 600, ihre 
Überschätzung im Westen 220, 252, 
nicht ernster als Spiel 299. 
Architektur, als unfreie Kunst 190, 
ihre Logik 248, griechische 64, japani- 
sche 471. 
Aristokratie, der Zukunft 554, 556 
603, absoluter geistiger Vorzug 20, 
Entartungserscheinungen 467 , als 
Züchtungsergebnis 165. 
Armut, absolutes Übel 622. 
Arten, methaphysische Bedeutung 537. 
Register. 
651 
Asiate, hat den weitesten Hinter- 
grund 363, psychisch mager im Ver- 
gleich mit uns 245, 463, psychologi- 
sche Intuition 377, weniger brutal- 
sinnlich als wir 486, 488. 
Askese, vielfache Arten der 133, und 
Komfort 619, nicht Kasteiung 123. 
Astralwelt 117, 118. 
Ataraxie, kein Ausdruck der Frei- 
heit 50. 
Atemübungen 200, 246. 
Atmosphäre, psychische 196, 274, 
341, der Messiaserwartung 130. 
Attachement, der Menge besser als 
Detachement 49, 599. 
Auffassungsvermögen, verschie- 
dene Arten des 62, des Kulturmenschen 
der Natur gegenüber schwach 57. 
Auflösung, warum dem Buddhisten 
ein Ideal 18. 
Aufrichtigkeit, der Chinesen 360, 
Kultur der 356, 589, Weg der, als 
schnellster zum Ziel 588. 
Aufschauen, erhebt 131. 
Aufsteigen, auf der Leiter der Wesen 
muß bezahlt werden 128. 
A u g u s t i n u s , St. als Vater des Christen- 
tums 276, Liebe 390. 
Ausdruck, indischer uneigentlich 229, 
chinesischer für das metaphysisch- 
Wirkliche allein unsterblich 331, 340, 
prägnantester für Spirituelles immer 
von Materialisten gefunden 458, -fähig- 
keit bedingt absoluten Vorzug 119, 
-Unfähigkeit der Deutschen 460, der 
indischen Weisen 261, -menschen, 
Europäer und Chinesen als 400, = 
Kultur, chinesische als 508, -weise, 
suggestive von Chinesen und Frauen 
330. 
Ausnahmezustand, bringt das 
Wesen nie rein zum Ausdruck 323. 
Äußere Umstände, Gleichgültig- 
keit 342, 353, als Ausdrucksmittel 233. 
Äußerlichkeit, der Chinesen 359, 
alles Verkehrs 360. 
Autokratie, Vorzüge 504, inwiefern 
immer demokratischen Geistes 179. 
Autonomie, Macht der Idee 144, 
kaum ausgenutzt 147, 532, konfuzi- 
anische Erscheinungsform 385, Er- 
ziehung zur 588 ff., absolute des Sub- 
jekts 587. 
Autoritätsglaube, Vorzüge 260, 
293, der Inder 257, 260, der Theo- 
sophen 49. 
B. 
Baker-Eddy, M rs 135. 
Bauerntum, chinesisches 366, 416, 
russisches 408, indisches 408. 
Bedeutende Menschen, können 
nicht Jünger sein 124. 
Bedingtheit, absolute, des Menschen 
als Erscheinung 15, 572, 647. 
Bedürfnislosigkeit, kein Vorzug 
622. 
Befreiung durch Erkenntnis 95, 1 1 6, 
als äusserste Sehnsucht jedes 37, 
durch Selbstbezwingung 318. 
Begabung, durch Konzentration zu 
ersetzen 236, steht der Spiritualisie- 
rung zunächst im Wege 112. 
Begierde, als Hilfsmittel zur Selbst- 
verwirklichung 293. 
Behandlungsart, produktive Wir- 
kung 68. 
Beispiel, Bedeutung 285, das äußerste, 
was ein Mensch einem andern sein 
kann 134, 220, 278, jedes an sich 
unnachahmlich 358. 
Bekehrung, als Hilfskonstruktion 628, 
Nutzlosigkeit 45, -eifer als Beweis 
seelischer Enge 38, 557. 
Bergson 34, 126, 236, 512. 
Beschränkung, Notwendigkeit der 
Selbst- 19, 576, 635. 
Beschwörungen, mögliche Wirk- 
samkeit 37. 
Bestimmung des Menschen, kein 
Äusserstes 345, über sich selbst hinaus- 
zuwachsen 252, das Reich des Geistes 
auf Erden zu begründen 568. 
Beten, nicht bitten 199, der Mo- 
hammedaner als Parademarsch 181, 
weshalb es stärkt 53, stärkt die Götter 
336. 
Bewußtsein, höhere Form als Ziel 
des Fortschritts 235, der Menschheit 
entwickelt sich fortschreitender In- 
tellektualität zu 207, verschiedene 
Lagen 75, 1 03, 2 1 3, 235, Weg zu höheren 
238, normale nicht die reichste 120, 
-läge der Hindus 76, 1 90, der Rishis 26 1 . 
Bhagavat-Gita 227, 264. 
Bibel, jedes Buch kann eine sein 608. 
Bilderdienst 204. 
Bildung, äussere und innere 356, 
erotische 157, moralische 339, 375, 
427. | 
Birmaner 314. 
Blindheit, Vorzüge der 121, 301, der 
Inder gegenüber der Natur 311, des 
Kämpfenden 586, 611. 
652 
Register. 
Bodenständig, keine Kunst war je 
ganz 456. 
Bodhisatva, der Eid des 460, 649, 
als Ziel des Menschenaufstiegs 649. 
Böses, Möglichkeit 110, als objektive 
Wirklichkeit 243, Rolle in der Welt- 
ökonomie 583, zeitweilig gottgewollt 
584, Unvereinbarkeit mit Gutem kein 
Problem 83, jenseits von Gut und 251, 
254, 294. 
Brahma, als Spieler 289, sein Licht 
im Menschen 280, Vorstellung relativ 
234. 
Brahmanismus, als eigentlichste 
Ausdrucksform des Indtergeistes 151. 
Buddha, Herrschernatur 42. psycho- 
logische Genialität 41, 42, 50, inwie- 
fern größer als Christus 42, 51, 275, 
größer als alle Rishis 273, höchstes 
Beispiel 297, kein Yogi 277, kein 
Denker 42, 278, nicht götterfeindlich 
43, hat nur das Werden bemerkt 34, 
und Luther 46, und Ernst Mach 35, 
gewann Erleuchtung durch Kampf587. 
Buddhismus, (südlicher, H i - 
nayana) psychologische Grundlage 
28, 34, als empiristischer Relativismus 
35, frommt dem Westländer nicht 40, 
als Theorie der Vegetation 33, Tropen- 
evangelium 35, 45, 46, ideale Religion 
der Mittelru ässigkeit 49, warum er 
keine Egoisten schafft 39, Gestaltungs- 
kraft 40, 313, hat allem Ressentiment 
vorgebeugt 42, 45, flößt dem kleinen 
Mann tiefste Weisheit ein 41, 50, 
worin dem Christentum überlegen 42, 
49, 50, warum undogmatisch 44, nicht 
pessimistisch 46, lutherische Züge 46, 
warum von Brahmanen verachtet 35, 
152, nicht das beste an Buddha 278, 
Degenerationserscheinung 151, 267, 
als indische Götterdämmerung 273, 
Fortentwickelung 154, 442, (Ma- 
hayäna) 34, 62, 125, 154, 172, 442, 
460, 514, (Japanischer) Geschichte 
442, 462, westlicher Charakter 448, 
und Christentum 154, 460, 514, Spi- 
ritualität 461. 
Buddhistisch, Bewusstseinslage 34, 
Carität 39, 47, 334, 445, Gottesdienst 
38, 43, 448, Mönchtum 45, 442, 448, 
461, Priester 38, 448. 
Calvin, fand die Brücke zwischen über- 
kommenen Vorstellungen und moder- 
nem Geist 624, und Mohammed 182. 
Calvinismus als Religion des welt- 
lichen Effikazitat 624, und Luthertum 
384, 623, monströse Dogmatik 385, 593, 
Verwandtschaft mit Islam 182. 
Capitalismus, religiöse Grundlagen 
620. 
Charakter, Wesen 423, keine äußerste 
Synthese 184, kein geistiges Ideal 
sondern gute Naturbasis 423, wird 
durch Erkenntnis zersetzt 268, Schick- 
salsglaube schafft 225, durch Prote- 
stantismus gezüchtet 384. 
Charlatan, als Maske des Weisen 340. 
China, wesentliche Grösse 363, hat als 
erstes und einziges Land das soziale , 
Ideal verwirklicht 352, 380, 428, und 
Rußland 363. 
Chinese, allgemeine Bestimmung 425, 
Vitalität 338, Tiefe 363, soziale Bil- 
dung 326, extremer Praktiker 401, 
extremer Ausdrucksmensch 403, kein 
Denker 351, 401, 403, Intellektualist 
400, 426, Legalität 379, Selbstbeherr- 
schung 337, Verwandtschaft mit Euro- 
päer 399, Äußerlichkeit 359, Unadelig- 
keit380, Philistrosität 338, 399, Schwä- 
che des Subjektiven 402, moralische 
Bilduug341,376,Gemüt390,Humor346, 
Ordnungsliebe 379, Toleranz 378, 406, 
Vorsicht 340, Kombinationsvermögen 
329, 390, Gleichmütigkeit 337, Wut- 
anfälle 337, als Unmensch 325, mensch- 
lichster Mensch 430, kultiviertester 
Mensch 428, als substanziellster Asiate 
464. 
Chinesisch, Kultur, Ausschließlich- 
keit 395, nur nach geologischem Zeit- 
maßstab zu bemessen 327, als leicht- 
verständlichste von allen 342, 430, 
Vorbildlichkeit 357, 367, 380, Sub- 
stanzialität 363, -ideal 407, Kunst 
248, 363, 464, Mystik 339, 343, Re- 
ligiosität 335, 404, Schrift 328— 
40, 346, Weisheit, Eigenart 331, 
343, stellt das Passive voran 344, kennt 
nichts oberhalb der Natur 345, Welt- 
anschauung 344, 345, 352, 355, 365, 
366, 368, 407, W e 1 1 g e f ü h 1 365, 498. 
Christen, alle Okzidentalen sind phy- 
siologisch 142, 383, 440, eine be- 
stimmte Qualität der Liebe macht 
den 444. 
Christentum wäre ohne Paulus und 
Augustinus nie zur Weltreligion ge- 
worden 276, Vorzüge vor Buddhismus 
49, 457, 463, 464, 512 ff., 528, physiolo- * 
gisch begründet 440, hat die Masse 
nicht innerlich ergriffen 41, wird im 
Register. 
653 
Westen nie aussterben 142, 623, Ideale 
auf eine auserwählte Minderheit zuge- 
schnitten 408, würdelose Gesinnung 
eines gewissen 50, säet Zwiespalt 42, 
Metamorphosen 135, 153, 383, 444—8, 
622, von Reform zu Reform weltzu- 
gekehrter 622, amerikanisches 620, 
philosophisch kein Höchstes 559, 
einzigartige Gestaltungskraft 559, als 
Religion der Freiheit par excellence 
560, heutige Gestaltung nichts End- 
gültiges 519, Zukunftsmöglichkeiten 
598. 
Christian Science 255, 608, 623. 
Christus, Existenz kein religiöses 
Problem 131, 214, jüngste posthume 
Entwicklung 131, 383; als Element 
des Christentums 125, Selbstherrlich- 
keit 195, nicht Vater des Christen- 
tums 276, inwiefern ein höchstes Bei- 
spiel 297, wahrer Sinn seiner Lehre 
wird immer besser verstanden 51, 446. 
Ceremonien, Bedeutung 75, chine- 
sische Auffassung 361. 
Civilisation, moderne, ihr Grund- 
ge ■ »rechen 520, absolute Vorzüge 550 ff., 
600 ff. 
Compensation in der Natur 128, 
184, 268, 283, 286, 310, 319. 
Concentration als Basis aller Ver- 
vollkommnung 105, 241, 247, als Trieb- 
kraft des Geistes 236, ersetzt Talent 
237, befreit höhere Seelenkräfte 242, 
als Urgrund der chinesischen Weis- 
heit 397, der Vernunft als Urgrund 
westlicher Kunst 248. 
Confession, religiös gleichgültig 208, 
406, sich ausschließende gleich ortho- 
dox 202, 445 ff., -beeinflussung als 
Sünde 200, und Volkscharakter 153. 
Confuzianismus, Wesen 330, 349, 
Leben, keine Theorie 349, 401, 418, 
Weltanschauung der Norm 408, Welt- 
anschauung der Zukunft 382, 411, 
422, 427, scharfsinnige Verknüpfung 
des Innerlichen und Äußerlichen 355, 
409, macht reaktionär 351, 381, als 
Bauern Weisheit 417, 439, lutherische 
Züge 382, 407, schafft potenzierteste 
.Durchschnittsmenschen 410, Grund- 
fehler seiner Kosmologie 351, 381, 
und Christentum 406, und japanische 
Rücksichtskultur 439. 
Convention, als Natur 362, 465. 
Correlation, aller Elemente einer 
Welt 4, 11, von innerer Freiheit und 
Zusammenhangsgefühl 647. 
Courtisane, Mission 481 — 87, und 
Grande-Dame 157. 
Cult, als Magie 336, 407. 
C u 1 1 u r, in anderer Dimension belegen 
als Fortgeschrittensein 243, 427, 550 ff., 
625, schließt Ursprünglichkeit nicht 
aus 431, japanische — Einstellungs-, 
chinesische Ausdruckskultur 508, nicht 
durch Verbreiterung, nur Vertiefung 
erreichbar 243, der Sinne 49, Vorbild- 
lichkeit der indischen 242, Vorbild- 
lichkeit der chinesischen 357, 367, 
380, neue erwächst nur auf neuem 
Boden 572, -fortschritt, wesentlicher 
Beweis 490, 634, -gestaltungen als 
„Natur" 289, 433, -System, jedes am 
Durchschnittscharakter eines Volkes 
orientiert 269, -stufe, eine erreichte 
kann durch Abwärtssteigen nicht 
überstiegen werden 244, 294. 
Curtis, Adela 141. 
D. 
Dämonen, Urtriebe als 39. 
Das ein stuf en , als Altersklassen 271, 
jede hat spezifische Schranken 128. 
Dauer, als Aufenthalt 97, Wert garan- 
tiert keine 631, durch reaktionäre Ge- 
sinnung begünstigt 353. 
Decenz, japanische Auffassung 493. 
Demokratie als Ideal bedingt ein 
Aufkreuzen der Masse 554, ihre Ideale 
durch Aristokratien verwirklicht 506, 
Vorzüge 553 ff., Hauptgefahr 222, mo- 
hammedanische 179, 600 ff., als Arbeits- 
hypothese 553, bedingt Unfreiheit, Sin- 
ken des Niveaus 374, als Herrschaft 
der Inkompetenz 374, 632, wird über- 
wunden werden 636, ihre Ideale werden 
sich zuletzt doch verwirklichen lassen 
636. 
Denken, führt nie über seine eigene 
Sphäre hinaus 230, wird überflüssig 
bei genügender Vertiefung 238, 240, 
steht der Religiosität zunächst im 
Wege 515. 
Detachement, als Idealzustand 227, 
nur dem Weisen als Ideal gemäß 48, 
indische Lehre vom 264. 
Devotion, als Hilfsmittel zur Selbst- 
verwirklichung 293, der Europäer- 
anlage nicht gemäß 201. 
Diät und Mentalität 388. 
Dichter, Wesen 292, als Mensch sel- 
ten der Vollendung fähig 268, als 
Materialist 458, Selbstüberschätzung 
532, nicht höchster Mensch, sondern 
654 
Register. 
ein spezialisiertes Organ 358, muß ohne 
Persönlichkeit sein 5, verdankt seine 
soziale Bedeutung einer zufälligen 
Konjunktur 13, und Metaphysik er 4. 
Disziplin, Notwendigkeit, religiöser 
203, Mohammedanerglaube als mili- 
tärische 180. 
Diskant und Bass, symbolische Be- 
deutung 643. 
Dogmen, inwiefern notwendig 262, 
warum es innerhalb des Christentums 
auf sie ankommt 44, 596,alsVerfälscher- 
innen 216, beengen nicht notwendig 
396, als Ausdrucksmittel 456, 460, 
Ähnlichkeit der christlichen und ja- 
panisch-buddhistischen 5 1 3, haben aus- 
gespielt 294, 224. 
Drache, Bedeutung in China 368. 
Dschainismus 151. 
Dualismus, erkenntniskritisch un- 
überwindlich 227, Wurzel des morali- 
schen 109. 
Dubois, Paul 294, 422. 
Duell, Vorzüge 416. 
D urchgeistigung, Wesen 55. 
E. 
Eccentricität, Naturbasis erfinde- 
rischer Originalität 555. 
Effikazität, einer Idee, worauf sie 
beruht 223, als Prüfstein der Aus- 
erwähltheit des Christen 49, des West- 
länders 146, 594 ff. 
Egoismus, Sinn seiner Schädlichkeit 
283, 319, Überwindung tötet zugleich 
Altruismus 255, führt in einer Kampfes- 
welt am schnellsten zum idealen Ziel 
589, als Weg zur Entselbstung 589, 
als notwendige Basis individualisti- 
scher Kultur 603, Unberührtheitsideal 
als Apotheose des 493. 
Ehe der Zukunft 394, als Gattungs- 
angelegenheit 392, kein erotisches 
Bildungsmittel 156. 
Ehrfurcht, Grundlage aller Tugend 
355. 
Ehrgeiz, von Indern verurteilt 265. 
Einbildungen, den Indern wesen- 
haftes als Tatsachen 45, warum diesen 
nicht gleichwertig 591. 
Einfälle, S.Anschauungen. 
Bin f alt, warum der Spiritualisierung 
günstig 48. 
Einheit, inwiefern das Metaphysisch- 
Wirkliche eine 42, 234. 
Einmaligkeit, Prinzip des Lebens 
518, 631. 
Einsamkeit macht Vereinzelungs- 
gefühl unmöglich 524, nicht jedem 
förderlich 618. 
Emotionalität, günstig zur reli- 
giösen Realisierung 293. 
Engländer, vollendetste Europäer 55, 
358, konzentrierteste Phantasie 56, wo- 
her seine Ansteckungskraft 56, Rechts- 
bewußtsein 585, geistiger Höchstlei- 
stung selten fähig 310, Sinn für Zere- 
monial 481, dem Chinesen verwandt 
358, als Yogis 246, Vorurteilsfülle 412, 
religiöse Primitivität 594. 
Enthaltsamkeit, sexuelle, warum 
von allen Religionen empfohlen 209. 
Entwickelung, alle einseitig 319, 
mögliche Abkürzung 554, kann nicht 
im Geist antizipiert werden 645, des 
Lebens dem Verlauf einer Symphonie 
entsprechend 537, 631, -theorie, 
Wahrheitsgehalt der indischen 290, 
554, Verfehltheit von Spencers 556. 
Erdenleben, absoluter Vorzug des 118. 
Erfahrungen, unbedingt als Nahrung 
erforderlich 61, als schöpferische 
Mächte 645, verschiedene Formen 
der 3. 
Erfindungsgabe und Gedächt- 
nis, als entgegengesetzte Pole des 
Geschehens 428. 
Erfolg als Ideal 520, 548, 612. 
Erfüllung, nicht Neuerung das Ideal 
627. 
Erhabenheit 16, 574. 
Erkenntnis, Wege zur 240, beruht 
überall auf Perzeption 237, 260, setzt 
sich notwendig in Taten um 55, als 
Wichtigstes 247, und Leben, anti- 
nomisches Verhältnis 264, 268, Leben 
wichtiger als 278, -e als selbständige 
Wesenheiten 265, beschränkte des 
Westens historisch wirksamer als die 
tiefere des Ostens 261, 596, meta- 
physische, ihre Bedingungen 130, 260, 
ihr Wesen 198, -trieb als Form der 
Selbstsucht 649, -Kritik spricht für 
die Wahrscheinlichkeit der Behaup- 
tungen des Okkultismus 100, -instru- 
ment, der Mensch muß hinauswachsen 
über sein angestammtes 235. 
Erlebnis, äußerstes des Buddhisten 1 8, 
der meisten von äußerer Anregung 
abhängig 195, als einziger Weg zur 
Verwandlung 645. 
Erleuchtung, Wesen 198, äußerste 
280, wie Buddha und Christus die 
ihre gewannen 587. 
Register. 
655 
Erlösung durch Erkenntnis 110, 210, 
212, 224, 252, 293, 297, 302, 443, 598, 
durch Glauben 443. 
Eroberersinn des Westens, meta- 
physischer Sinn 566. 
Erotik 394. 
Erotisches, als Angelpunkt der Seele 
156, 159, Hypertrophie des 488. 
Erscheinung, alle materiell 100, als 
solche unübertragbar 245, jede kann 
den Sinn vollkommen zum Ausdruck 
bringen 454. 
Erziehung, religiöse in Indien 200, 
durch Frauen 157, zur Freiheit 633, 
als Suggestion 107. 
Esprit, mögliche Tiefe 10. 
Ethik, Quintessenz aller 296. 
Etikette, als Verkehrserleichterung 
354, als Bedingung der Freiheit 470, 
Freudenhäuser als Schule der 485. 
Europa, Ende seiner historischen 
Laufbahn 572. 
Exaktheit, Mangel der Inder an 258, 
Europäer Fanatiker der 591. 
Exoterisches und Esoterisches, in- 
dische Auffassung 226. 
F a k i r n , als Rückbildungen dem Tiere 
zu 225, nicht exzentrisch 555. 
Fatalismus, mohammedanischer und 
russischer verglichen 181. 
Faust, Goethes 241. 
Form, eine gleiche verkörpert einem 
gleichen Volk nie zweimal den tiefsten 
Sinn 518, verschiedene Auffassung in 
Orient und Okzident 18, schafft In- 
halt 354 ff., 481, jeder gegebenen ihre 
sämtlichen möglichen Fortbildungen 
immanent 185, 400, 508, in Amerika 
dem Gehalte vorausgeeilt 606, 637, 
herrscht allgemein nur dort, wo der 
Sinn schon erstorben 327, muß ein- 
nicht ausschließen 346, 397, Erschei- 
nungs- der Gottheit tom Menschen 
her bedingt 208, typische der indi- 
viduellen Ausprägung am günstigsten 
354, Chinas Suprematie in der 347, 
im Okzident flüssig geworden 547, 
Überschätzung der 362. 
Formensinn, englischer 481, chine- 
sischer 328, japanischer 450. 
Fortdauer nach dem Tode, mög- 
liche 20, 55, 114, 527. 
Fortschritt, rein biologischer Vor- 
gang 112, 554, inwiefern mit Spiri- 
tualisierung zusammenhängend und 
vereinbar 111, 114, 115, 548, als Serie 
intimer Tragödien 420, als Sieg der 
Materie über den Geist 331, verläuft 
in Zickzacklinie 493 ,634, occulter 111, 
Schnelligkeit des westlichen, wodurch 
bedingt 553, nur in einer Kampfes- 
welt möglich 588, als Raubzug 580, 
führt dem künstlichen Menschen zu 
616, was innerer bedeutet 525, führt 
zu Lebensvereinfachung 619, ideeller 
ein Wesentlicheres als realer 632, und 
Kultur, verschiedenen Dimensionen 
angehörig 427, Kultur-, bedeutsamster 
Gradmesser 490, 634, Realgrund seines 
modernen Begriffs 556, den Griechen 
unbekannt 610. weist über das Erden- 
leben hinaus 631, als Rassenpartiku- 
larität des weißen Menschen 546, un- 
vermeidliche Übelstände 606, 635, in- 
wiefern in der Idee berechtigt 610, 634. 
Franziskaner tum 462. 
Französin, des 18. Jahrhunderts 21, 
hochgeborene, als bester lebender 
Frauentypus 483. 
Französisch, Sprache 329, Erotik als 
Metaphysik 312, Revolution 324, so- 
ziale Suprematie 356, und chinesische 
Kultur 361. 
Fraternitätsideal, nur vom Islam 
verwirklicht 178, 179. 
Frau, Naturbewußtsein 495, spezifische 
Tiefe 462, 495, bedarf der Hingabe 
482, und Pflanze 316, Stellung der 
gefallenen 489, der Zukunft, wie sie 
die Ehe ansehen wird 394, japanische 
als vollendetester Typus dieser Zeit 491. 
Freiheit, Wesen 318, absolute jedes 
Einzelnen 633, innere hat ihr äußeres 
Korrelat am Zusammenhangsgefühl 
647, Entwickelung zur 634, Erlangung 
durch Erkenntnis s. Erlösung, durch 
Askese und Komfort 619, als Gehor- 
sam gegenüber Gott 318, und Will- 
kür 541, 632, Christentum als vor- 
nehmster TH&ger des Geists der 559, 
unsere Idee dem Chinesen unbekannt 
344, innere 7, 8, des Inders 217, des 
Chinesen 348, 393, höchstdenkbare 636, 
amerikanische als Willkürherrschaft 
632, von der Demokratie überall miß- 
verstanden 634, soziale der Zukunft 
427, 636, ihre Sphäre weicht im Laufe 
biologischen Fortschreitens immer 
weiter zurück 288, erfüllt sich in der 
Gebundenheit 59, 290, wird durch 
Befolgen äußerer Normen nicht be- 
hindert 354. 
656 
Register, 
Fremdartigkeit, anregende Kraft 
der 430, 517. 
Freudenhäuser, Reinheit der Atmo- 
sphäre in japanischen 484 ff. 
Freudigkeit, die buddhistische 22, 
christliche 559. 
Frieden, als Ideal verderblich 4 1 6, 
ewiger undenkbar 573, spezifisch orien- 
talisches Ideal 147, nur der Ohnmäch- 
tige sehnt sich nach 146. 
Frömmigkeit, indische und euro- 
päische verglichen 199, 233. 
Fruchtbarkeit, ihr Geist in indi- 
schen Göttergestalten verkörpert 79,82. 
Führer, Charakteristik japanischer 
506. 
Futurismus 531. 
G. 
Gartenkunst, japanische 436, 471. 
Gaumen, Weltanschauung des 388. 
Gebet, Sinn 107, 199, 336. 
Gebundenheit, wertvoller als Un- 
gebundenheit59, als Endziel der Frei- 
heit 289. 
Geburt, absoluter Vorzug edler 42, 1 94. 
Gedächtnis und Erfindungsgabe als 
Pole des Geschehens 428. 
Gedanken, als materielle Erschei- 
nungen 100, 196, 238, 287, 538, -Über- 
tragung 100, sind dort, worauf sie 
sich heften 283. 
Gehirn, man muß scheiden zw. sich 
und dem verwandten G 11, 12 
Gehorchen und Befehlen, psycho- 
logischer Zusammenhang 180 
Gehorsamsforderung, Sinn reli- 
giöser 180, 257. 
Geist, Macht über die Materie 282, 
538, 610, fähig die Welt zu verwandeln 
560, kann alle Naturbestimmtheit über- 
winden 636, und Körper, Wechselwir- 
kung 99, 138, und Natur, metaphy- 
sisches Verhältnis 287, 432, trägt in 
China den dichtesten Körper 364, 464, 
des Menschen als Träger der Natur- 
bestimmtheit 579, Offenbarung durch 
Zufall 539, hat desto mehr Macht je 
reicher der Körper 245, 464, 624, offen- 
bart sich dort, wo er die Kraft gibt, 
ihn auszudrücken 198, -er, Entstehung 
336, -ersehen, als Krankheitssymptom 
122. 
G e I a 1 1 e , oft wirksamer als ein artiku- 
lierter Ausdruck 278. 
Cemein schaftsbewußtsein, Feh- 
len als Glück Amerikas 603. 
Gemüt, englisches das intensivste 390, 
europäisches arm im Vergleich zum 
indischen 201, spirituell wertlos 212. 
Gemütlichkeit, Nachteile 169. 
Genesis, Wahrscheinlichkeit ihrer 
Darstellung 535, 538. 
Genie, Wesen 238, Überschätzung im 
Westen 260, als Konjunkturprodukt 
358, und Talent, antagonistisches Ver- 
hältnis 296. 
Gentleman als höchster Adelstypus 
466. 
Genußfähigkeit befördert Höher- 
entwickelung 208. 
Geologie als Erzieherin 536. 
Gericht, Jüngstes, Vorzug des Glau- 
bens daran 129, 225. 
Germ an e, Verhältnis zu Inder und 
Semit 187, erotische Unkultur 156, 
weshalb er zum ersten Kulturträger 
werden konnte 585. 
Geschäftsmann, Idealität des 326, 
342, Edelmann als unvornehmer 467. 
Geschichte, Eigenart 172, registriert 
nur einen Teil des Geschehens 161, 
warum nirgends weit zurückgreifend 
410, Bedeutsamkeit im Sinn der G. 
umschließt nicht alle Werte 582, Füh- 
rung wird nicht dauernd bei Europa 
bleiben 572, Wege spotten aller Ver- 
nunftkonstruktion 126, und Zufall 572, 
Indern fehlt der Sinn für 89, 160, 
und Mahayana 512. 
Geschichtsfälschung, als Weg 
aller religiösen Fortentwickelung 383. 
Geschlechtsgegensatz, kein kos- 
misches Absolutum 148, metaphysische 
Bedeutung 22, 149. 
Geschlechtsverkehr, als Sakra- 
ment 78, 488, japanische Auffassung 
484. 
Geschmack, Wesen 471, inwiefern 
seine Urteile objektiv sein können 14. 
Gesetze, als Kristallisationen 289, 432. 
Gestaltungen, wodurch bedingt 2, 
290, 291, 466, metaphysisch nie ernst 
zu nehmen 18, 21, 88, 143, 168, 208, 
226, 227, 228, 291, 362, 596, relativer 
Wert 11, 466 608, jede kann das 
Äußerste zum Ausdruck bringen 454, 
alle der Zeitdauer nach begrenzt 583, 
631, warum die westlichen kraftvoller 
als die östlichen 596. 
Gewalt, jede schlägt dem Recht ins 
Gesicht 582, Okzidentalen als -men- 
schen 585. 
Gewohnheit, jede schlecht 169, 294, 
389. 
Register. 
657 
Glauben, alsa priori, muß enttäu- 
schungsunfähig sein 132, warum Reli- 
gionsstifter ihn von vornherein fordern 
127, Sinn des religiösen 139, 199, 212, 
257, und Wissen von einander unab- 
hängig 199, 212, 214, 258, als Weg 
zum Wissen 213, 257, ohne kein Selbst- 
bewußtsein 132, Vorzug blinden 293, 
schwach in unserer Welt 1 32, warum 
er abnimmt 214, einziges Mittel, ihn 
wieder zu erwecken 215, 634, Erlösung 
durch 119, 215, 443, 447, Gestaltungs- 
kraft im Orient 167, und Sein, im 
höchsten Menschen zu eins verschmol- 
zen 147, islamischer als militärische 
Disziplin 180. 
Glaubensmenschen, warum origi- 
nalitätsfeindlich 262. 
Glaubensobjekt, Unerwiesenheit 
religiös günstig 140. 
Glaubens Vorstellungen, Gleich- 
gültigkeit ihrer Wahrheit 56, 202, 214, 
228, 258, als Mittel zum Zweck 202, 
214, 258, warum es im Westen auf 
sie ankommt 596, überkommene besser 
als neue 142, 203, alle menschlichen 
Ursprungs 214, sollten nie gewechselt 
werden 283, primitive frommen den 
meisten am besten 202—8, 362, 595, 
mohammedanische die materialisti- 
schesten 188, Ungeheuerlichkeit der 
calvinistischen 385, 593. 
Gleichgültigkeit des Äußeren, 
amerikanische und indische Erschei- 
nungsform der gleichen Idee 622. 
Gleichheitsideal, Vorzüge 552, 
spezifisch westlich 573, Verfehltheit 
553, höchst denkbare Verwirklichung 
im Orient 573. 
Glück, wodurch bedingt 219, 352, 419, 
473, nur in Funktion des Egoismus 
zu definieren 404, nicht Zweck, aber 
bestes Mittel 625. 
Gnade und Verdienst 275, Gottes mißt 
sich am materiellen Erfolg 620. 
Goethe 40, 90, 241, 355, 411, 412. 
Götter, gehen den religiösen Men- 
schen nichts an 140, griechische 10, 
541, indische, Entstehung 13, Bedeu- 
tung 84, 86, 200, 335, weniger als 
Menschen 529, 541, indische als voll- 
kommenste Verkörperungen der Ur- 
kräfte 79, buddhistische Auffassung 43, 
56, -dasein nur als Spiel zu denken 299. 
Goldenes Zeitalter 313. 
Gott, seine Grenzen 128, 286, 499, 529, 
in der Natur 288, offenbart sich im 
Rahmen unserer Vorurteile 208, drei 
Keyserling, Reisetagebuch. 
Wege zu 210, 214, 252, 588, als Ich 
und als Du 610, hat zugunsten des 
autonomen Menschen abgedankt 146, 
610, -schauen, Möglichkeit 102, -be- 
wußtsein, Entfaltung 243, -vertrauen, 
mohammedanisches 182. 
Grande Dame, als universalisierte 
Hetäre 157, die Heilige Jungfrau als 
144. 
Grausamkeit, Sinn 332, psycholo- 
gische Grundlage 333. 
Grenzen, der Person schließen das 
Wesen nicht ab 8, 644, als solche 
nicht zu sprengen 62, 478, warum 
äußere innerlich nicht beschränken 
114, 297, 644. 
Griechen, Mangel an innerer Über- 
legenheit 181, Ausdrucksmenschen 400, 
warum dem Schicksal unterlegen 610, 
wußten nichts vom Fortschritt 610. 
Griechisch, Kirche 547, Architektur 
62, Kunst 248, Götter 543, Phan- 
tasie 540, Form 346. 
Größe, worauf der Wert großer Men- 
schen beruht 134, 219, zufälliger Cha- 
rakter der historischen 126, wesent- 
liche unabhängig vom Erfolg 364, 
Bedeutung der quantitativen 499, gei- 
stige und menschliche fallen selten 
zusammen 124. 
Großmoguln, als größte Herrscher- 
typen 176. 
Gute, das, kein Generalnenner für 
ideale Bestrebungen 158, der Mensch 
soll nur gut von sich denken 223, der 
Vertiefte kann nur Gutes wollen 243. 
H. 
Hazardspiel 347. 
Hegel 191, 581. 
Heiland, erlöst nicht als Mensch, 
sondern als Ideal 131 — 133, Wesen 
134, 285. 
Heiligenverehrung, bei Hindus 
und Katholiken 203. 
Heiliger, Wert 134, 272, nichtstuend, 
doch wichtiger als jeder Täter 219, 
als Grundton der I,ebenssymphonie 
271, 411, mehr als der Weise 278, 
schlechter Schriftsteller 261, Mittei- 
lungsfeindschaft 218, widerlegt nicht 
das Weltkind 272, minderwertige 121, 
225, Zufall, ob einer zum H. oder 
Verbrecher wird 226, christliche und 
buddhistische 462. 
Heiligkeit, eines Orts, Sinn 195. 
42 
658 
Register. 
Held, der antiken Tragödie als Bar- 
barenideal 174, chinesische Mißach- 
tung 415 
Hellsehen, Erzieh im g zum 103. durch 
Krankheit erkauftes wertlos 103 
Herrscher, E u ropäe r als M am höch- 
sten steheöd 342, -hauser, warum sie 
am langsamsten , 166. 
Hetäre, als Erzieherin 156, 4o2, als 
jPriesterin 483, indische Tempel- 79, 
489. 
H i m m e 1 r e i c h 23, 37, 280, auf Erden 
zu begründen, Mission des Westens 
267, 560, 577, 631. 
Hindernisse m296, 
H i o d u i s m us, katholischer Charakter 
203, 256, 268, Vegetation! artiger 28, 
81, 303, anittiaKßcher 81, 87. 
Hingabe, als Bedingung des Emp- 
fangens257, Grund des Triebes zur 133. 
Hinterwäldiertuni 437. 
Höchste] Ca' akteristik 606, 
ein Unbegriff 270, 446. 
Höchstes, es gi bt nichts abr.olut 27 1 , 
289, inwiefen erreichbar 297. 
Höflich k e i t , als Elementarausdruck 
der Sittlichkeit 354, chinesische 355, 
474, japanische 470, 474. 
Humanität, Entwicklung der 333, 
dem Amerikaner unbekannt603, männ- 
liche Form 143. 
Humor, Wesen 331, chinesischer 346. 
J. 
Japan, Natur 435, Merr- 1rum 
der Natur 498, sein bester Geist 494, 
Bildung des kleinen Mannes 439, darf 
sich verwesUkheu 506. 
Japaner, westlicher C 440, 
506, 515, 516, unintellekfaiell 496, un- 
individualisiert 497, un] b 469, 
verwandlun'gsunfähig 461, 508, 
Nach ah s 507, 
Gru ndch ''■ k 140, 465, 4 7 7, 506, 
im Ernste ui int 510. 
Japan e r i n , Ch a ra k terist i k 490 . 
Japanisch, Tiefe 495, tritt im Pa- 
triot ismus zu tage 451, R 152, 
461, 515 u im Empfindungs- 
leben 451, Höflichkeit 439. 
Ich. als Jtoflenwelt'9, 282, 524, 544, 
mit Person nicht identisch 12, 296, 
als Instrument 424, 479, Gott als 610, 
absolute Autonomie 633, als Born un- 
endlicher Kraft 280. 
Ideal, höchstes konkretisiertes un- 
denkbar 159, äußerstes des Menschen- 
lebens 330 (s. Vol der Norm 
407 — 12, 425. irisches 
die Massen au 
* -i' 615, '95 
Ideale, I 
anderen 159, 
liehe 143, 146 
265, 408 
soi > 
IL 7 » 
■ 
2/0, 
408, 492, ■■ 
367, 
610, v 
131, 
133, 
411, j 
ß be- 
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lere Iv 
18, 645, 
Weit zu.p, 
367, al G e 271, 4 l 
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Idea 588, 
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312, dei F des 
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39, 48, 
645. 
Ideen, al 213, 
als B 
di: che la ■ so potent 
päische 261, praktische Wirl 
una 125, 
558, 594, Möglich* 
zu kommen 240, Piatos 240, als 
Mächte 
is 107, 108. 
Illusionismus, und in« 
29. 
Imperi it m 175. 
Inkom p lesr in 
Demokratien 374, 632. 
Inder, ;; o weit 
342, 348, 
-: 
22:>, 
■ 
rii 
Ind" j 
264, K u 1 1 u ) 
242—46, 
Ku us- 80, 81, 150, 248, Lie 
leben 155, 210, M 
gest. 73, 163, 
Per: 303, Philoso- 
phie, Gm :.ter 233, kein Pro- 
dukt des Denkens 230, 259, empiri- 
Register. 
659 
stisch 231, 234, in keinem System 
restlos enthalten 233, Tanz 92, 
Weisheit, Grundcharakter 229, 302, 
Eigenart 253 ff., Ursache ihrer Tiefe 
235, weswegen unproduktiv 261, 266, 
läßt aktive Interpretation zu 267, 
Weltanschauung, pragmatistisch 
234, Vorbildlichkeit 235, Ausschließ- 
lichkeit 253, Schlüssel zum Problem 
der 76. 
Individualisierung, Möglichkeiten 
555, bedingt Potenzierung 566. 
Individualisiertheit der ameri- 
kanischen Flora gegenüber der tro- 
pischen 566, Mangel der Tropenflora 
an 66, nicht notwendig zum Wesent- 
lichen 427. 
Individualismus, Zeichen von Ober- 
flächlichkeit 556,' Nachteile 555, er- 
zeugt Weltbürgertum 455, Vorzüge 
des westlichen 588, 596, 602. 
Individuum, als Organ des Selbst 
7, 296, und Gattung, stehen in po- 
larem Verhältnis 14, 392, ein Unab- 
leitbares 191, ein zu Überwindendes 4, 
Unbedeutsamkeit 48, 57, vom Orient 
nie ernst genommen 334, Vorzüge 
seiner Wertschätzung 588, 596, 602. 
Initiative, macht Gott und Teufel 
machtlos 1 46. 
Inszenierung, indische 78. 
Inspiration, kann festgehalten 
werden 239. 
Institutionen, gute lassen auf den 
Menschen keine Schlüsse zu 333, 550, 
nehmen ab au Bedeutung propor- 
tional dem Menschenwert 371, die 
besten in Amerika 569, 600, als 
schöpferische Mächte 551. 
Intellekt, als Dominante der Seele 
beim Vorgeschrittenen 207, 293, 518, 
als unpersönliche Macht 526. 
Intellektualismus, Bestimmung 
426, chinesischer 400. 
Intellektualität, Nachteile 207, 215, 
293, 515. 
Johnson, Dr. Samuel 412. 
Irrationalität aller indischen Ge- 
staltung 81, 87. 
Irrenanstalten 68. 
Irrtum, als Ausdruck der Wahrheit 86, 
226, als Weg zur Wahrheit 588. 
Islam, verwischt Rassenunterschiede 
154, 178, 180, Gestaltungskraft 179, 
macht überlegen 181, als Religion des 
einfachen Soldaten 181, als Religion 
der absolutesten Hingabe 72, und 
Calvinismus, Verwandtschaft 178, 182, 
okziden talischer Charakter 186. 
Juden, als auserwähltes Volk 126, 
Christen und Muslims als Brüder 186. 
J iuj it s u , als Grundsymbol des Japaner- 
tums 507. 
Jugend, der westlichen Menschheit 
568 ff„ ewige als Postulat der westlichen 
Entwickelungsniöglichkeit 572. 
K. 
Kaisertum, chinesisches 368, 413, 
englisches 481, japanisches 503, rus- 
sisches 504. 
Kalokagathia, Nachteile 310. 
Kampf, ewiger, als notwendige Folge 
der westlichen Lebensformel 573, ver- 
wandelt die Seele 586, ohne ihn keine 
Erkenntnis 587, -es weit, Vorzüge 588. 
Kant, der von ihm abgesteckte Bau- 
plan der Seele kein äußerster 101, 235. 
Kar ma- Lehre 223, 609. 
Kaste 94, 163, 167. 
Kasteiung, Wert 121, Yogi Feind 
der 123. 
Katholizismus, Wesen 205, 256, 
Ausschließlichkeit 396, als Bewußt- 
seinsform 397, tiefer als Urchristen- 
tum 446, spiritueller Entwicklung 
günstiger als Protestantismus 205, 261, 
der psychischen Bildung günstig 385, 
als System geistlicher Hygiene 204, 
der Kunst förderlich 83. 
Katholischer, und protestantischer 
Geist, Unterschied 205, 256, 357, 385, 
Charakter des Hinduismus 203, 256. 
Keuschheitsideal, Sinn des reli- 
giösen 209, 408, als Exponent brutaler 
Sinnlichkeit 486, europäisches und 
japanisches 493. 
Kinder erzieh ung, indische 199, 
japanische 439. 
Kirche, bringt eine Religion immer 
besser zum Ausdruck als bloße Texte 
38, katholische und indische Auf- 
fassung 448, buddhistische 460, 513, 
dem Chinesen ein Kulturbureau 336, 
als technische Anstalt 407. 
Klassische Bildung, Wert 398. 
Klassizismus, chinesischer 395. 
Kleider, metaphysische Bedeutung 16* 
Körper, je reicher, desto besseres Aus- 
drucksmittel des Geistes 463, Phan- 
tasie des 1 1, 41, 53, 288, 530 und Geist, 
s. Geist, Westländer müssen den ihren 
erneuern 571, Evangelium des 572. 
Komödien, Shakespeares 299. 
42* 
660 
Register. 
Kompromisse, nur an der Ober- 
fläche möglich 109. 
Konkretisierung, chinesisches Ideal 
der 407, 426. 
Krankheit, als positiver Zustand 1 20, 
Vorzüge 309. 
Krieg, verändert die Bewußtseinsform 
453 ff., Notwendigkeit als Wachstums- 
krise 583, Vermeidbarkeit 577. 
Krieger, unter Chinesen verachtet 
415, als Vorstufe des Weisen 586, 
-stamme, ergeben die höchsten Kultur- 
völker 585. 
Kritik, jede bringt Segen auf die 
Dauer 590. 
Künstler, als Weiber 149, psychisch 
unvereinheitlicht 84, selten mensch- 
lich vollwertig 268, Zwitterstellung 345, 
des Orients als Yogis 250, 436. 
Kunst, nur höchste hat die Bedeu- 
tung, welchen von Ästheten aller zu- 
gesprochen wird 13, 429, Einfluß der 
Natur auf ihre Entwicklung 435, Ge- 
setzmäßigkeit dieser 185, Geheimnis 
spiritueller 250, des Westens vernunft- 
geboren 248, 455, orientalische und 
okzidentalische verglichen 249, rein 
dekorative bedeutungslos 93, weniger 
interessant als Natur 13, 431, indische 
als Phantasie des Fleisches 89, ost- 
asiatische als Fortbildung des Eigen- 
willens der Natur 436, chinesische 251, 
364, 464, japanische 455, 499, -denk- 
mäler, Bedeutung für die Geschichte 
185, -geschieh te, wodurch kritische 
möglich 185, -stile, inwiefern objektiv 
zu beurteilen 14. 
L. 
Landwirtschaft, chinesische 366 
europäische 605, amerikanische 607, 
chinesische auf moralischer Basis be- 
gründet 605. 
Langatmigkeit, der chinesischen 
Kulturentwickelung 327, 381, 400. 
Ivangeweile, während der Blindheit 
unmöglich 301, der Einsiedler kennt 
nicht mehr als der Weltmann 644. 
Laxheit, japanische in sexuellen 
Dingen 488, 493. 
Leben, Wesen 299, 347, 539, Entstehung 
des 536, als Inbegriff des metaphy- 
sisch-wirklichen 288, modifiziertseinen 
Ausdruck den Möglichkeiten ent- 
sprechend 22, 290, 501, - k u n s t 160, 
-problem, Lösung des äußeren 619, 
-rahmen, Theorie der Gottgewollt- 
heit 10, 128, 381, Vorzug eines un- 
günstigen 296, der angeborene den 
meisten am zuträglichsten 386, meta- 
physischer Wertmaßstab 231, jeder 
positiv 492, schöpferische Wirkung 
501, nie Selbstzweck 231, -Vernein- 
ung, indische und europäische 15. 
Legitimitätsgedanke, Begründet- 
heit des 374, 501. 
Lehre, wahre als Zukunftsideal 446 ; 
sich widersprechende gelten in Indien 
als gleich orthodox 88. 
Lehrer, gibt nicht, sondern löst aus 
132, spirituelle 257, weshalb es ihrer 
bedarf 285. 
Lehrmethodik, indische 230, chine- 
sische 397. 
Leiden, nur durch Änderung der Be- 
wußtseinslage zu überwinden 252, 610, 
Wert des 608. 
Leidenschaft, als Oberflächener- 
scheinung 80, kein Wert 174, 244. 
Leistung, und Sein, antinomisches 
Verhältnis 20, 109, verschiedene Be- 
deutung unter östlichen und west- 
lichen Voraussetzungen 564, äußerste 
als Lebensideal 614. 
Liebe, als Phantasiegebild 31, 544, als 
Frage der Konzentration 244, weshalb 
sie schön macht 319, vom Westen 
überschätzt 210, 393, nur im Westen 
objektive Macht 551, 559, allein ver- 
steht 545, mögliche Göttlichkeit 211, 
394, -eult und Orgiasmus 78, zwischen 
zwei Menschen kein Beweis eines 
Optimums für die Nachkommenschaft 
392, geht immer auf das Typische 394, 
kein Monopol der Christenheit 201, 
210, göttliche jedem immanent 69, 
als leichtester Weg zu Gott 210, zu 
Gott in Indien reicher ausgeschlagen 
als in Europa 201, 209, als späte Ge- 
staltung 391, chinesische 391, sinn- 
liche als Mittel geistlichen Fortschritts 
78,489, christliche, mehr physio- 
logisch als theologisch bedingt 440, 
mannichfaltige Äußerungen 444, we- 
sentlich rücksichtslos 360, und buddhi- 
stische 47, 444, absoluter Vorzug 599, 
-skunst 155, 488, und Tortur 332, 
-sieben, indisches 1 55, chinesisches 
391. 
Logik, indische als animalische Wu- 
cherungserscheinung 88, dem Wesen 
nicht gewachsen 232. 
Luther als Katholik 206, 257, theo- 
retisch oberflächlich 217, 593, seine 
Bestimmung des Wesens der Religion 
Register. 
661 
593, Tragödie 217, tiefste Gemüts- 
kultur geht auf ihn zurück 594, -tum, 
in ihm hat das Christentum seine 
Gestaltungskraft eingebüßt 20, Cha- 
rakteristik 383. 
Männlichkeit, der westlichen Psy- 
che 144, 202, und Weiblichkeit, me- 
taphysische Bedeutung 148, durch 
Milieu bedingt 23. 
Macht, als Böses 582, und Recht 584, 
des Westens über die Natur als Un- 
glück 576, 580, als Vorzug 610. 
Magie, Apologie der 75, 407, warum 
sie an Bedeutung verliert 206, als 
Metier 122. 
Mahatmas 284. 
Mahäyäna- Lehre s. Buddhismus. 
M ä j a , als Geist der westlichen Wissen- 
schaft 45, -lehre, dem westlichen 
Naturalismus physiologisch äquivalent 
29, den Tropenbewohnern eingeboren 
43. 
Mantras 74. 
Marc Aurel 176, 334. 
Mariendienst, Erziehungswerk des 
mittelalterlichen 144, 146. 
Maschinerie, ihre Macht Exponent 
politischer Unreife 372, exzessive Be- 
deutung in demokratischen Gemein- 
wesen 235, 375, 632, als Ersetzung der 
Sklaverei 619, als Selbstzweck 612. 
Maskierung, als Mittel zur Selbst- 
verwirklichung 17. 
Materialisationen 50, 99. 
Materialismus, Wesen 49, gutes 
Durchgangsstadium 549, 565, 567, als 
günstige Basis spiritueller Kunst 458, 
durch Wohltätigkeit befördert 221, des 
Westens als Effekt des Christentums 
51, des Westens dem kindlichen ver- 
gleichbar 568, Sinn des westlichen 187, 
463, 565 ff., einziger Weg zu seiner 
Überwindung 622. 
Materiell, Begriff 50. 
Mathematiker, Wesen seiner Son- 
derbegabung 237. 
Mechanisierung des Lebens, Be- 
deutung 30, als Gutes 612. 
Mechanistische Weltanschauung 
der ritualistischen äquivalent 361. 
Meditation, Wert und Wesen 106. 
M e i s t e r der Theosophie 127, 1 44, 245. 
Mensch, ein zu Überwindendes 252, 
277, 636. 
Menschenopfer, Sinn 78. 
Menschheit, als Orchester 271,475, 
Einheit 647, künftige Solidarität 629. 
Messiaserwartung, steigernde Wir- 
kung 131. 
Methodismus, Einfluß auf die eng- 
lische Kultur 247. 
Metaphysiker, Wesen 5, 302, spezi- 
fische Wirklichkeit 103, 478. 
Milieu, seine Bedeutung 20, 35, 68, 501 . 
Mission des Westens eine rein prak- 
tische 558, 577, 594, Heiden- sollte 
verboten werden 405, 423, Rechtfer- 
tigung 559. 
Mitgefühl, asiatischer Mangel an 334, 
als Kulturprodukt 335. 
Mitleid, als niederste Form der Sym- 
pathie 143, männliches Äquivalent 147, 
Buddhas 334. 
Mittelalter, Geist des 464. 
Mode 16. 
Möglichkeit, als spezifische Wirk- 
lichkeit des Metaphysikers 261, 478. 
Mönchtum, Einseitigkeit seines 
Ideals 159, ceylonesisches 38, 45, bir- 
manisches 312, japanisches 461. 
Mogulenkultur, okziden talischer 
Charakter 184, Verhältnis zur Renais- 
sance 191. 
Mohammedaner, Vornehmheit 178, 
182, Toleranz 178, als Idealisten 187, 
Verwandtschaft mit Christen 187, in 
Indien nur als Herrscher bedeutend 
1 75, materialistische Vorstellungen 1 88. 
Monismus schließt Pluralismus nicht 
aus 228. 
Monotheismus, warum er überall 
den Polytheismus ablöst 84, morali- 
siert aber verdürftigt 84, 183, schafft 
die stärksten Charaktere 183. 
Moralische, das, als Grundmacht der 
Welt 371, das, kein möglicher General- 
nenner für ideale Bestrebungen 158, 
272, 371, Bildung, als Wichtigstes 
fehlt dem Europäer 421, hohe der 
Chinesen 349, 376, 422, Instinkt, in- 
wiefern vorhanden 69, Rebellion der 
modernen gegen das 350. 
Moralist, typischerweise amoralisch 
268. 
Moralität, als Einsichtsfrage 69, 213, 
243, 294, 351, 418, und Zweckmäßig- 
keit, Verhältnis 69, 422, 551, als ge- 
bildete Natur 351, 419, als Tiefstes 
des Chinesen 349, als Selbstverwirk- 
lichung 367, als Basis der Natur- 
ordnung 349, 367, als Basis des Staat 
371, 378. 
Mormonen 592. 
662 
Register. 
Modifikation, Sinn der 121. 
Musik, Programm- 300, indische 299, 
und Rhythmik 473, und Kristall- 
bildung 537, warum sich das äußerste 
in ihrer Sprache allein sagen laß': 
249, und Metaphysik 643. 
Mut, als Tierisches 415, moralischer 
379, nur auf moralischer Grundlage 
produktiv 585, führt am schnellsten 
zum idealen Ziel 588 
Mystik, warum christliche der in- 
dischen nicht ebenbürtig 518, inwie- 
fern tiefer 646, katholischer Charakter 
aller 85, 206, dem Polytheismus nie 
feind 85, -er, Wesen 84, persische 
69, 201, und Skeptiker berühren sich 
263, Weg vom Theisten zum 610. 
Mythos, indischer, nur als Vegetation 
zu verstehen 28, Bildungsgesetze 90, 
wahrer als Geschichte 90, als gegen- 
ständlichster Wahrheitsausdruck 146, 
536, als letztes Wort 538. 
N. 
Nächstenliebe, inwiefern wertvoll 
51, Vorzug der christlichen 559, prak- 
tische macht eng 38, macht oberfläch- 
lich 159. 
Napoleon 324, 377. 
Nation, es gibt keine indische 87, 1 63, 
-algefühl vereinbar mit Weltbürger- 
tum 630, -alismus 350. 
Natur, Ursache des Erhebenden großer 
15, interessanter als Kunst 13, 429, 
und Geist, metaphysisches Verhältnis 
287, 432, dem Chinesen äußerste In- 
stanz 343, 417, Vorbildlichkeit 345, 
existiert kaum für den Inder 311, 365, 
Konservativismus 327, Urkraft der 
amerikanischen 571, und Kunstent- 
v/ickelung 435, der Dinge führt eben- 
dahin, was die Weisheit antizipiert 
hatte 577, 589, ein zu Überwindendes 
344, 636. 
Naturalismus 29, 509. 
Naturbestimmtheit, Unentrinnbar- 
keit 16, 292, kann überwunden werden 
213, 252, 636, -gefühl, japanisches 
470, 498, 509, ostasiatisches gegenüber 
dem europäischen 431, 470, 578, 
-gemäßheit als Ideal förderlich 345, 
bis zu welchem Punkte 532, -gesetze, 
durch Konzentration der Vernunft ge- 
funden 249, als Spielregeln 299, defi- 
nieren die Natur als solche 282, 
Kenntnis der als Herrschaftsmittel 
591, Chinese kennt keine 371, -götter 
79,541, -haftigkeit, noch so ver- 
feinerter Chinesen 418, -kräfte, 
Mißbrauch führt am schnellsten zur 
n Benutzung 577, 576, -stufe, 
die neue der Vorhut der Menschheit 
294, 628, 649. 
Neu en 1 steh ung, inwiefern es gibt 
145, 538. 
Neuerungsstreben, macht ober- 
flächlich 50, -feindlichkeit der 
Ind- r 259, der Chinesen 327. 
New tho.ught, Verdienste und Vor- 
züge 140, einzige mystische Bewegung 
dieser Zeit, die im Westen Zukunft 
hat 141, 623, seine kopernikanische 
Tat 621, Grenzen seiner günstigen 
Wirkung 609, und Zen 516. 
Nicht- Einförmigkeit, Segen der 
518. 
Nicht-Ich, Grundlagen der buddhi- 
stischen Lehre vom 36, deren nach- 
teilige praktische Folgen 48. 
Nicht-Regieren als Regieruugsideal 
371. 
Nicht-Wissen als Vorzug 419, Ur- 
sache alles Übels und Leids 297, 577. 
Niedrigkeit, christliche Idealisierung 
der 50. 
Nietzsche als Krampferscheinung 1 47, 
hat Gleiches erstrebt wie Newthought 
623, Verhältnis zu Buddha 30. 
Nihilismus, der buddhistische 29. 
Nirwana, physiologische Ursache der 
Sehnsucht nach 32, Vieldeutigkeit des 
Begriffs 36, buddhistischer 37, 46 und 
brahmanistischer Begriff 274, warum 
Buddha nichts Bestimmtes darüber 
gelehrt 37. 
Norm, Ideal der 407 ff . 
0. 
Obj ektivationen der geistigen 
Mächte als Brücke zwischen Ideen- 
und Erscheinungswelt 629, entspre- 
chen fortschreitend besser dem Innern 
635, ihre Überwindung 636. 
Occident, Grundcharakter 546 ff., 
-gebrechen seiner Zivilisation 520, wo- 
her deren Effikazität 565, und zer- 
störende Wirkung 576, 580, Grund- 
unterschied gegenüber Orient 187, 
546, Wertbetonung des Individuellen 
596, Mission 630, sein Weg zum Sinn 
führt durch die Erscheinung hindurch 
44, 566, 568, wesentliche Männlichkeit 
144 ff., Bestimmung 187, inwiefern 
barbarisch 550, hat zulange ihm un- 
Register. 
663 
gemäße! 146, seine Kul- 
tur meditarraoe sehen Ursprungs 186. 
O c c i d e i 
Na^ nie- 
drig 549, V, fi 
cbara! -■- 18i mäöii- 
lich 144, 146 2Ö2, Abh 
äuß 571, 
350 421, 112, w 
Ju 
589 i 
65, • ■ , 
Mii 
voi 
din ö 566, 
Ori i29. 
Ocn 
Grn 
rieh 102 
Ali; ß i in, N. 
bee 
Bede 133, Ge- 
fall; 139 141 und 
Mora i ät 10S, 
als ( : 
tua 
111, 115, 139 
Occu i ti s I e n , men schlich n 
derwertig 109 115, können 
Führer sein 139. 
Öffentliches Leben, üb 
teressaut, we 
Österreich i« it e •■- Aristok ra 
▼ollkoi ; Typus 56. 
Om, die Silbe 215. 
Opfer 598 
Op< in ■ ehe Macht 
223, 553 chau- 
ung 222 
Orient. 1 '. Q 1- 
un . 546, 
Geheini 
Ku. (67, Üaucr- 
ha ; 353, 428 
Orients Irreell es 365, Ve r-sa- 
en 377. 
Original -itätsfeinefschaft des Inder» 
2ö0, 263, des chinesischen Literaten 
396, niemand is,t im vollen Sinne 185, 
647, -e, warum in China selten 340, 
Bedeutung ihrer Vorherrschaft im 
Westen 555, Überschätzung 260, 262. 
Ozean, Mannigfaltigkeit 57, 529. 
Päpste als Herrschertypen 177. 
Pawdits 228, 232. 
Paradies, Wahrheitsgestalt der Vor- 
ung 69, Sbiväs 279, einzig vor- 
540 
Pai he 33L 
Pari: 21, 342. 
Parvenüs 501, 553, 600. 
Paf 1 ds 181, 
e Gericht ' 
129, 225, 608, des Pro- 
387. 
519, 647. 
Perception, I 237. 
Per;- ö.nli enziert- 
»96, Möglichkeit reich- 
. I in Höchstes 4, 
29-1, 636, erreichbar 480. 
uung 
57, 15, 292, als In- 
: 479, als O Selbst 
296, i teil- 
iden- 
lung durch 
Un. f Welt 610, Buddhas 
letester Geistesaus- 
431, enthalten die prin- 
Probleme 
I »opisehe 63, 65, 
be 566 
Recl tg 255, als 
634. 
• i g i e , Wahrheit der 
a 28, 33 
Pha sie, d Korpers 11, 41, 52, 
288, 531, des Fleisches, indische Kunst 
als 80, 82, des Herzens 334, und 
Technik, Wechselwirkung 477, vege- 
äen Tropen 27, 33. 
Ph an tastik, in Natur und Kunst 531. 
Philologie, als Tor zur Humanität 
398. 
Philosophie, Gruudaufgabe, 330, als 
Ausdrucksform 228, Unvergleichbar- 
keit der indischen und der euro- 
päischen 229, Fortschritt dieser 590, 
Studium, in Indien und Europa 230. 
Pilger, indische 73, 222, japanische 450. 
Plasticität, Wert der 6, 53, als Ideal 
289. 
317, 
I 
33, 121, 318 
316, 
664 
Register. 
Plastik, indische 80, 250, griechische 
14. 
Plato, als Metempsychosengläubiger 
130, psychologische Grundlage seiner 
Ideenlehre 240, Eros 211. 
Plotin 240. 
Poesie, Ausdrucksfähigkeit 249. 
Politik, Interesse für schadet den 
meisten 376. 
Politisch, Kultur, ruht in China auf 
moralischer Basis 349, Ideal, das 633. 
Polygamie, Vorzüge 84, 158. 
Polytheismus, Wurzel 83, Vorzüge 
83, der katholischen Kirche 84, als 
Ausdruck einer unvereinheitlichten 
Psyche 84, der Theosophie von allen 
am schädlichsten 139. 
Prädestinationsglaube, Vorzüge 
und Nachteile 181, 225, vom Tun des 
Westens widerlegt 145, 610. 
Pragmatismus 96, 228, 234. 
Priester, buddhistische 1 8, j apanisch- 
buddhistische 448, Fehler der christ- 
lichen 19, katholischer dem prote- 
stantischen in der Idee überlegen 408. 
Probleme des Menschen werden durch 
das Licht Brahmas ausgelöscht 281. 
Producieren, dem Vollendeten un- 
möglich 261, Sinn 310, geistiges als 
Fortbildung präexistierender Gestal- 
tung 185. 
Produktivität, Geheimnis der japa- 
nischen 477. 
Programmusik 300. 
Proportion, japanischer Sinn für 47 1 , 
Bedeutung der harmonischen 473. 
Prostitutionspkroblem, Lösung 
485. 
Protestantismus, hat vollständig 
gesiegt im Sinn der Geschichte 135, 
144, 206, 357, 548, 623, geistlich-tech- 
nischer Unterschied vom Katholizis- 
mus 205, 256, Geist 205, 383, vertieft 
nicht die Erkenntnis sondern das Han- 
deln 206, wird fortschreitend unkirch- 
licher 406, indischer 151, 204, 256, un- 
künstlerisch 387, chinesischer 383. 
Proteus, als Prototyp des Metaphy- 
sikers 5, als Ideal 290, Grenzen 16, 
292, 479, die Stufe über ihm 644. 
Protist, nur von der Psyche her zu 
verstehen 287. 
Protoplasmatischer, als höchster 
Zustand 289. 
Provinzielle Geister, großstädti- 
schen unterlegen 21. 
Psychische Phänomene nicht an- 
deren Wesens als materielle 28, 287,. 
Entwickelung impliziert nicht Spiri- 
tualisierung 115, Wirklichkeiten, exi- 
stieren objektiv 34, 287, 336, Schran- 
ken ebenso wirklich wie materielle 
7, 68, 94, 166, 466, Unbildung west- 
licher Religionsstifter 593, Atmosphäre 
196, 274, 342, Primat des bei den 
Indern 76, 94, 226, 264. 
Psychologie, buddhistische 34, in- 
dische, Tiefsinn 236, 240. 
Puritanismus, Nachteile 159, 272, 
397. 
Q- 
Qualitäten, es gibt keinen General- 
nenner für 83. 
Quantität, als amerikanisches Gene- 
ralideal 20, 548, 581. 
Quantitatives, Bedeutung 424, 499,, 
537. 
Quietismus, chinesischer 340, 344. 
Ursache des indischen 265, 266. 
IL 
Radikal-Böse, das 109. 
Radikaler Charakter aller Grundge- 
fühle 109. 
Rasse, nur innerhalb beschränkter 
Zeitgrenzen existent 457, psychisch 
bedingt 166, keine letzte Instanz 636, 
wann ein Äußerstes 461, und Religion 
153, 188, 402, 463, -nfanatismus, Sinn 
350. 
Rationalismus, Indern unbekannt 
88, 228, der westlichen Kunst 248, der 
katholischen Kirche 449, der Chinesen 
und Griechen 403, der Theosophen 1 17. 
Rationelles und Dekoratives in 
der Architektur 189. 
Realisieren, das eine was not tut 
203, 258, 5 1 7, 628, den indischen Weisen 
kam es nur auf R. an 258, 262, in 
der Phantasie 264, in Erkenntnis und 
Leben unvereinbar 265. 
Realismus, der Masse am bekömm- 
lichsten 226. 
Recht, des Stärkeren 585, und Macht 
584, -fertigung durch Glauben 217, 
593, -bewußtsein der Chinesen 379, 
der Engländer 585. 
Reconvaleszenz 309. 
Register, 
665 
Reflexion, nur ein Mittel zur Per- 
zeption 237. 
Regel gut nur insofern sie freier 
macht 170. 
Regierungsform, chinesische höchste 
in der Idee 371. 
Reichtum, unbedingter Vorzug 93, 
selbstyerständlichwerden bestes Mittel 
zur Überwindung seiner Nachteile 
624, als religiöses Postulat 620, bil- 
dende Kraft 501, 624. 
Reinheit japanischer Kurtisanen 487, 
496, -sideal, geschlechtliches 484, 
493. 
Reisen, Wert für den Metaphysiker 
6, macht die meisten oberflächlich 6. 
Religion, wahrer Sinn 262, heutiger 
Begriff zu weit 143, Überflüssigkeit 
neuer 142, 147, 627, Sinn des Wechsels 
517, Zusammenhang mit Rasse 152, 
188, 405, 461, angestammte die beste 
208, der Gesundheit 572, der Zukunft 
514, Zeit möglicher universaler vor- 
über 136, Ursache der werbenden Kraft 
der indischen 148, 517, Unterschei- 
dungsvermögen der Inder in Sachen 
der 209, -sgemeinschaft, besteht 
zunächst immer aus kleinen Leuten 
124, -sgeschichtlichesWerden, 
paradoxaler Charakter 1 25, -Stifter, 
westliche und östliche verglichen 593, 
Vorzug wissender 51, 202. 
Religiosität, Wesen 262, 406, Frage 
der Verinnerlichung 243, indische 
194 ff., chinesische 335, 385, 404, ja- 
panische 450, 457, 515, russische 201, 
westliche 592 ff., niederste Form der 
314, und Sinnlichkeit 408. 
Reliquiendienst 70. 
Renaissance 191, 358, 631. 
Rentabilität, > als ästhetischer 
Grundsatz 604. 
Republik, schlechtestes Regime 374, 
504, 632 ff. 
Ressentiment als Produkt des 
Christentums 42, 51, der Armen im 
Orient gering den Reichen gegenüber 
222, Überwindung in Amerika 602. 
Revolutionen, als Fiebererschei- 
nungen 324, ihre Notwendigkeit 373, 
583. 
Rhythmik, ostasiatischer Zeichnungen 
251, in Natur und Kunst 473. 
Rhythmus, Indifferenzpunkt zwischen 
Gegen- und Zuständlichkeit 301. 
Ritenlehre, Tief sinn der indischen 
religiösen 204, der chinesischen 355, 
362. 
R it t e r, als edelster Typus 466, indische 
160. 
Ritual, psychologische Bedeutung 75, 
216, 257, Ursache der Überschätzung 
in allen frühen Kulturen 361, warum 
es fortschreitend an Bedeutung ver- 
liert 206, -philosophie, indische 
74, 204. 
Romane, dem Germanen inwiefern 
überlegen 157. 
Romanische Form 347. 
Rücksicht, Nachteile 143, 254, be- 
nachteiligt die Aufrichtigkeit 360,. 
-skultur, japanische 439, 475. 
Ruinen, woher ihre Wirkung 63. 
Russe, als bester Psycholog 342, Ähn- 
lichkeit mit Inder 200, 363, Religio- 
sität 200, Naturgefühl 365, Organi- 
sationsunfähigkeit 617, mangeludes 
Abstraktionsvermögen 62, weiter Hin- 
tergrund 363, Willkürhaftigkeit 585. 
s. 
Sanftmut, als Ideal tut nur Gewalt- 
menschen gut 265, keine günstige 
Naturbasis 585. 
Schadenfreude, als Urinstinkt 334. 
Schauen 60. 
Schauspieler 5, 292, 450. 
Schein, Hypostasierung im Orient 
18, die Welt als 28. 
Schematismus, des Menschen- 
geistes 58. 
Scherz, metaphysisch dem Ernste 
gleichwertig 299. 
Schicksal, griechische Idee 631, in- 
wiefern existent 609, wodurch bedingt 
290, als Konvention 465. 
Schlangen 67. 
Schmerz, vom Willen beeinflu ßbar 332,. 
als Weg zu Gott 112. 
Schönheit, in der Natur und als 
Ideal 575, metaphysische Bedeutung 
13, 55, 113, 134, 319, als vollendeter 
Ausdruck rassialer Formtendenzen 13, 
113, Bedeutung ihrer lebensteigern- 
den Wirkung 134, nie individuell be- 
deutsam 14, was dem Urmenschen so 
erscheint 77. 
666 
Register. 
Scholastik, typische B chei 
nung der Sp 
1 d , bin mann 
doch ohne 255, j 
Maß zu gi im ä 
ni< p ) sehe 581 
Seele, als ttatu % fJ 2, 282, 
526, pro opla ra -287, 
I d t .vi 
Wil 
krüpp< 615, 
•:■• 
k: , a - . •) 520, 6; 
d< u ■ .<; 116, 270, 643, nicht Tat- 
128, 
Piatos G au e a 130, G 
i.-.c •;. laubt ■ 129. 
Seim sn cht als T. 30. 
Sem, «richtig« i als h i 1 5, 219, 
220, der Imic.r entsp L 
i i l< i 110, and Tu , u p 
Uua eil 342, 378, 
w ■■» ung 44, und GJaul 
S.< en, v ichiedene 
O .in and Okzident 595, japanische' 
447, 515. 
Selbst b e h e r r s c h u a g 424, 577, -b e- 
s c h i 9 ii k u d g, No; wendigkeit 19, 
576, ►he r t s c h e 1 1 u ra , Vor fcüge 504, 
-los i i k ei t, spezifische des Geistes- 
in ■ :m.- en 20. des höchsten Menschen 
619, -r e'guliefung der Natur 419, 
584, -Überschätzung, Vorzä ge 
528, des Menschen 523, 532, -Ver- 
wirk lic h u n g , v MBchiedene Wege 
zur 2, 133, 566, gelingt am besten im 
Rahmen vertrauter Vorstellu en 143, 
Übernahme eines Fremden als kür- 
zester Weg zur 517, II avi u dje 
Welt als kürzester Weg zur 6, 642. 
■ S e x u al p 1- o b 1 e m , japanische Lösung 
481 U., i lische Lösung 489. 
Shakespeare 41, 299 
S h i n t o 494, 509. 
Sichtbare, Welt, ihre Sonderart 478, 
exi stiel i iür die Inder nicht 311, Korra 
als unmittelbarer Wesensausdruck 250. 
Sinn, als Primares 7, 91, 254, 446, 486, 
als rein intensives 235, bestimmt den 
Tatbestand 254, 331, 489 und Erschei- 
nung im Gottesdienst nicht willkürlich 
verknüpft. 37, mysteriöse Verknüpfung 
192, und Laut 37, 215, keiner steht 
vereinzelt da 331, aus dem Wortlaut 
nicht notwendig erschließbar 229, 278, 
und Zufall 539, -e ursprünglich alle 
gleichwertig 388. 
Sinnlichkeit, der europäischen At- 
mosphäre 4S6, Naturen 408, 
244. 
> der als Form der Auf- 
richtigkeit 362. 
S k e p s i s und Allwissenheit berühren 
sich 263 
Sklave rei, vollkommen ersetzt durch 
612. 
Soziale Frage, !Cern419, chinesische 
leal, in Alt-China 
ti 352, 382, Zukunftslösung 
4, 29, 602, 636. 
Sozia 588. 
Solle des 113, als spezifisch 
563. 
Sonnenkult, tiefer Sinn des 197. 
Sojen Shaku 515. 
Spätreife, d es Hochbegabten 293. 
Spannung, erotische, dem Manne 
notwendig 156. 
Spie - ernst zu nehmen wie 
Ernst 299, Weltschöpfung als 298. 
Spieler, Psychologie 347. 
Spirale, als Weg der Natur 310, 316. 
Spi ritualisierung, Wesen 112, und 
Fortschritt, Gegensatzverhältnis 111, 
115. 
Spiritualität, durch Autoritäten- 
glauben begünstigt 260, durch Neue- 
rungsfeindschaft begünstigt 259, der 
orientalischen Kunst 248, 455, des 
Ostens größer aber magerer 245, 463. 
Spirituell e Riesen, irdisch schwach 
125, 127, 128, 284, Kräfte, Art und 
Sinn 127, 445, das, als Prinzip 124, 
Wahrheiten, wesentlich paradox 52. 
Ssolovioff, Wladimir 355. 
Sprac h e , keine kann alles sagen 329. 
Staat, als Selbstzweck 582, -form, 
bestmögliche ein Unbegriff 352. 
Standesehre, Relativität 467. 
Sterben, edelste Stellung zum 599, 
-de, Ursache ihrer häufigen Sereni- 
tät 120. 
Stilisierung, erfüllt die Natur 480. 
Still halten, Wert 106. 
Stolz, begünstigt Achtung anderer 585. 
Strafe, als Abschreckung 333, jede 
verletzt das sittliche Bewußtsein 584. 
Sünde, Wesen 224, Inder kennen keine 
223 als barbarische Vorstellung 224, 
als Weg zu Gott 276, 296, 588, 608, 
645. 
Register. 
667 
Sündigkeitsbewußtsein, Verwerf- 
lichkeit 234, als Erbsünde der Christen- 
heit 50, 182, Entstehung 608. 
Sutrastil 230. 
Symbolik, unmittelbarer Sinn für 
der Inder 74. 
Symphonie des Leben 536, 631 . 
System, keines erschöpft die indische 
Weisheit 228, 234, nie mehr als ein 
Skelett 7, und Mensch in keinem 
notwendigen Zusammenhang stehend 
334, 350, 421, 491, 626, schöpferische 
Wirkung eines besseren 551, 619, 
-sucht der Inder 88. 
Tagore, Devendranath 256, Rabin- 
dranath 302. 
Talent, indische Auffassung 238. 
Tantras, Bedeutung der 37, 207, 209. 
Tanz, indischer 92, japanischer 479, 
hawaianischer 542. 
Taoismus 340, 344, 402. 
Tatmenschen, Nervenkrisen 338, 
müssen an Vorsehung glauben 262, 
wesentlich beschränkt 263. 268, Okzi- 
dentalen als 560, 594, -sachen, 
Gleichgültigkeit 18, Inder kennen 
keine 255, 
Telepathie, Möglichkeit 99, wird 
praktisch nie viel bedeuten 138. 
Theater, indisches 154, japanisches 
464. 
Theo sophie, als Religion 98, 138, zu 
simplistische Vorstellungen 117, be- 
dingt Veräußerlich uug der Religion 
139, und Mahajäna 461, schwach 
insofern sie zu umfassend fein will 
136, zieht falsche Konsequenzen au 
richtigen Lehren 148, 266, deutet in- 
dische Weisheit um 98, 148, Materialis- 
mus 98, Zukunft der 124, 136 hat 
keine historische Weltmistion 135. 
Theosophische Gesellschaft, 
Verdienst 97, mögliche Mission 136, 
Ideale historisch verjährt 143. 
Thomas,aKempis50, 201, Aquinas232. 
Tiefe, Definition 453, durch Konzen- 
tration bedingt 243, 247, durch phy- 
sische Kraft realisiert 464, wird auf 
die Dauer zur Fläche 399, mögliche 
des Oberflächlichen 39, Gottes 349, 
der Natur 495, japanische 453, der 
Bewußtseinslage indischer Weiser 235, 
-sinn und Nervenkraft 242, warum 
religiöser von der Tropeunatur begün- 
stigt 43. inwiefern Tolstoy ohne 62. 
Tier, keine freie Phantasie 52, 59, 
Fähigkeiten 528, Vollkommenheit 59, 
530. 
Tod, Bedeutung 110, mögliche Über- 
windung 213, Stellung des Moham- 
medaners 181, des luden; 222, des 
aesen 332, des Christen zum 213, 
TU !es Geschehen 583, 
G ■ ■■ 332. 
Toi er j 178 chinesische 
37e< -sehe 
Ur bängl von 
der >2j als Re- 
.viekciung 
597, 629. 
Tolstoy, Graf Leo 62. 365. 
Tori der 332. 
Trad ssel 572, Befolgen 
der >i Erfinden 
äquiv^e>»t 327, 3b2. 
T r ä g h e i t , als schlimmstes Laster 252. 
Transfigurieren, Sinn des Begriffs 
39. 
als Ausdrucksmittel der Gött- 
Tri v ' der indischen Ausdrucks- 
Tro]i ' Ko i I -Wirkungen 54, 
■n eiert 320, der Imlivi- 
dual dang nicht günstig 66, 
B v in den 27, 34, Kuust- 
31, Ein- 
sehe 'Denken 267. 
ivc Wirkung 112, 
und Zweck ; Be- 
69, 421, 552, alle hebt beim 
Ty p ■ der absolut höchste 270, 
tauschbar 467, j einer 
Art Vollendung fähig 492, Glaube an 
378, phy- 
sische Schönheit als Vollendung des 
14. 
Übel, seine Rolle im Weltgeschehen 
253, jedes bedeutet irgendjemand ein 
Gutes 609, nur durch Änderung der 
Bewußtseinslage zu überwinden 252, 
281, 298, Pflicht ihm zu widerstehen 
588, Fluch des Nichtwiderstehens 589, 
Überwindung durch Gutes 252, 486. 
668 
Register. 
Überlegenheit als Cardinaltugend 
des Herrschers 374, mohammedani- 
scher Frauen 181, chinesischer Staats- 
männer 348, des Mohammedaners 179, 
der Großmoguln 177. 
Übermensch 286, kann als solcher 
minderwertig sein 123, als solcher un- 
erkennbar 286, schwach in dieser 
Welt 128, 286, verfehltes Ideal 173, 
Idealität des Westens an ihm orientiert 
411, Nietzsches 30, 174, 245. 
Übernationales, der Kaiser Roms 
und Indiens und der Päpste 177. 
Überschätzung, Wert der 504. 
Übertreibung, Sinn indischer 70, 279. 
Übervölkerung, begünstigt mora- 
lische Durchbildung 341, 360. 
Ungleichheit der Menschen 375, 
573. 
Un interessiertheitbesser als Wohl- 
tätigkeit 38. 
Universalität, Idee der hat abge- 
wirtschaftet 136, höchstmögliche Ver- 
wirklichung 629. 
Unmögliches, Wert des Strebens 
nach 411, 631. 
Unsterbliches, des Menschen als 
Frucht des irdischen Ich 12, 631. 
Unsterblichkeit 20, 36, 114, 116, 
119, 318, 527, 599. 
Uranfang, unerklärlich 535. 
Urmenschen, als Götterkiuder 541. 
Ursprünglichkeit, als Ideal über- 
bildeter Städter 174, und Bildung 431, 
als Urzustand und als Ziel 635. 
Vegetieren, Wesen 35, 316, als all- 
gemein tropische Lebensform 27, 33, 
35, 66. 
Verallgemeinerungstrieb, als 
Zeichen der Primitivität 417, 426, 629. 
Verantwortungsgefühl, wird durch 
Monotheismus hochgezüchtet 183, 
psychologische Ursache des westlichen 
129, chinesisches 369, 413. 
Verarmung, fortschreitende der Spra- 
chen 329, der Welt dank uns 580 ff., 
der Seele dank Puritanismus 159, 272, 
dank Amerikanisierung 613. 
Verbrechen, als Weg zu Gott 252, 
588. 
Verdienst, und Gnade 275, nichts 
außer der Arbeit des Menschen eigent- 
liches 647. 
Verehrung eines Höheren, metaphy- 
sische Bedeutung 133. 
Vereinfachung, künstlerische 249, 
des Lebens in Amerika 619. 
Vererbung 22, 165, 167, kann über- 
wunden werden 637. 
Vergänglichkeit, kein Übel 97, 
631, buddhistische Stellung zur 70. 
Verkleidung, kann offenbarend 
wirken 17. 
Vermittelungen, Sinn in der Reli- 
gion 133. 
Verneinung des Lebens, in Indien 
und Europa 32. 
Vernichtung als Weg der Erneue- 
rung 324, 583. 
Vernunft, und Naturgeschehen 574,. 
dem metaphysisch Wirklichen nicht 
gewachsen 88, der Verinn erlichte steht 
über ihr 251. 
Verschiedensein, als Ansporn 517, 
596. 
Verständnis als Vorbedingung des 
Erlebens 215,293, 518, als Peremption 
103, als Entscheidendes 268, -losig- 
keit, als positive Macht 170. 
Verwandelbarkeit, Wichtigkeit der 
6, 53, 571. 
Verwirklichung des Geistes von zu- 
fälligen Umständen abhängig 226, 539. 
Vielseitigkeit, Herrschern verderb- 
lich 176. 
Virginitätsideal, das Ende des 
490, 493. 
Vitalität, physische als Folge psychi- 
scher Bildung 339, größere des Euro- 
päers im Verhältnis zum Asiaten 463. 
Völker, der Erde ergänzen sich 475, 
Solidarität 630. 
Volkscharakter und Religion 1 53, 
188. 
Vollendung, in sich evident 55, als 
höchste und einzige Aufgabe 30, 59, 
115, 158, 252, 272, 277, 297, 410, 
625 ff., als Exponent der Spiritualität 
112, 292, nur innerhalb von Grenzen 
möglich 387, 628, typische den meisten 
förderlicher als individuelle 164, 354, 
469, 482, 555, 556, 627, jede bestimmte 
nur vorläufig ein Höchstes 289, in 
Erkenntnis und Leben schliessen sich 
aus 268, jede an bestimmte Bedin- 
gungen geknüpft 358, 412, notwendig 
einseitig 20, 268, 319, 401, 446, 499, 
608, eine Art entsteht auf Kosten 
anderer 158, und Fortschritt 111, 115* 
Register. 
669 
548, 550, 625 ff., des Europäers führt 
über die besiegte Natur hinweg 566, 
und Seligkeit 404, concentrische ein 
Höheres als excentrische 438, keine 
Erfüllung im irdischen Sinne 631, 
und Totalität 613. 
Vollkommenheit, keinem Einzel- 
wesen erreichbar 289, 319, 631, des 
Erdenlebens nicht Selbstzweck 631. 
Vorbildlich, es gibt keine vorbild- 
lichen Naturen 297. 
Vorsehung, hat im Westen abge- 
dankt 146, 610, warum Männer der 
Tat an eine glauben 262, Verfehltheit 
der Idee 173, 631, Wahrheitsgehalt 445. 
Vorstellungen, in doppeltem Ver- 
stände sinnvoll 74, können unmittel- 
bar gesehen werden 100, 239, 240, 
287, Wichtigkeit innerhalb des Chri- 
stenglaubens 44, 596. 
Vorurteile, nichts oberflächlicheres 
als jede andere Gestaltung 362, 465, 
den meisten notwendig 95, wirklich- 
keitschaffend 96, müssen ganz über- 
wunden werden 294, 590, die ver- 
schiedenen Tierarten als Vorurteile 
467. 
Vorwelt, Tiere der 54, 66, 567, 571. 
Vorzüge, ein Positiveres als Gebrechen 
492, es gibt keine unkompensierten, 
s. Kompensation. 
Wachstum, Schnelligkeit tropischen 
16, 33, Nachteile allzu geschwinden 
553. 
w. 
Wahlsystem, das groteske des demo- 
kratischen 632. 
Wahrheit, Wesen 113, 208, 234, 260, 
nach indischen Begriffen nur zu lernen, 
nicht zu entdecken 259, alle symbo- 
lisch 199, jenseits von Irrtum und 234, 
der kürzeste Weg zur 577, durch 
Kampf zur 586. 
Wallfahrten, Bedeutung 196. 
Weib und Manu, metaphysisches Ver- 
hältnis 22, 1 48, - 1 i c h k e i t , japanische 
484, moderne 491, der indischen Ideale 
143, der Ideale der Theosophie 143, 
148. 
Weise, als Grundtöne 271, 411, inwie- 
fern über den Kampf hinaus 586, die 
Stufe über ihm 276, 649, indische 
als Geister zweiten Ranges 236, und 
schlechte Schriftsteller 26 1, chinesische 
und griechische 340. 
Weisheit, inwiefern die der alten un- 
übertrefflich 114, und Aberglauben in 
Indien zusammenhängend 226, tiefste 
stammt aus der Sonnennähe 198, als 
Äußerstes 271. 
Weiße und schwarze Magie 109. 
Welterlöser, fortan überflüssig 1 34. 
Weltgefühl, asiatisches, gegen, eu- 
ropäischem 365, 470. 
Weltlichkeit 21. 
Welträtsel, Lösung 280. 
Weltreligionen, ihre Zeit vorüber 
136. 
Weltschöpfung, indischer Mythos 
298, Spekulationen über die 536, 538. 
Werte, alle sterblich im Sinn der Zeit 
631, keiner erschöpft alle 158, 630, 
absolute 110, 272. 
Wesen, kommt im Handeln nicht not- 
wendig zum Ausdruck 342, -serkennt- 
nis, wie allein zu gewinnen 230, 235. 
Wiederholung, Spirituelle Bedeu- 
tung 216. 
Widersprüche, indisches Verhältnis 
zu 229, in der Welt, wodurch be- 
dingt 83. 
Wille, als unpersönliche Macht 526. 
Wirklichkeit des Menschen nur ein 
Ausschnitt der ganzen 101, verschie- 
dene Ebenen der 100, indische an- 
ders als europäische 76, 90, psychische 
und Einbildung 544, spirituelle durch 
keine intellektuelle Coordinate er- 
schöpfend bestimmbar 228. 
Wissender, über Wahrheit und Irrtum 
hinaus 234, Vorzug wissender Reli- 
gionslehrer 51, 208, alles im Leben 
dient dem 296. 
Wissenschaft, als Maja 91, als Vor- 
läuferin der Kunst 250, 579, psycho- 
logische Grundlage 148, wodurch sie 
überflüssig wird 238, Geschichte 590. 
Wohlstand, soll Normalzustand sein 
624. 
Wohltätigkeit, Sinn der 219, im 
Orient größer als im Okzident 221. 
Wollust, als religiöses Moment 78. 
Wort, magische Wirkung des gespro- 
chenen 285, muß zu Fleisch werden 
277, in China mehr als irgendwo 
anders zu Fleisch geworden 364, des 
Konfuzianismus als Fleisch zu ver- 
stehen 349, -reichtum, Ursache 
des indischen 82, 87. 
Wüste, Stimmung 9, ihre Götter 10. 
670 
Register. 
Wunder, Unmöglichkeit .es aus der 
Welt zuschauen 535, Möglichkeit vor- 
geblicher 76. 
Wunsci-. , schafft Wirklichkeit 107. 
Wurzel, au der W. alle Schöpfung 
eins 60. 
Yoga, Grundiheoiie 236, Analyse und 
Bedeutung 105, ?.<ls Schule zur Ent- 
wickeln, heu Kräfte 105, 
als Gymi r Seele 368, tiefstes 
Wo» ti 243, 251, metaphysisches In- 
teresse 109, macht Dicht notwendig 
be '08, Nachteile 310, Gefahren 
246, dene Wirkung auf ver- 
schiedene Auflagen 5 16, Seinsgrund der 
oric Kunift 250, katholische 
sehe verglichen 232, Vorzug 
der indischen vor allen anderen 247, 
518, japanische 516, fpazitisch-euro- 
;:he 520, oc. identallsche Karrna- 
Yoga als tiefste von allen 588, 3 Arten 
?,10, jede davon einem bestimmten 
Temperamente gemäß 214, innere 
Wai ^r Theorie 105, metho- 
dische Bedeutung 105, 237, 518, macht 
eindeutig 109. 
Yogi, ich gesund und normal 
123, Fähigkeiten 237, 538, orientalische 
Künstler als 2i0, 436, weshalb sie den 
Indern, als höchste Menschen gelten 
266, 269, der vollkommene 237, und 
Weitweiser 348, Buddha kein 277. 
Zauberei, Möglichkeit der 76, 315. 
Relativität der 60, je nach der 
ensformel v icn qualif 
400, -bewußtsein fehlt dem Orientalen 
564, -alte , goldenes 313, -geist 
197, 329, Einheitlichkeit dieses in den 
ersten Jahrhunderten nach Christo 
442, 459. 
Zen 515. 
Z e * a a g, moderne, nur durch 
Konz . -a ( überwinden 244. 
Zerstör t des Schaffens 
583. 
• Zustand lieh es, das metaphysisch 
Wirkliche dem lader ein 93. 
Zustand, keiner an si ch gut 252, 
keiner der absolut höchste 271, 277, 
keiner vergeht ganz 161, keiner re- 
sümiert die anderen 271, jeder wirkt 
positiv 492, 510, jedem einer am besten 
gemäß 510, -e, historische als Sonder- 
ausdrücke der Naturformen des Men- 
schenlebens 400. 
Zweckmäßigkeit, als Grundcharak- 
ter des Lebens 530, Moralität und 
69, 421, 551. 
Zweifel, Verderbüchkeit 257, 
Werke des Grafen Hermann Keyserling 
Das Gefüge der Weit 
Versuch finer kritischen Philosophie. München 
1905, F. Biucktnann (vergriffen), 
Essai du monde 
Das vorgei Werk in französischer Ausgabe. 
Par 
l 
Eine Kritik der Beziehungen zwischen Natur- 
geschehen und men weit 
2 Auflage. Mund 
? J. F. 1 .ehmanns Verlag. 
Pro! 
Mi nchen 1910 7 J. F. Lehi 
»..41111 3 ¥ *-" «S« 
ßchopei 
I ipzig 1910, Fritz 
*dt Verlan*. 
" 
15. Dezember 1908 
% Ablage* 
, Ru 1 1 iihnann. 
r 
Ein 
Leipzig 1909, Fritz 
• 
*rmanische und romanische Kultur. Vom Inter- 
esse der G. I9'if,YonckÄ'Poliewsky. 
Ueber die inne feziehtthg'eh zwischen 
den Cuiturproblemen des Orients und 
des Occidents 
Jena 191 3, Eugen Die 
Verlag von Duncker & Humblot, München u. Leipzig. 
Georg Simmel 
Der Krieg und die geistigen 
Entscheidungen 
Preis kart. 1 Mark 50 Pf. 
INHALT: 
1. Deutschlands innere Wandlung 
2. Die Dialektik des deutschen Geistes 
3. Die Krisis der Kultur 
4. Die Idee Europa 
Man darf von diesem Büchlein Wichtiges und Erleuchtendes er- 
warten. Es begleitet in vier Abhandlungen den Krieg mit der Kraft 
eines visionären Durchblickes und zeigt die Wandlungen in der 
Beurteilung des Krieges und der Weltlage von der vollen inneren Zu- 
versicht aus der großen Zeit des ersten Kriegswinters in dem ersten 
Aufsatz bis zu den zurückhaltenden Gedanken über den positiven 
Ertrag dieses Krieges in der letzten Abhandlung „Die Idee Europa". 
Von Georg Simmel erschienen ferner bei Duncker & Humblot 
in München und Leipzig: 
\T*%+%± 16 Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin. 
rvcllll. yj er t e Auflage. Preis: 6 Mark, gebunden 8 Mark. 
Philosophie des Geldes. S^£S 
Schopenhauer und Nietzsche. z % v 8 or pX: 
4 Mark 20 Pf., gebunden 6 Mark. 
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OU41UlUgIC. scha ftung. Preis: 12 Mark, gebunden 17 Mark. 
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Das reisetagebuch 
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